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German Pages [498] Year 2010
Zwischen Wort und Bild
Zwischen Wort und Bild Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter
Herausgegeben von Hartmut Bleumer, Hans-Werner Goetz, Steffen Patzold und Bruno Reudenbach
2010 böhlau verlag köln weimar wien
Gedruckt mit Unterstützung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Das Bild stammt von einem zwischen 1176 und 1198 in Limoges gefertigten Emailkästchen, auf dem in mehreren Szenen der Weg einer Kreuzreliquie vom Josaphatkloster in Jerusalem bis zu seinem Bestimmungsort, der Kirche Saint-Sernin in Toulouse, dargestellt ist. Diese Szene zeigt die Übergabe der in einem Kreuz gefaßten Partikel durch den Abt des Josaphatklosters an einen Kurier namens Raimundus. Quelle: Ausstellungskatalog „Die Kreuzzüge. Kein Krieg ist heilig“, hg. von Hans-Jürgen Kotzur, Mainz 2004.
© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: xPrint s.r.o., Pribram Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20537-9
Inhalt
Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter. Eine Einführung.......................................................................................................
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Bruno Reudenbach Körperteil-Reliquiare. Die Wirklichkeit der Reliquie, der Verismus der Anatomie und die Transzendenz des Heiligenleibes ................................... 11 Gia Toussaint Die Kreuzreliquie und die Konstruktion von Heiligkeit.................................... 33 Steffen Patzold Visibilis creatura – invisibilis salus. Zur Deutung der Wahrnehmung in der Karolingerzeit ................................................................................................ 79 Hartmut Bleumer Zwischen Wort und Bild. Narrativität und Visualität im ‚Trojanischen Krieg‘ Konrads von Würzburg ............................................... 109 Hans-Werner Goetz Vergangenheit und Gegenwart. Mittelalterliche Wahrnehmungsund Deutungsmuster am Beispiel der Vorstellungen der Zeiten in der früh- und hochmittelalterlichen Historiographie..................................... 157 Simon Elling Institution versus Individuum, Diözese versus Dynastie. Zu Motiven der Wahrnehmung von Vergangenheit in Paulus Diaconus’ ‚Liber de Episcopis Mettensibus‘........................................................................... 203 Anna Aurast Exul, Paganus, Ignotus. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremden und Anderen in Brunos ‚Sachsenkrieg‘........................................ 239 Steffen Patzold Zusammenfassung und Ausblick........................................................................... 267 Anhang Verzeichnis der aus dem Projekt erwachsenen Veröffentlichungen................ 279 Register ...................................................................................................................... 285 Abbildungsnachweise .............................................................................................. 291
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Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter Eine Einführung
Nam ubi visus deficit, ibi error sensus dat imaginationem videndi quod non videt sicuti aliquis clausis oculis videtur sibi tenebras videre. (Thierry von Chartres, Tractatus de sex dierum operibus 11)
Seit den 1990er Jahren hat sich die Mediävistik zunehmend anthropologisch und kulturwissenschaftlich ausgerichtet. Hinter dieser Entwicklung steht die Einsicht, daß das Verhältnis zwischen der historischen Überlieferung und der vergangenen Wirklichkeit in weit höherem Maße perspektivisch gebrochen ist, als es die ältere Forschung vorausgesetzt hat. Einen unmittelbaren Zugang zur Vergangenheit eröffnen weder Texte – seien sie historiographischer, theologischer oder literarischer Natur – noch andere Artefakte: Die im Mittelalter geschaffenen Texte und Bildwerke bieten vielmehr mehrfach gefilterte Darstellungen vergangener Wirklichkeit, die wiederum von Menschen mit ihren je eigenen, kulturell geprägten Wahrnehmungen und Deutungen geschaffen worden sind. Die Frage nach diesen Wahrnehmungen und Deutungen ist daher in verschiedenen Fächern seit etwa zwei Jahrzehnten virulent geworden. Mittlerweile hat sich der Forschungsstand zu diesem Thema stark ausdifferenziert. Dabei hat sich gezeigt, wie unterschiedlich die Termini „Wahrnehmung“ und „Deutung“ in den einzelnen Disziplinen verwendet werden und welches breite Spektrum verschiedener Fragen mit ihnen jeweils verbunden wird. In der geschichtswissenschaftlichen Mediävistik beispielsweise sind Studien zur Vorstellungswelt einzelner mittelalterlicher Verfasser1 und zu einzelnen – vor allem sozialen – 1
Zum Beispiel Helmut BEUMANN, Widukind von Korvei. Untersuchungen zur Geschichtsschreibung und Ideengeschichte des 10. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 10,3. Abhandlungen zur Corveyer Geschichtsschreibung 3), Weimar 1950; Helmut LIPPELT, Thietmar von Merseburg. Reichsbischof und Chronist (Mitteldeutsche Forschungen 72), Köln-Wien 1973; Hans-Werner GOETZ, Strukturen der spätkarolingischen Epoche im Spiegel der Vorstellungen eines zeitgenössischen Mönchs. Eine Interpretation der „Gesta Karoli“ Notkers von Sankt Gallen, Bonn 1981; Martin HEINZELMANN, Gregor von Tours: „Zehn Bücher Geschichte“. Historiographie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert, Darmstadt 1994; Walter GOFFART, The Narrators of Barbarian History (A. D. 550-800). Jordanes, Gregory of Tours, Bede, and Paul the Deacon, Princeton-N.J. 21995; Sverre BAGGE, Kings, Politics and the Right
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Deutungsmustern2 spätestens seit den 1970er Jahren etabliert und in ihrem Erkenntniswert mittlerweile unstrittig. Die in der traditionellen Geschichtswissenschaft als ‚Quellen‘ bezeichneten Materialien erhalten dadurch einen anderen Stellenwert, indem sie der Analyse nicht des Berichts, Textes oder Gegenstandes selbst, sondern der diese prägenden Vorstellungen ihres Autors dienen, der seinerseits nicht als Informationsträger für Ereignisse und Sachverhalte, sondern als diese beobachtender Zeitzeuge betrachtet wird. Die Frage nach der Wahrnehmung mittelalterlicher Menschen ist dagegen verhältnismäßig jung3. Zwar ist die immanente, fortwährende Historizität der Wahrnehmung dem Grundsatz nach eine seit langem erkannte Vorbedingung der Hermeneutik,4 sie trifft sich aber erst in jüngerer Zeit mit der Einsicht in die „doppelte Theoriebindung“, die Johannes Fried 1994 formuliert hat: „Wir haben die unserem Wahrnehmen, wissenschaftlichen Ordnen, Urteilen und Aussagen impliziten Theorien zu beachten […] und streng von analogen Theorien vergangener Zeiten, die stets unsere Quellen färben und denen wir ebensowenig entkommen können, zu unterscheiden.“ „Wir müssen mit unseren Wahrnehmungsmustern fremde Wahrneh-
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Order of the World in German Historiography c. 950-1150 (Studies in the history of Christian thought 103), Leiden 2002. Zur Theorie: Hans-Werner GOETZ, „Vorstellungsgeschichte“: Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit. Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung, in: AKG 61, 1979, S. 253-271. Viele Einzelstudien sind zusammengefaßt in DERS., Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter, hg. v. Anna AURAST, Simon ELLING, Bele FREUDENBERG, Anja LUTZ und Steffen PATZOLD, Bochum 2007. Georges DUBY, Histoire sociale et idéologie des sociétés, in: Faire de l’histoire. Nouveaux problèmes, hg. v. Jacques LE GOFF und Pierre NORA, Bd. 1, Paris 1974, S. 147-168; Otto Gerhard OEXLE, Die funktionale Dreiteilung der ‚Gesellschaft‘ bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter, in: FMSt 12, 1978, S. 1-54; DERS., Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter, in: Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, hg. v. Franti!ek GRAUS (Vorträge und Forschungen 35), Sigmaringen 1987, S. 65-117. Vgl. die Forschungsüberblicke zur jüngeren Literatur bei Hartmut BLEUMER u. Steffen PATZOLD, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittelalters, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter (Das Mittelalter 8, 2003), Berlin 2004, S. 4-22; Hans-Werner GOETZ, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: ebd. S. 23-33. Zu der seither erschienenen Literatur vgl. die fachspezifischen Angaben in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes. Vgl. zusammenfassend: Hans-Georg GADAMER, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (DERS., Gesammelte Werke 1), Tübingen 61990; zu dessen postmoderner Aktualität: Franklin Rudolf ANKERSMIT, Historismus, Postmoderne und Historiographie, in: Geschichtsdiskurs. Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, hg. v. Wolfgang KÜTTLER, Jörn RÜSEN und Ernst SCHULIN, Frankfurt/Main 1993, S. 65-84; DERS., Historicism and Postmodernism. A Phenomenology of Historical Experience, in: History and Tropology. The Rise and Fall of Metaphor, hg. v. DEMS., Berkeley-Los Angeles 1994, S. 182-238.
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mungen, wenn auch nicht nachvollziehen – das ist vielleicht unmöglich –, so doch in ihrer Wissensbindung, in ihren Konstruktions-Mustern und Deutungsschemata, in ihren geistigen Bedingungen zu erfassen versuchen“.5
In der geschichtswissenschaftlichen Forschungspraxis sind solche Forderungen seither in verstärktem Maße umgesetzt worden: Das Stichwort ‚Wahrnehmung‘ selbst erscheint seit etwa 1990 immer häufiger in Untersuchungstiteln, zunächst vor allem im Zusammenhang mit der Debatte über das Verhältnis von Oralität und Literalität im Mittelalter.6 Allerdings wird die Kategorie der Wahrnehmung oft kaum reflektiert und allenfalls für recht eng umrissene Fragestellungen fruchtbar gemacht.7 Umfassende Studien zur Genese, zur Struktur und zum Wandel sowie zur Typologie mittelalterlicher Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, welche die zitierten Ansätze aufgreifen und zusammenführen, fehlen noch immer, wenngleich interdisziplinär angelegte Untersuchungen zunehmen.8 Als deren gemeinsamer Fluchtpunkt zeichnet sich die Grundannahme ab, 5
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Johannes FRIED, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. v. Jürgen MIETHKE und Klaus SCHREINER, Sigmaringen 1994, S. 73-104, hier S. 91f. So z.B. bei Hanna VOLLRATH, Konfliktwahrnehmung und Konfliktdarstellung in erzählenden Quellen des 11. Jahrhunderts, in: Die Salier und das Reich, hg. v. Stefan WEINFURTER, Bd. 3, Sigmaringen 1991, S. 279-296; DIES., Oral Modes of Perception in Eleventh-Century Chronicles, in: Vox intexta. Orality and Textuality in the Middle Ages, hg. v. A.N. DOANE u. Carol BRAUN PASTERNACK, Madison-London 1991, S. 102-111. Zur Wahrnehmung sozialen Wandels: FRIED, Gens (wie Anm. 5); von Konflikten: VOLLRATH, Konfliktwahrnehmung (wie Anm. 6); DIES, Oral Modes (wie Anm. 6); von Vergangenheit: Hans-Werner GOETZ, Vergangenheitswahrnehmung, Vergangenheitsgebrauch und Geschichtssymbolismus in der Geschichtsschreibung der Karolingerzeit, in: Ideologie e pratiche del reimpiego nell’alto medioevo (Settimane di studio 46), Spoleto 1999, S. 177-225; von gentes: DERS., Gentes. Zur zeitgenössischen Terminologie und Wahrnehmung ostfränkischer Ethnogenese im 9. Jahrhundert, in: MIÖG 108, 2000, S. 85-116; DERS., Gentes et linguae. Völker und Sprachen im Ostfränkischen Reich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen, in: Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters. Eine internationale Fachtagung in Schönmühl bei Penzberg vom 13. bis zum 16. März 1997, hg. v. Wolfgang HAUBRICHS, Ernst HELLGARDT, Reiner HILDEBRANDT, Stephan MÜLLER u. Klaus RIDDER, Berlin-New York 2000, S. 290-312; von Eigenem und Fremdem: Arnold ESCH, Anschauung und Begriff. Die Bewältigung fremder Wirklichkeit durch den Vergleich in Reiseberichten des späten Mittelalters, in: HZ 253, 1991, S. 281-312; Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Wolfgang HARMS u. C. Stephen JAEGER in Verbindung mit Alexandra Stein, Stuttgart 1997; Cordula NOLTE, Erlebnis und Erinnerung. Fürstliche Pilgerfahrten nach Jerusalem im 15. Jahrhundert, in: Fremdheit und Reisen im Mittelalter, hg. v. Irene ERFEN und Karl-Heinz SPIESS, Stuttgart 1997, S. 65-92. Vgl. unsere anfänglichen, pragmatisierend vereinfachenden Vorüberlegungen zu einer möglichen Begriffsverwendung, formuliert in BLEUMER/PATZOLD (wie Anm. 3), in der
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daß in der historischen Wahrnehmung kulturelle Imaginationen und historischlebensweltliche Geschehnisse im Sinne einer „Vorstellungsgeschichte“9 als Komponenten eines fortwährenden Bedingungsverhältnisses zu denken sind. Es liegt ferner auf der Hand, daß die Frage nach Wahrnehmungen und Deutungen zugleich die Geschichte der menschlichen Sinne berührt, nicht zuletzt des Sehsinns, der in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend auch die Kunstgeschichte und weitere Geisteswissenschaften beschäftigt hat,10 neben den schrift- und zeichenfixierten Darstellungen der Semiotik und des Strukturalismus.11 Bezogen sich diese Forschungen – aus dem Interesse an den aktuellen medialen Umwälzungen heraus – zunächst auf deren Vorgeschichte im 19. Jahrhundert und die Veränderung der visuellen Wahrnehmung im Zuge der Industrialisierung,12 so leistet inzwischen auch die Mediävistik Beiträge zu einer Geschichte des Visuellen,13 in jüngerer Zeit außerdem zur Geschichte mittelal-
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weiteren Verwendung bei Thomas HAAS u.a., Arbeitsforum A: Wahrnehmung von Differenz, Differenz der Wahrnehmung, in: Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, hg. v. Michael BORGOLTE, Juliane SCHIEL, Bernd SCHNEIDMÜLLER u. Annette SEITZ (Europa im Mittelalter 10), Berlin 2008, S. 25194. Vgl. GOETZ, Vorstellungsgeschichte (wie Anm.1). Vgl. Thomas KLEINSPEHN, Der flüchtige Blick, Reinbek 1989; Barabara DUDEN u. Ivan ILLICH, Die skopische Vergangenheit Europas und die Ethik der Opsis: Plädoyer für eine Geschichte des Blickes und des Blickens, in: Historische Anthropologie 3, 1995, S. 203221; Cynthia HAHN, Visio Dei. Changes in medieval visuality, in: Visuality before and beyond the Renaissance, hg. v. Robert S. NELSON, Cambridge 2000, S. 169-196; Silke TAMMEN, Art. „Wahrnehmung. Sehen und Bildwahrnehmung im Mittelalter“, in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, hg. von Ulrich PFISTERER, Stuttgart-Weimar 2003, S. 380385; Thomas LENTES, Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters, in: Frömmigkeit im Mittelalter, hg. v. Klaus SCHREINER, München 2002, S. 179-220; Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne, hg. v. David GANZ, Berlin 2004. Wolfgang KEMP, Augengeschichten und skopische Regime, in: Merkur 45, 1991, S. 11621167. Jonathan CRARY, Techniques of the Observer, Cambridge, Mass. 1990. Zum Beispiel zur Optik: David LINDBERG, Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Al-Kindi bis Kepler, Frankfurt a. M. 1987; Katherine H. TACHAU, Vision and certitude in the age of Ockham, Leiden 1988; zur Allegorese von Auge und Sehen: Gudrun SCHLEUSENER-EICHHOLZ, Das Auge im Mittelalter (Münstersche Mittelalter-Schriften 35,1-2), 2 Bde., München 1985; zu Visionen: Peter DINZELBACHER, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 23), Stuttgart 1981; Suzanne LEWIS, Vision and revision: on „seeing“ and „not seeing“ God in Dublin Apocalypse, in: Word & Image 10, 1994, S. 289-311; Jeffrey HAMBURGER, The Visual and the Visionary, New York 1998. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht jüngst zusammenfassend zur Verbindung von Text und Bild: Horst WENZEL, Spiegelungen. Zur Kultur der Visualität im Mittelalter (Philologische Studien und Quellen 216), Berlin 2009.
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terlicher Imaginationstheorie.14 Über diese Forschungsperspektiven hinaus wird der Zusammenhang zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Kommunikation analysiert,15 eingeschlossen die sinnstiftende Kraft von Performanzen,16 mit denen die Geschichte der Wahrnehmung zu einem Bestandteil der allgemeinen Geschichte der historischen Medialität wird.17 Im übrigen ist hier auch an die sich neben der Kunstgeschichte als interdisziplinäres Forschungsfeld etablierende Bildwissenschaft anzuknüpfen, die eine mediengeschichtliche Orientierung mit dem Interesse an anthropologischen Bedingungen der Bildproduktion und -wahrnehmung verbindet.18 In der Auseinandersetzung um den „linguistic turn“ wurde allerdings auch argumentiert, daß eine eigentliche Wahrnehmung nicht möglich sei; wenn nämlich bei der Erfassung der Welt stets eine historische Spur von Zeichen anwesend ist, deren Sinnzuweisungen in der aktuellen Wahrnehmung und Deutung mitsprechen, dann müsse die Realität als durchgängig sprachlich vorkonstruiert 14 Vgl. Mario KLARER, Ekphrasis, or the Archeology of Historical Theories of Representation: Medieval Brain Anatomy in Wernher der Gartenaere’s Helmbrecht, in: Word and Image 15, 1999, S. 34-40; Michael CAMILLE, Before the Gaze. The Internal Senses and Late Medieval Practices of Seeing, in: Visuality before and beyond the Renaissance. Seeing as others saw, hg. v. Robert S. NELSON, Cambridge 2000, S. 197-223; Joachim BUMKE, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach (Hermaea 94), Tübingen 2001; Hans Jürgen SCHEUER, Bildintensität. Eine imaginationstheoretische Lektüre des Strickerschen Artusromans „Daniel vom blühenden Tal“, in: ZfdPh 124, 2005, S. 23-46; Seeing the Invisible in Late Antique and the Early Middle Ages, hg. v. Giselle de NIE, Karl F. MORRISON und Marco MOSTERT, Turnhout 2005. 15 Michael, CAMILLE, Seeing and reading: some Implications of Medieval Literacy and Illiteracy, in: Art History 8, 1985, S. 26-49; Eva B. SCHEER, „Daz geschach mir durch schouwen.“ Wahrnehmung durch Sehen in ausgewählten Texten des deutschen Minnesangs bis zu Frauenlob, Frankfurt a. M. 1990. 16 Vgl. Werner RÖCKE, Text und Ritual. Spielformen des Performativen in der Fastnachtkultur des späten Mittelalters, in: Das Mittelalter 5, 2000, S. 83-100; Gerd ALTHOFF, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003; Geschichtswissenschaft und „performative turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hg. v. Jürgen MARTSCHUKAT und Steffen PATZOLD (Norm und Struktur 19), Köln-Weimar-Wien 2003. Wichtige Vorarbeiten: Geoffrey KOZIOL, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France, IthacaLondon 1992; Gerd ALTHOFF, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997; skeptisch: Philippe BUC, The Dangers of Ritual, Princeton 2001. 17 Vgl. dazu in der ausführlichen Bestandsaufnahme von Christian KIENING, Medialität in mediävistischer Perspektive, in: Poetica 39, 2007, S. 285-352, bes. S. 328-332 u. S. 351, die Beziehung zum Wahrnehmungsparadigma, etwa in der Forderung, „neben den Formen der Kommunikation auch Prozesse der Wahrnehmung und der Imagination in ihrer medialen Dimension zu bedenken“ (S. 327). 18 David FREEDBERG, The Power of Images, Chicago 1989; Hans BELTING, Bild und Kult, München 1990; DERS., Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001; Jean WIRTH, L’image médiévale: naissance et développements, Paris 1994.
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angesehen werden.19 Allerdings ist der Ruf nach einer „sprachlichen Wende“ in der deutschen Geschichtswissenschaft nicht selten auf vorschnelle Ablehnung gestoßen.20 Auch sind mediävistische Stellungnahmen zu diesem Problemkomplex rar geblieben,21 obwohl vergleichbare Fragen nach dem Zusammenhang von Wirklichkeit und Wahrnehmung zum Teil bereits in der älteren Begriffsgeschichte diskutiert worden sind.22 Die Problematik des „linguistic turn“ ist indes nicht mehr zu übersehen, und so hat die Forschung im Gefolge solcher Diskussionen mittlerweile begonnen, narrative Verfahren bei der Erfassung und Darstellung historischer Sinnbildungsprozesse wiederzuentdecken.23 Diese Wiederaufnahme geht einher mit einer starken anthropologischen Ausrichtung,24 die ohne das Narrativitätsparadigma kaum zu denken ist.25 Das Verhältnis von
19 Vgl. die Diskussionsquerschnitte in: Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, hg. v. Christoph CONRAD und Martina KESSEL (Reclam Universal-Bibliothek 9318), Stuttgart 1994; The Postmodern History Reader, hg. v. Keith JENKINS, London-New York 1997. 20 Bezeichnend: Ernst HANISCH, Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur, in: Kulturgeschichte Heute, hg. v. Wolfgang HARDTWIG und Hans-Ulrich WEHLER (Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 16), Göttingen 1996, S. 212-230. Vgl. demgegenüber Peter SCHÖTTLER, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der „dritten Ebene“, in: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, hg. v. Alf LÜDTKE, Frankfurt-New York 1989, S. 85-136; DERS., Wer hat Angst vor dem „linguistic turn“?, in: Geschichte und Gesellschaft 23, 1997, S. 134-151; Christoph CONRAD und Martina KESSEL, Geschichte ohne Zentrum, in: Geschichte schreiben in der Postmoderne (wie Anm. 19), S. 9-36. 21 Vgl. aber Gabrielle M. SPIEGEL, History, Historicism, and the Social Logic of the Text in the Middle Ages, in: Speculum 65, 1990, S. 59-86; Otto Gerhard OEXLE, Sehnsucht nach Clio, in: Rechtshistorisches Journal 11, 1992, S. 1-18. 22 Vgl. Hans Kurt SCHULZE, Mediävistik und Begriffsgeschichte, in: Festschrift für Helmut Beumann zum 65. Geburtstag, hg. v. Kurt-Ulrich JÄSCHKE und Reinhard WENSKUS, Sigmaringen 1977, S. 388-405. 23 Als ein Beispiel aus der Praxis sei genannt: Lawrence STONE, The Revival of Narrative: Reflections on New Old History, in: Past and Present 85, 1979, S. 3-24; zur Theorie: Hayden WHITE, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Aus dem Amerikanischen von P. Kohlhaas, Frankfurt/Main 1991; DERS., Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Einführung von Reinhart KOSELLECK (Sprache und Geschichte 10), Stuttgart 1991; Frank REXROTH, Meistererzählungen und die Praxis der Geschichtsschreibung. Eine Skizze zur Einführung, in: Meistererzählungen vom Mittelalter, hg. v. DEMS. (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 46), München 2007, S. 1-22. 24 Umfassend: Christian KIENING, Anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Konzepte, Ansätze, Perspektiven, in: Forschungsberichte zur Germanistischen Mediävistik, hg. v. Hans-Jochen SCHIEWER (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe C. Bd. 5/1), Bern u.a. 1996, S. 11-129. 25 Vgl. z.B. die narrativen Anteile im Verfahren der „dichten Beschreibung“ von Clifford GEERTZ, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in:
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Wahrnehmung, Deutung und Darstellung bedarf allerdings noch genauerer Untersuchungen. Eine wieder andere Perspektive auf die menschliche Wahrnehmung hat die Zusammenarbeit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften eröffnet: In diesem Sinne haben der Neurobiologe Wolf Singer26 und der Historiker Johannes Fried schon für ihre Eröffnungsvorträge zum Deutschen Historikertag im September 2000 in Aachen das Thema „Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen“ gewählt. Seitdem hat Fried in mehreren Beiträgen unter Verweis auf jüngere naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse eine neue Form historischer Quellenkritik gefordert, in seinen Arbeiten jedoch in erster Linie die formende Kraft des kollektiven und individuellen Erinnerns behandelt.27 Erinnerung und Vergessen sind allerdings nur zwei von etlichen Faktoren, die mittelalterliche Texte, Bilder und andere Artefakte geprägt haben.28 Die Dimension des Wahrnehmens und Deutens genauer zu erfassen bleibt daher ein dringendes Desiderat. Von naturwissenschaftlicher Seite ist erwiesen, wie selektiv das menschliche Gehirn arbeitet. Die Geschichtswissenschaft schließt daraus zu Recht auf einen geringen objektiven Zeugniswert ihrer ‚Quellen‘ im Hinblick auf eine historische Faktizität, sie kann dabei aber nicht stehen bleiben, zumal auch die menschliche Wahrnehmung als ein historisches Faktum betrachtet werden kann. Zwar ist in der neueren Literatur- und Kunstwissenschaft der Übergang zur Kognitionswissenschaft erprobt worden29, in kulturhistorischer Hinsicht scheint jedoch immer noch die weitergehende Orientierung am Modell des kulturellen Gedächtnisses mit seinen Symbolisierungsleistungen ratsam. Entsprechend ist zu fragen, inwiefern auch kultur- und epochenspezifische Selektionsprinzipien wirksam gewor-
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Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, hg. v. DEMS., Frankfurt/Main 1999, S. 7-43. Wolf SINGER, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, in: Eine Welt – Eine Geschichte? 43. Deutscher Historikertag in Aachen 2000. Berichtsband, hg. v. Max KERNER, München 2001, S. 18-27. Vgl. Johannes FRIED, Papst Leo III. besucht Karl den Großen in Paderborn oder Einhards Schweigen, in: HZ 272, 2001, S. 281-326; DERS., Erinnerung und Vergessen. Die Gegenwart stiftet die Einheit der Vergangenheit, in: HZ 273, 2001, S. 561-593; DERS., Geschichte und Gehirn. Irritationen der Geschichtswissenschaft durch Gedächtniskritik (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Mainz 7), Stuttgart 2003; DERS., Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004. Vgl. GOETZ, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster (wie Anm. 3). Vgl. als Überblick die Beiträge in dem Band: Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes, hg. v. Martin HUBER und Simone WINKO (Poetogenesis 6), Paderborn 2009; für kunst- und bildwissenschaftliche Ansätze vgl. Karl CLAUSBERG, Neuronale Kunstgeschichte. Selbstdarstellung als Gestaltungsprinzip, Wien 1999; Bettina BERENDT, Kognitionswissenschaft, in: Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, hg. v. Klaus SACHS-HOMBACH (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1751), Frankfurt am Main 2005, S. 21-36; Kunst und Kognition. Interdisziplinäre Studien zur Erzeugung von Bildsinn, hg. v. Matthias BAUER, Fabienne LIPTY und Susanne MARSCHALL, Paderborn 2008.
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den sind; und es gilt zu klären, welche Vorstellungen der menschlichen Wahrnehmung und Deutung jeweils zugrunde lagen und welche Wirkungen sie entfalteten: Wahrnehmungen und Deutungen gaben dem Handeln von Menschen Verlaufsformen vor und setzten ihm einen Rahmen;30 und sie prägten jene Texte und Bilder mit, die von Menschen geschaffen wurden. Dadurch aber konstituierten Wahrnehmung und Deutung zugleich auch Wirklichkeit. Mit dieser Feststellung ist allerdings kein unmittelbarer Zugang zu den Menschen über die ‚Quellen‘ postuliert, sondern ein anderer, kulturanthropologischer Zugriff auf das überlieferte Material. Insgesamt hat sich damit die Frage nach den historischen Wahrnehmungsweisen einerseits ihrer gemeinsamen kognitiven Grundparameter zu vergewissern. Andererseits zeigen die kulturwissenschaftlichen Differenzierungen des Forschungsfeldes aber auch, daß eine naive naturwissenschaftliche Einheitsphantasie für die Frage der historischen Wahrnehmung gerade nicht angezeigt ist. Hier müssen vielmehr die verschiedenen disziplinären Perspektivierungen notwendig im Spiel bleiben. Denn Wahrnehmungen gibt es – auch im Zusammenhang der interdisziplinären Arbeit – nur im Plural ihrer Deutungsprozesse. Ohne also die mögliche Vielfalt der Herangehensweisen einschränken zu wollen, empfiehlt sich dennoch ein gemeinsamer Rahmen des Untersuchungsgegenstandes. Unter Einbeziehung der vorgestellten Ansätze läßt sich „Wahrnehmung“ hier als sinnliche, vor allem aber – davon tatsächlich kaum zu trennen – als geistige, in aller Regel selbstverständliche Aufnahme kultureller und natürlicher Phänomene begreifen, also die Aufnahme all dessen, was dem Betrachter als „fraglos gegeben“ erscheint. Wahrnehmungsmuster sind dementsprechend diejenigen geistigen Strukturen, die im Prozeß der Wahrnehmung unwillkürlich wirksam sind und dazu führen, daß die Welt dem Betrachter von vornherein (in je zeitspezifischer Weise) als sinnhaft erscheint. In ihnen verdichten sich die (individuellen) Einzelwahrnehmungen gleichsam zu strukturellen Phänomenen, die sich aus den Gemeinsamkeiten immer gleicher Wahrnehmung des einzelnen Betrachters ergeben oder auch – überindividuell – als in einer Gesellschaft (oder Gruppe) längst vorhandene und selbstverständlich gewordene Denkmuster vom Betrachter aufgegriffen und angewandt werden. Wahrnehmung und Wahrnehmungsmuster aber sind ihrerseits von den bereits vorhan30 Vgl. dazu, als Reformulierung älterer phänomenologischer Grundvorstellungen, die Karriere der Begriffe von script und frame zuerst in der Linguistik und im Anschluß daran in der Literaturwissenschaft, ausgehend von den Begriffsvorschlägen von Marvin A. MINSKY, A Framework for Representing Knowledge, in: The Psychology of Computer Vision, hg. v. Patrick Henry Winston, New York 1975, S. 211-277; sowie Roger C. SCHANK / Robert P. ABELSON, Scripts, Plans, Goals and Understanding. An Inquiry into Human Knowledge Structures, New York u.a. 1977, so in der germanistischen Mediävistik in der Fragestellung nach der Wirkungsweise historischer Kulturmuster in der Literatur durch Jan-Dirk MÜLLER, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007.
Wahrnehmungen und Deutungen im Mittelalter
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denen und durch Lernen, Erfahrung und Sozialisation geprägten Vorstellungen des wahrnehmenden Menschen (und seiner Gesellschaft) bestimmt. Unter Deutung sei demgegenüber das zumeist gezielte, reflektierende Erfassen von Phänomenen verstanden. Im Akt der Deutung aber wirken wiederum Deutungsmuster, nämlich bewußte, reflektierte Strukturen, durch die der Mensch seiner Wahrnehmung aktiv Sinn zuweist. Wahrnehmung und Deutung stehen ebenso wie die in diesen Prozessen wirksamen Muster in einer unauflöslichen Wechselbeziehung: Zum einen sind in jeder Deutung kulturell geprägte Sinnzuweisungen vorgängig wirksam; zum anderen können reflektierte Deutungsmuster zu unreflektierten Wahrnehmungsmustern werden; umgekehrt können Wahrnehmungsmuster unter bestimmten Umständen fragwürdig erscheinen, ins Bewußtsein der Zeitgenossen treten und so wiederum zu Deutungsmustern werden. Die Analyse von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern bietet weitreichende Erkenntnischancen. Sie vermittelt Erkenntnisse zur textuellen und gegenständlichen Überlieferung des Mittelalters und zu deren Aussagekraft, mithin letztlich auch zu methodischen Fragen der Quellenkritik und -interpretation. Sie gewährt Einblicke in Denkweisen, die dem sozialen Handeln von Menschen zugrunde liegen und stellt sich der in den letzten Jahrzehnten auf geschichtsund literaturwissenschaftlicher Seite intensiven Erforschung mittelalterlicher Gesten, Rituale und Inszenierungen zur Seite, die sich letztlich erst durch die ihnen zugrundeliegenden Wahrnehmungs- und Deutungsmuster erklären lassen. Der vorliegende Band möchte die verschieden strukturierten Debatten interdisziplinär zusammenführen, ohne dabei jedoch die jeweils fachspezifisch notwendigen Fragestellungen und Methoden aufzuweichen. Er ist aus einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten interdisziplinären Forschungsprojekt zu „Wahrnehmungs- und Deutungsmustern im europäischen Mittelalter“ erwachsen, dessen vier Teilprojekte mit ihren jeweils eigenen Schwerpunkten31 sich in den Beiträgen dieses Bandes widerspiegeln. Beteiligt waren die Literaturwissenschaft, die Kunstgeschichte und die Geschichtswissenschaft. Angesichts des Forschungsstandes war das Projekt von vornherein nicht darauf angelegt, sämtliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Mittelalters zu inventarisieren und in einem Repertorium aufzulisten. Statt dessen sollte an drei exemplarischen Feldern, nämlich der Wahrnehmung und Deutung von Historizität (Vergangenheit), Identität (Fremdheit) und Idealität (am Beispiel der Heiligkeit), ausgelotet werden, welche Erkenntnischancen eine interdisziplinäre
31 „Reliquiare als Wahrnehmung und Konstruktion von Heiligkeit“ (Bruno Reudenbach mit Gia Toussaint), „Identifikation und Abgrenzung. Wahrnehmungen und Wahrnehmungsweisen des Vergangenen und des ‚Anderen‘ im Vergleich zur eigenen Lebenswelt in der mittelalterlichen Historiographie“ (Hans-Werner Goetz mit Markus Späth und Anna Aurast sowie Simon Elling), „Die Konstituierung bischöflicher Macht im Frankenreich durch Wahrnehmungs- und Deutungsmuster“ (Steffen Patzold), „Narrative Historizität in mittelhochdeutscher Epik“ (Hartmut Bleumer).
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Hartmut Bleumer / Hans-Werner Goetz / Steffen Patzold / Bruno Reudenbach
Zusammenarbeit „zwischen Wort und Bild“ für eine Geschichte mittelalterlicher Wahrnehmungen und Deutungen eröffnet. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster lassen sich den Materialien nicht direkt entnehmen. Zu ihrer Erfassung bieten sich aber verschiedene Herangehensweisen an. Neben der Analyse von Begriffen und von sprachlichen und visuellen Ausdrucksformen und ihrer darstellerischen und künstlerischen Verarbeitung spielen die explizite oder implizite Zuschreibung von Eigenschaften oder die assoziativ in Verweisen auf sinnlich Wahrnehmbares erkennbaren Vorstellungen eine ebenso bedeutende Rolle wie die Untersuchung der in den Texten und Gegenständen vermittelten Wertungen, der darin konstruierten Abgrenzungen, Übergänge und Bezüge (zwischen ‚vergangen‘ und ‚gegenwärtig‘‚ ‚fremd‘ und ‚eigen‘, ‚ideal‘ und ‚real‘) sowie der Funktionen der Wahrnehmungen und Deutungen im jeweiligen Kontext. Bei der Frage nach verbreiteten Mustern sind individuelle ebenso wie gattungsspezifische, räumliche ebenso wie zeitliche Differenzierungen zu beachten.“ Der vorliegende Band bildet diese Vorgehensweise im Projekt ab. Er führt – als eines der Ergebnisse des Projekts32 – sieben Beiträge zusammen, die sich jeweils einem der drei Betrachtungsschwerpunkte widmen, die insgesamt aber die Vielfalt der in dem Forschungsprojekt enthaltenen Möglichkeiten exemplarisch verdeutlichen und die jeweils inhärenten methodischen und quellenkritischen Probleme diskutieren wollen. Dabei wurden bewusst Materialien und Gegenstandsbereiche, die für drei mediävistische Wissenschaften charakteristisch sind, untersucht, um durch die Gegenüberstellung historiographischer, hagiographischer, normativer und literarischer Texte und künstlerischer Gegenstände Übereinstimmungen und Differenzen, Konstanten und Entwicklungen „zwischen Wort und Bild“ aufzudecken. Die Beiträge bleiben in ihrer Fragestellung, ihrer Methodik und mit Blick auf das analysierte Material daher zwar jeweils disziplinär ausgerichtet, sind aber von einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse geleitet: Sie möchten zusammen einen Beitrag dazu leisten, die aktuellen Schlüsselbegriffe der „Wahrnehmung“ und „Deutung“ schärfer zu konturieren und sie dadurch für eine interdisziplinäre Mediävistik zu nützlichen Forschungsinstrumenten und zu einer Grundlage weiterer Analysen zu machen. Die Herausgeber
32 Aus dem Projekt sind außerdem ein früherer Sammelband sowie verschiedene Aufsätze und Qualifikationsschriften erwachsen, die am Ende des Bandes zusammengestellt sind.
BRUNO REUDENBACH
Körperteil-Reliquiare Die Wirklichkeit der Reliquie, der Verismus der Anatomie und die Transzendenz des Heiligenleibes
I. Am 13. April des Jahres 1145, einem Karfreitag, fand im Kloster Stavelot eine feierliche Liturgie statt, wie sie aus dem Mittelalter vielfach überliefert ist, die elevatio, translatio und depositio von Reliquien. Wibald, der Abt des Klosters, entnahm von dem Ort, an dem sie seit langer Zeit begraben waren, den Kopf und Teile der mit Blut getränkten Kleidung des Märtyrers und heiligen Papstes Alexander. Dann legte er den Kopf des Märtyrers feierlich in ein silbernes Reliquiar, das die Form eines menschlichen Kopfes hatte. In diesem silbernen Kopf (Abb. 1) wurde der Heiligenschädel zusammen mit anderen Reliquien, darunter ein Stück vom Tisch des Abendmahls und vom Grab des Herrn, eingeschlossen.1 Während die Translationsurkunde sehr genau alle Reliquien aufzählt, überliefert sie vom Reliquiar selbst nur den Auftraggeber, Wibald, das Material Silber und die Form als menschlicher Kopf.2 So lapidar sprechen die Schriftquellen sehr häufig von Reliquiaren – die aber dennoch alles andere als nichtssagende Objekte sind. Nachdem sie lange Zeit von der Kunstgeschichte allein stilge1
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Susanne WITTEKIND, Altar – Reliquiar – Retabel: Kunst und Liturgie bei Wibald von Stablo (pictura et poesis 17), Köln-Weimar-Wien 2004, S. 195-202. Gegen die Möglichkeit, daß die Zeremonie am Karfreitag stattfand, siehe Jean SQUILBECK, Le Chefreliquaire du Pape Alexandre aux Musées royaux d’Art et d’Histoire: Critique historique et examen des formes, in: Revue belge d’archéologie et d’histoire de l’art 53, 1984, S. 3-9; Gegenargumente bei WITTEKIND (wie oben), S. 195, Anm. 77. Wortlaut der Translationsnotiz bei WITTEKIND (wie Anm. 1), S. 195: Anno dominice incarnationis MCXLV, xix kal. maii feria sexta in qua tunc occurrit Parasceve, translate sunt a domno Wibaldo venerabili Stabulensi abbate, reliquie beati Alexandri martiris atque pontificis qui quintus a beato Petro romanam rexit ecclesiam, scilicet cella illa teste capitis cum aliqua parte vestimenti sanguine ejus intincta, de loco in quo antiquitus a venerabilibus abbatibus recondite fuerant, et in capite argenteo quod ipse dompnus abbas Wibaldus ad easdem reliquias reponendas fabricari jusserat, vaenerabiliter sunt relocate et recondite. Reposite sunt etiam cum eisdem reliquiis et alie reliquie que simul cum hiis invente sunt, que omnes in hoc scripto continentur. Scilicet de lapide in quo stetit Dominus quando baptizatus est; de barba sancti Petri, de corpore S. Agapiti martiris, de corpore sancti Crispini martiris, de mensa Domini, de spongia Domini, de sepulcro Domini, de lapide super quem Dominus stetit quando celos ascendit, de corporibus sanctorum Maurorum vel sanctorum Thebeorum et sanctarum virginum XI millum, et de sepulcris primorum sanctorum.
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Bruno Reudenbach
schichtlich oder ikonographisch analysiert wurden, wissen wir heute, daß Reliquiare hochkomplexe Konstruktionen mit vielfältigen kulturellen Dimensionen sind. Sie berühren Kult und Theologie des christlichen Bildes und seine frühe Geschichte ebenso wie die Vorstellung von Heiligkeit oder die Konstruktion von Geschichte und Memoria; sie sind Medien in einem performativen und kommunikativen Kontext, dem Kult der Reliquien, und sie betreffen fundamentale anthropologische Fragen wie Leben und Tod, Diesseits und Jenseits.3 Für den modernen Beobachter sind viele Aspekte des Reliquienkultes fremdartig und verstörend; dies gilt besonders für einen Typus von Reliquiaren, von dem auch bei der eben angesprochenen translatio in Stavelot die Rede war: Reliquiare in Form menschlicher Körperteile. Für lange Zeit hat man diese Reliquiare mit einem von Joseph Braun geprägten Begriff „redende Reliquiare“ genannt.4 Braun verstand darunter, daß diese Reliquiare nur von ihrem Inhalt redeten und mit ihrer Form die Reliquie in ihrem Inneren anzeigten. Cynthia Hahn hat gezeigt, daß dies eine Vereinfachung und Verkürzung ist.5 Tatsächlich „sprechen“ diese Reliquiare – aber nicht eindimensional, sondern auf vielerlei Weise, auch metaphorisch und symbolisch, und sie sprechen in einem komplexen Zeichen- und Kommunikationssystem.6 Auf den ersten Blick scheint sich die Behauptung dieser Komplexität allerdings nicht zu bestätigen, wenn man sich mit Körperteil-Reliquiaren beschäftigt, im Gegenteil, ihre Sprache scheint ausgesprochen einfach. Selten oder gar nicht sind sie wie andere Reliquiare und Schreine mit Bildzyklen ausgestattet; so erfahren wir kaum etwas über die Heiligen, deren Reliquien mit und in diesen Reliquiaren verehrt werden, nichts über ihr Leben und nichts, was deshalb ihre Verehrung legitimierte. Diese Reliquiare bieten offenbar keinerlei Verständnisschwierigkeiten und scheinen keine hohen Ansprüche an die Rezeptionsfähig3
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Arnold ANGENENDT, Heilige und Reliquien: Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994; Caroline Walker BYNUM u. Paula GERSON, Body Part Reliquaries and Body Parts in the Middle Ages, in: Gesta 36, 1997, S. 3-7; Anton LEGNER, Reliquien in Kunst und Kult: zwischen Antike und Aufklärung, Darmstadt 1995; Les reliques: objets, cultes, symboles; actes du colloque international de l’Université du Littoral-Côte d’Opale (Boulogne-sur-Mer): 4-6 septembre 1997, hg. v. Edna BOZÓKY u. Anne-Marie HELVÉTIUS, Turnhout 1999; Bruno REUDENBACH, Reliquiare als Heiligkeitsbeweis und Echtheitszeugnis: Grundzüge einer problematischen Gattung (Vorträge aus dem Warburg-Haus 4), Berlin 2000, S. 1-36; Bruno REUDENBACH u. Gia TOUSSAINT, Die Wahrnehmung und Deutung von Heiligen: Überlegungen zur Medialität von Reliquiaren, in: Das Mittelalter 8, 2003, S. 34-40; Reliquiare im Mittelalter, hg. v. Bruno REUDENBACH u. Gia TOUSSAINT (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 5), Berlin 2005. Joseph BRAUN, Die Reliquiare des christlichen Kultes und ihre Entwicklung, Freiburg im Breisgau 1940. Cynthia HAHN, The Voices of the Saints: Speaking Reliquaries, in: Gesta 36, 1997, S. 2031. Barbara Drake BOEHM, Body-Part Reliquaries: The State of research, in: Gesta 36, 1997, S. 8-19; BYNUM u. GERSON (wie Anm. 3); HAHN (wie Anm. 5).
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keiten zu stellen, weil sie ihr visuelles Angebot rigoros beschränken auf etwas, das jeder kennt und jeder sofort identifizieren kann: ein menschliches Körperteil. Doch ist damit die Frage danach, wie diese Körperteilmimesis wahrgenommen wurde, in welchen Kontexten sie überhaupt einen Platz haben konnte und welche Deutungen über die in der eigenen Körpererfahrung gründende Identifizierung hinaus ins Spiel kamen, keineswegs beantwortet. Die traditionelle Erklärungsstrategie der Kunstgeschichte sucht für die veristische Nachbildung von Körperteilen vor allem einen Platz in einer Stil- und Entwicklungsgeschichte, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sich die Fähigkeit zu veristischer Darstellung erst allmählich entwickelte. Dieses Stadium sieht die Schulmeinung gemeinhin im 13. Jahrhundert erreicht, dem Zeitalter, in dem es der Kunst erstmals seit der Antike wieder gelang, sogenannte Wirklichkeits- und Lebensnähe zu gewinnen. Giotto ist der Name, der dafür als Beleg in der Malerei immer neu aufgerufen wird, und ebenso könne man diese Vorstellung in der Skulptur der Gotik erfüllt finden. Entsprechend befand noch vor kurzem ein Ausstellungskatalog: „Vor der Entfaltung der gotischen Skulptur im 13. Jahrhundert gab es im christlichen Mittelalter keine vollplastischen Bildwerke, die ein Bemühen um naturalistische Menschendarstellung erkennen lassen.“7 Eine solche Feststellung richtet das Phänomen einer naturalistischen Darstellung allein an der Logik der Stilgeschichte, einer kontinuierlichen, stilgeschichtlichen Entwicklung aus. Schon früh prägte Erwin Panofsky so die Formel vom „Massenstil“ der Romanik, der vom gotischen „Körperstil“ überwunden und abgelöst werde.8 Man kann in dieser Konstruktion eine Stilentelechie erkennen, die sich oft nicht einmal heimlich an einer normativ überhöhten Antike orientiert und so stillschweigend die Renaissance als Ziel der Entwicklung mitdenkt, da sie als Wiederbelebung der zum Naturalismus zuvor allein befähigten Antike verstanden wird. Die Ahistorizität dieser Vorstellung liegt auf der Hand – und damit ebenso die der Bestimmung von Naturalismus und Verismus einer Darstellung allein als eines stilgeschichtlichen Phänomens, abgesehen davon, daß mit der Einordnung von Kategorien wie „Körperlichkeit“, „Lebensnähe“ oder „Belebung der Gestalt“ in eine Stilgeschichte noch keine substantielle Begründung für die zeitgebundene Relevanz dieser angeblichen Stilideale geliefert ist. Dies gilt umso mehr, als die Vorstellung vom menschlichen Körper, auf die eine Mimesis von Körperteilen ja bezogen ist, nicht zu jeder Zeit dieselbe war und die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Konstitutionsbedingungen von körperlicher Realität das Wahrnehmen wie das Darstellen auf vielfältige 7
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Thomas FRANK, Wundertätige Körper. Reliquien und figürliche Reliquiare im Mittelalter, in: Ebenbilder. Kopien von Körpern – Modelle des Menschen (Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Ruhrlandmuseum, Essen, 26. März – 30. Juni 2002), hg. v. Jan GERCHOW, Ostfildern 2002, S. 73-82, hier S. 73. Erwin PANOFSKY, Die deutsche Plastik des elften bis dreizehnten Jahrhunderts, München 1924, S. 11-28.
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Weise prägen und verändern konnten.9 Wenn mit „Körper“ also keine überzeitlich gültige Konstante benannt ist, kann damit auch nicht der absolut gesetzte Bezugspunkt einer Stilgeschichte bestimmt sein, dem einzelne Stilepochen mal näher, mal ferner stehen. Insofern ist der Naturalismus der Körperdarstellung nur in Abhängigkeit von historischen, für die Wahrnehmung und Deutung maßgebenden Körperkonzepten zu beurteilen. Schon vor über zwanzig Jahren forderte daher Konrad Hoffmann die Rückbindung einer Stilgeschichte der Skulptur an die Realgeschichte des Körpers, eine Forderung, die bis heute weitgehend uneingelöst ist.10 Im selben Maße ist aber auch erforderlich, die übliche Beschreibungsbegrifflichkeit mit „Körperlichkeit“, „Lebensnähe“ u. ä. auf historische Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu beziehen. Wirklichkeitsnahe Darstellung ist damit weniger als ein stilgeschichtliches Problem zu würdigen, denn als eine funktions- und kontextabhängige Bildkonvention, als Darstellungsmodus. So ist die Gattung der Körperteil-Reliquiare denn auch eine Falsifizierung der stilgeschichtlichen Position, die vor dem 13. Jahrhundert kein Bemühen um eine naturalistische Menschendarstellung kennen will; Körperteil-Reliquiare dagegen hatten von Beginn an offenbar nichts anderes im Sinn, als genau dies, als menschliche Gliedmaßen nachzubilden. Reliquiare in der Form menschlicher Gliedmaßen hat es, wie wir aus Schriftquellen wissen, offenbar schon im späten 8. Jahrhundert gegeben. In Saint-Denis gehörte unter Abt Fardulfus (793-806) eine goldene Hand, in der ein Finger des hl. Dionysius geborgen war, zum Reliquienschatz.11 Hand- und Armreliquiare lassen sich bis ins 8./9. Jahrhundert zurückverfolgen, wohl im 9. Jahrhundert entstehen die ersten Kopf- und Büstenreliquiare.12 Damit sind die beiden größten Gruppen von KörperteilReliquiaren genannt; aber auch die erheblich selteneren Fußreliquiare sind schon früh nachweisbar. Das berühmteste, der so genannte Andreas-Tragaltar in Trier, geht auf Bischof Egbert, also auf das späte 10. Jahrhundert zurück. Auf dem Schiebedeckel dieser Verbindung von Reliquiar und Tragaltar ist eine lebensgroße Fußskulptur montiert, mit dem Deckel aus einem Stück gearbeitet und mit Goldblech überzogen (Abb. 2). Der Katalog der Rhein-Maas-Ausstellung von 1972 sieht diese Fußskulptur „in erstaunlicher Treue der Natur nachgebildet“, „Naturnähe“ beAus der kaum noch übersehbaren Literatur zur mittelalterlichen Körpergeschichte sei hier nur zitiert: Karina KELLERMANN, Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung, in: Das Mittelalter 8, 2003, Heft 1, hier S. 9-12 eine Auswahlbibliographie. 10 Konrad HOFFMANN, Stilwandel der Skulptur und Geschichte des Körpers. Überlegungen zum Forschungsstand, in: Bauwerk und Bildwerk im Hochmittelalter, hg. v. Karl CLAUSBERG, Dieter KIMPEL u.a., Gießen 1981, S. 141-144. 11 Martina JUNGHANS, Die Armreliquiare vom 11. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts (Diss.), Bonn 2000, S. 20. 12 Brigitta FALK, Bildnisreliquiare. Zur Entstehung und Entwicklung der metallenen Kopf-, Büsten- und Halbfigurenreliquiare im Mittelalter, in: Aachener Kunstblätter 59, 1991/93, S. 99-238, hier S. 101. 9
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scheinigt ihr 1984 Franz Ronig, und wohl nicht zufällig beginnt schon der 1934 erstmals erschienene Aufsatz von Dagobert Frey zum „Realitätscharakter des Kunstwerkes“ mit diesem Beispiel.13 Tatsächlich können die nachgebildeten, fast immer mit Metall überzogenen Körperteile mit einer in der jeweiligen Zeit nicht zu erwartenden anatomischen Detailtreue aufwarten. Der ehemals in die Braunschweiger Stiftskirche gehörende sogenannte Apostelarm (Cleveland) vom Ende des 12. Jahrhunderts vermag dies ebenso vorzuführen, wie das aus dem Baseler Domschatz stammende Armreliquiar des hl. Walpert aus der Mitte des 13. Jahrhunderts (heute Eremitage, St. Petersburg) (Abb. 3).14 Als generelles Charakteristikum aller Armreliquiare hat daher Martina Junghans folgendes festgehalten: „Plastisch herausgearbeitet werden die Muskelpartien an den Handinnenflächen, die Sehnenstränge auf den Handrücken mal stärker, mal schwächer angedeutet und auch auf eine Einzeichnung der Handlinien nur selten verzichtet.“15
Dieser Katalog ließe sich erweitern mit dem Hinweis auf die durchweg ausgearbeiteten Fingernägel, die Falten zwischen den Fingergliedern wie überhaupt auf den Maßstab, die Lebensgröße der meisten Körperteil-Reliquiare. Der anatomische Verismus ist also offensichtlich kein Stil-, sondern ein Gattungsmerkmal, Körperteil-Reliquiaren eignete „das Bemühen um Lebensnähe“ und der Versuch, „dem Körperteil eine lebendige Wirkung zu verleihen“ schon von Beginn an.16 Immer wieder durchbricht bei Armreliquiaren allerdings ein Motiv die Konstellation einfacher Mimesis und sorgt für ein Moment der Irritation, die Kleidung. Am aufrecht stehenden Arm ist der Gewandärmel nicht hinabgerutscht; er gehorcht nicht der Schwerkraft, sondern steht ab, als würde der Arm in der Horizontalen gehalten. Man kann darin ein Indiz dafür sehen, daß eben doch nicht einfach Realität wiedergegeben wird und wahrgenommen werden sollte, daß es offenbar nicht oder nicht allein auf die skulpturale Nachbildung von Realität ankam. 13 Rhein und Maas. Kunst und Kultur (800–1400) (Katalog der Ausstellung in der Kunst-
halle Köln 1972), hg. v. Anton LEGNER, Köln 1972, S. 177; Franz RONIG, AndreasTragaltar (Egbert-Schrein), in: Schatzkunst Trier, hg. v. Bischöfl. Generalvikariat Trier (Treveris sacra 3), Trier 1984, S. 96f.; Dagobert FREY, Der Realitätscharakter des Kunstwerkes, in: DERS., Kunstwissenschaftliche Grundfragen. Prolegomena zu einer Kunstphilosophie, Darmstadt 1972, S. 107-149, hier S. 109f. 14 Heinrich der Löwe und seine Zeit: Herrschaft und Repräsentation der Welfen (11251235) (Katalog der Ausstellung im Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig 1995), hg. v. Jochen LUCKHARDT u. Franz NIEHOFF, München-Braunschweig 1995, Bd. 1, S. 246f.; JUNGHANS (wie Anm. 11 ), Kat. Nr. 17, S. 104-111; Der Basler Münsterschatz (Katalog der Ausstellungen New York-Basel-München), hg. v. Historischen Museum Basel, Basel 2001, S. 76-80. 15 JUNGHANS (wie Anm. 11), S. 76. 16 Ebd.
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Durch Form und Funktion sind Körperteil-Reliquiare auf den Reliquienkult bezogen; als Aufbewahrungs- und Zeigebehälter für Reliquien stehen sie im Zentrum des Kultgeschehens um Reliquien. Doch ist nicht von vornherein selbstverständlich, daß die detailgetreue Nachbildung eines isolierten menschlichen Körperteils zu einem Gegenstand werden konnte, der im christlichen Kult Verwendung fand. Auch wenn diese Reliquiare sich mit ihrer äußeren Form – einem Körperteil – auf die Gewinnung von Reliquien durch die Zerteilung eines Heiligenleibes beziehen und sie die Praxis der Gebeinteilung damit unmittelbar anschaulich werden lassen, reicht der Hinweis auf den Reliquienkult als Legitimation dieser Gattung nicht aus; ebenso sind damit längst nicht alle Gestalteigenschaften von Körperteil-Reliquiaren, wie ihr anatomischer Verismus oder ihre Materialität, befriedigend erklärt. Vermag ein stilgeschichtlicher Zugriff zu analysieren, daß ein Armreliquiar zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort anders aussieht als zu anderen Zeiten an anderen Orten, so scheitert er vor der Anforderung, die Konstitutionsbedingungen der Gattung Körperteil-Reliquiar generell zu erklären. Für dieses Frageinteresse sind über die Relationen zu Reliquienkult und Gebeinteilung hinaus weitergehend die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Belang, denen Reliquiare als nachgebildete Körperteile im engeren und weiteren Kontext des Reliquienkultes unterlagen. Eine Grundfigur des Reliquienkultes ist, wie vielfach schon dargelegt wurde, seine Ausrichtung auf die sinnliche Wahrnehmung. Durch Berührung oder durch visuellen Kontakt, durch physische Nähe sollte die den Reliquien innewohnende virtus auf die Gläubigen übertragen werden. Soweit sich diese Übertragung in einem geregelten und von der Kirche sanktionierten Kultgeschehen vollzog, kam sie in den seltensten Fällen durch den direkten Kontakt zwischen Reliquie und Gläubigen zustande. Vielmehr war die Reliquie in einem Reliquiar verschlossen, unsichtbar in seinem Innern geborgen oder durch eine Sichtöffnung sichtbar, aber nicht direkt berührbar. Die „Sichtbarkeit der Reliquie im Reliquiar“ ist insofern ein fundamentales Problem bei der Analyse des Reliquienkultes.17 Dies gilt auch deshalb, weil damit ein Paradoxon umschrieben ist: Der Reliquienkult ist genuin auf sinnliche Wahrnehmung – und zwar nicht nur die visuelle, sondern auch die haptische – ausgerichtet; gleichzeitig kann die Reliquie durch die Instrumente des Kultes, nämlich die Reliquiare, der Wahrnehmung entzogen sein. Dies kann ein vollständiger Entzug sein, wenn die Reliquie unsichtbar im Inneren des Reliquiars geborgen ist; doch selbst, wenn eine Sichtöffnung den Blick auf die Reliquie freigibt, ist damit nicht eine unmittelbare und unverstellte Wahrnehmung ermöglicht, sondern eine, die durch das Reliquiar inszeniert und gesteuert ist. Die Gläubigen konnten demnach die Reliquie selbst oft nicht oder nur mittelbar wahrnehmen; sie wurden statt dessen auf das Schauangebot verwiesen, 17 Christof L. DIEDRICHS, Vom Glauben zum Sehen. Die Sichtbarkeit der Reliquie im Reli-
quiar. Ein Beitrag zur Geschichte des Sehens, Berlin 2001.
Körperteil-Reliquiare
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das ihnen durch das Reliquiar offeriert wurde. Dessen ästhetisches Potential verband die Reliquie mit bestimmten Eigenschaften und Qualitäten und vermittelte diese durch Anschauung.18 Die Form des Reliquiars, seine Erscheinung, seine Gestalteigenschaften und seine Bildausstattung umhüllten, kommentierten und deuteten also die Reliquie. Durch die Einbindung der Reliquie in ein durch ein Reliquiar konstituiertes Zeichen- und Kommunikationssystem wurde zugleich eine bestimmte Wahrnehmungsweise der häufig unsichtbar bleibenden Reliquie festgeschrieben. Für den Augensinn trat das Reliquiar an die Stelle der Reliquie oder aber es inszenierte deren Sichtbarkeit. In dieser Konstellation wurde nicht nur die Sichtbarkeit problematisiert, sondern auch das Verhältnis der (unsichtbaren) Reliquienmaterie zu dem sichtbaren Material des umhüllenden Reliquiars, ein Problem, das auch die wenigen mittelalterlichen Autoren, die sich explizit zu Reliquiaren äußern, ansprechen. Letztlich ist diese Problematik aufgehoben in einer allgemeineren, im Verlaufe des Mittelalters vielfach diskutierten Zeichenlehre, die schon von Augustinus angelegt wurde und die das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem betrifft. Vor allem in den Kontroversen um das Sakrament der Eucharistie hat diese Debatte Relevanz erlangt und auch die theoretisch avanciertesten Beiträge hervorgebracht.19 Bei Reliquiaren geht es dabei auch darum, daß die sichtbare und kostbare Umhüllung die unscheinbare Reliquienmaterie nobilitiert und ihren unsichtbaren ideellen Wert, ihre Heiligkeit, für die sinnliche Wahrnehmung erfahrbar macht. Damit ist ein sehr allgemeines und unspezifisches Verständnis von „Heiligkeit“ unterstellt, jenseits aller Differenzierungen und der jüngst zu Recht betonten Prozessualität von Heiligkeitszuschreibungen.20 Lassen sich derartige Differenzierungen auch an und mit Reliquiaren belegen, so bleibt es unabhängig davon dennoch eine für diese Untersuchung tragfähige Prämisse, zunächst generell Material und Form eines Reliquiars als eine die Wahrnehmung der Reliquienmaterie steuernde, inszenierende Umhüllung zu verstehen, die im Sinne von Autoren wie Thiofrid von Echternach oder Petrus Venerabilis das unsichtbare „Heilige“ der Reliquienmaterie sinnlich aufbereitet. Zwar ist es unmöglich, sich mit den visuellen Erfahrungen des 21. Jahrhundert in das Mittelalter zurückzuversetzen und die individuelle und direkte sinnliche Wahrnehmung mittelalterlicher Zeitgenossen rekonstruieren zu wollen, wohl aber läßt sich annäherungsweise Aufschluß darüber gewinnen, wie und mit welchen Intentionen die Wahrnehmungssteuerung durch Reliquiare bewerkstelligt wurde. Für die Frage nach den Wahrnehmungs- und Deutungsmustern wird damit dem Gegenstandsfeld entsprechend ein Zugang erprobt und eine „Versuchsan18 REUDENBACH u. TOUSSAINT, Wahrnehmung (wie Anm. 3). 19 Vgl. ebd. S. 35f.; s. auch den Beitrag von Steffen PATZOLD in diesem Band. 20 Berndt HAMM, Heiligkeit im Mittelalter. Theoretische Annäherung an ein interdisziplinä-
res Forschungsvorhaben, in: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, hg. v. Nine MIEDEMA u. Rudolf SUNTRUP, Frankfurt am Main-Berlin u.a. 2003, S. 627-645.
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ordnung“ entwickelt, die sich von der Auswertung historiographischer Quellen unterscheidet. Wie die geschichtswissenschaftlichen Beiträge in diesem Band zeigen, läßt sich anhand von Texten analysieren, wie ein Autor Vergangenheit oder Fremdheit wahrnimmt und wie sich seine Wahrnehmung bewußt oder unbewußt im Text artikuliert. Demgegenüber „redet“ das Körperteil-Reliquiar weniger darüber, wie ein mittelalterlicher Künstler Heiligkeit wahrnimmt, als vielmehr darüber, wie er für die Gläubigen die Reliquie als etwas Heiliges wahrnehmbar macht, wie er deren Sakralität und Heilswirkung vermittelt. Ihm wird damit hier von vornherein die Intention unterstellt, er statte ein Reliquiar mit bestimmten Formen und Materialien so aus, daß die Gläubigen bei der sinnlichen Erfassung dieser Eigenschaften diese zugleich als Zeichen von Heiligkeit deuten. Eine Rekonstruktion dieses Vorgangs ist möglich durch die Benennung und Analyse der Gattungsmerkmale, also nicht so sehr der jeweils individuellen Besonderheiten eines Reliquiars, sondern der generalisierbaren, gattungsspezifischen Gestalteigenschaften. In ihnen artikuliert sich eine verallgemeinerbare Vorstellung, ein Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Heiligkeit, das weit verbreitet und entsprechend leicht erkennbar und rezipierbar war. Man kann unterstellen, daß sich diese Muster der Deutung und Darstellung von heiligen Körpern nicht allein durch Reliquiare artikulieren, ja daß ihre Vermittlung durch Reliquiare gerade dadurch Erfolg verspricht, weil auch anderweitig, in der Hagiographie wie in den Diskursen der Theologie, diese Vorstellungen entwickelt sind. Die Semantik von Reliquiaren ist damit verifizierbar durch den vergleichenden Blick auf Darstellungsverfahren in hagiographischen Texten oder auf theologische Diskurse, die ein Reliquiar als materielles Artefakt nicht selbst führen kann, die es aber voraussetzt und in Anschauung übersetzt. Generell läßt sich sagen, daß mittelalterliche Theologen und Autoren einer Erörterung der Eucharistielehre trotz der durchaus vergleichbaren Problematik erheblich mehr Aufmerksamkeit schenkten als der Formulierung einer umfassenden und konsistenten Reliquientheologie – und Aussagen über die den Kult organisierenden Behälter, die Reliquiare, fehlen fast vollständig. Umso auffälliger ist eine der großen Ausnahmen, Thiofrid von Echternach, der um 1100 in seinen ‚Flores Epytaphii Sanctorum‘ nicht nur Gewinnung, Eigenschaften und Verehrung von Reliquien reflektiert, sondern dabei auch auf Reliquiare, deren Formen und Materialien eingeht.21 Daß Thiofrid dabei methodisch direkt auf die eucharistischen Debatten des 11. Jahrhunderts rekurriert, ist gewiß kein Zufall.22 Doch auch er verliert nirgends ein Wort über die prominente Gruppe der Reliquiare, die in Gestalt von Körperteilen gebildet sind. Seine Ausführungen sind 21 Thiofridus Epternaciensis, Flores Epytaphii Sanctorum, ed. Michele C. FERRARI, Corpus
Christianorum. Continuatio Mediaevalis 133, Turnhout 1996. 22 Michele C. FERRARI, Gold und Asche. Reliquie und Reliquiare als Medien in Thiofrid von
Echternachs ‚Flores epytaphii sanctorum‘, in: Reliquiare im Mittelalter (wie Anm. 3), S. 70f.
Körperteil-Reliquiare
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aber dennoch von Belang, lassen sich daraus doch einige Konsequenzen für den Umgang mit Reliquiaren ableiten. Zum einen versteht Thiofrid Reliquiare nicht einfach als Aufbewahrungsbehälter, sondern mobilisiert entschieden die medialen Qualitäten dieser Geräte. Dabei billigt er dem Material ausdrücklich eine semantische Dimension zu, wenn er das problematische Verhältnis von Reliquienmaterie einerseits und den kostbaren Materialien der Behälter anderseits im Sinne einer Materialsemantik auflöst. Zum andern steht auch die Form der Reliquienbehälter in einer engen Sinnbeziehung zum Inhalt; Thiofrid erörtert dies an einem pyramidenförmigen Reliquiar, in dessen Form mit viereckiger Basis und dreieckigen Seitenflächen er den Aufstieg über den die Kirche bezeichnenden lapis angularis zur höchsten unitas in der Pyramidenspitze bezeichnet sieht, wobei er auch die Zahlenallegorese vor allem für Tugendternare und -quaternare bemüht.23 Hier werden Reliquiare demnach nicht allein als Aufbewahrungsbehälter verstanden, vielmehr setzt Thiofrid eindeutig und selbstverständlich auf die Fähigkeit dieser Behälter, Sinn zu vermitteln, eine Eigenschaft, die demnach auch den in Gestalt von Körperteilen erscheinenden Reliquiaren zuzusprechen wäre. II. Eines der ältesten erhaltenen Armreliquiare ist das des hl. Blasius, das die Gräfin Gertrud vor 1077 für ihre Stiftskirche in Braunschweig stiftete (Abb. 4). Der auffällig schlanke, fast röhrenförmige Arm ist über 50 cm hoch; er besteht aus einem mit Goldblech beschlagenen Eichenholzkern; drei mit Edelsteinen besetzte Borten zieren den unbekleideten Arm, eine am Handgelenk, eine oberhalb der Standfläche und eine, die diagonal über den gesamten Unterarm geführt ist und beide Ringe miteinander verbindet. Die nach oben zeigenden Finger der Hand sind parallel geführt, so daß sich nicht eine spezifische Geste ergibt; die Finger sind mit 16 teilweise später zugefügten Ringen besetzt. Bei den Fingern wie bei der Hand, insbesondere beim Handrücken, ist besondere Sorgfalt auf die Modellierung der Oberfläche und die Nachzeichnung anatomischer Details gelegt worden.24 Eine Inschrift auf der Standfläche besagt: BRACHIUM SANCTI BLASII MARTYRIS HIC INTUS HABETUR INTEGRUM. Hier handelt es sich demnach um den längst nicht immer zutreffenden Fall, daß das Armreliquiar tatsächlich einen Armknochen enthält. Mit dem Attribut integrum, welches der Reliquie zugesprochen wird, ist eine Eigenschaft genannt, die für die mittelalterliche Vorstellung vom Heiligenleib und für den Reliquienkult generell konstitutiv 23 Thiofridus Epternaciensis, Flores Epytaphii (wie Anm. 21), S. 48f.; vgl. FERRARI, Gold
und Asche (wie Anm. 22), S. 61-74, bes. S. 65f. 24 Heinrich der Löwe (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 244-246; A. KRUG, Die antiken Gemmen am
Armreliquiar des hl. Blasius in Braunschweig, in: Der Welfenschatz und sein Umkreis, hg. v. Joachim EHLERS u. Dietrich KÖTZSCHE, Mainz 1998, S. 93-109; JUNGHANS, Armreliquiare (wie Anm. 11), Kat. Nr. 1, S. 5-14.
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ist. Reliquie und Reliquiar werden damit ausdrücklich auf die Vorstellung vom corpus integrum oder corpus incorruptum der Heiligen bezogen.25 Die christliche Erwartung vom Jenseits war mit dem Glauben verbunden, daß der irdische Leib, der nach dem Tod zu Staub zerfällt, am Ende der Zeiten aber aufersteht und verwandelt in den Auferstehungsleib eingeht. Diese Rückkehr des Leibes in der Auferstehung und die strukturelle, ja materielle Identität oder Korrespondenz von irdischem Leib und dem Leib der Auferstehung hat Denker gerade im 12. Jahrhundert intensiv beschäftigt. Dabei gewann der Gedanke an Bedeutung, daß zur persönlichen Identität nicht allein die Seele, sondern eben auch der Leib gehöre.26 Für den Reliquienkult wichtig ist außerdem die Vorstellung, daß Märtyrer und Heilige schon unmittelbar nach dem Tod und ohne Gericht auf direktem Wege in den Himmel gelangten. Doch blieb auch ihr irdischer Leib voller Gnade. Die Kraft des himmlischen Leibes, die virtus, die er im Angesicht Gottes erlangte, verband sich auch mit dem irdischen Leib der Heiligen. Damit führten Heilige auf gewisse Weise eine doppelte Existenz: Sie waren im Himmel und agierten zugleich durch ihre himmlische virtus auf der Erde, wo sie auch nach dem Tod in Erscheinung treten und Wunder bewirken konnten.27 Weil der tote Leib eines Heiligen mit seinem transzendenten Auferstehungsleib verbunden war, war er unvergänglich und blieb unverweslich. Integer oder incorruptus sind daher die Attribute, die in der Hagiographie stereotyp immer wieder den Gebeinen von Heiligen zugesprochen werden. Schon die erste im Westen belegte Translation von Märtyrern durch Ambrosius von Mailand im Jahre 386 ist von der Nachricht begleitet, bei der Auffindung der Heiligen seien „alle ihre Gebeine unversehrt“ (ossa omnia integra) gewesen.28 Die Vorstellung vom corpus incorruptum der Heiligen war auch ein Grund dafür, daß das Christentum die Teilung des Leibes zur Entnahme von Reliquien zunächst ablehnte. Erst später wurde die Wahrung der integritas der Heiligen und die dieser Idee widersprechende Zerteilung des Leibes in Reliquien miteinander 25 Arnold ANGENENDT, Corpus incorruptum. Eine Leitidee der mittelalterlichen Reliquien-
verehrung, in: Saeculum 42, 1991, S. 320-348; DERS., Der ‚ganze‘ und ‚unverweste‘ Leib – Eine Leitidee der Reliquienverehrung bei Gregor von Tours und Beda Venerabilis, in: Aus Archiven und Bibliotheken. Festschrift für Raymund Kottje, hg. v. Hubert MORDEK (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte 3), Frankfurt am Main 1992, S. 3350; Ursula SWINARSKI, Der ganze und der zerteilte Körper. Zu zwei gegensätzlichen Vorstellungen im mittelalterlichen Reliquienkult, in: Hagiographie im Kontext, hg. v. Dieter R. BAUER u. Klaus HERBERS (Hagiographie im Kontext 1), Stuttgart 2000, S. 58-68; Uta KLEINE, Schätze des Heils, Gefäße der Auferstehung. Heilige Gebeine und christliche Eschatologie im Mittelalter, in: Historische Anthropologie 14, 2006, S. 161-192. 26 Caroline Walker BYNUM, The Resurrection of the Body in Western Christianity, New York 1995. 27 ANGENENDT, Heilige (wie Anm. 3), S. 102-115. 28 Ernst DASSMANN, Ambrosius und die Märtyrer, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 18, 1975, S. 49-68; ANGENENDT, Der ‚ganze‘ und ‚unverweste‘ Leib (wie Anm. 25), S. 33.
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in Einklang gebracht, vor allem durch das Theorem, wonach jedem Partikel eines Heiligenleibes dieselbe Gnadenkraft zukam wie dem Ganzen. Schon im 5. Jahrhundert faßte Victricius von Rouen dies in der berühmten Formel zusammen: Ubi est aliquid ibi totum est.29 Die Inschrift des Blasius-Reliquiars, die von einem BRACHIUM INTEGRUM spricht, bringt genau dies zum Ausdruck und belegt die Verbindung der Reliquie mit dem Konzept des corpus integrum. Gebeinteilung und Körperfragmentierung werden so zu einer selbstverständlichen und gängigen Praxis. Sie ist auch bildlich belegt, wie durch die Illustration aus der Vita der Mathilde von Canossa von 1115, die zeigt, wie dem Leichnam des hl. Apollonius der rechte Arm abgeschnitten wird. Und sie wird ebenso selbstverständlich historiographisch überliefert, z.B. in der Vita des Bernward von Hildesheim. In Rom besucht Bernward St. Paul vor den Mauern. „Er öffnete den Sarkophag des hl. Timotheus ... und“ – so notiert die Vita lapidar – „nahm sich von dem unversehrten Leib des hl. Märtyrers einen Arm heraus“.30 Allerdings lassen sich auch Differenzierungen in der breiten Akzeptanz der Gebeinteilung und der weiten Verbreitung des Reliquienkults feststellen. Dem Theorem Ubi est aliquid ibi totum est zum Trotz konnte der Besitz des ganzen Heiligenleibes mehr gelten als der nur einer Reliquie, und zusätzlich legen manche Quellen die Vorstellung nahe, daß mit bestimmten Teilen des Körpers auch bestimmte Wirkungen verbunden waren, daß es also erstrebenswert war, aus verschiedenen Reliquien und Körperteilen den Heiligenleib sozusagen neu zu konstituieren. In Langres zog sich dieser Akkumulationsprozeß über mehrere Jahrhunderte hin; zum Schlüsselbein des heiligen Mamas, das man seit dem 8. Jahrhundert besaß, kamen im 11. und 12. Jahrhundert weitere Reliquien, darunter 1075 ein Armknochen, bis man schließlich nach dem vierten Kreuzzug auch noch den Kopf des Heiligen erwarb.31 Körperteil-Reliquiare sind nun, schon dem ersten Augenschein nach, in ihrer Gestalt als Fragment auf die Praxis der Gebeinteilung und Reliquiengewinnung bezogen, damit aber auch auf die Vorstellung der in den Körperfragmenten weiter lebenden und wirkenden Heiligen. Insofern bleiben sie auch der angesprochenen Dialektik von Fragment und ganzem Leib verbunden. Anders als bei der auratischen frühmittelalterlichen Skulptur wird der Glaube an die lebendige Präsenz der Heiligen in den Körperteil-Reliquiaren durch einen forcierten Realismus angeregt und ausgedrückt. Tatsächlich können die nachgebildeten und fast immer mit Metall überzogenen Körperteile mit einer großen anatomi29 Victricius von Rouen, De laude sanctorum X, ed. I. MULDERS u. R. DEMEULENAERE
(Corpus Christianorum. Series Latina 64), Turnhout 1985, S. 85: Ostendimus itaque in parte totum esse posse […] Et ubi est aliquid, ibi totum est. 30 Thangmar, Vita s. Bernwardi episcopi 26, ed. Georg Heinrich PERTZ, MGH SS 4, Hannover 1841, S. 770: […] venerabilis pater Bernwardus ad Sanctum Paulum orationis causa accessit; apertoque sarcofago sancti Thimothei […] astante custode quem ipse imperator ibidem posuerat, de integro brachium sancti martiris abstulit. 31 Claire Wheeler SOLT, Romanesque French Reliquaries, in: Studies in Medieval and Renaissance History 9, 1987, S. 169-236, hier S. 179.
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schen Detailtreue aufwarten, die sich auf den Diskurs um den himmlischen und heiligen Leib beziehen läßt. Dabei führen diese Reliquiare nicht ganze Körper vor, sondern in Holz und Metall nachgeschaffene Gliedmaßen, die zugleich aber mehr und vollständiger sind als die Reliquien selbst. Im Vergleich zu den Reliquien produzieren sie einen figurativen Überschuß; aber sie zeigen dennoch demonstrativ ein Fragment, ein jeglichen Kontextes weitgehend entkleidetes, isoliertes Körperteil. Diese Reliquiare sind als eine kritische Form zu begreifen, in der das Fragmentarische der Reliquien ebenso bewahrt, wie im Zustand der Unversehrtheit und Verklärung aufgehoben ist. Die in der Form des Reliquiars vollzogene Ergänzung der Reliquien zu einem vollständigen Körperteil führt zugleich das Fragmentarische vor. Der anatomische Verismus treibt diesen Antagonismus auf die Spitze, die Detailtreue der Anatomie eines Körperteils demonstriert ein Mehr gegenüber der Reliquie, läßt aber dennoch keinen Zweifel daran zu, daß dies nur Teil eines ganzen Körpers ist: Ubi est aliquid ibi totum est. Die skulpturale Umhüllung der Reliquien zielt dabei nicht auf die Restituierung des irdischen Heiligenleibes, sondern ist als Darstellung des unversehrten himmlischen Auferstehungsleibes gemeint, der in Struktur und Form mit dem irdischen Leib identisch ist.32 Das Kopfreliquiar des hl. Papstes Alexander aus Stavelot zeigt dies deutlich durch eine zweigeteilte Disposition (Abb. 1). Der Unterbau ist wie ein Tragaltar gestaltet und mit zwölf Emailplatten versehen, deren Bildprogramm auf den historischen Alexander bezogen ist. Tugenden und Seligpreisungen weisen auf die ethische Vollkommenheit seines Lebens hin, das durch ein Martyrium endet. In der Mitte der Vorderseite erscheint Alexander mit seinen Gefährten, den heiligen Eventius und Theodulus, die mit ihm hingerichtet wurden. Axial über dieser Darstellung des historischen Alexander, der in vollem Ornat und mit den Insignien seines Amtes zwischen seinen Gefährten gezeigt wird, erhebt sich über dem Kasten der vollplastische Kopf, aus Silberblech getrieben, an Haaren und Pupillen vergoldet. Mit Kleinformat, Zweidimensionalität und Farbigkeit unten und Großformat, Dreidimensionalität und Metallglanz oben werden die historische, irdische und die himmlische Existenz einander gegenübergestellt. Die dreidimensionale Skulptur meint also gerade nicht menschliche Körperlichkeit, sondern bezeichnet den im ewigen und himmlischen Tugendglanz erstrahlenden Heiligen. Als Zwischenergebnis läßt sich damit festhalten, daß die in Theologie und Hagiographie entwickelte Vorstellung vom Heiligenleib als einem himmlischen corpus incorruptum eine bestimmte Wahrnehmung der Körperteil-Reliquiare nahelegte; sie waren für jedermann durch die eigene Körpererfahrung als menschliche Körperteile identifizierbar; ihnen trotz der Separierung vom Körper Wirkkraft und Lebendigkeit zuzusprechen, sie zu einem Gegenstand der Verehrung 32 REUDENBACH, Reliquiare (wie Anm. 3), S. 17-21; Thomas E. A. DALE, The Individual,
the Resurrected Body and Romanesque Portraiture: The Tomb of Rudolf von Schwaben in Merseburg, in: Speculum 77, 2002, S. 707-743, hier S. 728-739.
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zu machen – dies war durch die Alltagserfahrung nicht legitimierbar. Diese Deutung des Körperteils ging auf die Grundvorstellungen des Reliquienkultes zurück und war auch durch Kultpraktiken vermittelt. III. So berichten die Quellen, daß beim Umgang mit diesen Reliquiaren das Berühren, Umarmen und Küssen eine besondere Rolle spielte, also die Vorstellung eines unzerteilten Körpers die Begegnung mit dem Körperteil dominierte.33 Der Kuß als besonders intensive Form des leiblichen Kontaktes galt nicht nur ungefaßten Reliquien. In Köln wurde das Sylvesterhaupt nach dargebrachtem Opfer in der Domsakristei zum Küssen ausgestellt; in Limoges stand das Haupt des hl. Martialis den Pilgern zum Kuß bereit, und Albrecht von Brandenburg schenkte dem Mainzer Dom sanct Mauricien kinbacken, welicher uff den tag des heiligen Mauricij und seiner gesellschaft im hohen chore den personen zu kussen umbgetragen werden soll.34 Das Küssen dieser Kopf- und Büstenreliquiare belegt nicht nur, wie die Übertragung der heiligen virtus durch Nähe, zumindest durch visuelle Begegnung, möglichst aber durch physischen Kontakt hergestellt wurde, sondern ist auch durch die Vorstellung getragen, durch das Reliquiar den Heiligen persönlich zu begegnen. Der Kontakt kommt dabei nicht mit der Reliquie, sondern mit dem Reliquiar zustande. Die Kraft der Reliquie „strahlt aus auf alles, auf jede Materie und die Kostbarkeit des Schmuckes und der Bedeckung“, wie Thiofrid von Echternach schreibt.35 Die Reliquiare vermitteln die virtus der Reliquien an die Gläubigen, und der Kontakt mit dem Reliquiar wird zu einer realen und physischen Begegnung mit einem Heiligen. Man wird sagen können, daß gerade das ein Vorzug ist, der Reliquiare vom Grab unterscheidet und auszeichnet. Reliquiare machen den sonst im Grab verborgenen Heiligen verfügbar und transportabel. Durch sie wird die direkte Begegnung mit den Heiligen erleichtert. Diese sind nicht nur im Grab anwesend, sondern auf vielerlei Weise im Kult und in der Liturgie und ebenso an verschiedenen Orten. Gerade Reliquiare vermitteln demnach die Vorstellung vom Weiterleben und von der über den Tod hinausreichenden Kraft der Heiligen. Grundsätzlich gilt dies für alle Reliquiare, besonders aber für solche, die eine ganze Figur oder den Kopf zeigen. Dies wird besonders deutlich in einer Episode, die Bernhard von Angers im frühen 11. Jahrhundert in seinem berühmten ‚Liber miraculorum Sancte Fidis‘ 33 Renate KROOS, Vom Umgang mit Reliquien, in: Ornamenta Ecclesiae: Kunst und Künst-
ler der Romanik (Katalog der Ausstellung des Schnütgen-Museums in der JosefHaubrich-Kunsthalle Köln), hg. v. Anton LEGNER, Köln 1985, Bd. 3, S. 25-49, hier S. 3032. 34 KROOS (wie Anm. 33), S. 31. 35 Thiofridus Epternaciensis, Flores Epytaphii Sanctorum (wie Anm. 21), S. 37: […] in omnia tam exteriora quam interiora cuiuscumque materie uel precii tante fauille ornamenta et operimenta transfundit.
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schildert. Mehrfach ist dort vom Erscheinen der heiligen Fides die Rede, die auftritt und Wunder bewirkt und Mahnungen oder Strafen ausspricht. Im ersten Buch nun wird von einem jungen Mann namens Gerbert berichtet, der eines Tages zufällig in eine Goldschmiedewerkstatt gerät. Dort macht er einen verborgenen Goldfund, Gold, das eigentlich für das in Arbeit befindliche Antependium der Klosterkirche bestimmt ist. Der junge Mann beschließt, die Mitnahme dieses Goldes nicht als Diebstahl, sondern als unverhoffte Fundsache zu werten, steckt das Gold ein und sucht das Weite. Keine glückliche Entscheidung: Bald darauf wird er krankheitshalber ans Bett gefesselt, eines entzündeten Auges wegen, als ihm in einer Vision die hl. Fides erscheint, nicht um nun ein Heilungswunder zu vollbringen, sondern um die Rückgabe des Goldes zu verlangen. Gerbert sichert dies zu, ohne sich freilich an diese Zusage zu halten; auch eine zweite Erscheinung der Märtyrerin bleibt erfolglos. Beim dritten Mal dann wird die Heilige handgreiflich und drischt dem Dieb einen Haselstecken auf das entzündete Auge, so daß der, mit höherer Stimme, als er sonst zu sprechen pflegt, aufkreischt, um Gnade fleht und umgehend das Gold zurückerstattet. Die Erscheinungsweise der Märtyrerin bei dieser Gelegenheit ist nun von Interesse. Fides erscheint nämlich „nicht als junge Frau, sondern ungewöhnlicherweise in Gestalt der Heiligenfigur.“36 Die Erscheinung der toten, aber weiterlebenden Märtyrerin und ihr Statuenreliquiar sind gänzlich miteinander verschmolzen. Diese Zusammenschau von Heiligenkörper und kostbarem Gefäß läßt sich auch an anderer Stelle nachweisen. So hält Petrus Venerabilis (1092/94–1156) die Heiligenleiber als Tempel des Herrn (templa domini) und Paläste der Gottheit (palatia divinitatis) für verehrungswürdig. Außerdem seien sie wie Perlen zu verwahren, die der Krone des ewigen Königs zugefügt würden, und als Gefäße zu ehren, die bei der Auferstehung mit den Seelen wiedervereinigt würden.37 Schon Laktanz hatte den Körper „als kleines Gefäß“ (uasculum) bezeichnet, „dessen sich der himmlische Geist wie einer zeitlichen und weltlichen Wohnung bedient.“38 Petrus Venerabilis verbindet diese antike Gefäßmetaphorik mit dem Motivfeld von Perlen und Edelsteinen; der himmlische Heiligenleib ist damit sowohl Perle wie Gefäß. In dieser Umkehrung des Verhältnisses von Reliquie und Reliquiar ist die Austauschbarkeit von wertvollem Gefäß und verklärtem Leib auf den Punkt gebracht. Caput kann dann, z.B. in Inventa36 Bernardus, Liber miraculorum Sancte Fidis I,25, ed. Luca ROBERTINI, Biblioteca di medi-
oevo latino 10, Spoleto 1994, S. 127: Huic per visum sancta Fides, non in puelle quidem sed preter solitum in sacre imaginis specie, visa fuit apparere, aurumque districtius a dissimulante exigens, ac si commota recedere; Englische Übersetzung: The book of Sainte Foy, hg. u. übers. v. Pamela SHEINGORN, Philadelphia 1995, S. 92. 37 Petrus Venerabilis, Sermo IV. In veneratione quarumlibet reliquiarum, Migne PL 189, Paris 1890, Sp. 999 D-1000 A; dazu Arnold ANGENENDT, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, S. 693. 38 Ute DAVITT ASMUS, Corpus quasi vas. Beiträge zur Ikonographie der italienischen Renaissance, Berlin 1977, S. 10.
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ren und liturgischen Anweisungen, eine Kopfreliquie wie auch ein Kopfreliquiar bezeichnen.39 Dieser Sprachgebrauch reflektiert in der fehlenden Unterscheidung von Reliquie und Reliquiar, von Körperteil und Gefäß die Wahrnehmung der Körperteil-Reliquiare als Heilige. Insofern liegt es nahe, daß diese Reliquiare nicht allein durch die veristische Anatomie die Vorstellung vom Heiligenleib mit seinem Changieren zwischen Teilung und Inkorruptheit aufrufen, sondern weitere visuelle Angebote bereitstellen, die dieses Deutungsmuster stützen. IV. Im 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes formuliert der Apostel Paulus grundlegende Vorstellungen vom Auferstehungsleib, vom himmlischen corpus spiritale: Et corpora caelestia, et corpora terrestria: sed alia quidem caelestium gloria, alia autem terrestrium. Alia claritas solis, alia claritas lunae, et alia claritas stellarum. Stella enim a stella differt in claritate: sic et resurrectio mortuorum. Seminatur in corruptione, surget in incorruptione. Hier findet sich demnach schon der Vergleich der Herrlichkeit (gloria) des überirdischen Leibes mit den Gestirnen, mit dem Leuchten (claritas) von Sonne, Mond und Sternen. Weil in der Heiligen Schrift Licht ein Ausdruck von Göttlichkeit ist und weil die Heiligen mit ihrem himmlischen Leib Anteil am verklärten Leib Christi haben, wird durch sie die göttliche claritas sichtbar.40 In der Hagiographie hat dies vielfältige Spuren hinterlassen; demnach sind die Leiber der Heiligen nicht nur unvergänglich und wohlriechend, sondern auch hell leuchtend. Immer wieder wird das Auftreten der Heiligen als Lichterscheinung geschildert. Schon Gregor von Tours sah im Licht die virtus sichtbar werden, und in einer anonymen Predigt des 9. Jahrhunderts heißt es: „Weil wir nicht verdienen, Gott im Glanze seiner Majestät zu schauen, sollen wir in den Heiligen seine Kraft und seinen Ruhm betrachten.“41 Es ist daher naheliegend und nicht neu, die Materialität von Reliquiaren, den hohen Materialaufwand, der von Beginn an zahlreiche Reliquiare auszeichnet, ihre Ausstattung mit Gold und Edelsteinen als Verweis auf den leuchtenden transzendenten Heiligenleib zu verstehen und nicht allein als Signal für Kostbarkeit. Diese Sinnbeziehung wird durch Thiofrid von Echternach explizit for39 Vgl. z.B. die Translationsnachricht aus Stavelot bei WITTEKIND (wie Anm. 1). 40 Arnold ANGENENDT, Der Leib ist klar, klar wie Kristall, in: Frömmigkeit im Mittelalter.
Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus SCHREINER, München 2002, S. 387-398; ANGENENDT, Heilige (wie Anm. 3), S. 115-119. 41 Klemens HONSELMANN, Eine Essener Predigt zum Fest des hl. Marsus aus dem 9. Jahrhundert, in: Westfälische Zeitschrift 110, 1960, S. 199-221, c. 13, S. 214: […] quia necdem videre deum in sua maiestate fulgentem meremur, in sanctis virtutem eius et gloriam considerare, in ipsis eum laudare debemus.
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muliert, wenn er das glitzernde Gold und die kostbaren Steine der Umhüllung von Reliquien als Metaphern für die Tugend der Heiligen versteht. Er steht damit in der Tradition einer theologischen Sprache, die beim Sprechen über Tugend bevorzugt mit Metaphern und Allegorien aus dem Bereich kostbarer Materialien, insbesondere Perlen, Edelsteinen und Gold, operiert.42 Noch enger werden die Beziehungen zwischen Skulpturen aus Metall und den Vorstellungen vom corpus spiritale in einer Passage aus ‚De sacramentis‘ des Hugo von St. Viktor.43 Er erläutert die Verwandlung des irdischen Leibes in den himmlischen Leib der Auferstehung mit einem Rekurs auf die Kunst. Ein Künstler könne eine eingeschmolzene oder verformte Metallskulptur ohne jeglichen Verlust an Material zu einer neuen Statue formen und ihre Schönheit wiederherstellen, so daß nichts ihre integritas beeinträchtige. Wenn dies aber einem menschlichen artifex möglich sei, was müßten wir dann von den Möglichkeiten des allmächtigen Gottes denken? Seinen Ort hat dieses Argument in der theologischen Diskussion um die Eigenschaften des Auferstehungsleibes. Für das Reliquienwesen ergibt sich daraus auch, daß der göttliche artifex die integritas des Heiligenleibes trotz Zergliederung und Fragmentierung sichert und bewahrt. Die metallene Umhüllung der Reliquien läßt sich demnach als Darstellung der durch Gott bewirkten integritas des glänzenden Heiligenleibes verstehen. Die Verwandlung des irdischen Leibes in den Lichtleib des Heiligen ist ästhetisch umgesetzt durch die penible Darstellung der menschlichen Anatomie, deren Naturalismus zugleich durch das Material verfremdet und verwandelt wird. Im Unterschied zu farbig bemaltem Holz oder zu Wachs kann die metallene Oberfläche nicht als lebendig, warm und durchblutet wahrgenommen werden.44 Der genauen Mimesis der Anatomie fehlt also das Inkarnat, das ersetzt ist durch Glanz und Leuchten. In den anthropomorph gestalteten Reliquiaren müssen wir also nicht die einfache Restitu42 FERRARI, Gold und Asche (wie Anm. 22), S. 67-69; zur allegorischen Deutung von Edel-
steinen siehe Christel MEIER, Gemma spiritualis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert (Münstersche Mittelalter-Schrr. 34/1), München 1977; zu Reliquien, Reliquiaren und Edelsteinen siehe Gia TOUSSAINT, Heiliges Gebein und edler Stein. Der Edelsteinschmuck von Reliquiaren im Spiegel mittelalterlicher Wahrnehmung, in: Das Mittelalter 8, 2003, S. 41-66; Brigitte BUETTNER, From Bones to Stones – Reflections on Jeweled Reliquaries, in: Reliquiare im Mittelalter (wie Anm. 3), S. 43-59. 43 Hugo von St. Victor, De sacramentis II,17, Migne PL 176, Paris 1854, Sp. 604 A: Si enim statuam potest artifex homo, quam propter aliquam causam deformem fecerat, conflare et pulcherrimam reddere ita ut nihil substantiae sed sola deformitas pereat, […] quid de Omnipotente sentiendum est; Vgl. BYNUM, Resurrection (wie Anm. 26), S. 30; DALE, The Individual (wie Anm. 32), S. 729. 44 Bruno KLEIN, Das Gerokreuz: Revolution und Grenzen figürlicher Mimesis im 10. Jahrhundert, in: Nobilis arte manus: Festschrift zum 70. Geburtstag von Antje Middeldorf Kosegarten, hg. v. DEMS. und Harald Wolter VON DEM KNESEBECK, Dresden 2002, S. 43-60, hier S. 45f.
Abbildungen zum Beitrag Reudenbach
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1: Kopfreliquiar des hl. Alexander. Stavelot, um 1145. Bruxelles, Musées royaux d’Art et d’Histoire.
II
2: Andreas-Tragaltar (Kasten und Schiebedeckel).
Abbildungen zum Beitrag Reudenbach
Abbildungen zum Beitrag Reudenbach
3: Armreliquiar des hl. Walpert. 13. Jh. St. Petersburg, Eremitage.
III
4: Armreliquiar des hl. Blasius. Um 1077. Braunschweig, Herzog Anton UlrichMuseum.
IV
Abbildungen zum Beitrag Reudenbach
5: Kreuzreliquiar. Um 1130. Zwiefalten, Münsterpfarramt.
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ierung der Anatomie, sondern die ästhetische Ausmünzung und Repräsentanz des heiligen corpus spiritale sehen. V. Die in den Körperteil-Reliquiaren angelegte Dialektik von Fragmentierung und integritas, von Fragment und Totalität, fügt sich mit ihrer Korrespondenz zur Vorstellung vom Heiligenleib nun ein in das Organismus-Konzept des corpus Christi mysticum, das als universaler Körper Kirche und Welt enthält. In Hinblick auf Reliquiare ist aufschlußreich, daß das Konzept des mystischen corpus Christi schon in seiner biblischen Begründung, nach 1. Kor. 12,27, auch eine Zergliederung in einzelne Teile kennt. Anscheinend sind die Visualisierung dieser Idee und deren ikonographische Implikationen auch für die Bilderfindung von separierten Körperteilen der Heiligen von Bedeutung. Insofern korrespondiert die Idee des Körperteil-Reliquiars, in dem sowohl ein Teil wie das Ganze repräsentiert wird, mit Darstellungen, in denen Universalität und Ubiquität Gottes Thema sind und gleichzeitig das corpus Christi bildlich in Teile zerlegt wird. Dies ist bei kosmologischen Ideogrammen der Fall, die den Kosmos mit der Gestalt Christi verbinden. Dazu erscheinen am Rand in der Vertikal- und der Horizontalachse Körperteile Christi – Kopf, Hände und Füße.45 In dieser Disposition ist damit auch die Kreuzfigur aufgenommen; Welt und Kreuz, Schöpfung und Erlösung sind miteinander verbunden. Entsprechend erscheint eine solche syndesmos-Figur auf dem Zwiefaltener Kreuzreliquiar (Abb. 5).46 Die separierten Körperteile werden so in den visuellen Zusammenhang der Kreuzfigur gestellt, im Kreuz erfährt die Separierung wieder Kohärenz. Man kann darin eine bemerkenswerte Parallele zur Bildstrategie der KörperteilReliquiare erkennen, integritas gerade durch Fragmentierung vorzuführen. Doch finden wir Körperteile Christi nicht nur in derartigen diagrammatischen Figuren, sondern auch in narrativen Kontexten. Dort werden Wirken und die Anwesenheit Gottes durch bestimmte Bildelemente wie Wolke oder Lichtstrahl angezeigt, vor allem aber durch einen Körperteil, die Hand Gottes.47 Sie erscheint auch in gestischer Differenzierung, wenn Gott durch sie spricht, segnet, richtet oder in Empfang nimmt. Mit dieser Ikonographie ist also verbunden die Vorstellung eines agierenden Körpers, der durch einen Körperteil, die Hand, repräsentiert wird. 45 Barbara MAURMANN-BRONDER, Das Bild der Schöpfung und Neuschöpfung der Welt als
orbis quadratus, in: Frühmittelalterliche Studien 6, 1972, S. 188-210; Anna C. ESMEIJER, Divina quaternitas: A preliminary study in the method and application of visual exegesis, Assen-Amsterdam 1978, S. 97-128. 46 Holger A. KLEIN, Byzanz, der Westen und das ‚wahre‘ Kreuz (Spätantike – Frühes Christentum – Byzanz B.17), Wiesbaden 2004, S. 198-202; Canossa 1077. Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik, Bd. 2: Katalog der Ausstellung Paderborn 2006, München 2006, S. 290-292. 47 Art. Hand Gottes, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. v. Engelbert KIRSCHBAUM, Bd. 2, Freiburg im Breisgau 1970, S. 211-214.
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In direkter Umsetzung des biblischen Organismuskonzeptes hat eine lange exegetische Tradition das corpus Christi und seine Teile allegorisiert und mit bestimmten Eigenschaften, Personen und Klassen von Heiligen identifiziert. Schon Hrabanus Maurus deutet in ‚De universo‘ mit der Prämisse, das corpus Christi sei die Kirche, systematisch nacheinander alle Körperteile, vom Kopf bis zu den Füßen. Die Augen sind z.B. die Kirchenlehrer, durch die die Kirche sieht, was richtig ist. Die Zähne sind die Apostel und Verkünder des Neuen Testaments. Auch die Lippen, der Bart, der Bauch und die Füße werden nicht vergessen. Von der Hand heißt es: Die Hand Christi sind die Arbeiter der Gerechtigkeit, die zu jedem guten Werk bereit sind. Die Rechte des Herrn bedeutet ewige Glückseligkeit.48 Nicht nur durch die Praxis des Reliquienkultes, auch durch die vom biblischen Organismuskonzept ausgehende Exegese sind die Zergliederung eines Körpers und die symbolische Aufladung der Körperteile dem mittelalterlichen Denken also vertraut. Damit ist auch ein Denk- und Wahrnehmungsmuster formuliert, in dem die Heiligen als Körperteile des mystischen Kollektivleibes der Kirche erscheinen – die Hand eines Heiligen ist zugleich Hand Gottes. So zeigen wohl nicht zufällig fast alle Armreliquiare eine rechte Hand, die eben auch die dextera Dei ist. Einem in Köln im späten 12. Jahrhundert entstandenen Armreliquiar ist diese Verbindung zu der in der Hand kulminierenden Allmacht Gottes unmittelbar eingeschrieben, auch wenn nun gerade hier die Hand verloren ist. Doch sagt die Inschrift am Fuß unmißverständlich: Dextera Domini fecit virtutem.49 Entsprechend kann das Wirken Gottes durch die Hand der Heiligen geschehen und mit Armreliquiaren in der Liturgie realisiert werden, wenn, wie beim Essener Basiliusarm, der Segen mit dem Reliquiar erteilt wurde.50 Andere Armreliquare zeigen daher mit der Hand selbst den Segensgestus. Daraus ergibt sich auch, daß der Inhalt dieser Reliquiare keineswegs immer ein Heiligenarm sein muß. Weil die Heiligen als Glied des kollektiven und universalen Leibes Christi agieren, kann sich in der Hand des Reliquiars auch ein 48 Hrabanus Maurus, De universo I,2, Migne PL 111, Paris 1852, Sp. 21 C-23 B: […] Corpus
quidem Christi sancta est Ecclesia (21 C) […] Item oculi Christi doctores sunt, per quos ecclesia videt quae recta sunt (21 D) […] Dentes Christi apostoli sunt et praedicatores Novi Testamenti (22 A) […] Manus Christi, operarii iustitiae, ad omne opus bonum parati. [...] Dextera Domini, Testamentum Novum, sinistra, Vetus. Item dextera, beatitudo perpetua. (22 B). 49 Ornamenta ecclesiae (wie Anm. 33), Bd. 2, S. 410; Heinrich der Löwe (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 114. 50 Zum Essener Basilius-Armreliquiar vgl. Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern (Katalog der Ausstellung im Ruhrlandmuseum, Essen: Die frühen Klöster und Stifte 500-1200 und Kunst-und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn: Die Zeit der Orden 1200-1500), München 2005, S. 268f.; JUNGHANS, Armreliquiare (wie Anm. 11), S. 25-30; KROOS, Umgang (wie Anm. 33), S. 38; HAHN, Voices (wie Anm. 5), S. 26f.; zum Segensgestus bei Armreliquiaren vgl. BOEHM, Anthropomorphe Reliquiare, in: Baseler Münsterschatz (wie Anm. 14), S. 268-272, hier S. 272; JUNGHANS, Armreliquiare (wie Anm. 11), S. 48-50, S. 89-91.
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Heiligenkollektiv, die communio sanctorum, versammeln. Die beiden Kölner Armreliquiare aus Sankt Gereon dienen in diesem Sinne als Sammelreliquiare, das eine für mehr als zwanzig, das andere für 31 Reliquien.51 Auf der Standfläche des einen Reliquiars sind die Namen der Heiligen genannt, aber auch zwei Christus-Reliquien, ein Stück vom Essigschwamm und vom Tisch des Abendmahls. VI. Körperteil-Reliquiare beziehen sich also auf christliche Körperkonzepte, die mit den Begriffen corpus integrum, corpus spiritale und corpus mysticum umschrieben werden können. Als Repräsentanz heiliger Körper waren diese Reliquiare damit auch in besonderer Weise der Gefahr ausgesetzt, als Idolatrie gewertet zu werden. Schon Bernhard von Angers hat ja in einer berühmten Passage seines ‚Liber miraculorum‘ bekanntlich diesen Vorwurf referiert. Als er in Aurillac vor der Sitzfigur des hl. Geraldus die staunenden und betenden Bauern sieht, richtet er an seinen Gefährten die Frage: „Was sagst du, Bruder, zu diesem Idol? Würden nicht Jupiter und Mars eine solche Statue ihrer würdig erachten?“ Und Bernier antwortet: „Da die wahre Verehrung nur dem einen Gott gebührt, ist es abwegig, Statuen aus Stein, Holz und Erz zu bilden, wenn nicht für unseren Herrn am Kreuz.“52
Dieser Wortwechsel und die Klassifizierung der Geraldus-Skulptur als Idol nimmt aber von der Feststellung ihren Ausgang, die mit Gold und wertvollen Steinen geschmückte Figur habe bei den betenden Bauern den Eindruck erzeugt, die Figur blicke sie an, weil das Gesicht der Statue so genau ein menschliches Antlitz nachahmte: ita ad humane figure vultum expresse effigiatam. Der gegen den Bild- und Reliquienkult ohnehin vorzubringende Verdacht der Idolatrie wurde durch den Naturalismus der Physiognomie und den dadurch erzeugten Eindruck von Lebendigkeit noch verstärkt. Es könnte sein, daß die Verbreitung der Körperteil-Reliquiare auch eine Reaktion auf diesen Vorwurf ist. Gegen die Nachbildung eines vom übrigen Körper separierten Organs war der Vorwurf, Idol zu sein, schwerer zu erheben als bei einer ganzfigurigen Skulptur. Durch Fragmentierung wurde der Idolcharakter gebrochen. Das skulpturale Körperfragment wurde so zu einem Freiraum, in dem sich das mimetische Potential von Skulptur und ein beachtlicher anatomischer Verismus entfalten konnten, ohne dem Verdikt der Idolatrie zu verfallen. Bei Kopfreliquiaren, die in viel stärkerem Maße als Arme den Verdacht der Idolatrie erregen konnten, verhält es sich etwas anders. Bei ihnen ist zu beobachten, keineswegs immer, aber doch auffallend oft, daß die Mimesis der 51 HAHN, Voices (wie Anm. 5), S. 28; REUDENBACH, Reliquiare (wie Anm. 3), S. 15, 20;
Ornamenta ecclesiae (wie Anm. 33), Bd. 2, S. 242f.
52 Bernardus, Liber miraculorum I,13 (wie Anm. 36), S. 113; The book of Sainte Foy (wie
Anm. 36), S. 77f.
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Physiognomie durch eine typisierende Stilisierung gebändigt und zurückgenommen erscheint. Sie ist beim Alexanderkopf in der strikten und starrenden Frontalität wie in der symmetrischen Durchgestaltung zu erkennen, die für die meisten Kopfreliquiare gilt, ebenso wie die antikisch stilisierten Frisuren.53 Unmittelbarkeit und Naturalismus des dreidimensionalen Kopfes sind außerdem abgeschwächt durch die Markierung einer Distanz, die auch vom starren Blick ausgeht. Die Visualisierungsstrategie der Körperteil-Reliquiare lebt demnach vor allem von Antagonismen. Der peniblen Nachbildung menschlicher Gliedmaßen fehlt gleichzeitig das Inkarnat, ihre Detailtreue vervollständigt die Reliquie und bleibt doch Fragment; sie zielen auf Lebendigkeit und müssen sich gleichzeitig des Verdachts der Idolatrie erwehren. Sie erwecken den Anschein von Lebensnähe – und doch geht es ihnen gerade nicht um den irdischen, sondern um den transzendenten Leib. In diesen Antagonismen sind diese Reliquiare die adäquate visuelle Umsetzung der Doppelexistenz der Heiligen, die im Himmel und auf Erden sind. Diese mit Antagonismen operierende visuelle Strategie ähnelt in bemerkenswerter Weise den Argumentationsformen, mit denen im wichtigsten mittelalterlichen Reliquientraktat am Anfang des 12. Jahrhunderts Thiofrid von Echternach Phänomene des Reliquienkultes erörtert.54 Thiofrid ist der erste und einzige mittelalterliche Denker, der dabei auch ausführlich die Bedeutung von Reliquiaren reflektiert, ihre Bedeutung, ihre Form, ihr Material.55 Dabei betont er den Kontrast zwischen dem kostbaren Material der Reliquiare und der wertlos erscheinenden, authentischen Reliquienmaterie. Doch ist eigentlich das Gold wertloser Unrat, der glänzt und die Augen blendet, die Reliquien dagegen sind Staub, aber sie sind erfüllt von virtus und von unsichtbarem, göttlichem Glanz. Die Reliquien, die wertlos erscheinen, sind das eigentlich Wertvolle, das umhüllende Gold, das wertvoll erscheint, ist wertlos. Thiofrid konstruiert demnach einem Dialog zwischen dem Material der Behälter und dem Inhalt, der Reliquienmaterie. Dem Behälter wird der Charakter eines Zeichens zugesprochen, das auf etwas Unsichtbares hinweist, die Kostbarkeit des Verkleidungsmaterials dient der anschaulichen Nobilitierung der Reliquienmaterie. Das eigentlich wertlose, aber wertvoll erscheinende Gold vermittelt die Heiligkeit der minderwertig aussehenden Reliquienmaterie. Analog dazu könnte 53 FALK, Bildnisreliquiare (wie Anm. 12), S. 121-123; REUDENBACH, Reliquiare (wie Anm.
3), S. 27. 54 FERRARI, Gold und Asche (wie Anm. 22), S. 69; Bruno REUDENBACH, Gold ist Schlamm:
Anmerkungen zur Materialbewertung im Mittelalter in: Material in Kunst und Alltag, hg. v. Monika WAGNER (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 1), Berlin 2002, S. 112, hier S. 8-10. 55 Michele C. FERRARI, Lemmata sanctorum. Thiofrid d’Echternach et le discours sur les reliques au XIIe siècle, in: Cahiers de civilisation médiévale 38, 1995, S. 215-225; vgl. auch Thiofridus Epternaciensis, Flores Epytaphii (wie Anm. 21), die Einführung v. Michele C. FERRARI, S. X-LXXIX.
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man sagen, daß die Reliquien jeden Anschein von Körperlichkeit und Lebendigkeit verloren haben, aber dem Heiligenleib entstammen und als pars pro toto für den ewig lebenden himmlischen Heiligen stehen; die goldene Umhüllung dagegen erscheint wie menschliche Anatomie, meint damit auch den transzendenten Körper, der jedoch eigentlich in den Reliquien gegenwärtig ist. Damit ist die Erscheinungsform der Körperteil-Reliquiare einer Semiotik zugänglich, wie sie im Mittelalter mehrfach in der Sakramentenlehre, besonders aber für die Eucharistie bedacht worden ist. Die von diesen Reliquiaren aktualisierten Wahrnehmungsmuster sind aber weder in anderen Objektgattungen oder Medien in toto vorgegeben, noch in einer konsistenten Theorie reflektiert. In Hinblick auf die verwendeten Materialien rekurrieren sie auf die gängigen Deutungsmuster der Materialallegorese und das davon abhängige hagiographische Motivrepertoire, das Heiligkeit mit Leuchten und Glanz assoziiert. Darüber hinausgehend kann man in ihren Gestalteigenschaften zwischen anatomischem Verismus und Transzendenz, zwischen Lebendigkeit und Erstarrung, zwischen Verkörperung und Fragmentierung den Versuch erkennen, das komplexe Theoriekonglomerat des Reliquienwesens und der Auferstehungstheologie in eine Anschauungsform zu übersetzen, die diese Komplexität aufnimmt und verarbeitet, die aber zugleich als menschliches Körperteil im Kultgeschehen einfach rezipierbar und unkompliziert erkennbar ist.
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GIA TOUSSAINT
Die Kreuzreliquie und die Konstruktion von Heiligkeit
So berühmt und begehrt die Kreuzreliquie als Partikel vom Kreuz Christi war, so unscheinbar war ihre äußere Natur, handelt es sich doch lediglich um einen Holzsplitter von außerordentlich geringem Materialwert. Äußerlich betrachtet sind gewöhnliche Holzspäne nicht von jenen zu unterscheiden, die vom Kreuz Christi stammen sollten und damit eine exklusive, wenn nicht sogar die exklusivste Reliquie der Christenheit darstellten. Der Wert der Kreuzpartikel beruhte nicht auf ihrer äußeren materiellen Beschaffenheit, sondern einzig auf der ihnen innewohnenden Wirkmacht, der virtus. Da diese virtus, den äußeren Sinnen unzugänglich, sich nur mittelbar, beispielsweise in Wundern, äußerte, mußten die heiligen Kreuzsplitter in ein Wahrnehmungs- und Deutungsgefüge eingebettet werden, das sie auch der unmittelbaren Wahrnehmung als authentisch und damit heilig auswies. Besondere Virulenz erhielt die Frage nach der Wahrnehmung der Kreuzpartikel im Westen erst durch ihre sichtbare Präsentation, die um das erste Viertel des 12. Jahrhunderts einsetzte. Vorher waren Kreuzreliquien verschlossen aufbewahrt worden; ihre Authentizität und Prominenz hatte sich über ihre Herkunft vermittelt, waren doch die in Mitteleuropa bekannten Reliquien vor allem als Geschenke byzantinischer Herrscher in den Westen gelangt.1 Da durch die historischen Gegebenheiten fast ausschließlich der Hof in Konstantinopel über diesen kostbaren Schatz verfügte und ihn nur gezielt anderen Herrschern zum Geschenk machte, genügte die Provenienz als Echtheitsbeweis. Berichte über abenteuerliche Fahrten einzelner westlicher Delegationen in die prachtvolle Metropole am Bosporus mögen ein Übriges beigetragen haben, die Echtheit glaubhaft zu versichern. Daneben bürgten für das Wissen, daß sich in einem Altar, Kreuz oder Reliquiar eine besonders wertvolle Partikel befindet, neben der unangefochtenen sakralen und kultischen Autorität dieser Behälter orale Überlieferung oder aber Inschriften auf den Außenseiten. Außerdem fügte man, sobald eine Kreuzreliquie im Westen angekommen war, eine knappe Authentik in lateinischer Sprache, zumeist de ligno domini, hinzu.2 Auf diese Weise konnte sich 1 2
Holger KLEIN, Eastern Objects and Western Desires. Relics and Reliquaries between Byzantium and the West, in: Dumbarton Oaks Papers 58, 2004, S. 283-314. Griechische Authentiken auf cedulae sind m. W. aus dem 12. Jahrhundert nicht erhalten. Im byzantinischen Raum waren authentifizierende Beischriften oft direkt in den die Reliquie umhüllenden Metallmantel geprägt oder graviert. Die Behauptung von Petra Janke, daß eine Beurkundung von Reliquien im Westen erst seit dem 4. Laterankonzil vorgeschrieben war, entbehrt jeglicher Grundlage: Petra JANKE, Ein heilbringender Schatz. Re-
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auch Jahrhunderte später der Lesekundige vergewissern, daß er tatsächlich einen Splitter vom Kreuzesholz vor sich hatte. Die heilige Partikel bedurfte zunächst kaum äußerer Rechtfertigung. Legitimationsbedarf entstand erst ab Beginn des 12. Jahrhunderts. Mit der Eroberung Jerusalems durch das Kreuzfahrerheer im Jahr 1099 löste Jerusalem Konstantinopel als Lieferant von Kreuzpartikeln ab.3 Nachdem kurz nach Einnahme der Stadt die Kreuzreliquie wundersam aufgefunden worden war, kam es rasch zu einem regen Export des kostbaren Heiltums. Das ohnehin recht kleine Stück vom Kreuzesholz diente den Kreuzfahrern zwar vorrangig als Palladium in Schlachten, doch wurde es, wie reiche Überlieferung zeigt, ebenso gern als Geschenk in den Westen gegeben oder von Pilgern in die Heimat mitgebracht. Gemessen an der geringen Größe der aufgefundenen Partikel war das Volumen der exportierten Splitter gewaltig. Zweifel regten sich. Bald kam unter den Pilgern das Bedürfnis auf, den Rückweg über Konstantinopel anzutreten, um dort ein Stück des „echten“ Wahren Kreuzes zu erwerben.4 Der ungebrochene Glaube an das heilige Kreuzesholz sowie das Mißtrauen gegenüber seiner Echtheit forderten neue Darstellungsformen im Westen heraus. Die Partikel mußte dem Betrachter ihre Authentizität glaubhaft versichern. Nicht nur anhand einer überzeugenden Präsentation stellte die Reliquie unter Beweis, daß sie wirklich vom Kreuz Christi stammte; vielmehr wurde sie in einen Wahrnehmungs- und Deutungsrahmen eingebettet, der diese Überzeugung konditionierte. Ein bestimmtes Deutungsmodell diente dazu, die gewünschte Wahrnehmung zu erzeugen und zu unterstützen. Wie im Folgenden gezeigt wird, wurde die Wahrnehmung vor allem von zwei miteinander in Beziehung stehenden Deutungsmustern gelenkt: erstens von der Kreuzauffindungslegende und deren Rezeption sowie zweitens von der Gestalt des die Reliquie einfassenden Kreuzes als Doppelkreuz. Das historische Postulat, das diesem Deutungshorizont zugrunde liegt, ist die Existenz des Kreuzes Christi. Allerdings ist insofern eine Einschränkung vorzunehmen, als die Deutung nicht auf das während der Passion errichtete Golgathakreuz rekurriert, sondern auf das Jahrhunderte
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liquienverehrung am Halberstädter Dom im Mittelalter, München 2006, S. 129. Authentiken in Form von Inschriften sind seit dem 4. Jahrhundert belegt. Schon aus merowingischer und karolingischer Zeit sind schmale Streifen aus Textilien und (Edel-)Metall nachweisbar, die der Identifizierung von Reliquien dienten. Vgl. Martin HEINZELMANN, Translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkults, Turnhout 1979, S. 84-88; Michael MCCORMICK, Origins of the European Economy: Communications and Commerce A.D. 300-900, Cambridge 2001, S. 283-317. Sylvia SCHEIN, Gateway to the Heavenly City. Crusader Jerusalem and the Catholic West (1099-1187), Aldershot 2005, S. 84: „The crusaders’ take-over led to a meaningful reevaluation of Jerusalem as the source of the relic. Jerusalem was now regarded as the chief supplier of the relic of the True Cross, thus replacing Constantinople.“ Vgl. Berent SCHWINEKÖPER, Christus-Reliquien-Verehrung und Politik, in: BDLG 117, 1981, S. 183-281, hier S. 196 Anm. 54.
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später legendär von Kaiserin Helena aufgefundene Relikt des Kreuzes Christi, das gleichwohl mit dem Golgathakreuz identifiziert wurde.
1. Der Deutungsrahmen Späne vom Kreuzesholz waren nach christlicher Wahrnehmung und Deutung nicht einfaches Holz; vielmehr waren sie Teil des Kreuzes Christi und als solche mit dem Allerheiligsten in Berührung gekommen, dem Blut Christi.5 Da sie substantiell am Leib Christi Anteil hatten, handelt es sich bei ihnen – das dokumentiert schon ihre exponierte Stellung in Schatzverzeichnissen – um Christusreliquien (vgl. dazu 2.3.). Ebenso wie der Leichnam der Heiligen waren sie irdischer Gesetzmäßigkeit, wie einem natürlichen Verfall, entzogen. Und ebenso, wie es oft nur eine Frage der Zeit war, daß heilige Leiber aufgefunden wurden, ließ auch die Kreuzauffindung nicht lange auf sich warten. Mit der Kreuzauffindung war ein ideeller Bezugsrahmen des historischen Kreuzes Christi geschaffen. Das im Hochmittelalter sogenannte Wahre Kreuz, von dem die zahlreichen kursierenden kleinen Kreuzsplitter stammten, bezeichnete nicht in erster Linie das verlorene historische Kreuz, sondern jenes, das, legendenhaft überliefert, von Kaiserin Helena Jahrhunderte nach dem Kreuzestod Christi aufgefunden wurde. Das originale (aber verlorene) Kreuz wurde mit Hilfe dieser Legende nicht nur rekonstruiert; die Legende lieferte zugleich den Stoff für eine neue historischnarrativ vermittelte Idealität, die es ermöglichte, beliebige Holzstückchen als Stücke vom Kreuzesholz zu deklarieren und zugleich die Fragmente mit einer festen einheitsstiftenden Bezugsgröße zu ummanteln. Strukturell ist damit die Kreuzpartikelverehrung in die Nähe der Heiligenverehrung gerückt, die sich auch der Spannung von Fragment und Totalität bediente.6
1.1. Die Kreuzauffindungslegende Legitimationsgrundlage für das Vorhandensein einer vera crux sind jene Legenden, die sich um die Auffindung des Wahren Kreuzes ranken und vielfach mit Kaiserin Helena (ca. 250-329), der Mutter Konstantins, verbunden werden. Unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt dieser Legenden ist jene mittelalterliche Tradition unstrittig, die auf ihre Authentizität vertraute, was sich nicht zuletzt in zwei Kirchenfesten, der exaltatio crucis (Kreuzerhöhung) und der inven-
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Zu einem analogen Fall einer durch Lehrüberlieferung und liturgische Rahmung bestimmten Wahrnehmung und Deutung einer an sich schlichten Materie vgl. die Überlegungen, die Steffen PATZOLD im vorliegenden Band über die eucharistischen Elemente – Brot und Wein – anstellt. Zur Spannung von Fragment und Totalität in der Heiligenverehrung vgl. den Beitrag von Bruno REUDENBACH in diesem Band.
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tio crucis (Kreuzauffindung) niederschlug.7 Mit diesen, schon im 7. Jahrhundert im Westen etablierten Festen wurde schon früh der denkwürdigen Auffindung des verschollen geglaubten Kreuzes Christi gedacht. Obwohl die Feste die Existenz des Kreuzes festschreiben, liegt dessen historische Auffindung im Dunkeln.8 Keine zeitgenössische Quelle bestätigt den spektakulären Fund. Eusebius von Caesarea (geb. um 260, gest. vor 341), der Verfasser der ‚Vita Constantini‘, berichtet zwar ausführlich von der Auffindung des heiligen Grabes sowie der von Konstantin und seiner Mutter Helena in Palästina entfalteten Bautätigkeit, von einer Kreuzauffindung weiß er jedoch nichts.9 Erst eine Generation später spricht Bischof Cyrill von Jerusalem (315386) in seinen ‚Katechesen‘ von der materiellen Gegenwart des Kreuzes, das sogar in Jerusalem zu sehen sei; allerdings spielt auch bei ihm Kaiserin Helena noch keine Rolle.10 Auch Johannes Chrysostomos (geb. 344/354, gest. 407) erwähnt sie nicht, obwohl er berichtet, daß eines Tages drei Kreuze aufgefunden worden seien, von welchen eines das authentische Kreuz sei, weil es den aus den Evangelien bekannten Titulus trug.11 Mit diesem Bericht liegt uns die erste nachweisbare Auffindungslegende vor. Helena wird in diesem Zusammenhang erstmals von Ambrosius von Mailand (um 340-397) in seiner Grabrede auf Kaiser Theodosius erwähnt. Seiner Darstellung zufolge suchte Helena den heiligen Ort auf und forschte, einer Eingebung des Heiligen Geistes folgend, nach dem Holz des Kreuzes (lignum crucis). Schließlich fand sie im Erdreich drei übereinander liegende Kreuze. Anhand des Titulus erkannte sie schließlich das richtige Kreuz. Interessant an diesem Text ist die Bemerkung des Ambrosius, Helena habe nicht das Kreuz selbst verehrt, „denn dies ist der Irrtum der Heiden und die Eitelkeit der Gottlosen. Sie verherrlichte vielmehr den, der am Kreuz hing
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Das Fest der Kreuzerhöhung (14. September) war ursprünglich der Gedächtnistag der Weihe der Grabeskirche zu Jerusalem (14. September 335), welche den Ort der Kreuzigung umfaßt. Im 6. Jahrhundert wurde der Tag als Jahrestag der Kreuzauffindung betrachtet und zunächst im Osten, ab dem 7. Jahrhundert auch in Rom begangen. Die inventio crucis (Kreuzauffindung) hingegen erinnert an die Rückführung der von Persern geraubten Jerusalemer Kreuzreliquie durch Kaiser Herakleios. Das Fest erscheint um 650 im spanisch-gallischen Bereich. Art. Kreuzfeste, in: Gerhard PODHRADSKY, Lexikon der Liturgie, Innsbruck-Wien-München 1962, S. 191. 8 Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema seien exemplarisch genannt: Stephan BORGEHAMMAR, How the Holy Cross was Found, Stockholm 1991, sowie Barbara BAERT, A Heritage of Holy Wood. The Legend of the Holy Wood in Text and Image, Leiden 2004. 9 Holger A. KLEIN, Byzanz, der Westen und das „wahre“ Kreuz, Wiesbaden 2004, S. 21 mit Quellenauszug aus der Vita Constantini. 10 BAERT (wie Anm. 8), S. 23 mit Anm. 47 und 48 (Quellenzitate). 11 Ebd., S. 24 mit Anm. 51. Johannes Chrysostomos, Homilias in Joannem, Migne PG 59, Sp. 461: ne ignoraretur quaenam Dominum fuisset, primo quod in medio esset, deinde ex titulo agnita fuit. Zum Titulus vgl. Carsten Peter THIEDE und Matthew D’ANCONA, The Quest for the True Cross, London 2000.
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und dessen Name auf der Tafel geschrieben stand.“12 Kurze Zeit nach dieser Schrift, um 386, verfaßte Gelasius von Caesarea (gest. 395) die Fortsetzung von Eusebius’ Kirchengeschichte.13 Im Gegensatz zu Ambrosius ist der gelasianische Auffindungsbericht wesentlich elaborierter und führt eine entscheidende Passage ein: Das wahre Kreuz muß gegenüber den beiden anderen Kreuzen seine Echtheit beweisen, indem es eine Tote zum Leben erweckt, also seine virtus offenbart.14 Dieser Text bildet die Grundlage für alle weiteren Kreuzauffindungserzählungen, die auf die eine oder andere Weise ausgeschmückt wurden.15 Wesentliche Bestandteile waren fortan die Gestalt Helenas als Finderin des Kreuzes sowie der Beweis, den das echte Kreuz zu erbringen hatte. Innerhalb dieses Beweises hatte das Kreuz stets, genau wie Christus selbst, die Gabe, Tote zu erwecken; ihm eignete also die Kraft Christi. Seit Ende des 4. Jahrhunderts lassen sich das authentische Kreuz und damit auch die Wirksamkeit der Kreuzreliquie nachweisen. Offenbar gab es zu dieser Zeit noch Bedenken, die Verehrung des Holzes mit Ambrosius (s. o.) als heidnisch abzutun, doch setzte sich die Kreuzverehrung durch.16 Der früheste Bericht, der dies widerspiegelt, stammt von der Pilgerin Egeria, die wohl zwischen 381 und 384 das Heilige Land besuchte. Ausführlich schildert sie die Jerusalemer Karfreitagsliturgie mit Kreuzverehrung.17 Innerhalb der Zeremonie wird das Kreuz aus seinem silbernen Schutzbehälter genommen und zur Verehrung auf den Altar gelegt. Die Gläubigen ziehen in einer Prozession am Kreuz vorbei, wobei sie sich vor ihm verbeugen und es küssen. Die Attraktion und Faszination, die von dieser Reliquie ausging, muß von Anfang an ausgesprochen groß gewesen sein, denn im Bericht heißt es weiter: „Und weil irgendwann einmal jemand zugebissen und einen Splitter vom Kreuz gestohlen haben soll, wird es von den Diakonen, die (um den Tisch) herum stehen, so bewacht, daß keiner,
12 Ambrosius von Mailand 46, De obitu Theodosii, ed. O. FALLER, CSEL 73, Wien 1955: Invenit ergo titulum, regem adoravit, non lignum utique quia hic gentilis est error et vanitas impiorum, sed adoravit illum, qui pependit in ligno inscriptus in titulo. 13 Für die Rekonstruktion dieses Textes auf Grundlage der Kirchengeschichte des Rufinus vgl. BORGEHAMMER (wie Anm. 8), S. 11-14; 31-55. 14 Zit. nach BORGEHAMMAR (wie Anm. 8), S. 44f.: et cum haec dixisset, adhibuit primo unam ex tribus et nihil profecit, adhibuit secundam, nec sic quidem aliquid actum est, ut vero admovit tertiam, repente adapertis oculis mulier consurrexit et stabilitate virium recepta alacrior multo quam cum sana fuerat. 15 Eine der bekanntesten Varianten hält die Legenda Aurea bereit. Iacopo da Verazze, Legenda Aurea. Kritische Ausgabe, hg. v. Giovanni Paolo MAGGIONI, Florenz 21998 mit den Kapiteln De inventione sancte crucis (Kap. 64, S. 459-470) und De exaltatione sancte crucis (Kap. 131, S. 930-938). 16 Vgl. unten Anm. 42 die Einwände, die Minucius Felix in seinem um 240 entstandenen Dialog ‚Octavius‘ gegen die Kreuzverehrung vorbringt. 17 Itinerarium Egeriae, ed. Georg RÖWEKAMP, Fontes Christiani 20, Freiburg 1995, 36,437,4 (S. 270-274).
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der herantritt, wagt, so etwas wieder zu tun.“18 Jerusalem entwickelte sich „zum bedeutendsten Zentrum des Kreuzkultus.“19 Weitere, aus dem 5. Jahrhundert überlieferte Schriften trugen ein übriges dazu bei, den Kreuzkult zu festigen und der Auffindungslegende Verbreitung und Popularität zu verschaffen.20 So schildert beispielsweise der Kirchenhistoriker Sozomenos nicht nur die Auffindung durch Helena, sondern auch den weiteren Weg des Kreuzes: „Der größere Teil des verehrten Holzes wurde in eine silberne Lade geschlossen, in der es noch heute in Jerusalem verwahrt wird. Einen anderen Teil übersandte die Kaiserin [Helena] aber zusammen mit den Nägeln […] an ihren Sohn Konstantin.“21 Wohl nicht zufällig berichtet Sozomenos von jener silbernen Lade, die vor ihm schon Egeria beschreibt – die Legende wird fortgeschrieben. Bereits im 4.-5. Jahrhundert etablierte sich ein historisch-narratives Deutungsmuster, das die Authentizität der Kreuzpartikel unauflösbar mit der Auffindungslegende verknüpft. Diese bislang nur als mündlich tradierte Legende in Umlauf gebrachte Geschichte erfährt in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts eine Historisierung, die sie als Faktum für die nächsten Jahrhunderte festschreibt. Mit der Verschriftlichung der Legende in der Patristik war ein fester und eindeutiger Bezugspunkt in der Kreuzverehrung etabliert. Aber nicht nur die Kreuzreliquie selbst, auch die Gestalt der Helena zog ein bestimmtes Deutungsmuster nach sich. Die Kaiserin wurde als femina nobilissima nicht nur eng mit den Kirchenbauten in Jerusalem verbunden, sondern übernahm im Laufe der Zeit auch die Rolle der Pilgerin schlechthin: „In the collective memory she must have become the very type of the pilgrim.“22 Vorbildhaft standen die Taten Helenas – Kreuzauffindung und Kirchenstiftungen – den Jerusalempilgern vor Augen. Zweifellos transportierten die Wallfahrer die sich um diese Verdienste rankenden Legenden in die Heimat. Neben den Reliquien war die orale Tradition dieser Legende ihr wichtigstes Souvenir – ein Souvenir, das in Mitteleuropa den Boden für bestimmte Wahrnehmungsmuster bereitete.
1.2. Die Doppelkreuzform Ergänzend zur Auffindungslegende stellte die äußere Form des Kreuzes ein wichtiges Deutungsmuster bereit. Mit der Eroberung Jerusalems durch die Perser im Jahr 614 fand der dortige Kreuzkult ein jähes Ende und Konstantinopel, die Stadt, in die das Kreuzesholz in Sicherheit gebracht wurde, rückte in den 18 Ebd. 37,2: Et quoniam nescio quando dicitur quidam fixisse morsum et furasse de sancto ligno, ideo nunc a diaconibus, qui in giro stant, sic custoditur, ne qui veniens audeat denuo sic facere. 19 KLEIN (wie Anm. 9), S. 27. 20 Ebd., S. 26 mit Zitaten aus den entsprechenden Berichten. 21 Zitiert nach ebd., S. 26-27 mit Anm. 39 mit dem griechischen Text. 22 BAERT (wie Anm. 8), S. 37. Baert bezieht sich in ihrem Zitat auf die Forschungsergebnisse von Stefan HEID, Der Ursprung der Helena-Legende im Pilgerbetrieb Jerusalem, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 32, 1989, S. 41-71.
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Mittelpunkt der Kreuzverehrung. In welcher Form die Reliquie in Jerusalem präsentiert wurde, ist nicht überliefert, und auch die Gestalt des in Konstantinopel verehrten Kreuzes ist zunächst unklar. Eine erste Beschreibung seines Aussehens gibt der irische Abt Adamnanus in einem um 680 entstandenen Bericht über die abenteuerliche Pilgerfahrt des Bischofs Arkulf. Obwohl er detailliert die äußere Form des Kreuzes beschreibt, wie es während der Karwoche in der Hagia Sophia zu sehen war, bleibt seine Gestalt letztlich unklar: „Man darf allerdings nicht außer Acht lassen, daß dieses Kreuz nicht aus zwei, sondern aus drei kurzen Hölzern besteht, nämlich aus einem Quer- und einem Langholz, das durch einen Schnitt in zwei gleiche Stücke geteilt ist.“23 Nach Anatole Frolow ist die wahrscheinlichste Rekonstruktion, daß man drei Hölzer hatte, von denen zwei gleich lange eine Längsachse bildeten, die in der Mitte von dem dritten, quergelegten Holz durchbrochen wurde. Die Möglichkeit eines Doppelkreuzes zieht Frolow zwar in Erwägung, verwirft diese Möglichkeit jedoch.24 Das byzantinische Doppelkreuz ist erst gegen Ende des Bilderstreits im 9. Jahrhundert zuverlässig belegt und wurde die bestimmende Kreuzform im östlichen Reich.25 Die enge Verzahnung zwischen dem Kreuzesholz der Kreuzigung und dem Wahren Kreuz der Auffindungslegende demonstriert ein im 11. Jahrhundert entstandenes byzantinisches Elfenbeintriptychon, dessen Mitteltafel eine Kreuzigungsdarstellung füllt, während die Flügelinnenseiten von Aposteln und Heiligen bevölkert sind.26 Die untere Hälfte des linken Flügels zeigt, inschriftlich bezeichnet, Konstantin und Helena. Beide umfassen ein zwischen ihnen stehendes Doppelkreuz, das nicht nur visuell den Bezug zur Kreuzigung der Mitteltafel herstellt, sondern auch ein ikonographisch gut in die byzantinische Kunst eingeführtes Bildmotiv wiedergibt: Konstantin und Helena unter dem Kreuz. Bei diesen Darstellungen flankieren das Kaiserpaar und nicht etwa Maria und Johannes das Kreuz, wobei das Kreuz oft doppelkreuzförmig gestaltet ist.27 Diese visuellen Strategien bestärkten die Identität des Kreuzes Christi mit dem Wahren Kreuz, und die Doppelkreuzform wurde „fest als Symbol der Reliquie des ‚wahren‘ Kreuzes etabliert“.28 Ebenso wie in Jerusalem war auch 23 Adamnanus, De locis sanctis 3,3, ed. L. BIELER, CCSL 175, Turnhout 1965: Sed et hoc non neglegenter intuendum quod non duo sed tria ibidem crucis habeantur breuia ligna, hoc est transuersum lignum et longum incisum et in duas aequas diuisum partes. 24 Anatole FROLOW, La Relique de la Vraie croix, Paris 1961, Nr. 66, S. 194f. 25 Zu den verschiedenen Kreuzformen, wie dem Stufenkreuz, und deren Rekonstruktionen vgl. KLEIN (wie Anm. 9), S. 50-54. 26 Berlin, Staatliche Museum zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Bode-Museum, Inv.-Nr. 1578. Zu dem Objekt Gudrun BÜHL, Triptychon: Kreuzigung Christi mit Beifiguren, in: Glanz der Ewigkeit. Meisterwerke aus Elfenbein der Staatlichen Museen zu Berlin. Katalog zur Ausstellung im Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, hg. v. Regine MARTH, Braunschweig 1999, Nr. 8, S. 38 mit Abbildung. 27 Vgl. den Exkurs zur Darstellung Konstantins und Helenas unter dem Kreuz bei KLEIN (wie Anm. 9), S. 127-130. 28 Ebd., S. 197.
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Konstantinopel, wo das Kreuz nach dem Verlust der Reliquie für das Heilige Land verehrt werden sollte, bemüht, die Reliquie in einen Deutungszusammenhang zu stellen, der die Kreuzpartikel als Wahres Kreuz authentisch legitimierte. Obwohl das historische Kreuz auf Golgatha kein Doppelkreuz war, ist die Identität des Wahren Kreuzes eng an die Doppelkreuzform gebunden. Der Konkurrenz des historischen Ausgangsereignisses der Kreuzigung mit der Kreuzauffindungslegende entspricht auf der Ebene der Gestaltung die Aufwertung der Doppelkreuzform gegenüber der historischen, einfachen Kreuzform. Mit dem doppelten Kreuz war ein zentrales, sofort erkennbares Identitätsmerkmal verknüpft, mit dem die Provenienz des darin verborgenen Kreuzsplitters aus Byzanz sicher gestellt werden konnte. Die Herkunft aus dem Zentrum des oströmischen Reiches sollte zugleich Authentizität suggerieren, da sich dort das unumstrittene Monopol für Christusreliquien befand.
2. Die Kreuzreliquie – vera crux 2.1. Die Geschichte der Kreuzreliquie nach der Eroberung Jerusalems Nach der Verdrängung der Perser aus dem Heiligen Land durch den byzantinischen Kaiser Herakleios im Jahr 628 geriet Palästina für lange Zeit unter byzantinischen Einfluß. Als im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts die Macht des byzantinischen Reichs durch den Verlust Kleinasiens zu bröckeln begann und auch das Heilige Land unter muslimische Herrschaft geriet, entschloß sich Alexios I. Komnenos, den Papst um Waffenhilfe zur Rückeroberung des Territoriums zu bitten. Diese Bitte war die Grundlage der Kreuzzüge, die Byzanz in dieser Weise allerdings nicht gewollt hat. Mit seinem Aufruf zum Ersten Kreuzzug am 27. November 1095 auf dem Konzil von Clermont setzte Papst Urban II. eine Bewegung in Gang, die für mehrere Jahrhunderte das Sinnen und Trachten der Christenheit bestimmen sollte.29 Besonders die ersten vier großen Kreuzzüge, ein gutes Jahrhundert umfassend (1096-1204), brachten mit der Eroberung Jerusalems, der Gründung des Lateinischen Königreiches in Palästina und der Plünderung Konstantinopels während des Vierten Kreuzzugs nicht nur im wörtlichen Sinne eine Neuorientierung. Als kollektive Bußübung propagiert, war der erste Kreuzzug vor allem ein Krieg, der sich die „Befreiung“ Jerusalems und der östlichen Christenheit von muslimischer Herrschaft zur Aufgabe machte. Am 15. Juli 1099 erreichten die Kreuzfahrer nach dreijährigem, verlustreichem Feldzug und der Eroberung der Städte Edessa und Antiochia endlich ihr Ziel: die Einnahme und Plünde29 Zum Ersten Kreuzzug vgl. aus der Fülle der Literatur grundlegend Jonathan RILEYSMITH, The First Crusade and the Idea of Crusading, London 1986; Steven RUNCIMAN, Der erste Kreuzzug und die Gründung des Königreichs Jerusalem, München 1957.
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rung Jerusalems. Innerhalb der Stadt ging es vorrangig um die Inbesitznahme der heiligen Stätten, insbesondere des Heiligen Grabes und seines Umfeldes. Die zu diesem Zeitpunkt noch teilweise zerstörte Anlage der Grabeskirche bestand aus mehreren Heiligtümern, unter anderem dem Grab Christi, dem Golgathahügel und jener Grube, in der Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, das Kreuz Christi gefunden haben soll. Trotz ihres vordergründigen Charakters einer zu Buße und Ablaßgewinnung dienenden Pilgerfahrt waren die Kreuzzüge ein vor allem materiell orientiertes Unternehmen, das sich in Besitz- und Eroberungshandlungen manifestierte. Es ging nicht nur darum, das Heilige Land zu besetzen, sondern es auch zu besitzen, und das hieß, sich seine Kostbarkeiten anzueignen. Als Ort der Leidensund Heilsgeschichte galt das gesamte Land als heilig. Noch heiliger jedoch waren jene Relikte, die unmittelbar von diesem Heil zeugten: die Reliquien der Heiligen, Apostel und schließlich Christi selbst, sowie alles, was mit ihnen in irgendeiner Weise in Berührung gekommen war. Kaum war Jerusalem am 15. Juli 1099 gefallen, ließ sich der Anführer der christlichen Scharen, Gottfried von Bouillon, zum advocatus sancti sepulchri, zum Herrn über Jerusalem ausrufen; die geistliche Herrschaft über die heilige Stätte übernahm der nur vier Tage später gewählte Patriarch von Jerusalem. Damit hatten das Heilige Grab und seine Heiltümer neue Herren gefunden, die allerdings nicht aus Byzanz, sondern aus Mitteleuropa stammten. Im Zuge der Annexion genügte es nicht, nur das Heilige Grab zu besitzen, von dem allenfalls Felsbrocken als Reliquien dienen konnten. Wesentlich gewinnbringender war es, sich auch die potenteste Reliquie des Christentums anzueignen: das Kreuz Christi, das einstmals von Kaiserin Helena an diesem Ort aufgefunden worden war, durch historische Umstände für Jerusalem jedoch verloren schien.30 Mit dem Besitz des Wahren Kreuzes konnte Jerusalem wieder in seine alten Rechte eingesetzt werden, war es doch traditionell neben Konstantinopel und Rom diejenige Stadt gewesen, in der die Kreuzreliquie verehrt werden konnte.31 Obwohl die Tatsachen gegen die Existenz des Kreuzesholzes in Jerusalem sprachen, ließ seine wundersame Auffindung nicht lange auf sich 30 Die Verehrung des Kreuzes in der Heiligen Stadt hat eine wechselvolle Geschichte. War vom 4. bis zum Anfang des 7. Jahrhunderts die Grabeskirche unumstrittenes Zentrum der Kreuzverehrung, so änderte sich das schlagartig, als 614 die Perser die Heilige Stadt eroberten und die Kreuzreliquie raubten. Vierzehn Jahre später, 628, gelang Kaiser Herakleios zwar die Rückführung des verschleppten Heiltums nach Jerusalem, doch kaum war die Reliquie wiedergewonnen, wurde sie vor den anrückenden Arabern unter dem Kalifen Omar, der 637 die Stadt eroberte, nach Konstantinopel in Sicherheit gebracht. Fortan hatte der Kaiser in Konstantinopel, der schon die von Helena im vierten Jahrhundert in die Heimat geschickten Teile des Kreuzes verwaltete, die fast alleinige Kontrolle über die kostbare Reliquie. Zur frühen Geschichte der Kreuzreliquie vgl. KLEIN (wie Anm. 9), S. 19-31. 31 Zu der Kreuzverehrung in den drei Städten vgl. die Zusammenfassung von KLEIN (wie Anm. 9), S. 89-91.
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warten. Ähnlich wie einige hundert Jahre zuvor Kaiserin Helena das Kreuz erst entdecken mußte, mußten sich auch die Kreuzfahrer erst auf die Suche nach der offenbar versteckten Reliquie machen. Wer sie wann und wo verborgen hielt und in welchem Zustand oder welcher Fassung sie bewahrt wurde, wird in den Quellen unterschiedlich beantwortet.32 Nur in einem stimmen die Berichte überein: Ihr Finder war der Patriarch von Jerusalem, Arnulf von Chocques. Am 1. August 1099, zwei Wochen nach der Eroberung durch das Kreuzfahrerheer, konnte er schließlich die Entdeckung einer Partikel vom Kreuz des Herrn bekanntgeben. Fulcher von Chartres, einer der vielen Kreuzzugschronisten, berichtet über den Vorgang: „Da gefiel es Gott, daß ein Stückchen vom Kreuz des Herrn an einem geheimen Ort gefunden wurde. Dieses war schon in alter Zeit von frommen Männern dort versteckt worden. Jetzt aber wurde es von einem gewissen Syrer, der es mit Wissen seines Vaters zur Sicherung verborgen hatte, nach dem Willen Gottes wieder hervorgeholt. Dieses Stückchen, das die Form eines Kreuzes hatte und zum Teil mit goldener, zum Teil mit silberner Arbeit ummantelt war, trugen sie alle gemeinsam und für jeden sichtbar zum Grab des Herrn und dann auch zum Tempel. Dabei sangen sie mit freudigem Herzen Dankeshymnen an Gott, der über all diese Zeiten seinen und unseren Schatz für sich und uns bewahrt hatte.“33
Jerusalem war durch diese Entdeckung als politisches und religiöses Zentrum etabliert. Schon wenige Tage später, am 12. August, mußte sich die neugewonnene Kreuzreliquie bewähren, als sie zusammen mit der ein Jahr zuvor in Antiochia aufgefundenen heiligen Lanze – einer von vielen – als Palladium in die Schlacht von Askalon mitgeführt wurde.34 Nach siegreicher Schlacht galt die Reliquie als authentisch und fand regelmäßige glückbringende militärische Verwendung im Kampf gegen die Ungläubigen. Untrennbar war das Kreuzzugsideal an das Zeichen des Kreuzes gebunden, in dessen Namen sich die Invasion des Heiligen Landes vollzog. Was zunächst nur ein Zeichen zu sein schien, gewann durch die Existenz und Auffindung des Wahren Kreuzes eine andere Dimension: Der Besitz der Reliquie rechtfertigte alle militärischen Handlungen, half das Königreich Jerusalem zu sichern und 32 Vgl. Bianca KÜHNEL, Crusader Art of the Twelfth Century. A Geographical, an Historical, or an Art Historical Notion?, Berlin 1994, S. 127. 33 Fulcher von Chartres, Historia Hierosolymitana I,XXX,4, ed. Heinrich HAGENMEYER, Heidelberg 1913, S. 309f.: Placuit tunc Deo, quod inventa est particula una crucis dominicae in loco secreto, iam ab antiquo tempore a viris religiosis occultata, nunc autem a quodam homine Syro, Deo volente, revelata, quam cum patre suo inde conscio diligenter ibi et absconderat et conservarat. Quam quidem particulam in modum crucis reformatam, aurea partim et argentea fabrica contectam, ad dominicum Sepulcrum, dehinc etiam ad Templum congratulanter psallendo et gratias Deo agendo, qui per tot dies hunc thesaurum suum et nostrum sibi et nos servaverat, omnes una in sublime propalatam detulerunt. 34 Zum Kreuz als Palladium vgl. Giuseppe LIGATO, The Political Meanings of the Relic of the Holy Cross among the Crusaders and in the Latin Kingdom of Jerusalem, in: Autour de la première croisade, hg. v. Michel BALARD, Paris 1996, S. 314-330.
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verschaffte diesem nicht zuletzt denselben Rang wie den Reichen der salischen und byzantinischen Kaiser, die ihre Macht mit Hilfe desselben Schutz- und Siegeszeichens verteidigten.35 Lange Zeit verfügte der Hof in Konstantinopel beinahe monopolartig über das größte Stück des Wahren Kreuzes und weitere Passionsreliquien: Dornenkrone, Kreuzesnägel und Geißelsäule.36 Diese Kostbarkeiten galten als herrscherliche Reliquien, den höchsten Adelskreisen vorbehalten. Neben ihrer Funktion als Palladium dienten insbesondere Partikel der Kreuzreliquie als wohldosiertes diplomatisches Geschenk an europäische Höfe oder den Papst.37 Die in dieser Hinsicht fast vollkommene Abhängigkeit des Westens von Byzanz verstärkte den ohnehin schon neidvollen Blick auf die Prunk- und Prachtentfaltung am Goldenen Horn. Mit der Einnahme Jerusalems konnte ein effektives Gegengewicht geschaffen werden, standen dem Westen jetzt die heiligen Stätten doch selbst zur Verfügung. Durch die Entdeckung des Kreuzes schließlich wähnte man sich der christlichen Konkurrenz aus dem Osten gewachsen, wenn nicht ebenbürtig.
2.2. Der Begriff vera crux Mit der Aneignung der Kreuzreliquie durch die Kreuzfahrer und ihrem Export nach Mitteleuropa vollzog sich auch eine bemerkenswerte semantische Verschiebung des Begriffes der vera crux. Obwohl der Ausdruck „Wahres Kreuz“ selbstverständlich gebraucht wird, ist seine Geschichte nicht untersucht.38 Die Bezeichnung der materiell faßbaren Kreuzreliquie als vera crux tritt erst in der Kreuzfahrerzeit, und zwar im Westen, auf. Bevor man das Kreuzesholz als Wahres Kreuz bezeichnete, wurde es lignum domini o.ä. genannt. So ist in den Quellen der Kreuzauffindungslegende, die bis in das 5. Jahrhundert zurückreichen, nie von der Auffindung einer vera crux die Rede. Zwar ist der erste, ca. 390 entstandene Auffindungsbericht verloren, doch gibt es einen um 480 verfaßten Bericht in griechischer Sprache, dem die Urfassung zugrunde liegt; in ihm ist lediglich von dem „göttlichen Kreuz“ die Rede.39 Auch die Liturgie der seit dem 7. Jahrhundert gefeierten Exaltatio crucis verwendet nicht die Bezeichnung vera crux, sondern nennt das Kreuz zumeist sancta crux oder wählt andere Ausdrücke 35 Dabei wurde dem Kreuz in Jerusalem eher moralische als militärische Macht zugeschrieben. Die Kreuzreliquie diente zwar als Schlachtenhelfer, doch lag der Schwerpunkt auf der moralischen Rechtfertigung im Kampf gegen die Ungläubigen, nicht so sehr auf der Eroberung von Territorium. Vgl. dazu Deborah GERISH, The True Cross and the Kings of Jerusalem, in: The Haskins Society Journal 8, 1996, S. 137-155, hier S. 153. 36 KLEIN (wie Anm. 9), S. 203f., gibt die Auflistung der Reliquien aus dem sog. Alexiusbrief wieder. 37 KLEIN (wie Anm. 1). 38 So etwa in den Titeln der umfangreichen Untersuchungen von KLEIN (wie Anm. 9) und FROLOW (wie Anm. 24), die jedoch beide nicht auf die Begriffsgeschichte eingehen. 39 BORGEHAMMAR (wie Anm. 8), S. 45.
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wie vivifica crux.40 In der wesentlich späteren ‚Legenda Aurea‘, in der die Auffindungslegende ausgebreitet wird, begegnet dieser Ausdruck ebenfalls nicht; es wird dort lediglich von sancta crux, gelegentlich auch sacra crux oder crux domini gesprochen.41 Die Verehrung des Kreuzesholzes (lignum domini) setzte mit der Kreuzauffindung ein. Vorher wurde der Gedanke einer an das materielle Kreuzesholz gebundenen Kreuzverehrung radikal als heidnisch verworfen, wie sich an dem um 240 entstandenen Dialog ‚Octavius‘ des Minucius Felix ablesen läßt. Darin verteidigt der Christ Octavius das Christentum gegenüber einem Heiden mit den Worten: „Kreuze finden bei uns (Christen) weder Anbetung noch Verehrung; ihr (Heiden) aber, die ihr hölzerne Gegenstände zu Göttern weiht, betet offenbar auch hölzerne Kreuze als einige eurer Götter an. Die Feldzeichen, Standarten und Fahnen sind doch nichts anderes als vergoldete und geschmückte Kreuze. Eure (heidnischen) Siegeszeichen sehen nicht nur aus wie Kreuze, sie ahmen sogar die Gestalt eines daran gehefteten Menschen nach.“42
Für Minucius Felix, einen Autor, der ein Jahrhundert vor der legendären Kreuzauffindung schrieb, war die Verehrung eines hölzernen Kreuzes undenkbar und wurde als paganer Brauch abgetan. Unabhängig von der Kreuzauffindung begegnet der Begriff der vera crux bereits in patristischer Literatur, doch ist er deutlich von jener Terminologie zu unterscheiden, die während des 12. Jahrhunderts aufkommt. So spricht im 4. Jahrhundert etwa Augustinus im Zusammenhang mit der Taufe von dem homo Christus, qui vera carne, vera cruce, vera morte, vera resurrectione sincerum lac dicitur parvulorum.43 Das Wahre Kreuz – vera crux – steht bis zum 12. Jahrhundert in einem spirituellen Sinnzusammenhang und bezeichnet keine Realie. Jener Bedeutungswandel, dem zufolge das Kreuz, an dem Christus den Tod erlitt, als vera 40 Vgl. die zahlreichen Benennungen des Kreuzes in der Liturgie der Kreuzerhöhung bei Louis VAN TONGEREN. Towards the Origins of the Feast of the Cross and the Meaning of the Cross in Early Medieval Liturgy, Leuven 2000. 41 Iacopo da Verazze, Legenda Aurea (wie Anm. 15). In den Kapiteln De inventione sancte crucis (c. 64, S. 459-470) und De exaltatione sancte crucis (c. 131, S. 930-938) begegnet der Ausdruck vera crux nicht. Soll auf das echte Kreuz als materieller Gegenstand prägnant hingewiesen werden, steht dafür: lignum crucis (S. 461, 930, 933) oder ipsa crux domini (S. 467). 42 Minucius Felix, Octavius 29,2,6f., ed. Carolus HALM, CSEL 2, Wien 1867, S. 42f.: Cruces etiam nec colimus nec optamus. Vos plane, qui ligneos deos consecratis, cruces ligneas ut deorum uestrorum partes forsitan adoratis. Nam et signa ipsa et cantabra ut uexilla castrorum quid aliud quam inauratae cruces sunt et ornatae? Tropaea uestra uictricia non tantum simplicis crucis faciem, uerum et adfixi hominis imitantur. 43 Augustinus, In Ioannis Evangelium tractatus 98, Migne PL 35, Paris 1864, Sp. 1883: „[…] der Mensch Christus, der durch sein wahres Fleisch, sein wahres Kreuz, seinen wahren Tod, seine wahre Auferstehung […] echte Milch der Kleinen genannt wird“.
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crux gilt, tritt erst ein, als mitteleuropäische Klöster mit Kreuzreliquien aus dem Heiligen Land versorgt werden. Verfasser von Klosterchroniken sowie Inschriften auf Reliquiaren, die eine Kreuzpartikel bargen, bezeichnen ihre heilbringende Kreuzreliquie nun als vera crux. In seiner Schrift ‚De administratione‘ schildert Abt Suger von St. Denis (1081-1151), wie Papst Eugen aus seiner Schatzkammer dem Kloster ein Stückchen des „Titulus vom Wahren Kreuz unseres Herrn“ zukommen läßt, „welcher all und jede Perle übertrifft“.44 Auch Gérard Ithier (1189-98), Prior des Kloster Grandmont, sprach von einer in seinem Kloster aufbewahrten Partikel des Wahren Kreuzes, um dessen Hilfe zwei Gefangene inständig beteten: „Sie begannen, den Herrn anzurufen, er möge sie befreien mittels des Wahren Kreuzes in Grandmont und der Verdienste des seligen Bekenners Stephanus, des ersten Ordensvaters von Grandmont. Da geschah es, als sie unablässig die ganze Nacht ihn mit größter Kraft ihres Herzens anflehten, daß Gott sich erbarmte. Das göttliche Erbarmen stand ihnen bei, indem es sie durch die Kraft des erwähnten lebensspendenden Kreuzes und die Verdienste des seligen Bekenners Stephanus befreite, und zwar auf folgende Weise […].“45
Das wohl aus dem 12. Jahrhundert stammende Reliquiar, das die erwähnte Kreuzreliquie einstmals barg, wurde zwar im 18. Jahrhundert eingeschmolzen, doch hat sich die Inschrift auf dem Reliquiar erhalten. Sie beginnt mit den Worten Quedam pars vere crucis und beschreibt noch andere Leidensgeräte der Passion, die mit Christus in Berührung gekommen waren.46 Die Benennung des Kreuzesholzes als „wahr“ trägt im Vergleich zum schlichten lignum domini Rechtfertigungscharakter und unterstreicht die Echtheit der Reliquie. Zwar überwiegen in Schatzverzeichnissen – sofern sie aus dem 12. Jahrhundert erhalten sind – Ausdrücke wie lignum domini oder lignum sancte crucis,47 doch läßt sich, besonders ab dem 14. Jahrhundert, vermehrt die Bezeichnung vera crux nachweisen.48 Mit dieser Benennung wird auf sprachlicher Ebene sowohl ein Deutungs- als auch ein Wahrnehmungsmuster etabliert, das die Kreuzreliquie – vera crux – in einen Authentizitätszusammenhang mit dem Kreuz Christi stellt. 44 De Administratione, in: Abt Suger von Saint-Denis, hg. v. Andreas SPEER und Günther BINDING, Darmstadt 2000, S. 256-371, hier S. 340: De titulo uerae crucis Domini, qui omnem et uniuersalem excedit margaritam, de capella sua portionem in eo assignauit. 45 Gerardus Itherius, Vita S. Stephani, Migne PL 204, 1855, Sp. 1067 B: …clamare coeperunt ad Dominum, ut per auxilium verae crucis, quae erat in Grandimonte, et per merita B. Stephani confessoris, primi patris ordinis Grandimontensis eos liberaret. Factum est autem, Deo miserante, cum sic perseverassent per totam noctem illam ex intimo cordis affectu Deum deprecantes, adfuit illis divina miseratio, quae per virtutem supradictae crucis vivificae, et per merita B. Stephani, liberavit eos tali modo. 46 FROLOW (wie Anm. 24), Nr. 440 (S. 378) mit vollständiger Wiedergabe der Inschrift. 47 Vgl. die Einträge in: Mittelalterliche Schatzverzeichnisse, hg. v. Bernhard BISCHOFF, München 1967, insb. Nr. 64 und 115. 48 FROLOW (wie Anm. 24), Nr. 682,4; 817; 908; 692,1.
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2.3. Die Kreuzreliquie als Christusreliquie Neben den genannten Machtansprüchen, die sich mit dem Besitz des Wahren Kreuzes verbanden, stellt sich die Frage, was das Kreuzesholz als Reliquie so überaus wertvoll machte und welches Kraftpotenzial ihm zugesprochen wurde. Schon die Auffindungslegende erwähnt, als das Wahre Kreuz seine Wirksamkeit unter Beweis zu stellen hat, Kräfte, die denen Christi gleichen.49 Es waren die äußere und innere Christusnähe, die schließlich in der Wahrnehmung der Gläubigen zu einer Kräfteidentität zwischen Christus selbst und dem Kreuzesholz als Reliquie führen sollten. Vielfältig sind die Äußerungen über diesen Zusammenhang. Zum einen ist es die Schutzfunktion, die der Kreuzreliquie wie auch anderen Reliquien eignet. Zum anderen ist das Kreuzesholz von besonderer Kraft, weil es dem heilbringenden Leib Christi nahe war. So jedenfalls sieht es der byzantinische Historiograph Johannes Kinnamos (geb. nach 1143, gest. nach 1185) als er 1180-82 seine ‚Epitome‘ verfaßte. In diesem Werk schildert er den Besuch des französischen Königs Ludwig VII. (1137-80) beim byzantinischen Kaiser und deren Ausflug in eine jener Kirchen von Konstantinopel, die reich mit Reliquien ausgestattet waren: „Alsbald begab er [Ludwig VII.] sich, vom Kaiser begleitet, in den Palast südlich der Stadt, um zu sehen, was es dort an Sehenswürdigem gab, besonders die heiligen Dinge in der dortigen Kirche – ich spreche von jenen Dingen [gemeint sind (Kreuz)Reliquien, GT] die, dem heilbringenden Leib Christi (sôma) nahe, den Christen als Schutzmittel (Amulett, phylaktêria) dienen.“50
Die Nähe des Kreuzes zum Leib Christi ist jedoch nicht das einzige, was Leib und Kreuz verbindet. Als eigentliches Bindeglied zwischen beidem galt das Blut des Herrn, das während der Kreuzigung das Kreuz benetzte und auf diese Weise, reale körperliche Spuren des Leibes Christi auf Erden hinterlassend, für den Opfertod Christi zeugte. Hatte die Aufnahme in den Himmel die Verehrung sterblicher Überreste Christi unmöglich gemacht, blieben der frommen Verehrung nur noch jene Passionsrelikte, deren wirkmächtigste das Kreuz selbst war, da es durch das Blut Christi Spuren seiner Leiblichkeit trägt. Im Sinne der Reliquienverehrung und ihrem pars pro toto-Prinzip ist Christus dank seiner Blutrelikte in der Kreuzreliquie präsent. Beim Besitz von Kreuzpartikeln geht es nicht nur um das Kreuz als Zeichen des Sieges oder der Wiederkunft Christi, sondern um die Präsenz Christi selbst. Diese Präsenz hat keinen sakramentalen, der kon49 S. oben, S. 37. 50 Johannes Kinnamos, Epitome rerum ab Ioanne et Alexio Comnensis gestarum II,17,83, ed. August MEINEKE, Corpus scriptorum historiae byzantinae 23, Bonn 1836 (englische Textausgabe: Deeds of John and Manuel Comnenus, übers. v. Charles M. BRAND, New York 1976, S. 69).
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sekrierten Hostie vergleichbaren Charakter, sondern beruht auf der Auffassung des Kreuzes als Reliquie, das heißt als irdisches Relikt der Passion Christi. Ganz allgemein äußert sich ein anonymer Templerkaplan in dem von ihm verfaßten ‚Itinerarium peregrinorum‘ im Zusammenhang mit dem Verlust des heiligen Kreuzes über dessen Kraft: „Das lebensspendende, heilbringende Kreuzesholz, an dem unser Herr und Heiland gehangen, an dessen Stamm das heilige Blut floß, dessen Zeichen von den Engeln angebetet und von Menschen verehrt, die Dämonen erschreckt, unter dessen Führung die Unseren im Kampf den Sieg erringen – o weh, jetzt hat es der Feind in seinen Besitz gebracht.“51
Doch war das Kreuzesholz nicht nur als Ganzes wertvoll, auch seinen einzelnen Teilen kam Bedeutung zu. Diese wurde daran gemessen, wie stark die jeweiligen Kreuzpartien mit dem Blut Christi in Berührung gekommen waren. Ein im Jahr 1120 von Ansellus, Cantor Sancti Sepulcri, verfaßter Brief schildert diesen Sachverhalt.52 Das Schreiben begleitete einst ein kostbares Geschenk, nämlich eine Kreuzreliquie, die von Jerusalem nach Paris auf den Weg geschickt wurde. Offenbar handelt es sich bei der von Ansellus versandten Partikel nicht um ein Stück vom Wahren Kreuz der Grabeskirche, sondern um eine aus dem einstmaligen Besitz König Davids von Georgien.53 Dem Adressaten, dem Pariser Bischof Galon, erklärt er genau, was es mit dem Kreuzesholz auf sich hat: „Außerdem sind die Gaben zu erwähnen, die mir Gott schenkte zur Ehre, Herrlichkeit und Erhöhung eurer Kirche und eures Landes. Die größte und unvergleichliche Gabe ist ein Kreuz mit Holz vom Heiligen Kreuz. Ich selbst habe es euch getreulich durch euren treuen Anselm übermittelt, nachdem ich von ihm euren an uns gerichteten Brief erhalten hatte. Wie wir aus den Schriften der Griechen und Syrer erfahren, bestand das Kreuz Christi aus vier Hölzern: auf dem ersten hat Pilatus die Inschrift angebracht, auf dem zweiten wurden Christi Arme ausgebreitet und seine Hände angenagelt, am dritten hing sein Leib, und am vierten war das Kreuz befestigt. Auch dieses vierte Holz wurde durch das aus Christi Seite und Beinen fließende Blut benetzt und so geheiligt. Das Kreuz nun, das ich euch sende, stammt von zwei verschiedenen Hölzern, wobei ein Kreuz in das andere eingefügt ist. Das eingefügte ist von jenem Balken, an dem Christus hing; das, wel-
51 Das Itinerarium peregrinorum. Eine zeitgenössische englische Chronik zum dritten Kreuzzug in ursprünglicher Gestalt, hg. v. Hans Eberhard MAYER, Stuttgart 1962, S. 258: Illud eciam vivificum salutifere crucis lignum, in quo dominus ac redemptor noster pependit, in cuius stipitem pius Christi sanguis defluxit, cuius signum adorant angeli, venerantur homines, demones expavescunt, cuius presidio nostri semper in bellis exstitere victores, heu, nunc ab hoste capitur. 52 Geneviève BAUTIER, L’Envoi de la relique de la vraie croix à Notre-Dame en 1120, in: Bibliothèque de l’Ecole des Chartes 129, 1971, S. 387-397, datiert den Brief auf die Jahre 1120-21. 53 Ansellus Cantor S. Sepulcri, Epistola ad ecclesiam Parisiensem, Migne PL 162, Paris 1889, Sp. 729 A-732 C, hier Sp. 730 A.
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Gia Toussaint ches eingefügt ist, stammt vom Suppedaneum, an dem das Kreuz befestigt war. Beide sind gleichermaßen würdig und heilig.“54
Nach Ansellus ist das Kreuz keine bloße Berührungsreliquie, sondern durch das Blut Christi geadelt. Im gleichen Sinne äußert sich gut hundert Jahre später auch Matthew Paris in seiner ‚Chronica Majora‘, wo er eine Predigt des Bischofs von Norwich anläßlich des Erwerbs einer Blutreliquie durch den englischen König Heinrich III. für Westminster wiedergibt. Das Heiligste, was Menschen besitzen, sagt Walter Suffield, Bischof von Norwich, sei das Blut Christi: „‚Jede Ursache hat höheren Rang als das Verursachte‘ [Aristoteles, GT]. Tatsächlich ist das heilige Kreuz überaus heilig, doch es ist heilig durch die Weihe, die es durch die Benetzung mit Blut [Christi] erhalten hat; nicht ist das Blut heilig aufgrund des Kreuzes. Wir glauben, daß dies gesagt wird, damit sich England nicht weniger freue über den Besitz so vieler Schätze als Frankreich über den Erwerb des heiligen Kreuzes, das der König Frankreichs nicht ohne Grund liebt und ‚mehr als Gold und Edelstein‘ schätzt und verehrt.“55
Die Betonung des Blutes gegenüber dem Kreuz ist sicher der Konkurrenz zwischen dem französischen und dem englischen Hof um den Besitz der wertvollsten Reliquie geschuldet. In dieser Predigt kündigt sich weiterhin eine Tendenz an, die im ausgehenden Mittelalter an Bedeutung gewinnen sollte, nämlich das Blut Christi als wertvollste Reliquie anzusehen.56 54 Ansellus (wie Anm. 53), Sp. 729 C-730 A: Praeterea, de donis quae dedit mihi Deus ad honorem et gloriam, et sublimationem ecclesiae vestrae, et vestri, vestraeque civitatis; donum maximum, et incomparabile, videlicet crucem unam de ligno sanctae crucis per Anselmum fidelem vestrum vobis devotus transmisi, a quo et litteras vestras nobis missas accepi. Sicut a Graecorum et Syriacorum scripturis didicimus, patibulum crucis Christi, de quatuor lignis fuit, unum in quo Pilatus titulum scripsit, aliud in quo brachia ejus extenta, et palmae affixae fuerunt, tertium in quo corpus ejus appensum est, quartum in quo crux affixa fuit, quod etiam aspersione sanguinis lateris, et pedum intinctum, et sanctificatum est; et crux ista, quam vobis misi, de duobus est lignis, quia crux inserta est cruci. Inserta est de eo in quo pependit, in qua inseritur, de suppedaneo in quo crux affixa fuit. Nach Ansellus – und anderen mittelalterlichen Autoren – besteht das Kreuz aus vier verschiedenen Balken: (1) dem senkrechten Kreuzesstamm, der an einem in den Boden gerammten (2) Pflock mit Fußstütze für den Gekreuzigten (suppedaneum) befestigt war; (3) dem Querbalken und (4) der Tafel mit der Kreuzesinschrift. Vgl. dazu Tobias A. KEMPER, Die Kreuzigung Christi. Motivgeschichtliche Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters, Tübingen 2006, S. 212-220, bes. die Beschreibung bei Mandeville (S. 213 Anm. 22). 55 Matthaei Parisiensis Chronica Majora, ed. Henry Richards LUARD, Bd. 4, London 1877, S. 642: ‚Omne propter quod, dignius quam illud quod.‘ Revera crux sancta sanctissimum quid est. Sed ipsa sacra fuit propter sacratioris sanguinis aspersionem, non sanguis sacer propter crucem. Et haec eum dixisse credimus, ut in possessione tanti thesauri non minus gaudeat et glorietur Anglia quam Francia in adeptione sanctae crucis, quam dominus rex Francorum non immerito diligit, et ‚super aurum et topazion‘ amplectitur et veneratur. 56 Zur spätmittelalterlichen Blut-Christi-Verehrung vgl. Caroline Walker BYNUM, Das Blut und die Körper Christi, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 5, 2001, S. 75-119.
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Doch zurück ins Jerusalem des 12. Jahrhunderts. Hier stand das Kreuz selbst im Mittelpunkt, das Blut war zunächst nur der Stoff, der das Kreuzesholz heiligte. Es wirkte noch die seit der Spätantike gepflegte Kreuzverehrung, die erst später durch die Blutverehrung zurückgedrängt werden sollte. Um 1155-5757 entsandten – so weiß es eine Urkunde – Fulcher, Patriarch von Jerusalem, und Amalrich, Prior vom Heiligen Grabe, „den Regularkanoniker Konrad mit einem Kreuz, in das Reliquien von den heiligen Stätten Palästinas eingelassen sind, nach Europa. Vor diesem Kreuz sollen alle, die eine Kreuzfahrt gelobt hatten, diese jedoch ohne eigenes Verschulden nicht antreten konnten, gegen Gebet und Güterschenkung an die Grabeskirche von ihrem Gelübde gelöst werden.“58 Dieses in Jerusalem entstandene sogenannte Scheyrer Kreuz,59 das dank seiner Reliquien gleichsam das Heilige Land in den Westen trug, ist zwar heute bis auf seine Hülle und ein Stück des Reliquienträgers verloren, doch ist sein einstiges Aussehen und die Beschreibung der darin geborgenen Reliquien in mehreren Stichen überliefert (Abb. 1, Scheyrer Kreuz).60 Die als Theca minor bezeichnete kleine Fassung hat zusätzlich zum schmalen, kreuzförmigen Fach zur Aufnahme der Kreuzreliquie an den sechs Enden kleine rechteckige Sepulchren für verschiedene Partikel, die von diversen Orten des Heiligen Landes stammen. Neben der Angabe, um welche Reliquien es sich genau handelt, weist das Faksimile der Urkunde auch auf das Blut hin, das die Kreuzpartikel heiligt: „Nachdem Reliquien von den heiligen Stätten gesammelt waren […], haben wir dieses Kreuz angefertigt und ein Stück hinzugefügt vom heiligen Kreuz, geheiligt durch das Blut Christi.“61 Auch in diesem Fall erfolgt die Heiligung der Kreuzreliquie durch das Blut Christi. Die Heiligkeit beschränkte sich jedoch nicht nur auf das Kreuz selbst, sondern umfaßte auch jenen Ort, der vom Blut Christi kontaminiert wurde. Anno 1170 verfaßte ein gewisser Johannes von Würzburg einen Pilgerbericht mit detaillierten Schilderungen des Heiligen Landes und seiner Stätten. Darin berichtet 57 Zur Datierung dieses Vorgangs vgl. Heribert MEURER, Kreuzreliquiare aus Jerusalem, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 13, 1976, S. 7-17, hier S. 11. 58 Karl-Ernst LUPPRIAN, Urkunde zur Herkunft des Scheyerer Kreuzpartikels, in: Die Zeit der frühen Herzöge. Von Otto I. zu Ludwig dem Bayern, hg. v. Hubert GLASER, Bd. 1, München 1980, S. 36. 59 Es handelt sich um das sog. Scheyrer Kreuz, das heute nur noch fragmentarisch überliefert ist. Vgl. zuletzt ausführlich zu diesem Objekt: Gia TOUSSAINT, Jerusalem – Imagination und Transfer eines Ortes, in: Jerusalem, du Schöne. Bilder und Vorstellungen von einer heiligen Stadt, hg. von Bruno REUDENBACH (Vestigia Bibliae 28), Bern 2008, S. 3360. 60 Vgl. das Faksimile der Stiche, das in: Monumenta Boica 10, 1768, nach S. 376 eingeheftet ist. 61 Monumenta Boica 10, 1768, nach S. 376 eingeheftetes Faksimile der Urkunde: Collecti itaque sacrosanctorum locorum reliquii. [es folgt die Aufzählung der Orte, von denen die Reliquien stammen] hanc crucem construximus. et super hec de sacra cruce sanguine christi dedicata partem addidimus.
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er auch von jenem Ort, an dem Kaiserin Helena das Kreuz Christi aufgefunden hat und über dem die Grabeskirche errichtet wurde: „Zwar bereits durch das Blut Christi geheiligt, wurde dieser Ort in neuerer Zeit, gleichsam das Maß sprengend, von verehrungswürdigen Männern am 15. Juli noch einmal geweiht. Davon zeugen jene Verse, die in goldenen Lettern angebracht sind: Dieser Ort ist heilig durch Christi Blut; auch ohne unsere Weihe wäre es gut. Die Kirchen, über dieser Stätte erbaut, haben am Morgen des 15. Juli ihre Weihe geschaut.“62
Die durch das während der Passion vergossene Blut geheiligte Erde setzte eine immense Wallfahrtsindustrie in Gang. Nach der Eroberung Jerusalems war der Ort, an dem Christus gelitten hatte, frei zugänglich, so daß die Pilgerströme ungestört die heiligen Stätten besichtigen und Pilgerandenken aller Art in den Westen bringen konnten. Gut verpackt in Pilgerampullen, wurde viel Staub und Erde des Heiligen Landes in den Westen transportiert und dort als Heiltum verehrt. Am begehrtesten waren im Westen jedoch immer noch jene Reliquien, die tatsächlich von der Passion Christi zeugten, allen voran die Kreuzreliquie selbst. Paulinus von Nola (353/55-431) schickte am Beginn des 5. Jahrhunderts einen Splitter des Kreuzesholzes an Sulpicius Severus und versah das kostbare Geschenk mit einem Brief, aus dem hervorgeht, daß die Kraft, die von der durch das Blut geweihten Kreuzpartikel ausgeht, keine andere ist, als die Christi selbst: „Wir haben etwas gefunden, was wir euch als würdiges Geschenk schicken wollen – zur Heiligung der Basilika und zur Vermehrung des Segens, der von der Asche der Heiligen ausgeht: eine winzige Partikel vom Kreuzesholz des Herrn. […] Empfanget ein großes Geschenk von kleiner Gestalt – einen kaum mehr teilbaren winzigen Splitter; er diene dem gegenwärtigen Heil als Bollwerk, dem künftigen aber als Unterpfand. Es soll euren Glauben nicht anfechten, daß ihr mit den fleischlichen Augen nur etwas Kleines seht; vielmehr soll der innere Blick in dem winzigen Stück die ganze Kraft des Kreuzes schauen. Bedenkt, daß ihr jenes Holz betrachtet, an dem der Herr der Herrlichkeit hing, während die Erde erbebte – und so jubelt mit Zittern.“63 62 Johannis Wirziburgensis descriptio Terrae Sanctae 13, ed. Titus TOBLER, Leipzig 1874, S. 152: Ejusdem loci, licet sanguine Christi ibidem effuso jam dudum consecrati, in modernis temporibus, licet ex superabundanti, facta est a viris venerabilibus consecratio quinto decimo die julii. Unde et tales versus sub quodam in litteris deaurato opere propositis adhuc testantur ibidem conscripti: Est locus iste sacer sacratus sanguine Christi. / Per nostrum sacrare sacro nil additur isti. / Sed domus huic sacro circum superaedificata / est quinta decima quintilis luce sacrata. 63 Paulinus von Nola, Epistola XXXI, 268, ed. Matthias SKEB, Fontes Christiani 25, 2, Freiburg 1998, S. 728-730: […] invenimus quod digne et ad basilicae sanctificationem vobis, et ad sanctorum cinerum cumulandam benedictionem mitteremus, partem particulae de ligno divinae crucis […] accipite magnum in modico munus et in segmento pene atomo hastulae brevis sumite munimentum praesentis et pignus aeternae salutis. Non angustetur fides vestra carnalibus oculis parva cernentibus, sed interna
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Die ganze Kraft in diesem ganz kleinen Stück vom Kreuz zu sehen meint letztlich nichts anderes als Christus selbst zu schauen, der sich mit dem Kreuz verbunden hat. Im selben Sinne argumentiert auch die griechische Inschrift einer kleinen Staurothek im Schatz von St. Peter in Rom (Abb. 2; Enkolpion im Schatz von St. Peter, Rom).64 Die spätestens aus dem 12. Jahrhundert stammende byzantinische Kreuzlade, die nach der Plünderung Konstantinopels 1204 ins Maasland verbracht wurde, birgt innen ein kreuzförmiges Enkolpion und in dessen Mitte unter Kristall eine Kreuzpartikel. An den vier Kreuzarmen befinden sich runde Scheiben, auf denen eine Inschrift zu lesen ist: „Siehe welch neues Wunder Und welch sonderbare Gnade: Gold nämlich erkennst du außen, Christus innen.“65
Die Kreuzpartikel und Christus sind, wenn nicht eins, so doch kongruent. Im Kreuzesholz ist Christus mittels seines Blutes präsent. In einem weiteren Schritt kann gezeigt werden, daß die Kreuzreliquie sogar stellvertretend für den Leib Christi aufgefaßt werden konnte. Deutlich wird dies am Zwiefaltener Kreuzreliquiar, das in seiner Konzeption wohl einzigartig ist (Abb. 3). Diese im 17. Jahrhundert mit einer barocken Fassung versehene Tafel besticht durch ihre Kostbarkeit und ihren individuellen Entwurf.66 Aus Eichenholz gefertigt und mit Goldblech überzogen, mißt die Lade 36,5 x 18,5 cm. Im Inneren der großen Tafel ruhen, wie die Inschrift ihrer Rückseite vermerkt, die Reliquien jener, die dem direkten Umfeld Christi zugerechnet werden können: Reliquien Johannes des Täufers, der Apostel Andreas und Jacobus sowie des Evangelisten Markus. Die Tafel dient jedoch nicht nur als Reliquiar, sondern mehr noch als prächtiger Rahmen für eine kleine, in der Mitte der Tafel ausgestellte Staurothek, die aus Jerusalem stammt. Wesentliches äußeres Merkmal dieser Staurothek ist ein Stückchen Holz in Doppelkreuzform, das in der Mitte des Reliquiars unter einer Glasabdeckung, vormals wohl einem Bergkristall, dargeboten wird.67 Umsäumt acie totam in hoc minimo vim crucis videat. Dum videre vos cogitatis lignum illud, quo salus nostra, quo Dominus maiestatis adfixus tremente mundo pependerit, exultetis cum tremore. 64 Zu der Staurothek vgl. ausführlich Angelo LIPINSKY, La stauroteca minore con perle nel tesoro di San Pietro in Vaticano, in: Bollettino della Badia Greca di Grottaferrata N.S. 12, 1958, S. 19-39, sowie FROLOW (wie Anm. 24), Nr. 427, S. 371-372, mit der älteren Literatur. 65 !"# $% %'!' (#)*# / % &+',' -#"%' / -").!' *+' +/0 / -"%.$!' +'1+ .&!2+%. Die Wiedergabe der Inschrift folgt der Edition von Anton DE WAAL, Ein byzantinisches Encolpium in St. Peter, in: Römische Quartalschrift 25, 1911, S. 8688. 66 Zuletzt ausführlich dazu Rainer KAHSNITZ, Tafelreliquiar aus Zwiefalten, in: Canossa 1077. Erschütterung der Welt, hg. v. Christoph STIEGEMANN u. Matthias WEMHOFF, München 2006, Bd. 2, Nr. 400, S. 290-292 und KLEIN (wie Anm. 9), S. 198-202 mit älterer Literatur. 67 Vgl. KAHSNITZ (wie Anm. 66), S. 290.
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wird die kleine Kreuzlade von einem Edelsteinfries, dem ein breiterer, aus Gold getriebener Blattrankenrahmen folgt. Den umgebenden äußeren Rahmen bildet wiederum ein Fries mit größeren Edelsteinen, in den Emailmedaillons integriert sind, die Teile der Gestalt Christi wiedergeben: mittig am oberen Ende den Kopf mit Kreuznimbus, beidseitig an den Langseiten die Hände und unten schließlich die Füße Christi, an denen keine Wundmale erkennbar sind. Relativ gut läßt sich in diesem Fall die Geschichte der Kreuzreliquie rekonstruieren. Wie die Klosterchronik des Benediktinerklosters Zwiefalten überliefert, handelt es sich um eine Partikel, die direkt aus dem Heiligen Land nach Schwaben gekommen ist. In der 1138 verfaßten Zwiefaltener Chronik wird berichtet, daß Abt Gebhard von Schaffhausen, der eine zeitlang als custos sancti sepulchri in Jerusalem das dort aufbewahrte Wahre Kreuz verwaltete, um 1100 die spätere Zwiefaltener Partikel erwarb. Dieses offenbar sehr kleine Stück einer Kreuzreliquie gelangte nach seinem Tod über Umwege an den Pilger Berthold von Sperberseck (gest. 1111), der es nach seiner Rückkehr in die Heimat wiederum der Abtei Zwiefalten stiftete.68 Berthold brachte noch weitere Reliquien mit, die sich allesamt in der Staurothek wiederfinden: „Der jüngere Berthold zog nach Jerusalem und brachte uns einen Splitter vom Kreuze des Herrn in einem Kreuzchen, […] verziert mit vier Steinchen von der Krippe des Herrn, vom Kalvarienberg, vom Heiligen Grab und vom Berg der Himmelfahrt.“69 Wie sich das sogenannte Kreuzchen (crucicula), das mit dem jetzt sichtbaren Doppelkreuz zu identifizieren ist, und Reliquien zueinander verhalten, läßt sich der etwas früher (1135) entstandenen Chronik des Mönchs Ortlieb entnehmen. Seiner Schilderung nach ist das sichtbare Holzstückchen in Doppelkreuzform nur der Träger der mitgebrachten Reliquien, nicht die Kreuzreliquie selbst. Daß die Reliquien in diesen Holzträger eingelassen sind, geht aus dem von ihm verfaßten Schatzverzeichnis des Klosters hervor: „In dem von Gold und Edelsteinen wundervoll verzierten heiligen Kreuz, das Herr Bertolf der Jüngere von Sperberseck aus Jerusalem mitgebracht hat, verehren wir, so oft es uns vorangetragen wird, folgende Reliquien: Im oberen und mittleren Teile des Kreuzchens ist ein Splitter vom Kreuz des Herrn enthalten, in der Spitze ein Stück des Felsens, von dem aus der Herr in den Himmel aufgefahren ist; im rechten Arme desselben heiligen Kreuzes ein Steinchen vom Grabe des Herrn, im linken eins vom Kalvarienberg, im unteren Teil ein Stück von der Krippe des Herrn. Dies ist in dem aus Jerusalem mitgebrachten Kreuzchen selbst enthalten.“70 [Es folgt die Aufzählung weiterer Reliquien, die sich in der kleinen Lade selbst befinden.] 68 Bertholdi Chronicon 1,15, in: Die Zwiefalter Chroniken Ortliebs und Bertholds, ed. Luitpold WALLACH u. a., Sigmaringen 1978, S. 136-287, hier S. 196. 69 Ebd.: Bertoldus iunior Hierosolimam pergens attulit nobis de ligno Domini cruciculam […] pretiosam, quattuor lapidibus de praesepio Domini, de loco Calvariae, de sepulchro, de ascensione Domini insignitam. 70 Ebd. 135, S. 113: In cruce sancta quam domnus Bertolfus iunior de Sparwarisegge de Iherosolimis attulit, auro et gemmis mirifice decorata, istae adorari solent, ubicumque ante nos portantur, reliquiae: In superiore crucicula et in media continetur de ligno dominicae crucis; in summitate de petra ex qua Domi-
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Das Doppelkreuz und seine kleine Staurothek sind also bereits in Jerusalem gefertigt und in Zwiefalten in ein größeres Reliquiar integriert worden. Dieser Befund ist insofern nicht verwunderlich, als die für den Export bestimmten, in Jerusalem hergestellten Staurotheken als Nachweis ihrer Authentizität vornehmlich die Gestalt eines Doppelkreuzes hatten.71 Das Doppelkreuz ist also geadelt durch die in ihr aufbewahrte Kreuzpartikel, die mit ihrer virtus auch den sie umhüllenden Träger durchdringt. Außergewöhnlich ist die Einbindung dieses kleinen Kreuzes in ein größeres Reliquiar, ist es doch wie der auf das Kreuz gestreckte Leib Christi zwischen die Emailmedaillons der membra Christi eingespannt. Die Christus-Abbreviatur, bestehend aus Gliedmaßen und Kopf, die als Umfassungs- oder Syndesmosfigur auch den Kosmos oder die mappa mundi umfassen kann, ist ein Motiv, das, schon in der insularen Buchmalerei nachweisbar, durch Schriftstellen der Bibel (Kol. 1, 16-20) und frühchristliche Autoren grundgelegt ist.72 Honorius Augustodunensis beschreibt Anfang des 12. Jahrhunderts in seinem kurzen Traktat ‚De inventione sanctae crucis‘ die weltumspannende Kraft des Kreuzes, auf dem Christus sich erstreckt und zugleich die Welt umfaßt.73 Kreuz und (die Welt als) Leib Christi erscheinen als Einheit.74 Der Tod am Kreuz erlöste die ganze Welt und erhält damit eine allumfassende Dimension. Durch die in diesen Zusammenhang gestellten Kreuzpartikel wird sowohl die transzendent-kosmische Bedeutung des Leibes Christi als auch des Kreuzes als Medium und Relikt dieses Prozesses evident. Die geschilderte Beziehung zwischen Kreuz, Blut und Leib Christi ist nicht im sakramentalen oder eucharistischen Sinne aufzufassen. Die Anwesenheit des Transzendenten ist bei der Reliquien- wie übrigens auch der Ikonenverehrung nicht an die Liturgie gebunden; sie besteht auch außerhalb des sakramentalen liturgischen Vollzugs. Wie eng Kreuzreliquie und Eucharistie mit dem Leib Christi in Verbindung gebracht werden konnten, macht ein magischer Akt deutlich, den Thietmar von Merseburg in seiner Chronik schildert. Ihm zufolge machte sich nämlich Gero,
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nus caelos ascensdit; in dextro eiusdem sanctae crucis cornu de sepulchro Domini. In sinistro de loco Calvariae; in inferiori parte de praesepio Domini. Haec in ipsa lignea crucicula continentur quae de Iherosolimis est allata. Zur Doppelkreuzform als Authentizitätsmerkmal s.u., S. 58-62. Die Staurotheken der Kreuzfahrerzeit beschreibt Heribert MEURER, Zu den Staurotheken der Kreuzfahrer, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 48, 1985, S. 65-76. Otto Karl WERCKMEISTER, Irisch-northumbrische Buchmalerei des 8. Jahrhunderts und monastische Spiritualität, Berlin 1967, S. 120-133. Honorius Augustodunensis, De inventione sanctae crucis, Migne PL 172, Paris 1895, Sp. 941-950, hier Sp. 946. Vgl. dazu ausführlich: Anna C. ESMEIJER, Divina Quaternitas, Assen 1978, S. 99-107. Vgl. beispielsweise die Ebstorfer Weltkarte, wo eine mappa mundi den Leib Christ bildet: Jörg ARENTZEN, Imago mundi cartographica: Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens von Text und Bild (Münstersche Mittelalter-Schrr. 53), München 1984, S. 267-274.
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Erzbischof von Köln (969-976), daran, einen Holzkruzifixus,75 der einen Riß im Kopf auswies, folgendermaßen zu heilen (curare): „Er fügte einen Teil des Leibes des Herrn […] und einen Teil des heilbringenden Kreuzes zusammen und legte ihn in den Spalt.“76 Nach demutsvoller Anrufung des Herrn war die Beschädigung verschwunden. Kreuzreliquie und Eucharistie verkörpern gleichermaßen die praesentia Christi und sind auf wundersame Weise dazu imstande, eine Holzskulptur zu „heilen“, das heißt wie bei einem lebendigen Wesen einen regenerativen Prozeß in Gang zu setzen, der zur Schließung der Wunde – des Risses im Holz – führt. Daß diese Holzskulptur nicht irgend etwas darstellte, sondern den Leib des Gekreuzigten selbst, verleiht der Erzählung eine besondere Note. Von den virtutes der Kreuzreliquie und Eucharistie durchdrungen, wird der tote Holzleib offensichtlich so verlebendigt, daß sich der Spalt im Kopf schließt. Mit Aufnahme dieser Kräfte wird die figura Christi, der Kruzifixus, nicht zur (Berührungs)reliquie, sondern auch von der Kraft Christi durchdrungen. Der mittelalterliche Betrachter nahm zwar nach wie vor einen Monumentalkruzifixus wahr, empfand diesen aber als heilig, weil er durch Reliquieninklusion zum Speicher heilbringender Kräfte geworden war. Die Bedeutung des Kreuzes als Reliquie ist in besonderer Weise an das beim Opfertod vergossene Blut Christi auf Golgatha gebunden. Ebenso wie das Kreuz war auch Jerusalem als Ort dieses Geschehens durch und durch vom Heil imprägniert. Durch die Kreuzzüge und die Eroberung Palästinas werden die Orte des Leidens Christi, die Stätten des zentralen christlichen Mysteriums von Tod und Auferstehung, mit Händen greifbar. In der Kreuzreliquie kulminiert nicht nur das Mysterium, durch sie werden darüber hinaus Leid und Opfertod veranschaulicht und aktualisiert. Christus ist in der Reliquie präsent, sie vermittelt sowohl sein Leiden als auch seine ständige Gegenwart. In der Reliquie schließen sich Passion und praesentia Christi zu einem weiteren Deutungsmuster 75 Ob es sich bei dem von Gero reparierten Kruzifix um das sog. Gero-Kreuz im Kölner Dom handelte, ist umstritten. Vgl. zum Gero-Kreuz und seiner Positionierung im Kölner Dom sowie der Beziehung der Eucharistie zum Kruzifix: Annika Elisabeth FISHER, Cross Altar and Crucifix in Ottonian Cologne, in: Decorating the Lord’s Table. On Dynamics between Image and Altar in the Middle Ages, hg. v. Søren KASPERSEN und Erik THUNØ, Kopenhagen 2006, S. 43-62. 76 Thietmar von Merseburg, Chronicon III,2, ed. Robert HOLTZMANN, MGH SSrG n.s. 9, Berlin 1935, S. 99f.: Huius caput dum fissum videret, hoc summi artificis et ideo salubriori remedio nil de se presumens sic curavit. Dominici corporis porcionem, unicum in cunctis necessitatibus solacium, et partem unam salutifere crucis coniungens posuit in rimam et prostratus nomen Domini flebiliter invocavit et surgens humili benediccione integritatem promeruit. („Als er jedoch einen Riß in seinem Haupt bemerkte, heilte er ihn ohne eigenen Eingriff durch des höchsten Künstlers so viel heilbringendere Hilfe. Einen Teil vom Leib des Herrn, unseres einzigen Trostes in allen Nöten, vereinigte er mit einem Teil des heilbringenden Kreuzes, legte ihn in den Spalt, warf sich nieder und rief den Namen des Herrn flehentlich an; als er sich wieder erhob, hatte er durch sein demütiges Lobpreisen die Heilung erwirkt.“)
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zusammen, das die Goldschmiedekunst des Westens nachhaltig beeinflussen sollte.
3. Präsentation und Wahrnehmungsmuster der Kreuzreliquie im Westen Die Ereignisse in Jerusalem um 1100 sowie die genannten Deutungsmuster bilden den Hintergrund für die Entwicklung und Wahrnehmung der westlichen Kreuzgestaltung ab Beginn des 12. Jahrhunderts. Der sich im Ersten Kreuzzug aussprechende Wille, im Zeichen des Kreuzes das Heilige Land und seine Heiltümer, speziell das Kreuz, materiell zu besitzen und wahrzunehmen, findet im Westen seinen Niederschlag in neuem Umgang und neuer Wahrnehmung der Kreuzpartikel, die nicht mehr ausschließlich im Verborgenen ihr Dasein fristet, sondern bewußt den Blicken ausgesetzt wird. Mit der zumeist auf der Kreuzvierung angebrachten Kreuzreliquie ist sowohl ein Stück Heiliges Land und Heilsgeschichte als auch Christus selbst gegenwärtig und unmittelbar wahrnehmbar. Der Kreuzmittelpunkt als Ort des Corpus Christi wird durch diese innovative Veränderung zum Ort des leidenden und zugleich verklärten in der Kreuzpartikel gegenwärtigen Christus. Mit dieser Veränderung ist zum einen die primär zukünftig-eschatologisch ausgerichtete Botschaft, wie sie vor allem beim Gemmenkreuz begegnet (s.u.), gebrochen und um den Aspekt der die Erlösung schon in sich tragenden Passion bereichert. Zum anderen stützt sich der Glaube zunehmend auf materielle Erfahrung. Sei es durch die Okkupation des Heiligen Landes und seiner Heiligtümer oder durch die zur Schau gestellte Kreuzpartikel: der Wunsch nach konkret greifbaren Glaubenswahrheiten, gepaart mit sinnlicher Wahrnehmungsmöglichkeit, setzt um 1100 ein, um sich im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte noch zu verstärken. Die Präsentation der Kreuzreliquie steht am Anfang eines Prozesses, der später in die drastische Ausstellung des geschundenen Leibes Christi am Kreuz mündet. Diese These wird bestätigt durch ein weiteres Phänomen, das etwas früher, um 1080-1100 einsetzt, nämlich den Brauch, ein Kreuz nicht mehr nur in der Nähe des Altares, sondern auf den Altar selbst zu plazieren. Dies geschah, so bemerkt Honorius Augustodunensis im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts in seiner Schrift ‚Gemma animae‘, aus dreifachem Grund: „Erstens weil es (das Kreuz) als Zeichen unseres Königs im Hause Gottes wie in einer Königsstadt gebildet ist, damit es von den Soldaten angebetet wird. Zweitens damit die Passion Christi für die Kirche immer vergegenwärtigt wird. Drittens damit das christliche Volk Christus nachahme, indem es mit den Lastern und Begierden sein Fleisch kreuzigt.“77 77 Honorius Augustodunensis, Gemma Animae sive De divinis officiis et antiquo ritu missarum, deque horis canonicis et totius anni solemnitatibus c. CXXXV – De cruce, Migne PL 172, Paris 1895, Sp. 587 A: Crux ob tres causas super altare erigitur: primo quod signum Regis
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Die Vergegenwärtigung der Passion Christi ging einher mit der Veranschaulichung des am Kreuz hängenden Leibes, die es zwar schon früher gegeben hatte; nun aber tritt sie durch die vielfach aus Bronze gefertigten Altarkreuze vermehrt in Erscheinung.78 Die Allianz von Altar und Kreuz ist „Ausdruck und Hinweis der auf dem Altar sich vollziehenden unblutigen Erneuerung des Kreuzesopfers“.79 So ostentativ die Präsentation der Kreuzreliquie nach dem Ersten Kreuzzug im Westen war, so klein war die Partikel, die nach der Eroberung Jerusalems aufgefunden wurde. Albert von Aachen, der die Geschichte des Ersten Kreuzzuges und der Kreuzfahrerstaaten bis zum Jahre 1119 schildert, berichtet auch von der Entdeckung der Kreuzpartikel. Seiner Darstellung nach handelte es sich um einen kleinen Splitter, dem allerdings höchste Bedeutung zugemessen wurde: „Da gestand eines Tages ein treugläubiger Christ, ein Einwohner der Stadt, im Gesetze Christi gründlich unterrichtet, er habe ein halbellenlanges, goldumhülltes, aber ganz kunstlos und schlicht gefertigtes Kreuz, worin in der Mitte ein Splitter vom heiligen Kreuzesholz des Herrn eingesetzt sei, an einem schmutzigen und staubigen Ort eines verlassenen Hauses vergraben – aus Angst vor den Sarazenen, daß sie nicht im Durcheinander der Belagerung das Kreuz finden und seines Goldes berauben und das Holz des Herrn würdelos behandeln möchten.“80
Aus Alberts Bericht geht hervor, daß es sich bei dem Jerusalemer Fund lediglich um einen Splitter handelte, der zwar großzügig gefaßt war, ansonsten aber nicht durch Größe überzeugen konnte. Etwas unpräziser – und damit die wahre Größe verschleiernd – drückt sich Ansellus, Cantor vom Heiligen Grab, aus. Seiner Auskunft nach maß die Kreuzpartikel eineinhalb Spannen (palmum et dimidium).81
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nostri in domo Dei quasi in regia urbe figitur, ut a militibus adoretur. Secundo ut passio Christi semper Ecclesiae repraesentetur. Tertio ut populus Christianus carnem suam crucifigendo vitiis et concupiscentiis Christum imitetur. Vexilla ideo eriguntur, ut tropaeum Christi Ecclesia jugiter memoretur. Joseph BRAUN, Das christliche Altargerät in seinem Sein und in seiner Entwicklung, München 1932, S. 474-478. Zu Bronzekreuzen als Altargerät vgl. Regine MARTH, Untersuchungen zu romanischen Bronzekreuzen, Frankfurt/M. 1988, und Peter BLOCH, Romanische Bronzekruzifixe (Bronzegeräte des Mittelalters 5), Berlin 1992. BRAUN (wie Anm. 78), S. 473. Albert von Aachen, Historia Hierosolymitana VI, 38, hg. v. M. P. Meyer, RHC historiens occidentaux 4, Paris 1879, S. 488: […] quidam fidelissimus Christianus, urbis indigena, lege Christi pleniter instructus, crucem quandam semiulnae, auro vestitam, cui Dominici ligni particula in medio erat inserta, sed fabrili opere expers et nuda, indicavit se abscondisse in loco humili et pulverulento desertae domus, propter metum Sarracenorum, ne in hoc turbine obsidionis inventa eadem crux auro spoliaretur, et lignum Dominicum ab his indigne tractaretur. Ansellus Cantoris S. Sepulchri Epistola ad Ecclesiam Parisiensem, Migne PL 162, Paris 1889, Sp. 732 A: […] nos Latini ad Sanctum Sepulcrum habemus unam, quae habet palmum et dimidium longitudinis, et pollicem unum latitudinis, et grossitudinis in quadro.
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Die Jerusalemer Kreuzpartikel war, bei Lichte betrachtet, nicht sonderlich eindrucksvoll. Zwar wurden, möchte man Ansellus Glauben schenken, noch weitere Kreuzpartikel im Heiligen Land aufbewahrt, 82 doch war jene Reliquie, die in der Grabeskirche aufbewahrt wurde, offenbar die kostbarste, denn sie wurde als Palladium in die Schlacht geführt. Mindestens zweiundzwanzig Mal ist ihr Einsatz als Schlachtenhelfer in den zeitgenössischen Quellen belegt.83 Die Reliquie war ein äußerst kostbares Gut, das auch nicht geteilt werden durfte. Im Frühjahr des Jahres 1101 gab es eine heftige Auseinandersetzung zwischen Balduin, König von Jerusalem, und dem Patriarchen Daimbert, der Verwalter des Heiltums war. Neben anderer Vergehen, deren Daimbert angeklagt war, wurde ihm „gottesschänderischer Diebstahl am heiligen Kreuzesholz, von dem er Stücke abgeschnitten und verteilt hatte“, vorgeworfen.84 Aufgrund der beschriebenen Situation ist es umso verwunderlicher, daß dennoch so viele Kreuzreliquien in eigens dafür geschaffenen Reliquiaren ihren Weg in den Westen antraten. Die Skepsis gegenüber Reliquien aus Jerusalem machte sich schon im Mittelalter breit, und so mehren sich die Berichte darüber, „daß Pilger, die das Heilige Land besuchten, sich nicht dort, sondern auf der Hin- und Rückreise in Byzanz vom dortigen Kaiser mit Partikeln des ‚wahren‘ Kreuzes versorgen ließen“.85 Die Wahrnehmung der in den Westen exportierten heiligen Partikel des Kreuzesholzes mußte durch traditionelle Deutungsmuster gut abgesichert sein. Da vor allem die Identität als auch, daran gebunden, die Authentizität der Kreuzpartikel in Frage stand, wurden Maßnahmen ergriffen, um die Wahrnehmung und die sich daran anschließende Deutung zu steuern, nämlich durch – –
die Verwendung einer idealisierten und als authentisch empfundenen Kreuzesform – des byzantinischen Doppelkreuzes, die Einbettung der Reliquie in die historisch-narrative Bilderzählung der Kreuzauffindungslegende, die ihrerseits einen ideellen Rahmen liefert,
82 Ebd., Sp. 732 A-B: Itaque in Constantinopolitana urbe, praeter imperatoris crucem, sunt inde tres cruces, in Cypro duae, in Creta una, in Antiochia tres, in Edessa una, in Alexandria una, in Ascalone una, in Damasco una, in Hierusalem quatuor, Suriani habent unam, Graeci de Sancto Saba unam, monachi de valle Josaphat unam, nos Latini ad Sanctum Sepulcrum habemus unam, quae habet palmum et dimidium longitudinis, et pollicem unum latitudinis, et grossitudinis in quadro. Patriarcha quoque Georgianorum habet unam, rex etiam Georgianorum habuit unam, quam modo, Deo gratias, vos habetis. 83 FROLOW (wie Anm. 24), Nr. 259, S. 287-290, mit den einzelnen Quellenangaben. Vgl. auch oben, Anm. 34. 84 Albert von Aachen VII,48 (wie Anm. 80), S. 539: […] praecipue de sacrilegio ligni sanctae crucis, quam partim minuit ac dispersit. 85 SCHWINEKÖPER (wie Anm. 4), S. 196, Anm. 54, mit den entsprechenden Quellennachweisen.
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die Ausstellung der Reliquie in einem besonders wertvollen Kontext, wie ihn das Gemmenkreuz bot, sowie die Plazierung der Reliquie auf der Kreuzvierung, dem Ort des Corpus Christi.
3.1. Die Doppelkreuzform und Sichtbarkeit der Reliquie Um die Herkunft der in Jerusalem für den Export gefertigten Reliquiare und der in ihnen bewahrten Partikel zu legitimieren und authentifizieren, wurden verschiedene Strategien entwickelt. Am augenfälligsten war die Wahl der Form dieser Reliquiare, waren sie doch mehrheitlich in Form eines byzantinischen Doppelkreuzes gestaltet, was für ihre östliche Herkunft bürgen sollte: „Da die Form des Doppelkreuzes im byzantinischen Kulturraum seit Ende des Bilderstreits fest als Symbol der Reliquie des ‚wahren‘ Kreuzes etabliert war und die im byzantinischen Reich liturgisch verwendeten Kreuzpartikel in der Regel in dieser Form angeordnet waren, erscheint es nur folgerichtig, daß sich auch die Kreuzfahrer dieses Kreuztypus’ bedienten, um die Authentizität der in ihrem Besitz befindlichen Reliquien zu betonen.“86
Ergänzend zu der Doppelkreuzform spielte die ostentative Ausstellung der Reliquie eine wichtige Rolle. Ein frühes Beispiel einer für den Kreuzreliquiarexport in Jerusalem geschaffenen Kreuzlade mit sichtbarer und betastbarer Kreuzpartikel ist uns mit der sogenannten Denkendorfer Staurothek (Abb. 4) überliefert. Sie gehört zu einer Gruppe von Reliquiaren, von denen heute ungefähr elf erhalten sind.87 In einfachster Technik ausgeführt, sind alle diese Reliquiare von eher bescheidener Qualität.88 Schon allein die Tatsache, daß eine solche Kostbarkeit wie die Kreuzreliquie in einen relativ anspruchlosen Rahmen gefügt wurde, ist bemerkenswert und fordert eine Erklärung. Bei dem vor 1128 geschaffenen Denkendorfer Kreuz handelt es sich um ein Doppelkreuz, dessen Holzträger mit vergoldetem Silberblech ummantelt ist. In den Holzkern sind, die Doppelkreuzform nachvollziehend, schmale Schlitze zur Aufnahme der Kreuzpartikel eingelassen. Ebenfalls zur Aufnahme von Reliquien dienen sechs kleine Mulden an den Kreuzenden. Der mit schlitzartigen bzw. runden Öffnungen versehene Edelmetallmantel gibt die Reliquiengelasse und ihren wertvollen Inhalt dem Blick frei. Umgeben sind die Reliquienöffnun-
86 KLEIN (wie Anm. 9), S. 197. 87 Heribert MEURER, Staurothek von Denkendorf, in: Die Kreuzzüge. Kein Krieg ist heilig, hg. v. Hans-Jürgen KOTZUR, Mainz 2004, Nr. 72, S. 409, kann elf miteinander verwandte Kreuzreliquiare des gleichen Typus aus Jerusalem nachweisen. 88 Heribert MEURER, Zu den Staurotheken der Kreuzfahrer, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 48, 1985, S. 65-76, hier S. 73-75.
Abbildungen zum Beitrag Toussaint
1: Kupferstich des Scheyerer Kreuzes.
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2: Enkolpion, Schatz von St. Peter, Rom.
Abbildungen zum Beitrag Toussaint
Abbildungen zum Beitrag Toussaint
3: Tafelreliquiar aus Zwiefalten, Katholisches Münsterpfarramt.
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4: Denkendorfer Kreuz, Württembergisches Landesmuseum, Stuttgart.
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5: Doppelkreuz, Musée du Berry, Bourges.
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6: Stavelot-Triptychon, Pierpont-Morgan-Library, New York.
Abbildungen zum Beitrag Toussaint
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7: Stavelot-Triptychon, Detail: Das Mittelfeld.
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Abbildungen zum Beitrag Toussaint
8: Staurothek, Museo della Cattedrale, Monopoli/Italien.
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9: Borghorster Kreuz, Westfälisches Landesmuseum, Münster.
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10: Engerer Kreuz, Kunstgewerbemuseum, Berlin.
Abbildungen zum Beitrag Toussaint
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11: Heinrichskreuz, Dom St. Petri (Domschatz), Fritzlar.
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12: Großes Bernwardkreuz, Dommuseum, Hildesheim.
Abbildungen zum Beitrag Toussaint
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gen mit je paarweise angeordneten gemuggelten Edelsteinen: Türkise, Amethyste und Almandine.89 Die splittrigen Kreuzpartikel sind, wie die Marmorpartikel in den Mulden, die vom Grab Christi stammen sollen, durch den Schlitz nicht nur sichtbar, sondern auch vollkommen ungeschützt.90 Es wäre ein leichtes, sich mit einem spitzen Gegenstand Bruchstücke der Späne anzueignen. Eine ungesicherte Aufbewahrung eines derartigen Wertobjektes scheint vor dem Hintergrund der sonst so aufwendigen Sicherheitsmaßnahmen wenig plausibel.91 Beinahe blind vertraute man der Provenienz und formalen Gestaltung. Handelte es sich bei den eingefügten Partikeln überhaupt um Stückchen vom Wahren Kreuz? Die offensive Präsentation der Kreuzreliquie bei der Denkendorfer Staurothek und ihren Verwandten läßt aus heutiger Sicht nur einen Schluß zu: Es handelt sich bei den sichtbaren Splittern gar nicht um Partikel des Wahren Kreuzes, sondern allenfalls um Sekundärreliquien, also Holzstückchen, die mit dem Original in Berührung gebracht worden sind. Daß von diesen Partikeln wahrscheinlich mannigfach Fälschungen im Umlauf waren, läßt sich kaum ausschließen, ja ist sogar naheliegend. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte festigt sich der Eindruck, daß eine Partikel vom Wahren Kreuz kein exklusives Gut war. Am Beginn des 15. Jahrhunderts schließlich bemerkt Bernhardin von Siena (1380-1444) kritisch: „So zeigt man auch viele Stücke vom Holz des Kreuzes Christi; sechs Paar Ochsen vermöchten die Last nicht zu ziehen, wenn man alle zusammenfügte. Das ist das Machwerk von Betrügern. In Ägypten gibt es nämlich Feigenbäume, deren Holz nicht verbrennt, wenn man sie ins Feuer wirft; aus solchem werden viele Kreuzpartikel verfertigt.“92
Ob man bereits im 12. Jahrhundert Reliquien auf diese Weise fälschte, mag dahingestellt bleiben, doch nutzte man die Autorität von Herkunftsort und Gestaltung nicht zuletzt für kommerzielle Zwecke, die nicht nur die Kassen des Lateinischen Königreiches füllten. So konnte man sich beim Anblick des mit der Denkendorfer Staurothek eng verwandten Scheyrer Kreuzes von seinem Ge-
89 Eine Beschreibung der hier nicht zur Diskussion stehenden Rückseite liefert Werner FLEISCHHAUER, Das romanische Kreuzreliquiar von Denkendorf, in: Festschrift für Georg Scheja zum 70. Geburtstag, hg. v. Albrecht LEUTERITZ u. a., Sigmaringen 1975, S. 6468, hier S. 65. 90 FLEISCHHAUER, ebd., S. 66, geht davon aus, daß „mit Sicherheit angenommen werden kann“, daß es sich bei den Reliquien im Denkendorfer Kreuz um die ursprünglichen, aus Jerusalem stammenden Partikel handelt. 91 Ob die Denkendorfer Staurothek wie das Scheyrer Kreuz von einer eigens dafür gefertigten Hülle geschützt wurde, ist unbekannt. Die Hülle des Scheyrer Kreuzes ist m.W. die einzige dieser Art. 92 Karl HEFELE, Der hl. Bernhardin von Siena und die franziskanische Wanderpredigt in Italien während des XV. Jahrhunderts, Freiburg/Br. 1912, S. 258.
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lübde, eine Reise ins Heilige Land anzutreten, loskaufen.93 Auf diese Weise diente das schon erwähnte, heute nur noch fragmentarisch erhaltene Scheyrer Kreuz, dem Einsammeln von Spenden (s. oben, S. 49; Abb. 1).94 Ob der „Hauptzweck der nach Westen geschickten Staurotheken das Geldeintreiben für den stets bedürftigen Kreuzfahrerstaat war“, wie Heribert Meurer vermutet, ist ungewiß.95 Tatsache ist jedoch, daß diese Kreuze außerordentlich begehrt waren, wie die weitere Geschichte des Scheyrer Kreuzes lehrt: Das Kreuz wurde nämlich, kaum war es in Europa, Opfer eines hochrangigen Diebstahls.96 Kein geringer als Herzog Konrad II. von Dachau-Meranien selbst hatte veranlaßt, den aus Jerusalem kommenden Gesandten zu überfallen und ihm sowohl das Kreuz als auch die beigefügte Urkunde zu entwenden. Offenbar hielt der Herzog das Reliquiar im Kloster Scheyern versteckt, doch drang die Nachricht des auf Abwege geratenen Kreuzes nach Jerusalem, wo erst eine Generation später der Sohn des räuberischen Herzogs, Konrad III., anläßlich einer Pilgerfahrt vom Jerusalemer Patriarchen darauf verpflichtet wurde, den Raub des Kreuzes durch den Bau einer Kirche zu sühnen.97 93 Eine im Münchener Hauptstaatsarchiv aufbewahrte Urkunde gibt genauere Auskunft über die Geschichte des Kreuzes: München, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Kloster Scheyern, Urk. 9. Das Faksimile der Urkunde in: Monumenta Boica 10, 1768, nach S. 376. Vgl. weiter Regesta Regni Hierosolymitani (MXCVII-MCCXCI), Bd. 1, ed. Reinhold RÖHRICHT, Innsbruck 1893, Nr. 317, S. 81: F[ulcherius], patriarcha Hierosolymitanus, et A[malricus], prior S. Sulpulchri, omnibus chartam inspecturis sigillis confirmant, se de variis reliquiis locis sanctis desumptis crucem construxisse necnon particula verae crucis adornavisse, ut super priorem per Conradum canonicum translatam omnes christiani Theutonici preces effundere possint, qui paupertate, infirmitate vel aliis incommodis impediantur, quominus Terram et civitatem Sanctam ipsam adeant. („F[ulcherius], Patriarch von Jerusalem, und A[malricus], Prior des Heiligen Grabes, bestätigen durch Brief und Siegel, daß sie aus verschiedenen Reliquien, die von heiligen Stätten genommen sind, ein Kreuz hergestellt sowie es mit einer Partikel des wahren Kreuzes geschmückt haben. Vor diesem, von dem Kanonikus Konrad überbrachten Kreuz sollen alle jene deutschen Christen ihre Gebete verrichten können, die durch Armut, Krankheit oder andere Gründe daran gehindert sind, in das Heilige Land und die Heilige Stadt zu ziehen.“) Zuletzt zu der Urkunde: Irmgard SIEDE, Urkunde über Stiftung und Herstellung eines Kreuzes, in: Saladin und die Kreuzfahrer, hg. v. Alfried WIECZOREK u. a., Mainz 2005, Nr. C.55, S. 409f., mit weiterer Literatur. 94 Obwohl wir den Zweck des Scheyrer Kreuzes kennen, ist uns sein genaues Aussehen nicht überliefert. Dennoch ist die Überlieferungslage nicht schlecht, haben sich doch die Hülle des Kreuzreliquiars sowie sein hölzerner Kern erhalten, in dem die Reliquie geborgen war (Abb. 1). Für die Scheyrer Kreuzreliquie sind im Laufe der Zeit mehrere Behälter hergestellt worden, deren Gestalt aus Stichen bekannt ist. Zu den Kupferstichen vgl. MEURER (wie Anm. 57), S. 11. Zu dem Kreuz zusammenfassend zuletzt: TOUSSAINT (wie Anm. 59). 95 Heribert MEURER, Behältnis des Scheyrer Kreuzes, in: Die Kreuzzüge (wie Anm. 87), Nr. 70, S. 407. 96 Die Urkunde über den Verbleib der Kreuzpartikel wird im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Kloster Scheyern, Urk. 10, aufbewahrt. 97 LUPPRIAN (wie Anm. 58), S. 36.
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Der Besitz einer Kreuzpartikel sollte sich auch im Westen als wirtschaftlich nicht zu vernachlässigendes Faktum entpuppen. Im Fall der Denkendorfer Staurothek ist die zwischen 1128 und 1130 erfolgte Gründung des St. PelagiusStiftes der Chorherren vom Heiligen Grab direkt mit der Staurothek und die in sie eingefügten Reliquien verbunden. Eine um 1600 entstandene und auf früheren Quellen fußende Chronik der Herren von Erligheim berichtet, daß einer ihrer Vorfahren, ein gewisser Berthold, der Stifter des Klosters war. Er habe vom Jerusalemer Patriarchen Warmund (1118-1128) Reliquien „von dem Heyl. Grab und auch holtz des Heyligen Creutz“ geschenkt bekommen.98 Das Kloster Denkendorf wurde durch seine Kreuzreliquie „zum Ziel einer durch lange Jahrhunderte hindurch viel besuchten Wallfahrt. Nach einem Privileg war die Wallfahrt nach Denkendorf einer nach dem hl. Grab in Jerusalem gleich hoch zu werten“.99 Auf diese Weise gelang eine perfekte Translozierung Jerusalems nach Mitteleuropa. Nicht nur in Jerusalem gefertigte Staurotheken bedienten sich der Doppelkreuzform. Ihr beglaubigender Charakter wurde von der westlichen Schatzkunst adaptiert, wie einige um 1180 entstandene französische Kreuze zeigen. Ein wohl in Limoges entstandenes, heute in Bourges, Musée du Berry, aufbewahrtes Doppelkreuz (Abb. 5) weist, wie auch weitere Beispiele aus Aubazine und New York (Metropolitan Museum), eine nahe Verwandtschaft mit den Jerusalemer Exportkreuzen auf.100 Bei näherer Betrachtung ergeben sich allerdings einige Differenzen. Zwar ist das Kreuz aus Bourges mit einer Höhe von 23 cm exakt ebenso groß und genauso proportioniert wie die Denkendorfer Staurothek (Abb. 4), doch ist die heute verlorene Kreuzreliquie nicht in einen doppelkreuzförmigen Schlitz im Träger, sondern separat in ein kleines, rechteckiges Kästchen mit doppelkreuzförmiger Öffnung eingelassen, das die obere Kreuzvierung schmückt. Auch die weiteren, durch Inschriften an den Schmalseiten beschriebenen Reliquien der loca sancta sind nicht wie in Denkendorf in Mulden an den Kreuzenden gebettet, sondern direkt unter den Edelsteinschmuck des Kreuzes appliziert. Wie das Beispiel veranschaulicht, rezipierte man zwar die östlichen Formen, doch plazierte man die Reliquien in einer Art und Weise, wie sie auf Gemmenkreuzen üblich war (s.u.). Gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstanden so Mischformen, die dem westlichen Formenrepertoire neue Impulse verliehen und es zugleich erweiterten. Anders als bei den beschriebenen Staurotheken in Doppelkreuzform ist die Kreuzpartikel der Zwiefaltener Tafel (s. oben, S. 51f., Abb. 3) nicht direkt sichtbar, obgleich dies suggeriert wird. Bei der in der Mitte der Tafel ausgestellten 98 Zit. nach MEURER (wie Anm. 57), S. 11, wo auch die weiteren Umstände der Denkendorfer Gründung zusammengefaßt werden. 99 FLEISCHHAUER (wie Anm. 89), S. 66. 100 Zu den Kreuzen zuletzt Barbara DRAKE-BOEHM, Une croix-reliquaire limousine au musée du Berry, in: La Revue des Musées de France. Revue du Louvre 56, 2006, S. 28-37; Summaries S. 110f.
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kleinen Jerusalemer Staurothek mit ihrem goldgefaßten, hölzernen Doppelkreuz handelt es sich nicht um die Reliquie selbst. Der tatsächliche Kreuzspan liegt, so beschreibt es Ortlieb in der Zwiefaltener Chronik (s.o., S. 52), neben anderen Reliquien innerhalb des Holzkreuzes verborgen. Obwohl das eigentliche Heiltum in diesem Fall unsichtbar bleibt, darf das sichtbare Doppelkreuz durch die Übertragung der virtus zwar als heilbringend gelten, doch ist es nicht die Reliquie, die man zu sehen meint, sondern lediglich ihr hölzerner Träger in Doppelkreuzform. Es handelt sich also um eine Täuschung, die gleichwohl der Wirkung und Verehrung keinen Abbruch tut. Außerordentlich wirksam war die Kreuzpartikel selbst in bescheidenen Fassungen, die zumindest im Bereich monastischer Verehrung bewußt gewählt werden konnten, wie uns die vom Abt Petrus Venerabilis (1122-1156) verfaßten Statuten des Klosters von Cluny verraten. Durch die Integration einer Kreuzpartikel übertraf ein schlichtes Holzkreuz den materiellen Wert der oft aus Edelmetall gefertigten Kreuze. Im 62. Statut der ‚Statuta Cluniacensia‘ fordert der Abt, daß den Brüdern bei der Krankensalbung kein goldenes oder silbernes Kreuz zur Verehrung gereicht werden solle, „sondern ein hölzernes. Dieses soll mit einem gemalten Bild des gekreuzigten Herrn versehen, und unterhalb der Füße des gemalten Gekreuzigten soll eine in Gold gefaßte Partikel des Kreuzes Christi angebracht sein“.101 Ausführlich äußert er sich darüber, warum ein hölzernes Kreuz jene aus Gold oder Silber gefertigten übertrifft: „Der Wert des Metalls, der den Sinn schlichter Gemüter zur Verehrung des heiligen Kreuzes anregt, ist eine Sache; eine andere ist der Nutzen des Holzes, der den Sinn der geistlicheren Menschen zur noch stärkeren Verehrung des Kreuzes und des Gekreuzigten anregt. Damit der fromme Sinn zur Liebe zum Leiden des Erlösers mehr entflammt wird, ist, wie bereits erwähnt, eine Partikel von jenem ersten Kreuzesholz unterhalb der Füße des gemalten Gekreuzigten angebracht; nebst den [zu verehrenden] Füßen bietet sich diese den Lippen und Augen, dem Herzen und dem Mund des Kranken an, der das Kreuz verehrt und küßt.102
Abgesehen davon, daß, wie Petrus vorher bemerkt, das Kreuz Christi ebenfalls aus Holz gefertigt war, regt der Wert des Metalls allenfalls einfache Menschen an, die geistlicheren jedoch gelangen durch ein Holzkreuz und die Kreuzpartikel selbst zu einer intensiveren Verehrung des Kreuzes und des Gekreuzigten. Die goldene Fassung bleibt dem wertvollsten Teil des Kreuzes vorbehalten, der 101 Petrus Cluniacensis, Statuta Cluniacensia LXII, Migne PL 189, Paris 1890, Sp. 1042 C: Statutum est ut quando fratres infirmi oleo sacro ex more ecclesiastico inunguntur, non aurea vel argentea crux eis ad adorandum offeratur, sed lignea, quae imaginem Domini crucifixi pictam habet, et de ipso Dominicae crucis ligno particulam cum auro aptatam, et sub pedibus picti crucifixi eidem cruci insertam. 102 Ebd., Sp. 1042 D-1043 A: Sed aliud est metalli pretiositas, quae mentes simplicium excitat ad majorem sacrae crucis venerationem; aliud ligni utilitas, quae spiritualium animos commovet ad vehementiorem erga crucem et crucifixum devotionem. Unde ut magis mens devota in amorem Salvatoris passionis accenderetur, particula de ipsius primae crucis ligno, ut jam dixi, pedibus picti crucifixi supposita est, quae statim post pedum osculum, oculis, animo et ori crucem adorantis et osculantis infirmi se offert.
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Kreuzreliquie. Der in Gold gefaßte Kreuzspan verweist auf das Leiden des Erlösers, das durch das auf dem Holzträger gemalte Bild des Gekreuzigten lebendig vor Augen gestellt wird. Offenbar vertrauen die Statuten von Cluny fraglos auf die Echtheit der in das Kreuz eingelassenen Reliquie. Viel größeren inszenatorischen Aufwand betrieb man ungefähr zur gleichen Zeit oder etwas später im Kloster Stavelot (Stablo), wo ein elaboriertes Bildprogramm der Legitimation von Kreuzreliquien diente.
3.2. Die Einbettung in Bildprogramme Kreuzreliquien begegnen immer wieder als Applikation auf westlichen Reliquiaren. Um ihre Authentizität zu beglaubigen, wurde nicht nur die Kreuzpartikel ausgestellt, sondern ihr ein Bildprogramm beigegeben, das die Wahrnehmung steuern und für authentische Provenienz garantieren sollte. Ausschlaggebend für die weite Verbreitung von Bildzyklen in der Goldschmiedekunst war das Aufkommen der westlichen Emailkunst vor allem im Maasgebiet ab Mitte des 12. Jahrhunderts. Als erstes festdatiertes Werk maasländischer Kunst gilt das Kopfreliquiar des heiligen Alexander, das im Jahr 1145 in der Abtei von Stavelot entstand, von dessen Werkstatt ein starker Impuls zur Verbreitung der Emailtechnik ausging.103 Wie der Alexanderkopf stammt auch ein wahrscheinlich kurz nach 1155 entstandenes Reliquientriptychon aus dem Benediktinerkloster St. Remaklus in Stavelot. Es gilt als erstes Beispiel eines Reliquiars, das der hinter Klappmechanismen verborgenen Kreuzreliquie ein umfassendes Bildprogramm, in diesem Fall der Kreuzauffindungslegende, beifügt (Abb. 6; Pierpont Morgan Library, New York).104 Mit seinen 66 x 48,4 cm bei geöffnetem Zustand handelt es sich bei dem Stavelot-Triptychon um ein relativ großes Reliquiar, bestehend aus einer Mitteltafel und zwei Flügeln.105 Während auf den Innenseiten der Flügel in je drei ca. 11 cm großen emaillierten Medaillons Szenen aus der Kreuzauffindungslegende ausgebreitet werden, dient die Mitteltafel der Präsentation zweier kleiner, scheinbar byzantinischer Reliquiare, ebenfalls in Triptychonform (Abb. 7). Dieser Mitteltafel soll zunächst die Aufmerksamkeit gelten, stellt sich doch 103 Dieter KÖTZSCHE, Zum Stand der Forschung der Goldschmiedekunst des 12. Jahrhunderts im Rhein-Maas-Gebiet, in: Rhein und Maas. Kunst und Kultur 800-1400, hg. v. Anton LEGNER, Bd. 2: Berichte, Beiträge und Forschungen zum Themenkreis der Ausstellung und des Katalogs, Köln 1973, S. 191-236, hier S. 199. 104 William VOELKLE, The Stavelot Triptych, New York 1980, S. 11. Zu dem Reliquiar vgl. Kelly McKay HOLBERT, Mosan Reliquary Triptychs and the Cult of the True Cross in the Twelfth Century, PhD Dissertation, Yale University 1995, bes. S. 7-33 sowie zuletzt KLEIN (wie Anm. 9), S. 206-215. 105 Für die genauen Abmessungen vgl. VOELKLE (wie Anm. 104), S. 25. Das Holz der Außenseiten wurde sichtbar gelassen, vgl. Marie-Madeleine GAUTHIER, Straßen des Glaubens. Reliquien und Reliquiare des Abendlandes, Aschaffenburg 1983, S. 50.
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bei näherer Betrachtung heraus, daß die vermeintlich byzantinischen Reliquiare nichts anderes als ein Versuch sind, Reliquien möglichst byzantinisierend darzubieten. Die beiden kleinen, übereinander angeordneten Triptychen scheinen auf den ersten Blick aus Konstantinopel zu stammen. Dafür sprechen die äußerst fein gearbeiteten Emailplättchen mit griechischen Inschriften, die das Bildprogramm der kleinen Staurotheken bestimmen. Im oberen Triptychon sind lediglich drei Plättchen verarbeitet, zwei auf der nur bei geschlossenem Zustand sichtbaren Außenseite, die Verkündigung an Maria darstellend, und eines als Mitteltafel mit der Kreuzigung Christi. Die Flügelinnenseiten sind schlicht mit recht grob gearbeiteten Filigranstreifen westlichen Ursprungs ausgelegt. Das untere, deutlich größere Triptychon erfreut sich umfangreicheren Bildschmucks. Die geschlossenen Flügel zeigen Medaillons mit Brustbildern der vier Evangelisten. Zwischen die kleinen Medaillons, die jeweils oben und unten auf den Flügeln angebracht sind, befinden sich in gleicher Größe Goldtäfelchen mit Rosetten, die, wie das Filigran des Mittelstreifens, nicht byzantinisch, sondern vielleicht sogar nachmittelalterlich sind.106 Öffnet man das Triptychon, so sind die Flügelinnenseiten mit Emails byzantinischer Kriegerheiliger und Erzmärtyrer dekoriert.107 Eingefaßt werden die hochrechteckigen Goldtäfelchen mit Bändern aus verschiedenfarbigen Glaspasten, die byzantinischen Ursprungs sein könnten.108 Die Mitteltafel mit üppigem Rahmenwerk präsentiert schließlich eine Partikel vom Wahren Kreuz. Umgeben wird das in lateinischer Kreuzform gegebene Reliquiensepulchrum mit seinen Holzsplittern von vier fein gearbeiteten byzantinischen Emails: Oberhalb des Kreuzbalkens sind Brustbilder der Erzengel Michael und Gabriel angebracht, unterhalb davon flankieren Kaiser Konstantin und seine Mutter Helena das Kreuz. Die Vielzahl kostbarer Emails und ihre griechischen Inschriften vermitteln zwar einen unmittelbar byzantinischen Eindruck, doch lassen schon Form und handwerkliche Gestaltung Fragen nach der Herkunft der Triptychen aufkommen. Weder Form, Rahmung und Aufhängung der Flügel noch die Aufbewahrung der Reliquien entsprechen byzantinischer Tradition. Nur die Emails stammen sicher aus Konstantinopel, schon bei den Reliquien ist dies fraglich, sie könnten ebenso woanders (Jerusalem?) herstammen. Könnte die augenfällige Bricolage nicht dem Zweck gedient haben, die Reliquien in ein möglichst authentisches Setting zu fügen? Bereits die Form der kleinen Triptychen läßt erkennen, daß es sich nicht um eine byzantinische Arbeit handelt. Eine kleine, typisch byzantinische Staurothek, die sich als Vergleichsobjekt für die Stabloer Triptychen heranziehen läßt, wird 106 Joyce BRODSKY, The Stavelot Triptych: Notes on an Mosan Work, in: Gesta 11, 1972, S. 19-33, hier S. 30, äußert sich eindeutig: „The rosettes in the middle of the wings of the larger reliquary are in fact not medieval at all.“ 107 Es handelt sich um Georg, Prokopius, Theodor und Demetrius. 108 Ähnliche Streifen finden sich auch auf anderen byzantinischen Staurotheken, vgl. KLEIN (wie Anm. 9), S. 211.
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heute in Monopoli/Italien (Museo della Cattedrale; Abb. 8) aufbewahrt.109 Diese Staurothek weist mehrere Eigenschaften auf, die beiden Stabloer Reliquiaren fehlen. Ihr auffälligstes Merkmal ist die mit einem Schiebedeckel verschließbare Lade, in der sich die Reliquie selbst befindet. Feine, lange Scharnierstangen halten die Flügel, die bei geschlossenem Zustand den Schieber nach außen schützen. Das Rahmenwerk der geschlossenen Lade ist oben und unten mit vier Emailstreifen besetzt, wobei am oberen Rahmen zwei Ösen aufgelötet sind, die ein Aufhängen der Staurothek ermöglichen.110 Das für byzantinische Staurotheken charakteristische Konzept einer Lade mit Schiebedeckel ist bei den Stabloer Triptychen zugunsten einer einfacheren Klapplösung aufgegeben. Eine kastenförmige Lade als Reliquiensepulchrum ist nicht vorgesehen, vielmehr sind die Reliquien unmittelbar in den Holzkern jener großen rückwärtigen Platte eingelassen, die als Träger der Triptychen fungiert. Bei dem kleinen Triptychon ist das Emailplättchen mit der Kreuzigung direkt über das Reliquiengelaß genagelt, bei dem größeren bestimmt eine schmale Metallrahmung in Kreuzform den Raum für die darin geborgene Kreuzreliquie. Umfaßt werden beide Sepulchren mit üppigem, aus dem tragenden Holzkern geschnitzten Rahmenwerk, das mit filigran verzierten Goldstreifen verkleidet wurde.111 An diesen Rahmen wiederum sind außen mit je zwei groben Ösen die Flügel befestigt. Die recht anspruchslose Art der Anbringung wirft die Frage auf, ob die Flügel zur ursprünglichen Konzeption gehören oder später hinzugefügt worden sind, entspricht diese Vorgehensweise doch nicht elaborierter byzantinischer Goldschmiedetechnik. Auch für die kunstfertigen Stabloer Werkstätten erscheint diese Lösung zu simpel. Ein weiteres technisches Detail, das die Triptychen als westlich erkennen läßt, sind die Nägel, mit denen die goldenen Emailplättchen auf dem Trägermaterial befestigt wurden; in Byzanz wären die Täfelchen eher festgeklebt als angenagelt.112 Wie der technische Befund zeigt, handelt es sich bei den Triptychen nicht um byzantinische Arbeiten. Auch das Bildprogramm mit seinen westlichen Ergänzungen – seien es die Rosetten der Außenseiten des großen Triptychons oder die Filigranstreifen der Flügelinnenseite des kleinen – lassen erkennen, daß zwar hochwertiges byzantinisches Material verarbeitet, dieses aber neu angeordnet und mit westlichen Versatzstücken verbunden wurde. Auch die Art und Weise der Reliquiendeposition ist, zumindest was das obere Sepulchrum angeht, typisch westlich. Die mit lateinischer Schrift beschriebenen Authentiken weisen darauf hin, daß die Reliquien – Teilchen vom Wahren Kreuz, des Heiligen Gra109 William D. WIXOM, Staurotheke, in: The Glory of Byzantium: art and culture of the Middle Byzantine era, A.D. 843-1261, hg. v. Helen C. EVANS und DEMS., New York 1997, Nr. 110, S. 162f. 110 Drei ähnliche Emailstreifen befinden sich bei dem größeren Triptychon als Mittelstreifen neben Filigranstückchen. 111 HOLBERT (wie Anm. 104), S. 13. 112 KLEIN (wie Anm. 9), S. 211, Anm. 163.
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bes sowie vom Kleid Mariens – beim Einlassen in das Reliquiar neu beschriftet worden sind. Der Seidenstoff, in den die Reliquien gehüllt sind, imitiert zwar byzantinische Muster, ist aber spanischer Provenienz.113 Bemerkenswert ist weiterhin die Gestalt des Kreuzes des unteren Triptychons. Ungewöhnlich für eine byzantinische Staurothek, die zumeist die Doppelkreuzform verwendet, ist die in diesem Fall gewählte lateinische Kreuzform. Anhand der aufgeführten Fakten wird der hohe inszenatorische Aufwand spürbar, den Reliquien durch byzantinisierende Präsentation Echtheitscharakter zu verleihen und ihre Herkunft aus Konstantinopel oder dem Heiligen Land anzuzeigen. Woher aber stammen die Reliquien? Die erst seit dem 18. Jahrhundert dokumentierte Geschichte des Stabloer Triptychons erlaubt kaum konkreten Aufschluß über jene Intentionen, die dazu führten, mit Reliquien auf diese ungewöhnliche Weise umzugehen. Schon die Provenienz aus Stavelot ist nicht gesichert, wenn auch wahrscheinlich. Aufgrund stilistischer und technischer Vergleiche scheint das Triptychon unter dem ebenso politisch engagierten wie kunstsinnigen Abt Wibald (1130-1158) entstanden zu sein.114 Tatsächlich sind für Wibald zwei Reisen an den kaiserlichen Hof Konstantinopels belegt, von denen er Reliquiare oder Reliquien mitgebracht haben könnte.115 Unklar ist jedoch, in welcher Form dies geschah. Hatte er zwei komplett erhaltene Staurotheken im Gepäck? Wohl kaum, denn warum hätte man diese kostbaren Stücke zerlegen sollen, um sie dann in zwei byzantinisierende Triptychen umzuarbeiten? Vielmehr liegt nahe, daß mit Wibald Fragmente einer byzantinischen Staurothek sowie vielleicht Reliquien aus Konstantinopel in den Westen gelangt sind. Es wäre jedoch auch denkbar, daß Stavelot über einen Fundus von Reliquien aus Jerusalem verfügte – die Partikel vom Heiligen Grab im oberen Sepulchrum sprechen dafür – und diese mit Reisesouvenirs Wibalds aus Konstantinopel vereinigte. Ob zwischen den Reliquien und den byzantinischen Emails von vornherein eine Verbindung bestand, bleibt ungewiß, gewiß ist jedoch, daß diese Verbindung in Stavelot geschaffen wurde, um die Authentizität und Provenienz der Reliquien zu dokumentieren. Neben diesem aufwendigen Verfahren, die Reliquien nicht nur optisch aufzuwerten, sondern auch im byzantinischen Kulturkreis zu verorten, gab man den Triptychen zusätzlich ein Bildprogramm bei. Während die Mitteltafel des großen Stabloer Triptychons von den beiden kleinen Staurotheken dominiert wird,116 sind die beiden Innenseiten der großen Flügel zwei narrativen Zyklen 113 William VOELKLE, The Stavelot Triptych, in: The Glory of Byzantium (wie Anm. 109), Nr. 301, S. 461-463, hier S. 462f.: „The silk is probably of Spanish Origin and imitates a Byzantine model.“ 114 Zur Geschichte des Stabloer Triptychons vgl. KLEIN (wie Anm. 9), S. 208f. 115 Wibald reiste 1155 und 1158 als Gesandter Kaiser Friedrich Barbarossas nach Konstantinopel. Auf der Rückkehr von der zweiten Reise verstarb er am 19. Juli 1158 in Monastir/Mazedonien. 116 Teile der Mitteltafel sind heute verloren. So ist der Holzkern heute mit dunkelrotem Samt überzogen. Wie Materialspuren unter den Nägeln des bogenförmig spitz zulaufenden
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vorbehalten. Sechs in Emailmedaillons gebannte Szenen aus unterschiedlichen Kreuzlegenden, drei auf jedem Flügel, nehmen subtil Bezug auf die Mitteltafel, insbesondere auf das untere Triptychon, wo Kaiser Konstantin und seine Mutter Helena unter dem Kreuz stehen.117 So sind die Szenen des linken Flügels mit Ereignissen verbunden, die sich auf den links unter dem Kreuz stehenden Konstantin beziehen, die rechten Szenen hingegen sind der Helenatradition vorbehalten. Die Konstantin zugeordneten Emailmedaillons erzählen von unten nach oben Szenen aus der Kreuzlegende, die sich um den Kaiser rankt: Ausgangspunkt ist eine Kreuzvision, die dem träumenden Herrscher zuteil wird. Nachdem er im Traum ein Kreuz schaute, kündet ihm nach dem Erwachen ein Engel: In hoc vince und weist damit auf das darüberliegende Medaillon, das die Erfüllung der Vision bestätigt: Im Zeichen des Kreuzes besiegt Konstantin seinen Gegner Maxentius in der Schlacht an der Milvischen Brücke. Die obere und letzte Szene zeigt die Konsequenz dieser Ereignisse: Konstantin konvertiert zum Christentum und läßt sich taufen.118 Ebenfalls von unten nach oben ist die auf dem rechten Flügel ausgebreitete Kreuzauffindungslegende zu lesen. In der ersten Szene fragt Kaiserin Helena unter Androhung von Feuerstrafe die Juden, wo das Kreuz zu finden sei. Nachdem das Geheimnis preisgegeben ist, läßt Helena nach dem Kreuz graben – ein Ereignis, das die zweite Szene bestimmt. Die drei aufgefundenen Kreuze bedürfen allerdings eines Echtheitsbeweises, denn nur eines kann das wahre, heilbringende Kreuz Christi sein, während die zwei anderen jenen Schächern zuzuordnen sind, die zusammen mit Christus gekreuzigt wurden: In der oberen und letzten Szene werden die Kreuze an einem Toten getestet. Nachdem zwei Kreuze keine Wirkung zeigten, stellt das dritte, wahre Kreuz seine Wirksamkeit unter Beweis: Der Tote erhebt sich von der Bahre.119 Zahlreich sind die Reliquiare, die, häufig im Gebiet zwischen Rhein und Maas entstanden, der exponierten Kreuzreliquie Emails mit Szenen aus der Kreuzauffindungslegende hinzufügen.120 Als weiteres Beispiel kann ein wohl um 1160 entstandenes Scheibenreliquiar gelten, das sich heute in Privatbesitz befin-
Zierrandes verraten, muß anstelle des Samtes vormals eine Goldplatte, wahrscheinlich mit Edelsteinschmuck, angebracht gewesen sein; zu der verlorenen Mitteltafel vgl. VOELKLE (wie Anm. 104), S. 22f. 117 Das das Kreuz flankierende Kaiserpaar ist bereits auf Bildwerken des 10./11. Jahrhunderts im byzantinischen Kunstkreis nachweisbar, doch „scheint sich diese Bildformel erst im Verlauf des 11./12. Jahrhunderts zur Standardikonographie byzantinischer Kreuzreliquiare entwickelt zu haben“. KLEIN (wie Anm. 9), S. 129. 118 Zu den Konstantinmedaillons vgl. ausführlich VOELKLE (wie Anm. 104), S. 12-16. 119 Zu den Helenamedaillons vgl. ausführlich ebd., S. 16-19. 120 Nicht in Email, sondern in Ritzzeichnungen ist auch die um 1180/81 entstandene Staurothek aus dem Schatz von Notre Dame, Tongeren, mit Szenen aus der Kreuzauffindungslegende versehen; vgl. auch KLEIN (wie Anm. 9), S. 224-226.
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det und der Werkstatt des Stabloer Triptychons zugeschrieben wird.121 Obwohl das Objekt im Laufe der Zeit stark überarbeitet wurde, gehören die vier halbkreisförmigen, mit Motiven aus der Auffindungslegende versehenen Emaillünetten, die ein quadratisches Mittelfeld rahmen, das einst die Kreuzreliquie barg, zum ursprünglichen Bestand. Die ovalen Eckverzierungen, die Rückseite mit der Hand Gottes und das Mittelquadrat, das heute wieder eine Kreuzpartikel hinter Glas präsentiert, sind Ergänzungen des 17. bzw. 19. Jahrhunderts. Daß im 12. Jahrhundert die Kreuzreliquie nicht sichtbar war, wie unlängst spekuliert wurde, ist zu bezweifeln.122 Vielmehr scheint der jetzige Zustand mit der sichtbaren Reliquie in der Mitte dem Originalbefund zu entsprechen, obwohl es sich bei der Fassung um eine neuzeitliche Ergänzung handelt. Für diese Annahme sprechen zwei Gründe: Zum einen entsprechen die vier Emails mit Darstellungen der Kreuzauffindung jenem Programm, das der Authentifizierung der Kreuzpartikel auch bei anderen Reliquiaren, wie dem Stabloer Triptychon, beigegeben wurde. Zum anderen besitzt das Bayerische Nationalmuseum, München, ein sehr ähnlich konzipiertes Scheibenreliquiar, das zwar keine Reliquie mehr birgt, aber noch einen Bergkristall in seiner Mitte hat. Daß sich hinter dem Kristall die Reliquie verbarg, verrät die umlaufende Inschrift: A Domino factum est istud et est mirabile in oculis nostris (vom Herrn ist das geschehen, und es ist wunderbar in unseren Augen).123 Es besteht also die begründete Vermutung, daß der heutige Zustand des französischen Scheibenreliquiars konzeptionell dem mittelalterlichen entspricht. Der legendär überlieferte und bildlich dargestellte Echtheitsbeweis des Kreuzes ergänzt das künstlerische Bestreben der Stabloer Goldschmiede, den Reliquien durch angemessene Präsentation ebenfalls Echtheit zuzusprechen. Je weiter das 12. Jahrhundert voranschritt, desto mehr sah man sich einer Flut von Kreuzreliquien ausgesetzt, deren Echtheit zunehmend in Frage stand. In einer steil nach oben schnellenden Verteilungskurve weist Anatole Frolow den sprunghaften Anstieg der Kreuzreliquienverteilung nach. Gemäß dieser Kurve waren im 10. Jahrhundert 52, im 11. Jahrhundert 116, im 12. Jahrhundert 161 Kreuzreliquien bekannt. Ihren Höhepunkt erreicht die Kurve mit 227 Nachweisen im 13. Jahrhundert, um danach wieder abzufallen.124
121 Zu dem Objekt mit entsprechenden Abbildungen vgl. Sculptures et objects d’art précieux du XIIe au XVIe siècle, hg. v. Nicolas BRIMO DE LAROUSSILHE, Paris 1993, S. 14-29. 122 BRIMO DE LAROUSSILHE (ebd.), S. 17, schlägt vor, daß sich an dieser Stelle auch eine Emailtafel, vielleicht mit dem Traum Konstantins oder Helena im Gebet befand. 123 Zu dem Reliquiar vgl. ausführlich Karl Hermann USENER, Ein Mainzer Reliquiar im Bayerischen Nationalmuseum, in: Münchener Jahrbuch der Bildenden Kunst, 3. Folge, 8, 1957, S. 57-64 sowie zuletzt Henk VAN OS, Der Weg zum Himmel. Reliquienverehrung im Mittelalter, Regensburg 2001, S. 117-119. 124 FROLOW (wie Anm. 24), S. 111.
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3.3. Metamorphosen des Gemmenkreuzes Parallel zur Entstehung des Lateinischen Königreiches in Palästina nach der Eroberung Jerusalems läßt sich ab Anfang des 12. Jahrhunderts ein Wandel in der sakralen Goldschmiedekunst beobachten, insbesondere des seit der Spätantike im Westen etablierten Gemmenkreuzes. Die crux gemmata ist eine seit der Spätantike etablierte Kreuzform. Als idealbildliche Monumentalform findet sie sich in Mosaiken (Santa Pudenziana, Rom, oder San Apollinare in Classe, Ravenna), als Hand- und Prozessionskreuz ist sie schon früh in den Händen des Maximianus im Presbyteriumsmosaik in San Vitale, Ravenna, überliefert.125 Eine noch kleinere Form des Gemmenkreuzes war die des Pektoralkreuzes oder des Kronenkreuzes, wie etwa das Agilulf-Kreuz (Domschatz von Monza).126 Obwohl die Funktionen des Gemmenkreuzes zunächst ganz unterschiedlich sein konnten, verband alle Kreuze eine gemeinsame Idee und Erscheinungsform. Das Kreuz galt als Zeichen der Parusie Christi und verwies auf den Triumph Christi über den Tod. Veranschaulicht wurden diese Ideen durch oft üppigen Edelsteinschmuck, wobei die Edelsteine auf das eschatologische Vollendung anzeigende, edelsteingeschmückte neue Jerusalem hinweisen sollten.127 Aus dem Zeitraum zwischen 900 und 1200 sind viele Gemmenkreuze überliefert, allein neunzig sind aus schriftlichen Quellen bekannt.128 Wie die von Theo Jülich erstellte Statistik veranschaulicht, stammen die meisten der noch vorhandenen Objekte aus der Mitte des 11. Jahrhunderts.129 Bis 1200 sinkt die Anzahl der edelsteinbesetzten Kreuze deutlich – das Gemmenkreuz wird von anderen Kreuzformen abgelöst. Gemmenkreuze konnten, mußten aber nicht Träger von Reliquien sein, doch scheint die Mehrheit mit Reliquien bestückt gewesen zu sein.130 Solange die Reliquien in das Kreuz selbst eingeschlossen waren, fanden sich in ihnen Herren- und Heiligenreliquien in bunter Mischung; 125 Die genannten Kreuze finden sich als Abbildungen bei Theo JÜLICH, Gemmenkreuze. Die Farbigkeit ihres Edelsteinbesatzes bis zum 12. Jahrhundert, in: Aachener Kunstblätter 54/55, 1986/87, S. 99-258, hier S. 122f. 126 Croce di Agilulfo, in: Roberto CONTI, Il Tesoro. Guida alla conoscenza del Tesoro del Duomo di Monza, Monza 1983, Nr. 23, S. 42-44. 127 Zur Edelsteinallegorese vgl. grundlegend: Christel MEIER, Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert (Münstersche Mittelalter-Schrr. 34), München 1977. 128 JÜLICH (wie Anm. 125), S. 127. 129 Ebd., S. 119. 130 Ausnahmen bilden beispielsweise das Lotharkreuz (Aachen, Münsterschatz) sowie alle Essener Vortragekreuze, das Otto-Mathildenkreuz, das Mathildenkreuz und das sog. Kreuz mit den Senkschmelzen (Essen, Münsterschatz), die nicht als Reliquienkreuze konzipiert waren (das Theophanukreuz wurde nachträglich verändert, s.u.). Für ihre freundlichen Auskünfte in dieser Frage danke ich Birgitta Falk, Domschatzkammer Essen. Anders verhielt es sich etwa mit den von der Gräfin Gertrud gestifteten Gertrudenund Liudolfkreuz aus dem Welfenschatz (Cleveland Museum of Art), die beide als Reliquienbehälter fungierten; vgl. zu dieser Frage KLEIN (wie Anm. 9), S. 162-167.
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Kreuze waren Sammelbehälter für Reliquien aller Art. Erst als die Kreuzaußenseite als Aufbewahrungsort entdeckt wurde, änderte sich das schlagartig. Zur Schau gestellt wurden lediglich Christusreliquien, vorzugsweise jene vom Kreuz des Herrn. Die Präsentation der Kreuzpartikel geschah stets sichtbar unter einem oftmals konvex geschliffenen Bergkristall, der die winzigen Partikel vergrößerte. Bevorzugter Ort ist zunächst die Kreuzvierung, später auch das Ende der Kreuzbalken. Der hohe Materialwert des Gemmenkreuzes stand im krassen Gegensatz zu jenem der Kreuzpartikel, die ihren Wert einzig und allein aus transzendenten Kräften und daran geknüpften Vorstellungen schöpfte. Doch hatte die Einbettung der Kreuzreliquie in den Edelsteinschmuck nicht nur Verweischarakter, der den Wert der unscheinbaren Reliquie sinnenfällig vermitteln sollte. Vielmehr eignete die Idee der transzendenten Kraft gleichermaßen der Kreuzreliquie und den Edelsteinen, in deren unmittelbarer Gesellschaft sich die Reliquie nunmehr befand. Edelsteine galten nicht als tote Materie, sondern als lebendige Wesen. Sie sind paradiesischen Ursprungs, wurden von der prälapsarischen Schöpfung her gedacht und behielten ihre Kraft auch nach dem Sündenfall.131 Die Kreuzreliquie hingegen ist durch die ihr innewohnende Kraft Christi am anderen Ende der heilsgeschichtlichen Entwicklung angesiedelt. In ihr manifestiert sich die Überwindung des Sündenfalls. Damit bildet die crux gemmata im Ensemble von Edelsteinen und Kreuzreliquie nicht nur die gesamte Heilsgeschichte vom Paradies über die Erlösung bis zur Parusie ab, sondern kann auch als ihr lebendiges Zeugnis gelten. Die Veränderung des Gemmenkreuzes folgt keiner vorübergehenden Mode, sondern erklärt sich aus dem Bedürfnis, die in Jerusalem oder Konstantinopel erworbenen Kreuzreliquien nicht in Reliquiar oder Altar zu verschließen, sondern visuell erfahrbar zu machen.132 Waren bis zu dieser Zeit Gemmenkreuze vor allem als Prozessionskreuze üblich, wurden diese liturgischen Geräte im 12. Jahrhundert durch die Applikation von Reliquien des Wahren Kreuzes auf der Kreuzvierung so umgestaltet, daß sich ihre Wahrnehmung und Bedeutung entscheidend veränderte.133 Der zentrale Ort des Kreuzes, bei Gemmenkreuzen oft mit einem besonders auffälligen Edelstein (Reichskreuz) oder einer Gemme 131 Vgl. MEIER (wie Anm. 127), S. 111f. und S. 342-345, mit Quellenangaben sowie Gia TOUSSAINT, Heiliges Gebein und edler Stein. Der Edelsteinschmuck von Reliquiaren im Spiegel mittelalterlicher Wahrnehmung, in: Das Mittelalter 8, 2003, S. 41-66, hier S. 43. 132 In karolingischer Zeit handelt es sich bei den Kreuzreliquiaren zumeist um kleinformatige Phylakterien, das heißt Reliquiare für den persönlichen Gebrauch, in die Reliquien eingelegt waren; KLEIN (wie Anm. 9), S. 164f. Neben dieser Möglichkeit fanden sich Kreuzreliquien in zahlreichen Altarsepulchren, ebd., S. 166 mit weiteren Quellenangaben. 133 Es wurden lediglich Kreuzreliquien ausgestellt, niemals jedoch sichtbare Heiligenpartikel, die als Knochenrelikte zu dieser Zeit noch nicht derartig präsentiert wurden. Unverhülltes Heiligengebein wurde erst ab ca. 1200 ausschließlich im Zusammenhang mit anthropomorphen Reliquiaren direkt gezeigt; vgl. Gia TOUSSAINT, Konstantinopel in Halberstadt. Alte Reliquien in neuem Gewand, in: Das Mittelalter 10, 2005, S. 38-62.
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(Heinrichskreuz, Berlin) ausgezeichnet, wurde nun zur Schaubühne von Reliquien, insbesondere der Kreuzreliquie. Am „Herzstück des Kreuzes“134, seiner Vierung, vollzogen sich Veränderungen, die die Bedeutung des Gemmenkreuzes als Zeichen der Wiederkunft Christi, der Parusie, um den Aspekt des Leidens und Opfers Christi ergänzten. Das in der Kreuzreliquie sichtbar gemachte Heilsopfer, das in Christi Tod kulminierte und durch das dabei vergossene Blut die Erlösung stiftete, erweitert den Gedanken der Parusie, der dem Gemmenkreuz mit seinem Edelsteinschmuck inhärent war. Es verweist nicht nur auf die Wiederkunft, sondern evoziert mit der Präsentation der Kreuzreliquie auf der Vierung auch Christi Opfer und umfaßt damit den gesamten Kosmos christlicher Heilsvorstellungen. Die Kreuzvierung der edelsteingeschmückten Prozessionskreuze diente jedoch nicht nur dem Ausstellen von Reliquien. Schon vor 1100 konnte auf ihnen das vollplastische Corpus Christi befestigt sein. Zwar wurde der Kruzifixus schon weit vor dem 12. Jahrhundert auf Monumentalkreuzen präsentiert,135 doch blieben die kleineren Prozessionskreuze – zumeist Gemmenkreuze – von dieser Gestaltungsmöglichkeit zumeist unberührt. Erst im 11. Jahrhundert ändert sich mit dem Giselakreuz (um 1006) und dem auf ihm applizierten, mit Reliquien gefüllten Corpus Christi die Gestaltung eines Gemmenkreuzes. Auch das Mitte des 11. Jahrhunderts entstandene Borghorster Kreuz bietet eine neuartige Lösung, indem auf der Vierung ein mit Reliquien gefülltes fatimidisches Bergkristallfläschchen ausgestellt wird. Mit dem im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts entstandenen Fritzlarer Heinrichskreuz ist das früheste Kreuz mit einer unter Bergkristall sichtbaren Kreuzpartikel überliefert – eine Präsentationsform, die Schule machen sollte. Im Zuge dieser Veränderungen schwand im Laufe des 12. Jahrhunderts allmählich auch der Edelsteinschmuck. An seine Stelle trat anderes Schmuckwerk, beispielsweise Emails mit Szenen aus der Heilsgeschichte oder der Kreuzauffindungslegende. Das um 1050 entstandene Borghorster Stiftskreuz (St. Nikomedes, SteinfurtBorghorst; Abb. 9) ist ein einmaliges Stück, trägt es doch an jener Stelle, wo der Kruzifixus zu erwarten ist, eine als Reliquienbehälter dienende fatimidische Bergkristallampulle.136 Es verdrängt förmlich eine Darstellung der Kreuzigungs134 Joseph DEÉR, Das Kaiserbild im Kreuz, in: Byzanz und das abendländische Herrschertum. Ausgewählte Aufsätze von Joseph Deér, hg. v. Peter CLASSEN, Sigmaringen 1977, S. 125-177, hier S. 126f. 135 Silberne und goldene Monumentalkruzifixe sind für den Westen vom frühen 7. Jahrhundert an dokumentiert; vgl. Katharina Christa SCHÜPPEL, Silberne und goldene Monumentalkruzifixe, Weimar 2005, S. 196. 136 Die Datierung orientiert sich an den inschriftlich genannten Gestalten Kaiser Heinrichs (III.) auf der Vorderseite und der Äbtissin Berta auf der Rückseite; zu dem Kreuz: Michael PETER, Reliquienkreuz, in: Canossa 1077. Erschütterung der Welt (wie Anm. 66), Nr. 362, S. 255-257, und Jochen LUCKHARDT, Reliquienkreuz aus Borghorst, in: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik, hg. v. Anton LEGNER, Bd. 3, Köln 1985, Nr. H 28, S. 106-108 mit Edition der Inschriften.
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szenerie, die, aus dem Zentrum gerückt, oberhalb der Ampulle plaziert ist. Ein weiteres, mit Reliquien gefülltes, in Fischform geschliffenes Bergkristallfläschchen ziert das untere Ende des Längsbalkens. Beide Ampullen sind nicht auf das Kreuz appliziert, sondern durchbrochen eingelassen, so daß die Transparenz des von beiden Seiten sichtbaren Kristalls ihre größte Wirkung entfalten kann. Daß es tatsächlich auf die Transparenz des Gefäßes ankommt, zeigt die Stellung des oberen, größeren Fläschchens. Dieses ist nämlich so gedreht, daß nicht etwa der kostbare palmettenartige Kristallschnitt zur Geltung kommt, sondern die freie Fläche zwischen den Ornamenten. Durch diese Drehung ist eine maximale Sicht auf die in roten Stoff gehüllten Reliquien gewährleistet.137 Die auf der Kreuzrückseite umlaufende Inschrift informiert über die Zusammensetzung des Heiltums: neben einem Partikel vom Kreuzesholz und Blut aus der Seitenwunde Christi sind Reliquien verschiedener Heiliger aufgeführt. Durch solche Präsentation sind die Reliquien im Borghorster Kreuz zwar sichtbarer als in einem Depot innerhalb des Kreuzes oder Kruzifix, von dem nach außen gar nicht wahrnehmbar ist, daß es ein Heiltum birgt. Dennoch kann von einer tatsächlichen Sichtbarkeit der Reliquien noch nicht die Rede sein. Dauerhaft der Sichtbarkeit ausgesetzt werden die Reliquien erst etwas später, als man beginnt, Kreuzreliquien in der Vierung unter einem Bergkristall sichtbar zu machen. Bevor sich die eigentliche Sichtbarkeit der Kreuzreliquie unter Bergkristall endgültig durchsetzte, entstand um 1110 oder etwas später das Engerer Kreuz (Kunstgewerbemuseum, Berlin; Abb. 10), das als Helmarshausener Goldschmiedearbeit gilt und Roger von Helmarshausen oder seinem Umkreis zugeschrieben wird.138 Das ursprünglich aus dem Engerer Dionysiusstift stammende Krückenkreuz stellt eine Vorstufe zu den nachfolgenden Kreuzen mit offen zur Schau gestellter Kreuzpartikel dar.139 Das aufgrund seiner kurzen Balken gedrungen wirkende, nur 22 cm hohe Kreuz wird vom Schmuck des Vierungsquadrats sowie dem der rechteckigen Balkenenden dominiert, deren Mitte jeweils von Gemmen und Edelsteinen geschmückt ist. Sowohl bei dem geschliffenen Bergkristall im Kreuzmittelpunkt als auch bei den zentralen Steinen am unteren und linken Ende des Kreuzes handelt es sich um Spolien, einen antiken Kameo und eine Gemme.140 Der rückwärtig mit einem Engel gravierte zentrale 137 Auf der weniger prominenten Rückseite ist das volle Palmettenornament sichtbar, das aber etwas aus der Mittelachse gedreht ist und damit bestätigt, daß die Position der Vorderansicht in dieser Weise beabsichtigt ist; vgl. die Abb. der Rückseite ebd., S. 108. 138 Michael PETER, Engerer Kreuz, in: Canossa 1077. Erschütterung der Welt (wie Anm. 66), Nr. 510, S. 423, datiert das Kreuz auf die Zeit von 1120-30; Ursula MENDE, Goldschmiedekunst in Helmarshausen, in: Helmarshausen, hg. v. Ingrid BAUMGÄRTNER, Kassel 2003, S. 163-198, hier S. 175-177, datiert auf 1110. 139 Das Kreuz weist nur wenige, sorgfältige Spuren einer Restaurierung auf, grobe Reparaturen liegen nicht vor, vgl. JÜLICH (wie Anm. 125), S. 180. 140 Da die zentralen Edelsteine am oberen und rechten Balkenende neuzeitliche Bearbeitungsspuren aufweisen, könnten auch dort ursprünglich Gemmen angebracht gewesen sein; JÜLICH (wie Anm. 125), S. 180. Zu den antiken Gemmen vgl. Peter LASKO, The En-
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Bergkristall wird allgemein als karolingisch angesehen.141 Dieser kostbare runde Kristall bedeckte keine Kreuzreliquie, sondern verweist mit Hilfe einer die Rundung des Kristalls nachvollziehenden, niellierten Inschrift mit den Worten DE LIGNO D[OMI]NI auf das Reliquiendepot direkt hinter dem Mittelbeschlag im Bereich der Kreuzvierung.142 Dabei hat die Inschrift nicht nur Verweischarakter, denn schon für merowingische Zeit ist das Phänomen der verbal relic überliefert.143 Heilige Worte oder auch laut vorgetragene Heiligengeschichten konnten die virtus der Reliquie evozieren und damit dieselbe Wirkung haben wie das Heiltum selbst. Bis auf die sichtbare Reliquie erfüllt das Engerer Kreuz formal alle Kriterien der nachfolgenden Kreuze und nimmt damit eine Mittelstellung zwischen den reinen Gemmenkreuzen und jenen mit ausgestellter Reliquie ein. Um 1120 oder etwas später setzt schließlich eine entscheidende Wende in der Gestaltung der Kreuze ein: Reliquien vom Kreuz Christi werden sichtbar. Verschlossen unter einem Bergkristall, der dank seines konvexen Schliffes die Partikel lupenhaft vergrößert, sind sie nun permanent visuell wahrnehmbar. Die Kreuzvierung verwandelt sich in eine Reliquienbühne. Das erste Kreuz, von dem bislang angenommen werden konnte, daß es die Kreuzreliquie sichtbar macht, ist das stilistisch mit dem Engerer Kreuz nahe verwandte sog. Heinrichskreuz (Fritzlar, Dom St. Petri, Domschatz; Abb. 11), das der Nachfolge Rogers von Helmarshausen zugerechnet wird.144 Gegenüber dem Engerer Kreuz mit 46,5 cm mehr als doppelt so hoch, diente das Heinrichskreuz als Vortragekreuz. Sein Name rührt von einer Lokaltradition, die den Besuch Heinrichs II. in Fritzlar 1020 mit der Stiftung des Kreuzes verbindet.145 Tatsächlich ist unklar, wer das Kreuz wann stiftete. Zumindest die Kreuzrückseite läßt sich aufgrund stilistischer Vergleiche der Gravuren eindeutig dem Helmarshausener Kunstkreis und dessen Nachfolge zuordnen. Aber auch die Schauseite mit ihrem opulenten Gemmenschmuck wird von der jüngeren Forschung als zeitgleich angesehen.146 Als ungefährer Entstehungszeitraum kann das erste Drittel des 12. Jahrhunderts gelten. ger Cross, in: Helmarshausen und das Evangeliar Heinrichs der Löwen, hg. v. Martin GOSEBRUCH und Frank N. STEIGERWALD, Göttingen 1992, S. 79-108, hier S. 84. 141 Peter LASKO, Roger of Helmarshausen, Author and Craftsman. Life, Sources of Style, and Iconography, in: Objects, images and the word, hg. v. Colum HOURIHANE, Princeton 2003, S. 180-201, hier S. 195. 142 Für die ausführlichen Auskünfte in dieser Frage gilt mein herzlicher Dank Lothar Lambacher, Kunstgewerbemuseum, Berlin. 143 Don C. SKEMER, Binding Words. Textual Amulets in the Middle Ages, University Park 2006, S. 236 mit Anm. 3. 144 Zu dem Kreuz vgl. Michael PETER, Reliquienkreuz, in: Canossa 1077. Erschütterung der Welt (wie Anm. 66), Nr. 522, S. 435-437; Peter SPRINGER, Sog. Heinrichskreuz, in: Ornamenta Ecclesiae (wie Anm. 136), Bd. 3, Nr. H 29, S. 112 und JÜLICH (wie Anm. 125), S. 175-178. 145 JÜLICH (wie Anm. 125), S. 175. 146 Zur Datierung der Vorderseite vgl. ebd., S. 175f. und SPRINGER (wie Anm. 144).
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Ob die Kreuzreliquie wirklich von Anbeginn sichtbar war, ist allerdings fraglich. Bei genauer Autopsie des Kreuzes stellte sich heraus, daß der gegenwärtig die Reliquie abdeckende Bergkristall nicht ursprünglich, sondern für die vorhandene Fassung deutlich zu klein ist. Auch das Sepulchrum selbst wirft Fragen auf. So ist das Silberblech, auf dem die auf einem maroden Stoffstückchen ruhende Kreuzreliquie plaziert ist, leicht wellig und liegt nicht überall fest auf der Fassung. Fixiert wird die Reliquie insbesondere durch eine rückwärtige, in den Kristall eingebrachte kreuzförmige Gravur. Aufgrund dieses Befundes wird deutlich, daß die Vierung zu einem unbekannten Zeitpunkt verändert wurde. Ob dies jedoch nur den Austausch des Bergkristalls betraf oder auch weitere Veränderungen, wie z.B. das Einfügen der Kreuzpartikel, ist ungewiß.147 Um 1150 entstand in Hildesheim das sog. große Bernwardkreuz in seiner heutigen Form (Hildesheim, Dommuseum; Abb. 12).148 Wie beim Engerer und Fritzlarer Kreuz, mit denen es in Beziehung gesetzt wird, handelt es sich um ein Krückenkreuz mit aufwendigem Edelsteinschmuck.149 Aus stilistischen Gründen wird das Kreuz allerdings erst in das zweite Viertel des 12. Jahrhunderts oder aber in die Jahrhundertmitte datiert.150 Neben den Spolien, die dieses Kreuz ebenfalls zieren, bietet es eine Weiterentwicklung des Transparenzgedankens. Nicht nur auf die Kreuzvierung, auch auf die Balkenenden sind Bergkristalle appliziert, unter denen Reliquien eingeschlossen waren. Bis auf die Kreuzspäne unter dem Vierungskristall und dem im oberen Kristall eingelassenen kleinen Goldkreuz wurden 1733 alle Reliquien entfernt.151 Das kleine Goldkreuz gilt als bernwardinisch und könnte als eine Art Reliquie Bernwards gegolten haben. Vielleicht handelt es sich bei dem Bernwardkreuz um eine Neuschöpfung aus einem alten Material- und Reliquienfundus anläßlich der „dem Konvent von St. Michael 1150 erteilten Erlaubnis, Bernward innerhalb des Klosters wie einen
147 Abgesehen davon, daß das erste Inventar des Fritzlarer Domes St. Petri aus dem Jahr 1552 stammt, ist es für unsere Frage nicht aufschlußreich. Die letzte Restaurierung wurde im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durchgeführt, allerdings ist der vielleicht Aufschluß ermöglichende Restaurierungsbericht nicht auffindbar. Das Kreuz wird heute noch an zwei Tagen liturgisch gebraucht, am Heinrichstag (13. Juli) und dem Fest der Kreuzerhöhung (14. September). Es handelt sich um eine alte Tradition, die darauf schließen läßt, daß sich die Kreuzpartikel schon lange im Kreuz befindet. 148 Zum Kreuz zuletzt ausführlich Martina PIPPAL, Vortragekreuz, sog. Bernwardkreuz, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, hg. v. Michael BRANDT, Hildesheim 1993, Bd. 2, Nr. VIII-34, S. 588f. 149 Hermann SCHNITZLER, Das sogenannte große Bernwardkreuz, in: Karolingische und ottonische Kunst (Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie 3), hg. v. Andreas ALFÖLDI u.a., Wiesbaden 1957, S. 382-394, hier S. 390f., bringt das Bernwardkreuz mit dem Roger-Kreis in Verbindung und rechnet es „der gleichen künstlerischen Atmosphäre“ zu (S. 391). 150 PIPPAL (wie Anm. 148), S. 588. 151 Als Spolien gelten die fünf, auf die Balken aufgesetzten Schmuckplatten aus dem 11. Jahrhundert.
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Heiligen zu verehren“.152 Das Bernwardkreuz mit seinen Reliquiendepots unter Bergkristallen setzte Maßstäbe. Diese Anordnung findet sich nicht nur bei späteren Gemmenkreuzen, wie dem 1170/80 entstandenen sog. kleinen Bernwardkreuz153 und dem Kreuz Heinrichs des Löwen154 vom Ende des 12. Jahrhunderts, sondern außerdem bei zahlreichen Bronzekreuzen. Im Verlauf des 12. Jahrhunderts wurde die Kreuzreliquie mehr und mehr sichtbar präsentiert – eine Tendenz, die auch vor der Umgestaltung älterer Kreuze nicht haltmachte. So gehört auch der große Bergkristall, der die Kreuzpartikel des Theophanu-Kreuzes (Essen, Münsterschatz) bedeckt, nicht zum ursprünglichen Bestand, sondern wurde später hinzugefügt. Das in seiner Substanz in den Jahren 1039-56 entstandene Kreuz erfuhr unter Verwendung von Spolien aus der Zeit um 1000 im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts eine gründliche Überarbeitung, die dem Kreuz auch eine neue Rückseite bescherte.155 Es wird vermutet, daß der Kristall „ursprünglich einem Tafelreliquiar oder Flabellum als Mitte gedient haben“ könnte.156 Ähnliches widerfuhr dem Ardennenkreuz (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum) aus dem zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts. Wie das Theophanukreuz wird auch dieses ursprünglich kein Reliquienkreuz gewesen sein. Die Umarbeitung der Vierung zur Reliquienbühne geschah erst später. Sowohl die Fassung des zentral angebrachten Bergkristalls als auch der Stein selbst deuten auf eine spätere Ergänzung aus der Zeit vor dem 14. Jahrhundert.157 152 Ebd., S. 589. 153 Beate BRAUN-NIEHR, Sogenanntes Kleines Bernwardkreuz, in: Bernward von Hildesheim (wie Anm. 148), Bd. 2, Nr. IX-25, S. 628f. und Michael BRANDT, Vortragekreuz, in: Schatzkammer auf Zeit, hg. v. DEMS., Hildesheim 1991, Nr. 38, S. 136-138. 154 Michael BRANDT, Sogenanntes Kreuz Heinrichs des Löwen, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit, hg. v. Jochen LUCKHARDT u. Franz NIEHOFF, Bd. 1, München 1995, Nr. D 89, S. 283-285. 155 Hermann SCHNITZLER, Rheinische Schatzkammer, Düsseldorf 1957, S. 33, sowie Peter LASKO, Ars Sacra, Harmondsworth 1972, S. 136f. Zum Theophanu-Kreuz vgl. auch Alfred POTHMANN, Der Essener Kirchenschatz aus der Frühzeit der Stiftsgeschichte, in: Herrschaft, Bildung und Gebet. Gründung und Anfänge des Frauenstifts Essen, hg. v. Thomas SCHILP und Michael SCHLAGHECK, Essen 2000, S. 135-153, hier S. 147, der allerdings nicht auf die Problematik der späteren Überarbeitung des Kreuzes eingeht und lediglich anmerkt, daß hinsichtlich des unterschiedlichen Emailschmucks festgestellt werden kann, „daß die je zusammen gehörigen Täfelchen aus anderen Goldschmiedearbeiten stammen oder von unvollendet gebliebenen Arbeiten aus der Zeit der Äbtissin Mathilde stammen“. Eine gute Farbabbildung des Objekts ist in folgendem Band reproduziert: Die Ottonen. Kunst – Architektur – Geschichte, hg. v. Klaus Gereon BEUCKERS u.a., Petersberg 2002, S. 183. 156 SCHNITZLER (wie Anm. 155), S. 33. 157 JÜLICH (wie Anm. 125), S. 159: „Der zentrale Bergkristall, unter dem sich ursprünglich wohl eine Reliquie befunden hat, sei – aufgrund der Fassung – vielleicht eine spätere Ergänzung. In der Tat will die Fassung in ihrer Art und Qualität nicht so recht zu der übrigen Gestaltung des Kreuzes passen. Der Bergkristall selbst ist mit Sicherheit vor dem 14. Jahrhundert in seine Form gebracht worden, wie die Bearbeitungsspuren zeigen.“ Zu
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Anhand der genannten Objekte läßt sich der Wandel in der Gestaltung der Kreuze am Beginn des 12. Jahrhunderts ablesen. Fristeten bislang die Kreuzreliquien eine Existenz im Verborgenen, so treten sie ab dem ersten Viertel des 12. Jahrhunderts mehr und mehr ans Licht. Zu dieser Zeit verstärkt sich die Tendenz, Kreuzreliquien aus dem Kreuzesinnern zu befreien und auf der Kreuzvierung darzubieten. Deutete bislang das Gemmenkreuz auf die eher abstrakte theologische Idee der Wiederkunft Christi, so kam es mit Markierung und Auszeichnung der Kreuzvierung durch Kreuzreliquien zu einem Paradigmenwechsel. Mit der sichtbaren Applikation der Kreuzpartikel veränderte sich nicht nur das Aussehen des Kreuzes – der Gemmenschmuck bekommt immer mehr ornamentalen Charakter – sondern auch seine Bedeutung. Theo Jülich kann mit Recht feststellen: „Mit dem Zeigen der Reliquien verlor sich aber der eigentliche Charakter des Gemmenkreuzes als Parusieankündigung genauso wie mit der Anbringung des Gekreuzigten.“158 Es ist zwar nach wie vor Heilszeichen, doch wird das Heil nunmehr im irdischen Raum faßbar. Dem opulenten Edelsteinschmuck des traditionellen Gemmenkreuzes machte das mit Emails geschmückte Kreuz ab Mitte des 12. Jahrhunderts zunehmend Konkurrenz. Es bot nicht nur die wirtschaftlich günstigere Lösung, sondern hatte auch den Vorteil beglaubigender Bildprogramme. Edelsteine fanden sich auf den Kreuzen häufig nur noch als Bergkristall, der, in heimischen Gefilden abbaubar, weniger hochwertig war und außerdem zur Abdeckung für Reliquiensepulchren dienen konnte.159 Die gemessen am kostbaren Schmuck der Gemmenkreuze weniger wertvollen Kreuze mit Email- und Bergkristallschmuck traten bald ihren Siegeszug an und verdrängten langsam das Gemmenkreuz, das einen wesentlich höheren materiellen Aufwand erforderte. Auf diese Weise konnten viele Klöster und Kirchen nicht nur ihre Ausstattung um optisch an-
dem Kreuz vgl. weiter Theo JÜLICH, Ardennenkreuz, in: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit, hg. v. Christoph STIEGEMANN und Matthias WEMHOFF, Mainz 1999, Bd. 2, Nr. XI.12, S. 797-800. 158 JÜLICH (wie Anm. 125), S. 129. 159 Als ein Beispiel von vielen sei ein typologisches Kreuz genannt, das, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts im Maasgebiet entstanden, heute in Brüssel, Musées royaux d’art et d’histoire, aufbewahrt wird. Vgl. Sophie BALACE, Croix typologique, in: La Salle aux trésors. Chefs-d’œuvre de l’art roman et mosan, hg. v. Claire DUMORTIER, Turnhout 1999, Nr. 4, S. 30. Die Vorderseite des 44 cm großen Prozessionskreuzes besteht nur aus Email- und Bergkristallschmuck. Gemuggelte Kristalle bestimmen die quadratische Kreuzvierung sowie die vier quadratischen Kreuzenden. Die Kreuzarme und der Schaft hingegen sind mit fünf, alttestamentliche typologische Szenen darstellenden Emailplatten verziert, die auf die Kreuzigung weisen. Besonders die um den Kristall in der Vierung gruppierten Szenen weisen durch Gestik auf den Kreuzmittelpunkt. Dieser ist jedoch nicht mit einem Corpus versehen, sondern mit einem Kristall, unter dem wahrscheinlich einst eine Kreuzreliquie lag. Als ein weiteres Kreuz sei das von Scheldewindeke genannt, dessen Arme und Vierung mit Bergkristall überzogen sind und an dessen Enden je eine Emailtafel angebracht ist; vgl. ebd., Nr. 3, S. 28.
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sprechende Objekte erweitern, sondern auch Reliquien angemessen legitimieren und präsentieren. Das durch die Kreuzzüge und den Kreuzreliquienexport etablierte Deutungsmuster der praesentia Christi beeinflußte fundamental die Gestaltung des Gemmenkreuzes in Mitteleuropa, in dem es die Wahrnehmung nicht ausschließlich auf den Leib Christi ausrichtete, sondern auf das Heil, das sich an den geopferten Leib knüpfte. Die in Jerusalem 1099 aufgefundene Kreuzreliquie wurde in ein großangelegtes Spannungsfeld verschiedener Wahrnehmungs- und Deutungsmuster eingestellt, das nicht nur die künstlerische Auffassung des Kreuzes veränderte, sondern auch neue Kreuzformen hervorbrachte.
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STEFFEN PATZOLD
Visibilis creatura – invisibilis salus Zur Deutung der Wahrnehmung in der Karolingerzeit
Exterius igitur quod apparet, non est ipsa res, sed imago rei; mente vero quod sentitur et intelligitur, veritas rei. Ratramnus von Corbie
1. Einleitung Zwischen 806 und 823, wahrscheinlich aber um 812, stellte der Bischof Haito von Basel eine Liste von 25 capitula für die Priester seiner Diözese zusammen. Die Kapitel sollten den Geistlichen zur Mahnung dienen: Die Landpriester konnten ihnen entnehmen, wie sie die ihnen anvertraute Gemeinde „züchtig und gerecht“ zu leiten und in der Verehrung Gottes zu bestärken hatten.1 Gleich zu Beginn dieser Kapitelliste legte Haito fest, welche Texte die Priester kennen und verstehen sollten. Dazu gehörten das Vaterunser, das ‚Symbolum apostolorum‘, die Antworten der Gemeinde im Gottesdienst und das Athanasianische Glaubensbekenntnis, genauso aber auch die Sakramente der Taufe, der Firmung und der Eucharistie, die Haito als „das ‚mysterium‘ des Körpers und des Blutes des Herrn“ bezeichnete.2 Zur Kenntnis dieser Sakramente äußerte sich Haito sogar noch etwas genauer: Die Priester sollten insbesondere wissen, so forderte er, „wie in diesen ‚mysteria‘ die sichtbare Schöpfung (visibilis creatura) 1
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Haito von Basel, Capitula, ed. Peter BROMMER, MGH Capitula episcoporum 1, Hannover 1984, S. 210: Haec capitula, quae sequuntur, Haito Basilensis ecclesiae antistites et abbas coenobii, quod Augia dicitur, presbyteris suae dioceseos ordinavit, quibus monerentur, qualiter se ipsos ac plebem sibi commissam caste et iuste regere atque in religione divina confirmare deberent. – Zu Haitos Person vgl. Konrad BEYERLE, Von der Gründung bis zum Ende des freiherrlichen Klosters, in: Die Kultur der Abtei Reichenau, Bd. 1, München 1925, S. 55-212, hier S. 71-85; zur Herkunft: Michael BORGOLTE, Die Grafen Alemanniens in merowingischer und karolingischer Zeit, Sigmaringen 1986, S. 186f.; zu Haitos Einstellung zur Aachener Klosterreform von 816/17 vgl. Hans-Rudolf MEIER, Baukonzept und Klosterreform: Abt Heitos Reichenauer „Kreuzbasilika“, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 138, N.F. 99 (1990), S. 459-469, der in der Architektur der Klosterkirche in Mittelzell Bezüge zu den Reformen gesehen hat. – Zur hohen Aussagekraft der Capitula episcoporum für die Geschichte der Landgeistlichen in der Karolingerzeit vgl. jetzt Carine VAN RHIJN, Shepherds of the Lord. Priests and episcopal statutes in the Carolingian period (Cultural encounters in late antiquity and the Middle Ages 6), Turnhout-Abingdon 2007. Haito von Basel, Capitula 1-5 (wie Anm. 1), S. 210f.
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gesehen, aber dennoch das unsichtbare Heil (invisibilis salus) zum ewigen Bestand der Seele dargereicht wird, weil es im Glauben allein enthalten ist.“3 Haitos Kapitelliste ist fast ausschließlich im Zusammenhang einer kleinen Sammlung von Texten überliefert, die der Ausbildung von Landpfarrern gedient haben könnte. Sie enthält neben Texten zur Liturgie aus der Feder Amalars von Metz, Alkuins von York und Walahfrids Strabo auch das Kapitular Theodulfs von Orléans, das zu den meistkopierten Stücken seiner Gattung zählt.4 In einem solchen Kontext finden sich Haitos Vorschriften immerhin in einem Dutzend Codices tradiert,5 seine Bestimmungen waren also verhältnismäßig weit verbreitet. Im übrigen stand Haito mit seinen Vorstellungen keineswegs allein: Auch andere Bischöfe der Karolingerzeit haben in Anweisungen für ihre Priester Wert darauf gelegt, daß die Geistlichen verstanden, welche Bedeutung Taufe, Firmung und die Feier der Eucharistie hatten. Wohl zwischen 812 und 814 wollte beispielsweise Waltcaud von Lüttich überprüft wissen, wie die Landpfarrer seiner Diözese das Meßopfer darbrachten6 – und ob sie auch begriffen hatten, warum jemand nach der Taufe „durch Körper und Blut des Herrn gestärkt wird.“7 Und um noch ein weiteres Beispiel anzuführen: Ein Weißenburger Codex aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts enthält eine Reihe von Texten, die demjenigen hilfreich waren, der das Wissensniveau von Landpfarrern normieren oder überprüfen wollte. Einer dieser Texte besteht aus sieben kurzen Fragen und den passenden Antworten, die allesamt der Meßfeier und der Taufe als den wichtigsten Aufgaben eines Priesters gewidmet sind. Die dritte dieser Fragen lautet: „Wie singst Du die Messe?“ Beantwortet wird sie wie folgt: „Ich opfere das Brot im Leib des Herrn, so wie er selbst sagt: ‚Nehmet hin und eßt, dies ist mein Leib‘; ich opfere den Wein im Blut Christi, wie er selbst gesagt hat: ‚Dies ist mein Blut, das für Euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der
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Ebd. 5, S. 211: […] quomodo in eisdem mysteriis visibilis creatura videtur et tamen invisibilis salus ad aeternitatem animae subministratur, quod in sola fide continetur. Theodulf von Orléans, Erstes Kapitular, ed. Peter BROMMER, MGH Capitula episcoporum 1, Hannover 1984, S. 73-142; zu dem Text vgl. DENS., Die bischöfliche Gesetzgebung Theodulfs von Orléans, in: ZSRG kan. Abt. 60, 1974, S. 1-120; zu vier weiteren, Brommer jedoch noch unbekannten Textzeugen jetzt Rudolf POKORNY, Capitula episcoporum. Vierter Teil (MGH Capitula Episcoporum 4), Hannover 2005, S. 77-79. POKORNY (wie Anm. 4), S. 9; vgl. auch S. 78f. und S. 83 zu einer Handschrift der Capitula Haitos aus dem 11. Jahrhundert, die Brommer noch nicht gekannt hat. Waltcaud von Lüttich, Capitula 3, ed. Peter BROMMER, MGH Capitula episcoporum 1, Hannover 1984, S. 46 und c. 10, S. 47. Ebd. 1, S. 45: De ordine baptisterii, qualiter unusquisque presbiter scit vel intellegit vel qualiter primo infans caticuminus efficitur vel quid sit caticuminus, deinde per ordinem omnia, quae aguntur, id est […] cur corpore et sanguine domini confirmatur. – Die im Haupttext zitierte Formulierung übernahm Waltcaud fast wörtlich aus Karls des Großen Taufanfrage an Odilbert von Mailand, ed. Alfred BORETIUS, MGH Capitularia 1, Hannover 1883, Nr. 125, S. 247, Z. 16f.: Vel cur corpore et sanguine dominico confirmatur.
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Sünden‘“. Zwischen den Zeilen findet sich in hellerer Tinte der Hinweis: „das Brot – wie er gesagt hat: ‚Ich bin das lebendige Brot‘“.8 Die Liste einschlägiger Beispiele ließe sich leicht fortschreiben. Wie die Taufe gehörte zweifellos auch die Eucharistie zu den zentralen Themen jenes Strebens nach tieferer Verchristlichung und Seelenheil, das die Forschung als die karolingische „Reform“, „Correctio“ oder auch „Renaissance“ bezeichnet hat.9 Das richtige Verständnis zumal der Taufe und der Eucharistie war der politischen und sozialen Elite der Zeit wichtig. Denn erst diese Sakramente machten es möglich, daß die Christenheit, der populus christianus, mit Gott versöhnt wurde. Dies aber galt in der Vorstellungswelt des 9. Jahrhunderts als eine notwendige Voraussetzung für erfolgreiche irdische Herrschaft. Die kurze Beschreibung der Eucharistie, die Haito von Basel den Priestern seiner Diözese an die Hand gab, läßt freilich auch schon ein Kernproblem erkennen, das mit dem Bemühen um eine tiefere Verchristlichung des Reiches einherging. Die Eucharistie richtig zu verstehen war nicht leicht – jedenfalls sobald man genauer zu definieren suchte, was denn im einzelnen im Zuge dieses mysterium geschah: Die eine Schwierigkeit lag darin, daß sich die Kirchenväter zwar über die Eucharistie geäußert hatten, aber nicht in geschlossener Form, nicht in einem allseits anerkannten, grundlegenden Traktat; es fehlte eine kohärente Tradition, die man ohne weiteres hätte übernehmen können. Die zweite Schwie8
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Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, 91 Weiss., fol. 149v: Quomodo cantas missam? Offero panem in corpore christi . Ipso dicente . accipite et manducate . hoc est corpus meum . Offero uinum in sanguine christi . sicut ipse dixit . hic est sanguis meus qui pro uobis et pro multis effundetur in remissionem peccatorum; zwischen den Zeilen nachgetragen: panem sicut dixit . Ego sum panis uiuus. Den auf die ecclesia und die Verchristlichung ausgerichteten Charakter der Pflege der Sieben Freien Künste an Karls Hof betont zu Recht Johannes FRIED, Karl der Große, die Artes liberales und die karolingische Renaissance, in: Karl der Grosse und sein Nachwirken. 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa, hg. v. Paul L. BUTZER, Max KERNER u. W. OBERSCHELP, Turnhout 1997, S. 25-43, hier S. 36-40. – Vgl. außerdem die Überblicksdarstellungen bei Rosamond MCKITTERICK, The Carolingian Renaissance of Culture and Learning, in: Charlemagne. Empire and Society, hg. v. Joanna STORY, Manchester-New York 2005, S. 151-166 (inhaltlich fast identisch: DIES., Die karolingische Renovatio. Eine Einführung, in: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn, hg. v. Christoph STIEGEMANN u. Matthias WEMHOFF, Mainz 1999, Bd. 2, S. 668-685); Philippe DEPREUX, Ambitions et limites des réformes culturelles à l’époque carolingienne, in: Revue Historique 307, 2002, S. 721-753; sowie John J. CONTRENI, The Carolingian renaissance. Education and literary culture, in: The New Cambridge Medieval History Bd. 2, hg. v. Rosamond MCKITTERICK, Cambridge 1995, S. 709-757. – Zur Forschungsgeschichte auch Giles BROWN, Introduction: The Carolingian Renaissance, in: Carolingian Culture: Emulation and Innovation, hg. v. Rosamond MCKITTERICK, Cambridge 1994, S. 1-51 (mit der älteren Literatur). – Für die Bezeichnung als Correctio plädierte seinerzeit bekanntlich Percy Ernst SCHRAMM, Karl der Große: Denkart und Grundauffassungen – Die von ihm bewirkte „correctio“ (nicht „Renaissance“), in: HZ 198, 1964, S. 306-345.
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rigkeit lag in dem Gegenstand selbst begründet: Jede Aussage über die Eucharistie war eine Aussage über den Leib und das Blut Christi, sie berührte mithin sensible Fragen der Christologie und der Ekklesiologie.10 In diesem gefährlichen Feld galt es nun ein Modell zu entwickeln, das sowohl die widersprüchlichen Einzelaussagen der Kirchenväter zu versöhnen vermochte als auch jenes komplexe Verhältnis angemessen beschrieb, das zwischen Christus (der ganz Gott und ganz Mensch ist) einerseits und dem Brot und dem Wein andererseits besteht, die hienieden zu sehen, zu schmecken, zu fühlen, zu riechen, kurzum: mit den körperlichen Sinnen wahrzunehmen sind. Gelehrte im Frankenreich der 830er bis 860er Jahre suchten dieses Problem systematisch zu lösen. Um sich einer der Grundlagen des christlichen Glaubens zu vergewissern, diskutierten sie so detailversessen wie kontrovers über das Wesen der Eucharistie.11 Im Kern kreiste diese Debatte darum, möglichst genau den Zusammenhang zwischen dem sinnlich wahrnehmbaren Brot und Wein einerseits und den Wahrheiten des Glaubens andererseits zu erfassen. Quasi nebenbei zeigen die einschlägigen Traktate daher auch, wie vielschichtig die Zeitgenossen Wahrnehmung zu deuten wußten. Diese Deutung der Wahrnehmung in der Karolingerzeit ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Konstituierend war für sie der Unterschied zwischen der „sichtbaren Schöpfung“ (visibilis creatura) und dem „unsichtbaren Heil“ (invisibilis salus).
10 Zu den typologischen Beziehungen der Eucharistie-Feier zum Heilswerk Christi vgl. Arnold ANGENENDT, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 22000, S. 491506. 11 Diese Kontroverse ist – zumal von der Theologie – vielfach behandelt worden, in der älteren Literatur allerdings oft einseitig auf die Frage hin, in welcher Weise sich protestantische oder katholische Auffassungen vom Abendmahl in dieser frühmittelalterlichen Diskussion vorgeformt finden (Vgl. statt anderer beispielsweise den sonst durchaus lesenswerten Beitrag von M. JACQUIN, Le „De corpore et sanguine Domini“ de Pascase Radbert, in: Revue de sciences philosophiques et théologiques 8, 1914, S. 81-103, besonders S. 100f., dem es letztlich darum geht, bei Radbert bereits eine Transsubstantiationslehre avant la lettre nachzuweisen). Von diesem Ballast hat sich erst die jüngere Forschung befreit; vgl. außer dem grundlegenden, systematisierenden Werk von Henri DE LUBAC, Corpus mysticum. L’eucharistie et l’église au Moyen Âge, Paris 21949, vor allem die jüngeren Spezialdarstellungen zur Karolingerzeit bei Celia CHAZELLE, Figure, Character, and the Glorified Body in the Carolingian Eucharistic Controversy, in: Traditio 47, 1992, S. 1-36; DIES., The Crucified God in the Carolingian Era. Theology and Art of Christ’s Passion, Cambridge 2001, S. 209-238; Patricia MCCORMICK ZIRKEL, The Ninth Century Eucharistic Controversy: A Context for the Beginnings of Eucharistic Doctrine in the West, in: Worship 68, 1994, S. 2-23; Marta CRISTIANI, La controversia eucaristica nella cultura del secolo IX, in: Studi Medievali 9, 1968, S. 167-233; DIES., Tempo rituale e tempo storico. Communione cristiana e sacrificio. Le controversie eucaristiche nell’alto medioevo (Collectanea 8), Spoleto 1997, S. 77-164. – Die wahrnehmungsgeschichtlichen Fragen, die in dem vorliegenden Beitrag behandelt werden, sind bisher in der Literatur zum Eucharistiestreit nicht eigens thematisiert worden.
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Wahrnehmung und Deutung sind spätestens seit den 1990er Jahren zu zentralen Kategorien in der Geschichtswissenschaft avanciert. Die Begriffe werden keineswegs nur in der Mediävistik verwendet,12 sondern haben auch in der Forschung zur Neueren Geschichte ihren Platz.13 So differenziert aber die Ansätze im einzelnen inzwischen sind – in aller Regel gehen Studien zum Thema doch von denselben zwei Grundannahmen aus. Die erste lautet: Das Verhältnis zwischen historischer Wirklichkeit und deren Überlieferung in den „Quellen“ ist erheblich stärker perspektivisch gebrochen, als es die ältere Forschung vorausgesetzt hat. Die Quellenberichte, die der Historiker auswertet, sind das Ergebnis eines mehrstufigen Prozesses von Wahrnehmung, Deutung und Darstellung durch den Verfasser. Diese Prozesse der Interpretation eines Geschehens sind jedoch selbst Teil der Geschichte und schon deshalb ein würdiger Untersuchungsgegenstand der Geschichtswissenschaft. Und mehr noch: Während es die Überlieferung erlaubt, die Deutungen zu analysieren, wird es dem Historiker aufgrund seiner Quellenlage in den meisten Fällen nicht gelingen, die dahinterstehende Realität zu erkennen. Die zweite Annahme lautet: Die Frage nach Wahrnehmung und Deutung ist unumgänglich, wenn man die Handlungen der Akteure, die man beobachtet, erklären möchte; denn die Menschen richteten ihr Handeln nicht (allein) an der objektiv gegebenen Realität, sondern (auch) an ihren jeweiligen Überzeugungen über die Wirklichkeit aus, zu denen sie in den Prozessen von Wahrnehmung und Deutung gelangten. Bei alledem ist sich die Forschung im übrigen schon seit längerem bewußt, daß Wahrnehmung und Deutung nicht nur die Überzeugungen der Quellenverfasser formten, sondern auch diejenigen der Historiker
12 Einen Überblick über die ältere Literatur bieten Hartmut BLEUMER / Steffen PATZOLD, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittelalters, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. DENS. (Das Mittelalter. Perspektiven interdisziplinärer Mittelalterforschung 8), Berlin 2003, S. 4-22; Hans-Werner GOETZ, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: ebd., S. 23-33, hier S. 23, Anm. 1. – Zur seitdem erschienenen Literatur vgl. auch die Einleitung zu diesem Band, S. 1-10. 13 Vgl. zur Theorie beispielsweise Silvia Serena TSCHOPP, Das Unsichtbare begreifen. Die Rekonstruktion historischer Wahrnehmungsmodi als methodische Herausforderung der Kulturgeschichte, in: HZ 280, 2005, S. 39-81; als rezente Beispiele einer Anwendung auf spezifische Themata vgl. etwa Franz BRENDLE / Anton SCHINDLING, Religionskriege in der Frühen Neuzeit. Begriff, Wahrnehmung, Wirkmächtigkeit, in: Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa, hg. v. DENS., Münster 2006, S. 15-52; oder auch Peter AUFGEBAUER, „Die Erde ist eine Scheibe“. Das mittelalterliche Weltbild in der Wahrnehmung der Neuzeit, in: GWU 57, 2006, S. 427-441, der zeigt, wie sich seit dem späten 18. Jahrhundert die (unhaltbare, aber noch immer in Schulbüchern weiterverbreitete) Überzeugung ausbildete, daß man im Mittelalter gemeinhin die Erde für eine Scheibe gehalten habe.
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selbst. Johannes Fried hat diese methodische Herausforderung schon 1994 mit der Formel einer „doppelten Theoriebindung des Historikers“ beschrieben.14 In der Forschung zur Geschichte des Früh- und Hochmittelalters sind diese Überlegungen inzwischen für etliche Themenfelder in die Praxis umgesetzt worden. Derartige Studien liegen zur Weltsicht einzelner Quellenautoren vor,15 aber auch zur Wahrnehmung und Deutung von Konflikten und Kriegen,16 von Völkern17 und Fremden,18 von politischen Ordnungen19, antiken Überresten20, 14 Johannes FRIED, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. v. Jürgen MIETHKE u. Klaus SCHREINER, Sigmaringen 1994, S. 73-104. 15 Vgl. exemplarisch Hans-Werner GOETZ, Strukturen der spätkarolingischen Epoche im Spiegel der Vorstellungen eines zeitgenössischen Mönchs. Eine Interpretation der „Gesta Karoli“ Notkers von St. Gallen, Bonn 1981. 16 Hanna VOLLRATH, Konfliktwahrnehmung und Konfliktdarstellung in erzählenden Quellen des 11. Jahrhunderts, in: Die Salier und das Reich, hg. v. Stefan WEINFURTER, Bd. 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, Sigmaringen 1991, S. 279-296. 17 Hans Werner GOETZ, „Sachsen“ in der Wahrnehmung fränkischer und ottonischer Geschichtsschreiber, in: Von Sachsen bis Jerusalem. Menschen und Institutionen im Wandel der Zeiten. FS Wolfgang Giese, hg. v. Hubertus SEIBERT u. Gertrud THOMA, München 2004, S. 73-94. 18 Aus der reichen jüngeren Literatur vgl. beispielsweise Nadia Maria EL CHEIKH, Byzantium Viewed by the Arabs (Harvard Middle Eastern Monographs 36), HarvardCambridge-London 2004, die erstens beschreibt, wie sich zwischen dem 9. und dem 15. Jahrhundert die Wahrnehmung – parallel zu den politischen Veränderungen im Verhältnis zwischen Byzanz und den Arabern und politischen Umbrüchen in der arabischen Welt – wandelte, zweitens aber auch literarische Traditionen von Darstellungsmustern herausarbeitet und drittens hervorhebt, wie sehr das Bild der Byzantiner den Arabern dazu gedient habe, die eigene Identität zu schärfen. – Gerhard FOUQUET, Mit dem Blick des Fremden: Stadt und Urbanität in der Wahrnehmung spätmittelalterlicher Reise- und Stadtbeschreibungen, in: Bild und Wahrnehmung der Stadt, hg. v. Ferdinand OPLL (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 19), Linz 2004, S. 45-63, arbeitet Unterschiede zwischen der Wahrnehmung von Städten durch (italienische) Humanisten und durch andere Reisende des 15./16. Jahrhunderts heraus; Detlev KRAACK, Die Wahrnehmung und die Überschreitung von Grenzen im hochmittelalterlichen Nordelbien, in: Grenzen in der Geschichte Schleswig-Holsteins und Dänemarks, hg. v. Martin RHEINHEIMER, Neumünster 2006, S. 65-103, zeichnet das Bild nach, das Helmold von Bosau von heidnischen Slawen entwarf. – Eher deskriptiv bleibt Andreas MOHR, Das Wissen über die Anderen. Zur Darstellung fremder Völker in den fränkischen Quellen der Karolingerzeit (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 7), Münster-New York-München-Berlin 2005. 19 Zum Staat vgl. Hans-Werner GOETZ, Die Wahrnehmung von ‚Staat‘ und ‚Herrschaft‘ im frühen Mittelalter, in: Staat im frühen Mittelalter, hg. v. Stuart AIRLIE, Walter POHL u. Helmut REIMITZ (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Denkschriften 334 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006, S. 3958, mit weiterer Literatur.
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der Natur21 und vielem anderen mehr.22 Allerdings hat die Geschichtswissenschaft noch wenig danach gefragt, wie denn Menschen während des Früh- und Hochmittelalters selbst ihre Wahrnehmung und Deutung und deren Verhältnis zur Wirklichkeit wahrgenommen und gedeutet haben23. Unwichtig ist diese Frage für eine anthropologisch interessierte Mediävistik nicht: Sie verspricht Aufschluß darüber, welche Interpretationsspielräume wir den Akteuren zusprechen müssen; und sie läßt erkennen, welcher Grad an Reflexion über die Wirklichkeit hinter den Handlungen der Akteure zu vermuten ist. 20 Dazu Lukas CLEMENS, Tempore Romanorum constructa. Zur Nutzung und Wahrnehmung antiker Überreste nördlich der Alpen während des Mittelalters (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 50), Stuttgart 2003, demzufolge bis ins 12. Jahrhundert auch nördlich der Alpen in den Städten antike Überreste allgegenwärtig und leicht wahrnehmbar waren; damit einher ging ein Wissen der Zeitgenossen über die Funktion der Gebäude. Schon seit dem 7. Jahrhundert, stark zunehmend dann seit der Karolingerzeit, finde sich allerdings bei den Zeitgenossen die Wahrnehmung dieser Monumente als Überreste einer vergangenen Zeit. 21 Siegfried BODEMANN, Die rot-schwarz-weiße Wüste des Felix Fabri. Wahrnehmung und Wissenstradition im Spätmittelalter, in: Physica et historia. FS für Andreas Kleinert zum 65. Geburtstag, hg. v. Susan SPLINTER u.a. (Acta Historica Leopoldina 45), Halle (Saale) 2005, S. 51-63, zeigt, daß Felix Fabri die Wüsten Sinais mit Farben wahrnahm, die seiner wissenschaftlichen Vorprägung geschuldet waren – nämlich nur in Rot, Schwarz und Weiß, also Farben, die für extreme Hitze und extreme Kälte standen. – Zur Naturwahrnehmung in der Karolingerzit, insbesondere in den Gesta der Äbte von St-Wandrille und in Nithards Historien, vgl. Adelheid KRAH, Wahrnehmung und Funktionalisierung der Natur im Krieg aus der Perspektive des 9. Jahrhunderts, in: Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen. Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.-17. März 2001, hg. v. Peter DILG, Berlin 2003, S. 189-203; Maximilian DIESENBERGER, Wahrnehmung und Aneigung der Natur in den Gesta abbatum Fontanellensium, in: Text – Schrift – Codex. Quellenkundliche Arbeiten aus dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung, hg. v. Christoph EGGER u. Herwig WEIGL (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 35), Wien-München 2000, S. 9-33. 22 Vgl. etwa Hans-Werner GOETZ, Textualität, Fiktionalität, Konzeptionalität. Geschichtswissenschaftliche Anmerkungen zur Vorstellungswelt mittelalterlicher Geschichtsschreiber und zur Konstruktion ihrer Texte, in: Mittellateinisches Jahrbuch 41, 2006, S. 1-21; oder das Resümee von Michael JUCKER, Kleidung und Körper: Wahrnehmung symbolischer Ordnung im spätmittelalterlichen Gesandtschaftswesen, in: Kleidung und Repräsentation in Antike und Mittelalter, hg. v. Ansgar KÖB u. Peter RIEDEL (MittelalterStudien 7), München 2005, S. 91-94. 23 Aus literaturwissenschaftlicher Sicht dazu Hans-Jürgen SCHEUER, Die Wahrnehmung innerer Bilder im carmen Buranum 62. Überlegungen zur Vermittlung zwischen mediävistischer Medientheorie und mittelalterlicher Poetik, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter (wie Anm. 12), S. 121-136; zumindest implizit ist die Frage auch dort virulent, wo Literaturwissenschaftler nach Strategien in Texten oder Bildern fragen, mit denen Imagination gesteuert und Unsichtbares (wie etwa Gefühle) visualisiert werden konnten: Vgl. dazu jetzt die Beiträge in dem Band: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter, hg. v. Kathryn STARKEY und Horst WENZEL, Stuttgart 2007.
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Damit gewinnt die erste frühmittelalterliche Debatte über das Wesen der Eucharistie aber zusätzlich auch an Interesse für die jüngeren Forschungen zu Ritualen und symbolischen Handlungen im Mittelalter. Umstritten ist in diesem Feld nicht zuletzt, wie wirksam und leistungsfähig Rituale bei der Herstellung und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung waren: Wie intensiv dachten diejenigen, die ein Ritual durchführten, selbst über dessen Ablauf und dessen Bedeutungen nach? Welche Wirkungen schrieben sie selbst ihrem Handeln zu? Vor allem aber: Erfüllten Rituale, ohne daß die Akteure sich dessen bewußt gewesen wären, die Funktion, die Ordnung zu stabilisieren?24 Diese Fragen lassen sich erst dann beantworten, wenn wir mehr über die Art und Weise wissen, in der die Akteure selbst die Wahrnehmung der Wirklichkeit deuteten. Die Feier der Eucharistie zählte zweifellos zu den am häufigsten vollzogenen Ritualen der Karolingerzeit (auch wenn sie von der neueren mediävistischen Ritualforschung mit Nichtbeachtung gestraft worden ist). Zugleich aber war die karolingerzeitliche Kontroverse über das Wesen der Eucharistie auch eine Debatte über das Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeit. Das Beispiel erlaubt uns daher zweierlei zugleich: die frühmittelalterliche Deutung von Wahrnehmung genauer zu beschreiben, und daraus zusätzlich noch Konsequenzen abzuleiten für die Analyse frühmittelalterlicher Rituale.
2. Die Kontroverse über die Eucharistie in der Karolingerzeit Die Diskussion über die Eucharistie wurde eröffnet durch den Mönch und Klosterlehrer Paschasius Radbertus in Corbie.25 Sein Traktat ‚De corpore et sanguine Domini‘26 entstand in den Jahren unmittelbar nach der ersten Rebellion gegen Ludwig den Frommen, nachdem der Abt Wala von Corbie aus dem innersten Zirkel der Macht bei Hof verstoßen und zunächst an den Genfer See, dann nach Noirmoutier, schließlich in ein unbekanntes Kloster östlich des Rheins verwiesen worden war – das heißt in der Zeit zwischen Februar 831 und Som24 Angestoßen hat diese Debatte Philippe BUC, The Dangers of Ritual, Princeton 2001; vgl. dazu vor allem die Rezension von Alexandra WALSHAM, in: Past & Present 180, 2003, S. 277-287, sowie Geoffrey KOZIOL, The Dangers of Polemic: Is Ritual Still an Interesting Topic of Historical Study, in: Early Medieval Europe 11, 2002, S. 367-388; Buc hat seinen Kritikern geantwortet: DERS., The monster and the critics: a ritual reply, in: Early Medieval Europe 15, 2007, S. 441-452. 25 Zu seiner Person bleibt grundlegend: Henri PELTIER, Pascase Radbert. Abbé de Corbie. Contribution à l’étude de la vie monastique et de la pensée chrétienne aux temps carolingiens, Amiens 1938, S. 28-92; vgl. knapp auch E. Ann MATTER, The Lamentations Commentaries of Hrabanus Maurus and Paschasius Radbertus, in: Traditio 38, 1982, S. 137-163, hier S. 149f. mit Anm. 51f.; zum Kloster Corbie: David GANZ, Corbie in the Carolingian Renaissance (Beihefte der Francia 20), Sigmaringen 1990 (hier besonders S. 31-33 zu Radberts Person). 26 Paschasius Radbertus, De corpore et sanguine Domini, ed. Beda PAULUS, CCL cont. med. 16, Turnhout 1969, S. 1-131.
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mer 832.27 Gewidmet war das Werk dem Abt Warin von Corvey, einem ehemaligen Schüler Radberts. Über den Zweck seines Textes äußerte sich der gelehrte Verfasser ausdrücklich: Demnach war das Buch im Auftrag Warins entstanden; gedacht war es als Hilfe für die Belehrung derjenigen, quos necdum unda liberalium attigerat litterarum, und deshalb auch sprachlich bewußt einfach gehalten.28 Seine 22 Kapitel bauen nicht zwingend in einer großen Argumentation aufeinander auf, sondern handeln in eher lockerer Folge die ‚frequently asked questions‘ zum Thema ab. Auf Kritik scheint Radberts Werk zunächst nicht gestoßen zu sein. Als der Gelehrte gut zehn Jahre später, Ende 843 oder Anfang 844, in Corbie selbst zum Abt aufgestiegen war29, überarbeitete er seinen Text nur leicht: Er ergänzte einige Berichte über eucharistische Wunder und stellte seiner Schrift ein neues Widmungsgedicht sowie eine neue Vorrede voran, nunmehr gerichtet an Karl den Kahlen. In dieser Form dedizierte der Abt den Traktat dann dem jungen westfränkischen König, wohl zu Ostern 844.30 Vielleicht aus denselben Monaten, jedenfalls aber auch aus Corbie stammt eine zweite einschlägige Abhandlung: Ratramnus, der Nachfolger Radberts in der Leitung der dortigen Klosterschule, legte seinerseits – im Auftrag Karls des Kahlen – seine Deutung der Eucharistie schriftlich nieder.31 Obgleich die beiden Gelehrten in demselben Kloster lebten, hatten sie in dieser Frage unterschiedliche Auffassungen. Interessanterweise nahmen sie in ihren Werken jedoch nirgends ausdrücklich aufeinander Bezug. In welchem Verhältnis Radberts Zweitauflage und der neue Traktat des Ratramnus zueinander standen, ist schon deswegen nicht mehr mit Sicherheit zu klären und in der Forschung umstritten. 27 Zur Datierung vgl. ebd., Prolog, S. 3, Z. 5f.; vgl. außerdem Radberts Klage, ebd., S. 4, über die mundi turbines, praesertim dum noster suis discordiarum anfractibus pene labitur orbis, effusa super magnates contentione imperii diuino arbitrio, quorum lite multum diuque concussus tandem occulta quae a principio per partes hinc inde concreuerant, delictorum habenis ubique concupiscentiarum refusis, iam sua summos feriunt fulgora montes, ita ut nihil nostras nisi confusio undique per singula horarum spatia repercutiat aures; zu Walas Exil: Lorenz WEINRICH, Wala – Graf, Mönch und Rebell. Die Biographie eines Karolingers (Historische Studien 386), Lübeck 1963, S. 75-78; sowie jetzt Johannes FRIED, Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and its Original Meaning (Millenium-Studien 3), Berlin-New York 2007, S. 94f. – Nicht zwingend scheint mir Frieds Hypothese zu sein, das ‚Constitutum Constantini‘ sei (ebenso wie eine frühe Stufe der Pseudoisidorischen Dekretalen) in der Umgebung Walas, wenn nicht sogar unter dessen persönlicher Mitwirkung, bald nach 831 in enger Verbindung zu Hilduin von St-Denis geschaffen worden. 28 Vgl. Paschasius Radbertus, De corpore et sanguine Domini (wie Anm. 26), Prolog, S. 4f., Z. 36-45. 29 PELTIER (wie Anm. 25), S. 65. 30 Dazu PAULUS (wie Anm. 26), p. X; Nikolaus STAUBACH, Rex christianus. Hofkultur und Herrschaftspropaganda im Reich Karls des Kahlen, Teil 2: Die Grundlegung der „religion royale“ (Pictura et poësis 2), Köln-Weimar-Wien 1993, S. 27-32. 31 Ratramnus, De corpore et sanguine Domini, ed. J. N. BAKHUIZEN VAN DEN BRINK, Amsterdam 1954; zur Person des Verfassers vgl. Jean-Paul BOUHOT, Ratramne de Corbie. Histoire littéraire et controverses doctrinales, Paris 1976, S. 19-23 und S. 69-75.
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Möglicherweise regte Karl der Kahle den Mönch Ratramnus erst dann zur Abfassung seines Traktats an, als Radbert sein älteres Werk bereits überarbeitet und selbst dem König gewidmet hatte32 – vielleicht sogar erst erheblich später, um die Mitte der 850er Jahre.33 Denkbar ist aber auch, daß Radbert und Ratramnus parallel und unabhängig voneinander im Auftrag Karls an ihren Texten arbeiteten.34 Und ebenfalls nicht auszuschließen ist, daß Radbert – gerade umgekehrt – mit seiner zweiten, überarbeiteten Fassung auf die Schrift des Ratramnus reagierte.35 Die Beurteilung der beiden identisch betitelten Werke hat sich mittlerweile etwas gewandelt. Die ältere Forschung ging noch von einem strikten Gegensatz zwischen den beiden Positionen aus36, der sich durch eine verschiedenartige Rezeption von Kirchenväterliteratur erkläre37. Inzwischen ist dagegen betont worden, daß es zwar gewichtige philosophische Unterschiede zwischen Radbert und seinem Schüler gab,38 aber auch gemeinsame Punkte zu finden sind und wohl nicht mit einer Feindschaft zwischen den beiden Autoren zu rechnen ist.39 32 So die klassische Sicht, etwa noch bei H. JORISSEN, Wandlungen des philosophischen Kontextes als Hintergrund der frühmittelalterlichen Eucharistiestreitigkeiten, in: Streit um das Bild. Das Zweite Konzil von Nizäa (787) in ökumenischer Perspektive, hg. v. Josef WOHLGEMUT (Studium Universale 9), Bonn 1989, S. 97-111, hier S. 97. – BAKHUIZEN VAN DEN BRINK (wie Anm. 31), S. 24, hielt es für möglich, aber nicht beweisbar, daß Karl mit seinem Auftrag an Ratramnus direkt auf die Vorlage der überarbeiteten Fassung durch Radbert reagierte. 33 So CHAZELLE, God (wie Anm. 11), S. 211-213; DIES., Exegesis in the Ninth-Century Eucharist Controversy, in: The Study of the Bible in the Carolingian Era, hg. v. DERS. / Burton VAN NAME EDWARDS (Medieval Church Studies 3), Turnhout 2003, S. 167-187, hier S. 168f., die annimmt, daß Gottschalk von Orbais den Anstoß zur Kontroverse über die Eucharistie gegeben habe, der mit seiner Stellungnahme zum Thema zugleich auch seinen Streit mit Hinkmar von Reims über die Prädestination fortführte. 34 So STAUBACH (wie Anm. 30), S. 33. 35 So die These von BOUHOT (wie Anm. 31), S. 83-85, der statt dessen die Kontroverse zwischen Amalar und Florus von Lyon als Hintergrund des Auftrags Karls des Kahlen an Ratramnus sieht, ein Werk über die Eucharistie zu verfassen; vgl. ebd., S. 85-87. 36 Vgl. als Beispiel für diese Sicht John F. FAHEY, The eucharistic teaching of Ratramn of Corbie (Pontificia facultas theologica seminarii sanctae Mariae ad lacum. Dissertationes ad Lauream 22), Mundelein, Illinois 1951, S. 4-11, der auch politische Differenzen zwischen Ratramnus und Radbert in bezug auf Karl den Kahlen vermutet. 37 Vgl. dagegen zu Recht JORISSEN (wie Anm. 32), S. 100. 38 Dazu JORISSEN (wie Anm. 32), S. 108f., der sogar von „zwei geistige[n] Welten“ spricht, weil Radbert – anders als Ratramnus – „völlig außerhalb des Horizonts des (neu)platonisch-augustinischen Denkens steht“ und daher auch nicht mehr, wie Ratramnus, von einer Teilhabe des Bildes an der Wirklichkeit des Abgebildeten ausgehen könne. 39 Vgl. dazu BOUHOT (wie Anm. 31), S. 54-56 und S. 69 (hier aber im Hinblick auf die Frage, ob Maria Christus auf normalem Wege – also wirklich – geboren habe, oder in anderer Weise); zur Eucharistie-Debatte selbst vgl. Willemien OTTEN, Between Augustian Sign and Carolingian Reality: The Presence of Ambrose and Augustine in the Eucharistic Debate between Paschasius Radbertus and Ratramnus of Corbie, in: Nederlands Archief
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Fest steht immerhin, daß Radbert später, gegen Ende seines Lebens, noch zweimal auf das Thema zurückgekommen ist und seine Position verteidigt hat, nämlich zum einen in seinem großen Matthäuskommentar,40 zum anderen in der ersten Hälfte der 850er Jahre in einem Brief an einen seiner Schüler namens Fredugard, der als Mönch in St-Riquier lebte.41 Einen zweiten Schauplatz der Debatte um das rechte Verständnis der Eucharistie bildete noch in den 830er Jahren das Erzbistum Lyon. Weit klarer als für die Texte aus Corbie läßt sich für diese etwas frühere Lyoner Kontroverse ein politischer Hintergrund erkennen: Da sich der dortige Erzbischof Agobard bei der Rebellion gegen Kaiser Ludwig den Frommen 833 als einer der Wortführer hervorgetan hatte, mußte er nach dem Ende des Aufstands fliehen. Er begab sich zu Lothar I. nach Italien.42 In Lyon wurde derweil als Sachwalter für das Erzbistum ein Geistlicher namens Amalar engagiert: Der hatte zuvor bereits eine Zeitlang als Erzbischof von Trier amtiert und noch im Auftrag Karls des Großen eine Gesandtschaftsreise nach Byzanz unternommen.43 Dieser neue Mann des Kaisers auf der sedes von Lyon stieß nun aber zumindest bei Teilen des dortigen Klerus auf Widerstand; als dessen Führer etablierte sich bald der Diakon Florus, der von 835 an eifrig bemüht war, Amalar wieder aus Lyon zu verdrängen44. Dabei wußte Florus es geschickt auszunutzen, daß Amalar eine
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voor Kerkgeschiedenis 80, 2000, S. 137-156; sowie DERS., Carolingian Theology, in: The Medieval Theologians, hg. v. G. R. EVANS, Oxford 2001, S. 65-82, hier S. 73. Paschasius Radbertus, Expositio in Matheo libri XII, ed. Beda PAULUS, 3 Bde., CCL cont. med. 56-56B, Turnhout 1984. – Die ersten vier Bücher waren 831 abgeschlossen; der Rest entstand erst Anfang der 850er Jahre (vgl. ebd., p. VIII); die für die EucharistieLehre einschlägige Passage findet sich in diesen späteren Büchern – zu Matth. 26, 26ff., Bd. 3, lib. XII, S. 1288-1298. – Zu dem Kommentar bleibt wichtig Anton E. SCHÖNBACH, Über einige Evangelienkommentare des Mittelalters (Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademien der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-historische Klasse 146, Abh. 4A), Wien 1903, S. 142-173. Paschasius Radbertus, Epistola ad Fredugardum, ed. Beda PAULUS, CCL cont. med. 16, Turnhout 1969, S. 135-173. Zum Leben Agobards bleibt grundlegend Egon BOSHOF, Erzbischof Agobard von Lyon. Leben und Werk (Kölner Historische Abhandlungen 17), Köln-Wien 1969, hier S. 261263, zu seiner Flucht aus Lyon. Zu Amalars Biographie vgl. Wolfgang STECK, Der Liturgiker Amalarius – eine quellenkritische Untersuchung zu Leben und Werk eines Theologen der Karolingerzeit (Münchener theologische Studien 35), St. Ottilien 2000, hier S. 7f. und S. 11 (zur Zeit in Trier und zu seiner Reise nach Byzanz); dadurch überholt sind die älteren Überblicksdarstellungen bei Allen CABANISS, The Personality of Amalarius, in: Church History 20,3, 1951, S. 3441; DERS., Amalarius of Metz, Amsterdam 1954; Eleanor Shipley DUCKETT, Carolingian Portraits. A Study in the ninth century, Ann Arbor 1962, S. 92-120. Dazu und zum Folgenden ist grundlegend Klaus ZECHIEL-ECKES, Florus von Lyon als Kirchenpolitiker und Publizist. Studien zur Persönlichkeit eines karolingischen „Intellektuellen“ am Beispiel der Auseinandersetzung mit Amalarius (835-838) und des Prädestinationsstreits (851-855) (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter 8), Stuttgart 1999.
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allegorische Auslegung der Messe verfaßt hatte, den sogenannten ‚Liber officialis‘.45 Darin war Amalar unter anderem zu dem Ergebnis gelangt, die drei Handlungen des Priesters im Rahmen der Eucharistie-Feier verwiesen auf das triforme corpus Christi.46 Eine solche Formulierung war gefährlich: Sie tangierte die Christologie, und tatsächlich gelang es Florus schon 838, die Aussagen, die Amalar in diesem Zusammenhang schriftlich formuliert hatte, auf einer Synode in Quierzy als häretisch verurteilen zu lassen.47 (Dem weiteren Erfolg des Amalarschen ‚Liber officialis‘ tat das übrigens keinen Abbruch). Wenn Florus heftig gegen Amalars Auffassung der Eucharistie polemisierte, diente das also in erster Linie dem Kampf gegen den ungeliebten, von außen aufgezwungenen Bistumsverwalter48; gleichwohl bleibt auch die Argumentation, mit der Florus ja letztlich Erfolg hatte, aufschlußreich für die Frage nach der Deutung menschlicher Wahrnehmung im 9. Jahrhundert. Spätestens seit etwa 850 stießen die Thesen des Paschasius Radbertus außerhalb des Klosters Corbie auf Kritik. So verfaßte der Mönch Gottschalk von Orbais, obgleich bereits wegen seiner Prädestinationslehre in Klosterhaft einsitzend49, nach 849 zwei Traktate über die Eucharistie, in denen er Radberts Posi45 Amalar von Metz, Liber officialis, ed. Johannes Michael HANSSENS, Amalarii episcopi opera liturgica omnia, Bd. 2 (Studi e testi 139), Città del Vaticano 1948. 46 Ebd. lib. 3, c. 35,1-2, S. 367f.: Triforme est corpus Christi, eorum scilicet qui gustaverunt mortem et morituri sunt. Primum videlicet sanctum et immaculatum, quod assumptum est ex Maria virgine; alterum, quod ambulat in terra; tertium, quod iacet in sepulchris. Per particulam oblatae inmissae in calicem ostenditur Christi corpus quod iam resurrexit a mortuis; per comestam a sacerdote vel a populo ambulans adhuc super terram; per relictam in altari iacens in sepulchris. Vgl. Marta CRISTIANI, Il „Liber officialis“ di Amalario di Metz e la dottrina del „corpus triforme“. Simbolismo liturgico e mediazioni culturali, in: Culto cristiano. Politica imperiale carolingia, 9-12 ottobre 1977 (Covegni del Centro di studi sulla spiritualità medievale. Università degli studi di Perugia 18), Todi 1979, S. 121-167, hier S. 150-165. 47 Zu der Synode vgl. Wilfried HARTMANN, Die Synoden der Karolingerzeit im Frankenreich und in Italien (Konziliengeschichte Reihe A: Darstellungen), Paderborn-MünchenWien-Zürich 1989, S. 194f.; vgl. außerdem den Bericht über die Absetzung Amalars in Quierzy, mit dem sich Florus 838 an die Geistlichkeit von Lyon wandte, ed. Albert WERMINGHOFF, MGH Concilia 2, Hannover-Leipzig 1906, Nr. 57 C, S. 778-782. 48 Dazu die eingehende Analyse bei ZECHIEL-ECKES (wie Anm. 44), S. 28-59. 49 Zu Gottschalks Person und Werk vgl. Fidel RÄDLE, Gottschalk der Sachse, in: Verfasserlexikon2 3, 1981, Sp. 189-199; Klaus VIELHABER, Gottschalk der Sachse (Bonner Historische Forschungen 5), Bonn 1956, hier S. 13-16 zum Lebensweg; Jürgen WEITZEL, Die Normalität als Frage an das Schicksal des Gottschalk von Orbais, in: Religiöse Devianz. Untersuchungen zu sozialen, rechtlichen und theologischen Reaktionen auf religiöse Abweichung im westlichen und östlichen Mittelalter, hg. von Dieter SIMON (Ius commune, Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 48), Frankfurt/Main 1990, S. 211-229; Mayke DE JONG, In Samuel’s Image. Child oblation in the Early Medieval West (Brill’s Studies in Intellectual History 12), Leiden-New York-Köln 1996, S. 77-91; zur Kontroverse über die Prädestination und zu Gottschalks Position in dieser Frage vgl. David GANZ, The Debate on Predestination, in: Charles the Bald. Court and Kingdom, hg. v. Margaret T. GIBSON u. Janet L. NELSON, 2., durchges. Aufl., Aldershot 1990, S.
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tion ablehnte.50 Der Erzbischof Hrabanus von Mainz – als Fuldaer Abt zuvor Gottschalks Lehrer – äußerte sich ebenfalls kritisch zu Radberts Auffassung, allerdings wohl mit anderen Argumenten als Gottschalk; Hrabans Traktat zum Thema ist zwar verloren, doch kennen wir eine kurze Stellungnahme zur Eucharistie, mit der der Erzbischof zwischen 853 und 856 auf eine Nachfrage seines Amtsbruders Heribald von Auxerre antwortete.51 Der Erzbischof Hinkmar von Reims wiederum verteidigte in den 850er und 860er Jahren gleich in mehreren seiner Schriften die Kernpunkte der Radbertschen Lehre.52 Dabei wiederholte er allerdings über weite Strecken im Wortlaut Väterliteratur; durch neue Gedanken hat er die Debatte nicht bereichert. Schon die knappe Übersicht über die Kontroverse zeigt eines sehr deutlich: Die Frage der Eucharistie ist um die Mitte des 9. Jahrhunderts im Frankenreich vielerorts und in großer Intensität erörtert worden – in Corbie, Corvey und StRiquier, in Orbais und Reims, aber auch am Hof Karls des Kahlen, in Mainz und Auxerre, in Lyon und auf der Synode von Quierzy. Die Liste ließe sich sogar noch verlängern: Adrevald von Fleury etwa stellte eine Sammlung einschlägiger Väterzitate zusammen,53 um Thesen zu widerlegen, die Johannes Scotus Eriugena über die Eucharistie aufgestellt hatte; auch dessen Schrift ist jedoch verloren.54 Für die Zeitgenossen der Jahre zwischen 830 und 860, das belegt die hohe Zahl von Texten, war das rechte Verständnis der Eucharistie von erheblicher Bedeutung.
2.1. Die Position Radberts Strittig war in der Kontroverse zunächst und vor allem die Frage, ob sich während der Meßfeier das Brot und der Wein in eben den Körper und genau das Blut Christi verwandelten, mit denen Christus von der Jungfrau Maria geboren worden war und am Kreuz gelitten hatte. Radbert bejahte das: „Genau das Fleisch, das aus Maria geboren worden ist, gelitten hat am Kreuz, auferstanden ist aus dem Grab: eben das ist es, und deshalb ist es Christi Fleisch, das ‚für das
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283-302; D. E. NINEHAM, Gottschalk of Orbais: Reactionary or precursor of the reformation?, in: Journal of Ecclesiastical History 40, 1989, S. 1-18. Gottschalk, De corpore et sanguine Domini, ed. D. C. LAMBOT, Œuvres théologiques et grammaticales de Godescalc d’Orbais, Louvain 1945, S. 324-335 und (nur fragmentarisch überliefert) S. 335-337. Hrabanus Maurus, Epistola 56, ed. Ernst DÜMMLER, MGH Epp. 5, Berlin 1899, S. 509514, hier c. 33, S. 513f.; die von Hraban ebd., S. 513, Z. 27f., erwähnte, dem Abt Eigil von Prüm gewidmete Schrift zum Thema ist nicht überliefert. Zu Hinkmars Schriften und seiner Position in der Debatte an der Seite Radberts vgl. CHAZELLE, God (wie Anm. 11), S. 215-225. Adrevald von Fleury, De corpore et sanguine Christi, MIGNE PL 124, Paris 1879, Sp. 947-954. Dazu CHAZELLE, God (wie Anm. 11), S. 211f.
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Heil der Welt‘ noch heute dargebracht wird.“55 Daß dieses mysterium möglich war, daran wollte Radbert nicht zweifeln: Denn Gott hatte ja das Wesen aller Dinge aus dem Nichts erschaffen; und daher war er zweifellos auch fähig, das Wesen der einmal geschaffenen Dinge wieder zu verändern, also Brot und Wein in Christi wahres Fleisch und Blut zu verwandeln. Daß aber eine solche Wandlung in der Tat bei jeder Feier der Eucharistie statthatte, sah der Klosterlehrer aus Corbie im Wortlaut der Bibel belegt: Christus selbst sei die Wahrheit; deshalb schien es Radbert schlechterdings unvorstellbar, daß die Einsetzungsworte – „dies ist mein Leib“, „dies ist mein Blut“ – nicht der Wahrheit entsprechen könnten.56 Allerdings zwang diese Ausgangsthese Radbert dazu, das Verhältnis zwischen dem Geschehen, das für die Menschen sinnlich wahrnehmbar war, einerseits und dem Heilsgeschehen andererseits genauer zu erklären. Denn erstens veränderten sich ja Brot und Wein für Augen, Mund und Nase nicht in der geringsten Weise während der Meßfeier (einmal abgesehen von jenen eucharistischen Wundern, die Radbert als Beleg seiner These anzuführen wußte57). Zweitens war zu erläutern, wie denn der eine, wahre, unteilbare, historische Leib Christi so oft von neuem und an so vielen Orten gleichzeitig den Gläubigen dargebracht werden konnte, ohne zu vergehen.58 Und drittens schließlich mußte Radbert darlegen, warum Christus selbst die Eucharistie-Feier als eine Handlung bezeichnet hatte, die „zu seinem Gedächtnis“ vollzogen werden solle; zu klären war deshalb, in welchem Verhältnis zueinander einerseits der memoriale Zeichencharakter von Brot und Wein und andererseits deren wesenhafte Verwandlung bei der Eucharistiefeier standen. Um diesen drei Punkten gerecht zu werden, entwickelte Radbert eine komplexe Deutung. Dazu dachte er in eigenständiger Weise die verstreuten und zum Teil auch in sich widersprüchlichen Aussagen der Kirchenväter weiter, und zwar vor allem einschlägige Bemerkungen des Augustinus und des Ambrosius (sowie Aussagen in einem Text, der fälschlich unter dem Namen Augustins verbreitet war).59 Bei aller Vielschichtigkeit war die so gewonnene Deutung – das betonte Radbert ausdrücklich – keineswegs nur für die intellektuelle Elite seiner Zeit gedacht. Ganz im Gegenteil: Quod hoc mysterium Christi nullus fidelium debeat ignora-
55 Paschasius Radbertus, De corpore et sanguine Domini 1 (wie Anm. 26), S. 15, Z. 51-55: Et ut mirabilius loquar, non alia plane, quam quae nata est de Maria et passa in cruce et ressurexit de sepulchro. Haec, inquam, ipsa est et ideo Christi est caro quae pro mundi uita adhuc hodie offertur, et cum digne percipitur, uita utique aeterna in nobis reparatur. 56 Ebd. 1, S. 18; vgl. CHAZELLE, Exegesis (wie Anm. 33), S. 173. 57 Vgl. Paschasius Radbertus, De corpore et sanguine Domini 14 (wie Anm. 26), S. 85-92. 58 Vgl. dazu auch Patricia MCCORMICK, „Why should it be necessary that Christ be immolated daily?“ – Paschasius Radbertus on daily eucharist, in: ABR 47, 1996, S. 240-259, hier besonders S. 247-252. 59 Zu Radberts Vorlagen vgl. PAULUS (wie Anm. 26), p. VIII sq.
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re, so forderte Radbert gleich im zweiten Kapitel seines Traktats.60 Denn nur wer die Eucharistie verstand, konnte des Heils teilhaftig werden, das durch den Empfang des Leibes und Blutes Christi vermittelt wurde. Hatte Haito von Basel um 812 gemahnt, jeder Priester solle wissen, was bei dem Sakrament der Eucharistie geschah, so hielt Radbert sogar ein Wissen aller Christen über das corpus Christi für heilsnotwendig – und verfaßte ein Lehrbuch zum Thema, das an Klosterschüler in Sachsen gerichtet war. Sein Buch hatte Erfolg: Mehr als 120 Kopien des Textes sind noch heute bekannt.61 Schon im zweiten Kapitel seines Traktats kam Radbert auf die fünf Sinne zu sprechen. Sie allein, so betonte er hier, konnten dem mysterium der EucharistieFeier keineswegs gerecht werden. Vielmehr hatte der Gläubige die fünf Sinne seines Körpers (quinque sensus corporis) in geistiger Weise (spiritaliter) auf das innerlich Wahrnehmbare hin auszurichten (intus ad intelligibilia … convertere). Denn nur dann, so Radbert, wenn die Menschen dieses innerlich Wahrnehmbare auf die rechte Weise schmecken bzw. verstehen (recte sapere) und richtig empfangen bzw. geistig aufnehmen (recte percipere), nur dann kann der Heilige Geist die menschlichen Sinne überhaupt dazu in die Lage versetzen, dieses innerlich Wahrnehmbare auch aufzunehmen (ad ea percipienda instruit). Nur in diesem Falle nämlich führt der Heilige Geist den Geschmackssinn, den Sehsinn, den Geruchssinn und den Tastsinn zu den verborgenen Bedeutungen der Eucharistie (ad mistica) – „so daß sie [sc. die Sinne] nichts anderes darin wahrnehmen (sentire) als Göttliches, nichts als Himmlisches.“62 Radbert nutzt an dieser Stelle demnach die Doppelbedeutung der Wörter „sapere“ und „percipere“, um zwei verschiedene Prozesse zueinander in Parallele zu setzen: den körperlichen Vorgang der sinnlichen Wahrnehmung und Aufnahme von Brot und Wein einerseits; und die geistige, innerliche Wahrnehmung der verborgenen Bedeutung, jenes mysterium also, das allein zum Heil führt. Voraussetzung dafür, daß sich dieser zweite, entscheidende Wahrnehmungsprozeß vollzog, war ein korrektes Vorwissen des Gläubigen über das mysterium der Eucharistie, das heißt über die verborgene, der unmittelbaren körperlichen Sinneswahrnehmung entzogene Wandlung von Brot und Wein in das wahre Fleisch und das wahre Blut Christi. Darauf aufbauend, konnte Radbert im dritten Kapitel seines Traktats definieren, was Sakramente seien. Demnach lag ein Sakrament dann vor, „wenn eine sichtbare Handlung (res gesta uisibilis) etwas ganz anderes auf unsichtbare
60 Paschasius Radbertus, De corpore et sanguine Domini 2 (wie Anm. 26), S. 20, Z. 1f.; nach PAULUS (wie Anm. 26), p. XL, hat schon Radbert selbst die Überschriften zu den 22 capitula gefunden. 61 PAULUS (wie Anm. 26), p. XII. 62 Paschasius Radbertus, De corpore et sanguine Domini 2 (wie Anm. 26), S. 22, Z. 48-58.
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Weise bewirkt – etwas, das man gottgefällig empfangen muß.“63 Die Etymologie des Wortes „sacramentum“ erklärte Radbert entsprechend auf zweierlei Weise: Es leite sich entweder von „secretum“ her, da ja Gott in der sichtbaren Sache durch die körperliche Gestalt etwas darüber Hinausgehendes innerlich und heimlich, im Verborgenen bewirke. Oder es sei von dem Wort „consecratio“ abgeleitet, da ja der Heilige Geist die verborgene Wirkung der Sakramente unter der äußeren Hülle des Sichtbaren für das Seelenheil der Gläubigen hervorbringe. 64 Zu den derart definierten Sakramenten gehörten nach Radberts Meinung allerdings nicht nur Taufe, Firmung und Eucharistie, sondern auch der Eid in der Rechtswelt, die Menschwerdung Christi, ja letztlich sogar alle verborgenen Bedeutungen der Heiligen Schrift.65 Nimmt man diese Ausführungen ernst, dann wird man in Radberts Versuch, das Wesen des Sakraments zu deuten, weit mehr sehen müssen als eine theologische Spezialuntersuchung. Radbert bemühte sich offensichtlich, ein Problem exakter zu erfassen, das ihm für drei zentrale Bereiche des Lebens gleichermaßen wichtig erschien – für den Glauben, für das Recht und für den Umgang mit der Schrift. Dieses Problem lautete: In welchem Verhältnis stand die sinnliche, körperliche Wahrnehmung einer Handlung einerseits zur wirklichen Bedeutung dieser Handlung andererseits? Dieser Frage widmete sich Radbert im vierten Kapitel seiner Abhandlung näher. Dazu ging er von seiner schon eingangs begründeten Annahme aus, daß die Gläubigen bei der Eucharistie-Feier das wahre Blut und das wahre Fleisch Christi empfingen. Nun sei es aber nicht rechtens, den Gesalbten mit den Zähnen zu verschlingen, konstatierte Radbert unter Berufung auf einen Text, der damals als Schrift des heiligen Augustinus galt. Und daher geschehe die Wandlung, die durch den Heiligen Geist bewirkt werde, in Gestalt von Brot und Wein, also in verborgener Weise (mystice).66 Dies wiederum zwang den gelehrten Mönch aus Corbie dazu, genauer darüber zu handeln, inwieweit Brot und Wein – also die vom Menschen mit seinen körperlichen Sinnen wahrgenommenen Dinge – eher ein bloßes Zeichen (figura) für das Fleisch und Blut Christi seien oder doch die Wirklichkeit (ueritas) selbst, also das wirkliche corpus Christi.67 An sich, das betonte auch Radbert, bezog sich 63 Ebd. 3, S. 23: Sacramentum igitur est quicquid in aliqua celebratione diuina nobis quasi pignus salutis traditur, cum res gesta uisibilis nobis quasi pignus salutis traditur, cum res gesta uisibilis longe aliud inuisibile intus operatur quod sancte accipiendum sit. 64 Ebd. 3, S. 23f., Z. 5-10. 65 Ebd. 3, S. 24, Z. 14-38. 66 Ebd. 4, S. 27f., Z. 14-24. 67 Zum folgenden vgl. CHAZELLE, Figure (wie Anm. 11); Costatino MARMO, Il „simbolismo“ altomedievale: tra controversie eucaristiche e conflitti di potere, in: Comunicare e significare nell’alto medioevo (Settimane di studio della fondazione CISAM), Spoleto 2005, Bd. 2, S. 765-814, hier S. 767-780; David APPLEBY, „Beautiful on the cross, beautiful in his torments“: The place of the body in the thought of Paschasius Radbertus, in: Traditio 60, 2005, S. 1-46, hier S. 18-20.
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jedes Zeichen auf ein Ding der Wirklichkeit, war aber nicht dieses Ding selbst: Omnis enim figura alicuius rei figura est et semper ad eum refertur, ut sit res uera cuius figura est.68 Im Falle des Sakraments jedoch, so urteilte Radbert kühn, fielen figura und ueritas zusammen. In Wirklichkeit nämlich werde durch den Heiligen Geist im Sakrament aus der Substanz von Brot und Wein das corpus Christi hervorgebracht; ein Zeichen aber sei das Sakrament insofern, als der Priester dabei – obgleich er äußerlich etwas anderes tue – auf dem Altar das Lamm in Erinnerung an die Passion Christi opfere, die nur ein einziges Mal geschehen sei.69 Auf diese Weise hatte Radbert den zeichenhaften Charakter des Sakraments (den Verweis auf die Passion) und den wirklichen Charakter (die den Sinnen verborgene Wandlung von Brot und Wein in Christi wirkliches Fleisch und Blut) miteinander ausgesöhnt. Zu Recht, so folgerte er, könne in diesem Falle von Wirklichkeit und Zeichen zugleich gesprochen werden – nämlich so, „daß es ein Zeichen (figura) oder ein Stempelabdruck (caracter) der Wirklichkeit ist, der äußerlich wahrgenommen wird, die Wirklichkeit aber das ist, was man von diesem mysterium innerlich auf richtige Weise wahrnimmt oder glaubt.“70 Um zu verdeutlichen, wie das Sakrament zugleich Wirklichkeit und Zeichen dieser Wirklichkeit sein könne, führte Radbert anschließend noch zwei Vergleiche an. Zum einen hatte Paulus in seinem Brief an die Kollosser Christus selbst in seiner menschlichen substantia als figura uel caracter der Fülle seiner Göttlichkeit bezeichnet (Col. 2,9) – und doch, so konstatierte Radbert, werde Christus als der eine und wahre Gott verehrt.71 Es verhalte sich hier, so lautet Radberts zweiter Vergleich, geradeso wie bei den geschriebenen Buchstabenzeichen: Sie führten die Menschen in ihrer Kindheit zunächst zum Lesen, später dann aber auch zur Wahrnehmung des geistigen Sinnes des Geschriebenen; ebenso gelange man von der Menschlichkeit Christi zu der Göttlichkeit des Vaters – et ideo iure figura uel caracter substantiae illius uocatur. Denn was, fragt Radbert rhetorisch, seien die Buchstabenzeichen anderes als die Stempelabdrücke (caracteres) dieser Buchstaben selbst, so daß durch sie die Kraft, die Macht und der Geist des Geschriebenen für die Augen des Lesers sichtbar würden?72 Trotzdem seien die geschriebenen Buchstaben aber keineswegs unwirklich oder etwas anderes als Buchstaben an sich – geradeso wie Christus nicht unwirklich sei oder etwas anderes als Gott. Dasselbe galt auch für die Eucharistie: In allen drei Fällen wird die schwache menschliche Erkenntnis in die Lage versetzt, die geistige Wirklichkeit innerlich wahrzunehmen; damit den Menschen aber diese innere Wahrnehmung gelingen kann, wird ihnen ein caracter davon in einer für ihre körperli68 Paschasius Radbertus, De corpore et sanguine Domini 4 (wie Anm. 26), S. 28, Z. 27f. 69 Ebd. 4, S. 28, Z. 37-42. 70 Ebd. 4, S. 29, Z. 43-46: Sed si ueraciter inspicimus, iure simul ueritas et figura dicitur, ut sit figura uel caracter ueritatis quod exterius sentitur, ueritas uero quicquid de hoc mysterio interius recte intellegitur aut creditur. 71 Ebd. 4, S. 29, Z. 46-57. 72 Ebd. 4, S. 29, Z. 58-66.
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chen Sinne wahrnehmbarer Weise dargeboten.73 Demnach unterschied sich das mysterium der Eucharistie von seinen figurae im Alten Testament. Denn diese waren tatsächlich nur Zeichen gewesen – nur schattenhafte Abbilder, die auf Christi Passion hingedeutet hatten.74 Nachdem Radbert diese Deutung der Eucharistie entfaltet hatte, erörterte er im Rest seines Traktats noch eine ganze Reihe von Detailfragen, ohne aber seine einmal dargelegte Theorie im Kern zu modifizieren. Immerhin erklärte er im 13. Kapitel, warum es funktional war, daß sich Brot und Wein nicht sinnlich wahrnehmbar in Fleisch und Blut Christi verwandelten. Das hatte erstens eine didaktische Funktion: Menschen suchten nun einmal mit größerer Leidenschaft nach den Dingen, die ihnen verborgen seien; so bringe das Sakrament die Gläubigen dazu, eifriger danach zu streben, daß sie Christus dereinst nicht mehr unverhüllt, sondern offen schauen und genießen dürften. Zweitens müßte es den noch nicht Bekehrten widerlich und abscheulich erscheinen, wenn Christen tatsächlich Menschenfleisch äßen und Blut tränken. Und drittens schließlich: Wenn Brot und Wein sinnlich wahrnehmbar in Fleisch und Blut verwandelt würden, dann wäre das Sakrament keine Frage des Glaubens und kein mysterium mehr, sondern es handelte sich schlicht um ein Wunder.75 Zwar gab es derartige eucharistische signa und miracula, und Radbert berichtete über sie auch im darauffolgenden Kapitel.76 Sie waren seiner Meinung nach jedoch für diejenigen Leute gedacht, die erst noch zum Glauben bekehrt werden mußten; für die Gläubigen schien ihm allein das mysterium angemessen.77 Die Theorie einer doppelten Wahrnehmung, die Radbert entfaltete, erlaubte es ihm im übrigen auch, das dritte seiner Probleme zu lösen. Der eine, unteilbare Leib, in dem Christus auf Erden gewandelt, nach drei Tagen auferstanden war und nun zur Rechten Gottes saß, dieser wahre Leib Christi konnte täglich von neuem und an unzähligen Orten zugleich den Gläubigen dargereicht werden, eben weil die Wandlung mystice, im Verborgenen geschah; eben deshalb zerkauten die Christen diesen Leib nicht mit ihren Zähnen, sondern nahmen ihn innerlich und geistig auf. Für die Konstituierung der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen war die Eucharistie aus Radberts Sicht damit von zentraler Bedeutung: In ihr und durch sie vereinigten sich alle Christen zu dem einen, unteilbaren und unvergänglichen corpus Christi, das sie im Gedenken an Christi Opfertod zur Vergebung ihrer Sünden als Zeichen und Abbild, zugleich aber auch in Wirklichkeit aufnahmen.78 Dieses corpus Christi war die Kirche.79 73 74 75 76 77 78 79
Ebd. 4, c. 29f., S. 67-81. Ebd. 5, S. 31-34. Ebd. 13, S. 84f. Ebd. 14, S. 85-92. Ebd. 13, S. 85, Z. 36-41. Ebd. 22, S. 130, Z. 168-170. Dazu auch Johannes FRIED, Der karolingische Herrschaftsverband im 9. Jh. zwischen „Kirche“ und „Königshaus“, in: HZ 235, 1982, S. 1-43, hier S. 21-26; Mayke DE JONG,
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Man darf nicht vergessen, in welcher Situation Radbert erörterte, wie durch die Eucharistiefeier die Einheit der Menschen in der ecclesia als dem Leib des Herren begründet werde. Im Frühsommer 830 wurde Kaiser Ludwig für mehrere Monate von einer Gruppe unzufriedener Großer entmachtet, die mit Ludwigs Söhnen Lothar und Pippin kooperierten. Erst im Oktober gelang es dem alten Kaiser ohne Blutvergießen, wieder an die Macht zurückzukehren.80 Seinen Zorn bekamen seine Gegner gleichwohl zu spüren – darunter nicht zuletzt Wala, der Abt von Corbie, der im Februar 831 von Ludwig ins Exil verbannt wurde.81 Als Radbert die Einheit des corpus Christi beschrieb, das alle Christen in der und durch die Feier der Eucharistie bildeten, da war eben diese Einheit prekär geworden. Schon im Prolog beklagte Radbert, daß „der Weltkreis durch die Winkelzüge der Zwietracht schon fast in Verfall geraten“ sei, nachdem die magnates über die Herrschaft zu streiten begonnen hätten.82 Vielleicht darf man in diesem Zusammenhang sogar noch einen weiteren, pragmatischen Anlaß für die Abfassung des Traktats vermuten. Anders als Wala hatte sich Radberts Adressat, der Abt Warin von Corvey, im Jahr 830 nicht mit Ludwig dem Frommen überworfen.83 Nachdem Radbert im Frühsommer 831 seinen abgesetzten Abt Wala am Genfer See besucht und vergeblich versucht hatte, ihn zum Einlenken zu bewegen,84 könnte er Warins Auftrag genutzt haben, den ehemaligen Corbier Mönch indirekt zu bitten, doch bei dem Kaiser zugunsten Walas Fürsprache zu halten. Zumindest manche Passagen des Traktats lassen sich auch in dieser Weise verstehen: So wies Radbert seinen Adressaten darauf hin, daß die Eucharistie gefährlich sei für diejenigen, die sie nicht reinen Herzens empfingen. Wer aber nicht Glaube, Hoffnung und „ungeheuchelte Liebe“ habe, das betonte Radbert, der empfange Christi Leib, das Osterlamm,
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Ecclesia and the early medieval politiy, in: Staat im frühen Mittelalter, hg. v. Stuart AIRLIE, Walter POHL u. Helmut REIMITZ (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006, S. 113-132. Zu den Ereignissen ausführlich Egon BOSHOF, Ludwig der Fromme (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 1996, S. 182-191; zu den politischen Intentionen hinter dem Aufstand vgl. auch Monika SUCHAN, Kirchenpolitik des Königs oder Königspolitik der Kirche? Zum Verhältnis Ludwigs des Frommen und des Episkopates während der Herrschaftskrisen um 830, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 111, 2000, S. 1-27, hier besonders S. 13-15 und S. 18-27. Paschasius Radbertus, Epitaphium Arsenii II, 10-12, ed. Ernst DÜMMLER, in: Abhandlungen der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1899-1900, Phil.-Hist. Klasse II, Berlin 1900, S. 3-98, hier S. 73-79; zu der Versammlung in Aachen im Februar vgl. auch Astronomus, Vita Hludowici 45, ed. Ernst TREMP 1995, MGH SSrG 64, Hannover 1995, S. 279-556, hier S. 238; Annales Bertiniani a. 831, ed. Felix GRAT, Jeanne VIELLIARD, Suzanne CLÉMENCET u. Léon LEVILLAIN, Paris 1964, S. 3-5. Paschasius Radbertus, De corpore et sanguine Domini (wie Anm. 26), Prolog, S. 4. Vgl. WEINRICH (wie Anm. 27), S. 75. Paschasius Radbertus, Epitaphium Arsenii II, 10 (wie Anm. 81), S. 73-77; dazu WEINRICH (wie Anm. 27), S. 77.
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nicht rechtmäßig!85 Im letzten Kapitel seines Traktats behandelte er zudem ausführlich die Frage, ob es beim mysterium der Eucharistie einen Unterschied gebe zwischen dem Gerechten einerseits und dem wiederversöhnten Büßer andererseits.86 Diese Passagen lassen sich als Aufforderung an Warin verstehen, einem büßenden Sünder wieder aufzuhelfen. Anschließend spricht Radbert den Corveyer Abt sogar an: „Glaubst Du, Teuerster, Gott bleibe irgendein Gewissen verborgen, ich sage: nicht erst wenn es in schwere Sünde verstrickt ist, sondern schon wenn es in Trägheit versunken ist?“87 In einem Traktat, der das Verhältnis zwischen figura und veritas, zwischen andeutenden Schatten (umbrae) und offener Wahrheit (veritas) diskutierte – in einem solchen Traktat dürften an der Jahreswende 831/32 Radberts Hinweise auf Walas Verbannung, auf die Verpflichtung zur ungeheuchelten Liebe und auf die Einigung aller Christen, gerade auch der penitentes reconciliati, in der Eucharistie deutlich genug gewesen sein. Daß Radbert das Verhältnis von figura und veritas, das er in seinem Werk erläuterte, jedenfalls auch auf das gegenwärtige Geschehen angewendet wissen wollte, legte er Warin schon zu Beginn seines Prologs nahe. Dort bezeichnete er seinen Adressaten nämlich als „Placidus“ und verwies damit auf jenen Knaben, der von dem Mönch Maurus auf Befehl des heiligen Benedikt vor dem Ertrinken errettet worden war.88 Den Abt Wala benannte Radbert an der gleichen exponierten Stelle seines Textes nicht nur mit dem Namen „Arsenius“ (eine Anspielung auf den Taufpaten der Söhne des Kaisers Theodosius, der später die Welt verlassen und als Eremit in der ägyptischen Wüste gelebt hatte); sondern er beschrieb Wala auch als alter Hieremias. Die Bezüge zwischen der Gefangennahme und Mißhandlung des alttestamentlichen Propheten und dem Schicksal Walas lagen auf der Hand.89 Jeremias stand als figura für die veritas, die Wala soeben durchlitt.
85 Paschasius Radbertus, De corpore et sanguine Domini 22 (wie Anm. 26), S. 129, Z. 159162. 86 Das c. 22, ebd., S. 123, ist überschrieben: Si ulla differentia sit in hoc mysterio iusto et penitenti reconciliato. 87 Ebd. 22, S. 129: Putas ergo, carissime, quod lateat Deum ullius conscientia, non dico si criminibus est obuoluta, uerum ignauia si torpeat? 88 So berichtete es Gregor der Große, Dialogi II, 7, 1-3, ed. Adalbert de VOGÜÉ u. Paul ANTIN (Sources chrétiennes 260), Paris 1979, Bd. 2, S. 156/158. 89 Daß eine figura, die Radbert nutzte, allerdings auch schon von Zeitgenossen als veritas mißverstanden werden konnte, zeigt das Werk, das wahrscheinlich Radbert als „Hieronymus“ an die Jungfrauen „Eustochium“ und „Paulus“ gerichtet hat (als Werk des Hieronymus, Migne PL 30, Sp. 126-147); schon Hinkmar von Reims hat den Text für eine Schrift des Kirchenvaters gehalten – und damit den Protest des Ratramnus heraufbeschworen: Vgl. FAHEY (wie Anm. 36), S. 8f. mit Anm. 41.
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2.2. Ratramnus Auch Ratramnus betonte in seiner Abhandlung über die Eucharistie eingangs, wie wichtig es war, daß die Menschen dieses Sakrament richtig verstanden: Karl der Kahle dürfe es nicht dulden, daß die ihm untergebenen Menschen unterschiedliche Auffassungen über den Leib Christi hegten, in dem doch die Hauptsache christlicher Erlösung bestehe.90 Zwei Streitfragen waren es, die Karl dem Mönch zu lösen aufgetragen hatte: Zunächst sollte Ratramnus klären, ob die Gläubigen in der Kirche Leib und Blut Christi in mysterio oder in veritate empfingen;91 zum zweiten stand zur Debatte, ob dieser Leib Christi tatsächlich derselbe sei, den Maria geboren hatte und der nach der Passion gestorben, begraben, auferstanden und in den Himmel aufgefahren war.92 (Das war die These, die Radbert vertreten hatte.) Die erste Frage zielte im Kern wiederum auf das Verhältnis zwischen menschlicher Wahrnehmung und Wirklichkeit. Ratramnus selbst erläuterte dieses Problem wie folgt: Er wolle klären, ob der Empfang der Eucharistie „etwas Verborgenes enthält, das allein den Augen des Glaubens offenbar ist, oder ob der Sehsinn des Körpers (aspectus corporis) ohne die Verschleierung durch irgendein Geheimnis das äußerlich sieht, was der Sehsinn des Geistes (mentis visus) innerlich erblickt“93. Um diese Frage zu klären, führte Ratramnus zunächst eine Terminologie ein, die sich von derjenigen Radberts unterscheidet. Unter figura verstand Ratramnus einen Schleier (velamen) oder Schatten (obumbratio) dessen, was tatsächlich gemeint war. Wenn die Gläubigen im Vaterunser um das tägliche Brot beteten, dann sei dies eine figura; denn hier sei nicht das Brot selbst gemeint, sondern das Wort „Brot“ stehe für Christus94. Die veritas dagegen sei die rei manifesta demonstratio.95 Wenn also von Christus die Rede sei, der von der Jungfrau Maria geboren und am Kreuz gestorben war,
90 Ratramnus, De corpore et sanguine Domini (wie Anm. 31), c. 1-3, S. 33; zum Folgenden vgl. Roger BÉRAUDY, Les catégories de pensée de Ratramne dans son enseignement eucharistique, in: Corbie. Abbaye Royale. Volume du XIIIe centenaire, Lille 1963, S. 157180, der aber m.E. zu strikt verneint, daß Ratramnus auch die Kategorie einer geistigen Wahrnehmung (jenseits des Glaubens) gehabt habe. 91 Ebd. 5, S. 34: Quod in ecclesia ore fidelium sumitur, corpus et sanguis Christi, quaerit uestrae magnitudinis excellentia in misterio fiat an in ueritate […]. 92 Ebd.: et utrum ipsum corpus sit quod de Maria natum est et passum mortuum et sepultum quodque resurgens et caelos ascendens ad dexteram patris consideat. 93 Ebd.: […] id est utrum aliquid secreti contineat quod oculis fidei solummodo pateat an sine cuiuscumque uelatione misterii hoc aspectus intueatur corporis exterius quod mentis uisus inspiciat interius ut totum quod agitur in manifestationis luce clarescet. 94 Ebd. 7, S. 34. 95 Ebd. 8, S. 34f.: Veritas uero est rei manifestae demonstratio nullis umbrarum imaginibus obuelatae sed puris et apertis utque planius eloquamur naturalibus significationibus insinuatae.
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dann sei hier nichts verschleiert oder abgeschattet – sondern „die Wirklichkeit der Sache“ werde „durch die Bedeutungen der wahrhaftigen Wörter gezeigt.“96 Mit dieser Terminologie konnte Ratramnus die erste der beiden Fragen seines Königs ziemlich einfach beantworten. Denn Brot und Wein veränderten ja im Rahmen der Eucharistiefeier ihre äußerliche Gestalt nicht; gleichwohl waren sie nicht mehr ein Backprodukt und ein alkoholhaltiges Getränk, sondern Christi Leib und Blut. Daraus folgte für Ratramnus zwingend, daß die Gläubigen die Eucharistie figurate oder in mysterio empfingen. Wenn man dagegen davon ausgehe, daß die Eucharistie in veritate von den Gläubigen empfangen werde, dann müsse man zu dem Schluß gelangen, daß die Christen lediglich Brot und Wein zu sich nähmen, nicht aber Christi Leib und Blut – und zwar ganz einfach deshalb, weil in der Terminologie des Ratramnus veritas nur dort war, wo kein Schleier, kein Schatten, kein verborgener oder übertragener Sinn vorlag.97 Wie bei der Taufe äußerlich und körperlich der Täufling durch das Wasser reingewaschen werde, innerlich aber und in bezug auf seine Seele von seinen Sünden, so werde der Gläubige bei der Messe äußerlich und körperlich durch Brot und Wein gestärkt, innerlich und in bezug auf seine Seele aber durch Christi Leib und Blut.98 Genau dieser Unterschied zwischen dem sinnlich Wahrnehmbaren und der dahinter verborgenen, geistigen Wirklichkeit99 war es, auf den Ratramnus mit dem Wort figura verwies. Trotz der abweichenden Terminologie unterschied sich diese Auffassung jedoch nicht grundsätzlich von derjenigen Radberts: Auch der hatte ja hohen Wert darauf gelegt, daß sich die Wandlung nicht körperlich und äußerlich ereignete und für die Menschen daher auch nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern nur innerlich, geistig zu begreifen war;100 eben deshalb geschah aus Radberts Sicht bei der Eucharistiefeier kein Wunder, sondern ein mysterium. Zu einem anderen Urteil als Radbert gelangte Ratramnus allerdings in der zweiten Frage, die Karl der Kahle ihm gestellt hatte. Ratramnus zufolge war es undenkbar, daß der wahre Leib – jener Leib, in dem Christus geboren worden war, gelitten hatte und auferstanden war – derselbe sei wie der eucharistische Leib Christi.101 Zu dieser anderen Einschätzung wurde Ratramnus durch seine Definition des Begriffs veritas geradezu gezwungen. Der wirkliche Leib Christi konn96 Ebd. 8, S. 35: uerum rei ueritas naturalium significationibus uerborum ostenditur neque aliud hic licet intellegi quam dicitur. 97 Ebd. 11-16, S. 35-37. 98 Ebd. 17, S. 38. 99 Ihn betont Ratramnus wieder und wieder: Vgl. ebd. 33-49, S. 42-46, mit dem Fazit, 49, S. 46: Ex his omnibus, quae sunt hactenus dicta, monstratum est quod corpus et sagnuis Christi quae fidelium ore in ecclesia percipiuntur figurae sint secundum speciem uisibilem at uero secundum inuisibilem substantiam, id est diuini potentiam uerbi, corpus et sanguis uere Christi existunt. 100 Vgl. JORISSEN (wie Anm. 32), S. 108f. 101 Sein Argument dazu entfaltet Ratramnus, De corpore et sanguine Domini 50-96 (wie Anm. 31), S. 46-59.
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te demnach von vornherein nur derjenige sein, der unverborgen, ohne Schleier und Schatten, unmittelbar der menschlichen Wahrnehmung zugänglich war – also der Leib, den man als solchen fühlen, sehen, schmecken, riechen, hören konnte und in dem Christus auf Erden gewandelt und nach seinem Tode auferstanden war. Bei der Eucharistiefeier jedoch war dieser Leib gerade nicht sinnlich wahrnehmbar; die Gläubigen sahen und schmeckten lediglich Brot und Wein. Das wirkliche corpus Christi, so Ratramnus, sei notwendigerweise incorruptibile et inpassibile […] ac per hoc aeternum102. Der eucharistische Herrenleib müsse all dies auch sein – wenn er denn den Gläubigen das ewige Leben bringen sollte. Nun sei aber doch nicht zu leugnen, so argumentierte der Mönch weiter, daß das zunichte gemacht werde (corrumpi), was bei der Eucharistie-Feier erst in Teile zerkleinert, dann von den Gläubigen mit den Zähnen zermahlen und schließlich körperlich verdaut wird. „Doch das eine ist, was äußerlich (exterius) geschieht, etwas anderes aber das, was durch den Glauben geglaubt wird. Das, was den Sinn des Körpers angeht, ist vergänglich (corruptibile); das aber, was der Glauben glaubt, das ist unvergänglich (incorruptibile).“103 Aus alledem folgerte Ratramnus zusammenfassend: „Was also äußerlich erscheint, ist nicht die Sache selbst, sondern ein Bild der Sache; die Wirklichkeit der Sache ist dagegen das, was im Geiste aufgenommen und wahrgenommen wird.“104 Dem Satz hätte auch Radbert zugestimmt; nur war es für Ratramnus aufgrund seiner scharfen Unterscheidung von veritas und figura unmöglich zu behaupten, daß in der Eucharistiefeier dann der wirkliche Leib Christi im Sinne seines historischen, sinnlich wahrnehmbaren Leibs empfangen wurde. In Ratramns Terminologie folgte aus dem Verhältnis, das Radbert beschrieben hatte, geradezu zwingend, daß von einer figurativen Bedeutung der Eucharistie zu sprechen war. Mag sich demnach die Terminologie der beiden Mönche aus Corbie auch unterscheiden, die Deutung der Wahrnehmung, die ihren beiden Traktaten über die Eucharistie zugrunde lag, ähnelte sich doch in einem wichtigen Punkt. Beide gingen davon aus, daß ein grundsätzlicher Unterschied gemacht werden müsse zwischen der Wirklichkeit, die der Mensch äußerlich, sinnlich wahrnahm, einerseits und der wahren Bedeutung des Wahrgenommenen andererseits. Während sich Ratramnus aber dabei im Kern auf eine strikte Unterscheidung zwischen veritas und figura zurückzog, bemühte sich Radbert um ein Modell, in dem figura und veritas im Sakrament ineinsfielen.
102 Ebd. 77, S. 53. 103 Ebd.: sed aliud est quod exterius geritur aliud uero quod per fidem creditur. ad sensum quod pertinet corporis corruptibile est, quod fides uero credit incorruptibile. 104 Ebd., S. 53f.: exterius igitur quod apparet non est ipsa res sed imago rei mente uero quod sentitur et intellegitur ueritas rei.
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2.3. Amalar und Florus Gegen welche Position sowohl Radbert als auch Ratramnus argumentierten, das lehrt ein Blick auf die Kontroverse in Lyon zwischen Amalar und Florus. Die Ereignisse und die politischen Hintergründe dieser Auseinandersetzung hat Klaus Zechiel-Eckes vor kurzem detailliert beschrieben.105 Es mag hier deshalb genügen, lediglich knapp an die drei Kernpunkte der Auseinandersetzung zu erinnern, soweit sie die Diskussion um das eucharistische corpus Christi betreffen. Amalar hatte, erstens, Mitte der 820er Jahre in seinem ‚Liber officialis‘ alle bei der Meßfeier verwendeten Geräte, aber auch die Kleidung und jede einzelne Handlung des Priesters allegorisch ausgedeutet, das heißt all dies als figurae betrachtet, die lediglich schattenhaft auf eine andere, wirkliche Bedeutung verwiesen.106 Im Zuge einer dieser allegorischen Deutungen hatte er, zweitens, das corpus Christi als dreigestaltig (triforme) bezeichnet.107 Und drittens schließlich hatte er in einem Brief an einen gewissen Guntard die Aufnahme des eucharistischen Leibes Christi in sehr körperlichem Sinne beschrieben; diesen Brief inserierte Amalar in eine spätere Auflage seines ‚Liber officialis‘.108 Im Kern lautete sein Argument hier: Wenn ein Christ nur im festen Glauben, fromm, demütig und mit Gottvertrauen den Leib aufnehme, dann werde der Herr selbst schon dafür sorgen, daß sein corpus auf die rechte Weise in den Leib des Gläubigen eindringe und die Seele nähre. Aufgabe des Gläubigen sei es, Gott um ein reines Herz zu bitten – Gottes Sache sei es dann, corpus suum per artus et venas diffundere ad salutem nobis aeternam.109 So sei es im Grunde gar nicht notwendig, näher zu erörtern, was mit dem Herrenleib nach dem Essen geschehe: utrum invisibiliter assumatur in caelum, aut reservetur in corpore nostro usque in diem sepulturae, aut exhaletur in auras, aut exeat de corpore cum sanguine, aut per poros emittatur […].110 Florus nutzte diese drei Punkte – die allegorische Deutung der Meßfeier, die These des corpus Christi triforme und Amalars Äußerungen über die Aufnahme der Eucharistie – um die Ansichten seines Gegners als häretisch verurteilen zu lassen und ihn mit dieser Begründung aus Lyon zu verdrängen. Florus betonte zunächst grundsätzlich, daß die Scheidelinie zwischen umbrae et figurae einerseits und der veritas andererseits zwischen dem Alten und dem Neuen Testament verlaufe; die caeremoniae des Alten Bundes verwiesen schattengleich auf die wirkliche Fleischwerdung Christi, von der das Neue Testament zeuge. Dies aber sei von 105 ZECHIEL-ECKES (wie Anm. 44), S. 21-71. 106 Zur Methode der allegorischen Auslegung der Messe im ‚Liber officialis‘ vgl. Rudolf SUNTRUP, Die Bedeutung der liturgischen Gebärden und Bewegungen in lateinischen und deutschen Auslegungen des 9. bis 13. Jahrhunderts (Münstersche Mittelalter-Schrr. 37), München 1978, S. 46-66. 107 Vgl. oben, Anm. 46. 108 Amalar, Liber officialis (wie Anm. 45), Bd. 2, S. 393-399. 109 Ebd. 11, S. 396, Z. 7f. 110 Ebd. 15, S. 397, Z. 37-39.
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Gott selbst geoffenbart, nicht von irgendeinem Menschen; und folglich dürfe nun auch nicht ein Mensch (wie Amalar) auf die Idee verfallen, einfach nova figurarum genera vel mysteriorum sacramenta für den Gebrauch von Kirchengerät, Kleidung und die Handlungen bei der Meßfeier festzusetzen. 111 Die These vom „dreiförmigen Leib“ (corpus triforme) spitzte Florus kurzerhand – und wohl böswillig112 – zur These eines „dreigeteilten Leibs“ (corpus tripertitum) zu.113 So formuliert, bedrohte diese Lehre ein Fundament der karolingerzeitlichen Ekklesiologie und Gesellschaftslehre: Die Einheit des corpus Christi war ein wichtiges Modell, um die Einheit des Frankenreichs zu beschreiben; wer vom „dreigeteilten Leib Christi“ schrieb, erschütterte die Grundlagen politischer Theologie der Zeit. Den sehr auf Körperlichkeit abgestellten Formulierungen Amalars in bezug auf die Aufnahme der Eucharistie hielt Florus – geradeso wie Radbert und Ratramnus – entgegen, daß das corpus des Herren von den Gläubigen in mysterio aufgenommen werde.114 Es werde intus, non foris gegessen, „im Herzen, nicht mit den Zähnen“. Der Gläubige werde „unsichtbar genährt, weil er auch unsichtbar wiedergeboren wird“115. Genau dies, so Florus, sei das Wesen der Sakramente: „Sie heißen aber deshalb ‚Sakramente‘, weil bei ihnen das eine gesehen wird (videtur), etwas anderes aber geistig wahrgenommen wird (intelligitur).“116 Nicht durch die vergängliche Nahrung werde die Erlösung der Seele bewirkt (wie es manche Formulierungen Amalars nahelegen konnten), sondern durch die incorrupta venerabilis mysterii virtus.117 Amalars ‚Liber officialis‘ fand im Verlauf des Mittelalters eine überaus weite Verbreitung.118 Unter den Experten, die zwischen 830 und 860 im Frankenreich 111 Florus von Lyon, Relatio de Concilio Carisiacensi 6, ed. Albert WERMINGHOFF, MGH Concilia 2,2, Hannover-Leipzig 1908, Nr. 57 C, S. 780, Z. 21-35. 112 Wolfgang STECK, Zur Amalar-Rezeption bei Florus von Lyon, in: Per assiduum studium scientiae adipisci margaritam. Festgabe für Ursula Nilgen zum 65. Geburtstag, hg. v. Annelies AMBERGER u.a., St. Ottilien 1997, S. 43-60, hier S. 50-58. 113 Vgl. dazu beispielsweise Florus von Lyon, Relatio 7 (wie Anm. 111), S. 780, Z. 5-41. 114 Es greift daher zu kurz, wenn JORISSEN (wie Anm. 32), S. 99, Anm. 11, annimmt, der Streit zwischen Florus und Amalar habe „nicht die Unterscheidung von historischem und sakramentalem Leib“ zum Gegenstand gehabt. 115 Florus von Lyon, Relatio (wie Anm. 111), S. 781, Z. 11-13: Qui manducat intus, non foris; qui manducat in corde, non qui premit dente. Credere enim in eum hoc est manducare panem vivum; qui credit manducat; invisibiliter saginatur, quia et invisibiliter renascitur. 116 Ebd., S. 781, Z. 13-15: Sacramenta sunt ista; ideo autem dicuntur sacramenta, quia in eis aliud videtur, aliud intellegitur. Quod videtur speciem habet corporalem; quod intelligitur fructum habet spiritalem. 117 Ebd., S. 781, Z. 16. 118 Zur weiten Verbreitung des Textes im Mittelalter vgl. Reinhard MÖNCHEMEIER, Amalar von Metz. Sein Leben und seine Schriften. Ein Beitrag zur theologischen Litteraturgeschichte und zur Geschichte der lateinischen Liturgie im Mittelalter (Kirchengeschichtliche Studien I. Band, III. und IV. Heft), Münster 1893, S. 203-229; DUCKETT (wie Anm. 43), S. 118-120. – Überliefert sind noch mehr als 80 (zum Teil fragmentarische) Kopien
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zur Eucharistie Stellung nahmen, gewann er mit seiner Ansicht über den Herrenleib allerdings keine Anhänger. Radbert warnte gegen Ende seines Lebens seinen Schüler Fredugard ausdrücklich vor der Lehre Amalars: Ad ultimum, so betonte er in seinem Brief an den Mönch aus St-Riquier, quaeso, ne sequaris ineptias de tripertito Christi corpore […].119
2.4. Gottschalk Wie Ratramnus äußerte auch Gottschalk von Orbais Zweifel an Radberts Auffassung, daß der eucharistische Leib Christi derselbe sei wie derjenige, in dem Christus von der Jungfrau Maria geboren worden, am Kreuz gestorben und schließlich von den Toten auferstanden sei. Für ihn war diese These schlicht unvereinbar mit dem (pseudo-)augustinischen Gebot: Christum vorari fas dentibus non est, das auch Radbert selbst zitiert hatte.120 Im sensiblen Feld der Christologie verfiel Gottschalk aber auf eine andere Methode als der Gelehrte aus Corbie, um das Problem zu lösen, daß die Gläubigen einerseits in der Eucharistie Christi wahren Leib empfingen, daß sie andererseits aber Christus nicht wirklich verschlingen durften. Gottschalk fand eine neue kategoriale Unterscheidung: Zwar handele es sich naturaliter um den einen, unteilbaren Leib Christi; aber das historische und das eucharistische corpus unterschieden sich specialiter. Das eine, historische Fleisch war „seinem Wesen nach“ (specialiter) inconsumptibilis und incorruptibilis und blieb stets lebendig und vollständig (integrum); das andere Fleisch aber, das die Gläubigen immer wieder zu sich nahmen, war wesenhaft sumptibilis und corruptibilis.121 Mit dieser kategorialen Unterscheidung gelang es Gottschalk, die Frage nach der Einheit und der Teilung des Herrenleibs und nach Ewigkeit und Vergänglichkeit des Körpers in anderer Weise zu klären, als Radbert es getan hatte. Für Gottschalk handelte es sich bei der richtigen Auffassung der Eucharistie damit aber auch nicht um das Problem, wie das Verhältnis zwischen der äußeren, körperlichen Wahrnehmung und der inneren, geistigen Wirklichkeit zu denken sei. Weil er von zwei specialiter voneinander unterschiedenen Körpern Christi ausging, die naturaliter ein einziger Leib seien, stellte sich ihm die Frage anders: Er mußte klären, wie sich im Rahmen der Eucharistie-Feier der eine, historische, unverwesliche, unteilbare Leib und der eucharistische Leib Christi
der drei Rezensionen des ‚Liber Officialis‘, mehr als ein weiteres Dutzend heute verlorener Abschriften ist nachweisbar; vgl. die Aufstellung im CCL cont. med. Clavis des auteurs latins du Moyen Age, territoire français 735-987, Bd. 1: Abbon de Saint-Germain – Ermold le Noir, hg. v. Marie-Hélène JULLIEN u. Françoise PERELMAN, Turnhout 1994, S. 133-135, und bei HANSSENS, Amalarii opera (wie Anm. 45), S. 83-89. 119 Paschasius, Epistola ad Fredugardum (wie Anm. 41), S. 173, Z. 890f. 120 Gottschalk, De corpore et sanguine Domini (wie Anm. 50), S. 326, Z. 8-18. 121 Ebd., S. 327, Z. 5-28, S. 328, Z. 1 und S. 329, Z. 7-18.
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zueinander verhielten. Seine Auffassung hierzu brachte Gottschalk in einem einzigen, allerdings etwas unübersichtlichen Satz auf den Punkt: „Wir, die wir der Leib Christi sind, empfangen den Leib Christi (der uns von Christus selbst, nicht von jemand anderem als ihm selbst dargereicht wird, weil er in ihn selbst übertragen wird), so daß uns (die wir aus ihm selbst existieren) von ihm selbst gegeben wird, was in ihm selbst ist; denn freilich bleibt der Körper Christi vollständig (integrum), der von Maria geboren wurde und in den derjenige [Leib] überführt wird, der auf dem Altar von Gott geweiht wird und von dem daraufhin feststeht, daß er Gott dargebracht und zugleich geopfert worden ist.“122 In der Debatte über die Eucharistie hat der ohnehin als Häretiker verurteilte Mönch Gottschalk mit seiner These zweier specialiter zu unterscheidender corpora Christi keinen weiteren Anklang gefunden. In den übrigen überlieferten Werken zum Thema spielt diese Unterscheidung jedenfalls keine Rolle. Gottschalks Ansatz aus der Zeit um 850 blieb Episode; außerhalb von Orbais kreiste der Streit weiterhin um die Frage des Verhältnisses von Wahrnehmung und Wirklichkeit.
3. Folgerungen Die Übersicht über die Eucharistie-Debatte des 9. Jahrhunderts erlaubt sieben Folgerungen zur Geschichte der Wahrnehmung und Deutung in der Karolingerzeit. 1) Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der körperlich wahrnehmbaren Welt einerseits und der sinnhaften Wirklichkeit andererseits ist nicht erst eine Frage der modernen Mediävistik. Sie ist vielmehr schon in der Antike und in der Zeit der Kirchenväter gestellt und im 9. Jahrhundert im Rahmen der ersten mittelalterlichen Debatte über das Wesen der Eucharistie systematisch erörtert worden. Dabei waren Probleme zu lösen, die für alle Christen von Belang schienen; und daher galt es, die Lösungen, die man fand, möglichst vielen Christen in verständlicher Weise zu vermitteln. Ein wenig zugespitzt könnte man formulieren: Von der richtigen Deutung menschlicher Wahrnehmung hing das Seelenheil jedes einzelnen Christen ab. Dem entspricht das Ausmaß der Debatte, die über mehrere Jahrzehnte in verschiedenen geistigen Zentren östlich wie westlich des Rheins geführt wurde und auch den Hof Karls des Kahlen beschäftigte. 2) Radbert und Ratramnus von Corbie, aber auch Florus von Lyon entwikkelten in diesem Kontext Wahrnehmungstheorien, die kontrovers diskutiert wurden. Sie gingen davon aus, daß im Falle eines Sakraments (im weitesten Sin122 Ebd., S. 327, Z. 19-26: Quod, quid est aliud quam ut nos qui sumus corpus Christi sumamus corpus Christi quod datur nobis ab ipso Christo non aliunde quam a semetipso quia translatum est in ipsum, ut quod est in ipso nobis qui ex ipso sumus detur ab ipso sed tamen integro manente ipso, quia scilicet integrum manet corpus Christi de Maria natum in quod istud est translatum quod in altari diuinitus consecratum deo postmodum constat oblatum simul et immulatum?
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ne des Wortes) gerade das, was der Mensch sinnlich wahrnahm, nicht einfach „die“ Wirklichkeit war – sondern ein Zeichen, ein verschleierndes Abbild, ein „Schatten“ dieser Wirklichkeit (oder eines Teils der Wirklichkeit). Wenn Florus und Radbert die caeremoniae des Alten Bundes als Schatten und verschleiernde Bilder der Wirklichkeit des Neuen Bundes interpretierten, so wird hier zugleich ein Deutungmuster greifbar, mit dem Vergangenheit und Gegenwart gegeneinander abgegrenzt werden konnten. 3) Die volle Erkenntnis der Wirklichkeit geschah – jedenfalls vor dem Ende der Zeiten – nur innerlich und geistig (spiritaliter). Bei allen Unterschieden im Einzelnen steht ein solches Modell in einer merkwürdigen Analogie zu Wahrnehmungstheorien, die in jüngerer Zeit in der Geschichtswissenschaft virulent geworden sind: Hier wie dort ist der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung maßgeblich; und auch in manchen aktuellen Wahrnehmungstheorien wird die Auffassung vertreten, daß die Wirklichkeit erst in der und durch die (innere, geistige) Wahrnehmung hervorgebracht werde. Nach Radbert konnten jedenfalls nur diejenigen Menschen in den äußerlich wahrnehmbaren Dingen – im Brot und Wein – den wirklichen Leib und das wirkliche Blut Christi perzipieren, die daran glaubten und über das notwendige Vorwissen verfügten. Erst diese Perzeption des Unsichtbaren aber bildete die Wirklichkeit der Eucharistie. 4) Die verschiedenen Wahrnehmungstheorien erlaubten es den Gelehrten einerseits, Deutungsmuster zu entwickeln, mit denen sich die Präsenz des Ganzen in jedem einzelnen seiner Teile an vielen Orten zugleich erklären ließ: Das corpus Christi wurde an vielen Stellen gleichzeitig an die Gläubigen ausgeteilt und blieb doch der eine, unteilbare Leib Christi, den zugleich die Gläubigen selbst bildeten. Andererseits machten es die Wahrnehmungstheorien den Zeitgenossen möglich, das Verhältnis zwischen den vergänglichen, dem Verfall und der Verwesung ausgesetzten sinnlich wahrnehmbaren Dingen (Brot, Wein, der menschliche Körper) einerseits und einer ewigen, unvergänglichen Wirklichkeit (Fleisch und Blut Christi) genauer zu beschreiben. Nur Gottschalk hat diese beiden Probleme anderweitig zu lösen versucht, indem er nämlich eine neue kategoriale Unterscheidung einführte; Anklang hat er damit jedoch nicht gefunden. 5) Man wird fragen dürfen, inwieweit diese beiden Deutungsmuster – Einheit in Teilung und Verfall des körperlich Wahrnehmbaren bei Unvergänglichkeit der spiritaliter wahrnehmbaren Wirklichkeit – nicht auch außerhalb der Debatte über die Eucharistie Konsequenzen hatte. Die Frage von Einheit und Teilung etwa wurde in politischer Hinsicht im Frankenreich gerade in jener Zeit akut, als die Kontroverse um die Eucharistie ausgetragen wurde: Im besonderen Maße Anfang der 830er Jahre, als Radbert seinen Traktat verfaßte; dann aber auch wieder nach dem Brüderkrieg, 843/44, als Radbert sein Werk überarbeitete und Karl dem Kahlen widmete und zudem Ratramnus seine Gegenposition niedergeschrieben haben könnte. Ein solcher Bezug zwischen politischer Kultur und theologischer Debatte ist alles andere als konstruiert: Schon die Zeitgenos-
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sen selbst haben das corpus Christi als die Gemeinschaft der Gläubigen, als die ecclesia gedeutet, die ihrerseits eines der wichtigsten Modelle zur Beschreibung menschlichen Zusammenlebens darstellte. Aber damit nicht genug: Das Deutungmuster der Einheit in der Teilung hatte ebenso wie die Spannung zwischen dem vergänglichen, sinnlich wahrnehmbaren Körper einerseits und dem nur spiritaliter zu erfassenden corpus integrum oder incorruptum auch für die weitere Entfaltung des Reliquienkults hohe Bedeutung. Darauf gehen die Beiträge von Bruno Reudenbach und Gia Toussaint in diesem Band genauer ein. 6) Bei allen Meinungsverschiedenheiten über Einzelfragen sind in der Debatte über den Charakter der Eucharistie von verschiedenen Beteiligten einige wenige Kategorien immer wieder verwendet worden. Diese Kategorien ergeben ein Muster, das für die Wahrnehmung dieser Autoren von fundamentaler Bedeutung gewesen sein dürfte. Als wichtig haben sich hier erwiesen: – die Unterscheidung zwischen „Körper“ (corpus) und „Geist“ (mens) – eine Unterscheidung, die es überhaupt erst erlaubt, körperliche Wahrnehmung (oft konkret: videre, gustare etc.) von geistiger Aufnahme (oft intellegere) zu trennen; – die dazugehörige Unterscheidung zwischen „innerlich“ (interius) und „äußerlich“ (exterius); und – die Unterscheidung zwischen Bild, Zeichen, Abdruck (imago, figura, caracter) und Wirklichkeit (veritas). 7) Aus alledem ergeben sich schließlich auch Konsequenzen für die Debatte über den Stellenwert von Ritualen in der Zeit des Frühmittelalters. Die Kontroverse über die Eucharistie belegt: Schon Gelehrte des 9. Jahrhunderts dachten sehr genau darüber nach, wie die regelmäßig abgehaltene, dabei stets nach festem Muster vollzogene und mit Bedeutungsüberschuß einhergehende Feier der Eucharistie auch eine (politische) Einheit zwischen den Menschen – und damit letztlich Ordnung – stiftete. Im Ritual und durch das Ritual konstituierte sich die Gemeinschaft der Christen als das corpus Christi, als die ecclesia. Dabei war es den Autoren der hier analysierten Texte jedoch überaus wichtig, daß alle Christen, die dieses Ritual vollzogen, auch selbst um dessen gemeinschaftsstiftende Funktion wußten. Moderne funktionalistische Ritualtheorien unterstellen dagegen, daß die beobachteten Akteure zwar durch ihr Ritualhandeln Ordnung hervorbringen, selbst aber um diese Funktion nicht wissen. Die Analyse der Eucharistie-Kontroverse bestätigt, daß solche funktionalistischen Theorien den Reflexionsgrad jedenfalls der gebildeten Zeitgenossen unterschätzen und daher nur bedingt für das Frühmittelalter fruchtbar sind.123 Zugleich betonten die Gelehrten der Karolingerzeit aber auch, daß die Wirklichkeit, die durch die EucharistieFeier hervorgebracht wurde, nicht für jedermann gleichermaßen wahrnehmbar
123 Vgl. BUC, Monster (wie Anm. 24), S. 448.
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sei124 (eine Analogie zu funktionalistischen Ritualtheorien). Anders als die schattenhaften caeremoniae des Alten Bundes barg das mysterium der Eucharistie die Wirklichkeit; aber nicht jeder erkannte sie und konnte von ihr profitieren. Diese Wirklichkeit war nicht äußerlich, körperlich, sinnlich wahrnehmbar, sondern wurde erst im Zuge innerlicher und geistiger Aufnahme hervorgebracht. Wer nicht über das richtige Vorwissen verfügte, der empfing die Eucharistie nicht zur Rettung seiner Seele, sondern zu seiner Verdammnis. Mit Blick auf die Wahrnehmung war die Eucharistie-Feier – im Bucschen Sinne – ein „gefährliches Ritual“.
124 Vgl. Paschasius Radbertus, De corpore et sanguine Domini 2 (wie Anm. 26), S. 20: Hoc sane quis ignorat non discernit, et ideo timendum, ne per ignorantiam, quod nobis prouisum est ad medelam, fiat accipientibus in ruinam. […] Per ignorantiam autem illud percipit qui uirtutem eius et dignitatem atque circumstantiam ipsius sacramenti penitus ignorat, qui nescit uere, quod corpus et sanguis sit Domini secundum ueritatem, licet in sacramento accipiatur per fidem. Hic quidem mysterium accipit, sed nescit mysterii uirtutem. […] Hinc ergo erudire oportet eos qui percipiunt uitae sacramenta, ne forte, si quis desidiose salutaria ignorat fidei rudimenta, et ipse a Domino penitus ignoretur; ebd. 6, S. 35: Cogitat enim infidelis digna et sancta quod indignus possit accipere, non aliud quidem adtendens nisi quod uidet, neque intelligens nisi quod odore sentitur. Nequaquam igitur credit aut intelligit quale uel quantum iudicium sumit. Neme quia simul omnes ex uno edere uisibiliter cernit, nec si aliqua sit ultra uirtus in eo satis ex fide sapit. Propter quod illi uirtus sacramenti subtrahitur et in eodem ob praesumptionem iudicium reatus duplicatur; vgl. außerdem ausführlich dazu ebd. 8, S. 40-52, unter der Überschrift: Quod in hac communione aut iudicium percipitur aut praemium.
HARTMUT BLEUMER
Zwischen Wort und Bild Narrativität und Visualität im ‚Trojanischen Krieg‘ Konrads von Würzburg (Mit einer kritischen Revision der Sichtbarkeitsdebatte)
1. Narration und Imagination
Bilden Sie mal einen Satz mit … visuell Vi su ell die Sonne strahlt – als würde sie dafür bezahlt (Robert Gernhardt, Reim und Zeit)
Das historische Großereignis des Trojanischen Krieges ist dem Mittelalter wohlbekannt. Über die ‚Ilias Latina‘, die ‚Achilleis‘ des Statius und vor allem durch die Werke Ovids sind die Begebenheiten und Figuren dieses Ereigniskomplexes kanonische Gegenstände der lateinischen Bildung.1 Dem scheint es zu entsprechen, daß kein Thema so oft in volkssprachlich-literarischen Beschreibungen oder Erwähnungen von Bildkunstwerken vorkommt wie der Trojanische Krieg.2 Dennoch ist es offenbar schwierig, dieses Großereignis narrativ zu aktualisieren. Eine Erklärung dafür könnte lauten: Der Krieg um Troja besitzt eine kulturhistorische Mächtigkeit, die das narrative Vermögen der Erzähler übersteigt. Genauer: Der Grad seiner Ereignishaftigkeit übersteigt die Möglichkeiten der narrativen Vermittlung.3 Dahinter steht, auch wenn es mit Blick auf 1
2
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Vgl. Günter GLAUCHE, Schullektüre im Mittelalter. Entstehung und Wandlungen des Lektürekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 5), München 1979, S. 70f., 76, 98f., 101f., 110, 124. Zur weiteren Entwicklung des Schultextbestandes Nikolaus HENKEL, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 90), München-Zürich 1988, S. 13-64, hier besonders in den Übersichten S. 57-64. Vgl. Haiko WANDHOFF, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 3), Berlin-New York 2003, S. 183-188, zu den Problemen des Ansatzes siehe unten in Abschnitt V. Diese Mächtigkeit der Erzähltradition wird zuletzt zum Ausgangspunkt der Prologinterpretation bei Beate KELLNER, daz alte buoch von Troye … daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von ‚wiederholen‘ und ‚erneuern‘ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträ-
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die Umfänge der volkssprachigen Texte auf den ersten Blick so aussieht,4 kein quantitatives Problem, sondern eine strukturelle Schwierigkeit, die sich zwischen Erzähler und Ereignis ergibt: Ein Erzähler, der den Trojanischen Krieg angemessen erzählen wollte, er käme um seinen Begriff, weil angesichts der Komplexität dieses Krieges die Begriffe von Geschichte und Erzählung geradezu zu kollabieren drohen. Die narrativ nicht mehr zu bewältigende Mächtigkeit dieses Ereigniskomplexes würde sich darin zeigen, daß sein Geschehen über die aus ihm extrapolierbaren Geschichten – phänomenologisch gesprochen – ‚opalisiert‘ wird.5 In ihrer Gegenläufigkeit heben die verschiedenen narrativen Handlungen das Geschehen nicht einfach aus dem prä-narrativen Zustand des Geschehens auf das Niveau der Geschichte, sondern diese Geschichte schlägt wieder in den Zustand eines nunmehr post-narrativen Geschehens um, welches allerdings infolge der Narrativierungen in hohem Maße axiologisch aufgeladen ist. Die verschiedenen narrativen Interpretationsangebote, die ein Erzähler angesichts dieses Krieges zu machen hat, erzeugen damit angesichts des an sich noch sinnlosen Geschehens keine sinnvolle Geschichte mehr, sondern sie bewirken einen aporetischen Sinnüberschuß. Denn in letzter Konsequenz führen sie zu einer Sinntotalität, die nicht mehr verstanden werden kann, sondern in deren verschiedenen Sinnlinien das Verstandene zu einer dilemmatischen Summe gerät, deren Fülle den Rezipienten ratlos zurückläßt.
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ge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hg. v. Gerd DICKE, Manfred EIKELMANN u. Burghart HASEBRINK (Trends in Medieval Philology 10), Berlin-New York 2006, S. 231-262, hier S. 248-250. Sie ist für das folgende narrativistisch zu fassen. Dazu wird mit Wolf SCHMID, Narrativity and Eventfulness, in: What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory, hg. v. Tom KIND u. HansHarald MÜLLER (Narratologia 1), Berlin-New York 2003, S. 17-33 (vgl. auch den Passus in DERS., Elemente der Narratologie, Berlin-New York 2005, S. 11-27), von der Ereignishaftigkeit als einer gradationsfähigen Kategorie ausgegangen. Die vier dafür maßgeblichen Kriterien, die Schmid Relevanz, Imprädikabilität, Konsekutivität und Irreversibilität nennt, werden im Text geradezu übererfüllt. Festzuhalten ist, daß die generelle Festlegung in Schmids jüngerer Fassung seiner Überlegungen, „Narrativ ist ein Text schon dann, wenn er nur temporale Verbindungen enthält“ (S. 16), den Rekurs des folgenden Beitrages auf die Bestimmung von Schmid nicht diskreditiert. Es scheint sich nämlich um eine gegen die forcierte Betonung der kausalen Motivierung zur Bestimmung von Narrativität gerichtete Überpointierung zu handeln, die auch die in Schmids eigener Minimaldefinition festgehaltene grundlegende Bedeutung des Spannungsverhältnisses zwischen Anfangs- und Endzustand einer narrativen Zustandsveränderung oder Geschichte (S. 13f.) unterläuft. Vgl. dazu die Übersichten bei Elisabeth LIENERT, Deutsche Antikenromane des Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 39), Berlin 2001, S. 103-162. Weil dieser Begriff von Roman INGARDEN, Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang: Von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel, Tübingen 21960, S. 149152, S. 269f., einen Effekt schillernder Mehransichtigkeit der im ästhetischen Prozeß realisierten intentionalen Gegenstände bezeichnet, der auf der sprachlichen Mehrdeutigkeit des Textes beruht, dürfte er für die folgenden Überlegungen zum Visualitätsproblem besonders geeignet sein.
Narrativität und Visualität im ‚Trojanischen Krieg‘ Konrads von Würzburg
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Konrad von Würzburg, so kann man thesenhaft formulieren, hat sich das Erzählproblem des großen Krieges in der skizzierten Weise zurechtgelegt und es in seinem ‚Trojanischen Krieg‘ zugleich zu einer Aufgabe der literarischen Wahrnehmung umformuliert: Den Schwierigkeiten der narrativen Bewältigung dieses Großereignisses begegnet der Text dadurch,6 daß er den Rezipienten, in Fortführung der voraufgehenden Verbildlichungen des Themas in der mittelhochdeutschen Literatur, zu einem ‚Augenzeugen‘ macht. Freilich kann diese Augenzeugenschaft nach dem Gesagten nicht als einfacher Wahrnehmungsprozeß an das Geschehen gekoppelt sein. Der metaphorische Status der Rede vom Rezipienten als Augenzeugen ist vielmehr entschieden festzuhalten. Die Augenzeugenschaft von Konrads Gewährsmann Dares, der als Quelle im Prolog genannt wird (296) und der dann, zum Beweis seiner Augenzeugenfunktion, auch als Figur in der Handlung vor Troja auftaucht (12394ff.), ist darum auch nur ein undeutliches Indiz für die Visualisierungstendenzen des Textes.7 Denn – wie in 6
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Das Interpretationsproblem der Erzählform zeichnet sich im Spannungsverhältnis zwischen den beiden Positionen von Christoph CORMEAU (Quellenkompendium oder Erzählkonzept? Eine Skizze zu Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘, in: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Hans Fromm zum 26.5.1979, hg. v. Klaus GRUBMÜLLER u.a., Tübingen 1979, S. 303-319) und Franz Josef WORSTBROCK (Der Tod des Hercules. Eine Problemskizze zur Poetik des Zerfalls in Konrads von Würzburg „Trojanerkrieg“, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration im Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Harald HAFERLAND u. Michael MECKLENBURG [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19], München 1996, S. 273-284. Wieder in: DERS, Ausgewählte Schriften, hg. v. Susanne KÖBELE u. Andreas KRASS, Stuttgart 2004, S. 246-258) ab. Während Cormeau vorschlägt, den Text über eine Reihe von romanartigen Erzählmustern vor einem höfischen Normhorizont zu lesen, wird für Worstbrock dieser Normhorizont gerade aufgelöst, weshalb für ihn die Lektüre über romanartige Sinnbildungsmuster zum Thema Minne und Aventiure nicht trägt. Freilich führt Worstbrocks Volte gegen Cormeau, die sich zugleich und zu Recht gegen die trivialisierende Schematisierung der Liebesgeschichten als ‚bestrafte Minneverfehlung‘ durch Hartmut KOKOTT richtet (Konrad von Würzburg. Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie, Stuttgart 1989, bes. S. 279f.), den eigenen Ansatz wiederum in ein charakteristisches Dilemma: Die reflexive Auflösung der Sinnangebote, die Worstbrock als Weg in den Sinnverlust interpretiert, wäre mit Cormeau gerade als besondere Sinnfülle zu begreifen. Einen entscheidenden Anstoß, die Ästhetisierung als Antwort auf das narrative Problem der Präsentation einer fatalen Handlung zu begreifen, liefert Burkhard HASEBRINK, Rache als Geste. Medea im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hochund Spätmittelalters. FS für Volker Mertens zum 65. Geburtstag, hg. v. Matthias MEYER u. Hans-Jochen SCHIEWER, Tübingen 2002, S. 209-230. Zur Reduktion des von der Dares-Nennung abhängenden Augenzeugentopos im Vergleich zu Benoît und zu der damit einhergehenden Aufwertung der künstlerischen Kompetenz des Erzählers Stefanie SCHMITT, Inszenierungen von Glaubwürdigkeit. Studien zur Beglaubigung im späthöfischen und frühneuzeitlichen Roman (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 129), Tübingen 2005, S. 126133; zum franz. Text weniger ausführlich DIES., Autorisierung des Erzählens in Romanen mit historischen Stoffen? Überlegungen zu Rudolfs von Ems Alexander und Konrads von
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allen Texten Konrads –8 zielt das Erzählen auch im ‚Trojanerkrieg‘-Torso derart offensiv auf die sprachliche Anregung der visuellen Imagination des Rezipienten, daß die ‚Augenzeugenschaft‘ mit Blick auf das Erzählte mindestens ebenso prekär wird wie das Erzählen vom Trojanerkrieg selbst. Als Hypothese sei dazu formuliert: Genau darauf scheint es anzukommen. In Konrads ‚Trojanischem Krieg‘ kreuzen sich zwei Schwierigkeiten, offenbar mit dem Ziel einer wechselseitigen Ergänzung. Einerseits stellt sich Konrads Text dem Problem der narrativ-prozessualen Sinnkonstitution anhand eines überkomplexen Geschehens, andererseits geht dies mit dem ästhetischen Versuch einher, die visuelle Imagination in besonderer Weise über das narrative Arrangement sprachlicher Zeichen anzuregen. Wenn aber die Schwierigkeiten im Bereich der visuellen Imagination und der Narration jeweils die gleichen sind, führt dies zu einer Kreisfigur: Sollte auch die Visualität in eine Aporie münden, ist der Rezipient auf die narrative Textualität zurückverwiesen. Damit ließe sich für den Status des sogenannten ‚Augenzeugen‘ zunächst wiederum metaphorisch festhalten: Man sieht bei einer Lektüre des ‚Trojanischen Krieges‘ nicht einfach das Erzählte, man sieht auch und zuerst das Erzählen. Wenn das richtig ist, dann kommt es in Konrads ‚Trojanischem Krieg‘ zu einem Chiasmus zwischen Narration und Imagination, in dem sich die Schwierigkeiten der narrativ-prozessualen Sinnvermittlung in der Visualisierungsleistung sprachlicher Zeichen gleichsam umkehren und aufheben: Die Erzählung gewährt ein Maß an Freiheit, das aus den Leerstellen im narrativen Verlauf in den
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Würzburg Trojanerkrieg, in: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter, hg. v. Beate KELLNER, Peter STROHSCHNEIDER u. Franziska WENZEL (Philologische Studien und Quellen 190), Berlin 2005, S. 187-201, hier S. 195199. Zur sprachlichen Überpointierung der Sichtbarkeit als generellem poetischen Prinzip Konrads immer noch grundlegend der Entwurf von Wolfgang MONECKE, Studien zur epischen Technik Konrads von Würzburg. Das Erzählprinzip der „wildekeit“ (Germanistische Abhandlungen 24), Stuttgart 1968, S. 11: „die wilde Erzählung weckt Aufmerksamkeit und Wissbegier, erregend verführt sie den Hörer zu konkretem Mitgehen. […] Dann entfaltet die âventiure wilde ihren vollen idealen Glanz, das Bild seiner Pracht wird zum hinreißenden Vorbild.“ Zuvor hatte Dennis Howard GREEN, Konrads ‚Trojanerkrieg‘ und Gottfrieds ‚Tristan‘. Vorstudien zum Gotischen Stil in der Dichtung, Diss. Basel 1949, S. 10, 14, 63f., 73, den imaginären Charakter der Darstellung bereits mit den darin wirksamen Farb- und Lichtvergleichen zutreffend beschrieben, die damit verbundene Auflösungstendenz des Sichtbaren aber kritisiert. Über das Visuelle hinausgehend hat Christoph CORMEAU allgemein von einer „synästhetischen Komposition von Sinneswahrnehmungen“ im Erzählen gesprochen (Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Rezeption, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 95107, hier S. 95), die dezidiert als Schriftphänomene zu begreifen sind. Darum ist Jan-Dirk MÜLLER, schîn und Verwandtes. Zum Problem der ‚Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik), in: Im Wortfeld des Textes (wie Anm. 3), S. 287-307, zuzustimmen, der angesichts der paradoxen Grundverfassung der sprachlichen Visualisierungen Kritik an einer vereinfachenden Rede von Konrads ‚Ästhetik‘ geübt hat.
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Bereich der phänomenalen Unbestimmtheit zurückführt.9 Diese Rekurrenz hat eine changierende Überfülle im Bereich der visuellen Imagination zur Folge, die gerade da einen besonders intensiven visuellen Eindruck erzeugt, wo die narrative Ordnung in Probleme gerät. Aus der narrativen Überkomplexität entstünde demnach die Möglichkeit einer besonderen visuellen Intensität.10 Der MechaDer literarische Text läßt sich damit als praktische Gegenbewegung zur modernen literaturtheoretischen Entwicklung von der Phänomenologie zur stärker semiotisch ausgerichteten Rezeptionsästhetik lesen: Umzukehren wäre damit die forschungsgeschichtliche Abfolge der Begriffe der Leerstelle bei Wolfgang ISER, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (Uni-Taschenbücher 636), München 41994, aus dem der ‚Unbestimmtheitsstelle‘ bei INGARDEN (wie Anm. 5), S. 261-270, dem wiederum die – terminologisch schwankenden – Überlegungen zur phänomenalen Unbestimmtheitsstelle bei Husserl vorausgehen. Besonders: Edmund HUSSERL, Ding und Raum. Vorlesungen 1907, hg. v. Ulrich CLAESGES (Husserliana XVI), Den Haag 1973, bes. S. 49-54, S. 58f., dazu mit Blick auf die folgenden Überlegungen ergänzend DERS., Phantasie und Bildbewußtsein, in: DERS., Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlaß (1898-1925), hg. v. Eduard MARBACH (Husserliana XXIII), The Hague-Boston-London 1980, S. 1-107, hier die Begriffe von Bild, Bildobjekt und Bildsujet, symbolischer und ästhetischer Funktion (S. 1720, S. 32-36). Vgl. das entsprechende Plädoyer für eine Verbindung von Semiotik und Phänomenologie durch Eckhart LOBSIEN, Bildlichkeit, Imagination, Wissen: Zur Phänomenologie der Vorstellungsbildung in literarischen Texten, in: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, hg. v. Volker BOHN (Poetik 3; edition suhrkamp 1475), Frankfurt a.M. 1990, S. 89-114, der für das Zusammenspiel einer Semiotik des ästhetischen Gegenstandes mit einer Phänomenologie ästhetischer Erfahrung votiert hat und bilanziert: „Bildlichkeit also ist die durch die Vorstellung bewirkte Amalgamierung von vorgegebenen Zeichen in Repräsentationsfunktion mit einem vorgängigen Wahrnehmungswissen zu einem Bewußtseinsobjekt.“ (S. 101f.). 10 Dazu die paradoxen Umschreibungen bei MONECKE (wie Anm. 8), der resümierend von einem „eigentümlichen Vergegenwärtigungsprinzip“ gesprochen hat, „das nicht gestaltend hinstellt, sondern zum Scheinen bringt. Das Bild wird schwebend zwischen Unsagbarkeits- und Überbietungstopos heraufgerufen. Es beruhigt sich nicht, es kommt nicht zu fester Kontur. Die Kraft, die es aus seiner Schwäche nimmt, gereicht ihm nicht zu gesammelten Dasein, sondern äußert sich in Aktivität: es leuchtet, strahlt, gibt schîn, wodurch es appelliert und erzieht“ (S. 178). Das Bewegungsmoment in den Beschreibungen konstatiert kurz zuvor, noch tastend, Hans Joachim GERENTZ, Konrad von Würzburg. Charakter und Bedeutung seiner Dichtung, in: Weimarer Beiträge 7, 1961, S. 27-45, hier S. 30. Über die dem Erzähltext selbst eingeschriebene, sich steigernde Bewegung der Bildererzeugung, die nach dem mittelalterlichen Modell des Wahrnehmungsapparates strukturiert wird, definiert sich der Begriff der Intensität nach Hans Jürgen SCHEUER, Bildintensität. Eine imaginationstheoretische Lektüre des Strickerschen Artusromans „Daniel von dem Blühenden Tal“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 124‚ 2005‚ S. 23-46, bes. S. 25f. Die folgenden Überlegungen fragen umgekehrt nach der Modellierung der Wahrnehmung durch die Strukturen von Geschichte und Narration. Vgl. unabhängig von Scheuer und allgemeiner den Begriff der Intensität als übersteigerte Korrelation von diskursiven Verfahren und phänomenaler Wahrnehmung bei Michael WALTENBERGER, Diß ist ein red als hundert. Diskursive Konventionalität und imaginative Intensität in der Minnerede Der rote Mund, in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten, 9
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nismus kollabiert jedoch am Ende in einem Opalisierungseffekt: Die höchste visuelle Intensität wäre in der vollständigen Loslösung von der sprachlichen Differenzierung zugleich nur noch ein ‚weißes Rauschen‘.11 In diesem Effekt liegen dann aber Problem und Möglichkeit der ästhetischen Narration zugleich vor. Denn die totale literarische Visualität, so ließe sich thesenartig formulieren, läßt sich als eine ästhetische Antwort auf die theoretisch unmögliche Aufgabe ansehen, den größten Krieg aller Zeiten zu erzählen. Hält man dieses Modell für stichhaltig, so bietet der Versuch Konrads, seine Erzählung vom Trojanerkrieg sprachlich zu visualisieren, durch seine radikalen konzeptionellen Pointierungen eines hergebrachten literarischen Themas eine ausgezeichnete Möglichkeit, das Wahrnehmungsproblem in der mittelhochdeutschen Erzählliteratur selbst wahrzunehmen. Anhand der ‚ästhetischen Narration‘ Konrads lassen sich demnach insbesondere jene bisherigen Forschungsansätze zum Wahrnehmungsproblem auf ihre Validität hin prüfen, in denen das Stichwort der ‚Augenzeugenschaft‘ geradezu zu einem Programmwort avancieren konnte. Darum gehen die folgenden Überlegungen in zwei Schritten vor: Sie vertrauen sich zunächst induktiv dem Erzählwerk Konrads an, um dann, in einem zweiten Schritt, einige methodische und konzeptionelle Einsprüche zur Wahrnehmungsdiskussion in der germanistischen Mediävistik zu wagen.
2. Die Ästhetik des Anfangs Das doppelt-gegenläufige Konzept von Konrads ästhetischer Narration wird gleich zu Beginn des Textes in der berühmten Szene vom Urteil des Paris inszeniert, die Konrad im Unterschied zu seiner Vorlage an den Anfang des Textes gestellt und signifikant ausgeweitet hat.12 Deren implizite poetologische Pro-
hg. v. Horst WENZEL u. C. Stephen JAEGER (Philologische Studien und Quellen 195), Berlin 2006, S. 248-274, bes. S. 253, 255f., 268f. 11 Zur Begriffsverwendung siehe unten, Anm. 24. 12 Dazu bei Benoît nur die Erwähnung durch Paris selbst bei der Vorbereitung zur Fahrt der Trojaner nach Griechenland (Vgl. Le Roman de Troie par Benoît de Sainte-Maure, publié d’après tous les manuscrits connus par Léopold CONSTANS, 6 Bde., Paris 19041912, V. 3873-3921 [im folgenden RTr]). Vgl. den Hinweis bei Karl BASLER, Konrads von Würzburg ‚Trojanischer Krieg‘ und Benoîts de Ste Maure ‚Roman de Troje‘, Phil. Diss. Berlin 1910, S. 12; KOKOTT (wie Anm. 6), S. 261. Zur Vorlagenfrage die allgemeine Übersicht bei Gerhard P. KNAPP, Hector und Achill. Die Rezeption des Trojastoffes im deutschen Mittelalter. Personenbild und struktureller Wandel (Utah Studies in Literature and Linguistics 1), Bern-Frankfurt a.M. 1974, S. 14-20, sowie grundlegend und detailliert im Nachvollzug des Textverlaufes Elisabeth LIENERT, Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘ (Wissensliteratur im Mittelalter 22), Wiesbaden 1996, S. 30-182 passim; vgl. ebd. auch den Forschungsbericht S. 3-10. Die ältere Forschung zu Konrad allgemein überblickt Rüdiger BRANDT, Konrad von Würzburg (Erträge der Forschung 249), Darmstadt 1987, zum ‚Trojanerkrieg‘ S. 173-187.
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grammatik ist oftmals diskutiert worden,13 die folgende Beschreibung kann sich daher darauf konzentrieren, die Korrelation von sinnlicher Wahrnehmung und narrativer Strukturierung zu verfolgen. Das Ende der Geschichte des Trojanischen Krieges ist seinem Beginn schon mehrfach eingeschrieben: Der Erzähler nimmt am Ende des Prologes den Ausgang der zu erzählenden Handlung in der sogenannten ‚Troja-Formel‘ schon vorweg, nach der die besondere Schönheit einer Frau in den Untergang führt:14 ê diz getihte neme ein zil, / des ich nû hie beginnen wil (323f.), erklärt der Erzähler, daß minne (321) und clârheit (318) Helenas zu einem großen Sterben führten.15 Am Anfang der eigentlichen Handlung deutet dann wiederum Hecubas Traum auf das Ende Trojas voraus. Weil Hecuba mit Paris schwanger ist, gerät das Traum13 Vgl. GERENTZ (wie Anm. 10), S. 37; MONECKE (wie Anm. 8), S. 141-143, S. 173-181, der
den Einfluß Ovids geltend gemacht hat. Zum bildungsgeschichtlichen Bekanntheitsgrad des Paris-Urteils Wiebke FREYTAG, Zur Logik wilder âventiure in Konrads von Würzburg Paris-Urteil, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 373395, hier S. 373-377. Ferner LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 271-281, als Teil einer Bestandsaufnahme zur Beschreibung von Glanzeffekten; pointierter MÜLLER (wie Anm. 8), S. 300f. Die prägnanteste Analyse der Beschreibung des Apfels der Discordia liefert der durch den Titel seines Beitrages exakt qualifizierte Ansatz von Hans Jürgen SCHEUER, Wahrnehmen – Blasonieren – Dichten. Das Heraldisch-Imaginäre als poetische Denkform in der Literatur des Mittelalters, in: Wappen als Zeichen. Mittelalterliche Heraldik aus kommunikations- und zeichentheoretischer Perspektive, hg. v. Wolfgang ACHNITZ (Das Mittelalter 11), München 2006, S. 53-70, hier S. 60-62, dort das Fazit: „In der heraldisch miniaturisierten Ekphrasis des Apfels verdichten sich so Antagonismus und Dilemmatik, die Grundstrukturen der Discordia, deren maßlose Vergrößerung der Trojanische Krieg selbst ist.“ (S. 62). Vgl. zur weiteren, älteren Literatur die Hinweise in der allgemeinen Besprechung der Stelle bei Martin PFENNIG, erniuwen. Zur Erzähltechnik im Trojaroman Konrads von Würzburg (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1537), Frankfurt a.M. u.a. 1995, S. 167-169. 14 Das Stichwort zuerst mit Bezug auf Konrad am Beispiel des ‚Nibelungenliedes‘ bei Joachim HEINZLE, Gnade für Hagen? Die epische Struktur des Nibelungenliedes und das Dilemma der Interpreten, in: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985, hg. v. Fritz Peter KNAPP (Germanische Bibliothek), Heidelberg 1987, S. 257-276, hier S. 269f.; in die Forschung zum ‚Trojanerkrieg‘ übernommen von Elisabeth Lienert. Zur Aufwertung der Helena-Figur nachdrücklich zuerst Elisabeth LIENERT, Helena – thematisches Zentrum von Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 409-420; DIES., Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg, in: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen, hg. v. Horst BRUNNER (Reclam Universal-Bibliothek 8914), Stuttgart 1993, S. 391-410, hier 406; DIES., Geschichte (wie Anm. 12), S. 24, 28f., 219f.; DIES., Deutsche Antikenromane (wie Anm. 4), S. 122. Daß Helena bei Konrad im Unterschied zu Benoît zu einem „Leitmotiv“ wird, betont schon BASLER (wie Anm. 12), S. 9. 15 Ausgabe: Der trojanische Krieg von Konrad von Würzburg. Nach den Vorarbeiten K. FROMMANNS u. F. ROTHS hg. v. Adelbert VON KELLER (Bibliothek des literarischen Vereins Stuttgart 44), Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1858, Amsterdam 1965. Dazu: Karl BARTSCH, Anmerkungen zu Konrads Trojanerkrieg (Bibliothek des literarischen Vereins Stuttgart 133), Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1858, Amsterdam 1965.
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bild zur Metapher für das folgende Geschehen: Paris ist die aus dem Herzen seiner Mutter erwachsende Fackel, die Troja bis auf den Grund niederbrennen wird (350-363). Daß dieses Ende Trojas unabwendbar ist, wird im weiteren Textverlauf immer wieder in der Handlungslogik angedeutet, wörtlich ausgesprochen und auch bildlich gezeigt,16 und zwar von Beginn an. Priamus befiehlt, Paris als Auslöser des Unheils zu ermorden, doch die ihn töten sollen, verschonen ihn; und als der Jüngling dann auf dem Fest erscheint, das Jupiter anläßlich der Vermählung von Thetis und Peleus veranstaltet, führt ihn sein Vater, ohne ihn zu erkennen, nach Troja zurück und vereitelt damit den eigenen Plan. Mit Blick auf die zu erzählende Geschichte unterstreicht diese Handlungskonstruktion die Unabwendbarkeit des Endes. Zugleich macht sie auch die Eigenart des finalen Erzählens deutlich: Die Erzählung tendiert zur Darstellung eines Geschehens, das die Geschichte als Bedingung der eigenen Möglichkeit überspielt. Weil das Ende im Anfang schon bekannt ist, erscheint das Geschehen nicht etwa als ein erstmaliger Entwurf im Rahmen der Geschichte, sondern die Geschichte wird gewissermaßen noch einmal durchlaufen und ermöglicht es, den Geschehensverlauf als paradigmatisch organisierte Ereignisreihe zu beobachten.17 Mit den gewendeten Zeitverhältnissen zwischen Anfang und Ende kehrt sich so auch das Kräfteverhältnis der narrativen Ebenen um: Mit der Bevorzugung des Geschehens vor der Geschichte tendiert die Erzählung zwangsläufig zur Schilderung; die Gegenbegriffe von Narration und Deskription gehen ineinander über.18 16 Zu den wörtlichen Vorausdeutungen PFENNIG (wie Anm. 13), S. 92-109. Zu visuellen
Erscheinungen mit Vorausdeutungsfunktion MONECKE (wie Anm. 8), S. 75, zu beiden Arten der Vorausdeutungen summarisch LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 238f., S. 256f. 17 Vgl. dazu die klassische Beschreibung anhand der Ausführungen zum Begriff der ‚Motivation von hinten‘ durch Clemens LUGOWSKI, Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung v. Heinz SCHLAFFER (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 151), Frankfurt a.M. 21994, S. 66-83. 18 Die Möglichkeit der Hybridisierung der polaren Begriffe räumt SCHMID, Elemente (wie Anm. 3), S. 17f. grundsätzlich ein. Daß sich der Gegensatz von Narration und Deskription letztlich über die umgekehrte Zeitbeziehung der Rede des Erzählers zur Handlung ergibt, hat Gérard GENETTE, Frontiers of Narrative, in: DERS., Figures of Literary Discourse. Translated by Alan SHERIDAN, New York 1982, S. 127-144, gezeigt: „narration is concerned with actions or events considered as pure processes, and by that very fact it stresses the temporal, dramatic aspect of the narrative; description, on the other hand, because it lingers on objects and beings considered in their simultaneity, and because it considers the processes themselves as spectacles, seems to suspend the course of time and to contribute to spreading the narrative in space“ (S. 136). Damit beschreibt Genette für die Deskription genau jene Simultanität auf der discours-Ebene, die Lugowski für die Motivation von hinten auf der histoire-Ebene festgehalten hat. Um es sehr einfach synthetisierend zu formulieren: Ein Geschehen läßt sich immer nur beschreiben, eine Geschichte immer nur erzählen, aber das Geschehen entsteht im Rahmen der Geschichte durch eine Auflösung ihres vormaligen zeitlichen Entwurfs.
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Im ‚Trojanerkrieg‘ Konrads wird dieser Mechanismus des beobachtenden Nachvollzugs zu einer durchgreifenden Ästhetisierung des Geschehens genutzt: Sogar die kausale Motivation der Handlung richtet sich auf ästhetische Zwecke. Als Antrieb der Handlung fungiert die Minne, die letztlich nichts anderes zu sein scheint als das Begehren des Schönen. Zuerst rettet die Schönheit das Leben des Paris, als dieser ermordet werden soll. Der Säugling beginnt zu lachen, bezeichnenderweise aufgrund seines eigenen Spiegelbildes, das er im Schwert seiner Mörder erblickt (474-481). Die Wirkung seiner Schönheit bleibt nicht aus: Paris wird verschont. Ebenso ist seine bestrickende Schönheit der Auslöser für das heftige Verlangen seines Vaters, den ihm noch unbekannten Jüngling für seinen Hof in Troja zu gewinnen: sîn herze sîn dô nie vergaz, noch kam von im sîn ouge niht. mit vlîzeclicher angesiht begund er kapfen dar ûf in und kêrte muot, herz unde sin dar ûf in manger hande wîs, daz der getriuwe Pârîs sîn ingesinde würde. (3238-45) Und dieses Begehren des Vaters wiederholt sich nochmals in seinem Sohn. Paris begehrt in Helena wiederum eine unvergleichliche Schönheit, die seiner eigenen analog ist. Helena gilt nach den Worten der Venus als die schönste Frau, die jemals gelebt hat (2660-67). Das Verlangen nach Schönheit bietet damit zweifellos eine narrative Erklärungsmöglichkeit für das folgende Untergangsgeschehen.19 Die Schönheit ist stets ein Wert, den die verschiedenen Akteure gegen einen Widerstand begehren und den sie sich selbst zu attribuieren suchen, womit die narrative Struktur im Sinne der strukturalistischen Basisdefinition als Dreischritt aus Konfrontation, Domination und Attribution abgeschlossen wäre. Aber durch genau diese Struktur entsteht mit Blick auf die Schönheit auch ein Wahrnehmungsproblem. Denn Wahrnehmung setzt eine Differenz zwischen dem Betrachter und dem 19 Als Grundposition dazu Algirdas Julien GREIMAS, Actants, Actors, and Figures, in:
DERS., On Meaning. Selected Writings in Semiotic Theory, Translation by Paul J. PERRON and Frank H. COLLINS, Foreword by Fredric JAMESON, Introduction by Paul J. PERRON, London 1987, S. 106-120, hier S. 107f.; zuvor einfacher DERS., Die Struktur der Erzählaktanten. Versuch eines generativen Ansatzes, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II, hg. v. Jens IHWE (Ars Poetica. Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst. Texte 8. Literaturwissenschaft und Linguistik III), Frankfurt a.M. 1972, S. 218-238; speziell zur Funktion der Werte: DERS., Elements of a Narrative Grammar, in: DERS., On Meaning (in dieser Anm.), S. 63-83, hier S. 79f.; DERS., A Problem of Narrative Semiotics: Objects of Value, in: DERS., On Meaning (in dieser Anm.), S. 84-105.
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Betrachteten voraus. Doch die ideale Schönheit, wie sie insbesondere von Helena verkörpert wird, ist so anziehend, daß der Betrachter danach strebt, jede Differenz zu ihr aufzuheben.20 Allgemein heißt das: Die wahrzunehmende Schönheit verschwindet in dem Moment, in dem sie in der Geschichte erreicht wird, ebenso wie die Zeitlichkeit der Geschichte aufgehoben ist, wenn der Rezipient sein Ziel erreicht und im Betrachten des Schönen aufgeht: Das Begehren des Schönen erzeugt im Rahmen der narrativen Struktur ein doppeltes Dilemma. Angedeutet wird es schon in dem Vergleich, den Venus Paris gegenüber zur Charakterisierung von Helenas Schönheit heranzieht: nû sich, wie diu S!rêne und ir süezes dônes grif ziehe an sich vil manic schif, sus kan diz wunneclîche wîp mit ir clârheit mangen lîp an sich ziehen unde nemen. (2668-73) Die Schönheit des Gesanges der Sirenen hat eine tödliche Anziehungskraft: Weil das Begehren darauf ausgeht, die Quelle des Gesanges selbst zu erreichen, fallen im Sirenen-Mythos die höchste Erfüllung des Begehrens und der Tod zusammen.21 Was für die akustische Wirkung der Sirenen gilt, trifft offenbar 20 Vgl. die Anregung, die Wahrnehmung von Schönheit als Teil eines narrativen Musters zu
begreifen, jetzt auch in den Überlegungen zum Erzählen von Heiligen bei Andreas HAMMER u. Stephanie SEIDL, Die Entfremdung vom Eigenen: Narrative Wahrnehmungsmuster von Heiligkeit im mittelhochdeutschen ‚Passional‘, in: Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, hg. v. Michael BORGOLTE u.a., München 2008, S. 134-153, hier S. 134-141. Zu den Schwierigkeiten der Vermittlung neuzeitlicher Ästhetik mit mittelalterlichen Schönheitsbegriffen jüngst der Überblick bei Manuel BRAUN, Kristallworte, Würfelworte. Probleme und Perspektiven eines Projekts ‚Ästhetik mittelalterlicher Literatur‘, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. v. DEMS. u. Christopher YOUNG (Trends in Medieval Philology 12), Berlin-New York 2007, S. 1-40, bes. S. 6-10. Zum Schönheitsbegriff bei Konrad als einer Klimax der mittelalterlichen Schönheitsbegriffe, in der zugleich bereits ein neuzeitliches Schönheitsverständnis aufscheint, das überzeugende Votum von Dieter KARTSCHOKE, Über die Schönheit in der Literatur im Mittelalter, in: Der schöne Schein der Kunst und sein Schatten. FS für Rolf Peter Janz zum 60. Geburtstag, hg. v. Hans Richard BRITTMACHER u. Fabian STROEMER, Bielefeld 2000, S. 41-56, hier S. 52-56. 21 Vgl. zum Sirenen-Mythos im Mittelalter allgemein das Material bei Jane CHANCE, Medieval Mythography, Bd. 1: From Roman North Africa to the School of Chartres, A.D. 4331777, Gainesville u.a. 1994, hier S. 330, S. 587f. (Anm. 26), Bd. 2: From the School of Chartres to the Court at Avignon, 1177-1350, Gainesville u.a. 2000, hier S. 220f., S. 267 u.ö. Speziell zum Mittelhochdeutschen Manfred KERN, Art. Sirenes, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. v. DEMS. u. Alfred EBENBAUER, Darmstadt 2003, S. 582-586. Der Klang ist eine Variante des Schönheitsproblems, die für die Ästhetik Konrads ebenso zentral ist, hier aber unberücksichtigt blei-
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auch auf die visuelle Wirkung Helenas zu. Der Vergleich deutet also nicht nur erneut auf das Ende der zu erzählenden Handlung hin. Markiert wird auch, daß Helenas Schönheit an sich unerreichbar bleibt. Ihre Wahrnehmung bleibt immer in der Distanz unvollständig; wenn sie in der Indifferenz zum Betrachter Vollständigkeit erreicht, ist sie tödlich. Daß dies keine überpointierte Deutung der Stelle im Sinne des narrativen Wahrnehmungsproblems ist, verdeutlicht zunächst das Urteil des Paris angesichts des Apfels der Discordia. Ähnlich wie die Petitcreiu-Figur im ‚Tristanroman‘ ist dieser Kunstgegenstand im Sprachkunstwerk für die ästhetische Wirkung des Textes insgesamt charakteristisch. Statt über die Kategorien von Farbe und Klang wie bei Gottfried bestimmt sich der Apfel bei Konrad jedoch über die Kategorien von Farbe und Schrift.22 Der Apfel selbst ist ein visuelles Wunder, weil er eine paradoxe Farbtotalität darstellt.23 Auf der Oberfläche dieses Kunstwerks im Erzählkunstwerk changieren alle Farbwerte, ohne daß sich zwischen ihnen differenzieren oder einer von ihnen klar herausheben ließe: an im lac hôher künste flîz von meisterlicher kûre. ein wunderlich mixtûre ûz dem rîlichen apfel schein. diu was verworren under ein von aller hande glaste sô sêre und alsô vaste, daz keiner liehten varwe schîn dâ volleclîche möhte sîn; und was ir aller teil doch dâ. (1400-09)
bleiben muß. Dazu künftig die überzeugende These von Almut SCHNEIDER, er liez ze himel tougen erhellen sîner stimme dôn. Sprachklang als poetische Fundierung normativen Sprechens, in: Text und Normativität im deutschen Mittelalter, XX. Anglo-German Colloquium, 05.-09.09.2007 in Bonn, hg. v. Elke BRÜGGEN u. Franz Josef HOLZNAGEL (in Druckvorbereitung), in der sich zunächst am Beispiel der Legenden Konrads mit Rückgriff auf mittelalterliche Musiktheorie der Klang als jene Seite des Wortes erweist, über die seine Bedeutung präsent gemacht wird. 22 Zur gesteigerten Appellfunktion der Darstellung gegenüber dem Rezipienten CORMEAU (wie Anm. 8), S. 97f.; zur poetologischen Funktion am deutlichsten MÜLLER (wie Anm. 8), S. 300f. Vgl. auch die Hinweise auf die Vorbildfunktion der Petitcreiu-Figur bei LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 43, S. 210f. Zu der Umakzentuierung gegenüber Gottfried paßt die Beobachtung von PFENNIG (wie Anm. 13), daß die beglückende Wirkung des Klanges als „Petitcreiu-Effekt“ (S. 58) in die Stimme des Paris verschoben ist (3043-45). 23 Vgl. im Rahmen des heraldischen Beschreibungsmodells grundsätzlich SCHEUER (wie Anm. 13), S. 61.
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Der Apfel ist damit der optische Inbegriff dessen, was die Informationstheorie metaphorisch als ‚weißes Rauschen‘ bezeichnet hat: Die Menge von Informationen, die sich in einem Kanal übermitteln läßt, wird bei ihrer Übersteigerung problematisch, denn dann beginnt der quantitative Informationszuwachs den Informationswert zu vernichten. Daraus ergibt sich der Effekt des Rauschens als eine wechselseitige Störung der Einzelinformationen, was darin kulminiert, daß bei einer maximalen Informationsmenge der Informationswert gleich Null ist. Um dieses Paradox zu bezeichnen, greift selbst die Wissenschaftssprache der Informationstheoretiker zur Metapher: Das sinnvoll-sinnlose Rauschen heißt ‚weiß‘. Wenn es um die Übermittlung sprachlicher Zeichen geht, dann macht es also dieser Theorie zufolge keinen Unterschied, ob gar keine oder zu viele Information übermittelt werden. Aber, um die metaphorische Rede der Informationstheorie auszunutzen, im ‚Weiß‘ des Rauschens ist der Unterschied zwischen fehlender und maximaler Informationsmenge gleichwohl sichtbar. Die Überfülle der Zeichen bringt diese zum Verstummen, aber die weiße Markierung macht dieses Schweigen beredt. Ganz analog zu diesem Gebrauch der Farbmetapher der Wissenschaftssprache heißt das für den farbigen Kunstgegenstand im mittelalterlichen Erzähltext: Die Farbwerte des Apfels überlagern sich derart, daß sie eine maximale Farbwirkung erreichen; in der Überlagerung der Farbinformationen hebt sich die Farbigkeit insgesamt auf, nur ist diese dezidierte Opalisierung ein Ziel seiner sprachlichen Darstellung. Damit verkörpert der Apfel das paradoxe Ideal der Semiotik eines offenen Kunstwerks.24 Als Summe der visuellen Möglichkeiten markiert der Apfel nämlich ebenso die Grenze der sprachlichen Zeichen wie auch den Versuch, in der Rede von der Farbtotalität die eigene sprachliche Grenze zu überschreiten. Auch was seine narrative Einbettung angeht, erscheint der Apfel wie ein visualisierter Erzählerkommentar. Denn das Aussehen des Apfels charakterisiert 24 Auf dieses Paradox hat Umberto ECO bei seiner Anwendung des informationstheoretischen
Grundmodells auf die Mehrdeutigkeiten der ästhetischen Botschaft wiederholt aufmerksam gemacht (Das offene Kunstwerk, übersetzt v. Günter MEMMERT [suhrkamp taschenbuch wissenschaft 222], Frankfurt a.M. 61993, darin einführend S. 90-108, und zum ‚weißen Rauschen‘ besonders S. 168, 172f., 175f., 178). Für den Bereich der Literaturtheorie ist auf die wenigstens dem Grundsatz nach verwandte, aber weniger elaborierte informationstheoretische Begründung der Leistung des ästhetischen Textes bei Jurij M. LOTMAN (Die Struktur literarischer Texte, übersetzt v. Rolf-Dietrich KEIL [Uni-Taschenbücher 103], München 31989, S. 110-121) zu verweisen. Davon unabhängig hat von seiten der philosophischen Ästhetikdiskussion auch Martin SEEL, Ästhetik des Erscheinens (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1641), Frankfurt a.M. 2003, S. 223-253, bes. S. 230f., auf den informationstheoretischen Begriff rekurriert, ihn freilich auf das bloße ‚Rauschen‘ reduziert, d.h. um die darin enthaltene Paradoxie verkürzt (S. 228, Anm. 5), um dann in seinem eigenen Prägungsversuch des Ausdrucks ‚Rauschen‘ ausgerechnet auf dessen Paradoxie zu insistieren. Weil diese bei Seel aber nicht semiotisch, sondern phänomenologisch gedacht wird, ist sie immerhin offensichtlicher auf den Begriff des Geschehens anwendbar und läßt sich mit Blick auf die Geschehensproblematik im ‚Trojanischen Krieg‘ heranziehen: „Immer aber ist das Rauschen ein Geschehen ohne ein phänomenal bestimmbares Etwas, das geschieht.“ (S. 233.)
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die Situation genau, in der er auftaucht. Von Discordia, die ihre schöne Gestalt durch einen Zauber unsichtbar werden läßt (1297-1317), wird das Sichtobjekt des Apfels den drei ununterscheidbar schönsten Göttinnen Juno, Pallas und Venus zugespielt, die den homodiegetischen Betrachtern der Szene ein ebenso unfaßbares Schauwunder bieten, wie der Apfel es liefert. Der „Wunsch der Vielen beim Anblick der drei vornehmen Göttinnen im Festesglanz reflektiert auch die Wirkungsgesetze dieser Kunst.“25 Die selben götinn alle drî schœn unde missewende frî wâren sô liutsælic gar und alsô rehte wunnevar an lîbe und an gezierde grôz, daz manic lûter ouge entslôz, ûf der hôchgezîte sich, daz die götinne keiserlich ze wunder ane blicte. ir drîer clârheit schicte, daz manger dâ begunde jehen: ‚ach got, wan solt ich iemer sehen und êweclichen schouwen dis ûz erwelten frouwen, der leben ist sô vollekomen!‘ (1223-37) Erst der Versuch der Differenzierung, der den Übergang von bloßer Perzeption zur intentionalen Wahrnehmung bedeutet, zerstört diesen ganzheitlichen sinnlichen Eindruck, der beim Publikum den Wunsch nach zeitenthobener Kontemplation im êweclichen schouwen weckt. Angesichts der Totalität der Schönheit verfehlt die Intentionalität der Wahrnehmung genau das, was sie erfassen will. Dieses Dilemma beginnt mit dem sprachlichen Zeichen und seiner Differenzierungsleistung. Die Schrift auf dem Apfel verdeutlicht dieses Zeichenproblem, das sich dann im Urteil des Paris fortsetzt. Denn was die Sprache bzw. das Urteil leisten soll, ist unter logischem Gesichtspunkt unmöglich: die Differenzierung dessen, was es nur in einer Totalitätserfahrung gibt. Der Apfel soll der Schönsten und Besten gehören. In ihrer Schönheit sind aber die drei Göttinnen eins: Da jede das Ideal der Schönheit vertritt, läßt sich keine herausheben, ohne das Ideal an den anderen zu zerstören. Die soeben zitierte Haltung des erzählten Publikums akzentuiert diesen Zusammenhang hinlänglich. Das gleiche Dilemma gilt, wie die wörtliche Debatte der Göttinnen um ihre weiteren Vorzüge sehr deutlich werden läßt, für die von ihnen verkörperten Tugenden oder Glücksgaben. Reichtum und Ansehen (Juno), Weisheit 25 MONECKE (wie Anm. 8), S. 134.
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und Kunst (Pallas) sowie Minne und Schönheit (Venus) entfalten ihre ideale Wirkung nur dort, wo sie unlöslich zusammenwirken – das läßt sich als negatives Gesamtergebnis des Streitgespräches (1902-2683) festhalten. Bei den Versuchen der Göttinnen, die von ihnen vertretenen Tugenden im rhetorisch ausgefeilten Streit um den Apfel isoliert herauszustellen, wirken diese nämlich entgegen der Absicht ihrer Verfechterinnen für sich genommen defizitär. Folglich kann das von Paris verlangte rationale Urteilsvermögen auch nicht angeben, welche Göttin von den anderen abzuheben wäre. Im Rahmen des sprachlichen Diskurses zeigt dieser selbst die Unmöglichkeit, ein differenzierendes Urteil zu fällen.26 Aber diese Schwierigkeit des Urteils läßt sich ästhetisch repräsentieren und damit aufheben. Die Struktur des Urteils ist im Apfel geradezu vorgebildet. Zunächst ist die Sprache auf dem Apfel wie die farblichen Erscheinungen seiner Oberfläche eigentümlich total: Die Botschaft, die besagt, daß der Schönsten der Apfel gehören möge, erscheint in einer Art universaler Schrift. Jeder, der diese Schriftzeichen auf dem Apfel liest, glaubt die sprachliche Botschaft in seinem eigenen Idiom zu vernehmen: in swelher zungen man daz lesen wolte bî der selben zît, diu wart ân allen widerstrît und in vil kurzen stunden an den buochstaben funden, die man dâ stân gelîmet sach. von hôher künste diz geschach, daz sich diu schrift verkêrte und iegelichen lêrte dâ vinden sîne sprâche. (1472-81) Aber die Interpretation dieser Botschaft ist durch das Begehren der Leserinnen immer eine andere. Ebenso ist der Text auf dem Apfel erst dann vollständig, wenn zu ihm die entsprechende Schöne gefunden worden ist. Insofern setzen die sprachlichen Zeichen auf dem Apfel jene Differenz, die dann im Begehren nach seiner Schönheit zur Struktur der Geschichte mit ihren konkreten Folgen führt. Die durch das Begehren motivierten sprachlichen Einzelhandlungen im Redestreit verfehlen notwendig ihr Ziel: Die Schönheit der Göttinnen wie auch ihre Tugenden lösen sich im differenzierenden Diskurs um den Apfel sofort 26 Zum rhetorischen Aufbau die Beschreibung durch FREYTAG (wie Anm. 13), die einerseits
durchaus die Fragwürdigkeit der Argumentationen herausstellt (S. 389f.), gleichwohl im merkwürdig unkritischen Verhältnis zur wahrheitskonstituierende Leistung von rhetorisch-logischen Mitteln insgesamt festhält, daß bei Konrad die „Frage […] mit logischrhetorischen Mitteln seiner Zeit zu einer vernünftigen Lösung“ (S. 384f.) gebracht werde.
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auf. Und genau dies wiederum läßt die Schönheit des Apfels als Desiderat einer Totalität erscheinen. Vielleicht kann man deshalb sogar sagen: Die Schönheit des Apfels wird erst durch seine dissoziierende sprachliche Botschaft und den anschließenden Diskurs vollständig wahrnehmbar. Denn erst die sprachlichzeichenhafte Differenz erzeugt das Verlangen nach ihrer Überwindung in der Totalität. Für die Erzählung des ‚Trojanischen Krieges‘ hieße das: Weil die Schönheit das unbedingte Begehren weckt, kommt das Schöne wiederum durch das Begehren auf einen narrativen Begriff. Ebenso wie der Erzähler die Schönheit nicht sprachlich angemessen beschreiben kann, weil sie durch sprachliche Zeichen nicht mehr referentialisierbar ist, ebenso läßt sich die Zuteilung des Apfels in der Rede der Göttinnen nicht im einzelnen argumentativ begründen. Aber man kann anhand der Geschichte ihres Begehrens von der Schönheit erzählen. Erst auf diese Weise behält der Erzähler sein Recht. So führt die Ästhetik des Apfels durch die Einbindung in eine narrative Struktur jedes interesselose Wohlgefallen in seinem Übergang von Farbspiel und Zeichen ad absurdum, weil sich zeigt, daß die vollkommene Schönheit nur über das vollkommene Begehren noch begriffen werden kann, daß sie folglich nicht eigentlich beschreibbar, sondern letztlich nur erzählbar ist. In diesem Sinne wäre das Erzählen als produktive Möglichkeit zu begreifen. So gesehen trifft folglich auch das Urteil des Paris genau das Richtige, wenn dieser Venus den Apfel zuteilt. Die Repräsentantin von Minne und Schönheit erhält den Apfel, weil sie das Dilemma des Urteils mit seiner narrativen Triebkraft repräsentiert, ebenso wie der Apfel der Discordia das Dilemma im Wechselspiel von Visualität und Schrift deutlich macht und zum Antrieb der Geschichte werden läßt. Diese kann mit ihrem Ende das Schöne zwar ebenfalls nicht erreichen, aber zwischen Anfang und Ende der Geschichte scheint ein Vorgriff auf das ferne Ziel möglich.27
3. Beschreibung, Beobachtung und Erzählung: Verlust und Wiedergewinn der Differenz Weil die beschreibende Sprache und die Narration eines Erzählers nicht das gleiche sind, bietet sich über das Urteil des Paris ein narrativer Ausweg aus den geschilderten Dilemmata an. Die vollkommene Schönheit ist der sprachlichen Differenzierung im Modus einer einfachen Beschreibung ebensowenig zugänglich, wie sich der Apfel der Discordia einer speziellen Figur praktisch richtig zuteilen läßt. Der notwendige Fehler, der durch das praktische Urteil entsteht, 27 Die narrative Struktur würde damit jene hermeneutische Bewegung aufnehmen, die
Hans-Georg Gadamer in einer Vorstudie zu seinem Hauptwerk als ‚Vorgriff der Vollkommenheit‘ bezeichnet hat: Hans-Georg GADAMER, Vom Zirkel des Verstehens, in: DERS., Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register (DERS., Gesammelte Werke 2), Tübingen 21993, S. 57-65, hier S. 61f.
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erzeugt jenes Ungleichgewicht, das der darauf folgenden Geschichte ihre Dynamik verleiht. Und weil in dieser Geschichte auch noch etwas Unsagbares begehrt wird, kommt es zugleich zu einer produktiven Leerstelle. Diese Leerstelle versucht der Erzähler bei Konrad von Würzburg zu visualisieren. Nach der Einführung des Apfels der Discordia als ästhetischem Objekt des Begehrens in der Geschichte wird nun auch der Prozeß des Erzählens selbst ästhetisch. Als Venus Paris am Hofe Jupiters in Erscheinung treten läßt, wird dieses Potential der ‚ästhetischen Narration‘ deutlich. Denn auch die Schönheit des Paris stellt eine ästhetische Wirkungskategorie mit narrativen Folgen dar. Ihre sprachliche Darstellung ist ein narratives Problem des Erzählers, das in der Wirkung, die diese Schönheit in der erzählten Handlung entfaltet, gelöst wird. Man könnte insgesamt sagen: Die Betrachter des Paris in der erzählten Handlung können sehen, was der Leser des Textes nicht sehen kann, aber indem die Wirkung auf den homodiegetischen Rezipienten erzählt wird, erzeugt auch das Erzählen beim Leser einen visuellen Effekt. Nur ist der ästhetische Effekt auf den Leser der Wahrnehmung der homodiegetischen Rezipienten gerade nicht analog. Die Korrelation von externer Lektüre und interner Wahrnehmung ist prinzipiell asymmetrisch, weil der Text immer zuerst als abstraktes Zeichenensemble, die Welt immer zuerst als ein konkretes Sinnesdatum begegnet.28 Die Wahrnehmungen der handelnden Figuren und die Visualisierungsleistung der Beschreibungssprache des Erzählers treten sukzessive auseinander. Beim ersten Auftritt des Jünglings ist seine Schönheit noch verdeckt. Sie wird nicht selbst dargestellt, sondern über eine Differenz angedeutet: Paris tritt am Hofe der Götter in der groben, ärmlichen Kleidung des Hirten auf (1652-63), die wiederum im Gegensatz zu der nur angedeuteten körperlichen Schönheit steht.29 Metonymisch konkretisiert erscheint diese Schönheit in den goldenen Locken des Paris (1676f.), sonst bleibt sie aber unkonkret. Der Erzähler vermag sie dennoch metaphorisch auszudrücken. Die Schönheit, d.h. wörtlich wiederum: die clârheit (1684) des Paris manifestiert sich in einer liehten varwe (1685), sie ist strahlend, und die Wirkung dieses Leuchtens wird erst in der Analogie zur Rosenblüte visualisierbar: diu gap sô wunnebæren schîn ûz sînem swarzen huote, als ob ein hac dâ bluote von rôsen rîchen dornen. (1686-89)
28 Diesen Grundsatz der Asymmetrie unterstreicht allgemein Jan-Dirk MÜLLER, Visualität,
Geste, Schrift. Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 122‚ 2003, S. 118-132, bes. S. 127. 29 Zu den weiteren Kontrasten in der Paris-Darstellung auch MONECKE (wie Anm. 8), S. 128.
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Anhand dieser Differenz wird die Schönheit von den Frauen des Hofes wahrgenommen: Alle sehen ihn an und erklären, daß es nicht richtig sei, wenn ein sô glanzer jungelinc / ein hirte solte heizen. (1694f.) Dabei findet das Darstellungsproblem der Schönheit im clâren schîn (1698), ja in der clârheit seine genaue semantische Entsprechung. Denn das Lehnwort zielt sprachhistorisch nicht zuerst und allein auf die neuzeitlich dominierende Bedeutung einer vollständigen Transparenz, sondern auf Glanz und Leuchtkraft.30 Die changierende Verbindung von Glanz und Transparenz gilt dann auch bei Konrad: Was als lichtvoll-glänzend wahrgenommen wird, ist doch zugleich von vollkommen durchscheinender und damit unsichtbarer Klarheit. Es handelt sich um das Paradox einer sinnlichunsinnlichen Erfahrung. Und weil die Qualität der clârheit für sich nicht eigentlich sichtbar ist, bleibt sie auf die Differenz zu ihrer Umgebung angewiesen, denn sie kommt erst über diese Differenz zur Erscheinung. Diese Unterscheidung erweist sich auch in der späteren, konkreteren Beschreibung des Paris vollends als konstitutiv. Nach dem Urteil stattet Venus selbst den Jüngling mit Gewändern aus, die seiner körperlichen Schönheit adäquat sind. Damit verschwindet zunächst die bisherige Differenz der sozialen Hülle des ärmlichen Gewandes zum schönen Körper in der ausführlichen descriptio des Erzählers. Das bedeutet jedoch zugleich, daß nun die Darstellung selbst problematisch wird. Die Pracht der Kleidung führt zur Figur der Hyperbel, die ins Paradox gesteigert ist: Paris soll die ideale Schönheit der Götter mit seiner Gestalt noch einmal überbieten, nach den Worten der Venus trägt am Hofe Jupiters nämlich niemand ein so prächtiges Gewand (2904-09). Daher erscheint Paris nun geradezu, sprachlich genau auf seine Strahlkraft hin pointiert, wie ein glanzer engel (2928) vor den Augen des anwesenden Publikums. Wie eine konkrete Beschreibung einer solchen überidealisierten Schönheit aussehen soll, vermag man sich nicht auszumalen. Die weitere Beschreibung der Lichtgestalt des Helden legt daher zunächst den Akzent darauf, die Fülle des Lichtes mit Hilfe der Feuermetaphorik auszudrücken – der Kranz, den Paris trägt, brennt vor Gold (2912), durch den Goldschmuck seines Kleides scheint dieses förmlich in Flammen zu stehen (2938-41). Auf diese für den Text fundamentale Metapher wird noch zurückzukommen sein. Ohnehin liegt die Vermutung nahe, daß die Metapher als Bildrede jenes synthetische Vermögen ent30 Vgl. dazu den Artikel ‚Klar‘, in: Deutsches Wörterbuch v. Jacob u. Wilhelm GRIMM, Bd.
5: K – Kyrie eleison, bearb. v. Rudolf HILDEBRAND, Leipzig 1873, Sp. 981-997, bes. 981985, 987f. Belege des Mittelhochdeutschen zum Lemma in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses v. Georg Friedrich BENECKE ausgearb. v. Wilhelm MÜLLER u. Friedrich ZARNCKE, Stuttgart 1990, Bd. 1, S. 836 (ND. der Ausgabe Leipzig 1854-1866); Matthias LEXER, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement u. alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche v. BENECKEMÜLLER-ZARNCKE. Mit einer neuen Einleitung sowie einer zusammengef. und wesentlich erw. Korrigendaliste v. Kurt GÄRTNER, Stuttgart 1992, Bd. 1: A-M, Sp. 1606f. (ND. der Ausgabe Leipzig 1869-1878); Kurt GÄRTNER u.a., Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz. Mit einem rückläufigen Index, Stuttgart 1992, S. 201.
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hält, mit dem sich das Differenzproblem überwinden ließe.31 Vorerst ist indes nur praktisch festzuhalten: Die in der Feuermetapher vorweggenommene Entdifferenzierung setzt sich in komplexer Form im Farbspiel fort, das sich nun an Paris genau so entfaltet, wie es zuvor am Apfel der Discordia deutlich geworden war. Nur ist jetzt das Problem der Versprachlichung des Wahrnehmbaren angesichts der Farbigkeit eines wunderbaren Pelzbesatzes am Gewand des Paris vollends auf den Punkt gebracht. Dessen Leuchtkraft schlägt ins nicht mehr Sichtbare um: kein ouge nie sô lûter wart, daz sînen glanz erkande; sô rehte maniger hande varwe ûz im gleiz unde bran, daz iegelichez hâr dar an het einen sunderlichen schîn. swie nû niht wan sehs varwe sîn, sô gleiz iedoch vil mangiu dâ, diu niemer hie, noch anderswâ bî keinen jâren wirt erkant. (2986-95) In der Sprache des Erzählers kehrt damit einerseits das Differenzkriterium wieder, das im Geschehen verloren gegangen war. Die Farbbezeichnungen lassen sich mit Hilfe der vom Erzähler auf sechs bezifferten Grundfarben differenziert setzen, die Gesamtwirkung der Farben entzieht sich aber eben damit der sprachlichen Beschreibung. Die Farbwirkung, auf die der Erzähler hinaus will, läßt sich über die genaue Deskription gerade nicht erreichen, sie ist im Differenzmedium der Sprache nicht darstellbar und soll zugleich die Möglichkeiten der visuellen Wahrnehmung übertreffen. Jedoch – und das ist die Pointe der Konstruktion – sie läßt sich metaphorisch ausdrücken und anhand ihrer praktischen Wirkung begreifen. Die Farben des Gewandes brennen, und nachdem dann auch die körperliche Schönheit des Paris in ihren Farben geschildert wurde, heißt es insgesamt: die vrouwen und diu ritterschaft / die kapften in ze wunder an. (3072f.) Die homodiegetischen Betrachter gehen distanzlos in der visuellen Wirkung dieses Schauwunders auf, ebenso wie in der Figur der Metapher die Distanz des einzelnen sprachlichen Zeichens zur Bedeutung aufgehoben ist. 31 Vorgezeichnet ist diese These durch die Überlegungen HASEBRINKs (wie Anm. 6), S. 217
u. 228, der die Kleiderbeschreibung Medas als Textmetapher des Erzählers erkennt, die auf der Figurenebene noch einmal von Medea selbst in der Handlung praktisch realisiert wird, indem diese die Tötung Kreusas durch ein vergiftetes Gewand betreibt. Zu präzisieren wäre mit Blick auf das folgende freilich gerade hier, daß Kreusas Kleid brennt, d.h. die Textmetapher geht sofort in die Feuermetapher über. Zur Kleidung als Textmetapher vgl. allgemein Andreas KRASS, Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel (Bibliotheca Germanica 50), Tübingen-Basel 2006, S. 74-76 u. 360-374, mit weiterer Literatur. Zur grundsätzlichen Leistung der Metapher siehe unten, nach Anm. 51.
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Das führt letztlich zu einer gegenläufigen Doppelbewegung: Die Wahrnehmung des erzählten Publikums löst sich auf, indem sie auf das Niveau der schlichten Perzeption von sinnlichen Gegebenheiten herabsinkt. Aber im Gegenzug wird sich die literarische Wahrnehmung ihrer selbst bewußt. Die Relation von elementarer, vorreflexiver Aisthesis und literarisch-reflexiver Ästhetik erweist sich so als ein prekäres Spannungsverhältnis.32 Inwiefern diese homodiegetische Wirkung mit der Wirkung der versprachlichten Diegese auf den Rezipienten genauer korreliert, läßt sich an den Schlachtschilderungen verfolgen, die für die Bildwirkung des Erzählens im ‚Trojanerkrieg‘ als besonders einschlägig gelten.33 Was diese Schilderungen auszeichnet, ist ihre irritierend widersprüchliche narrative Ästhetik, die sich vorrangig im Gegensatz zwischen der Grausamkeit der erzählten Handlung und der Schönheit der Beschreibung manifestiert. In der Geschichte wird gestorben, während die Sprache des Erzählers Aspekte visueller Schönheit evoziert. In diesem Gegensatz kommt die allgemeine Aporie der ästhetischen Narration vielleicht am stärksten zum Ausdruck, ebenso erweist sich hier wohl auch am deut32 Dieses Spannungsverhältnis dokumentiert sich bis in den jüngeren philosophischen Dis-
kurs hinein, was vielleicht zeigt, daß es selbst nicht diskursiv, sondern eben nur ästhetisch zu bewältigen ist: Vgl. die Auseinandersetzung der Positionen von Wolfgang WELSCH, Erweiterungen der Ästhetik. Eine Replik, in: Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, hg. v. Birgit RECKI u. Lambert WIESING, Berlin 1997, S. 39-67, als Richtigstellung zu den Verkürzungen von Martin SEEL, Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung, in: ebd., S. 17-38. Während Welsch Aisthesis und Ästhetik als korrelative Begriffe denkt, wozu er sich auf die notwendige Protoreflexivität sinnlicher Wahrnehmung berufen kann, die im Begriff der Ästhetik zu einer komplexen Oszillation von Reflexion und Imagination ausgeweitet ist, operiert Seel mit einem verkappten Autonomiepostulat: Seel glaubt, aus seinem berechtigten Insistieren auf der (Selbst-)Reflexivität ästhetischer Erfahrung heraus, die Ästhetik von der Aisthesis grundsätzlich abspalten zu müssen (S. 35), um die Ästhetik als ausgezeichnete Weise der Selbstvergegenwärtigung qualifizieren zu können (S. 32). Vgl. zum Projekt eines in der Aisthesis fundierten ‚ästhetischen Denkens‘ auch besonders Wolfgang WELSCH, Ästhetisches Denken (Reclams Universal-Bibliothek 8084), Stuttgart 62003, S. 11-78. Vgl. auch den an der Basis des ästhetischen Prozesses angesiedelten Begriff der ‚Atmosphäre‘ bei Gernot BÖHME, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 39-71, mit ähnlicher Frontstellung zu Seel, S. 118. 33 Vgl. dazu wiederholt LIENERT, Helena (wie Anm. 14), S. 419; DIES., Konrad von Würzburg (wie Anm. 14), S. 400f. u. 410; DIES., Deutsche Antikenromane (wie Anm. 4), S. 133f., die die Ästhetisierung der Kampfdarstellungen als distanzierende Abstraktionsversuche deutet (bes. DIES., Zwischen Detailverliebtheit und Distanzierung. Zur Wahrnehmung des Krieges in den deutschen Antikenromanen des Mittelalters, in: Die Wahrnehmung und Darstellung von Kriegen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. v. Horst BRUNNER [Imagines Medii Aevi 6], Wiesbaden 2000, S. 31-48, hier S. 42). Daß damit aber die von ihr mit dem Stichwort ‚Ästhetik des Grauens‘, DIES., Geschichte (wie Anm. 12), bes. S. 388f., betonte Gegenläufigkeit gerade relativiert und nicht erklärt wird, weil in der Distanzierung der fragliche Gegensatz nur heruntergespielt wird, ist ein Problem, das Lienert selbst andeutet, aber nicht gelten lassen möchte.
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lichsten, inwiefern die Aporie auf ihre Selbstüberwindung im Rahmen der Geschichte hin angelegt sein dürfte. Anhand des ersten Kampfes, der im Text dargestellt wird, dem von Konrad eigens gegenüber seiner Quelle hinzuerfundenen Kampf von Peleus und Hector, läßt sich diese These zunächst stellvertretend konkretisieren, da dieser Kampf ausdrücklich als stellvertretende Handlung für eine erste Schlacht beginnt (vgl. 3520-3610) und zugleich die späteren Schlachten antizipiert.34 Anhand der großen Schlachtschilderungen am Ende des Textfragments wird das Gesagte dann zu verifizieren sein. Der Kampf bildet, als konfrontative Handlung, das Zentrum einer narrativen Grundstruktur aus Konfrontation, Domination und Attribution. Der diskursive Streit um das begehrte Objekt, in diesem Falle um Paris, geht voran, dazu bietet der Kampf eine praktische Auseinandersetzung, die die antagonistischen Kräfte austariert. Das Ende des Kampfes legt fest, welcher Aktant sich das begehrte Objekt attribuiert, ob also Paris am Hofe der Götter bleibt oder mit Priamus nach Troja zieht. In der Schilderung des Kampfes gerät dieser nun aber, solange er unentschieden bleibt, in eine für das Erzählen typische Schwebesituation: Das Geschehen hat einen noch ungewissen Ausgang, die Geschichte pausiert, wartet gewissermaßen auf ihre entscheidende Wendung. Die narrative Pause ist der traditionelle Ort der Deskription des Erzählers, aber hier betrifft die Deskription keinen stillstehenden Gegenstand, sondern ein Geschehen, das als Zentrum der Geschichte fungiert:35 Der Kampf bildet damit eine spannungsreiche Leerstelle von besonderer Imaginationswirkung. Er enthält konträre Möglichkeiten, die Handlung weiterzuführen. Und in dieser Offenheit entfalten die visuellen Ausdrücke des Erzählers ihre besondere Wirkung, indem sie die Möglichkeiten einer naiven Imagination des Kampfes als Simulation einer tatsächlichen Erscheinung durchkreuzen. Eingangs werden die Kontrahenten beschrieben, Hector für die Seite des Priamus und der Venus, und Peleus für die Seite des Jupiterhofes sowie der Göttinnen Juno und Pallas. Dabei steht die Figur Hectors geradezu für das Ziel und das Dilemma des Kampfes. Wiederum sprengt der visuelle Effekt, den dieser Held hervorruft, die Möglichkeiten des Sichtbaren. Doch es ist nicht allein die blendende Leuchtkraft der Erscheinung Hectors, die akzentuiert wird. Nicht nur, daß sein Kettenhemd aus spiegelnd glänzenden Stahlringen besteht (370434 Vgl. zur konkreten Stellvertretungs- und allgemeinen Antizipationsfunktion PFENNIG
(wie Anm. 13), S. 215f.; allgemeiner als Vorwegnahme des Zukünftigen KNAPP (wie Anm. 12), S. 59; auf die Handlungslogik konzentriert KOKOTT (wie Anm. 6), S. 275f. Als symbolische Konfliktlösungsstrategie akzentuiert den Stellvertreterkampf Udo FRIEDRICH, Diskurs und Narration. Zur Kontextualisierung des Erzählens in Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘, in: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, hg. v. Jan-Dirk MÜLLER unter Mitarbeit v. Elisabeth MÜLLER-LUCKNER (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), München 2007, S. 99-120, hier S. 108f. 35 Vgl. dazu Gérard GENETTE, Die Erzählung, 2München 1998, S. 214f., der festhält, daß Beschreibungen nicht unbedingt als narrative Pausen aufgefaßt werden müssen.
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09), sich darüber ein leuchtend grüner Brustharnisch befindet (3710-19), der vom einem geradezu brennenden Rot seines samtenen Waffenkleides gerahmt wird (3734f.), und die Gesamtwirkung der Lichterscheinung wiederum erst durch die Reaktion des Publikums vollends verdeutlicht werden kann (ez wart ûf ihn gekapfet / mit liehten ougen spiegelvar, 3788f.). Sein Wappen und seine Zimierde bezeichnen vielmehr die Wirkung der Schönheit, denn sie nehmen genau jenen Mythos auf, an dem Venus zuvor das Dilemma der Minne zu Helenas Schönheit angedeutet hatte: Hector tritt an im Zeichen der Sirene, das selbst wiederum sowohl als Sicht- als auch als Klangkunstwerk erscheint: er hete ûf sînem helme daz houbet der S!rênen clâr, daz truoc von golde reidez hâr, und ein antlitze silberîn, die beide gâben liehten schîn ûf der grüenen heide breit, ouch clanc daz hâr von golde reit, sô der helm gerüeret wart, nâch maniger süezen schellen art, diu vil schône ist worden lût. (3776-85) Das Bildnis der Sirene ist nun genau wahrnehmbar, aber eben deshalb, weil das Bild zuerst ein Zeichen ist. Ausdrücklich wird das Sirenenbildnis als etwas bezeichnet, was den Klang sichtbar macht: Es visualisiert wie die Schrift ein gedœnes bilde (3741). Das Sprachbild steht für das Klangbild wie das geschriebene Wort. Insgesamt bezeichnet das Bildnis der Sirene damit die Aporie der visuellen Überfülle in der Narration und kommt durch diese Zeichenhaftigkeit zu seiner eigenen Bildhaftigkeit. Das hieße allgemein in Umkehrung des bisherigen Dilemmas der literarischen Wahrnehmung: Die Bilder des Textes werden erst wahrnehmbar, wenn sie selbst als sprachliche Zeichen begriffen sind. So wie es keine einfache Perzeption eines realen Bildes geben kann, weil die bloße Sinneswahrnehmung die Schemagebundenheit und die Verweisstruktur des Bildes übersieht und damit noch gar keinen Bildbegriff zuläßt,36 so kann die literarische Darstellung eines Bildes nur die Schemagebundenheit und die Verweisstruktur der Bildwahrnehmung ansprechen, ohne daß eine visuelle Perzeption im Bereich der sprachlichen Zeichen und der Schrift überhaupt möglich wäre. Die literarische Ästhetik kennt keine elementare Aisthesis. Denn auch hier gilt: Eine einfache Perzeption des geschriebenen Textes vernimmt nur die Sichtbarkeit der Schrift, wie auch eine einfache Perzeption eines gesprochenen Textes nur Wort36 Vgl. Rudolf ARNHEIM, Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges.
Neufassung, ins Deutsche übertragen v. Hans HERMANN, Berlin-New York 1978, zur Funktion der aktiven Wahrnehmung für den Bildbegriff bes. S. 5, 20, 46, zur Schemagebundenheit bes. S. 163.
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klänge vernimmt, und in beiden Fällen kommt der Text noch nicht auf seinen Begriff.37 Doch ebenso wie die Wahrnehmung des Bildes erst mit dem Verständnis seiner Verweisstruktur ansetzt, ermöglicht es die Zeichenhaftigkeit des Bildes wiederum, das Bild über das Sprachkunstwerk zur Erscheinung zu bringen. Obwohl das Sichtbare im Erzähltext also nirgends gegeben ist, kann es doch im Rahmen einer Verweisstruktur animiert werden: Der Text wiederholt allein die Zeichenstruktur des Bildes und macht so Bilder unter Aussparung der visuellen Perzeption wahrnehmbar. Im Sinne dieser immanenten Bewegung verweisen im ‚Trojanerkrieg‘ Bilder und Akteure der Diegese aufeinander. So setzt sich in der Gestalt des Peleus vor allem dieser Bezeichnungsvorgang des Visuellen fort. Zur Lichthaftigkeit des Hector passt die Inszenierung seines Gegners Peleus genau, aber dies ist nicht so sehr eine Frage der einfachen Farbwirkung, sondern vor allem wiederum die des Wappentieres und der Zimierde. Die Waffen des Peleus sind zwar ganz konkret göttlichen Ursprungs, seine von Vulcanus selbst geschmiedete Rüstung wird in den Farben bzw. Tinkturen Schwarz, Rot, Silber und Gold beschrieben. Seine Zimierde ist indes selbst zeichenhaft: Er trägt nämlich den Adler, also jenes Tier, das in der mittelalterlichen Auslegungstradition für seinen lichtvollen Blick bekannt ist, das einzig die Strahlkraft der Sonne zu ertragen vermag. Daß es auf diese Bedeutung besonders ankommt, akzentuiert die konkrete Gestaltung des Adlers. Seine Augen werden ausdrücklich hervorgehoben: Das Tier besitzt zwei wunderliche[…] ougen, / [...] / ûz sîme kopfe brunnen / zwêne karvunkelsteine. / seht, alsô kam der reine / Pêleus ze velde (3844-49). Die Lichtwirkung des Karfunkelstein-Auges in der Zimierde des Adlers macht zeichenhaft deutlich, daß dieser Gegner der Lichterscheinung Hectors trotzen kann. Wenn dabei das Publikum des Textes vom Erzähler aufgefordert wird, sich wie das Publikum des erzählten Festes zu verhalten, nämlich den Auftritt des Kämpfers zu sehen (vgl. 3848f.), so kann dieser Visualisierungsvorgang nur dann erfolgreich sein, wenn die Zeichenhaftigkeit der Bildwahrnehmung grundsätzlich begriffen ist. Hector oder Peleus zu ‚sehen‘, das ist kein Appell an das Publikum, sich zwei Kämpfer farbig als Summe von Sinnesdaten auszuphantasieren. Vielmehr geht es darum, sich das Wahrnehmungsproblem der Geschichte als bildlichen Zeichenprozeß vorzustellen. Nach dieser Einleitung des Kampfes ist es verständlich, wieso dessen Darstellung eine ambivalente Struktur aufweist. Einerseits wird der Streit als hart und bis auf den Tod gefährlich geschildert, bluot, schûm unde sweiz (3897) fließen, einem Pferd wird der Schädel gespalten und die Helden kämpfen bis zur völligen Erschöpfung. Andererseits hat dies die schönste Farbwirkung: Die blitzen37 Für die aus dem Zeichenbegriff hervorgehenden bzw. ihn hervorbringenden medialen
Kriterien wäre anzuschließen an Peter STROHSCHNEIDER, Textualität mittelalterlicher Literatur. Eine Problemskizze anhand des ‚Wartburgkrieges‘, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. v. Jan-Dirk MÜLLER u. Horst WENZEL, Stuttgart-Leipzig 1999, S. 19-41.
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den Waffen erzeugen einen leuchtenden Funkenflug (3958-61), das aus den Schilden geschlagene rot-leuchtende Gold (3975) wird zu einer Blumensaat, welche die von den Kämpfern zertretenen Blüten des Maies ersetzt (3986-93). Und wieder werden die visuellen Effekte durch die homodiegetischen Rezipienten als solche markiert (des nâmen die götinne war / mit vlîzeclichen ougen, 3978f.). Folglich hat es auch einen Doppelsinn, wenn der Erzähler später erklärt, des wart ze fuoze ein strît vernomen, / der schœnste, den man ie gesach. (4070f.) Der gefahrvolle Kampf erzeugt einen schönen Anblick, aber dieser Anblick bildet eine erkennbare Differenz zur Auseinandersetzung, weil die sprachlich thematisierten visuellen Werte den Kampf bezeichnen und ihn nicht im naiven Verständnis einer neuzeitlichen Bildsimulation abbilden. Die Handlung selbst kann darum auch durchaus konventionell erzählt werden, soweit es um Sieg und Niederlage in der Geschichte geht. In diesem Sinne nimmt das Publikum ebenfalls großen Anteil am Hin und Her des Kampfglücks (4128-46; 4260-73). Aber sogar was sich in dieser erzählten Handlung an Gestalten begegnet, die Akteure, die den Konflikt durchspielen und entscheiden, sie sind letztlich und ausdrücklich Bilder. Als die Kämpfer aufeinander zustürzen, heißt es nämlich: si kâmen snurrend als ein pfîl, der snellet ûz der nüzze. man seit, daz nie geschüzze sô balde ein tracke wilde, sô drâte ir zweiger bilde kam ûf den orsen dar geflogen. (3922-27) Wo sonst als in der Rede vom bilde ist der Text beim Wort zu nehmen?38 Die Semantik des mit knapp 150 Belegen schon quantitativ auffällig häufigen Wortes läßt sich beschreiben, wenn man von der Beobachtung ausgeht, daß Konrad dann, wenn andere Autoren zur Bezeichnung eines Akteurs im Geschehen um38 Dies gilt insbesondere in Ergänzung zu den wiederholten Feststellungen einer mehrdeu-
tigen Semantik von Schrift- und Bildbezeichnungen bei Horst WENZEL, Schrift und Gemeld. Zur Bildhaftigkeit der Literatur und zur Narrativik der Bilder, in: Bild und Text im Dialog, hg. v. Klaus DIRSCHERL (Passauer Interdisziplinäre Kolloquien 3), Passau 1993, S. 29-52, hier S. 29-39; DERS., Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 292-296; DERS., Schrift und Bild. Zur Repräsentation der audiovisuellen Wahrnehmung im Mittelalter, in: DERS., Höfische Repräsentation. Symbolische Kommunikation und Literatur im Mittelalter, Darmstadt 2005, S. 182-204 (zuerst 1993), S. 187f.; in jüngerer Zeit zu bilde, auf Wenzels Paradebeispiel Thomasin von Zerclaere bezogen, DERS., Sagen und Zeigen. Zur Poetik der Visualität im „Welschen Gast“ des Thomasin von Zerclaere, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 125, 2006, S. 128, hier S. 6-9; DERS., Erzählende Bilder und bildhafte Literatur. Plädoyer für eine TextBildwissenschaft, in: Iconic Worlds. Neue Bilderwelten und Wissensräume, hg. v. Christa MAAR u. Hubert BURDA, Köln 2006, S. 232-250, hier S. 234-237.
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schreibend lîp verwenden, mit Vorliebe bilde verwendet. Die auch sonst belegte mittelhochdeutsche Grundbedeutung von bilde als Bildnis bzw. Bildwerk gilt auch für den ‚Trojanischen Krieg‘:39 Als bilde werden konventionell die Bildnisse z.B. auf Kleidung oder Wänden bezeichnet,40 solche Bildnisse können als (Götter-)Bild anbetungswürdig oder magisch wirksam sein.41 Die allgemeinere visuelle Wirksamkeit des Bildnisses gilt dann aber auch für die äußere Gestalt der Protagonisten: Insbesondere Paris soll dem Wunsch seines Vaters zufolge in Troja wie ein Bildschmuck fungieren, mîn hof mit sînem bilde / sol werden wunneclîche erlûht. (3406f.) Vor diesem Hintergrund erweist sich, daß die häufige Bezeichnung der Akteure als bilde diese nicht nur einfach von ihrer äußeren Erscheinung her akzentuiert, – wenn Konrad präzise von körperlichen Gestalten sprechen will, verwendet er statt bilde das Wort figûre –42 sondern deren Erscheinungsqualität ganz in den Vordergrund rückt. Das bilde wird deshalb auch, in der Vorgeschichte des Paris und insbesondere in der Verkleidungsgeschichte des Achilles, im Spiegelbild seinem klassischen Reflexionsmedium zugeführt (477, 28370, 28490, 28540), in dem deutlich wird, daß sich diese Erscheinungsqualität des bildes durch seinen Verweischarakter konstituiert, der es vom Abbild unterscheidet. Seine Verweisfunktion zeigt sich in den Möglichkeiten der Täuschung durch einen oberflächlichen Gestaltwandel, zunächst an der Protheusfigur (4515, 4525), vor allem aber anhand des (wîplich) bilde,43 das Achilles bietet. D.h. bilde ist im ‚Trojanischen Krieg‘ alles, was sich in besonderer Weise der Betrachtung darbietet und eine Verweisbeziehung des Sichtbaren mit einer Bedeutung anknüpft. Darum ist auch der Text selbst ein bilde: Er wird zum Vorbild (264, 284, 18592, 29965) für den Rezipienten, weil auch seine Bilder durch Zeichen konstituiert werden. Diese Verweisbeziehung ist im bilde Helenas besonders intensiv. Helenas Erscheinung ist geradezu ein Phantasma des Paris und seines Begehrens, das mit dem Plan, Helena konkret zu erringen, dynamisiert wird: der troum von sînem bilde 39 Vgl. zum sonstigen Gebrauch das Lemma ‚bilde‘ in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch
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(wie Anm. 30), Bd. 1, S. 120; LEXER (wie Anm. 30), Bd. 1, Sp. 273f.; GÄRTNER u.a. (wie Anm. 30), S. 46. Vgl. auch die Diskussion bei Timothy R. JACKSON, die voegle sam si vlügen. Topoi und Erzählmotive in der künstlerischen Darstellung der Natur, in: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997, in Zusammenarbeit mit Frank FÜRBETH u. Ulrike ZITZELSPERGER hg. v. Alan ROBERTSHAW u. Gerhard WOLF, Tübingen 1999, S. 41-52, bes. S. 46-52. Der Beleg des ‚Trojanischen Krieges‘ V. 3926 unter der Rubrik ‚äußeres Ansehen, Gestalt, Person‘ in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, hg. v. Kurt GÄRTNER, Klaus GRUBMÜLLER u. Karl STACKMANN, Bd. 1, Lfg. 4: besingen – bluotekirl, bearb. v. Kurt GÄRTNER u.a., Stuttgart 2007, Sp. 799. 3051, 3056, 17441, 17647, 17651, 17661, 17670, 30019. 870, 9094, 9101, 9120, 9290, 9296, 9592, 17674, 17661, 17670. Vgl. 1308, 3035, 4547, 5675, 5852, 9109, 9301, 9642, 15655, 17654, 19823, 39270, synonym dazu auch forme 5854, die forme und die figûre 29571. 13963, 14212, 14283, 14337, 14374, 14384, 14393, 14438, 14444, 14467 u.ö.
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/ war êrst z’eim ende vollebrâht / dô dirre verte was erdâht (23658-60). Damit ist das bilde hier paradox definiert: Das bilde ist das stets ferne Ziel des begehrlichen Blickes.44 Weil es sich in der Distanz konstituiert und eine endlose Annäherungsbewegung provoziert, die im Ergreifen der konkreten Gestalt nicht zu haben ist, ist es wiederholt im Reim als wilde charakterisiert: In der wildekeit des Sichtbaren ist das Bild gegeben und doch flüchtig. Es liegt in der Konsequenz dieser Dynamik, das bilde ausdrücklich nicht mit der statischen Materialität eines Bildträgers zu verwechseln, es ist in diesem Sinne ausdrücklich kein Gemälde, denn im Unterschied zum lebendigen Bild ist das materielle Gemälde statisch und tot: nû seht, wie von den wenden erschîne ein tôt gemælde blint, swâ lebende crêâtiure sint, sus wâren alle varwe tôt unde erloschen garwe, sô man ir lebendez bilde kôs. (19715-19) Auf die anfängliche Kampfsituation der Bilder von Hector und Peleus übertragen heißt das: Die Akteure kommen nur als Ansichten im Text zur Erscheinung. Weil sie darin dezidierte Erzeugnisse des Textes sind, haben diese Ansichten den medialen Status des Bildes zwischen materialer Sichtbarkeit und konkreter Dinglichkeit. Der Kampf ist also in praktischer Hinsicht auf die Handlung eine Auseinandersetzung von Hector und Peleus, aber er ist auch und zuerst ein Kampf der Bilder. Deren Bildhaftigkeit wird allerdings erst erreicht, wenn sie selbst als visualisierte Zeichenkomplexe begriffen werden, die gerade keine direkt sichtbaren Abbildungen von Akteuren sind. Als eine solche Bezeichnung des Sichtbaren liefert die Darstellung also keine Simulation der sichtbaren Welt, sondern eine Stimulation einer Bildvorstellung, die nicht mimetisch, sondern zeichenhaft ist.
4. Die Schlacht als Bildereignis und narratives Zentrum Das Modell des Einzelkampfes wiederholt eine Schlacht in großem Maßstab, sie kompliziert damit seine narrativen und visuellen Möglichkeiten. In Konrads ‚Trojanischem Krieg‘, der eingangs bereits als ein überflüzzeclich[…] hort / von strîte (291f.) bezeichnet wird, weil er von der größten Schlacht aller Zeiten handelt (292f.), hat sich das Modell der ästhetischen Narration folglich gerade an der großen Kampfschilderung zu bewähren. Die Ästhetisierung beginnt darum 44 Vgl. dazu passend in der Umkehr die Bezeichnung des Ungeheuerlich-Widerwärtigen als
unbilde (6177, 6349, 7445, 9390, 9861, 10825, 10853, 13659, 14075, 14151, 14423, 16322, 21576, 28956, 32927, 34372, 36361, 38976, 39758).
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schon mit dem Ort der Kampfhandlung: Nach der ersten Zerstörung durch die Griechen (11391ff.) ist Troja von Priamus als ein Schauwunder wiedererrichtet worden, dessen Beschreibung durch den Erzähler nur deshalb dem konkreten visuellen Eindruck in der Diegese gerecht wird, weil der überwältigende Sinneseindruck in Intensität umgesetzt wird: Die Anlage der Stadt läßt sich, wie bei Benoît vorgegeben (RTr 2977-3186), präzise beschreiben (17336-391), die Farben und das Aussehen der verwendeten edlen Materialien lassen sich in diese Beschreibung eintragen (17392-417).45 Aber dies führt nicht etwa zu einem konkreten Raumkonzept, sondern es läuft auf eine visuelle Gesamtwirkung zu, welche die Möglichkeiten der Wahrnehmung wiederum in charakteristischer Weise überfordert: reht als ein irdisch paradîs diu stat erwünschet dûhte, wan si gar schône lûhte von rîchen dingen manger slaht. (17444-447) Die entdifferenzierende Gesamtwirkung der sprachlichen Visualisierung spiegelt sich in dem reichen Bilderschmuck der Häuser der Stadt (17441), dem figürlichen Schmuck der Fenster, in der in ihrer Farbigkeit glänzenden Halle des Königs (17512-521) und zuletzt in der Leuchtkraft der in Silber und Gold gefaßten Götterbilder des Palastes (17646-657). Diese Bilder können angesprochen werden, sind aber nun auch in ihrer Gesamtwirkung schwierig zu vermitteln. Das Bildensemble erzeugt keinen räumlichen Eindruck, es löst ihn auf. Diese Schwierigkeit ist im Rahmen der Erzählung bezeichnend: In ihrem visuellen Reichtum wirken die Ansichten der Stadt so überfüllt wie das Geschehen des Trojanischen Krieges als überkomplex erscheint. Und wiederum macht ein Kunstwerk im Erzählkunstwerk den ästhetischen Status des Ganzen deutlich: Die besondere visuelle Wirkung Trojas kommt pointiert im Inneren der Stadt noch einmal in dem wundersamen Vogelbaum rîlich unde wunnesam (17573) zur Geltung, der, in konzentrierter Überbietung der Quelle, von Konrad nicht nur in seiner Fähigkeit, auf mechanische Weise die schönste Musik hervorzubringen, gepriesen wird (17582-585), sondern auch als ein beglückendes Schaukunstwerk zur Darstellung kommt.46 Die auf ihm dargestellten Vögel sind nicht zuerst 45 Dazu der detaillierte Vergleich bei LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 92-94. 46 Vgl. dagegen die Reihe der verschiedenen Automaten bei Benoît (RTr 14711-918). Zur
Tradition der Automatendarstellung Ulrich ERNST, Zauber – Technik – Imagination. Zur Darstellung von Automaten in der Erzählliteratur des Mittelalters, in: Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Klaus GRUBMÜLLER u. Markus STOCK (Wolfenbüttler Mittelalter-Studien 17), Wiesbaden 2003, S. 115-172, zu Konrad hier S. 153. Vgl. zuvor ausschnittartig, dafür mit der älteren Literatur: Christoph FASBENDER, rehte alsam er lebte. Nachbildung als Überbietung der Natur in der Epik des Mittelalters. Anmerkungen zu Texten und zu interpretatorischen Konsequenzen, in: Na-
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Klangkörper, sie sind Schauobjekte, denn sie glänzen in allen Farben, wîz, brûn, gel, rôt, grüen unde blâ / diu vögellîn drûf glizzen. (17586f.) Und zur Gesamtwirkung heißt es: der boum und das gestüele was sô wol gewürket, als ich las, daz alle die des jâhen, die ez mit ougen sâhen, sô kürlich werc enwürde nie geworht ûf al der erden hie. (17619-624) Aber auch nach außen ist die Stadt auf Visualität hin angelegt: Der wunderbare Turm der Stadt ist nicht nur selbst ein Schauobjekt, weil auch er bildgeschmückt ist (17469-71), der Turm ist auch ein Aussichtspunkt, von dem wiederum die Welt um Troja herum betrachtet werden kann: die burger mohten schouwen ab sînen hôhen zinnen, swes ieman dâ beginnen kund in dem lande und ûf dem mer. (17472-475) Das heißt: Die Stadt Troja ist ein Bildereignis mit einer zeichenhaften Verweisfunktion, das selbst für den Charakter der Visualisierung dessen steht, was sich vor Troja ereignet. Die Stadt besitzt eine visuelle Überfülle, angesichts deren die Vorstellungen des Bildes als Abbild des real Sichtbaren und des Raumes als fester Orientierungsgröße in einen Zirkel hineinlaufen: Ebenso wie derjenige, der sich den Text als eine mimetische Darstellung zu imaginieren versucht, dem Rauschen der Farben und Bildreize letztlich blind gegenübersteht, so führt auch die Hoffnung auf konkrete bildliche und räumliche Visualisierungen angesichts der Stadt Troja zu keinem Ziel. Es entsteht vielmehr jene Verweisstruktur, ohne die vom Bild noch nicht zu reden ist, aber dies führt letztlich zu keiner konkreten visuellen Imagination, weil in ihr Bilder immer nur auf Bilder verweisen. Konrads fragmentarischer Text bricht nach der dritten Schlacht ab, wobei der zweiten Schlacht schon quantitativ das Hauptgewicht zukommt (2948237584). So wie ein Einzelkampf die Schlacht vertreten kann, so vertritt die Schlacht wiederum den Krieg als Ganzes: Die größte Schlachtschilderung, die Konrads ‚Trojanerkrieg‘ bietet, wäre damit als zentrales narratives Ereignis des Textes anzusehen. Doch gerade hinsichtlich seiner narrativen Stringenz hat dieser Textpassus in der Forschung wenig Beifall gefunden: Die Geschehensschilderungen treten derart in den Vordergrund, daß man den Ablauf der Geschichte tur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters (wie Anm. 39), S. 53-64, hier S. 59f.
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förmlich aus den Augen verliert.47 Nach dem bisher Gesagten liegt diese Gegenläufigkeit von Handlung und Visualisierung aber in der Konsequenz der Darstellung. Das Schlachtereignis böte demnach den Höhepunkt des ästhetischen Erzählverfahrens. Darum läßt es sich auch als Ziel der bildlichen Verweise betrachten, zumal die zweite Schlacht in ihrer Mitte mit dem Auftritt Helenas über den Zinnen Trojas eine Szene enthält, in der das aporetische Zentrum der Auseinandersetzung mit seinem narrativen Wirkungsmechanismus selbst zur Anschauung kommt. Die Schönheit der Venus hat zuvor das Beschreibungsvermögen des Erzählers bereits überschritten. Als Helena im Venus-Tempel auf Kythera ihrem zukünftigen Geliebten Paris begegnet, gibt das dem Erzähler die passende Gelegenheit zu einer ausführlichen, über 300 Verse umfassenden descriptio, die den rhetorischen Kunstregeln folgt. In der ausführlich geschilderten, changierenden Vielfarbigkeit des bildgeschmückten Mantels der Helena enthält diese Beschreibung ein weiteres Kunstwerk im Erzählkunstwerk, das die Wirkung des Apfels der Discordia mit konkretem Blick auf die im Paris-Urteil verheißene Helenagestalt wieder aufnimmt (19908-20296, bes. 20055-199). Eben darum ist diese konkrete Beschreibung Helenas für sich genommen, trotz ihrer Kunstfertigkeit, unvollkommen. Sie steht nämlich im Kontrast zu der schon von der Parisfigur angesprochenen visuellen Unfaßbarkeit dieser Schönheit (19824-831), der ihre Unsagbarkeit durch den Erzähler entspricht (20036f.) und die letztlich dort erst ausgedrückt werden kann, wo sie in ihrer Lichtwirkung thematisiert wird, etwa mit den Worten: si kam reht als diu sunne / dort her durliuhteclichen schine / und mit ir in das tempel hine / wolt alle sterne wîsen (19880-883, vgl. 19826-831).48 Helenas Schönheit ist von blendender clârheit (19713, 19737, 19828, 19859 u.ö.) und damit im genauen Wortsinne evident, d.h. einleuchtend.
47 Zur Bildwirkung der Schlachtdarstellung und dem damit gegebenen Unterschied zur Vor-
lage schon BASLER (wie Anm. 12), S. 32f., S. 63-65. Die weiteren älteren Wertungen zusammenfassend PFENNIG (wie Anm. 13), S. 211f., der die zweite Schlacht, entgegen der eingestandenen hyperbolischen Visualisierungstechnik, durch die Konzentration auf die Handlungsebene als realistische Darstellung zu lesen und zu ordnen versucht (S. 262282), was bezogen auf die Geschehensabläufe zweifellos möglich ist, aber die Frage der erzählerischen Darstellung unterläuft. Vgl. zum Handlungsverlauf auch LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 141-162. 48 Dieses Problem akzentuiert zu Recht LIENERT, Helena (wie Anm. 14), S. 411. Vgl. zum Unsagbarkeitstopos die Belegsammlung schon bei Moses SIGALL, Konrad von Würzburg und der Fortsetzer seines Trojanerkrieges, 3 Bde. (Programm des Gr.-Or. Obergymnasiums in Suczawa), Czernowitz 1893, 1894 u. 1897, hier Bd. 2, 1894, S. 8f. Zur Technik und Tradition der Beschreibung detailliert Jean-Mark PASTRÉ, Typologie und Ästhetik: Das Porträt der Helena im ‚Trojanerkrieg‘ Konrads von Würzburg, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 397-408, der freilich die Lichtwirkung als konsequenten Abschluß des Beschreibungsverfahrens begreift und damit dem Unsagbarkeitstopos nur eine einfache Steigerungsfunktion zubilligt. Zur Überpointierung indes MÜLLER (wie Anm. 8), S. 298f.
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Diese evidente Lichtwirkung verdeutlicht, daß insbesondere Helenas Schönheit ebenso eine narrative wie ästhetische Wirkungskategorie ist. Folglich wird diese Schönheit in der Wirkung auf Paris besonders greifbar, der selbst bezeichnenderweise auf das glanzvolle Bild Helenas ‚farbig‘ reagiert: des wart er als ein regenboge geverwet von der minne der glanzen küneginne, der schœne durch sîn herze brach. wan dô sîn ouge ir bilde ersach, dô was zehant diu minne dâ und tet im kunt, daz Helenâ dâ kæme bî den stunden (19790-797).49 Diese Wirkungskategorie zeigt dann in der Schlacht ihre dilemmatische Struktur ganz praktisch.50 Helena weiß um ihre fatale Wirkung, die sie selbst ausdrücklich beklagt (33959-994). Die Fatalität ihrer Schönheit zeichnet sich als visuelles Phänomen ab, denn Helena leuchtet wie eine Sonne, die das Licht ihrer Umgebung gleichsam aufzehrt: Jeder Glanz erlischt jetzt durch ihre Strahlkraft (34072-77). Der elementare Handlungsmechanismus des Trojanischen Krieges steht so schon vor Augen und setzt sich im Kampf fort. Denn mit diesem Glanz Helenas wetteifert wiederum der Glanz der Schilde in der Schlacht, die unterhalb der Zinnen tobt (34050-67), wie auch die Schönheit Helenas die Griechen praktisch zum Kampf anspornt (34004-21). Der Kampf selbst ist wiederum ein tödlicher Glanz, denn seine Darstellung bewegt sich in einem Oppositionsverhältnis aus farbiger Schönheit und blutigem Sterben. Die Wechselwirkung der visuellen Reize, die die Sprache hier schafft, sie führt auf einen fatalen, sich selbst perpetuierenden Mechanismus. Die sprachlich unermeßliche Schönheit erzeugt ein tödliches Begehren, dessen schreckliche Folgen selbst nochmals so unermeßlich sind, daß sie nur über das Totalitätsphänomen der Schönheit angesprochen werden können. Mit anderen Worten: Das Wechselspiel zwischen sichtbarer Schönheit und tödlicher Handlung vollzieht sich nicht einfach nur auf der Handlungs- und auf der Darstellungsebene. Vielmehr werden beide Ebenen miteinander kurzgeschlossen. Nicht nur, daß das Begehren der Schönheit den Kampf auslöst, daß die visuelle Wirkung die Handlung in der Diegese vorantreibt; die Handlung selbst wird wiederum zu einem visuellen Diskurs, d.h. sie gibt nicht nur einen Eindruck von dem, was geschieht, sondern sie visualisiert zugleich den diesem Geschehen zugrundeliegenden fatalen Mechanismus. Das Bild-Ereignis ist so 49 Vgl. LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 100, die von einer „Schauszene ohne Glei-
chen“ spricht.
50 Vgl. MONECKE (wie Anm. 8), S. 131f.
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eine Art Bild-Rede, es gewinnt durch diese Verschränkung der Ebenen die Struktur der Metapher. Diese Struktur begründet damit so etwas wie den ‚Master-Tropus‘ des Textes. Die metaphorische Grundverfassung des ‚Trojanischen Krieges‘ läßt sich auch ganz am Ende des Textfragmentes noch einmal sehr gut fassen, denn hier findet auch noch der Erzähler in der Handlung sein Gegenstück: In den Kämpfen von Hector und Achill wetteifern diese beiden Kämpfer geradezu mit dem Erzähler, sie werden nämlich mit ihren Schwertern zu Malern des blutigen Schlachtgemäldes von Troja: si kunden beide mâlen / mit bluote ûf dem gevilde / vil jæmerlicher bilde. (40128-130) Und damit erzeugen sie wiederum ein Paradox, das der Lichtwirkung des Textes und der Schönheit, wie der Erzähler sie zu fassen versucht, genau entgegensteht. Denn die Bilder, die Hector und Achill malen, führen nicht, wie die Sprache des Erzählers, ins Licht, vielmehr führen sie in die Dunkelheit: Der Dampf des Blutes und der Toten in ihrem Gemälde verfinstert schließlich die Farbwirkung, die sich gleich in der Mischung der Farben selbst nochmals auflöst: dô wart vil heizez bluotes gemenget under kalten sweiz. diu wolken und der lüfte kreiz dâ wurden tunkel dur den rouch, der von den tôten liuten ouch hôh über sich ze berge dampf. dâ schuof der angestbære kampf, daz sich dô manic schilt zercloup, dar ûz die liehte varwe stoup, wîz, brûn, gel, rôt, grüen unde blâ und einen nebel mahte dâ mit ir gestüppe manicvalt. (40146-157) Natürlich müssen diese ‚Maler‘ im Geschehen dem Erzähler unterlegen sein, denn der Erzähler überblickt im Gegensatz zu ihnen das Ganze der Geschichte, deren Sinn den nur perzipierenden Beteiligten ebenso dunkel bleibt, wie sie die Lichtwirkung der eigenen Farbmalerei schließlich selbst zunichte machen. Im Gegenzug kann indes der Erzähler das Sinnpotential dieses Ganzen ansprechen, freilich auch er nur mit Hilfe seiner zentralen Metapher. So wie der Text aufs Ganze gesehen als Umsetzung einer erzählten Handlung in Bildrede erscheint, so zeichnet sich im konkreten Metapherngebrauch, der bis zur Metaphorisierung des Textes selbst reicht, die Bedeutung des narrativ nicht zu bewältigenden Krieges ab. Am Ende der großen Schlacht tritt deshalb noch einmal die zentrale Metapher des Textes hervor. Der Erzähler gibt zu, daß sein Bericht von der Schlacht nur unvollständig sein kann, denn er bricht seine ausführlichen Namensnen-
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nungen schließlich ab, weil er nicht alle Namen zu nennen weiß (36850-855).51 Um aber die Fülle dennoch zu erfassen, muß er zur bildlichen Rede greifen, die den Figuren keine Kontur mehr gibt.52 Es kommt zu einer visuellen Apotheose aus Leib und Licht, deren Schönheit zugleich ein mortlich jâmer (36938) ist, der sich über das Bild des Feuers mit seiner verzehrenden Lichtwirkung erfassen läßt: dô möhte ein glanz gestirne ûz niuwen flammen sîn geborn. man schriet dâ leder unde horn, golt, silber, îsen unde bein. (36912-915) Die Bedeutung des Kampfes ist in der Licht- und Flammenwirkung zu sehen, die das Erzählen von ihm beschwört. Damit kommt der Text auch hier wiederum auf jene Leitmetapher zu sprechen, die den Text bei der Beschreibung aller prägnanter Lichtphänomene durchzieht: das Feuer, in dem Troja schließlich untergeht.53 Der Brand Trojas, von dem im ‚Trojanerkrieg‘-Torso Konrads nicht mehr erzählt wird, er ist in der zerstörerischen Lichtwirkung, die als Feuer angesprochen wird, im Text schon von Hecubas Traumbild an überall zu sehen. So führt nicht nur die Minnehandlung um Helena, alle im Text vorkommenden Minnehandlungen führen ihre männlichen Protagonisten ins Feuer. Jason findet bei Konrad, in Umakzentuierung der Vorlage, als Folge seiner Untreue gegenüber Medea den Tod in den Flammen. Überboten wird dies durch den Tod des 51 Das Verfahren mag an die Historiographie gemahnen, wie Albrecht JÜRGENS, Über den
Umgang mit ‚Geschichte‘ in Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘-Fragment, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 431-442, hier S. 440, vorschlägt, aber das unterstreicht im ästhetischen Zusammenhalt des Textes gerade nicht den Anspruch auf eine faktische Historizität, der schon den neuzeitlichen Geschichtsbegriff vorwegnähme. Auf der ambivalenten Position zwischen Geschichtsschreibung und Literatur vor der Etablierung des neuzeitlichen Geschichtsdenkens insistiert deutlicher die Skizze von Joachim KNAPE, Geschichte bei Konrad von Würzburg, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 421-430. LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 314-318, schlägt konkreter von der allgemeinen Exemplarizität der Einzelhandlungen die Verbindung zur Historizität der materia des Trojanischen Krieges. 52 Die ästhetische Auflösung und der damit verbundene Unterschied zu einer traditionellen descriptio, die sich in den Dienst einer historiographischen Schilderung stellen ließe, mag das genau komplementäre Beschreibungsverfahren von Benoît zeigen, der an anderer Stelle Namenskataloge mit Figurenschreibungen zu anschaulichen Portraitkatalogen kombiniert (RTr 5093-5582). 53 Vgl. LIENERT, Helena (wie Anm. 14), S. 417f.; DIES., Geschichte (wie Anm. 12), S. 36, 207f., 249f., 274, 308; DIES., Deutsche Antikenromane (wie Anm. 4), S. 128. Zum Material auch die allgemeine Erhebung durch SIGALL (wie Anm. 48), S. 24-46, der für den Text insgesamt 505 Metaphern und 464 Vergleiche gezählt hat, sowie einzelne Hinweise bei Elisabeth RAST, Vergleich, Gleichnis, Metapher und Allegorie bei Konrad von Würzburg, Würzburg 1936, S. 6, S. 28f.
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Hercules, der, als er begreift, daß er durch das Gewand des Nessus innerlich verbrennt, aus seiner Reflexion über das eigene Minnevergehen gegenüber Deianira sogar selbst den Tod in den Flammen wählt. Hector und Achilles entfachen im Zusammenspiel mit den Lichterscheinungen von Helena und Polyxena vor Troja das Feuer des Kampfes, das Troja insgesamt lichtvoll verzehren wird: Dieses Feuer ist damit keine Visualisierung des Geschehens um Troja, es fungiert als Repräsentation seiner Bedeutung. Vielleicht auch deshalb vergleicht die Autorfigur des ‚Trojanischen Krieges‘ seine Tätigkeit maßgeblich mit der Selbsterneuerung des Phönix (32-53), der durch das Feuer wiedergeboren wird. Dieser Initialvergleich führt jedenfalls im Prolog auf die Lichtmetapher: Die Kunst Konrads soll ein anderes Licht sein als jenes, von dem sich die Fledermaus in der Nacht täuschen läßt, obwohl es sich nur um den Widerschein handelt, den ein feuchtes, faules Holz gibt (153-169). Konrads Erzähler will wie eine vom Laub verdeckte Nachtigall (192-211) selbst unsichtbar und selbstgenügsam singen und gerade dadurch eine materia von hoher Dignität über sprachliche Brillanz ästhetisch-visuell zugänglich machen: das alte buoch von Troye / […] erniuwen / mit worten lûter unde glanz (269-275) zu einem sælic bilde (284).54 Zusammen mit der Troja-Formel vom Anfang des Textes könnte sich demnach ein Hinweis auf den Master-Tropus und seine Bild erzeugende Funktion anbahnen, unter dem das ästhetische Konzept des ganzen Textes zu fassen wäre. Um der unaussprechlichen Schönheit Helenas willen wird nicht nur gestorben, um der unaussprechlichen Schönheit willen wird auch erzählt. Weil die Schönheit nicht direkt wahrgenommen und nicht sprachlich beschrieben, sondern nur durch das Begehren und seine narrativen Folgen begriffen werden kann, geht es nicht um die Visualisierung eines Geschehens, sondern um die Visualisierung eines ebenso narrativen wie ästhetischen Wirkungszusammenhangs. In der sprachlichen Figur der Metapher ist dieser Wirkungszusammenhang begriffen. Die Sinnfülle des Ereignisses des Trojanischen Krieges wäre so sprachlich sichtbar. 54 Zum Prolog allgemeiner Trude EHLERT, Zu Konrads von Würzburg Auffassung vom
Wert der Kunst und von der Rolle des Künstlers, in: Jahrbuch der Oswald-vonWolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 79-94, bes. S. 90f., mit der älteren Forschung. Zum erklärten ästhetischen Programm Konrads am Beispiel des ‚Partonopier‘-Prologs grundsätzlich Walter HAUG, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 21992, S. 356f. Die übliche Akzentuierung des Konrad eigenen ästhetischen Autonomiepostulats, das in der erneuten Verwendung des Nachtigallenvergleichs (192-211) steckt, ist demnach mit KELLNER (wie Anm. 3), S. 253f., 258f., festzuhalten. Die Pointe in der Reihe der Sichtbarkeitsvergleiche wäre – um der Spur zu folgen, die MÜLLER (wie Anm. 8), S. 295f., zu den Lichtbezeichnungen im Prolog gelegt hat – aber zudem darin zu sehen, daß Konrad die Nachtigall in seinem Vergleich gerade dann singen läßt, swenn über si gestürzet / wirt ein gezelt von loube (196f.), und das Nicht-Bild des dem Blick entzogenen Vogels gegenüber dem Publikum mit der Aufforderung seht (206) auf sich bezieht: Es geht schon hier um die Paradoxie der Visualisierung im sprachlichen Medium. Die Prologbeschreibung von LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 17-29, geht auf die Bildlichkeit nicht ein.
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5. Wahrnehmung zwischen Wort und Bild? Wenn man diese Interpretation des ‚Trojanischen Krieges‘ wenigstens dem Grundsatz nach akzeptiert, dann ergeben sich Einsprüche gegenüber einigen Vereinfachungs- und Analogisierungstendenzen, die in Teilen der germanistisch-mediävistischen Diskussion zum Themenfeld der ‚literarischen Wahrnehmung‘ anzutreffen sind. Diese Einwände lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: Sie betreffen den Bildbegriff, daran anschließend die Rede von der Bilderzählung und schließlich zusammenfassend den Status der Metapher als paradoxer Denkfigur wissenschaftlicher Erkenntnis. Was den Bildbegriff betrifft, so zeigt sich an einem Text wie dem ‚Trojanischen Krieg‘ geradezu programmatisch die Berechtigung der Zusammenführung von moderner Bildtheorie und Imaginationspraxis mittelalterlicher Literatur. Nur darf man, wenn man diese Berechtigung anzuerkennen bereit ist, die Figur ihrer Begründung nicht einfach vergessen, so banal sie auch sein mag: Die Bedingung der Möglichkeit textueller Bildwahrnehmung liegt gerade darin, daß Texte keine visuellen Medien sind. Die im Text erzeugte Bildimagination arbeitet von vornherein in jenem phänomenalen Zwischenraum der schematischen Erzeugung intentionaler Werte und ihrer Bedeutungen, den die moderne Bildtheorie als Kern des Bildbegriffs ausgemacht hat.55 Schon zur wirkungsgeschichtlichen Anpassung der historischen Texte an die aktuellen Wahrnehmungskonventionen wäre folglich die Verwendung aktueller Bildtheorien nützlich, aber dies setzt grundsätzlich voraus, daß die theoretisch unterschiedlich akzentuierten, gleichwohl allgemein gültigen Grundunterscheidungen nicht schon deshalb unausgesprochen unterlaufen werden, weil man sich angesichts 55 Vgl. zur Übersicht Oliver Robert SCHOLZ, Art. Bild, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. v.
Karlheinz BARCK u.a., Bd. 1: Absenz-Darstellung, Stuttgart-Weimar 2000, S. 618-669. Daran anschließend hat Lambert WIESING, Die Hauptströmungen der gegenwärtigen Philosophie des Bildes, in: DERS., Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1737), Frankfurt a.M. 2005, S. 17-36, ergänzend zur Unterscheidung der aktuellen bildtheoretischen Entwicklung in eine semiotische und phänomenologische Richtung die besondere Akzentuierung der anthropologischen Bildtheorien als dritten Weg der Bildtheorie markiert, was sowohl mit Blick auf den Artikel von Scholz sinnvoll erscheint, da dieser selbst mit der anthropologischen Sicht eröffnet, als auch hinsichtlich der mediävistischen Diskussion durch den Einfluß der kunsthistorischen Schriften von Hans BELTING, besonders: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft (Bild und Text), München 2001, bes. S. 11-55. Als philosophischanthropologische Grundposition mit stärker hermeneutischer Ausrichtung zuvor Hans JONAS, Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens, in: Was ist ein Bild?, hg. v. Gottfried BOEHM (Bild und Text), München 1995, S. 105-124. Die Unterschiede zwischen den europäischen und insbesondere deutschen bildtheoretischen Grundpositionen und dem daneben etablierten angloamerikanischen Visualtätsdiskurs betont Gustav FRANK, Textparadigma kontra visueller Imperativ: 20 Jahre Visual Culture Studies als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Ein Forschungsbericht, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 21, 2006, S. 26-89.
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des abstrakten Untersuchungsobjektes ‚Text‘ immer schon auf der theoretisch sicheren Seite wähnt. Jedenfalls kommt es gerade bei einigen Verfechtern moderner Theorie-Importe zu Gleichsetzungen, die nicht nur den Widerspruch einer eher traditionell-philologischen Textbetrachtung herausfordern, sondern auch der modernen Theoriebildung nicht recht angemessen sind.56 So ist es zum Beispiel ein Selbstwiderspruch, zunächst den kategorialen Unterschied zwischen Bild- und Textmedien festzuhalten, auf dem das komplementäre Verhältnis der Textualität des Bildes und der Bildlichkeit der Texte beruht und auf dessen Grundlage folglich die Analyse von Bildbeschreibungen erst sinnvoll wird,57 dann aber durch die Analogisierung der Begriffe ‚Bild‘ und ‚Spiegelung‘ jene Differenz zwischen Bild und Abbild einzuebnen,58 auf die es im Anschluß an den kunsttheoretischen Bildbegriff gerade ankommt. Dies gilt umso mehr, als diese Differenz in der Kunst- und Bildtheorie verschiedentlich gerade am Problem des Spiegels und der Spiegelung erörtert wurde.59 Auch eine genauere Orientierung an der historischen Semantik des Wortes bilde macht eine solche Vorstellung schwierig. Die Folge der Analogisierung von Bild und Abbild zeigt sich dann im Umgang mit den klassisch-rhetorischen Vorgaben, wenn nämlich der Begriff der evidentia irrtümlich als Beleg für ein Abbildverhältnis 56 Vgl. die Einwände in der Rezension des Bandes: Beweglichkeit der Bilder. Text und Ima-
gination in den illustrierten Handschriften des „Welschen Gastes“ von Thomasin von Zerclaere, hg. v. Horst WENZEL u. Christina LECHTERMANN (pictura et poesis 15), KölnWien-Weimar 2002, durch Michael CURSCHMANN, Interdisziplinäre Beweglichkeit – Wie weit reicht sie?, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 123, 2004, S. 109-117, der aus streng fachdisziplinärer Sicht nachdrücklich auf sachliche Fehler und nicht zuletzt auf die Diffusion des Bildbegriffs hingewiesen hat (S. 116). Daraufhin die Reaktion von Horst WENZEL, Sagen und Zeigen (wie Anm. 38), bes. S. 5, Anm. 11, die sich im wesentlichen mit pauschalen Hinweisen auf neuere bildwissenschaftliche Grundannahmen munitioniert, deren genaue Applikation aber schuldig bleibt. Vgl. auch die harsche Kritik an der Forschungsentwicklung von Norbert OTT, Word and Image as a Field of Research: Sound Methodologies or just a Fashionable Trend? A Polemic from a European Perspective, in: Visual Culture and the German Middle Ages, hg. v. Kathryn STARKEY u. Horst WENZEL (The New Middle Ages), New York 2005, S. 15-32, in der S. 17f. methodologische Defizite, ein fehlendes wissenschaftsgeschichtliches Bewußtsein bei Theorieimporten und fehlende interdisziplinäre Überblicke moniert werden. Vgl. zuletzt die Kritik der phänomenologischen Begriffsverwendung in Anlehnung an Husserls Begriff der ‚Lage‘ durch Horst WENZEL, Einleitung, in: Visualisierungsstrategien (wie Anm. 10), S. 7-13, von Caroline EMMELIUS in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 131, 2009, S. 356-364. 57 Mit vollem Recht: WANDHOFF, Ekphrasis (wie Anm. 2), S. 4-7. 58 Ebd. S. 34f. 59 Am bekanntesten heute vermutlich BELTING, Bildanthropologie (wie Anm. 55), S. 23f. Vgl. die bildpsychologische Begründung der Unterscheidung von Abbild und Bild bei ARNHEIM (wie Anm. 36), S. 94f. Auf der Unterscheidung zwischen Bild und Abbild beruht im übrigen die Selbstreflexion des Bildes mit Hilfe des Spiegelmotivs in der bildenden Kunst: Vgl. Bernhard LYPP, Spiegel-Bilder, in: Was ist ein Bild? (wie Anm. 55), S. 411-442.
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herangezogen wird.60 Freilich geht es in der Rhetorik, wenn dort gefordert wird, Sachverhalte vor Augen zu führen, gerade nicht darum, diese einfach nur abzuschildern. Ein solches Verfahren der sprachlichen Visualisierung wäre ziemlich langweilig und damit rhetorisch unwirksam. Die pointierte visuelle Evidenz durch die clârheit bei Konrad von Würzburg weist darum nicht zufällig in die entgegengesetzte Richtung: Die evidentia zielt prinzipiell auf einen lebendigen, d.h. gesteigerten und intensivierten visuellen Eindruck, also nicht auf die Simulation von Abbildungen, sondern auf die Stimulation von dynamischen Bildprozessen im Betrachter.61 Damit soll gewiß nicht bestritten werden, daß solche Bildprozesse über den verdichteten Einsatz einzelner visueller Merkmale zu der Auffassung eines Abbildes führen können. Nur hat gerade diese Merkmalsorientierung mit einer realistischen Abbild-Auffassung zunächst offenbar wenig zu tun, der Weg zur Abbildung einer sichtbaren Wirklichkeit erweist sich vielmehr als historisch stark gestreckte Entwicklung.62 Ganz entsprechend hat auch die Frage nach dem Umgang mit den mittelalterlichen imaginationstheoretischen Vorgaben eine grundsätzlich zeichenhafte Verfassung des Wahrnehmungsprozesses deutlich werden lassen, in der sich die Vorstellung einer abbildbaren Wirklichkeit von 60 Vgl. Haiko WANDHOFF, velden und visieren, blüemen und florieren: Zur Poetik der Sichtbarkeit
in den höfischen Epen des Mittelalters, in: Zeitschrift für Germanistik n.F. 9, 1999, S. 588-597, S. 590, ausführlicher DERS., Ekphrasis (wie Anm. 2), S. 21-25, wo dieser mit Forschungsäußerungen arbeitet, in denen die essentielle Funktion der ‚Lebendigkeit‘ einer textvermittelten Augenwahrnehmung unterstrichen wird. Wandhoff mißversteht die Rede von der Lebendigkeit dann aber wenig später ausdrücklich als „Lebensechtheit“ (S. 25). Vgl. auch Horst WENZEL, Der Leser als Augenzeuge. Zur mittelalterlichen Vorgeschichte kinematographischer Wahrnehmung, in: Singularitäten – Allianzen, hg. v. Jörg HUBER (Interventionen 11), Zürich 2002, S. 147-177, hier S. 155. 61 Vgl. Hans Jürgen SCHEUER, Cerebrale Räume. Internalisierte Topographie in der Literatur und Kartographie des 12./13. Jahrhunderts (Hereford-Karte, ‚Straßburger Alexander‘), in: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, hg. v. Hartmut BÖHME (Germanistische Symposien-Berichtsbände 27), Stuttgart-Weimar 2005, S. 12-36, der sich auf den grundlegenden Beitrag von Franz Josef WORSTBROCK, dilatatio materiae. Zur Poetik des ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, in: FMSt 19, 1985, S. 1-30, berufen kann, aus dem sich dieses Konzept ableiten läßt, vgl. bes. ebd. S. 25f. zur Zeichenfunktion der Farbproportionen auf dem Zelter Enites in Hartmanns ‚Erec‘. Vgl. dazu auch den allgemeinen Überblick von Ansgar KEMMANN, Art. Evidentia, Evidenz, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert UEDING, Bd. 3: Eup-Hör, Darmstadt 1996, Sp. 33-47, hier Sp. 33 u. 39-41. Vgl. zur Illustration das an Licht- und Glanzmetaphern reiche Paradigma bei Galfred von Vinsauf: Poetria Nova, in: Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du Moyen Âge, hg. v. Edmond FARAL (Bibliothèque de l'École des Hautes Études. Sciences historiques et philologiques 238), ND. Paris 1958, S. 194-262, hier V. 562-598. 62 Vgl. grundsätzlich Dieter KARTSCHOKE, Der ain was grâ, der ander was chal. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter, in: FS Walther Haug u. Burghart Wachinger, hg. v. Johannes JANOTA u.a., Bd. 1, Tübingen 1992, S. 1-24.
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vornherein als unzulänglich erweist.63 Vor diesem Hintergrund ist die Verbindung von Bild- und Abbildbegriff prinzipiell schwierig, es sei denn, man begreift das Abbild in Umkehr des rhetorischen Verständnisses als radikale hermeneutische Kategorie, in der eine transzendente Bedeutung unmittelbar sichtbar wird.64 Erlaubt man sich dennoch eine Nivellierung des Bildbegriffs, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, auch die Metapher des Bildraumes wörtlich zu verstehen und den mittelalterlichen Texten, in Anlehnung an die Möglichkeiten computergestützter Erzeugung virtueller Räume, ein dreidimensionales Raumsystem zu unterlegen.65 Nur wiederholt dies noch einmal die problematische Analogisierung, diesmal in der Auflösung des Gegensatzes von aktiver Raumwahrnehmung und passiver Immersion.66 Nachvollziehbar ist diese vereinfachende Analogisierung insbesondere dann nicht, wenn zugleich und zu Recht die Dynamik von Visualisierungsprozessen unter dem phänomenologischen Leitbegriff der Kinästhese unentwegt betont wird.67 Vielleicht ist es deshalb nützlich, die Konsequenzen der Umsetzung des 63 Vgl. Joachim BUMKE, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis
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im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach (Hermaea 94), Tübingen 2001, bes. S. 35-76, ausgehend von den Farbzeichen der Blutstropfenszene in Parzivals Imaginationsprozeß, der zugleich modellhaft die naive Vorstellung einer direkten Wahrnehmung durchkreuzt, wie sie durch die Vertreter des Artushofes repräsentiert wird. Das im Zeichenbegriff angelegte Differenzkriterium bildet den Ausgangspunkt zu den Überlegungen zu „Wahrnehmungsstilen“ in mittelhochdeutscher Literatur am Beispiel von Konrads von Würzburg ‚Engelhart‘ durch Armin SCHULZ, Notwendige Unterscheidungen. Zur Epistemik der Sinne bei Konrad von Würzburg, in: www.germanistik2001.de. Vorträge des Erlanger Germanistentags, in Zusammenarbeit mit Petra BODEN u.a. hg. v. Hartmut KUGLER, Bd. 1, Bielefeld 2002, S. 129-142. Vgl. beispielhaft für diesen hermeneutischen Bildbegriff und zum Paradox eines transzendentalen Kontaktes den Ansatz von Bruno QUAST, Vera Icon. Über das Verhältnis von Kulttext und Erzählkunst in der „Veronika“ des Wilden Mannes, in: Mittelalter (wie Anm. 37), S. 197-216, bes. S. 198, sowie ausführlich DERS., Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit (Bibliotheca Germanica 48), Tübingen-Basel 2005, S. 1-8, zum Problem des simulacrum und seiner narrativen Auflösung S. 77-90. „Eine Vielzahl gerade der mittelalterlichen Kunst- und Architekturbeschreibungen zeichnet sich, wie bereits angedeutet, durch eine dreidimensionale Räumlichkeit aus“, WANDHOFF, Ekphrasis (wie Anm. 2), S. 34. Zur Immersion als jener Eigenschaft einer dargestellten Bildwelt, mit der diese den Betrachter in die Darstellung ‚eintauchen‘ läßt, die Differenzierungen bei Lambert WIESING, Virtuelle Realität: die Angleichung des Bildes an die Imagination, in: DERS., Artifizielle Präsenz (wie Anm. 55), S. 107-124, der einerseits deutlich macht, daß Immersion als Eigenschaft von Bildern prinzipiell schon vor der Entstehung der Neuen Medien möglich ist, andererseits darlegt, inwiefern die Bewegungen der medialen Immersion als einer fremden Rahmenvorgabe und der eigenständigen Imagination prinzipiell verschieden bleiben müssen. Vgl. in Ergänzung zu dem in Anm. 56 genannten Sammelband zur ‚Beweglichkeit der Bilder‘ und die in Anm. 38 verzeichneten Beiträge etwa auch Horst WENZEL, Visualität. Zur Vorgeschichte der kinästhetischen Wahrnehmung, in: Zeitschrift für Germanistik
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lebensweltlich-phänomenologischen Wahrnehmungsmodells in einen historischliteraturphänomenologischen Ansatz anzudeuten, der zugleich den Erfordernissen der Textsemiotik gerecht werden muß. Offenbar ist es konsensfähig zu sagen, daß visuelle Erscheinungen von Objekten für die lebensweltliche Wahrnehmung selbst nicht einfach in einem dreidimensionalen Raumsystem auftauchen, sondern erst unter den Bedingungen der Raumkategorie jeweils für sich räumlich synthetisiert werden müssen. Es gibt demnach keinen Raum vor der Wahrnehmung, sondern dieser konstituiert sich erst über die Objekte der Wahrnehmungsbewegung. Folglich kann man keinen Raum ansetzen, in dem sich die Wahrnehmung bewegt, sondern der Raum selbst ist erst in der Wahrnehmung gegeben.68 Dem scheint es zu entsprechen, daß die bildende Kunst des Mittelalters nicht zentralperspektivisch ist, sondern man sie, der Phänomenologie des Raumes durchaus vergleichbar, als ‚aggregativ‘ bezeichnen kann.69 Analog dazu ist auch der zentralperspektivische Augentrug des Raumes eine neuzeitliche, kulturell wohl eingeübte Konvention, die der naive Betrachter übersehen mag, die aber für die Wahrnehmung mittelalterlicher Texte gerade keine Geltung beanspruchen kann.70 Diesen die Wahrnehmung gerade unterlaun.F. 9, 1999, S. 549-556, hier S. 550; DERS. u. Christina LECHTERMANN, Repräsentation und Kinästhetik, in: Theorien des Performativen, hg. v. Erika FISCHER-LICHTE u. Christoph WULF (Paragrana 10), Berlin 2001, S. 191-213, bes. 193f.; DERS., Der Leser als Augenzeuge (wie Anm. 60), S. 149f., 173f. Zum Begriff der Kinästhese vgl. besonders Edmund HUSSERL, Ding und Raum (wie Anm. 9), S. 153-203. Ein weiteres Begriffsverständnis legen dagegen nahe Christina LECHTERMANN u. Carsten MORSCH, Einführung, in: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten, hg. v. DENS. (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, n.F. 8), Bern u.a. 2004, S. I-XIV. 68 Vgl. dazu die Pointe in der Argumentation bei HUSSERL, Ding und Raum (wie Anm. 9), für den der Rahmenbegriff der Wahrnehmung gerade nicht der des Raumes, sondern der des Feldes ist, und zwar in der ausdrücklichen Wendung gegen Kant: „Der Raum aber ist die notwendige Form der Dinglichkeit und nicht die Form der Erlebnisse“ (S. 43). 69 Vgl. die klassische Begriffsprägung durch Erwin PANOFSKY, Perspektive als „symbolische Form“, in: DERS., Deutschsprachige Aufsätze II, hg. v. Karen MICHELS u. Martin WARNKE (Studien aus dem Warburg-Haus 1,II), Berlin 1998, S. 664-757. Dazu Karl CLAUSBERG, „Wozu hat der Mensch zwei Augen?“ – Der Mythos der Perspektive, in: Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, hg. v. Wolfgang MÜLLER-FUNK u. Hans Ulrich RECK (Ästhetik der Naturwissenschaften), Wien-New York 1996, S. 163-183. Das Fortwirken der aggregativen Raumkonstitution im Übergang zur Renaissancemalerei illustriert von Seiten der germanistischen Mediävistik sehr eindringlich Peter CZERWINSKI, Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II, München 1993, S. 93-143, wobei jedoch festzuhalten ist, daß durch die Präsenzvorstellung Czerwinskis die Raumkategorie radikal von einer bildphänomenologischen zu einer semantischen umgewertet wird. 70 Dies hat Christina LECHTERMANN, Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur um 1200 (Philologische Studien und Quellen 191), Berlin 2005, S. 71f., zu Recht festgehalten, womit sie sich konzeptionell auf einen unausgesprochenen Gegensatz zu den Arbeiten von Wenzel und, stärker noch, von Wandhoff zubewegt, an
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fenden Augentrug für die mittelalterlichen Texte mit dem Begriff des Abbildes oder dem des dreidimensionalen Raumes anzusetzen, in dem dann etwa Deiktika den Text unversehens wieder zu einem ‚Schauraum‘ machen,71 wiederholt von Seiten der Textwissenschaft unfreiwillig einen vielkritisierten Effekt der postmodernen Bildindustrie, in dem Bild- und Raumwahrnehmung auf ähnliche Weise umgangen werden.72 Wenn also hier mit Gottfried Boehm der Satz gilt: die sie sich einleitend (S. 15) noch anschließt. Zugleich hat Lechtermann in ihren theoretischen Vorbemerkungen das Moment der Distanznahme nachdrücklich als Bedingung der Möglichkeit medialer Präsenzerfahrung herausgestellt (S. 10f.) und damit die paradoxe Konstitution des Zwischenbereichs ästhetischer Erfahrung weit stärker als ihre Vorläufer markiert. 71 Vgl. in jüngerer Zeit Horst WENZEL, Wahrnehmung und Deixis. Zur Poetik der Sichtbarkeit in höfischer Literatur, in: Visualisierungsstrategien (wie Anm. 10), S. 17-43. Das Problem ist bei Wenzel sogar ein doppeltes, indem Wenzel einerseits Bild- und Textrezeption als gleichartige Prozesse ansetzt (S. 19f.), dann aber mit seiner Vorstellung vom Text als Raum, in dem sich die Wahrnehmung abspielt, jene phänomenologische Offenheit aufhebt, die er aus den kunstwissenschaftlichen Anregungen völlig zu Recht importieren will. Vgl. dazu die vor dieser Theoretisierung des ‚Schauraumes‘ liegenden, überzeugenden Ausgangsüberlegungen bei WENZEL, Hören und Sehen (wie Anm. 38), S. 99104, S. 128-142. Vgl. auch die erhellende Analyse zum ‚Meleranz‘ des Pleiers von Carsten MORSCH, Bewegte Betrachter. Kinästhetische Erfahrung im Schauraum mittelalterlicher Texte, in: Kunst der Bewegung (wie Anm. 67), S. 45-72, die überzeugend jene dynamische Imaginationslenkung nachvollzieht, durch die sich der Text vom Modell des ‚Schauraumes‘ eigentlich abheben müßte, dann indes die These vertritt, es bestünde ein Analogieverhältnis zwischen der textuellen Raumkonstitution und dem Raumkonzept in mittelalterlicher Architektur: Morschs Analyse erweist freilich, und dies sehr genau, ein Komplementärverhältnis. 72 Vgl. die weitgehende Parallelisierung mit den Visualisierungseffekten des Cyberspace bei WANDHOFF, Ekphrasis (wie Anm. 2), bes. S. 333-339. Wandhoffs abschließende These, daß die literarisch vermittelte Betrachtung von „Bild- und Bauwerke(n) […] als ein imaginativ zu vollziehendes Durchwandern dreidimensionaler Schauräume konzipiert“ (S. 325) sei, setzt jene neuzeitliche Konzeption des ‚Systemraumes‘ an, auf deren historische Problematik für das Mittelalter Wandhoff selbst im Verlauf seiner Studie durchaus hingewiesen hat (S. 114, Anm. 126). Die Schwierigkeiten des einfachen Vergleichs werden auch in der Zusammenstellung von mittelalterlichen und neuzeitlichen Medienbereichen der ‚Arbeitsgruppe Wahrnehmung‘ im Themenheft ‚Praktiken des Performativen‘ klar, vgl. Barbara GRONAU u.a. (Arbeitsgruppe Wahrnehmung), Wahrnehmung und Performativität, in: Praktiken des Performativen, hg. v. Erika FISCHER-LICHTE u. Christoph WULF (Paragrana 13), Berlin 2004, S. 15-80, wo am Beispiel einer Passage des ‚Partonopier‘-Romans Konrads der Prozeß der literarischen Veranschaulichung in der Diegese als variabel beschrieben, dann aber, im Unterschied dazu, eine „konstante“ Räumlichkeit in Texten postuliert wird (S. 35-37). Die zunehmende Neigung zu einer solchen Gleichsetzung ist auch in der Sukzession der Arbeiten Wenzels zu beobachten: Erhellend bleibt die Beschreibung der episch-aggregativen Raumkonstitution des ‚Nibelungenliedes‘ bei Horst WENZEL, Szene und Gebärde, in: DERS., Höfische Repräsentation (wie Anm. 38), S. 97119, die von der Parallelisierung mit modernen Medien noch absieht. Der Übergang zeigt sich etwa in WENZEL, Visualität (wie Anm. 67), S. 549, der Unterschiede zum Medium ‚Kino‘ noch nachdrücklich markiert, schließlich aber wächst offenbar die Gewißheit, „daß
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„Das vielbeschworene neue Zeitalter des Bildes ist ikonoklastisch, auch dann, wenn es seine Enthusiasten nicht einmal bemerken“,73 dann besteht für die neuere Forschungsphase zur Bildwahrnehmung mittelalterlicher Texte eine vergleichbare Gefahr, falls sie sich ihrer theoretischen und historischen Prämissen nicht konsequenter vergewissert. Im Anschluß an diese wäre nämlich zu sagen: Der Text ist kein Raum, sondern eine Bewegung zwischen Wort und Bild.74 Die zweite Schwierigkeit, die den Umgang mit sogenannten Bilderzählungen betrifft, ergibt sich, sobald man den vereinfachten Bildbegriff narrativ zu prozessieren versucht. Denn die narratologische Einsicht, daß Bilder narrativ organisiert sein können, besagt weder, daß alle Bilder narrativ sind, noch bedeutet sie, daß Narrativität und Visualität auf einer Wahrnehmungsebene angesiedelt sind. Die erste Annahme setzt vorschnell die allgemeine Textualität des Bildes mit der speziellen Möglichkeit der Narrativität gleich. Und die in der zweiten Annahme aufgehobene Differenz der Narrativität zur Visualität ist für das Bild genauso wesentlich wie im Erzähltext, nur steht sie unter einem umgekehrten Vorzeichen. Der vorangehende Interpretationsversuch sollte diese Begriffs- und Ebenendifferenz am Textbeispiel praktisch illustrieren. Fragt man nach entsprechenden Beispielen im Umgang mit der bildenden Kunst, dann mag es genügen, allgemein festzuhalten, daß der Erfolg der narratologischen Vorstöße in die Bildwissenschaft ja gerade auf der besagten Ebenendifferenz beruht: Die Wirkung der sogenannten Bilderzählungen oder narrativen Bilder beruht darauf, daß sie kulturell immer schon präsupponierte Erzählmuster abrufen und ihnen
der neuzeitlichen Tendenz zur Audiovisualität der Medien eine mittelalterliche Audiovisualität der Kommunikation entspricht“: WENZEL, Schrift und Bild (wie Anm. 38), S. 186. 73 Gottfried BOEHM, Die Wiederkehr der Bilder, in: Was ist ein Bild? (wie Anm. 55), S. 1138, hier S. 35, der nachdrücklich darauf hingewiesen hat, daß das ideale Abbild im Unterschied zum Bild keinerlei Eigenwert beanspruchen darf (S. 18). Daß dieser Eigenwert genauer in der prinzipiellen Zeichenhaftigkeit des Bildes zu fassen ist, über die das Abbild hinwegtäuscht, läßt sich etwa mit William. J. Thomas MITCHELL, Was ist ein Bild?, in: DERS., Bildtheorie, hg. und mit einem Nachwort v. Gustav FRANK, Frankfurt a.M. 2008, S. 15-77, hier S. 53f., behaupten. Zum Mechanismus dieser Täuschung im Kontext des inflationären Bildgebrauchs der Begriff der ‚Anästhetik‘ bei WELSCH, Ästhetisches Denken (wie Anm. 32), S. 29-35. 74 Vgl. zur Räumlichkeit und Zeitlichkeit in unangestrengter Klarheit Uta STÖRMER-CAYSA, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman (De-Gruyter-Studienbuch), Berlin-New York 2007, die in kluger Integration vorausgehender Forschungspositionen zeigt, wie sich das aggregative Raummodell aus den Handlungsstrukturen der Figuren in Aventiure- sowie Liebes- und Abenteuerromanen mit deren jeweils verschiedenen, divergenten Zeitmodellen ergibt, S. 35-42, 240, d.h. nochmals: daß Raum und Zeit nicht als systemische Vorbedingungen des Handlungsentwurfs zu sehen sind, sondern als dessen Konsequenz in eine aggregativ anmutende Erzählwelt führen.
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im Gegenzug zum narrativen Zeitverlauf augenblickliche Prägnanz verleihen.75 Aus narratologischer Sicht mag dabei der recht freie Umgang mit dem Begriff der Erzählung in der Kunstgeschichte als problematisch erscheinen, weil er nämlich im Begriff der Bilderzählung metaphorisch zu werden beginnt. Genau diese Tendenz hat ihn wahrscheinlich hier so produktiv werden lassen.76 Bei der Rückübertragung bildwissenschaftlicher Verallgemeinerungen auf die Literatur drohen dann aber Irrtümer, weil die Metapher wiederum wörtlich genommen wird: Wenn man Bilder per se als narrativ auffaßt, droht nicht nur die Gefahr, angesichts von Bildern in Erzähltexten Deskription und Narration zu verwechseln. Vielmehr kommt auch noch im Umgang mit nicht-narrativen Texten wie dem ‚Sachsenspiegel‘ und dem ‚Welschen Gast‘ angesichts von bildlichen Darstellungen wie selbstverständlich die Rede von der Bilderzählung auf, was vom historischen Phänomen her ungerechtfertigt ist und auch die modernen theoretischen Vorgaben letztlich mißversteht.77 75 Vgl. paradigmatisch Mieke BAL, Reading „Rembrand“. Beyond the Word-Image Opposi-
tion (Cambridge new art history and criticism), New York-Cambridge 1991, die am Historienbild vorgeht (S. 10f., modellhaft für das Verfahren S. 19-24), also an jener Gattung, die Erzählungen verarbeitet. Darum gerät der Ansatz an seine Grenzen, wenn er das Stilleben beschreibt, das folglich als eine Abwesenheit von Geschichte interpretiert werden muß (S. 380). Narratologisch gesehen wäre also stärker zu pointieren: Das Einzelbild kann Erzählungen nicht repräsentieren, sondern nur auf sie rekurrieren, und selbst in der Bildserie fallen zentrale Bestandteile der narrativen Struktur aus: vgl. Werner WOLF, Art. Pictorial Narrativity, in: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, hg. v. David HERMAN, Manfred JAHN u. Marie-Laure RYAN, London-New York 2005, S. 431-435, bes. S. 433 u. 434. Daß die histoire-Implementierung bei der weitgehenden Argumentation über eine fokalisierende Instanz auf der discours-Ebene noch nicht zum Problem wird, zeigt wie zur Bestätigung der Artikel von Mieke BAL, Art. Visual Narrativity, in: ebd., S. 629-633. Vgl. auch, jenseits der narratologischen Erwägungen, den entsprechenden Hinweis bei CZERWINSKI, Gegenwärtigkeit (wie Anm. 69), S. 117f. 76 Vgl. dazu als wichtiges Beispiel der mediävistischen Kunstgeschichte Wolfgang KEMP, Sermo corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987, der vom Glasfenster als einem ‚narrativen Medium‘ ausgeht (S. 7f.), aber durchweg lediglich den Verlauf von Responsions- und Oppositionsverhältnissen beschreibt, so daß trotz der Rede von der ‚Bilderzählung‘ der Übergang vom traditionellen Begriff der Komposition zu der offenbar angezielten Vorstellung einer Narration nicht erreicht werden kann, weil kein hinreichendes Konzept der Geschichtsstruktur vorliegt. Ferner kann hier nur noch auf den folgenreichen Ausruf des pictural turn durch William J. Thomas MITCHELL, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago-London 1994, S. 11f., verwiesen werden, in dem das Problem der zügigen Übertragung narratologischer Begriffe ebenfalls recht deutlich wird: dort S. 158-161 bereits die Tendenz zur Gleichsetzung von Text und Erzähltext, durch die die These von der Textualität der Bilder uneingesehen in die ihrer prinzipiellen Narrativität überzugehen droht. 77 Vgl. mit Blick auf das Material der Bildbeschreibungen schon Harald HAFERLAND u. Michael MECKLENBURG, Einleitung, in: Erzählungen in Erzählungen, hg. v. DENS. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur), München 1996, S. 11-25, die den Begriff der Bilderzählung als Haupttyp der Erzählung in Erzählungen akzeptieren (S. 12), aber sofort einschränken: „An mittelalterlichen Bildbeschreibungen fällt auf, daß sie
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Diese Mißverständnisse führen auf den dritten Punkt, der sich in den bisherigen Anmerkungen schon andeutet: auf die Rolle der Metapher für die Wahrnehmungsforschung. Denn die Diskussion um die Bedingungen und Möglichkeiten der Wahrnehmung ist wohl auch deshalb von einer erstaunlichen Anziehungskraft, weil die darin enthaltenen Lösungsangebote gerade nicht simplifizierend als falsch zu kritisieren sind, sondern häufig, ohne dies immer genügend zu berücksichtigen, als metaphorisch erscheinen. Unmittelbar auffällig ist jedenfalls die Metaphernbildung an zentralen Positionen des Diskurses über die Wahrnehmung, besonders natürlich bei der Augenzeugenmetapher,78 ferner beim Übergang von Technikmetaphern zu Technikvergleichen bei Wandhoff,79 aber die rhetorisch-poetische Form der descriptio kaum je zu Gunsten einer selbständigen Erzählung verlassen. Sie sind deshalb nur im Ansatz Erzählungen.“ Anders die Behandlung der Text-Bild Verhältnisse des ‚Sachsenspiegels‘ bei WENZEL, Schrift und Bild (wie Anm. 38), S. 197f., dazu die entsprechende Rubrik von der ‚Narrativik der Bilder‘ bereits in DERS., Hören und Sehen (wie Anm. 38), S. 292-337. Besonders illustrativ ist der Umgang mit dem ‚Welschen Gast‘, dessen Betrachtung von Wenzel ein Arbeitsprogramm unter der Narrativitätsprämisse auferlegt wurde: DERS., Einleitung, in: Beweglichkeit der Bilder (wie Anm. 56), S. 1-7, hier S. 1. Von der visuellen Narrativität im ‚Welschen Gast‘ spricht folglich z.B. Kathryn STARKEY, From Symbol to Scene: Changing Strategies of Representation in the Manuscripts of the ‚Welsche Gast‘, in: ebd., S. 121-142, hier S. 136 u. 138, und Wenzel selbst (DERS., Der Dichter und der Bote. Zu den Illustrationen der Vorrede in den Bilderhandschriften des ‚Welschen Gastes‘ von Thomasin von Zerclaere, in: ebd., S. 82-103, hier S. 92) setzt sogar für die bildlichen Repräsentationen des tihters des nicht narrativen Textes gegen jede narratologische Basisbestimmung einen ‚Erzähler‘ an. Ausdrücklich problematisiert wird der Narrationsbegriff nur bei Karin LERCHNER, Narration im Bild. Szenische Elemente im Bildprogramm des ‚Welschen Gastes‘, in: ebd., S. 65-81, die S. 70 festhält, daß die Bilderfolge des ‚Welschen Gastes‘ gerade nicht narrativ ist, daher aber der Narrativität im Einzelbild nachspürt. Vgl. dagegen wieder WENZEL, Erzählende Bilder (wie Anm. 38), S. 239-245. Die Fortführung des Selbstverständnisses der Bildnarration geradezu plakativ als Problem bei LECHTERMANN, Berührt werden (wie Anm. 70), die den Begriff des Narrativen, der sogar laut Titel ihres Buches über ‚Narrative Strategien der Präsenz‘ das Korrelat zu ihrem Präsenzbegriff hätte bilden müssen, in ihrer Studie gänzlich undiskutiert läßt. 78 Die Augenzeugenmetapher in den Beiträgen von WANDHOFF, velden und visieren (wie Anm. 60), S. 588, sowie DERS., Ekphrasis (wie Anm. 2), der für die Beschreibung von TrojaBildwerken in der Erzählliteratur auf der ganz konkreten Möglichkeit „einer geradezu ‚kinematographischen‘ Tele-Vision, einer medial vermittelten Augenzeugenschaft zweiter Ordnung“ (S. 187) insistiert hat; vgl. ferner etwa WENZEL, Visualität (wie Anm. 67), S. 590; WENZEL u. LECHTERMANN (wie Anm. 67), S. 201f.; WENZEL, Der Leser als Augenzeuge (wie Anm. 60), passim. 79 Vgl. besonders Haiko WANDHOFF, Der Schild als Bild-Schirm. Die Anfänge der Heraldik und die Visualisierung der Literatur im 13. und 14. Jahrhundert, in: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“, hg. v. Peter WIESINGER unter Mitarbeit v. Hans DERKITS, Bd. 5: Mediävistik und Kulturwissenschaften, betreut v. Horst WENZEL, Stephan JAEGER u. Alfred EBENBAUER. Mediävistik und Neuere Philologie, betreut v. Peter STROHSCHNEIDER, Ingrid BENNEWITZ u. Werner RÖCKE (Jahrbuch für Internationale
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etwa auch bei der Metapher der ‚Bilderzählung‘. Orientiert man sich an der Kunstwissenschaft, dann ist diese Metaphorizität des wissenschaftlichen Diskurses über Visualität nicht weiter verwunderlich: Die Kunstwissenschaft basiert geradezu auf Bildrede, die sie methodisch zu kontrollieren hat. Damit ist sie ihrem Gegenstand adäquat, sobald man das Bild in dem Sinne als metaphorisch auffaßt, daß es eine sprachlich vorstrukturierte imaginäre Konstruktion des Visuellen ist, also – überpointiert gesagt – eine Art bildlicher Rede, in der die Rede als Bedingung der Möglichkeit des Bildes buchstäblich übersehen wird.80 Für die bildlichen Möglichkeiten von Texten könnte man dann umgekehrt sagen: Das visuelle Vermögen eines Textes beruht auf einer fortgesetzten Metaphorik, in der das Wort durch die bildliche Imaginationsleistung geradezu überhört wird. Wählt man einen hermeneutisch fundierten, anthropologischen Bildbegriff,81 dann läßt sich festhalten: Die Sprache, prinzipiell an das akustische Medium der Stimme gekoppelt, vermittelt in den textlichen Aufschichtungen von der sprachlichen Metapher bis hin zur bildlichen Assoziation den Anschein einer unmittelbaren Anschaulichkeit, und dieser gelingt es, die prinzipielle Unanschaulichkeit des Hörbaren zu überspielen. Bei der Gegenüberstellung von Bild und Text ergibt sich damit eine komplementäre Doppelbewegung, weil hier wie dort das hermeneutische Potential der Metapher auf dieselbe Weise genutzt wird.82 Das Bild vermag im visuellen Medium eine Bedeutung auszusagen, ebenso wie im Text eine Bedeutung sichtbar werden kann: Das sind jeweils zwei Varianten der paradoxen Metaphernstruktur. Und aufgrund ihrer strukturellen Identität vermögen diese Varianten jeweils die Desiderate ihres Komplements aufzuzeigen.83 Die unsichtbare Bedeutung des Bildes müßte hörbar werden, die unhörbare Bedeutung des Textes sichtbar sein, wollte man die Semantik zwischen Text und Bild adäquat zugänglich machen. Folglich ist jede mediale Realisierung dieser Struktur immer schon auf ihr Gegenstück angewiesen und läuft auf einen Chiasmus hinaus.
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Germanistik, Reihe A: Kongressberichte 57), Bern u.a. 2002, S. 81-88; DERS., Ekphrasis (wie Anm. 2), S. 39-68 passim, ferner bes. S. 331 u. 334. Vgl. dazu den Vorschlag von Gottfried BOEHM, Die Wiederkehr der Bilder (wie Anm. 73), S. 16, in seinem Durchgang durch die klassischen Eckpositionen der philosophischen Bilddiskussion: „Wenn es eine Illusion war, Erkenntnis von Realität nach dem Modell des Abbilds zu begreifen, wenn Kausalitäten zwischen Subjekt und Objekt auszuschließen sind, dann bietet sich die Metapher als Brückenschlag besonders an.“ Ergänzend zu JONAS (wie Anm. 55) vgl. die Bilddefinition bei Hans Georg GADAMER, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (DERS., Gesammelte Werke 1), Tübingen 1990, S. 139-149. Zum verwendeten Metaphernbegriff Paul RICŒUR, Die lebendige Metapher (Übergänge 12), München 1986, hier zur paradoxen Struktur S. 33-35, zur Ebene ihrer Situierung S. 52-55, zur Beziehung von Metapher und Bildlichkeit S. 205-208 sowie zu ihrer wahrheitskonstituierenden Leistung S. 225-227 u. 238f. Vgl. MITCHELL, Was ist ein Bild? (wie Anm. 73), S. 72-77.
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Diesen Chiasmus kennt nun auch die Wahrnehmungsforschung bereits, nur liegt er nicht in einem einzelnen Ansatz vor. Er zeigt sich im wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick auf die Initiationsphase der Forschungsrichtung seinerseits sozusagen in einem Zwischenraum: bei der Kontrastierung von den beiden einflußreichen Vorstößen von Horst Wenzel einerseits und Peter Czerwinski andererseits. So erscheint es im Rückblick als irritierend, daß die umfassende Studie von Horst Wenzel zu den Stichworten von ‚Hören und Sehen, Schrift und Bild, Kultur und Gedächtnis im Mittelalter‘ ihre Überzeugungsmächtigkeit dadurch gewinnt, daß sie die prinzipielle Relevanz von literarischen Wahrnehmungsphänomenen zeigt, aber im Durchgang durch die Fülle unterschiedlich gelagerter Beispiele eine präzise theoretische und terminologische Fixierung des Demonstrierten gerade nicht erreicht.84 Ganz entsprechend tendieren auch alle weiteren Arbeiten Wenzels in der variierenden Wiederholung seiner Basisparadigmen viel mehr zur Einübung als zur Ausdifferenzierung seines Anliegens. In seinen Studien, so könnte man überpointiert sagen, taucht damit etwas von genau dem Verfahren wieder auf, das für das Mittelalter als kommunikative Praxis behauptet wird: Der Vorrang von auditiven und visuellen Darstellungs- und Zeigeformen vor dem unsinnlich-differenzierenden Prinzip der Schrift. Das heißt gewiß nicht, daß Wenzel diesem Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung und Imagination einerseits und schriftlich konzeptualisierter Reflexion andererseits nicht schon in seiner Hauptschrift energisch auf der Spur gewesen ist. Aber Wenzel kommt von der paradoxen Konstitution seiner Spur sofort wieder ab, da es ihm zur Etablierung seiner Fragerichtung ein beständiges Anliegen ist, grundsätzlich auf die Relevanz von Hören und Sehen im Textzusammenhang aufmerksam zu machen.85 Und so wird man dem Buch von Wenzel nicht unrecht tun, wenn man behauptet, daß die paradoxe Grundfigur in den verschiedenen Korrelationsbeziehungen noch nicht hinreichend geklärt ist, denn vielleicht war diese Vagheit sogar eine Bedingung der Möglichkeit, mit solcher unausgesetzten Entschiedenheit auf die Relevanz von Wahrnehmungs-
84 Vgl. WENZEL, Hören und Sehen (wie Anm. 38). 85 Immer wieder steuern die Beispielreihen auf eine Paradoxie zwischen Hören und Sehen
sowie zwischen Schrift und Bild zu: Schrift und Text bilden auch bei Wenzel die medial vermittelte Voraussetzung für das Postulat einer vermeintlich unvermittelten Wahrnehmung, und dieses Bedingungsverhältnis wiederholt sich auch bei der körpergebundenen Kommunikation. Ein Beispiel dafür wäre etwa die zustimmende Wiedergabe einer Formulierung von Paul Zumthor: „Die Aufführung bildet eine Erfahrung, aber zugleich ist sie es.“ Ebd., S. 53, Zit. Paul ZUMTHOR, Einführung in die mündliche Dichtung. Aus dem Franz. übersetzt v. Irene SELLE, Berlin 1990, S. 208.) Der hier zugrundeliegende Mechanismus für das Verhältnis von Schrift und Bild wird über den Rekurs auf Überlegungen zur hermeneutischen Paradoxie von Hans-Georg Gadamer angedeutet: Das Lesen wäre demnach die Voraussetzung einer auditiven oder visuellen Erfahrung, die, gerade weil sie schriftvermittelt ist, eine Anschaulichkeit besitzt, welche die triviale Wahrnehmung übersteigt.
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prozessen hinzuweisen.86 Ein geradezu verblüffend deutliches Indiz für diese praktizierte, aber nicht reflektierte Paradoxie ist schließlich das Ende von Wenzels Basisstudie selbst: Sie schließt mit Überlegungen zur Metapher. Damit gelangen die Überlegungen genau zu dem Tropus, dessen paradoxe Struktur der Bildrede dem ganzen Unternehmen nun auch theoretisch hätte unterlegt werden können. Dies geschieht indes noch nicht, weil Wenzel nur die praktischen Verwendungen von Metaphern in den Blick nimmt.87 Wenn man diese Zuspitzung zuläßt, dann erscheinen die ausführlichen Anläufe zur „Geschichte der Wahrnehmung“, die Peter Czerwinski unternommen hat, als das genaue Gegenstück zu den impliziten Desideraten Wenzels. Während Wenzels Studien ein außerordentlicher praktischer Erfolg beschieden war, bekennt Czerwinski sein eigenes Scheitern – ein Bekenntnis, das offensichtlich im Sinne einer dekonstruktivistischen Denkfigur als Erfolg einer theoretischen Einsicht verbucht sein will. Und nicht zufällig finden Czerwinskis Überlegungen am Ende nicht zur praktischen Beobachtung der Metapher, sondern münden im Versuch einer theoretischen Rechtfertigung über den Begriff der Allegorie.88 Im Gegensatz zu Wenzels korrelativen Überlegungen setzt Czerwinski für die kulturelle Situation des Mittelalters ein, offenbar von vornherein vom oben zitierten Bildbegriff Panofskys ausgehendes,89 ‚aggregatives‘ Wahrnehmungskonzept an, das Bedingungsverhältnisse gerade ausschließt. Demnach existieren eine unmittelbar körpergebundene Kommunikation, in der sich Bedeutung direkt und unverstellt ausspricht, und eine abstrakt-zeichenhafte Reflexion, die den Sinn verfügbar macht, unvermittelt nebeneinander.90 Dieser aggregative Wahrnehmungsansatz läßt nun zweifellos vorreflexive Identitätsbehauptungen zu und erlaubt es ebenso, hochreflexive Passagen daneben zu stellen. Zugleich soll aber Reflexion auch ihr Gegenteil sein: „Reflexion erscheint nicht als unun86 Das verbleibende Desiderat zeigt sich etwa, wenn wiederholt der Primat des Sehens ge-
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genüber dem Hören behauptet wird. „Nicht das Ohr, wie viele geistliche Autoren und manche Theoretiker der oral poetry schlicht konstatieren, dominiert die höfische Kultur, sondern im Ensemble aller Sinne dominiert das Auge“ (ebd., S. 32). Polemisch könnte man heute gegen Wenzels Diktum einwenden: Vielleicht sollte gerade ein Mediävist auf geistliche Autoren des Mittelalters hören. Wenn nämlich zwischen abstrakt-schriftlicher Sinnbildung und konkret-körperlicher Imagination eine paradoxe Korrelationsbeziehung besteht, dann dürfte sich diese auch im Verhältnis von Hören und Sehen fortsetzen. WENZEL, Hören und Sehen (wie Anm. 38), S. 414-450. Peter CZERWINSKI, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter, Frankfurt a.M.-New York 1989; DERS., Gegenwärtigkeit (wie Anm. 69); DERS., Verdichtete Schrift. comprehensiva scriptura. Prolegomena zu einer Theorie der Iniziale, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 22, 1997, S. 1-35; DERS., per visibilia ad invisibilia. Texte und Bilder vor dem Zeitalter von Kunst und Literatur, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 25, 2000, S. 1-94; DERS., Allegorealität, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 28, 2003, S. 1-37. Czerwinski hat diesen Bezug freilich erst nachträglich hergestellt oder auch exponiert: CZERWINSKI, Gegenwärtigkeit (wie Anm. 69), S. 56f. u. passim. Zuerst CZERWINSKI, Glanz der Abstraktion (wie Anm. 88), S. 13f., S. 23 u.ö.
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terbrochen präsentes Vermögen einer transzendenten Identität, […] sondern bleibt in einer Welt vorherrschender Dinglichkeit selbst ans Konkret-Sinnliche, an eine einzelne Geste gefesselte Besonderheit.“91 Mit anderen Worten: die mittelalterlichen Protagonisten denken mit ihren Körpern. Dies wäre, in Czerwinskis an Hegel orientiertem Geschichtsmodell, typisch für eine frühe kulturhistorische Situation, in der Reflexion noch nicht als die Vorbedingung der damit immer schon problematischen Wahrnehmung angesehen wird, sondern in der die Wahrnehmung als eine immer noch sichere Vorbedingung der Reflexion erscheint. Daß dieses Modell überhaupt auf ein vorschriftliches Einfachheitspostulat setzen kann, ist freilich – wie die Dekonstruktion gezeigt hat – das Ergebnis einer dezidiert schriftlichen Projektion moderner Reflexivität.92 Wohl deshalb hat Czerwinski den geschlossenen Zirkel der Interpretation in seinen Unmittelbarkeitsbehauptungen zunächst nicht aufgegeben und in konsequenter Umsetzung seiner kritischen Haltung zur neuzeitlichen Reflexion seinen wissenschaftlichen Schreibprozeß selbst zu einer aggregativen Kollage werden lassen, dann aber mit dem Eingeständnis des Scheiterns des eigenen Ansatzes sein Präsenzverständnis in die Gegenrichtung aufgelöst: Wenn sich Unmittelbarkeit der Bedeutung nicht mehr behaupten läßt, führt die Wendung zur Abstraktion und Reflexion zur prinzipiell vermittelten Sinnbildungsleistung der Allegorie. Das hieße allerdings: In dem, was dann als ‚Allegorealität‘ bezeichnet wird, wäre das alte Projekt der Geschichte der Wahrnehmung auch nach seinem Scheitern mit gleicher Logik, nur unter verändertem Vorzeichen, fortgesetzt. Wenn dagegen die Reflexion als der Gipfelpunkt eines ästhetischen Prozesses verstanden wird, läßt sich das Dilemma im Zwischenraum von Distanz und Unmittelbarkeit auflösen. Ist Wahrnehmung ein immer schon konstruierender, latent reflexiver Prozeß, dann ist das Aggregative nicht Ausdruck einer Opposition, sondern einer paradoxen Korrelation. In diesem Sinne unterlegt auch Czerwinski seiner These zur Allegorie als allgemeiner Wahrnehmungsform übergangsweise eine Struktur, die entgegen seinem früheren Ansatz korrelativ und – erstmalig und im Unterschied zu Wenzel ausdrücklich – paradox ist: Czerwinski begründet sein Vorgehen anhand der Metapher:93 Weil deren Struk91 Ebd., S. 22. 92 Vgl. die Kritik am „Traum nach einer unerfüllten und unmittelbaren Präsenz“ durch
Jacques DERRIDA, Grammatologie (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 417), Frankfurt a.M. 71998, S. 202. Czerwinski selbst glaubt, sich auf dem Wege der Polemik gegen die Zeichenzentriertheit der Dekonstruktion selbst vom Zeichenproblem frei machen zu können (CZERWINSKI, Gegenwärtigkeit [wie Anm. 69], S. 67f. u. S. 74, Anm. 101). 93 Vgl. dagegen zunächst CZERWINSKI, Glanz der Abstraktion (wie Anm. 88), S. 50f., wo die Metapher als rein transzendentale Figur bürgerlichen Denkens aufgefaßt und damit pauschal für die rein dinglich-konkrete Wahrnehmung, wie Czerwinski sie ansetzt, als unangemessen gekennzeichnet wird. Produktiv dagegen: DERS., Allegorealität (wie Anm. 88), S. 2-7, wo freilich durch die Auffassung „Metaphern sind direktes Sprechen“ (S. 5), das implizite Reflexionsvermögen der Metapher permanent unterdeterminiert bleibt, was dann auch für die etwas unorthodoxe Auffassung der Allegorie gilt, die Czerwinski als
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tur Präsenz und Distanz der Wahrnehmung in eins setzt, ist sie genau die Figur des Übergangs, die sich in den wissenschaftssprachlichen Umschreibungen des Wahrnehmungsproblems vor seiner Theoretisierung immer schon ausgesprochen hat. Das hieße aber insgesamt als Ergebnis dieser Gegenüberstellung: Wenzels vortheoretischer Erfolg und Czerwinskis theoretisches Dilemma wären in der Wendung zur Metapher als einer Struktur zwischen Theorie und Praxis aufzulösen. Anhand des ausgezeichneten Titels von Czerwinskis Studie ‚Der Glanz der Abstraktion‘ läßt sich, gerade nach der Lektüre der glänzenden Bildlichkeit von Konrads ‚Trojanischem Krieg‘, die Lösungsfigur noch einmal andeuten, die sich daraus für die Auffassung eines literarischen Textes ergibt.94 Das abstraktzeichenhafte Denken führt ins Dilemma, denn es erzeugt jene glänzendundurchdringlichen Oberflächen, in denen sich die unerfüllbare Sehnsucht nach einer darunterliegenden, unmittelbar zugänglichen Bedeutung artikuliert. Aber in der Metapher steckt das Wissen um dieses Dilemma ebenso wie die Struktur seiner Auflösung: Der literarische Text setzt dieses Wissen in einem ästhetischen Prozeß um. Vor diesem Hintergrund lassen sich jedenfalls verschiedene, auf den ersten Blick widerstreitende Positionen der Forschung zu einer gemeinsamen Figur zusammentragen. So haben die Beiträge von Philipowski die beiden Seiten des Dilemmas der frühen Überlegungen Czerwinskis in pointierter Weise expliziert. Zunächst votiert Philipowski in ihren Skizzen mit äußerstem Nachdruck für das Unmittelbarkeitspostulat, indem für die Geste des Körpers festgehalten wird: „[S]ie ‚i s t‘ und ‚b e d e u t e t‘ nicht“;95 in einer ebenso radikalen Kehrtwende hat sie dann aber Text und Reflexion den Primat der literarischen Wahrnehmung zuerkannt. Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildete freilich schon von Anfang an der Anspruch, die Metaphorik der vorausgehenden Ansätze aufzulösen,96 nur wurde dieser Anspruch in der Vorstellung von der ‚Wahrheit des Körpers‘ gerade nicht umgesetzt, weil diese Wahrheit selbst als Metapher gedacht ist. In der radikalen Wende zum Zeichen ist dieser Anspruch wiederum zu weitgehend erfüllt, weil unter dem Primat der Differenz die Möglichkeit der
allgemeine, unmittelbare Wahrnehmungsform definiert, was heißt, daß CZERWINSKI die Transzendierungsleistung der Allegorie unterschätzt (S. 10). 94 Zur Begründung des Titels bei CZERWINSKI, Glanz der Abstraktion (wie Anm. 88), S. 40f. 95 Vgl. Katharina PHILIPOWSKI, Geste und Inszenierung. Wahrheit und Lesbarkeit von Körpern im höfischen Epos, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 122, 2000, S. 455-477; Katharina PHILIPOWSKI, Das Gelächter der Cunneware, in: Zeitschrift für Germanistik n.F. 13, 2003, S. 9-25, nochmals mit der These: „Die Körper haben ihre eigene Wahrheit – eine eminent sichtbare – Wahrheit.“ (S. 13.) 96 Vgl. PHILIPOWSKI, Geste und Inszenierung (wie Anm. 95), S. 457: „Wo über Gesten nachgedacht wird, ist Metaphorik kaum zu vermeiden, doch gerade diese Metaphorik verführt zu vorschnellen terminologischen Verengungen.“
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metaphorischen Wahrheitskonstitution verschwindet.97 Zwischen Unmittelbarkeit und Distanz bleibt so ein Spielraum, in den die Kritik von Jan-Dirk Müller vorgestoßen ist. Gegenüber dem Unmittelbarkeitspostulat insistiert Müller nachdrücklich auf der Zeichenhaftigkeit des Textes, macht aber zugleich auf das Prinzip der Asymmetrie aufmerksam, das zunächst zwischen dem Leser des Textes und den wahrnehmenden Akteuren der erzählten Handlung besteht und das sich in der konkreten Wahrnehmung symbolischer Handlungen fortsetzen kann.98 Genaugenommen bedeutet der Hinweis auf dieses Wahrnehmungsprinzip der Asymmetrie eine Umformulierung des Prinzips des Aggregativen, indem dieses auf die Rezeptionsbeziehung angewendet wird. Das heißt einerseits, daß der Primat des Zeichens in der Diskussion der historischen Wahrnehmung unhintergehbar ist, andererseits ist dies gerade die Voraussetzung für das Unmittelbarkeitspostulat, das man für sich genommen auch, mit Harald Haferland, als eine metonymische Teilhaberelation denken kann.99 Wahrnehmung ist damit für die Reflexion ein Zeichenprozeß, aber für die Imagination als Teil des ästhetischen Vermögens vermag sich die Verweisfunktion des Zeichens auch selbst zu löschen. Damit wäre man bei der pointiertesten theoretischen Entwicklung. Man könnte nämlich – mit Hans Jürgen Scheuer – Text und Wahrnehmungsprozesse ganz ineinander aufgehen lassen, weil sie keinen Gegensatz, sondern eine Korrelation bilden. Dies führt freilich zu einer vollständig metaphorischen Denkform.100 Wenn man also Texte mit Scheuer in direkter Umsetzung mittelalterlicher mentaler Modelle als Prozesse zur Erzeugung von Intensität begreift, 97 Vgl. in der Kritik von Katharina PHILIPOWSKI, Vom Formalismus allegorischer Unmit-
telbarkeit. Zu Peter Czerwinskis ‚Allegorealität‘, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 124, 2005, S. 122-126. In Übertragung auf die Emotionsforschung DIES., Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt? Trûren, zorn, haz, scham und nît zwischen Emotionspsychologie und Narratologie, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 128, 2006, bes. S. 262-267. 98 Vgl. MÜLLER, Visualität (wie Anm. 28). Als konsequente Umsetzung der Asymmetrie den Umschlagsprozeß von symbolischen Handlungen in ambige Zeichenprozesse nach JanDirk MÜLLER, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, bes. zur ‚nibelungischen Anthropologie‘ und zur Störung von Ritualen, S. 201-248, 345-387. 99 In seinem konzeptionellen Vorschlag: Harald HAFERLAND, Das Mittelalter als Gegenstand der kognitiven Anthropologie. Eine Skizze zur historischen Bedeutung von Partizipation und Metonymie, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 126, 2004, S. 36-64, hier S. 55f.; vgl. auch DERS., Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden, in: Euphorion 99, 2005, S. 323-364, besonders S. 331-335 zum „metonymische(n) Wahrnehmungsmodus“. 100 Vgl. besonders SCHEUER, Cerebrale Räume (wie Anm. 61), bes. S. 31 u. 35f. Der Ausgangspunkt von Scheuers Überlegungen ist nicht publiziert: DERS., Farbige Verhältnisse. Zur Topik kultureller und literarischer Farbkonzeptionen in Texten des 12.-14. Jahrhunderts und bei Heinrich von Kleist, Habil. Masch. Göttingen 2000. Ich danke Hans Jürgen Scheuer dafür, daß er mir sein Manuskript überlassen hat – und nicht zuletzt für verschiedene ‚erhellende‘ Gespräche.
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wenn also nunmehr der Text selbst Wahrnehmung ist, dann müßte man sich im Gegenzug, im Sinne des vorliegenden Versuchs, auch hier einerseits der narrativen Voraussetzungen und andererseits des Übergangs von der Reflexion zur Metaphorik vergewissern. Der ästhetische Prozeß des anschaulichen Erzählens findet so vielleicht in der Figur der Metapher seine reinste Ausprägung, und diese wäre dann, wiederum paradox – ein Begriff.
H A N S -W E R N E R G O E T Z
Vergangenheit und Gegenwart Mittelalterliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster am Beispiel der Vorstellungen der Zeiten in der früh- und hochmittelalterlichen Historiographie
1. Forschungsstand und methodischer Ansatz Im Zuge des Paradigmenwechsels der Geschichtswissenschaft, demzufolge die Quelle nicht nur Informationsträger und Medium für vergangene Wirklichkeiten, nicht nur „Zeitzeugnis“, sondern unmittelbares Produkt ihres Autors ist und damit zum „Zeitzeugen“ selbst führt, ist die Historiographie geradezu zum Paradebeispiel zunächst für das Geschichtsdenken (Johannes Spörl), dann für die politische Ideengeschichte (Helmut Beumann) und schließlich für die gesamte Vorstellungswelt der Geschichtsschreiber (und ihrer Rezipienten) avanciert. Da jede Nachricht (tendenziös) „gefiltert“ ist und nicht das damalige Geschehen oder ehemalige Zustände abbildet, sondern diese durch die Perspektive des Autors – bewußt oder unbewußt – verändert, ist jede Geschichtsschreibung zunächst „konstruierte Gegenwarts- und Vergangenheitsdarstellung“, die somit die dem Bericht zugrunde liegenden Wahrnehmungen und Vorstellungen der Verfasser widerspiegelt.1 Folglich bietet sie einen ebenso vielseitigen wie unmittelbaren Zugang für deren Erforschung. Aus einem Vergleich verschiedener Nachrichten und unterschiedlicher Quellen lassen sich dann die hinter der Darstellung durchscheinenden Wahrnehmungsmuster herausarbeiten. Dabei ist das Verständnis der Vergangenheit (und deren Einordnung in das Verständnis der Zeit[en], also nicht zuletzt ihre Abgrenzung und ihr Bezug zur Gegenwart) zweifellos zentral in einer literarischen Gattung, die vor allem der Darstellung und Memorierung vergangener Zeiten gewidmet ist. Die Vielfalt der Historio1
Ich verzichte hier auf eine erneute theoretische Erörterung des inzwischen verbreiteten Ansatzes; vgl. Hans-Werner GOETZ, „Vorstellungsgeschichte“. Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit. Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung, in: AKG 61, 1979 (erschienen 1982), S. 253-271; zuletzt DERS., Wahrnehmungsund Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut BLEUMER u. Steffen PATZOLD (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 8), Berlin 2003, S. 23-33.
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graphie gestattet zugleich den Blick auf räumliche, zeitliche sowie gegebenenfalls auch „institutionelle“ Differenzierungen, auch wenn im folgenden eher die strukturellen Grundzüge im Mittelpunkt stehen werden. Im Vergleich mit anderen Quellen (und Teilprojekten) werden weitere Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen greifbar. Frappierend erscheinen zunächst zwei Beobachtungen. Die erste betrifft den Forschungsstand, die zweite die mittelalterliche Historiographie selbst. Trotz unzähliger Studien zur historischen und politischen Vorstellungswelt der mittelalterlichen Historiographie2 und, in jüngerer Zeit, zum Geschichtsbewußtsein ihrer Autoren,3 zur historischen Erinnerung und deren Funktionen4 sowie zur 2
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Vgl. neben den Studien von Spörl und Beumann und deren Schülern und den übergreifenden Arbeiten zur Historiographie (Benoît LACROIX, L’historien au Moyen Âge, Montréal-Paris 1971; Bernard GUENÉE, Histoire et culture historique dans l’Occident médiéval, Paris 1980; Franz-Josef SCHMALE, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung, Darmstadt !1993) die einschlägigen Monographien und Sammelbände: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. v. Hans PATZE (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987; L’historiographie médiévale en Europe, hg. v. Jean-Philippe GENET, Paris 1991; Historiographie im frühen Mittelalter, hg. v. Anton SCHARER u. Georg SCHEIBELREITER (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 32), Wien-München 1994; Rolf SPRANDEL, Chronisten als Zeitzeugen. Forschungen zur spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung in Deutschland (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter, N.F. 3), Köln-Weimar-Wien 1994; L’histoire et les nouveaux publics dans l’Europe médiévale (XIIIe-XVe siècles), hg. v. Jean-Philippe GENET, Paris 1997; The Medieval Chronicle, hg. v. Erik KOOPER (Costerus, N.S. 120), Amsterdam-Atlanta 1999; Die Geschichtsschreibung in Mitteleuropa. Projekte und Forschungsprobleme, hg. v. Hubert Zenon NOWAK u. Jaros!aw WENTA (Subsidia historiographica 1), Toru" 1999; Sverre BAGGE, Kings, Politics, and the Right Order of the World in German Historiography, c. 950-1150, Leiden-Boston-Köln 2002; Historiography in the Middle Ages, hg. v. Deborah MAUSKOPF DELIYANNIS, Leiden u.a. 2003. Vgl. Hans-Werner GOETZ, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 1), Berlin 1999; The Perception of the Past in Twelfth-Century Europe, hg. v. Paul MAGDALINO, London-Rio Grande 1992; Amy G. REMENSNYDER, Remembering kings past. Monastic foundation legends in medieval southern France, Ithaca-London 1995; Medieval Concepts of the Past. Ritual, Memory, Historiography, hg. v. Gerd ALTHOFF, Johannes FRIED u. Patrick J. GEARY (Publications of the German Historical Institute), Cambridge 2000; Medieval Futures. Attitudes to the Future in the Middle Ages, hg. v. A. J. BURROW u. Ian P. WEI, Woodbridge 2000; The Uses of the Past in the Early Middle Ages, hg. v. Yitzhak HEN u. Matthew INNES, Cambridge 2002; L’autorité du passé dans les sociétés médiévales, hg. v. Jean-Marie SANSTERRE (Collection de l’école française de Rome 33 / Institut historique belge de Rome 52), Brüssel-Rom 2004. Vgl. Patrick J. GEARY, Phantoms of remembrance. Memory and oblivion at the end of the first millennium, Princeton 1994; Medieval Memories. Men, Women and the Past in Europe, 700-1300, hg. v. Elizabeth VAN HOUTS, London 2001; Walter POHL, Werkstätte der Erinnerung. Montecassino und die Gestaltung der langobardischen Vergangenheit (MIÖG Ergänzungsbd. 39), Wien-München 2001; Rosamond MCKITTERICK, History and Memory in the Carolingian World, Cambridge 2004.
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Fiktionalität auch der Geschichtsschreibung5 ist die Frage nach der Wahrnehmung und dem Verständnis von Vergangenheit an sich, über die einschlägigen Untersuchungen zum Geschichtsbild und dessen Funktionen hinaus, bislang in dieser Form nicht oder allenfalls im Rahmen der Untersuchung mittelalterlicher Zeitbegriffe6 und Zeitkonzepte7 gestellt worden, obwohl sie für jede Historiographie zentral sein muß und den mittelalterlichen Chroniken tatsächlich immer wieder ein Vergangenheitsbewußtsein attestiert worden ist.8 Die Analyse entsprechender Wahrnehmungs- und Deutungsmuster ist in dieser Perspektive gänzlich als Forschungsdefizit zu bewerten. Ein Ziel des Teilprojekts war es folglich, diesen Aspekt stärker zu beleuchten und ihn mit den bisherigen Forschungstraditionen zusammenzuführen. Dabei geht es nicht um die – demgegenüber recht gut erforschte – Wahrnehmung und Deutung des Geschichtsverlaufs seitens der Autoren als der konkret wahrgenommenen und dargestellten Vergangenheit, also um das Geschichtsbild, sondern um die – subtil hinter der Darstellung verborgene – Wahrnehmung und Deutung des Vergangenen (an sich), die Frage nämlich, was als vergangen und wie und warum es als vergangen wahrgenommen wird. Nicht minder auffällig erscheint die Tatsache, daß auch die mittelalterlichen Geschichtsschreiber, soweit ich sehe, nirgends explizit reflektieren, was sie unter 5
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Vgl. Gabrielle M. SPIEGEL, The Past as Text. The Theory and Practice of Medieval Historiography (Parallax), Baltimore 1997; Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. v. Johannes LAUDAGE (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), Köln-Weimar-Wien 2003. Vgl. Walter FREUND, Modernus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters (Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung 4), Köln-Graz 1957; Elisabeth GÖSSMANN, Antiqui und Moderni im Mittelalter. Eine geschichtliche Standortbestimmung (Münchener Universitätsschriften. Kath.-Theol. Fakultät. Veröffentlichungen des Grabmann-Instituts, N.F. 23), München-Paderborn-Wien 1974; Antiqui und Moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. v. Albert ZIMMERMANN (Miscellanea Mediaevalia 9), Berlin-New York 1974; Nico LETTINCK, Geschiedbeschouwing en beleving van de eigen tijd in de eerste helft van de twaalfde eeuw, Amsterdam 1983. Vgl. Hans-Werner GOETZ, Die Zeit als Ordnungsfaktor in der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993, hg. v. Peter DILG, Gundolf KEIL u. DietzRüdiger MOSER, Sigmaringen 1995, S. 63-74; DERS., Historiographisches Zeitbewußtsein im frühen Mittelalter. Zum Umgang mit der Zeit in der karolingischen Geschichtsschreibung, in: Historiographie im frühen Mittelalter (wie Anm. 2), S. 158-178; DERS., Zeitbewußtsein und Zeitkonzeptionen in der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: Zeitkonzeptionen – Zeiterfahrung – Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. v. Trude EHLERT, Paderborn u.a. 1997, S. 12-32; vor allem Fabian SCHWARZBAUER, Geschichtszeit. Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs von Michelsberg, Honorius’ Augustodunensis und Ottos von Freising (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 6), Berlin 2005. Vgl. GOETZ, Geschichtsschreibung (wie Anm. 3); DERS., Die Gegenwart der Vergangenheit im früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein, in: HZ 255, 1992, S. 6197.
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„Vergangenheit“ bzw., da eine solche Abstrahierung mittelalterlichem Denken fremd war, unter „vergangen sein“ eigentlich verstehen (obwohl sie durchweg davon handeln). Aus diesem Sachverhalt zu schließen, daß es kein Vergangenheitsbewußtsein und kein Vergangenheitskonzept gegeben habe, wäre angesichts der vielfältigen Dokumentation vergangenen Geschehens absurd. Offenbar bestand keinerlei Bedürfnis und auch keinerlei Notwendigkeit, hier mehr begriffliche Klarheit in einen Sachverhalt zu bringen, der allen Lesern vertraut (zugleich aber höchst schwierig zu erklären) war.9 Die Auswertung der Quellen muß folglich indirekte Wege gehen, um die entsprechenden Wahrnehmungsund Deutungsmuster zu eruieren. Die verwendete Begrifflichkeit, das darin transportierte Verständnis, die Charakterisierungen vergangenen Geschehens als (irgendwie) vergangen, die dabei zugrunde gelegten Kriterien und Inhalte sowie die Bewertung des Vergangenen, nicht minder aber Abgrenzungen von der und Bezüge zur Gegenwart bilden hier die wesentlichen Anhaltspunkte. Im folgenden können nicht alle Ergebnisse des Teilprojekts vorgeführt, können vor allem nicht alle Belege ausgebreitet werden. Manches wird andernorts erscheinen (oder ist bereits erschienen).10 Im Verlauf des Projekts wurde eine Reihe sehr unterschiedlicher Quellen aus verschiedenen Teilen Europas ausgewertet.11 Im Bewußtsein, daß gerade bei der Frage nach der Vorstellungs9
Bekannt und immer wieder zitiert ist die Aussage Augustins, Confessiones 11,14,17, ed. Lucas VERHEIJEN, CCL 27, Turnhout 1981, S. 202, die Zeit sei ihm ein „unlösbares Rätsel“ (ebd. 11,22,28, S. 207): „Wenn niemand mich danach fragt, so weiß ich es; sobald ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht“. 10 Von den einschlägigen Arbeiten seien hier genannt: Hans-Werner GOETZ, „Konstruktion der Vergangenheit“. Geschichtsbewußtsein und „Fiktionalität“ in der hochmittelalterlichen Chronistik, dargestellt am Beispiel der Annales Palidenses, in: Von Fakten und Fiktionen (wie Anm. 5), S. 225-257; DERS., Wahrnehmungs- und Deutungsmuster (wie Anm. 1); DERS., „Wahrnehmung“ der Arbeit als Erkenntnisobjekt der Geschichtswissenschaft, in: Arbeit im Mittelalter, hg. v. Verena POSTEL, Berlin 2006, S. 21-33; DERS., Textualität, Fiktionalität, Konzeptionalität. Zur Vorstellungswelt mittelalterlicher Geschichtsschreiber und zur Konstruktion ihrer Texte, in: Mittellateinisches Jahrbuch 41, 2006, S. 1-21. Von anderen, im Umkreis des Projekts erschienenen Arbeiten seien ausdrücklich genannt: Volker SCIOR, Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 4), Berlin 2002; SCHWARZBAUER, Geschichtszeit (wie Anm. 7); David FRAESDORFF, Der barbarische Norden. Vorstellungen und Fremdheitskategorien bei Rimbert, Thietmar von Merseburg, Adam von Bremen und Helmold von Bosau (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 5), Berlin 2005, sowie die Arbeiten von Markus SPÄTH (unten Anm. 249). 11 Eine wesentliche Grundlage für verschiedene Auswertungen bildet, neben vielen Einzelbelegen und der Nutzung elektronischer Medien, die für das Projekt erstellte Datenbank nach einem bestimmten Formular. Dabei wurden bewußt verschiedene Genera aus verschiedenen Regionen vor allem des 9. bis 12. Jahrhunderts berücksichtigt: Welt- und Reichschroniken (Regino von Prüm; Widukind von Corvey; Thietmar von Merseburg; Hermann von Reichenau; Frutolf von Michelsberg; Wipo; Gallus Anonymus; Cosmas von Prag; Heinrich von Huntingdon; Wilhelm von Malmesbury; Johannes von Worce-
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welt zunächst jede Quelle einzeln zu analysieren wäre, können in diesem Rahmen nur summierende und vergleichende Beobachtungen angestellt werden.12 Auf der Grundlage der Vorarbeiten13 werden zunächst die Befunde zur Wahrnehmung und Deutung der Vergangenheit in der früh- und hochmittelalterlichen Historiographie (und zwar zur geschichtstheologischen, begrifflichen, zeitlichen sowie inhaltlichen Determinierung und Wertung) sowie ihre Bedeutung für das Projektthema mit folgenden Leitfragen vorgestellt: Wie wird Vergangenheit verstanden, bezeichnet, abgegrenzt, charakterisiert und bewertet? Nach solchen Abgrenzungen sind anschließend die Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu analysieren. Abschließend sind aus diesen Befunden Folgerungen für die darin transportierten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu ziehen. Es versteht sich von selbst, daß auf dieser Grundlage nur vorsichtige (und keineswegs in jedem Fall eindeutige) Beobachtungen angestellt und Schlüsse gezogen werden können.
ster), Bistums- und Klostergeschichten (z.B. Chronicon Novaliciense; Chronicon Vulturnense; Ortlieb und Berthold von Zwiefalten; Adam von Bremen; Gesta episcoporum Halberstadensium), Vergangenheits- und Gegenwartsgeschichten (letztere: Brunos Buch vom Sachsenkrieg), aus dem Deutschen Reich, aus Frankreich, England, Italien und Ostmitteleuropa. 12 Eine ausführliche Analyse einzelner Chroniken wird die Dissertation von Simon Elling bieten. Zu Projektarbeiten über einzelne Werke vgl. auch Hans-Werner GOETZ, Constructing the Past. Religious Dimensions and Historical Consciousness in Adam of Bremen’s Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, in: The Making of Christian Myths in the Periphery of Latin Christendom (c. 1000-1300), hg. v. Lars Boje MORTENSEN, Kopenhagen 2006, S. 17-51; DERS., Die Wahrnehmung von ‚Staat‘ und ‚Herrschaft‘ im frühen Mittelalter, in: Staat im frühen Mittelalter, hg. v. Stuart AIRLIE, Walter POHL u. Helmut REIMITZ (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Denkschriften 334 / Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006, S. 39-58; DERS., The Perception of „Power“ and „State“ in the Early Middle Ages, in: Representations of Power in Medieval Germany, 800-1500, hg. v. Björn WEILER u. Simon MACLEAN (International Medieval Research 16), Turnhout 2006, S. 15-36. 13 Vgl. vor allem Hans-Werner GOETZ, Vergangenheitsbegriff, Vergangenheitskonzepte, Vergangenheitswahrnehmung in früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsdarstellungen, in: Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, hg. v. Christina JOSTKLEIGREWE, Christian KLEIN, Kathrin PRIETZEL, Peter F. SAEVERIN u. Holger SÜDKAMP (Europäische Geschichtsdarstellungen 7), Köln-Weimar-Wien 2005, S. 171202. Hier geht es um die Folgerungen der dort ausgebreiteten Befunde für die Projektziele, doch muß immer wieder auch auf dort in breiterem Rahmen vorgetragene Belege zurückgegriffen werden.
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2. Die Befunde und ihre Deutung 2.1. Geschichtstheologischer Hintergrund: Zeitkonzepte und Heilsgeschichte Zunächst ist an die bekannte Tatsache zu erinnern, daß jedes mittelalterliche Vergangenheitskonzept in der Chronistik sich zwangsläufig in heilsgeschichtliche Vorstellungen vom Geschichtsablauf einfügt: Geschichte ist Teil des göttlichen Heilsplans, auch wenn die Chronisten das durchaus nicht ständig wiederholen müssen, sondern es explizit tatsächlich nur in wenigen Quellen in den Vordergrund tritt. Die Geschichte ist damit ziel- und zukunftsgerichtet (indem sie auf ihr Ende im Jüngsten Gericht zuläuft), der Zeit unterworfen und somit nicht zuletzt in der Chronologie erfahr- und erfaßbar. Solchen Vorstellungen liegt ein entsprechendes Zeitverständnis zugrunde. Die Zeit ist nach patristisch-mittelalterlicher Auffassung eine das Irdische kennzeichnende Größe: Sie ist mit der Schöpfung geschaffen14 – es gibt, so Augustin, keine Zeit vor der Schöpfung15 –, also Teil der Schöpfung, und sie endet mit der Welt.16 Folglich hebt sie sich grundlegend von der – Gott eigenen – Ewigkeit ab, in der es keinerlei zeitliche Entwicklung gibt, die vielmehr durch eine „Zeitlosigkeit“ bzw. (besser) eine „Allgegenwart“ oder ewige Gegenwart ohne Gestern und Morgen, Vergangenheit und Zukunft,17 geprägt ist18 und in
14 Vgl. Augustinus, De civitate Dei 11,6, ed. Bernhard DOMBART u. Alfons KALB (Bibliotheca Teubneriana), Leipzig 1928, Bd. 1, S. 469: procul dubio non est mundus factus in tempore, sed cum tempore. 15 Vgl. Augustinus, Confessiones 11,15 (wie Anm. 9), S. 202: Aut quae tempora fuissent, qua abs te condita non essent? Aut quomodo praeterirent, si nunquam fuissent? Cum ergo sis operator omnium temporum, si fuit aliquod tempus, antequam faceres caelum et terram, cur dicitur, quod ab opere cessabas? Id ipsum enim tempus tu feceras, nec praeterire potuerunt tempore, antequam faceres tempora. Ausführlich zu Augustins Zeitvorstellungen: Kurt FLASCH, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo, das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt a. M. 1993; Dorothea GÜNTHER, Schöpfung und Geist. Studien zum Zeitverständnis Augustins im XI. Buch der Confessiones (Elementa. Schriften zur Philosophie und ihrer Problemgeschichte 58), Amsterdam-Atlanta 1993. 16 So im frühen 12. Jahrhundert Honorius Augustodunensis, Imago mundi 2,3, ed. Valerie I. J. FLINT, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 49, 1983, S. 92: Tempus autem mundi est umbra !vi. Hoc cum mundo incipit et cum mundo desinet. Honorius illustriert das anschließend mit seinem vielzitierten Bild von der Zeit als Seil, das sich von Osten nach Westen ausspannt und durch tägliches Aufwickeln schließlich vollständig aufgebraucht wird: Veluti si funis ab oriente in occidentem extenderetur qui cottidie plicando collectus, tandem totus absumeretur. 17 Vgl. Petrus Damiani, ep. 119, ed. Kurt REINDEL, MGH Briefe d. dt. Kaiserzeit IV,3, München 1989, S. 359: et non tanquam praeterita vel futura, sed ut revera praesentia suoque subiecta conspectui perspicacissimo comprehendit intuitu. [...] Omnipotenti itaque Deo non est heri vel cras, sed hodie sempiternum.
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der sich nichts ändern kann.19 (Irdische) Zeit hingegen läßt ein Denken in und über die Vergangenheit überhaupt erst zu, denn: „Es gab kein Damals, als es keine Zeit gab.“20 Gott geht daher nicht der Zeit, sondern allem Zeitlichen voraus (sonst wäre er ja nicht allzeitlich). Kennzeichen der (irdischen) Zeit ist zum einen die Tatsache, daß sie begrenzt ist, also Anfang (in der Schöpfung) und Ende (im Jüngsten Gericht) hat.21 Daraus folgt zum andern, daß es einen – meßbaren – Zeitablauf (nach Tag und Nacht, Jahreszeiten und Jahren),22 einen Wandel (mutatio, vicissitudo, mutabilitas),23 ein Vorher und Nachher gibt (bzw. erfolgt jegliches Geschehen sowohl nach einem anderen wie vor einem anderen)24 und man somit drei Zeiten 18 Vgl. Augustinus, De civitate Dei 11,21 (wie Anm. 14), S. 489: non enim more nostro ille vel quod futurum est prospicit, vel quod praesens est aspicit, vel quod praeteritum est respicit. [...] Ille quippe non ex hoc in illud cogitatione mutata, sed omnino incommutabiliter videt; ita ut illa quidem quae temporaliter fiunt, et futura nondum sint et praesentia iam sint et praeterita iam non sint, ipse vero haec omnia stabili et sempiterna praesentia comprehendat. [...] quoniam non sicut nostra, ita eius quoque scientia trium temporum, praesentis videlicet et praeteriti vel futuri, varietate mutatur. Daß spätere Autoren wie Honorius, Imago mundi 2,1-3 (wie Anm. 16), S. 92f., noch zwischen einem aevum als Zeit der Engel (und Seelen der Heiligen) und einer göttlichen aeternitas unterscheiden, sei hier nur am Rande erwähnt. 19 Vgl. im 12. Jahrhundert Hugo von St. Viktor, In Ecclesiasten homiliae 19, hom. 13, Migne PL 175, Paris 1854, Sp. 207 C (zu Eccl. 3,1): Extra tempora enim aeternitas erit, et mutabilitas non erit; et non erit ibi tunc, omnia tempus habent; sed omne quod erit, sic erit, ut pro tempore aliud et aliud esse non possit, sed quod erit semper erit. 20 So Augustin, Confessiones 11,15 (wie Anm. 9), S. 202: Non enim erat tunc, ubi non erat tempus. 21 Vgl. Hugo von St. Viktor, In Ecclesiasten homiliae 19, hom. 13 (wie Anm. 19), Sp. 206 B: Tempus etiam habent omnia certum et determinatum, quando incipiant et quando finiantur. 22 Vgl. Honorius Augustodunensis, Hexaemeron c. 4, Migne PL 172, Paris 1854, Sp. 260 D: et nihil aliud tempus sit nisi diei ac noctis, vel anni, ut puta veris, aestatis, autumni, hiemis vicissitudo; vel rerum de praeterito in praesens, de praesenti in futurum transmutatio. Vgl. Hugo von St. Viktor, In Ecclesiasten homiliae 19, hom. 13 (wie Anm. 19), Sp. 208 C: et sunt dies et menses, et anni, et lustra, et saecula, et horae breves, et momenta, et instantia; et omnia haec tempus sunt in ipsis quae transeunt, et vere non sunt. 23 Vgl. Augustinus, De civitate Dei 11,6 (wie Anm. 14), S. 468: Si enim recte discernuntur aeternitas et tempus, quod tempus sine aliqua mobili mutabilitate non est, in aeternitate autem nulla mutatio est. Im 12. Jahrhundert Honorius Augustodunensis, Imago mundi 2,3 (wie Anm. 16), S. 93: Tempus autem a temperamento dicitur, et nihil aliud quam vicissitudo rerum intellegitur. Die mutabilitas der Welt wird dann vor allem von Hugo von St. Viktor und Otto von Freising betont. Quia temporum mutabilitas stare non potest, so schreibt Otto gleich zu Beginn seiner Chronik (prol. 1, ed. Adolf HOFMEISTER, MGH SSrG 45, Hannover-Leipzig 21912, S. 6), müsse der Weise sich von ihr ab- und der stabilitas zuwenden. Vgl. dazu Hans-Werner GOETZ, Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 19), Köln-Wien 1984, bes. S. 86-90 u. S. 143-158. 24 Augustinus, De civitate Dei 11,6 (wie Anm. 14), S. 469: Quod enim fit in tempore, et post aliquod fit et ante aliquod tempus; post id quod praeteritum est, ante id quod futurum est; nullum autem posset esse praeteritum, quia nulla erat creatura, cuius mutabilibus motibus ageretur. Deutlich auch Hugo von St. Viktor, In Ecclesiasten hom. 19, hom. 13 (wie Anm. 19), Sp. 206 B: Omnia
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unterscheiden kann: ein Damals (die Vergangenheit), ein Jetzt (die Gegenwart) und ein Dereinst (die Zukunft, die aber ständig eingeholt und damit zur Vergangenheit wird: „sobald es gekommen ist, wird es schon wieder vergangen sein“).25 Ohne dieses Zeitverständnis gäbe es folglich keine Vorstellung von der Vergangenheit. Für den Neuplatoniker Augustin ist das ein ontologisches Problem: Da die Vergangenheit nicht mehr, die Zukunft aber noch nicht „ist“ (= existiert), besitzt nur die Gegenwart ein „Sein“. Sie ist jedoch so kurz, daß man sie gar nicht messen kann. Sie ist demnach alleiniger Referenzpunkt, selbst aber ohne jede Dauer.26 Diese ständige Auflösung ist daher eine Folge des Zeitverständnisses, die Vergangenheit eine Folge des zeitlichen Wandels: „Wenn nichts vorüberginge, gäbe es keine Vergangenheit.“27 Damit erhält die Vergangenheit ihren Stellenwert: Sie „ist“ zwar nicht mehr, aber es gibt sie; ja, es gibt sie nicht nur, sondern sie nimmt auch immer weiter zu, während die Zukunft immer mehr zusammenschmilzt, eben weil die Zeit endlich ist. Die Vergangenheit läßt sich zwar nicht mehr erleben, wohl aber erinnern. Genau hier, in der memoria des Vergangenen, erhält nun die Geschichtsschreibung ihre Funktion,28 erhält das Nachdenken über Vergangenheit seinen Sinn, „verschmelzen“ in gewisser Weise Vergangenheit und Gegenwart in der Geschichtsdarstellung. Die (augustinischen) Vorstellungen von den drei Zeiten und vom Wesen der Zeit (und der Vergangenheit) wurden, wie die zitierten Beispiele schon andeuten, im Mittelalter vielfach aufgegriffen. Es gab also unbezweifelbar ein Bewußtsein der Existenz des Vergangenen und eine Vorstellung von ihrem Wesen (und somit auch ein Bewußtsein von ihrer Abgrenzung von Gegenwart und Zukunft). Letztlich war das Voraussetzung für ein Geschichtsdenken und somit auch für eine Geschichtsschreibung, wo solche Vorstellungen immer wieder
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tempus habent, ut nihil perpetuum semperque permanens inveniatur: sed omne quod est aut aliud subsequatur ut non ab initio veniat, aut praecurrat aliud ut usque ad finem se non extendat. Augustinus, Confessiones 11,16 (wie Anm. 9), S. 202: alioquin non omnia tempora praecederes. Sed praecedes omnia praeterita celsitudine semper praesentis aeternitatis et superas omnia futura, quia illa futura sunt, et cum uenerint, praeterita erunt. Vgl. Augustinus, De civitate Dei 11,21 (oben Anm. 18). Augustinus, Confessiones 11,27 (wie Anm. 9), S. 207: „et non sunt praeterita uel futura“. Praesens uero tempus quomodo metimur, quando non habet spatium? Metimur ergo, cum praeterit, cum autem praeterierit, non metitur; quid enim metiatur, non erit. Sed unde et qua et quo praeterit, cum metitur? Vnde nisi ex futuro? Qua nisi per praesens? Quo nisi in praeteritum? Ex illo ergo, quod nondum est, per illud, quod spatio caret, in illud, quod iam non est. Vgl. Augustinus, De civitate Dei 11,21 (wie Anm. 14), S. 489: ita ut illa quidem, quae temporaliter fiunt, et futura nondum sint et praesentia iam sint et praeterita iam non sint. So Augustinus, Confessiones 11,17 (wie Anm. 9), S. 203: si nihil praeteriret, non esset praeteritum tempus. Vgl. etwa Gregor von Tours, Historiae prol., ed. Bruno KRUSCH u. Wilhelm LEVISON, MGH SSrM 1,1, Hannover 1951, S. 1: pro commemoratione praeteritorum.
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anklingen,29 auch wenn sie nur selten näher explizit erläutert werden (wie bei Otto von Freising). Welche Bedeutung die Zeit (und damit die Vergangenheit) aber für die mittelalterlichen Geschichtsschreiber besaß, ergibt sich aus mehreren Indizien:30 aus dem Stellenwert der Chronologie, den zeitlichen Bezügen durch zahlreiche Zeitbegriffe, den – für wichtige Ereignisse komplexen – Datierungen und der zeitlichen Zuordnung der Ereignisse (dem engen Bezug zwischen tempus und gesta)31 in der historiographischen Darstellung. Die mittelalterlichen Chronisten legten in aller Regel größten Wert sowohl auf eine chronologische Erzählfolge (auch wenn diese immer wieder unter- und durchbrochen werden konnte) als auch auf eine zeitliche Zuordnung. Ausgangspunkt bildet die „Synopse“ der Weltgeschichte in der – für das gesamte Mittelalter grundlegenden – Weltchronik des Eusebius von Caesarea und in deren lateinischer Übersetzung und Fortsetzung durch Hieronymus, deren Ziel es war, die verschiedenen Zeitsysteme, vor allem biblische und profane Geschichte, in synoptischen Tabellen zu „synchronisieren“. Frutolf von Michelsberg stellt die (vorchristliche) Frühgeschichte später geradezu als chronographische Zeittabelle dar, und Sigebert von Gembloux legt seiner Chronik die Herrscherchronologie der führenden Reiche als Grundschema zugrunde.32 Autoren wie Adam von Bremen bedauern, daß ihnen für frühere Zeiten keine genaueren Datierungen vorlagen, und bemühen sich, solche zu erschließen.33 Nicht minder bedeutsam ist die Vorstellung von Wandel und Zäsuren in der Geschichte, die jedoch konform geht mit der Betonung der Kontinuität und des ständigen Bezugs von Vergangenheit und Gegenwart: Einer „Verzeitlichung“ der Ereignisse entspricht auf der Sinnebene eine „Entzeitlichung“ des Vergangenen.34 In solche Vorstellungen fügen sich zwangsläufig die terminologischen Befunde ein.
29 Vgl. etwa Lampert von Hersfeld, Annales a. 1074, ed. Oswald HOLDER-EGGER, MGH SSrG 38, Hannover-Leipzig 1894, S. 175: multa sua erga eos in preteritum bene merita commemorans, plura in futurum pollicens. 30 Vgl. dazu GOETZ, Geschichtsschreibung (wie Anm. 3), S. 156ff. u. S. 193ff. und die in Anm. 7 genannten Arbeiten. 31 Vgl. Hugo von St. Viktor, De arca Noe morali 4,9, Migne PL 176, Paris 1854, Sp. 678 D: In serie rerum gestarum ordo temporis invenitur. 32 Vgl. Hans-Werner GOETZ, Die hochmittelalterliche Chronik als gesta temporum: Zeitbewußtsein und Zeitdarstellung im 12. Jahrhundert (im Druck); kurz DERS., Geschichtsschreibung (wie Anm. 3), S. 200ff. 33 Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum 1,17, ed. Bernhard SCHMEIDLER, MGH SSrG 2, Hannover-Leipzig 31917, S. 24: Verum quod distinctio temporum ibi obscura est, pleraque ab aliis scriptis congruentia tempori mutuavimus. 34 Vgl. Hans-Werner GOETZ, The Concept of Time in the Historiography of the Eleventh and Twelfth Centuries: Regarding Dates and Chronology but Ignoring Temporal Changes, in: Medieval Concepts (wie Anm. 3), S. 139-165; DERS., Geschichtsschreibung (wie Anm. 3), S. 208ff.
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2.2. Begriffliche Determinierung: Die Vergangenheitsterminologie der Geschichtsschreiber Der Befund über die Zeitterminologie der früh- und hochmittelalterlichen Chronisten ist schnell zusammengefaßt (und weist, unbeschadet eines individuellen Begriffsgebrauchs im einzelnen, tatsächlich eine insgesamt sehr ähnliche Struktur auf). – Auffällig ist zunächst, daß der einzige, (wie bei Augustin) relativ eindeutig das Vergangene bezeichnende Begriff, praeteritum, der sich nach der Definition Isidors von Sevilla zudem engstens mit der historia als Geschichtsschreibung verband,35 die sich des Vergangenen erinnerte, in diesem Sinn in historiographischen Quellen eher selten aufgegriffen und angewandt wird.36 Vielmehr wird gerade praeteritum, wie gleich noch zu zeigen ist, zeitlich weit enger gefaßt und in der Regel auf eine erst kürzlich vergangene Zeit bezogen. (In Schulschriften wurde es hingegen vorwiegend für die grammatischen Zeiten benutzt.) Offenbar gab es in der chronologischen Erzählung kein Bedürfnis, die Vergangenheit als Ganzes anzusprechen oder abzugrenzen. – Bezeichnend für das Vergangenheitsverständnis ist auch der Gebrauch der Altersbegriffe antiquus, antiquitus, antiquitas einerseits und vetus, vetustas andererseits, die in vielen (nicht in allen) Fällen synonym verwendet werden37 und sich mit der Bezeichnung des Alters durchaus, wenngleich sehr differenziert, auf Vergangenes beziehen. Ähnliches gilt für priscus, das Früheres vom Heutigen abgrenzt. – Antiquus, vetus und priscus werden zwar ungleich häufiger als praeteritus verwendet, sind jedoch ebenfalls keineswegs die häufigsten Termini. Viele andere Begriffe beherrschen das („Vergangenheits-“)Feld: konkrete Zeitangaben, aber auch relationale Wendungen wie, mit Bezug auf die Berichtszeit, „in jenen Tagen“ (his diebus) oder „zu jener Zeit“ (eo tempore und ähnlich) oder, auf Vergangenes bezogen, in früheren Zeiten (priscis temporibus) oder ähnliche Wendungen, die, oft ohne genauere zeitliche Festlegung, auf Früheres schlechthin deuten. 35 Isidor, Etymologiae sive Origines I, c. 41, ed. W. M. LINDSAY, Oxford 1911 (ND. 1962): Historia est narratio rei gestae, per quam ea, quae in praeterito facta sunt, dinoscuntur. Dieser Sachverhalt wurde vielfach aufgegriffen. Vgl. Honorius Augustodunensis, Expositio in psalmos, De mysterio psalmorum, Migne PL 172, Sp. 273 B: Historia est, quae praeterita narrat. Zur historia als Geschichtsschreibung vgl. Hans-Werner GOETZ, Die „Geschichte“ im Wissenschaftssystem des Mittelalters, in: Franz-Josef SCHMALE, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung, Darmstadt 1985, S. 165-213. 36 Eines der seltenen Beispiele bietet Orosius, Historiae adversum paganos 1 prol., ed. Karl ZANGEMEISTER, CSEL 5, Wien 1882, S. 3, der das Interesse an dem Vergangenen als Kennzeichen des Christentums bezeichnet, während die Heiden nicht danach fragen: praeterita autem aut obliuiscantur aut nesciant. 37 Hermannus quondam Judaeus, Opusculum de conversione sua 19, ed. Gerlinde NIEMEYER, MGH QGG 4, Weimar 1963, S. 119, spricht (anläßlich seiner Taufe) geradezu von ad antique vetustatis renovationem.
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Entsprechende Termini für die Gegenwart bzw. die eigene Zeit (des Autors) sind nostris diebus, nostris temporibus/nostrum tempus, modernis temporibus, hodierno die oder einfach hodie. Jeweils für sich genommen, treten auch diese Begriffe nicht allzu häufig auf. Gängig sind vielmehr kurze, letztlich aber unbestimmte Adverbien. Am weitaus häufigsten werden – quantitativ deutlich in dieser Reihenfolge38 – tunc (allerdings in der Doppelbedeutung „damals“ und „dann“), olim, quondam und dudum (alle drei unterschiedslos für „einst“), für die Gegenwart entsprechend nunc und modo verwendet (freilich mit dem Unterschied, daß der letzte Begriff mehrdeutig und nicht ausschließlich zeitlich determiniert ist). Dem entspricht ein relatives „Vorher“ – „Nachher“ (antea – postea). Die Begrifflichkeit ist insgesamt weder einheitlich noch eindeutig, doch kennen die mittelalterlichen Chronisten zumindest eine ganze Reihe verschiedener, sich überschneidender terminologischer Möglichkeiten, vergangene Zustände von den gegenwärtigen abzuheben und somit, zumindest indirekt, als „vergangen“ zu kennzeichnen. Dieser Befund, der seinerseits ein – wenn auch unreflektiertes – Bewußtsein von Vergangenem und Vergangenheit dokumentiert, wirft die Frage nach den zeitlichen, inhaltlichen und wertenden Abgrenzungen (und Bezügen) zwischen Vergangenheit und Gegenwart und nach den diesen jeweils zugrunde gelegten Kriterien auf.
2.3. Vergangenheit und Gegenwart: Abgrenzungen und Abgrenzungskriterien 2.3.1.
Zeitliche Determinierung: Wo hört „Vergangenheit“ auf?
Die zeitbezogenen Begriffe kennzeichnen zwar nicht „Vergangenheit“ und „Gegenwart“ im heutigen Sinn, grenzen mit der Kennzeichnung als (zeitlich) vergangen oder gegenwärtig aber doch beide Zeiten voneinander ab, und das um so mehr, als tunc – nunc/modo oder ähnliche Konstellationen häufig, betont kontrastierend, paarweise auftreten. Eine genauere zeitliche Fixierung der Vergangenheit ist nach Durchsicht zahlreicher Belegstellen allerdings nicht möglich und war offenbar auch gar nicht beabsichtigt. Praeteritum ist für die mittelalterli38 Eine Auszählung nach den Scriptores in den e-MGH und nach der digitalen „Quellensammlung zur mittelalterlichen Geschichte“ (1-3) ergibt folgende Werte: eMGH Quellensammlung praeteritus 195 178 tunc 6745 3650 quondam 1215 786 olim 894 656 dudum 766 357 nunc 4104 1690 modo 2789 1444 hodie 736 2661
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chen Chronisten, auf bestimmte Vorgänge bezogen, zwar gelegentlich alles Vergangene – so wenn Otto von Freising von preteritorum temporum calamitates spricht39 –, meint in der Regel jedoch nahezu ausschließlich das unmittelbar Vorangegangene: Der Begriff begegnet weit überwiegend als konkrete Zeitbestimmung in Wendungen wie praeterito die/praeterita nocte, praeterita aestate/praeterito hiberno oder (häufig) anno praeterito.40 Er bezieht sich damit gerade nicht auf eine ferne, sondern eine extrem gegenwartsnahe Vergangenheit und wird manchmal sogar unmittelbar mit dem entsprechenden gegenwärtigen Zeitabschnitt (Jahr) verknüpft und diesem einbezogen.41 Wenn die Fischer, denen der heilige Liudger befahl, einen Stör zu fangen, antworteten, die Zeit dazu sei längst vorbei (longe esse praeteritum tempus, quo tales pisces compraehendi poterant), dann meinten sie damit lediglich die ungünstige Jahreszeit!42 Wohl aber grenzt praeteritus, vor allem in theologischen Traktaten, das Frühere oder eher noch: alles Bisherige, doch nicht zuletzt wiederum noch innerhalb der eigenen Lebenszeit,43 vom Jetzigen ab44 und spielt somit auf einen – irgendwann in der (näheren) Vergangenheit eingetretenen – Wandel (eine Wandlung) an,45 deutet vielfach aber auch auf ei39 Otto von Freising, Chronik 2 prol. (wie Anm. 23), S. 68. 40 So recht häufig; z.B. Nithard, Historiae III, c. 4, ed. Ernst MÜLLER, MGH SSrG 44, Hannover-Leipzig 31907 (ND. 1965), S. 34: quod praeterite noctis passi fuerant; Astronomus, Vita Hludowici imperatoris c. 58, ed. Ernst TREMP, MGH SSrG 64, Hannover 1995, S. 520: praeterita vespera; Annales regni Francorum a. 804, ed. Friedrich KURZE, MGH SSrG 6, Hannover 1895, ND. 1950, S. 119: aestate praeterita; Gregor von Tours, Historiae 9,40 (wie Anm. 28), S. 465: praeterito hiberni huius tempore; ebd. 8,35, S. 404: anno praeterito; Annales Bertiniani a. 845, ed. Félix GRAT, Jeanne VIELLIARD u. Suzanne CLÉMENCET, Paris 1964, S. 51: anno praeterito; ebd. a. 838, S. 24: annis praeteritis; Regino von Prüm, Chronicon a. 761, ed. Friedrich KURZE, MGH SSrG 50, Hannover 1890, S. 46: preterito anno; Cosmas von Prag, Chronicon 2,12, ed. Berthold BRETHOLZ, MGH SSrG N.S. 2, Berlin 21955, S. 100: tributum trium annorum iam preteritorum. 41 Vgl. etwa Annales Bertiniani a. 869 (wie Anm. 40), S. 157: frater suus Hludouuicus rex Germaniae ab expeditione hostili de Vuinidis cum quibus praesenti et praeterito anno sepe comminus sui congredientes aut nihil aut parum utilitatis egerunt; Cosmas von Prag, Chronicon 3,1 (wie Anm. 40), S. 162: preteriti et presentis anni tributum. 42 Altfrid, Vita Liudgeri (I) 1,29, ed. Wilhelm DIEKAMP, Vitae sancti Liudgeri (Die Geschichtsquellen des Bisthums Münster 4), Münster 1881, S. 34. 43 Wenn Eigil, Vita Sturmi c. 12, ed. Pius ENGELBERT (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Hessen und Waldeck 29), Marburg 1968, S. 143, zur Gründung des Klosters Fulda schreibt: quod praeteritis temporibus ante nos nemo inchoavit, so bezieht sich auch das auf eine nahe Vergangenheit, denn das Kloster war erst durch (Bonifatius und) Sturm gegründet worden. 44 Praeterita bezieht sich beispielsweise auf frühere Sünden (peccata), Werke (opera), Übel (mala), Schuld (culpa), Verbrechen (crimina), Beispiele (exempla), Taten (gesta), Bußen (poenitentia), Kriege (bella), Siege (victoriae), Reichtümer (opes) und anderes mehr. 45 So warf sich Liudolf, der Sohn Ottos des Großen, dem Vater zu Füßen, bat für das Vergangene um Gnade, forderte für die Gegenwart Besserung und gelobte für die Zukunft Vorsicht (cautela): Thietmar von Merseburg, Chronicon 2,8, ed. Robert HOLTZMANN, MGH SSrG N.S. 9, Berlin !1955, S. 46/48: Post haec Dudo cum Hugone penitentia ductus patris
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nen bis zur Gegenwart heranreichenden Tatbestand. Das als praeteritum Bezeichnete ist damit zwar vergangen, liegt in der Regel aber noch nicht weit zurück und wirkt (noch) auf die Gegenwart ein. Differenzierter, aber im Prinzip ähnlich verhält es sich mit den Begriffen antiquus und antiquitas sowie priscus, die fast durchweg einen früheren Zustand oder frühere Personengruppen (vor allem Amtsträger) beschreiben, die vorher (vor dem Jetzigen) herrschten, etwa alle früheren oder bisherigen Könige und Kaiser;46 antiqui duces sind die früheren Herzöge,47 antiqui imperatores die früheren Kaiser,48 priscus abba ist ein früherer Abt,49 antiqui dei sind die vor der Christianisierung verehrten Götter.50 Priscus bezeichnet überhaupt alles Frühere: die früheren Autoren, auf die man sich stützt,51 oder die früheren Zeiten (mit anderen Begriffen52 oder kulturellen Leistungen53). Veteres, antiqui und prisci sind „die Alten“, die den Nachfahren und der Gegenwart als Vorbilder dienen.54 Geradezu von einem „früheren Alter“ (prisca vetustas) spricht, in Verbindung beider Zeitbegriffe, Gregor von Tours in bezug auf einen Ortsnamen,55 von „den alten
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pedibus advolvitur, de preteritis veniam et de presentibus supplex poscit emendationem, de futuris quoque cautelam spospondit. In diesem Sinne etwa Orosius, Historiae adversum paganos VII, c. 20 (wie Anm. 36), S. 478f.: Ita magnificis ludis augustissimus omnium praeteritorum hic natalis annus a Christiano imperatore celebratus est; Annales regni Francorum a. 796 (wie Anm. 40), S. 98: Karl der Große ließ thesaurum priscorum regum [der Awaren] nach Aachen bringen. Vgl. Cosmas von Prag, Chronicon 2,2 (wie Anm. 40), S. 83 (antiqui duces haben veteres thesauros in einer Schatzkammer verborgen); Annales Fuldenses Cont. Ratisb. a. 899, ed. Friedrich KURZE, MGH SSrG 7, Hannover 1891, S. 133 (filium antiqui ducis Zuentobolchi). Vgl. Wipo, Gesta Chuonradi imperatoris 33, ed. Harry BRESSLAU, MGH SSrG 61, Hannover 31915, S. 53, zur Durchsetzung des von den antiqui imperatores festgesetzten Zinses; Regino von Prüm, Chronicon a. 877 (wie Anm. 40), S. 113: Karl der Kahle erhob Boso zum König über die Provence, ut more priscorum imperatorum regibus videretur dominari. Vgl. Vita Eugendi abbatis 23, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 3, Hannover 1896, S. 165: sanctus quoque Pachomius Syrorum priscus abba. Herbord, Vita Ottonis ep. Babenbergensis 3,16, ed. Rudolf KÖPKE, MGH SSrG 33, Hannover 1868, S. 130: et tamen antiquos deos nostros non dimittamus. Vgl. Walahfrid Strabo, Vita Galli 2,9, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 4, Hannover 1902, S. 318: Descriptis his quae priscorum sollertia de vita, fine et virtutibus beati Galli ad nos usque scripto transmisit [...] Vgl. Jonas von Bobbio, Vita Columbani 1,10, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 4, Hannover 1902, S. 76: invenitque castrum firmissimo olim fuisse munimine cultum, a supradicto loco distantem plus minus octo milibus, quem Luxovium prisca tempora nuncupabant. Vgl. Ratbod von Utrecht, Vita Bonifatii 3, ed. Wilhelm LEVISON, MGH SSrG 57, Hannover-Leipzig 1905, S. 64: Multi itaque priscis fuere temporibus, qui has gloriosas sedes ob dilectionem Dei et beatissimi Martini partim edificiis grandibus et laquearibus pictis, partim auro argentoque ac gemmis et ceteris huiusmodi pompis ornare studuerunt. Vgl. Jonas von Bobbio, Vita Columbani 1,1 (wie Anm. 52), S. 65: scilicet ut posteris alma redolerent priscorum exempla. Gregor von Tours, Liber de virtutibus s. Martini 1,29, ed. Wilhelm ARNDT u. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 1,2, Hannover 1885, S. 602: Loco autem illi Navicellis nomen prisca vetustas indiderat.
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Pfalzen der alten Könige“56 und von „den früheren Kennzeichen der Sitten der Alten“57 Gunther von Pairis, von „früheren Taten der Alten“ (prisca veterum gesta), ohne deren Aufzeichnung es keine Erinnerung an das Vergangene gäbe,58 Arnulf von Mailand! Wann das „Frühere“ in Jetziges übergeht, ist hingegen nicht festzumachen. Vergangenheitsbegriffe kennzeichnen demnach das (irgendwann) vor der Gegenwart Geschehene. Im Gegensatz zu praeteritus beziehen sich antiquus, priscus, aber auch quondam oft jedoch auf einen sehr weit zurückreichenden Zeitraum und deuten somit auf ein „hohes Alter“ oder auf eine lange zurück liegende Vergangenheit. Diese Begriffe können sich beispielsweise auf „das alte Babylon“ (des Perserkönigs Cyrus),59 auf Troja,60 das Alte61 und das Neue Testament,62 auf römische Kaiser wie Nero,63 auf den Hunnenkönig Attila,64 die 56 Gunther von Pairis, Ligurinus 3, v. 225, ed. Erwin ASSMANN, MGH SSrG 63, Hannover 1987, S. 243: Qua veterum fulgent antiqua palacia regum. 57 Ebd. v. 430, S. 254: antiqua refloreat etas, Prisca vetustorum redeant insignia morum. 58 Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium praef., ed. Claudia ZEY, MGH SSrG 67, Hannover 1994, S. 118: Nisi enim prisca veterum gesta stilus commendaret utcumque, nulla prorsus preteritorum vobis superesset memoria. Vgl. Aldhelm, De metris et enigmatibus ac pedum regulis, ed. Rudolf EHWALD, MGH AA 15, Berlin 1919, S. 81: sicut prisca veterum auctoritas tradidisse monstratur. Kein König, Bischof oder Amtsträger, so Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum 8,3, ed. Diana GREENWAY, Oxford 1996, S. 496, kenne mehr seine Vorgänger vor 1000 Jahren! 59 Otto von Freising, Gesta Frederici prol., ed. Franz-Josef SCHMALE, FSGA 17, Darmstadt 1967, S. 116; Jordanes, Romana, ed. Theodor MOMMSEN, MGH AA 5,1, Berlin 1882, S. 4: antiqua Assiria. 60 Vgl. Historia Welforum 1, ed. Erich KÖNIG (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1), Sigmaringen 21978, S. 2, zur Herkunft der Franken, qui quondam a Troia egressi; Wipo, Gesta Chuonradi 2 (wie Anm. 48), S. 16: de antiquo genere Troianorum regum. Wipo prol., ebd. S. 5, spricht von den veteres philosophi mit Bezug auf griechisch-römische Staatsdenker (explizit angesprochen ist Macrobius). 61 Vgl. Gregor von Tours, Historiae 10,24 (wie Anm. 28), S. 517: velut memoratus Loth quondam in Sodomis. Die antiqua miracula bei Cosmas von Prag, Chronicon 2,4 (wie Anm. 40), S. 89, spielen auf die wunderbare Überquerung des Roten Meeres der Israeliten beim Auszug aus Ägypten an. Vgl. Wipo, Gesta Chuonradi prol. (wie Anm. 48), S. 5: Verendum est modernis scriptoribus vitio torporis apud Deum vilescere, cum primitiva auctoritas veteris testamenti, quae historias patrum fructifero labore diligenter exarat, novarum rerum frugem in memoriae cellario recondi debere praefiguret et doceat; Vita Dagoberti III, 4, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 2, Hannover 1888, S. 514, zu Salomon (antiquis diebus). 62 Vgl. Vita Norberti, Schol., ed. Roger WILMANS, MGH SS 12, Hannover 1856, S. 674, zum Pfingstereignis: Spiritus sanctus, qui quondam centum viginti linguarum erudierat diversitatem. 63 Vgl. Gregor von Tours, Historiae 6,46 (wie Anm. 28), S. 320: König Chilperich, „der Nero und Herodes unserer Zeit“, verwüstete das Land und erfreute sich daran, sicut quondam Nero, cum inter incendia palatii tragidias decantaret. In dem von Rahewin, Gesta Frederici imperatoris 4,80, ed. Franz-Josef SCHMALE, FSGA 17, Darmstadt 1974, S. 688, inserierten Synodalschreiben des Konzils von Pavia von 1160, das Viktor III. zum Papst erhob, wird erwähnt, daß Roland (Alexander III.) Rom verlassen habe und erst in Cisterna, in qua Nero imperator quondam ab Urbe profugus latitavit, den Papstmantel erhalten habe.
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Frühzeit der Sachsen65 oder Briten66 oder gar auf mythische Götter beziehen.67 Die Anrede tu quondam Lucifer (angesichts einer Teufelsaustreibung) in der Vita Norberts von Xanten greift sogar auf die vorparadiesischen Zustände im Himmel zurück.68 Antiqui reges sind dann nicht mehr (nur) die früheren,69 sondern die „alten“ (ganz frühen) Könige.70 Wenn Otto von Freising behaupten kann, das Römische Reich sei über all den Wandlungen durch seine antiquitas zum Greis geworden,71 dann ist damit gerade nicht eine frühere (vergangene) Epoche (die „Antike“), sondern die lange, bis heute fortwährende Dauer angesprochen.72 Entsprechend meint antiquitus „vor langer Zeit“ (und sofern der Zustand noch gilt, ist auch hier sein Alter angesprochen).73 In solchen Zusammenhängen werden auch vetusta tempora74 oder vetera secula75 zu (längst) vergangenen Zeiten. Wenn die Fränkischen Reichsannalen hingegen vermelden, daß es um den legendären „Ring“ der Awaren longis retro temporibus ruhig gewesen sei, bis Erich von Friaul ihn wegen der inneren Zwistigkeiten zwischen den awarischen Für-
64 Vgl. Lampert von Hersfeld, Annales a. 1071 (wie Anm. 29), S. 130: quo famosissimus quondam rex Hunorum Attila in necem christianorum atque in excidium Galliarum hostiliter debachatus fuerat. 65 Vgl. Adam von Bremen, Gesta 1,3 (wie Anm. 33), S. 6: De antiquitate Saxonum meminit Orosius et Gregorius Turonensis ita: [...]. Vgl. Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,2, ed. Paul HIRSCH u. Hans-Eberhard LOHMANN, MGH SSrG 60, Hannover 1935, S. 4. 66 Nach Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum 3,5 (wie Anm. 58), S. 144, benutzten die römischen Missionare in Canterbury die antiquitus a Britannis errichtete Martinskirche. 67 So berichtet Lampert von Hersfeld, Annales a. 1071 (wie Anm. 29), S. 130, von einem Schwert, das einst dem Kriegsgott Mars und später Attila gehörte. 68 Vita Norberti 14 (wie Anm. 62), S. 687: Miser et miserrime tu quondam Lucifer, qui mane oriebaris, in deliciis paradysi fuisti. 69 Vgl. oben S. 169. 70 So etwa Rahewin, Gesta Frederici 4,86 (wie Anm. 63), S. 710: Scripturas et antiquorum regum gesta sedule perquirit. Vgl. Einhard, Vita Karoli 29, ed. Oswald HOLDER-EGGER, MGH SSrG 25, Hannover-Leipzig 1911, S. 33: veterum regum actus et bella canebantur. 71 Otto von Freising, Chronik 1 prol. (wie Anm. 23), S. 7: ex tot alternationibus [...] antiquitate senuit. 72 Vgl. Casus monasterii Petrihusensis 1,48, ed. Otto FEGER (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 3), Sigmaringen 21978, S. 80, zum Bild der Gottesmutter, das der Abt Gebhard geschaffen hatte: Qu! omnia istis iam temporibus antiquitatis coegit desistere esse quod fuerant. Tempora antiquitatis bezeichnen auch hier eher das hohe Alter als „vergangene Zeiten“. 73 So wird der ursprünglich für die Klostergründung (in Zwiefalten) vorgesehene Ort ex vetustate urbis antiquitus ibi constructae Altinburg vocitatus (so Ortlieb von Zwiefalten, Chronicon 1,2, ed. Luitpold WALLACH, Erich KÖNIG u. Karl Otto MÜLLER [Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 2], Sigmaringen 21978, S. 14). Vgl. Annales Fuldenses a. 894 (wie Anm. 47), S. 123: murum antiquitus fundatum perfodere temptant. 74 So Jonas von Bobbio, Vita Columbani 1,10 (wie Anm. 52), S. 76 (vetusta paganorum tempora). 75 Annales Bertiniani a. 862 (wie Anm. 40), S. 91f., zu Bischof Rothad von Soissons, der mit den alttestamentlichen Pharaonen verglichen wird (vgl. unten Anm. 212).
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sten zu plündern vermochte,76 dann reichen die „vergangenen Zeiten“ hier bis an das Berichtsjahr heran; wie lange sie zurückreichen, bleibt hingegen offen. Tatsächlich greifen die Begriffe nicht immer sehr weit in die Vergangenheit zurück. Wenn etwa Notker Balbulus bereits die Kleidung Karls des Großen als antiqua consuetudo bezeichnen kann, so liegt das erst ein paar Jahrzehnte zurück, gilt in seiner Zeit aber bereits als „veraltet“.77 Auf diesen Wandel aber kommt es an. Oft liegt er noch in der vorigen oder sogar in derselben Generation. So berichten die ‚Annales Bertiniani‘ zum Jahr 852 von Gottfried, dem Sohn des Dänen Heriold, der „einst“ unter Kaiser Ludwig dem Frommen (nämlich im Jahre 826, also vor gerade 26 Jahren) getauft worden war.78 An der Stelle, an der Bonifatius einst (quondam) das Martyrium erlitt, wurde seiner schon bald nach seinem Tod (754) abgefaßten Vita zufolge später (aber noch zu Lebzeiten des Verfassers Willibald in der folgenden Generation) eine Kirche errichtet.79 Wenn Gregor von Tours zum Tod des Priesters Proculus vermerkt, dieser habe dem heiligen Quintian „einst“ Unrecht angetan, so muß sich das zwangsläufig ebenfalls zu beider Lebenszeit zugetragen haben.80 Priscis temporibus, so schreiben die Fuldaer Annalen zum Jahr 887, habe Karl III., als er noch König in Alemannien war (das heißt zwischen 876 und 882, also maximal elf Jahre vor der Abfassungszeit der Annalen), den niedrig geborenen Liutward (von Vercelli) über alle anderen gesetzt.81 Und wenn Wipo die Aufstände in Italien als eodem tempore bedeutend, modernis temporibus aber unerhört klassifiziert,82 dann unterscheidet er unmittelbar zwischen einer (erneut nur wenig zurückliegenden) Vergangenheit und einer offenbar friedlicheren Gegenwart. „Weit zurückliegend“ (tempore remota) sind für den Werdener Verfasser der Liudgervita aber auch die Jahre, in de76 Annales regni Francorum a. 796 (wie Anm. 40), S. 98: Sed et Heiricus dux Foroiulensis missis hominibus suis cum Wonomyro Sclavo in Pannonias hringum gentis Avarorum longis retro temporibus quietum, civili bello fatigatis inter se principibus, spoliavit. 77 Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni imperatoris 1,34, ed. Hans F. HAEFELE, MGH SSrG N.S. 12, München !1980, S. 47. 78 Annales Bertiniani a. 852 (wie Anm. 40), S. 65: Godefridus, Herioldi Dani filius, qui quondam sub imperatore Ludouuico Mogontiaci fuerat baptizatus, a Lothario deficiens, ad suos se confert. 79 Willibald, Vita Bonifatii 9, ed. Wilhelm LEVISON, MGH SSrG 57, Hannover-Leipzig 1905, S. 56. Anselm von Canterbury, so berichtet Eadmer, Historia Novorum in Anglia 1, ed. Martin RULE, RS 81, London 1884, S. 45f., habe sich an – den folglich noch lebenden – Wulfstan von Worcester gewandt, unus et solus de antiquis Anglorum patribus, vir in omni religione conspicuus et antiquarum Angliae consuetudinum scientia apprime imbutus. 80 Gregor von Tours, Historiae 3,13 (wie Anm. 28), S. 109: Lovolautrum autem castro hostis expugnant Proculumque presbiterum, qui quondam sanctum Quintiano iniuriam intulerat, ad altarium eclesiae miserabiliter interficiunt. Gerade bei Gregor von Tours ist ein solcher Gebrauch häufig anzutreffen. Vgl. ebd. 4,47, S. 184, zu Theudebert, dem Sohn Chilperichs, qui a Sigybertho quondam adpraehensus sacramentum dederat, ut ei fidelis esset; ebd. 4,51, S. 187: sicut quondam ante mortem Chlothari factum vidimus; ebd., S. 188: Sigila, qui quondam ex Ghotia venerat. 81 Annales Fuldenses a. 887 (wie Anm. 47), S. 105. 82 Wipo, Gesta Chuonradi 34 (wie Anm. 48), S. 54: Item eodem tempore magna et modernis temporibus inaudita confusio facta est Italiae propter coniurationes, quas fecerat populus contra principes.
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nen er die Wunder des Heiligen noch nicht selbst miterlebt hat,83 und er macht einen Einschnitt mit dem Jahr 864 als der ihm nächsten Zeit (proximo tempore). Sind praeteritus und antiquus, aber auch olim und tunc somit zunächst auf einen – viel oder auch nur wenig – früheren (allerdings oft andauernden) Zustand gerichtet, so schafft die häufige Gegenüberstellung von „Damals“ und „Jetzt“ jeweils eine mehr oder weniger klare Abgrenzung beider Zeiten, die in jedem Einzelfall eine zeitliche Einordnung erlaubt, im Gesamtvergleich allerdings ebensowenig zu einem eindeutigen Ergebnis führt: Es gibt keine feste Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die mit „einst“ oder „damals“ bezeichneten Gegebenheiten84 können (erneut) sehr weit (etwa in die Zeit des Alten Testaments oder Trojas) zurückreichen, aber auch nur wenige Jahre zurückliegende Ereignisse bezeichnen. Olim etwa kann sich – bei ein und demselben Autor (wie Widukind von Corvey) – auf die römische Eroberung Britanniens unter Kaiser Vespasian beziehen,85 aber auch nur eine Generation86 oder wenige Jahre zurückliegen,87 und Gleiches gilt für quondam, das zusätzlich gern benutzt wird, um auszudrücken, daß jemand bereits verstorben ist88 oder ein bestimmtes Amt, das er vorher innegehabt hat, jetzt nicht mehr ausübt.89 Auch 83 Vita Liudgeri III 2,26 (wie Anm. 42), S. 123: Sed nos haec, quae a praesenti longiuscule sunt tempore remota, eorum fidei, qui se vidisse testati sunt, relinquemus. 84 Vgl. dazu GOETZ, Vergangenheitsbegriff (wie Anm. 13), S. 182-185, mit Beispielen, die hier nicht wiederholt seien. 85 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,8 (wie Anm. 65), S. 8f. benutzt olim für die Eroberung Britanniens unter Vespasian. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus, ed. Georg Heinrich PERTZ, MGH SS 2, Hannover 1829, S. 264, geht anläßlich der fränkischen Herkunftssage gar bis auf Aeneas und Troja zurück: ab Anchise patre Aeneae, qui a Troia in Italiam olim venerat, creditur esse deductum. 86 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,35 (wie Anm. 65), S. 50, zu den Slawensiegen Ottos des Erlauchten, die Heinrichs I. Erfolge vorbereiteten. 87 Ebd. 2,1, S. 63, zur Designation Ottos I. (929) durch seinen Vater Heinrich I., anläßlich der Königswahl Ottos im Jahre 936: iam olim designatum regem a patre. 88 Vgl. Adam von Bremen, Gesta 2,6 (wie Anm. 33), S. 138, zu Emma, uxor quondam Liutgeri comitis; Annales Bertiniani a. 844 (wie Anm. 40), S. 46: Pippinus Pippini quondam regis filius; Lampert von Hersfeld, Annales a. 1071 (wie Anm. 29), S. 125: comitatum Reginheri quondam comitis usw. Solche Stellen sind ausgesprochen häufig. Ein Beleg dafür ist auch die sich verfestigende Formal regnum (quondam) Hlotharii für das Teilreich Lothars II. 89 Vgl. Regino von Prüm, Chronicon a. 746 (wie Anm. 40), S. 43, zu dem ehemaligen Hausmeier Karlmann, der sich als Mönch nach Montecassino zurückzog: Iste est Carlomannus quondam rex Francorum; Continuator Reginonis a. 966, ebd. S. 177: Eodem anno Berengarius quondam Italiae rex exul moritur et in Babenberg regio more sepelitur; Annales Bertiniani a. 866 (wie Anm. 40), S. 128, zum Streit über Bischöfe ab Ebone quondam Remorum archiepiscopo post depositionem suam ordinati; Gregor von Tours, Historiae 5,18 (wie Anm. 28), S. 224, zur Enthauptung Ciucilos, qui quondam comes palatii Sygiberthi regis fuerat; Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,33 (wie Anm. 65), S. 46, zu Karl dem Einfältigen: regia quondam potestate preditus, modo privatus; Lampert von Hersfeld, Annales a. 1073 (wie Anm. 29), S. 148: Otto dux quondam Baioariae; Wilhelm von Malmesbury, Historia novella 1,21, ed. Edmund KING, Oxford 1998, S. 40: Denique multos etiam comites, qui ante non fuerant, instituit. Auch dafür gäbe es viele weitere Belege.
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einstige Getreue können nun einem anderen Herrn gehorchen.90 Wipo schreibt mit seinen bald nach dem Tod Konrads II. verfaßten ‚Gesta‘ dieses Königs nach eigenen Worten über die selbst miterlebte Zeit (meis temporibus),91 doch zugleich über einen bereits verstorbenen König: Die Epoche Konrads II. ist damit gewissermaßen Gegenwart und Vergangenheit zugleich. Die Zeit der Königswahl ist für Wipo bereits ein nur noch erinnertes „Damals“ (tunc temporis principes);92 ein sieben Jahre vor dem Tod eingetretener Vorfall hat sich ebenfalls bereits „damals“ ereignet,93 und selbst den gerade ein Jahr zurückliegenden Aufstand Herzog Konrads ordnet Wipo im Bericht zu 1027 als „früher“ (prius) geschehen ein.94 Umgekehrt kann „neulich“ (nuper) unter Umständen die Zeit vor 130 Jahren meinen, in der zweiten Bedeutung des Begriffs („vor Zeiten“).95 Und schließlich kann sich die aktuelle Gegenwart gegen die gesamte bisherige Vergangenheit abgrenzen: Der Autor einer kleinen Schrift, welche die Wunder des heiligen Germanus anläßlich des Normanneneinfalls von 845 festhält, die preteritis ac nostris […] temporibus geschehen sind,96 glaubt, eine solche Bedrohung habe sich nie zuvor in der Vergangenheit (retroactis temporibus) ereignet,97 ja, seit der Schöpfung habe man dergleichen niemals vernommen oder gelesen.98 Zugleich habe den Franken aber die Kriegsbereitschaft gefehlt, wie sie früher gang und gäbe gewesen sei (ut antiquitus mos erat).99 Das Vergangene (und Einstige) kann sich demnach vor langer, aber auch vor recht kurzer Zeit ereignet haben, wird in der Regel aber auf einen Wandel deuten. Entsprechend werden mit Begriffen wie antiquus oder auch quondam sehr häufig Zustände gekennzeichnet, die jetzt nicht mehr gelten (gegebenenfalls aber in der Gegenwart wiederbelebt oder wiederhergestellt werden sollen). So berichtet Gregor von Tours von einer Taufe nach früherem Ritus,100 gestattete 90 Vgl. Annales Bertiniani a. 873 (wie Anm. 40), S. 192: Der geblendete Karlmann wurde per homines quondam suos aus dem Kloster Corbie zu Ludwig dem Deutschen geführt. 91 Wipo, Gesta Chuonradi prol. (wie Anm. 48), S. 8: quae meis temporibus acciderant, prout ipse vidi aut relatu aliorum didici. 92 Ebd.: si prius, qui pontifices vel caeteri principes tunc temporis regni praesidio fuerint, commemorabo. 93 Ebd. 29, S. 48: Damals (tunc temporis), nämlich im Jahr 1032, zürnte der Kaiser dem Herzog Udalrich von Böhmen. 94 Ebd. 21, S. 41. 95 So bei Adam von Bremen, Gesta 1,63 (wie Anm. 33), S. 60, mit Bezug auf Erzbischof Unni im Jahre 936. 96 Miracula in Normannorum adventu facta 1, ed. Georg WAITZ, MGH SS 15,1, Hannover 1887, S. 10, und (vollständig) ed. Karl de SMEDT, Wilhelm van HOOFF u. Joseph de BACKER, Analecta Bollandiana 2, 1883, S. 69-98, hier S. 70. 97 Ebd. 2, WAITZ, S. 10, SMEDT/HOOFF/BACKER, S. 71. 98 Ebd. 4, WAITZ, S. 11, SMEDT/HOOFF/BACKER, S. 72. 99 Ebd. 3, WAITZ, S. 10, SMEDT/HOOFF/BACKER, S. 71. 100 Gregor von Tours, Liber in gloria confessorum 68, ed. Wilhelm ARNDT u. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 1,2, Hannover 1885, S. 788: De quo etiam ad aliud lavacrum, in quo consuetudo prisca baptizari instituit, aqua defertur; non tamen cumulatur, ut de illis fontibus Hispaniae supra retulimus.
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Karl der Große den Fränkischen Reichsannalen zufolge den Awaren die Herrschaft eines Khans iuxta priscum eorum ritum,101 war Hamburg für Adam von Bremen einst die berühmteste Stadt der Sachsen,102 brannte der Abodritenfürst Mistui nach Thietmar von Merseburg Hômanburg (Hamburg) nieder, wo einst ein Bischofssitz war,103 war Oldenburg einst Bistum (jetzt war es Lübeck),104 waren die Ungarn für Helmold von Bosau einst das stärkste Volk gewesen, vor denen sich sogar das Römische Reich fürchtete,105 oder waren einstmals blühende Städte jetzt erschreckend öde.106 Die „alten Bräuche“ der Slawen bei Herbord bezogen sich auf deren jetzt abgelegtes Heidentum.107 Oft waren die so beschworenen Zustände seit langem vorüber: Als die Römer Friedrich Barbarossa die Kaiserkrone aus ihrer Hand anboten, soll der Herrscher Otto von Freising zufolge geantwortet haben: „Das war einmal (fuit, fuit quondam); einst gab es in diesem Staat Tugend. ‚Einst‘, sage ich. Könnten wir doch ebenso wahr wie gern ‚jetzt‘ sagen. Doch dein oder vielmehr auch unser Rom spürt den Wandel der Zeiten.“108 In solchen Worten werden „einst“ und „jetzt“ deutlich voneinander abgehoben und durch einen langen Zeitraum ebenso getrennt wie durch den inzwischen eingetretenen Wandel. Das Alte kann sogar ganz verschwinden, in Vergessenheit geraten und durch Neues ersetzt werden.109 Oft ist das „Frühere“, „Alte“ oder „Einstige“ allerdings gerade nicht vergangen, sondern dauert „von alters her“ bis zur Gegenwart an: Kirchen etwa sind
101 Annales regni Francorum a. 805 (wie Anm. 40), S. 120. 102 Adam von Bremen, Gesta 1,1 (wie Anm. 33), S. 4: quoniam Hammaburg nobilissima quondam Saxonum civitas. 103 Thietmar von Merseburg, Chronicon 3,18 (wie Anm. 45), S. 120. Der Bischofssitz war 847 nach Bremen verlegt worden. 104 Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,69, ed. Bernhard SCHMEIDLER, MGH SSrG 32, Hannover 31937, S. 134: Inde progrediens visitavit Aldenburg, ubi sedes quondam episcopalis fuerat. 105 Ebd. 1,1, S. 6: Ungarica gens validissima quondam et in armis strennua, ipsi etiam Romano imperio formidolosa. 106 So Lampert von Hersfeld, Annales a. 1074 (wie Anm. 29), S. 184: et quod circumiacentis regionis opulentissimas quondam villas nunc in horrorem vastamque solitudinem redegisset. 107 Herbord, Vita Ottonis 2,17 (wie Anm. 50), S. 67: Quae omnia illi cum multo gaudio, alacritate ac devotione suscipientes et gratias agentes, omnes veteres et profanas superstitiones suas et gentiles observantias penitus abiciebant, et exuti veterem hominem cum actibus suis, in vitae novitate ambulare coeperunt et proficere. Vgl. auch Willibald, Vita Bonifatii 6 (wie Anm. 79), S. 27: expurgata paganica vetustate dank der Taufe vieler Menschen. Die Vita Eugendi abbatis 2 (wie Anm. 49), S. 154, spricht vom „alten Heidentum“ (vetusta paganitas). 108 Otto von Freising, Gesta Frederici 2,32 (wie Anm. 59), S. 346: Fuit, fuit quondam in hac re publica virtus. Quondam dico. Atque o utinam tam veraciter quam libenter nunc dicere possemus! Sensit Roma tua, immo et nostra, vicissitudines rerum. 109 Vgl. Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,12 (wie Anm. 104), S. 25: De urbibus vero aut prediis aut curtium numero, quae ad possessionem pontificis pertinebant, non est huius operis explanare, eo quod vetera in oblivionem venerint, et ecce nova sunt omnia.
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ab antiquis temporibus bestimmten Heiligen geweiht.110 Das Alte ist damit teilweise immer noch wirksam (wie alte Canones) oder sichtbar (wie alte Bauten), oder es wird erneuert: Der mos antiquorum principum, die (Rechts-)Gewohnheiten der römischen Kaiser, wurden nach den Fränkischen Reichsannalen durch die Kaiserkrönung Karls des Großen wiederbelebt,111 und in Mailand war Arnulf zufolge das alte Gewohnheitsrecht, wonach einer der „Kardinäle“ in der Erzbistumswürde nachfolgen sollte, noch wohlbekannt.112 Dieselben Begriffe beziehen sich damit sowohl auf vergangene, seit langem oder auch erst seit kurzem nicht mehr gültige als auch auf seit früheren Zeiten bis heute andauernde Zustände und kennzeichnen damit – wiederum – nicht zwangsläufig die Vergangenheit, auch wenn sie auf Vergangenes rekurrieren. In der Geschichtserzählung differenzieren solche Zeitbegriffe genau genommen sogar zwischen (mindestens) drei Zeit- (mit zwei Vergangenheits-)ebenen: der Gegenwart des Schreibers, der vergangenen Berichtszeit und der davor liegenden Vergangenheit. Nunc/modo/hodie können sich auf die beiden ersten, tunc kann sich auf die beiden letzten beziehen (wenngleich es in der Regel eher auf die Berichtszeit verweist). Jenes kann in der Wahrnehmung der Autoren demnach sowohl ein historisches als auch ein gegenwärtiges „Jetzt“, dieses sowohl ein die damalige Gegenwart kennzeichnendes als auch ein im Vergleich zu dieser Zeit bereits vergangenes „Damals“ sein. So hebt beispielsweise der nach 1060 schreibende Adam von Bremen den Rückfall der Slawen ins Heidentum nach dem Tod Ottos II. (982) als nunc von dem Einst (olim) des Alten Testaments (der Vernichtung der sieben Stämme Kanaan) ab.113
2.3.2.
Inhaltliche Determinierung: Wodurch wird Vergangenes gekennzeichnet?
Ähnlich vielfältig wie die zeitliche ist die inhaltliche Determinierung des Vergangenen, die sich vor allem in den Damals-Jetzt-Gegenüberstellungen enthüllt. Tatsächlich gibt es eine Fülle inhaltlicher Abgrenzungskriterien, nach denen (jeweils) zwischen „damals“ und „jetzt“ unterschieden wird. Zeigen solche Vergleiche in der Regel einen zeitlichen Wandel an, indem sie Zustände in einer (oft durchaus noch nahen) Vergangenheit ansprechen, die, wie erwähnt, jetzt entweder nicht mehr gelten oder aber in der Vergangenheit begonnen haben und bis
110 Vgl. Ortlieb von Zwiefalten 1,3 (wie Anm. 73), S. 18, zu Maria als Patronin seiner Klosterkirche. 111 Annales regni Francorum a. 801 (wie Anm. 40), S. 113. 112 Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium 1,1 (wie Anm. 58), S. 119: Priscam namque noverat loci consuetudinem, ut decedente metropolitano quilibet unus ex maioris ecclesie precipuis cardinalibus, quos vocant ordinarios, succedere debeat. 113 Adam von Bremen, Gesta 2,44 (wie Anm. 33), S. 105.
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zur Gegenwart andauern, so geht es inhaltlich häufig um einen Namens-114 oder Titelwechsel (wenn beispielsweise der Kaiser „damals“, nämlich „seinerzeit“, noch König war),115 ein neues Amt,116 einen Wechsel der Standes-117 oder der Herrschaftsverhältnisse – damals, zu Beginn der Regierungszeit Konrads II., so Wipo, war Burgund noch nicht (wie jetzt) Teil des Römischen Imperiums;118 einst hatte Polen nach Helmold von Bosau einen König, jetzt nur Herzöge119 –, um einen Wechsel der politisch-sozialen Beziehungen120 oder auch um eine Verschärfung der Politik121 oder einen Wandel des Charakters,122 nicht zuletzt aber auch einen Wandel des Glaubens durch Annahme des Christentums: Wilhelm von Malmesbury grenzt nostra secula von den secula gentilium ab; „unsere Zeitalter“ sind hier folglich die christlichen Zeiten.123 Dänen, Norweger und Schweden, so Adam von Bremen in einem höchst bezeichnenden Kommentar, einst (olim) Piraten und Plünderer, begnügten sich jetzt (nunc) mit ihren eigenen 114 So hieß die Elbe nach Adam von Bremen, Gesta 1,2 (wie Anm. 33), S. 5, früher Albis, jetzt Albia, hießen die Westsachsen nach Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum 3,37 (wie Anm. 58), S. 190, früher (antiquitus) Geuisse, die Britannischen Inseln einst Albion (Adam von Bremen, Gesta 2,22, Schol. 19, S. 81). Vgl. auch Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum 1,3, S. 14, zu den Städtenamen zur Zeit der Römer und Briten. 115 Zum Beispiel bei Thietmar von Merseburg, Chronicon 7,70 (wie Anm. 45), S. 484. 116 Der Magdeburger Dompropst Geddo, quondam scolae magister, sed tunc aecclesiae custos, wurde als Nachfolger Rotmanns nach Thietmar von Merseburg, Chronicon 7,35 (wie Anm. 45), S. 442: In drei Perioden hat er also drei verschiedene Ämter innegehabt: vor der Berichtszeit Schulleiter, zur Berichtszeit Kustos, seither und zur Abfassungszeit Propst. 117 Vgl. Thietmar von Merseburg, Chronicon 6,25 (wie Anm. 45), S. 304: Als die Liutizen (heidnische) Soldaten in das christliche Heer Heinrichs II. sandten, sah sich Thietmar zu folgendem Kommentar veranlaßt: Hii milites, quondam servi nostrisque iniquitatibus tunc liberi, tali comitatu ad regem auxiliandum proficiscuntur. 118 Wipo, Gesta Chuonradi 1 (wie Anm. 48), S. 12: Burgundia enim nondum Romano imperio, ita ut nunc, acclinis fuerat. Quod autem modo subiecta est, trium regum gloriae asscribitur. Vgl. Gregor von Tours, Historiae 2,27 (wie Anm. 28), S. 71: Anno autem quinto regni eius Siacrius Romanorum rex, Egidi filius, apud civitatem Sexonas, quam quondam supra memoratus Egidius tenuerat, sedem habebat. 119 Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,1 (wie Anm. 104), S. 7: quondam habuit regem, nunc autem ducibus gubernatur. 120 Vgl. Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,10 (wie Anm. 65), S. 17, zur Rede Irings: ‚Haec‘, ait, ‚misit tibi quondam tuus propinquus, modo servus.‘ Vgl. ebd. 2,2, S. 67: Sigifridus vero, Saxonum optimus et a rege secundus, gener quondam regis, tunc vero affinitate coniunctus, eo tempore procurabat Saxoniam. 121 So hatte Erzbischof Adalbert von Bremen nach Adam, Gesta 3,37 (wie Anm. 33), S. 180, das Bistum schon vorher (antea) durch Heerfahrten und Hofhaltung belastet; jetzt richtete er es durch die Einrichtung von Propsteien und Burgen ganz zugrunde. 122 So verschlechterte sich Adalberts Charakter am Ende; vgl. ebd. 3,1, S. 143: Nam cum talis fuerit ab initio, circa finem deterior videbatur. 123 Wilhelm von Malmesbury, Historia novella 2,26 (wie Anm. 89), S. 52: Responsum est a legato ex compendio non debere illum, qui se Christi fidei subiectum meminisset, indignari si a ministris Christi ad satisfactionem uocatus esset, tanti reatus conscius quantum nostra secula nusquam uidissent. Gentilium quippe seculorum opus esset episcopos incarcerare et possessionibus suis exuere.
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Grenzen, und während sie vorher nur ein barbarisches Gekrächze zustande gebracht hätten, sängen sie nun in Christi Namen das Halleluja.124 Zeitlich ist die Grenze zwischen einst und jetzt hier wiederum nicht festzumachen – es handelt sich schließlich um einen längeren Prozeß –, typologisch aber wird deutlich, daß der Übergang vom Heidentum zum Christentum, vom Barbarentum zur Zivilisation und von der Piraterie zur Staatlichkeit Adam hier gleichermaßen als Abgrenzungskriterien dienen. Durch die Christianisierung der Sachsen unter Karl dem Großen, so berichtet entsprechend Widukind von Corvey, seien die einstigen Bundesgenossen der Franken, „wie man jetzt sieht,“ zu deren einträchtigen Glaubensbrüdern und mit jenen zu einem christlichen Volk geworden.125 Ganz ähnlich, jetzt aber auf das Land (und seine Bewohner) bezogen, erscheint das Slawengebiet (Slavorum regio) von der Eider bis zur Ostsee und von der Elbe bis nach Schwerin Helmold von Bosau einst (olim) wegen der Hinterhalte schrecklich und beinahe wüst, jetzt aber (nunc) ist es dante Deo ganz in eine Kolonie der Sachsen mit Städten, Burgen und Kirchen (civitates et oppida, et [...] ecclesiae) verwandelt.126 Zahl und Art der Abgrenzungskriterien sind höchst vielfältig: Allein bei Adam von Bremen bezieht sich das (zusätzlich) auf die (ersehnte) Einrichtung von Suffraganbistümern,127 die Einführung der Kanonikerregel128 oder die Herabwirtschaftung des Erzbistums,129 bei Arnold von Lübeck auf die Anpassung der Dänen in Waffen und Kleidung an die übrigen „Nationen“.130 Ein ähnlich großes Spektrum an verschiedenen Inhalten weist die Charakterisierung als „alt“ oder „früher“ (antiquus, vetus, priscus) auf. Die Geschichtsschreiber kennen alte Rechte (und damit eine alte Ehre): einen antiquus honor (wie die Ehre der früher einmal florierenden Bremer Kirche),131 eine antiqua consuetudo132 oder antiqui canones;133 ferner alte Grenzen,134 frühere Schuld oder Ver124 Adam von Bremen, Gesta 4,44 (wie Anm. 33), S. 280. 125 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,15 (wie Anm. 65), S. 25: ob id qui olim socii et amici erant Francorum, iam fratres et quasi una gens ex Christiana fide, veluti modo videmus, facta est. 126 Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 2,110 (wie Anm. 104), S. 218. 127 Adam von Bremen, Gesta 2,1 (wie Anm. 33), S. 61. 128 Ebd. 2,48, S. 108. 129 Ebd. 2,17, S. 73: olim viris et armis potens [...], nunc vero [...] in solitudinem redacta est. 130 Arnold von Lübeck, Chronica Slavorum 3,5, ed. J. M. LAPPENBERG, MGH SSrG 21, Hannover 1869, S. 146. 131 So Adam von Bremen, Gesta 1 prol. (wie Anm. 33), S. 1: Mox igitur ut oculis atque auribus accepi ecclesiam vestram antiqui honoris privilegio nimis extenuatam multis egere constructorum manibus, cogitabam diu, quo laboris nostri monimento exhaustam viribus matrem potuerim iuvare. Vgl. ebd. 3,70, S. 225: antiqui honoris privilegia; ähnlich Otto von Freising, Chronik 4,5 (wie Anm. 23), S. 191, zur Translation des regnum Romanorum auf die Griechen: mansitque propter antiquam Urbis dignitatem solo nomine ibi. Die „Würde“ des Römischen Reichs ist zwar vergangen, wirkt aber zumindest im Namen nach. Vgl. auch Annales regni Francorum a. 805 (wie Anm. 40), S. 120, zur Gesandtschaft des Awarenkhans: petens sibi honorem antiquum, quem caganus apud Hunos habere solebat. 132 Vgl. Annales Bertiniani a. 841 (wie Anm. 40), S. 39, zum alten Recht der Sachsen (optionem cuiuscumque legis uel antiquorum Saxonum consuetudinis).
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dienste,135 Sünden oder Missetaten,136 immer wieder auch alte, zum Teil verlassene oder heruntergekommene, teils aber auch ehrwürdige Bauten (Kirchen, Burgen, Häuser),137 außerdem früheres Elend138 oder Unglück (antiqua calamitas),139 alte Streitigkeiten,140 „alte Treue“,141 „alte Liebe“142 und „alten Haß“,143 „frühere Eide“,144 „alte Bündnisse“ und „alten Frieden“,145 „alte Freundschaften“ oder „Feindschaften“ (antiqua/vetus amicitia/inimicitia)146 oder „alte“ 133 Vgl. ebd. a. 872, S. 187 (et quaedam contra antiquos canones sed et contra suam ipsam synodum constituerunt); Thangmar, Vita Bernwardi 13, ed. Georg Heinrich PERTZ, MGH SS 4, Hannover 1841, S. 764 (antiqua canonum statuta). 134 Vgl. Annales Fuldenses a. 869 (wie Anm. 47), S. 67, zu den Böhmen: et ceteris circumcirca vicinis antiquos terminos Thuringiorum transgredientes. 135 Vgl. Lampert von Hersfeld, Annales a. 1072 (wie Anm. 29), S. 137 (ob vetus meritum suum); ebd. a. 1075, S. 211 (veniam se eis dare veteris culpae); Brunos Buch vom Sachsenkrieg 117, ed. Hans-Eberhard LOHMANN, MGH Deutsches Mittelalter 2, Leipzig 1937, S. 110, zur früheren Tugend Herzog Ottos von Northeim (ut antiquae memor virtutis). 136 Vgl. Brunos Buch vom Sachsenkrieg 7 (wie Anm. 135), S. 17: antiqua flagitia sua. 137 Vgl. Thangmar, Vita Bernwardi 12 (wie Anm. 133), S. 763 zur antiqua aecclesia in Brunshausen; Adam von Bremen, Gesta 2,81 (wie Anm. 33), S. 139, zur früheren Bischofsburg in Bremen, die durch einen Brand gänzlich zerstört wurde (veterisque habitaculi nullum remansit vestigium); ebd. 3,27, S. 170: Der Herzog verließ die alte Burg in Hamburg und baute eine neue zwischen Elbe und Alster auf (Nam et dux eo tempore relicto veteri castello Hammaburg novum quoddam praesidium sibi suisque fundavit infra Albiam flumen et rivum, qui Alstra vocatur). Ehrwürdig: Vita Norberti 19 (wie Anm. 62), S. 698: Bei dem Aufstand der Magdeburger flüchtete sich Norbert auf einen unvollendet gebliebenen Kirchturm, quod ab imperatore Ottone constructum erat antiquitus loco. Nach Brunos Buch vom Sachsenkrieg 34 (wie Anm. 135), S. 36, verschonte Heinrich IV. die zu Ehren des Reichs errichteten antiquae urbes (im Gegensatz zu den neuen Burgen). 138 Calamitates preteritorum temporum: Otto von Freising, Chronik 2 prol. (oben Anm. 39). 139 So Gregor von Tours, Historiae 5,27 (wie Anm. 28), S. 233. 140 Vgl. Annales Bertiniani a. 845 (wie Anm. 40), S. 50 (veteri discordia recrudescente); Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 2,107 (wie Anm. 104), S. 210 (vetus controversia); Adam von Bremen, Gesta 2,8 (wie Anm. 33), S. 66, zu den früheren Aufständen der Sachsen (propter veteres illius gentis seditiones). 141 Vgl. Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 3,44 (wie Anm. 65), S. 123, zu Gesandten der Ungarn: tamquam ob antiquam fidem ac gratiam eum visitantes. 142 Vgl. Gregor von Tours, Liber de passione Iuliani 2, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 1,2, Hannover 1885, S. 564: propter antiquam dilectionem eorum. 143 Vgl. Vita Norberti 8 (wie Anm. 62), S. 677: coepit eos humili exhortatione a veteris odii litibus revocare; Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium 1,10 (wie Anm. 58), S. 132: Post hec et alia multa inspirante deo et interveniente consultu sapientium partis utriusque nova pax vetera dissolvit odia; Thangmar, Vita Bernwardi 43 (wie Anm. 133), S. 777 (vetus odium). 144 Annales regni Francorum a. 781 (wie Anm. 40), S. 58: ut reminisceret priscorum sacramentorum suorum (zur Ermahnung Tassilos III.). 145 Vgl. Gunther von Pairis, Ligurinus 10,75 (wie Anm. 56), S. 468: Omnia in antiquam correcta reducere pacem. 146 Vgl. Gregor von Tours, Historiae 10,14 (wie Anm. 28), S. 500; Annales regni Francorum a. 808 (wie Anm. 40), S. 126: propter antiquas inimicitias (der Wilzen mit den Abodriten); Brunos Buch vom Sachsenkrieg 36 (wie Anm. 135), S. 38 (ut antiquae memor amicitiae sibi
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(= schon früher angewandte) Charaktereigenschaften oder Maßnahmen.147 In solchen Beispielen geht es also oft um (politische oder auch persönliche) Beziehungen, die in der Vergangenheit begründet wurden und/oder eine längere Tradition hatten. Für Widukind sind die Ungarn mehrfach „die alten Feinde“ (antiqui hostes).148 Selbst Wörter können „alt“ werden und außer Gebrauch geraten,149 aber auch ihren ursprünglichen Sinn behalten.150 Auch hier sind die Begriffe vielfach relativ und relational: Eine Stadt (bzw. ein Stadtteil) wird zur „Altstadt“, wenn daneben eine neue Siedlung errichtet wird.151 Nicht selten ist auch der Geschichtsbericht selbst angesprochen: Das Volk der Sachsen sei, so Adam von Bremen, sicut tradit antiquitas, von Britannien über das Meer an die Küsten Germaniens gekommen.152 Von historiae et antiquorum res gestae, die Karl dem Großen vorgelesen wurden, spricht unmittelbar Einhard in seiner Karlsvita.153 Die antiqui, so Wipo, hätten die acta der Sieger niedergeschrieben, um ihnen die ewige Erinnerung der Nachwelt zu sichern,154 und Arnulf von Mailand las Berichte „in uralten Geschichtsbüchern, die heute in der
[...] in auxilium veniat); ebd. 87, S. 81f. (quod Suevos tam crudeliter antiquum foedus infregisse poenituit); ebd. 130, S. 123 (veteres amicos); Cosmas von Prag, Chronica Boemorum 3,9 (wie Anm. 40), S. 169 (renovant antiqua amicicie et pacis federa); ebd. 3,12, S. 172 (per antique amicitie federa); ebd. 3,42, S. 215 (quatenus cum rege novello, nomine Stephano, renovaret et corroboraret antiquam pacem et amiciciam); Adam von Bremen, Gesta 3,29 (wie Anm. 33), S. 172 (pro veteri amicitia nil abnegaturum); Lampert von Hersfeld, Annales a. 1074 (wie Anm. 29), S. 196 (veteri amiciciae); ebd. 1075, S. 230 (novis occasionibus veteres inimiciciae instaurarentur). Alte Vertraute (antiqui familiares): Brunos Buch vom Sachsenkrieg 33 (wie Anm. 135), S. 35. 147 So fürchteten die Sachsen nach Brunos Buch vom Sachsenkrieg 131 (wie Anm. 135), S. 123, die alte Hinterlist (antiqua ars) Heinrichs IV. 148 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,38 (wie Anm. 65), S. 55; 2,5, S. 71; 2,14, S. 78; vgl. Gregor von Tours, Liber in gloria confessorum 31 (wie Anm. 100), S. 767: refert antiquitas. 149 Vgl. Adam von Bremen, Gesta 1,12 (wie Anm. 33), S. 14: Huic parrochiae X pagos subiecimus, quos etiam abiectis eorum antiquis vocabulis et divisionibus in duas redegimus provintias, his nominibus appellantes, Wigmodiam et Lorgoe. Die Namen treffen ebensowenig mehr zu wie die alte Gaueinteilung. Vgl. Willibald, Vita Bonifatii 6 (wie Anm. 79), S. 31, zum prisco paganorum vocabulo. 150 Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium 3,6 (wie Anm. 58), S. 173, zu dem Umstand, daß das Schlachtfeld (Campo Morto) antiquitus campus [...] Mortuus hieß und sich deshalb der alte Begriff bewahrheitete: Implevit denique die illa veteris idioma vocabuli. 151 Vgl. Adam von Bremen, Gesta 3,27, zur Verlagerung der Herzogsburg an die untere Alster (oben Anm. 137): Ita nimirum cordibus vel mansionibus ab invicem divisis, dux novum, archiepiscopus vetus coluit oppidum. Vgl. aber auch einfach den Hinweis auf das Alter einer Stadt: Annales Fuldenses a. 871 (wie Anm. 47), S. 74: urbem antiquam Rastizi. 152 Adam von Bremen, Gesta 1,4 (wie Anm. 33), S. 7. Vgl. ebd. 1,51, S. 52: Sanctitati eius testimonium asserit veterum tradicio. Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 85), S. 264: gens Francorum, sicut a veteribus est traditum, a Troiana prosapia trahit exordium. 153 Einhard, Vita Karoli 24 (wie Anm. 70), S. 29: Legebantur ei historiae et antiquorum res gestae. 154 Wipo, Gesta Chuonradi prol. (wie Anm. 48), S. 6.
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Stadt Mailand liegen“.155 Thegan wiederum berichtet, Ludwig der Fromme sei so freigebig gewesen, „wie man es vorher weder in alten Büchern noch in modernen Zeiten gehört hat“.156 Antiquitas ist hier (und anderwärts157), gleichbedeutend mit vetustas,158 offensichtlich eine alte Überlieferung. Die erste Goarvita, die Vorlage Wandalberts von Prüm, gilt diesem entsprechend als perantiquus,159 der Bibelbericht ist für Herbord historia antiquitatis.160 Allerdings kann das Alter die Erinnerung (und Überlieferung) auch verblassen lassen: Vor lauter vetustas, so Widukind von Corvey, sei die Herkunft der Sachsen ganz unklar und nur gerüchteweise (fama) überliefert161 (wobei vetustas hier sowohl das Alter der Überlieferung als auch das lange zurückliegende Zeitalter meinen kann), und für Cosmas von Prag gerät lange Vergangenes sogar leicht in den Verdacht der „Fiktion“.162 Stets ist Vergangenes in der Gefahr, wegen der vetustas temporum vergessen oder verfälscht zu werden.163 Alter bewirkt also, wie einige der genannten Beispiele zeigen und oben bereits angedeutet ist, Verfall und Zerstörung, so daß oft nur noch Reste übrig bleiben.164 So stürzte der Soller in der Pfalz Flamersheim wegen seines zu hohen 155 Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium (wie Anm. 58), S. 234: Legitur enim in antiquissimis historiis, que hodie habentur in civitate Mediolanensi. 156 Thegan, Vita Hludowici imperatoris 19, ed. Ernst TREMP, MGH SSrG 64, Hannover 1995, S. 202: ut antea nec in antiquis libris nec modernis temporibus auditum est. 157 Vgl. Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,69 (wie Anm. 104), S. 130, zu den skandinavischen Bischöfen, quos Hammemburgensi ecclesiae quondam pertinuisse commemorat antiquitas. Ebd. 1,6, S. 16: Tradit enim veterum antiqua relacio, mit Bezug auf die Zeit Ludwigs des Deutschen. 158 Vgl. Thietmar von Merseburg, Chronicon 8,30 (wie Anm. 45), S. 528: Post tempora Caroli in una die vel anno aliquid in hiis regionibus tale non accidit, sicut vetustas asserit. 159 Wandalbert von Prüm, Vita s. Goaris, ed. Hans-Erich STIENE (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters 11), Frankfurt a. M. 1981, S. 37: Haec habui de uita sancti uiri Goaris, quae scripturae mandarem, accepta ex uetustis et perantiquis exemplaribus. 160 Herbord, Vita Ottonis 3,16 (wie Anm. 50), S. 130: iuxta historia antiquitatis, qua dicitur: Populus Samariae deos gentium colens, nichilominus Domino serviebat. 161 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,2 (wie Anm. 65), S. 4: Et primum quidem de origine statuque gentis pauca expediam, solam pene famam sequens in hac parte, nimia vetustate fere certitudinem obscurante. 162 Cosmas von Prag, Chronicon 1,13 (wie Anm. 40), S. 32: Et quoniam hec antiquis referuntur evenisse temporibus, utrum sint facta an ficta, lectoris iudicio relinquimus. 163 So Casus monasterii Petrihusensis 1,2 (wie Anm. 72), S. 40: et alia multa, qu! vetustate temporum memoria deleta sunt. 164 Vgl. Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,2 (wie Anm. 104), S. 8, zu der von den Dänen vollständig zerstörten Stadt Vinneta: Presto sunt adhuc antiquae illius civitatis monimenta. Vgl. ebd. 1,12, S. 24, zur Besiedlung und Christianisierung der „Provinzen“ Schleswig und Wagrien, die Reste der früheren (heidnischen) Besiedlung nur in den entlegenen Wäldern übrig ließ: Adhuc restant antiquae illius habitacionis pleraque indicia, precipue in silva, quae ab urbe Lutilinburg per longissimos tractus Sleswich usque protrahitur, cuius vasta solitudo et vix penetrabilis inter maxima silvarum robora sulcos pretendit, quibus iugera quondam fuerant dispertita. Vgl. ähnlich Casus monasterii Petrihusensis 1,3 (wie Anm. 72), S. 40, zu Bregenz: loco qui adhuc ruinas ostendit antiqu! habitationis.
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Alters (pro nimia vetustate) ein, und unter den Trümmern wurde der König (Ludwig der Deutsche) schwer verletzt.165 Das antiquitus geweihte und damit geschützte Paris erlag nach Gregor von Tours „neulich“ doch einer Feuersbrunst.166 Während man den Leichnam des heiligen Gereon in seinem Sarkophag unversehrt vorfand – ein Zeichen der Heiligkeit –, war das Leichentuch antiquitate debilitato.167 Ein ähnliches Schicksal erlitten die Kirchengemälde im Kloster Petershausen, denen die antiquitas derart ihren Glanz genommen hatte, daß Abt Konrad sie vollständig entfernen ließ.168 Auch das (Kopf-?)Reliquiar des heiligen Gregor, das einst (olim) verschlossen war, lag jetzt (nunc) pre antiquitate völlig offen.169 Alter wurde hier gleichsam im Verfall sichtbar gemacht,170 Altes durch Neues ersetzt. In Hamburg bauten Erzbischof Unwan und Herzog Bernhard eine neue Burg aus den Ruinen der alten (folglich zerfallenen) Stadt,171 die hier (wie so oft) also zu ganz anderen Zwecken wiederbenutzt wurden.172 Entsprechend konnten Zustände (auch Schriften) „veralten“: Der Chronist von Novalesa erkannte einen früheren Schreiber an manu antiquaria.173 Überall aber wird der frühere Zustand entweder als nicht mehr existent oder aber als zumindest verändert wahrgenommen, ob er sich nun zum Guten oder zum Schlechten hin gewandelt hatte. Das kann bis zum Verlust der innewohnenden Kräfte gehen: Auf Island, das seinen Namen vom Eis trage („Eisland“), so will Adam von
165 Regino von Prüm, Chronicon a. 870 (wie Anm. 40), S. 100f.; Annales Bertiniani a. 870 (wie Anm. 40), S. 171 (de quodam solario uetustate confecto). Vgl. Cosmas von Prag, Chronicon 3,45 (wie Anm. 40), S. 219, zum Jahr 1119: Ein starker Nordwind (oder vielmehr Satan selbst) zerstörte das alte, äußerst feste Mauerwerk der Herzogspfalz Wissegrad (heute ein Teil Prags). 166 Gregor von Tours, Historiae 8,33 (wie Anm. 28), S. 402f. Ebd. 1,32, S. 25: Die Alemannen zerstörten in Gallien cunctasque aedes, quae antiquitus fabraecatae fuerant. Ähnlich Paulus Diaconus, Historia Langobardorum 5,11, ed. Ludwig BETHMANN u. Georg WAITZ, MGH SSrL, Hannover 1878, S. 149: Alles in Rom antiquitus aus Erz Errichtete hat Kaiser Konstantin (Constans III.) dermaßen wegtragen und nach Konstantinopel schaffen lassen, daß er selbst von der Marienkirche (dem alten Pantheon) die Ziegel wegschaffen ließ (omnia quae fuerant antiquitus instituta ex aere in ornamentum civitatis deposuit); danach Regino von Prüm, Chronicon a. 576 (wie Anm. 40), S. 30. 167 Vita Norberti 12 (wie Anm. 62), S. 682. 168 Casus monasterii Petrihusensis 1,22 (wie Anm. 72), S. 56ff. 169 Ebd. 1,26, S. 60. 170 Vgl. zu diesem Aspekt die Arbeiten von Markus Späth (unten Anm. 249). 171 So Adam von Bremen, Gesta 2,70 (wie Anm. 33), S. 132. 172 Vgl. Gregor von Tours, Historiae 5,7 (wie Anm. 28), S. 204, zu einer Zelle, die der Tourser Kleriker Senoch inter parietes antiquos errichtet hatte. 173 Chronicon Novaliciense 3,20, ed. Gian Carlo ALESSIO, Turin 1982, S. 168: Hic famulus fuit predicte ecclesie, tam in scientia litterarum valde imbutus, quamque in recta conscriptione scriptor velocissimus. Siquidem ipse multos et varios ac permaximos libros in eadem ecclesiam suis conscripsit temporibus. Ergo ubicumque sua manu antiquaria libros a se conscriptos inter alios invenimus, extimplo recognoscimus.
Vergangenheit und Gegenwart
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Bremen wissen, sei dieses Eis propter antiquitatem gar so schwarz und trocken, daß es brenne, wenn es angezündet werde.174
2.3.3.
Wertende Determinierung: Wie wird Vergangenheit beurteilt?
Daß die Vergangenheit nicht nur weitaus vorherrschender, sondern konstitutiver Bestandteil mittelalterlicher Chroniken175 und gerade der Rückblick auf die frühen Anfänge zentral ist, daß die Vergangenheit darüber hinaus oft als Ideal und Maßstab für die Gegenwart betrachtet wird (und diese Perspektive eine wesentliche Funktion der Geschichtsschreibung bildet), ist schon mehrfach betont worden.176 Den Streitschriftenautoren bieten historische exempla geradezu rechtskräftige Vorbilder,177 für Otto von Freising bilden die antiqui patres entsprechend ein Leitbild.178 Mit dem Verweis auf ein hohes Alter (dem Rückbezug auf eine fernere Vergangenheit) verbindet sich folglich durchaus eine Wertung. So berief sich bei dem Streit der drei rheinischen Erzbischöfe um die Königsweihe Ottos des Großen nach Widukind von Corvey der Trierer Erzbischof bekanntlich darauf, daß sein Bistum das älteste, gleichsam von Petrus selbst gegründete sei, während der Kölner den in seiner Diözese liegenden Krönungsort Aachen geltend machte. Den Sieg trug hier allerdings Hildibert von Mainz wegen persönlicher auctoritas davon.179 Entsprechend wird gegebenenfalls gern das Alter eines Volkes180 oder eines Geschlechts betont: Daß Isidor von Sevilla die Goten als antiquissimum regnum 174 Adam von Bremen, Gesta 4,36 (wie Anm. 33), S. 272. 175 Vgl., trotz aller Problematik der konkreten Abgrenzung, den Versuch von Norbert KERSKEN, Geschichtsschreibung im Europa der „nationes“. Nationalgeschichtliche Gesamtdarstellungen im Mittelalter (Münstersche Historische Forschungen 8), KölnWeimar-Wien 1995, S. 764ff. sowie die Tabellen S. 865f., den Anteil an Vor-, Vergangenheits- und Zeitgeschichte jeweils prozentual anzugeben. 176 Vgl. exemplarisch GOETZ, Geschichtsschreibung (wie Anm. 3), S. 216-227. 177 Vgl. Hans-Werner GOETZ, Geschichte als Argument. Historische Beweisführung und Geschichtsbewußtsein in den Streitschriften des Investiturstreits, in: HZ 245, 1987, S. 3169. 178 Otto von Freising, Gesta Frederici 1,61 (wie Anm. 59), S. 258 (iuxta antiquorum patrum instituta vel exempla). Vgl. Rahewin, Gesta Frederici 4,86 (wie Anm. 63), S. 710; Brunos Buch vom Sachsenkrieg 112 (wie Anm. 135), S. 104: Ergo praeter illam, quae ab antiquis patribus et a vestra sanctitate in huiusmodi praevaricatores promulgata est, sententiam archiepiscopus Mogontinus maiorum exempla secutus. 179 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 2,1 (wie Anm. 65), S. 65f.: quia antiquior sedes esset et tamquam a beato Petro apostolo fundata. Zur Berufung vieler gallischer Bistümer auf Petrus vgl. Walter LEVISON, Die Anfänge rheinischer Bistümer in der Legende, in: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. DEMS., Düsseldorf 1948, S. 9-27. 180 Das zeigen schon die vielfach, jedoch durchweg einzeln behandelten Herkunftssagen, die sich im übrigen nicht allein auf das eigene Volk bezogen. Schon Fredegar, Chronicon, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 2, Hannover 1888, auf den die Sage von einer trojanischen Herkunft der Franken zurückgeht, verweist an anderen Stellen auf die Herkunft der Rö-
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bzw. (in der zweiten Fassung) als antiquissima gens bezeichnet,181 soll sie zweifellos ebenso aufwerten wie Widukinds ausdrückliche Charakterisierung der Sachsen als gens antiqua et nobilis:182 „Alt“ ist „edel“, Alter „adelt“ gleichsam;183 Otto von Freising bezeugt geradezu eine antiqua nobilitas.184 Daß Erzbischof Adalbert von Bremen Altes verachtete und Neuerungen bevorzugte, wird vom Bremer Geschichtsschreiber Adam durchaus kritisiert.185 Altes erheischt daher eine gewisse Ehrfurcht, auch in bezug auf historische Überlieferungen.186 Bezeichnend ist hier etwa der Hinweis des Caesarius von Prüm (im Jahre 1222), er habe bei der Abschrift des Prümer Urbars (von 893) die Latinität seiner Vorlage ob antiquitatis reverentiam beibehalten und lediglich die überlebten, barbarischen Ortsnamen – damit meint Caesarius die Romanisierungen – dem zeitgemäßen Gebrauch angepaßt.187 Man könne es kaum vermeiden, durch neue Schriften diejenigen zu beleidigen, die selbst die alten, von gelehrten Männern verfaßten
mer aus Troja (2,8), die Ansiedlung der Burgunder (2,46) und der Goten (2,56f.) sowie auf die Herkunft der Langobarden aus Skandinavien (3,65). Zu Beginn des 12. Jahrhunderts fügen Frutolf und Sigebert ihrem Bericht jeweils die Herkunftssagen der einzelnen Völker ein. Vgl. GOETZ, Geschichtsschreibung (wie Anm. 3), S. 186ff. 181 Isidor von Sevilla, Historia Gothorum 1, ed. Theodor MOMMSEN, MGH AA 11, Berlin 1894, S. 268; ed. Cristóbal RODRIGUEZ ALONSO, Las historias de los Godos, Vandalos y Suevos de Isidoro de Sevilla. Estudio, edición critica y traduccion (Fuentes y estudios de historia Leonesa 13), Leon 1975, S. 172. Dabei bezieht sich Isidor nicht nur auf eine frühe skandinavische Herkunft (wie bei Jordanes), sondern leitet die Goten von Iafeths Sohn Magog ab. Vgl. Jordanes, Romana 147 (wie Anm. 59), S. 18, zu den Etruskern: antiquissimus Italiae populus. 182 Widukind, Res gestae Saxonicae 1,2 (wie Anm. 65), S. 4. 183 Entsprechend entstammt der Lothringer Giselbert einem edlen Geschlecht und einer alten Familie: nobili genere ac familia antiqua natus (ebd. 1,30, S. 43). Für Adam von Bremen, Gesta 1,52 (wie Anm. 33), S. 52, sind die Karolinger vetus Karoli [...] prosapia. Vgl. Wipo, Gesta Chuonradi 2 (oben Anm. 48), S. 15f., zur Abstammung Adelheids, der Mutter Konrads des Älteren, von den Merowingern und damit von den trojanischen Königen. 184 Otto von Freising, Gesta Frederici 2,14 (wie Anm. 59), S. 310, mit Bezug auf die Menschen in Italien, die ihren alten Adel vergäßen und barbarisch Gesetze mißachteten. Vgl. ebd. 1,35, S. 198, zu den „durch alten Adel berühmten“ antiken Städten Korinth, Theben und Athen (antiqua nobilitate celebres). Herbord, Vita Ottonis 2,25 (wie Anm. 50), S. 81, spricht von Stettin in Pommern als civitatem antiquissimam et nobilissimam und als Pomeranorum matremque civitatem. 185 Adam von Bremen, Gesta 3,9 (wie Anm. 33), S. 150: Et primo quidem floccipendens auream decessorum mediocritatem vetera contempsit, nova molitus omnia perficere. 186 Der Verfasser der Historia Welforum 1 (wie Anm. 60), S. 2, sucht Nachrichten zu seinem Thema in diversis chronicis et historiis sive antiquis privilegiis. 187 Das Prümer Urbar, ed. Ingo SCHWAB (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde 20. Rheinische Urbare 5), Düsseldorf 1983, S. 158: nomina seu vocabula, que in eo repperi, ut communi magis paterent intellectui in usitatiorem quasi glosando latinitatem transfudi mirabili tamen et quodam inaudito quo idem conscriptus est gramatice stilo ob antiquitatis reverentiam permanente illeso. Verumtamen vocabula villarum, que ex longevitate quasi barbara videbantur, nominibus, que eis modernitas indidit, commutavi [...].
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Denkmäler verschmähten, so schrieb auch Einhard188 und betonte damit sowohl den Wert alter Überlieferungen als auch die Notwendigkeit der Neufassung. Die alte Überlieferung galt jedenfalls als ehrwürdig und besaß eine entsprechende Autorität.189 Dank der Chronik Bertholds von Zwiefalten sollten die Mönche das „Alte und Verwurzelte, vor vielen Jahrhunderten Gesagte und Geschehene, durchschauen, als sei es vor ihnen aufgestellt“.190 Die Vergangenheit ist Modell, Muster und Vorbild, in einem Maße, daß sich auch die Menschen der Gegenwart bemühen mußten, der Nachwelt nicht schimpflich zu erscheinen. So wollte die Partei Karls des Kahlen Nithard zufolge trotz ihrer hoffnungslosen Unterlegenheit lieber kämpfen als den Nachkommen ein schimpfliches Andenken zu hinterlassen.191 Solche Vergangenheitsverehrung führt leicht zur Gegenwartskritik: Einige hätten, so schreibt Guibert von Nogent, die manchmal, doch durchaus nicht immer schlechte Angewohnheit, die vergangenen Jahrhunderte zu preisen, aber die Taten der Heutigen zu tadeln.192 Besonders deutlich wird die Zeitkritik bei Nithard, der die Brüderkriege der Söhne Ludwigs des Frommen der Idealzeit Karls des Großen gegenüberstellt: Damals (tunc) herrschten Überfluß und Freude, jetzt hingegen (nunc) Mangel und Trauer. Selbst die Elemente, die damals Nutzen brachten, seien jetzt schädlich.193 Widukind von Corvey berichtet – geradezu in doppelter Rückschau – zur Frühzeit der Sachsen, wie ein vertrauter Sklave Thiadrichs, den dieser zu Rate zog, an das Verhalten der maiores nostri erinnert habe, an das die Gegenwart (nostri) nicht heranreiche.194 188 Einhard, Vita Karoli prol. (wie Anm. 70), S. 1: si tamen hoc ullo modo vitari potest, ut nova scriptione non offendantur qui vetera et a viris doctissimis atque disertissimis confecta monumenta fastidiunt. 189 Vgl. Vita Landiberti episcopi Traiectensis prol., ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 6, Hannover 1913, S. 408, zur früheren Lebensbeschreibung: quibus etiam apud nos maximam auctoritatem non levis, sed venerabilis sancit antiquitas. 190 Berthold von Zwiefalten, Chronicon praef., ed. Luitpold WALLACH, Erich KÖNIG u. Karl Otto MÜLLER (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 2), Sigmaringen 21978, S. 136: antiqua et inveterata, quae ante multa saecula ab eis dicta gestaque sunt, velut coram posita inspiciunt. Vgl. Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum prol. (wie Anm. 58), S. 4: Historia igitur preterita quasi presentia uisui representat, futura ex preteritis imaginando diiudicat. 191 Nithard, Historiae 2,10 (wie Anm. 40), S. 25. 192 Guibert von Nogent, Gesta Dei per Francos 1,1, ed. Ch. THUROT, Recueil des croisades, Hist. occ. 4, Paris 1879, S. 123: Quorumdam mortalium vitiose aliquotiens, sed non semper, moribus constat inolitum, ut modernorum facta vituperent, praeterita saecla sustollant. In diesem Urteil wird sowohl die Perspektive Guiberts als auch der zitierten Autoren erkennbar. Wenn Guibert hinzufügt, daß die Taten einer sich im Verfall befindlichen alten Welt nicht immer erinnerungswürdig seien, läßt auch er die Hochschätzung des Vergangenen deutlich erkennen (Praedicantur merito pro hominum novitate priscis acta temporibus: sed multo justius efferri digna sunt, quae mundo prolabente in senium peraguntur utiliter a rudibus). 193 Nithard, Historiae 4,7 (wie Anm. 40), S. 49f. 194 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,9 (wie Anm. 65), S. 14: Erat autem Thiadrico servus satis ingeniosus, cuius consilium expertus est saepius probum, eique propterea quadam familiaritate coniunctus. Hic rogatus sententiam dare: ‚In rebus‘, inquit, ‚honestis pulcherrimam semper
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Daß etwas bereits „seit alters“ (antiquitus) währt, gilt folglich sowohl als gut195 (und gegebenenfalls als erneuerungswert) als auch, nicht zuletzt im Rechtsbereich,196 in gewissem Sinn als verbindlich. Die „alten Canones“ oder Gesetze sind demnach vorbildhaft und werden immer wieder erneuert;197 gegen sie zu verstoßen, ist Unrecht und Entehrung.198 Man könne nicht einfach, so läßt Arnold von Lübeck argumentieren, eine Bestimmung (über den an Laien verschenkten Kirchenzehnt) ändern, die ex longa antiquitate usus zur Gewohnheit geworden sei, vielmehr sei eine von Geschlecht zu Geschlecht weitertradierte Gewohnheit als eine „gerechte Tradition“ bestätigt,199 und ganz ähnlich äußert sich Otto von Freising: Eine alte Gewohnheit gilt gleichsam als Gesetz.200 Der esse arbitror perseverantiam, quam ita coluerunt maiores nostri, ut a ceptis negotiis raro vel numquam deficerent. Nec tamen labores nostros eorum aequandos putaverim, qui parvis copiis ingentes gentium copias superaverunt.‘ Der im folgenden vorbildhaft gelobte Hathagat (ebd. 1,11, S. 18f.) ist wohl als Verkörperung dieser Tugenden der Vorfahren gedacht. 195 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 3,65 (wie Anm. 65), S. 140, betont, daß die Dänen zwar „seit langem“ (antiquitus) Christen waren, aber dennoch immer noch den heidnischen Göttern dienten. 196 Vgl. (stellvertretend) Gerhard DILCHER, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem, in: Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter, hg. v. DEMS. u.a. (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 6), Berlin 1992, S. 21-65; DERS., Gesetzgebung als Rechtserneuerung. Eine Studie zum Selbstverständnis der mittelalterlichen Leges, in: Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. FS Adalbert Erler, Aalen 1976, S. 13-35. 197 Vgl. oben S. 175f. Vgl. Otto von St. Blasien, Chronicon 14, ed. Adolf HOFMEISTER, MGH SSrG 47, Hannover 1912, S. 15f., zum Reichstag von Roncaglia, wo Friedrich Barbarossa alte Gesetze erneuerte, allerdings auch neue hinzufügte (renovatis antiquis legibus novas de suo promulgavit) und die alten Steuern wiederherstellte (Preterea vectigalia antiquitus constituta necnon exactiones pro imperii necessitate exigendas in rationem cesaris, ubi, quando et a quibus et quomodo tractentur, decretum est et edicto confirmatum). 198 Vgl. Annales qui dicuntur Einhardi a. 792, ed. Friedrich KURZE (wie Anm. 40, zu den Annales regni Francorum), S. 91, zum Adoptianismus des Bischofs Felix von Urgel: valde incaute atque inconsiderate et contra antiquam catholicae ecclesiae doctrinam adoptivum non solum pronuntiavit [...]; Annales Bertiniani a. 872 (wie Anm. 40), S. 132, zum 8. allgemeinen Konzil von Konstantinopel gegen die Bilderverehrung: et quaedam contra antiquos canones sed et contra suam ipsam synodum constituerunt. Vgl. Thangmar, Vita Bernwardi 13 (oben Anm. 133): Quod ipse libens annuit, haut considerans, quantum antiqua canonum statuta temeravit. Deshalb wollte Konrad II. keinem Nachkommen die antiqua beneficia parentum wegnehmen (Wipo, Gesta Chuonradi 6, wie Anm. 48, S. 28). Vgl. Gregor von Tours, Liber de miraculis b. Andreae apost. 18, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 1,2, Hannover 1885, S. 835, zu einem ungerechten Mann in Thessaloniki, der omnia priscae legis decreta convelli wollte. 199 Arnold von Lübeck, Chronica Slavorum 3,19 (wie Anm. 130), S. 161: Et quamvis hec pro prelatis esse videantur, non tamen credo, quod ista facile mutari possint, que ex longa antiquitate usus in consuetudinem vertit, immo ipsa consuetudo a progenie in progenies descendens quasi iusta traditione roboravit. 200 Otto von Freising, Gesta Frederici 2,48 (wie Anm. 59), S. 378: Denique vetus consuetudo pro lege aput Francos et Suevos inolevit, ut, si quis nobilis, ministerialis vel colonus coram suo iudice pro huiusmodi excessibus reus inventus fuerit, antequam mortis sententia puniatur, ad confusionis suae ignominiam nobilis canem, ministerialis sellam de comitatu in proximum comitatum gestare cogatur.
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mos antiquus, so meint Otto an anderer Stelle nicht ohne aktuellen und funktionalen Hintersinn (Barbarossas Anrecht auf die Kaiserkrone), nach dem das Römische Reich auf die Franken und dann auf „uns“ (die „Deutschen“) übergegangen ist, besagt, daß vor einem Italienzug des Kaisers von den dortigen Städten die Steuern eingetrieben würden, und ebenso sollten ex antiqua consuetudine alle Würden und Ämter ruhen; vielmehr sollte alles nach Recht und Gesetz vom Kaiser selbst verhandelt werden.201 Der Klosterchronist von Novalesa beruft sich auf das hohe Alter (antiquitas) eines Dekrets, das Frauen aus dem Konvent ausschloß und das einst (olim) dort aufgefunden wurde, seit der Gründung bis zur Zerstörung des Klosters durch die Sarazenen galt und sogar noch neulich (nuper) beachtet wurde, das heute (hodie) aber nur noch wenige befolgten (wie, so ist zu ergänzen, es richtig wäre).202 In diesen Zusammenhang der Rechtskontinuität wird man auch die Erneuerung eines gebrochenen Bündnisses stellen dürfen.203 Uraltes kann sich über Jahrtausende erhalten und schon dadurch Ehrfurcht erwecken, wie die (römische) Moselbrücke in Trier, deren Bau der Verfasser der ‚Gesta Treverorum‘ bereits den Nachfahren des angeblichen Stadtgründers, des Ninussohnes Trebetas, zuschreibt.204 Altes mußte allerdings auch deshalb ständig erneuert werden, weil „Alter“ (als historischer Zustand), bei aller Wertschätzung in der Praxis, wie schon erwähnt, zwangsläufig zum Verfall führte. Das galt für Gesetze ebenso wie für Bauten, Gegenstände oder Bilder. Nach Einhard befahl Karl der Große den Bischöfen, alle Kirchen im ganzen Reich, die vetustate conlapsae waren, zu erneuern.205 Später ließ Friedrich Barbarossa Rahewin zufolge die einst (quondam) von Karl dem Großen wunderschön errichteten Pfalzen Nimwegen und Ingelheim, die jetzt iam tam neglectu quam vetustate verfallen waren, decentissme wiederaufbauen.206 Es gibt viele solcher Beispiele,207 die zugleich die Erneuerungsbedürftig201 Otto von Freising, Gesta Frederici 2,16 (wie Anm. 59), S. 312. Zur antiqua consuetudo auch Brunos Buch vom Sachsenkrieg 92 (wie Anm. 135), S. 86. Kaiser Otto IV. legte in die von Heinrich VI. quondam den Veronesern übergebene Burg Garda more antiquorum eine Reichsbesatzung (Otto von St. Blasien, Chronicon 52 [wie Anm. 197], S. 86f., zum Jahr 1209). 202 Chronicon Novaliciense 2,2 (wie Anm. 173), S. 58ff. 203 Vgl. Brunos Buch vom Sachsenkrieg 87 (wie Anm. 135), S. 82: antiquum foedus infregisse; ad eos legatos de renovando foedere mittere conplacuit; Cosmas von Prag, Chronicon 3,9 (wie Anm. 40), S. 169: renovant antiqua amicicie et pacis federa; ähnlich ebd. 3,42, S. 215. 204 Gesta Treverorum 1 u. 3, ed. Georg WAITZ, MGH SS 8, Hannover 1848, S. 130 u. S. 132. 205 Einhard, Vita Karoli 17 (wie Anm. 70), S. 20. Nach den Marbacher Annalen a. 759, ed. Hermann BLOCH, MGH SSrG 9, Hannover 1907, S. 9, war Aachen longa vetustate deserta ac demolita, bevor Karl es neu errichtete. 206 Rahewin, Gesta Frederici 4,86 (wie Anm. 63), S. 712. 207 Ähnlich etwa Wipo, Gesta Chuonradi 7 (wie Anm. 48), S. 29f. zu der quondam vom König Theoderich gegründeten und später von Otto III. ausgeschmückten Pfalz Pavia; Cosmas von Prag, Chronicon 3,11 (wie Anm. 40), S. 171, zu einer Äbtissin Windelmut, die die Peterskriche ex vetustate a fundamento dirutam usque ad perfectionem deducens reedificavit; Annalista Saxo a. 996, ed. Klaus NASS, MGH SS 37, Hannover 2006, S. 264: Hic civitatem Halberstat,
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keit wie die Wertschätzung des Alten belegen. Oft war ein völliger Neubau allerdings unvermeidlich.208 Erreichte man dabei die alte Schönheit, so wirkte das freilich beinahe wie ein Wunder.209 Da die Vergangenheit nicht minder aber abschreckende Beispiele bereit hält, wird man dennoch nicht prinzipiell von einer Wertschätzung der Vergangenheit, sondern eher bestimmter Epochen, Personen, Vorfälle sprechen müssen. Für Thietmar von Merseburg etwa ist die Zeit Ottos I. (in der sein Bistum gegründet wurde) aureum seculum, der idealen Zeit Karls des Großen vergleichbar.210 Als Kaiser Otto III. hingegen die großenteils „zerstörte“, alte Gewohnheit der Römer wiederbeleben wollte (wie zum Beispiel die Einnahme der Mahlzeiten allein an einem erhöhten Tisch), stieß er damit keineswegs auf allgemeine Zustimmung.211 Hinkmar von Reims diffamiert seinen Gegner Rothad von Soissons, indem er ihm vorwirft, als „neuer Pharao“ die „alten Jahrhunderte“ zu verkörpern.212 Fast könnte man meinen, daß das längst Vergangene hier an sich zur Negativfolie wird, doch tatsächlich richtet sich die Abwertung wiederum nur auf eine bestimmte Epoche: die heidnischen Pharaonen des Alten Testaments. Diese aber werden durchaus negativ gesehen. Daß antiquus nicht per se nur Gutes bezeichnet, beweist im übrigen allein schon die häufige Wendung antiquus hostis für den Teufel213 (und wenn Widukind die Ungarn immer wieder antiqui hostes
quam invenit ex antiquitate collapsam, renovare cepit; ebd. a. 1124, S. 583: castrum quoddam Uuifelesburch tempore Hunorum constructum, sed vetustate temporis postea neglectum, anno non integro, antequam moreretur, reedificavit. 208 Vgl. Herbord, Vita Ottonis 1,22 (wie Anm. 50), S. 22, zur Klosterkirche Michelsberg bei Bamberg: Nam illa structura vetus cum in ciborii emisperio rimam haberet intrinsecus, ne forte collapsa monachos percuteret, quasi de occasione gavisus, destructo veteri sancto Michaheli maioris fabricae monasterium novum construxit, ipsamque rem fratrum talentis plus quam 90 redituum per singulos annos cumulavit. Vgl. Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,12 (oben Anm. 104), zur Errichtung neuer Städte anstelle der alten. 209 Vgl. Annales Fuldenses a. 823 (wie Anm. 47), S. 23, zur Erneuerung des Muttergottesbildes in der Johanneskirche in Gravedona am Comer See: et ob nimiam vetustatem obscurata et pene abolita tanta claritate per duorum dierum spatia effulsit, ut omnem splendorem novae picturae suae vetustatis pulchritudine cernentibus penitus vincere videretur. Vgl. Thangmar, Vita Bernwardi 8 (wie Anm. 133), S. 761, zur Ausmalung des Hildesheimer Doms: Unde exquisita ac lucida pictura tam parietes quam laquearia exornabat, ut ex veteri novam putares. 210 Thietmar von Merseburg, Chronicon 2,13 (wie Anm. 45), S. 52; ebd. 2,45, S. 92. 211 Ebd. 4,47, S. 184: Imperator antiquam Romanorum consuetudinem iam ex parte [magna] deletam suis cupiens renovare temporibus multa faciebat, quae diversi diverse sentiebant. 212 Annales Bertiniani a. 862 (wie Anm. 40), S. 92: Sed isdem post eiusdem concilii iudicium, unde appellauerat, expetens, constitutis duodecim ab eadem synodo iudicii exequendi iudicibus, nouus Pharao propter sui cordis duritiam, et uetera secula repraesentans, homo mutatus in beluam, propter designatos excessus, qui gestorum serie continentur, quoniam corrigi noluit, in suburbio Suessorum ciuitatis deponitur. 213 So sehr häufig beispielsweise in der Vita Norberti 3 (wie Anm. 62), S. 673; 9, S. 679, 15, S. 690, u.ö. Vgl. Herbord, Vita Ottonis 3,10 (wie Anm. 50), S. 121; Annales Fuldenses a. 858 (wie Anm. 47), S. 52.
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nennt,214 dann ist das zweifellos als eine entsprechende Anspielung zu verstehen, welche die heidnischen Ungarn als „Teufelssöhne“ kennzeichnen soll.) Daß Altes an Wert verliert, gilt nicht minder für den „profanen“ Alltagsbereich: Um während seines Italienzugs vor den Slawen Ruhe zu haben, so berichtet Helmold von Bosau, befahl ihnen der Kaiser, alle Seeräuberschiffe (piraticas naves) nach Lübeck zu bringen. In ihrer gewohnten, dreisten Unverfrorenheit lieferten sie jedoch nur wenige und zudem uralte (vetustissimas), kaum mehr gefechtsfähige Schiffe ab.215 Das „Alter“ macht (hier: die Schiffe) praktisch unbrauchbar. Altes kann demnach je nach Kontext positiv oder negativ bewertet werden. In beiden Fällen aber schafft, bei aller Abgrenzung und unabhängig von der jeweiligen Bewertung, die Erwähnung des Vergangenen zugleich einen Bezug zur Gegenwart. Tatsächlich ist darin sogar der eigentliche Anknüpfungspunkt des Vergangenheitsverständnisses zu sehen.
2.4. Vergangenheit und Gegenwart – Verknüpfende Bezüge 2.4.1.
Vergleiche
Bewirkt der eingetretene Wandel nämlich eine Abgrenzung von Vergangenheit und Gegenwart, so werden beide durch die Gegenüberstellung nicht minder aufeinander bezogen. Das erfolgt formal bereits durch den tunc–nunc-Vergleich, ist zugleich aber inhaltlich determiniert, wenn sich beispielsweise ein ähnlich strafendes Gottesgericht schon in der Frühzeit der Menschheit zeigt und damit das Jüngste Gericht präfiguriert216 oder wenn, wie erwähnt, für Hinkmar von Reims der Bischof Rothad von Soissons als novus Pharao die vetera secula „repräsentiert“.217 Die Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart werden gern in solchen direkten Vergleichen hergestellt (ein Mittel, mit dem schon Orosius die relative Milde der christlichen Zeiten hatte beweisen wollen):218 vor allem der jetzigen Könige mit früheren, aber auch bestimmter Ereignisse oder Zustände. So vergleicht Wipo die strenge Rache Konrads II. an den aufständischen und heidnischen Liutizen mit dem Vorgehen der römischen Kaiser Titus und Vespasian, die als Bestrafung der Juden für den Verrat Christi 30 Juden für dieselbe Summe, nämlich eine (kleine) Münze („einen Groschen“), verkauft hatten;219 der Magdeburger Annalist stellt Otto den Großen (als Bistumsgründer) in 214 Vgl. oben Anm. 148. 215 Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,87 (wie Anm. 104), S. 170. 216 So Otto von Freising, Chronik 1,3 (wie Anm. 23), S. 39, zur Vernichtung Sodoms und Gomorras. 217 Annales Bertiniani a. 862 (oben Anm. 40). 218 Vgl. GOETZ, Die Geschichtstheologie des Orosius (Impulse der Forschung 32), Darmstadt 1980, S. 29ff. 219 Wipo, Gesta Chuonradi 33 (wie Anm. 48), S. 53: Idcirco in eisdem versibus caesar ultor fidei vocatur et Romanis principibus Tito et Vespasiano comparatur, qui in ultionem Domini triginta Iudaeos pro uno nummo commutaverant, cum Iudaei Christum pro totidem denariis vendiderint.
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eine Reihe mit Caesar (dem ersten Gründer Magdeburgs) und Karl dem Großen (dessen Wiederbegründer).220 Adam von Bremen vergleicht den Abfall der Slawen vom heidnischen Glauben mit der Zerschlagung der sieben Stämme Kanaan, weil Gott beide Male die Treulosigkeit seines Volkes bestraft.221 In diesen Rahmen fallen auch die nicht seltenen typologischen Vergleiche früherer und jetziger Personen oder Ereignisse, die positiv oder negativ bewertet werden. So nennt Gregor von Tours den gehaßten Merowingerkönig Chilperich den „Nero und Herodes unserer Zeit“ (Nero nostri temporis et Herodis),222 während er Chlodwig anläßlich seiner Taufe als „neuen Konstantin“ feiert.223 Den Krieg zwischem dem Merowingerkönig Chlothar und seinem Sohn Chramn vergleicht Gregor mit der Auseinandersetzung Davids gegen seinen Sohn Absalom: „Wie ein neuer David“ ging Chlothar in den Kampf.224 Die Geschicke seiner Kirche und ihrer Bischöfe unter Bischof Werner zu erzählen, meinte der Merseburger Chronist, hieße eher den Fall Thebens wiederholen als die Ereignisse der Gegenwart zu schildern!225 Die mittelalterliche Typologie ist schon vielfach behandelt worden.226 In unserem Zusammenhang weist sie auf ein bestimmtes Verhältnis, nämlich einen engen Zusammenhang, zwischen Vergangenheit und Gegenwart (bzw. Berichtszeit), der durch Gleichartigkeit gekennzeichnet ist und zugleich Gottes Wirken offenbart.
2.4.2.
Kontinuität
Nicht minder wichtig als die in solchen Vergleichen dokumentierte Gemeinsamkeit (und Vergleichbarkeit) von Damals und Heute ist die Kontinuität über die Zeiten hinweg: die Dauer eines geltenden Zustandes von einem Zeitpunkt in der Vergangenheit an bis zum heutigen Tag (so etwa mehrfach bei Widukind 220 Annales Magdeburgenses a. 938, ed. Georg Heinrich PERTZ, MGH SS 16, Stuttgart 1859, S. 143: Prefatus autem imperator Otto magnus et post tempora Karoli nulli inter omnes Romana sceptra gerentibus secundus, volens non solum suae sed et futurae etatis generationibus relinquere nominis sui memoriale celebrandum, simulque ob aeternae remunerationis praemium, novum huius civitatis posuit fundamentum. Zu Caesar als Städtegründer vgl. Heinz THOMAS, Julius Caesar und die Deutschen. Zu Ursprung und Gehalt eines deutschen Geschichtsbewußtseins in der Zeit Gregors VII. und Heinrichs IV., in: Die Salier und das Reich, hg. v. Stefan WEINFURTER, Bd. 3, Sigmaringen 1991, S. 245-277. 221 Adam von Bremen, Gesta 2,44 (wie Anm. 33), S. 105: ille, inquam, modicam gentilium portionem nunc indurare voluit, per quos nostra confunderetur perfidia. Vgl. oben S. 176 bei Anm. 113. 222 Gregor von Tours, Historiae 6,46 (wie Anm. 28), S. 319. 223 Ebd. 2,31, S. 77. 224 Ebd. 4,20, S. 153. 225 Chronicon episcoporum Merseburgensium 11, ed. Roger WILMANS, MGH SS 10, Stuttgart u.a. 1852, S. 185. 226 Vgl. stellvertretend Wilhelm KÖLMEL, Typik und Atypik. Zum Geschichtsbild der kirchenpolitischen Publizistik (11.-14. Jahrhundert), in: Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung, FS Johannes Spörl, hg. v. Clemens BAUER, Laetitia BOEHM u. Max MÜLLER, Freiburg-München 1965, S. 277-302.
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von Corvey)227 oder aber die Wiederbegründung eines vergangenen Zustands. So nahm der letzte „römische Statthalter“ in Gallien, Syagrius, Gregor von Tours zufolge seinen Sitz in Soissons, wo schon sein Vater Aegidius residiert hatte;228 Bodicus eroberte bei den Bretonen den Herrschaftsbereich seines Vaters zurück, den ihm Macliavus streitig gemacht hatte.229 Eine ungebrochene Kontinuität ist vielfach bezeugt: Alte Insignien oder Bauwerke waren immer noch erhalten (wie der Thron Karls des Großen in der Aachener Pfalzkapelle im 11.230 oder der Dom Ottos des Großen in Magdeburg im 12. Jahrhundert231). Indem Otto von Freising die Herkunftssage der Trierer von dem Assyrer Trebetas aufgreift, fügt er gleichzeitig an, daß man die Größe und Herrlichkeit dieser einstigen (tunc) Hauptstadt Galliens noch an den Ruinen erkennen könne; die Mauern eines wie die babylonische Mauer aus gebrannten Ziegeln errichteten Palastes seien noch heute (adhuc) von solcher Festigkeit, daß kein Werkzeug sie zum Einsturz bringen könne.232 Gängige Namen leiteten sich von historischen Begebenheiten ab: Der Weg Karls des Großen durch Italien heiße, so der Chronist von Novalesa, usque in hodiernum diem via Francorum, und die von ihm entlohnten Führer würden usque in presentem diem servi [...] Transcornati genannt.233 Bräuche überdauerten ohnehin die Jahrhunderte: Die Angeln folgten nach Widukind „bis heute“ dem alten sächsischen Stammesbrauch, indem sie weiterhin die Sachs als Waffe benutzten.234 Das bis heute nach seinem (angeblichen) Schöpfer Salagast benannte Gesetz der Franken (die Lex Salica) führte Otto von Freising auf die Zeit des ersten Königs in Gallien (nach der Übersiedlung aus Troja), Pharamund, zurück.235 Iam olim, schrieb Fredegar zu den ermordeten Königen des 6. Jahrhunderts (Theudis und Theudegisel), hätten die Goten die schlechte Angewohnheit (vicium) gehabt, einen mißliebigen König umzubrin227 Vgl. Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,3 (wie Anm. 65), S. 5: Pro certo autem novimus Saxones his regionibus navibus advectos et loco primum applicuisse qui usque hodie nuncupatur Hadolaun. Usque hodie/usque in praesens/usque in hodiernum diem noch mehrfach; vgl. ebd. 1,12, S. 20f. (Mars); 1,13, S. 23 (Iring); 1,14, S. 23 (Ständeordnung der Sachsen); 1,31, S. 44 (Reginberns Befreiung der Sachsen von den Dänen). 228 Gregor von Tours, Historiae 2,27 (oben Anm. 118). 229 Ebd. 5,16, S. 214: eumque cum filio eius Iacob gladio interemet partemque regni, quam quondam pater eius tenuerat, in sua potestate restituit. 230 Wipo, Gesta Chuonradi 6 (wie Anm. 48), S. 28: Collecto regali comitatu rex Chuonradus primum per regionem Ribuariorum usque ad locum qui dicitur Aquisgrani palatium pervenit, ubi publicus thronus regalis ab antiquis regibus et a Carolo praecipue locatus totius regni archisolium habetur. Vgl. auch Otto von Freising, Gesta Frederici 1,10 (wie Anm. 59), S. 148, zum bis heute sichtbaren Grab Heinrichs IV. in Speyer (sicut hodie cernitur). 231 Annales Magdeburgensis a. 938/39 (wie Anm. 220), S. 143. 232 Otto von Freising, Chronik 1,8 (wie Anm. 23), S. 47. 233 Chronicon Novaliciense 3,14 (wie Anm. 173), S. 154/156. 234 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,6 (wie Anm. 65), S. 6: Erat autem illis diebus Saxonibus magnorum cultellorum usus, quibus usque hodie Angli utuntur, morem gentis antiquae sectantes. 235 Otto von Freising, Chronik 4,32 (wie Anm. 23), S. 224.
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gen,236 ohne an dieser Stelle freilich anzugeben, auf welche Ereignisse der Gegenwart er dabei anspielt; doch erinnerte er in der letzten Nachricht über die Goten zur Erhebung Chindaswinths im Jahre 642 an diese Sitte, sprach jetzt allerdings nicht mehr von der Ermordung, sondern von der Vertreibung von Königen. Auch Chindaswinth brachte seinen Vorgänger Tulga nicht um, sondern ließ ihn zum Geistlichen scheren und statt dessen alle Goten töten, die sich an der Vertreibung von Königen schuldig gemacht hatten.237 Seit der Auswanderung aus Troja bis zum heutigen Tag, so beteuerte Fredegar an anderer Stelle anläßlich der berühmten Herkunftssage, konnte kein Volk je wieder die Franken besiegen, während sie selbst die anderen mühelos unterwarfen.238 Nach der Civitas-Lehre Ottos von Freising gab es seit Theodosius usque ad nostrum tempus bekanntlich nur eine einzige civitas permixta.239 Der Bezugspunkt in der Vergangenheit impliziert in diesen und vielen anderen Beispielen einen vorangehenden Wandel und somit einen Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die dennoch zugleich in einer einzigen Kontinuitätslinie stehen, wenn derselbe Autor die Weltherrschaft als solche als ein gleichbleibendes Kriterium der Weltgeschichte betrachtet, während sie immer wieder auf andere Träger überging.240 Ganz zeitlos war natürlich die Christusverehrung: wie gestern bei den Alten, so heute bei den „Modernen“, schrieb Guibert von Nogent.241 Und wenn die Makkabäer einst himmlische Hilfe bekamen, als sie für Beschneidung und Schweinefleisch kämpften, so stehe das um so mehr den Kreuzfahrern zu, die für die Wiederreinigung der Kirchen und die Verbreitung des Glaubens stritten.242 Zu den aus der Vergangenheit bis jetzt erhaltenen Zeugnissen gehören im übrigen (vielfach) auch die Geschichtsüberlieferungen selbst. So hatte sich nach Gregor von Tours, wie dieser Autor glaubt, beispielsweise der Bericht über die Wunder, die Leiden und die Aufer236 Fredegar 3,42 (wie Anm. 180), S. 105: Gothi vero iam olim habent vicium, cum rex eis non placeat, ab ipsis interficetur. 237 Ebd. 4,82, S. 163: Tandem unus ex primatis nomini Chyntasindus, collictis plurimis senatorebus Gotorum citerumque populum, regnum Spaniae sublimatur. Tulganem degradatum et ad onos clerecati tunsorare fecit. Cumque omnem regnum Spaniae suae dicione firmassit, cognetus morbum Gotorum, quem de regebus degradandum habebant, unde sepius cum ipsis in consilio fuerat, quoscumque ex eis uius viciae prumtum contra regibus, qui a regno expulsi fuerant, cogneverat fuesse noxius, totus sigillatem iubit interfici aliusque exilio condemnare. 238 Ebd. 2,6, S. 46: Post haec nulla gens usque in presentem diem Francos potuit superare, qui tamen eos suae dicione potuisset subiugare. 239 Otto von Freising, Chronik 7 prol. (wie Anm. 23), S. 309. 240 Zur Regna- und Translatio-Lehre Ottos von Freising vgl. GOETZ, Otto (wie Anm. 23), S. 137ff. 241 Guibert von Nogent, Gesta Dei per Francos 1,1 (wie Anm. 192), S. 123: Si Deum in Judaico populo magnificatum audivimus, Jesum Christum, sicut heri apud antiquos, ita et hodie apud modernos, esse et valere certis experimentis agnovimus. 242 Ebd. 6,9, S. 206f.: Et si Machabaeis olim pro circumcisione et carne porcina pugnantibus, evidens apparuisse legitur coeleste suffragium, quanto amplius his debuit qui, pro repurgio ecclesiis adhibendo et statu fidei propagando, fusi sanguinis Christo detulere servitium.
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stehung Christi, den Pilatus an Kaiser Tiberius sandte, bis zu seiner Zeit erhalten.243
2.4.3.
Erneuerung
Ein dritter Bezug ergibt sich aus der bereits behandelten Erneuerung des Alten, das im allgemeinen als bewahrenswert galt.244 Die beim Tod Heinrichs II. von den Pavesen mutwillig zerstörte Kaiserpfalz von Pavia war nach Wipo „einst“ von Theoderich errichtet und von Otto III. prunkvoll ausgeschmückt worden.245 Ihre Zerstörung war ein Frevel an Kaisertum und Reich (wie Konrad den Pavesen vorwarf), zugleich aber auch an den alten Traditionen. Entsprechend häufig wurde Verfallenes, wie schon erwähnt, wiederhergestellt (das heißt nicht unbedingt restauriert, sondern erneuert). Das konnte sich auch auf die Herrschaftsverhältnisse beziehen: Als die westfränkischen Großen von Karl dem Einfältigen abfielen und sich Odo zuwandten, beriefen sie sich nach den ‚Annales Vedastini‘ auf ihr früheres Vasallenverhältnis: schließlich sei ihr Herr der Sohn seines früheren Herrn.246 Entscheidend erscheint das gleichartige (und gleich bleibende) Verhältnis über verschiedene Wandlungen (hier: der neuen Generationen) hinweg.
3. Folgerungen aus den Befunden hinsichtlich der mittelalterlichen, historiographischen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster 3.1. Stellenwert und Einordnung der Vorstellungen von der Vergangenheit Die Analysen dürften wohl gezeigt haben, welchen Stellenwert Wahrnehmungsund Deutungsmuster für die Geschichtsschreibung an sich, für das Verständnis von „Geschichte“ und „Vergangenheit“ und dessen darstellerische Umsetzung im besonderen und für die Vorstellungswelt mittelalterlicher Menschen überhaupt haben. Damit bestimmt sich zugleich ihre Bedeutung für eine moderne Geschichtswissenschaft. Wahrnehmungen und Deutungen der Autoren hängen tatsächlich eng miteinander zusammen. Sie resultieren aus deren Erfahrungen, 243 Gregor von Tours, Historiae 1,24 (wie Anm. 28), S. 19. 244 Vgl. oben S. 183ff. 245 Wipo, Gesta Chuonradi 7 (wie Anm. 48), S. 29f.: Erat in civitate Papiensi palatium a Theoderico rege quondam miro opere conditum ac postea ab imperatore Ottone tertio nimis adornatum. 246 Annales Vedastini a. 897, ed. Bernhard von SIMSON, MGH SSrG 12, Hannover 1909, S. 78f.: Verum post haec hi qui cum Karolo erant, videntes suam paucitatem et nullum tutum habere locum refugii, iterum ad Odonem regem dirigunt, quatinus ad memoriam reduceret, quod senior eorum filius esset sui quondam senioris, et partem aliquam ei ex paterno regno concederet.
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ihrem Wissen, ihren Überzeugungen und Wertmaßstäben, die sich in ihrer Vorstellungswelt bündeln, wie sie sich uns ihrerseits (zu Teilen) aus ihren Schriften erschließt. In der – gleichartigen – Häufung der Belege und der Ähnlichkeit des Verständnisses verschiedener Autoren, aber auch in der stilisierten Gestaltung und im unwillkürlichen Aufgreifen solcher Denkweisen aber werden die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sichtbar, die den (einzelnen) Wahrnehmungen und Deutungen zugrunde liegen. Verständnis, Vorstellung und Deutung der Vergangenheit sind für Chronisten, deren Gegenstand ganz oder vornehmlich die Vergangenheitsdarstellung ist, selbstredend zentrale Kategorien, die dennoch, soweit es nämlich die Frage betrifft, was Vergangenheit für sie eigentlich ist, unbewußt und unreflektiert in die Texte einfließen. (Mehr oder weniger) bewußt reflektiert werden allenfalls der Umgang mit der Vergangenheit und deren Deutung, soweit sie nämlich eine Bewertung historischer Sachverhalte betrifft und die Ansichten des Autors offenlegt, also die Darstellung selbst und die Anordnung und zeitliche Verknüpfung der Fakten einerseits sowie die Interpretation der Geschichte andererseits, die ihrerseits vorhandenen Traditionen und bestimmten Absichten und Funktionen der Schriften entspringen. Hingegen wird die – hier erstmal untersuchte – Deutung der Vergangenheit als Vergangenheit ganz entsprechend der Wahrnehmung kaum bewußt reflektiert und allenfalls durch „Zeichen“ wie Vergangenheits- oder Altersbegriffe sowie den damit transportierten Konnotationen mit expliziter Abgrenzung von späteren Zeiten oder von der Gegenwart gewährleistet. Was vergangen ist, warum es vergangen ist, wo und weshalb es sich von der Gegenwart abgrenzt, wie und weshalb es sich mit der Gegenwart berührt, wo und weshalb es folglich (noch) gegenwärtig ist: das alles sind keine objektiven, eindeutig festlegbaren „Wahrheiten“, sondern – zunächst individuelle – menschliche Empfindungen (und damit mentalitätsgeschichtliche Größen), die auf der Vorstellungswelt (einschließlich des Wissens beruhen), aber gerade deshalb bestimmten (auch überindividuellen) Mustern folgen. Die Analysen haben aber auch aufgezeigt, wie schwierig es ist, solche Muster konkret zu benennen: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Verständnisses von der Vergangenheit bestimmen Denken und Schreiben unserer Chronisten. Da sie aber nirgends explizit reflektiert werden, sind sie behutsam aus den Texten herauszuarbeiten: aus den Begriffen, den damit implizierten Konnotationen, aus deren Kontext und den Abgrenzungen (und Bezügen). Die Folgerungen sind hier deutend aus den dargelegten Befunden und Beobachtungen zu ziehen. Man wird daher eher nach Funktionen der Geschichtsschreibung und des Geschichtsbildes gegenüber Problemen der Gegenwart des Autors247 als nach Funktionen des Vergangenheitskonzeptes an sich fragen können. Das verfügbare Spektrum an Wahrnehmungsmustern wird aber nahezu überall verwendet und ausgeschöpft. Die Deutungsmuster ergeben sich folgerichtig allgemein 247 Vgl. dazu vgl. GOETZ, Geschichtsschreibung (wie Anm. 3).
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aus dem geschichtstheologischen (heilsgeschichtlicher Geschichtsverlauf) und philosophischen Hintergrund (Zeit und Zeitablauf), konkret aber aus solchen Abgrenzungskriterien. Auf Schriftquellen gestützt, kann mit dieser Methode zudem natürlich nur die Schicht der gebildeten Verfasser, meist Geistlicher und Mönche, sowie deren Leserkreis, darunter auch Könige und Laien, erfaßt werden. Zu solchen Mustern zählen – als Hintergrund – nicht zuletzt natürlich die geschichtstheologischen Vorstellungen vom Geschichtsablauf und von der Zeit. Sie belegen ein Bewußtsein von der Zeit als meßbarem Faktor, von der Unterscheidung der Zeiten und somit von der Vergangenheit als abgrenzbarer Zeit wie auch ein Vergangenheitsbewußtsein (von der Vergangenheit als erinnerungswürdiger Zeit). Daß Vergangenheit ein Produkt und ein Element der Zeit und Zeit ein Faktor des Irdischen und Geschöpflichen ist, macht sie zunächst zu einem auf die irdische Geschichte beschränkten Faktor, der sich in der Ewigkeit auflösen wird. Das geht so weit, daß Otto von Freising im achten Buch seiner Chronik immerhin fragen kann, ob die Menschen im Jenseits sich denn ihrer Zeit auf Erden (also ihrer Vergangenheit) überhaupt werden erinnern können (si in illa beata patria preteritae vitae memoriam seu scientiam habeant) und die Frage bejaht: Die Erinnerung wird bleiben, nur der Schmerz über die Übel wird verblassen.248 Im Gesamtheilsplan gesehen, ist Vergangenheit folglich weder Ziel noch Ideal. Auf Erden aber spielt sie durchaus eine bestimmende Rolle: Daß irdisches Geschehen nicht ohne Zeitablauf, daß Vergangenheit nicht ohne Gegenwart und Zukunft denkbar sind, prägt die diesbezüglichen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Chronisten entscheidend. Deren Überzeugung, daß Gegenwart ohne Kenntnis der Vergangenheit nicht verständlich wird, verleiht dieser darüber hinaus eine herausragende Bedeutung: Der Blick in die Vergangenheit ist wichtig, Geschichtsschreibung eine zentrale (theologische) Schriftgattung. Die Vergangenheit an sich ist vorüber, sie lebt aber in der Erinnerung und im Bewußtsein von Gegenwart und Nachwelt weiter (und das festzuhalten, ist nach einem vielzitierten „Topos“ gerade das Ziel mittelalterlicher Geschichtsschreibung). Die Bedeutung der Vergangenheit (und in diesem Sinne ein Vergangenheitsbewußtsein) stehen für die mittelalterlichen Autoren daher außer Frage. Eine klare Definition des Begriffs (oder auch nur eine eindeutige Terminologie) gibt es hingegen nicht. Existenz und Inhalt der Vergangenheit werden von den Autoren vielmehr als bekannt vorausgesetzt. Ähnliche Befunde einerseits und ein Bewußtsein vom Stellenwert der Vergangenheit sprechen aber für das Vorhandensein von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern, d.h. Vorstellungsmodellen und Wahrnehmungsstrukturen, nach denen Vergangenheit „verortet“, verstanden und funktional verwertet wird. Dabei scheinen die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster – ebenso wie der Sprachgebrauch – (relativ) einheitlich zu sein, 248 Otto von Freising, Chronik 8,28 (wie Anm. 23), S. 438.
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auch wenn autorenspezifischen Besonderheiten noch näher nachzugehen wäre. Vor diesem Hintergrund wäre nun nach den spezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern der Vergangenheit (nämlich der Art und Weise der Wahrnehmung, mit der das Wahrgenommene begriffen und gedeutet wird) zu fragen. In der Historiographie als Schriftgattung ergeben sich die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zunächst zwangsläufig aus deren schriftlichen Niederschlag. Daß die Autoren (und deren Zeitgenossen) Vergangenheit daneben aber auch sinnlich, nämlich (vor allem) visuell, wahrgenommen haben, zeigt sich etwa an Beschreibungen des sichtbar werdenden Alters konkreter Gegenstände und Orte (Ruinen, Zerstörung, Verblassen).249
3.2. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Vergangenen (der Vergangenheitsvorstellungen) (1) Die früh- und hochmittelalterlichen Autoren kennen weder einen eindeutigen Begriff für die Vergangenheit, noch zeigt sich eine Vergangenheitskonzeption unmittelbar in der Terminologie, die vielmehr (zeitlich) mehrschichtig bis indifferent benutzt wird. Daß etwas „vergangen“ ist, ergibt sich in der Geschichtsschreibung entweder aus dem Zeitablauf (der chronologischen Erzählung) selbst oder aus einer Vielzahl von Begriffen und Wendungen, mit denen Vergangenes als „vergangen“ entweder im Sinne von vor der eigenen Zeit geschehen oder/und im Sinne von „jetzt nicht mehr existent“, „nicht mehr gültig“ oder „nicht mehr gegenwärtig“ klassifiziert und entsprechend von der Gegenwart abgegrenzt wird. Insgesamt ergibt sich aus unterschiedlichen Begriffen und den damit transportierten Vorstellungen somit eine Reihe verschiedener Wahrnehmungsweisen, ohne daß diese sich jeweils bestimmten Begriffen zuordnen lassen: Die Vergangenheit konnte begrifflich erfaßt werden, wurde dann in der Regel aber nur zeitlich, nicht jedoch bereits inhaltlich gedeutet. Man faßt hier einen wichtigen Komplex des Verhältnisses von sprachlichen Ausdrucksformen und deren semantisch zugeordneter Deutung und wird daraus folgern dürfen, 249 Vgl. dazu die Arbeiten von Markus SPÄTH, Sehen und Deuten. Zur Bedeutung von Visualität in der Vergangenheitswahrnehmung klösterlicher Chronistik des 11. und 12. Jahrhunderts, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster (wie Anm. 1), S. 67-82; DERS., Das ‚Regestum‘ von Sant’Angelo in Formis. Zur Medialität der Bilder in einem klösterlichen Kopialbuch des 12. Jahrhunderts, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 31 (2004), S. 41-59 zur Visualisierung bestimmter Erinnerungen; DERS., Kopieren und Erinnern: Rezeption von Urkundenschriftbildern in klösterlichen Kopialbüchern des Hochmittelalters, in: ‚Übertragungen‘: Formen und Konzepte von Reproduktionen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Albrecht HAUSMANN u.a. (Trends in Medieval Philology 5), Berlin-New York 2005, S. 121-128, zur Übernahme und Abwandlung von Zeichen und Bildern der originalen Vorlagen in Kopialbüchern und zur Bildlichkeit als Träger historischer Erinnerung. Umfassend DERS., Verflechtung von Erinnerung. Bildproduktion und Geschichtsschreibung im Kloster San Clemente a Casauria während des 12. Jahrhunderts (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 8), Berlin 2007.
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daß es „supraterminologische“, generelle Vorstellungen von der Vergangenheit gab und daß diese durchaus (von der Gegenwart) abgrenzbar erscheint, während man eine durchgängig feste, zeitliche oder inhaltliche Abgrenzung vergeblich sucht: Man stand der Vergangenheit zwar keineswegs indifferent, wohl aber höchst variabel gegenüber. (2) Man wird ebenso feststellen können, daß über der chronologischen Erzählung, die in der Regel den Zeitraum von den (jeweiligen) Anfängen (der Welt, eines Reichs, eines Bistums oder Klosters etc.) bis zur eigenen Gegenwart kontinuierlich abdeckte, eine Abgrenzung der Vergangenheit von der Gegenwart begrifflich und in der Vorstellung vorhanden, eine klare zeitliche (und nur ansatzweise auch eine inhaltliche) Scheidung jedoch weder intendiert war noch notwendig erschien und letztlich auch gar nicht möglich war. Deshalb spielt der praeteritum-Begriff, der solches durchaus hätte leisten können (und das in der Theorie der drei Zeiten auch geleistet hat), in der historiographischen Praxis keine (oder auch eine bezeichnende) Rolle, indem er sich nicht auf die Vergangenheit, sondern auf einen bestimmten, meist kurzen und oft sogar gegenwartsnahen Zeitabschnitt bezog. „Vergangenheit“ und „Gegenwart“ wurden – mittelaltergemäß – nicht als Abstraktum verstanden, sondern konkret wahrgenommen (nämlich als bestimmter, periodischer Zeitabschnitt wie Jahr, Jahreszeit, Monat, Tag usw. vor allem der jüngsten Vergangenheit) und auf bestimmte Epochen, Ereignisse oder Personen bezogen. Vergangenes konnte daher sowohl unterschiedlich weit (manchmal sehr weit in die Frühzeit, oft aber auch nur wenige Jahre oder sogar Monate) zurückreichen als folglich auch von unterschiedlicher Dauer sein. Für Otto von Freising liegt ein wesentlicher Einschnitt zur christlichen Gegenwart in der Christianisierung des Reichs (und dem Beginn der civitas permixta) in der Spätantike,250 zugleich aber läßt er nostra tempora mit den Auseinandersetzungen zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. (der Auflösung dieser Einheit) beginnen.251 Wohl aber wurde die antiquitas als hohes Alter oder Veränderungen in der Geschichte wahrgenommen. Es ist somit bezeichnend für mittelalterliche Wahrnehmungsmuster, daß dieselben Begriffe sich auf Ereignisse beziehen konnten, die vor langer oder vor kurzer Zeit, vor der Berichtszeit (der Gegenwart des Berichts) oder vor der Abfassungszeit (der Gegenwart des Autors) geschehen waren. Die zeitliche Zuordnung oder Abgrenzung und die Klassifizierung als „früher“ oder „einst“ war letztlich wichtiger als die Kennzeichnung als „vergangen“. Wenn die Merseburger Bistumschronik beispielsweise die „Vorgeschichte“ des Bistums von der 250 Vgl. dazu Joachim EHLERS, Ab errorum tenebris ad veram lucem. Otto von Freising entdeckt den Ursprung seiner Zeit in der christlichen Spätantike, in: Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, hg. v. Walter POHL (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8), Wien 2004, S. 309-315. 251 Otto von Freising, Chronik 7 prol. (wie Anm. 23), S. 309: Mit diesem Ereignis sei er ad nostra tempora recentemque memoriam angelangt.
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(angeblichen) Stadtgründung durch Cäsar bis zur Bistumsgründung schildert,252 dann bietet sie eine Vergangenheitserzählung, ohne diese – über eine Chronologie (in diesem Fall ohne konkrete Zeitangaben) hinaus – als solche kenntlich zu machen. Für die Wahrnehmung mittelalterlicher Chronisten war in bezug auf die Terminologie und auf das Vergangenheitsverständnis (nicht aber das Geschichtsbild!) folglich weder eine Differenzierung nach „Vergangenheit“ und „Gegenwart“ noch die Entfernung von der Gegenwart (die Frage, vor wie langer Zeit sich etwas ereignet hatte) entscheidend, sondern das Verhältnis beider und der inzwischen eingetretene Wandel (der zu sehr verschiedenen Zeiten eingetreten sein konnte, so daß sich die breite Zeitspanne zwanglos erklärt). Die Abgrenzung war, anders als für die Zeitzählung selbst und die insgesamt abgelaufene Zeit, offensichtlich wichtiger als die Zeitdifferenz (der Zeitraum oder der Zeitpunkt). Die Wahrnehmung richtete sich folglich nicht auf die Zeitdauer, sondern auf den inhaltlichen Bezug (als Wandel oder als vergleichbarer Zustand). Dennoch gab es in bezug auf die chronologische Zuordnung und die Wertung ein Bewußtsein vom Grad der Vergangenheit, war beispielsweise der Rückgriff auf ferne Vergangenheiten besonders beliebt und legitimierend. (3) Die mittelalterlichen Wahrnehmungsmuster von der Vergangenheit waren, anders als das konkrete historische Geschehen, daher nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, durch eine zeitliche Fixierung, sondern durch andere Faktoren geprägt: beispielsweise durch Wahrnehmungen des Alters oder die Feststellung, daß etwas früher, einstmals, damals oder kürzlich geschehen war. In beiden Fällen – und das ist nicht minder bezeichnend – konnte das Berichtete (endgültig) „vergangen“ (im Sinne von vorüber oder nicht mehr geltend) wie auch noch wirksam (oder gültig) sein: Die terminologisch-zeitliche Einstufung war daher zunächst unabhängig von einer Bewertung als „vergangen“ im Sinne der Vergänglichkeit, die sich vielmehr erst aus einer inhaltlichen Abgrenzung, einem Wandel, ergab. „Vergangenheit“ hat in mittelalterlicher Wahrnehmung daher weder einen klaren Anfang noch ein klares Ende, sondern verhielt sich – je nach Inhalt – relativ zur Gegenwart. Wohl aber ordnete sie das Geschehen zeitlich in den Geschichtsverlauf ein, das in diesem Sinne „vergangen“, nämlich einer vergangenen Epoche zugehörig, war. (4) Die „Wahrnehmung“ der „Vergangenheit“ erfolgte – neben der Betonung eines hohen Alters – somit auf anderem Wege bzw. in anderer Wahrnehmungsweise: (a) Einmal erschien Vergangenheit als zeitliche Folge und in Abgrenzung von der Gegenwart: als „Damals“ und „Heute“, „Einst“ und „Jetzt“, „Früher“ und „Später“, „Vorher“ und „Nachher“ bzw., auf die Vergangenheit bezogen, als das Vorher (vor dem Jetzt), das Früher (vor dem Heute), das Alte (vor dem 252 Chronicon episcoporum Merseburgensium (wie Anm. 225), S. 163-166.
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Neuen (einschließlich alter Überlieferungen und schriftlicher Vorlagen der Geschichtsschreiber) bzw., relativ, als das Ältere vor dem Neueren, aber auch – relational – als Alter(n); das Alter war wichtig (auch als legitimierendes Argument), aber in den seltensten Fällen praktisch entscheidend für eine Kennzeichnung als Vergangenheit. (b) Zum andern ergab sich Vergangenes als Implikation der Differenz (ebenso wie des Bezugs) zur Gegenwart (darauf ist im folgenden noch näher einzugehen), und zwar nach einer Vielzahl verschiedener Kriterien. Einen Wandel (zum Besseren oder Schlechteren) machten die Geschichtsschreiber vor allem am Wechsel der Herrschafts-, Rechts- und Glaubensverhältnisse (Christianisierung, aber auch Abfall vom christlichen Glauben) fest, außerdem an einem Namenswechsel oder Bedeutungswandel, an einem Charakterwandel oder am Erhaltungszustand von Sachwerten und Bau- und Kunstwerken. (c) Dieser Wandel konnte allmählich oder plötzlich erfolgen. Wenn er sich zeitlich festmachen ließ, kam es zu Zäsuren im Geschichtsverlauf, die durchaus registriert wurden. Gelegentlich wurde betont, daß etwas in Gegenwart oder Vergangenheit (Berichtszeit) gegenüber aller bisherigen Geschichte überhaupt erstmalig eintrat. Veränderungen in der Geschichte, Wiederholbarkeiten ebenso wie Einmaligkeiten, wurden also durchaus wahrgenommen. Dabei boten die Geschichte selbst wie auch die Geschichtsberichte das Repertoire für die Kennzeichnung als „alt“ oder „früher“. (d) Inhaltlich resultierte die Wahrnehmung der Vergangenheit – mit einer wahren Fülle verschiedener Möglichkeiten – aus der Zuschreibung bestimmter Eigenschaften oder Kennzeichen, die allerdings von der jeweiligen Abgrenzung (und Gegenüberstellung) abhängig und daher keineswegs fixiert waren, sondern sogar Gegenteiliges beinhalten konnten. So konnte in einer Region oder bei einem Volk beispielsweise sowohl das Heidentum (nach der Christianisierung) als auch das Christentum (bei einem Rückfall ins Heidentum) als vergangen (im Sinne von: nicht mehr gültig) registriert werden. Insgesamt läßt sich daher kein festes Spektrum bestimmter Eigenschaften festmachen, die „Vergangenes“ charakterisieren. (5) Wurde Vergangenes einerseits von der Gegenwart abgegrenzt (und dann eben im Wandel charakterisiert), so wurde es andererseits nicht minder – und im Prinzip gleichzeitig – in einen engen Bezug zur Gegenwart gestellt. Die Wahrnehmung der Vergangenheit erfolgte in mehrfacher Hinsicht aus der Perspektive der Gegenwart: (a) Vergangenes wurde nicht in seinen zeitspezifischen Eigenheiten gewürdigt, sondern mit zeitgenössischen Maßstäben und Vorstellungen betrachtet und gedeutet:253 Der Wandel blieb daher ein formaler. Etwas konnte vergehen und entstehen, vergessen oder erneuert werden, aber es war nicht von grundauf an253 Beispiele bei GOETZ, Geschichtsschreibung (wie Anm. 3), S. 208ff.
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ders(artig) und konnte daher ohne weiteres mit gegenwärtigen Zuständen verglichen und nach denselben Kriterien bemessen werden. Wenn Nithard feststellt, wie viel besser die Zeit Karls des Großen gegenüber den jetzigen Brüderkriegen war, dann ist sein Maßstab in beiden Fällen der „öffentliche Nutzen“ (publica utilitas), der in der Gegenwart jedoch abhanden gekommen war. In vielen anderen Fällen bildete Gottes (gleichartiges) Wirken in Bibel und Geschichte das Vergleichsmoment. (b) Vergangenes wurde folglich mit dem Jetzigen (als ähnlich) verglichen oder auch (als verändert) konfrontiert, im letzteren Fall zumeist idealisiert und mit der Intention der Gegenwartskritik der eigenen Zeit als Vorbild entgegengehalten. Für Thietmar von Merseburg war die eigene Zeit schlechter als alle früheren.254 Regino von Prüm kündigt im Widmungsbrief seines Sendhandbuchs an Erzbischof Hatto von Mainz an, daß er die Beispiele der früheren fränkischen Konzilien vor allem dann genutzt habe, wenn er sie als „unseren gefährlichen Zeiten“ allzu notwendig erkannt habe, dem aber aus „dieser schändlichen Zeit“ vieles hinzufüge, „was in früheren Zeiten unerhört war, weil es nicht geschehen ist und deshalb auch nicht aufgeschrieben oder mit klaren Stellungnahmen verdammt worden ist, von den heutigen Regeln der Väter aber verdammt wurde und täglich verdammt wird“.255 (c) Vergangenes wurde aber nicht nur durch Vergleich mit der Gegenwart konfrontiert, sondern auch durch eine lange Kontinuität mit dieser verbunden, indem etwas „bis heute“ andauerte oder aber, wenn es zerfallen war, erneuert oder wiederhergestellt wurde. Hier war das Vergangene gerade nicht vergangen, sondern immer noch existent. Wandel und Kontinuität waren für die mittelalterlichen Chronisten keine Gegensätze, sondern wirkten, gewissermaßen als sich geschichtlich wandelnde Kontinuität, zusammen, um diesen Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu verdeutlichen. Ein Namenwechsel etwa bedeutete Wandel gegenüber der Epoche früherer Benennungen und zugleich eine seither einsetzende (sprachliche) Kontinuität bis zur Gegenwart. Für Otto von Freising war Italien für die transalpinen Gebiete seit der Eroberung durch die Langobarden (exhinc) verloren; extunc hieß es „Langobardien“ (Lombardei).256 254 Thietmar von Merseburg, Chronicon 8,13 (wie Anm. 45), S. 508: Tempora haec prioribus cunctis inferiora. 255 Regino von Prüm, Epistola ad Hattonem (in der Edition der Chronik vorangestellt, wie Anm. 40), S. XX: Si quem autem movet, cur frequentioribus nostrorum, id est Galliarum ac Germaniae, conciliorum usus sim exemplis, accipiat responsum et sciat, quia ea maxime inserere curavi, quae his periculosis temporibus nostris necessariora esse cognovi et quae ad susceptum propositae causae negotium pertinere videbantur. Illud etiam adiiciendum, quod multa flagitiorum genera hoc pessimo tempore in aeclesia et perpetrata sunt et perpetrantur, quae priscis temporibus inaudita, quia non facta, et ideo non scripta et fixis sententiis damnata; quae modernis patrum regulis et dampnata sunt et quotidie dampnantur. 256 Otto von Freising, Chronik 5,5 (wie Anm. 23), S. 237. Dieser Zustand war allerdings vorübergehend, bis Karl der Große Italien unterwarf, ohne daß Otto an dieser Stelle (5,29, S. 254f.) einen erneuten Kommentar einflocht.
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Ein treffender Beleg für das Zusammenwirken von Wandel und Kontinuität ist auch die – lückenlose – Aufeinanderfolge von Amtsträgern (Königen, Bischöfen, Äbten): Dem Tod eines Amtsträgers folgte die Bestellung des Nachfolgers, so daß sich bei einem dauernden Wechsel der Amtsträger insgesamt eine kontinuierliche Institutionsgeschichte ergab. Die Durchnumerierung der Amtsträger (wie der Tourser Bischöfe „seit Martin“ bei Gregor von Tours oder der Könige bei Otto von Freising und vielen anderen Autoren) verstärkte diesen Eindruck. Selbst Autoren, die in ihrer Vergangenheitsgeschichte gar nicht bis in die eigene Zeit vordrangen, wie Ekkehard IV. in seinen ‚Casus sancti Galli‘, sahen sich und ihr Kloster in einer langen Kontinuitätslinie und identifizierten sich mit den Vorgängern (wie hier den Sankt Galler Mönchen) früherer Zeiten als „den Unsrigen“.257 (d) Vergangenes wurde in jedem Fall auf die Gegenwart ausgerichtet. Deutlich drückt das Arnulf von Mailand im Vorwort seiner „Gegenwartsgeschichte“ (‚Liber gestorum recentium‘) aus: Obwohl er Zeitgeschichte darstellen will, macht er zunächst einmal deutlich, daß die Gegenwart von der Vergangenheit abhängt und seine Erzählung ihren Ausgang folglich in der Vergangenheit nehmen muß (dabei will er freilich die vetustas, das ganz Alte, übergehen).258 „Vergangen“ meinte daher zwar oft: „verfallen“, „veraltet“, „dem Jetzigen nicht mehr entsprechend“ – und kennzeichnete somit den Wandel sowie, wertend, das Nichtbeständige und „Vergängliche“ der Geschichte. Doch es bedeutete nicht: „nicht mehr aktuell“, sondern wurde im Gegenteil vielmehr auf die Gegenwart angewandt und erhielt somit eine Funktion im Tagesgeschehen (oder „Tagesdenken“). (6) Das Vergangene wurde darüber hinaus stets relativ zur Gegenwart gesehen (und hat daher zwangsläufig fließende Grenzen): als Vergangenheit gegenüber der Berichtszeit, die ihrerseits wiederum Vergangenheit gegenüber der Gegenwart ist, wie gegenüber der Gegenwart selbst. Das Vergangene konnte sowohl zeitlich zugeordnet als auch einfach als „irgendwann einmal in früherer Zeit geschehen“ eingestuft werden. Es konnte vor langer Zeit geschehen oder unmittelbar vorausgegangen, früher abgeschlossen sein oder bis zur Gegenwart (oder auch bis zu einem anderen Zeitpunkt in der Vergangenheit, in der Regel der Berichtszeit) andauern. In solchen Fällen wird die im allgemeinen so wichtige zeitliche Zuordnung durch genaue Datierung geradezu belanglos.
257 Ekkehard spricht immer wieder von früheren St. Galler Mönchen als nostri; vgl. etwa Casus s. Galli 52, ed. G. MEYER VON KNONAU (Mittheilungen zur vaterländischen Geschichte, N.F. 5/6), St. Gallen 1877, S. 199; 116, S. 385. 258 Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium praef. (wie Anm. 58), S. 118: Set quia ex preteritis pendent presentia, ab illis ad ea, que sunt in manibus, gestorum decurrat oratio; ita tamen, ut relicta vetustate ex recenti memoria summatur exordium. Arnulf beginnt mit dem Jahr 931. In Buch 2 (ab 1018) berichtet er dann als Augenzeuge.
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(7) Schließlich: Die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart impliziert zwangsläufig oft einen wertenden Vergleich. Das Vergangene wird dabei gern herausgehoben und gerade deshalb, wie schon erwähnt, nicht selten zur Gegenwartskritik herangezogen. Daß Vergangenheit einen Wert darstellt und Ehrfurcht erheischt, daß sie idealisiert werden und sowohl Rechtsansprüche begründen bzw. Recht schaffen als auch vorbildhaft wirken konnte, läßt sich vielfach nachweisen. Ehrfurcht vor dem Alter ist entsprechend häufig bezeugt oder angemahnt. Dennoch ist es nicht die Vergangenheit an sich, sondern stets eine bestimmte Epoche oder etwas Bestimmtes in der Vergangenheit, das positiv bewertet wird, während jene auch negative Beispiele bereithielt und „Alter“ gleichzeitig eben „Zerfall“ implizierte. Der „Fortbestand“ wurde dann letztlich als Besonderheit herausgestellt. Die Vergangenheitsvorstellungen der Geschichtsschreiber waren demnach durchaus von bestimmten, in sich kohärenten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern geprägt: Die Vergangenheit war Maßstab, aber nicht Selbstzweck, sondern wurde in ihrer Funktion für und ihrem Verhältnis zur Gegenwart betrachtet. Darüber konnte, trotz aller Abgrenzungen, die Frage, um welche Vergangenheit es sich jeweils handelte, verblassen. Anhand des Verständnisses und der Wahrnehmung von „Vergangenheit“ zeigen sich somit insgesamt bestimmte, in der Einleitung dieses Bandes als Erkenntnisziele des Forschungsprojekts erläuterte Eigenschaften und Wertungen, Abgrenzungen und Abgrenzungskriterien, Übergänge und Bezüge, die mittelalterlicher Wahrnehmung und Deutung zugrunde liegen. Wieweit die festgestellten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster gattungsspezifisch sind, wird erst ein Vergleich mit den anderen Beiträgen dieses Bandes und weiteren Forschungen erkennen lassen. Ein grundlegender Wandel der Vergangenheitskonzepte vom frühen zum hohen Mittelalter wird in den hier vorgelegten Befunden hingegen ebensowenig deutlich wie größere regionale Unterschiede. Hinsichtlich des Verständnisses der Zeiten läßt sich „a growing sense [...] of the present as distinct from the past“259 meines Erachtens in der hier behandelten Epoche daher nicht feststellen. Es scheint vielmehr, daß die der Darstellung zugrunde liegenden Konzepte langfristig wirksam gewesen sind und einen prägenden Bestandteil einer katholisch-abendländischen Kultur darstellen.
259 So Giles CONSTABLE, Past and Present in the Eleventh and Twelfth Centuries. Perceptions of Time and Change, in: L’Europa dei secoli XI e XII fra novità e tradizione: sviluppi di una cultura. Atti della decima Settimana internazionale di studio, Mendola 2529 agosto 1986. (Miscellanea del Centro di studi medioevali 12), Mailand 1989, S. 135170, hier S. 164.
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Institution versus Individuum, Diözese versus Dynastie Zu Motiven der Wahrnehmung von Vergangenheit in Paulus Diaconus’ ‚Liber de Episcopis Mettensibus‘
„Noch bis auf den heutigen Tag“, so schrieb der langobardische Historiograph Paulus Diaconus in seiner Mitte der 80er Jahre des 8. Jahrhunderts verfaßten Geschichte der Metzer Bischöfe, „kann dies unvermindert bewundert werden.“1 Er bezog sich damit auf eine ehemals geborstene marmorne Altarplatte des Metzer Stephansoratoriums, deren wundersame ‚Instandsetzung‘ durch den Bischof Auctor er zuvor geschildert hatte. Kommt dieser Aussage im Rahmen des knappen Mirakelberichts, dessen Bestandteil sie ist, vor allem affirmative Bedeutung zu, so ist sie indirekt auch Indiz für ein allgemeines Phänomen, welches ebenso lange bekannt wie zentral für die historische Forschung ist:2 die Bedeutung der jeweiligen Gegenwart als zwangsläufigem ‚Standort‘ des Betrachters für jeglichen Blick zurück in die Vergangenheit3 und als – zumindest unterbewußter – temporaler Fluchtpunkt aller Geschichtsschreibung. 1
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Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus, ed. Georg Heinrich PERTZ (MGH SS II), Hannover 1852, S. 260-270 (im folgenden: ‚Liber‘), hier S. 263, Z. 48-52: Illico omnis illa confractio ita solidata est, quasi antea divisa minime fuisset. Est tamen in eodem marmore, quod non mediocriter usque in praesentem diem possit admirari. Nam ita apparet hactenus attentius cernentibus quasi divisum; sed studiose contrectatum digitis, ita probatur solidum, ut nullius in eo divisionis sentiatur indicium. Zur entsprechenden Forschungsgeschichte seit Droysen vgl. – gerade im Hinblick auf die Historiographie – etwa Franz-Josef SCHMALE, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung. Mit einem Beitrag von Hans-Werner GOETZ (Die Geschichtswissenschaft), Darmstadt 21993, S. 5-10 (mit Literatur); ferner die in Anm. 5 genannten Publikationen. Die Erkenntnis des unmittelbaren Gegenwartsbezuges aller Zeitebenen für den Menschen ist altbekannt und auch in der Mediävistik mittlerweile vielzitiert. Es sei an dieser Stelle nur exemplarisch verwiesen auf Aristoteles’ Äußerung, daß „das Gedächtnis [...] der Vergangenheit teilhaftig“ sei (Aristoteles, Über Gedächtnis und Erinnerung [,!"#$ %&'%() *+$ ,&+%&'-".)‘], 449b: / 01 %&'%( 234 5"&3%6&37; die Übersetzung nach Paul RICŒUR, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen (Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 2), Göttingen 32002, S. 21 mit Anm. 2), und Augustinus’ Reflexionen zum Phänomen der Zeit in den ‚Confessiones‘: Tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non video (Aurelius Augustinus, Confessiones XI,20, ed. Lucas VERHEIJEN (CCL 27), Turnhout 1981, S. 207). Das letztere Zitat findet sich (in der mediävistischen Forschung) u.a. bei Jacques LE GOFF, Geschichte und Gedächtnis (Propyläen TB), Berlin 1999, S. 27 (Original: Storia e memoria, Turin 1977), RICŒUR, Rätsel der Vergangenheit (in dieser
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Zugleich ist die zeitliche Selbstverortung, die Bestimmung der eigenen Gegenwart, für jedes Individuum axiomatische Voraussetzung der Ausprägung einer eigenen Identität.4 Entsprechend ist davon auszugehen, daß alle temporalen Aussagen historischer Quellen, welche Vergangenheit und Gegenwart differenzieren, meist auch als Korrelat der Identitätsbildung ihrer Verfasser zu verstehen sind, dies allerdings, je nach der Intensität der Identifikation mit den Inhalten des einzelnen Werkes, mehr oder weniger stark. Die Frage nach der Wahrnehmung von Vergangenheit in historiographischen Quellen ist mithin dazu geeignet, einen zentralen Punkt des Selbstverständnisses ihrer Verfasser zu beleuchten und so die bisherigen vorstellungsgeschichtlichen Untersuchungen zum mittelalterlichen Geschichtsbewußtsein im Hinblick auf individuelle temporale Deutungsmuster zu differenzieren.5 Sie kann – wie zu zeigen sein wird – zudem als ein ‚Meßinstrument‘ fungieren, um auf Grundlage erkennbarer Wahrnehmungsmuster die emotionale Nähe des Verfassers zu seinem Werk auszuloten oder bestimmte Stoßrichtungen der Schilderung offenzulegen und auf diese Weise Aufschluß über mögliche, in der Forschung umstrittene Intentionen der betreffenden Quelle zu gewinnen. Wenn im Folgenden von ‚Wahrnehmung‘ der Vergangenheit die Rede ist, so wird damit ein Begriff verwendet, der angesichts der Komplexität des Phäno-
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Anm.), S. 44, und Fabian SCHWARZBAUER, Geschichtszeit. Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs von Michelsberg, Honorius’ Augustodunensis und Ottos von Freising (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 6), Berlin 2005, S. 23. Ebenfalls Bezug auf die genannten Darlegungen des Augustinus nimmt Hans-Werner GOETZ, Vergangenheitsbegriff, Vergangenheitskonzepte, Vergangenheitswahrnehmung in früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsdarstellungen, in: Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, hg. v. Christina JOSTKLEIGREWE, Christian KLEIN, Kathrin PRIETZEL, Peter F. SAEVERIN u. Holger SÜDKAMP (Europäische Geschichtsdarstellungen 7), Köln-Weimar-Wien 2005, S. 171-202, hier S. 176f. mit Anm. 13; ausführlicher DERS., in diesem Band. Dieser zeitlichen Selbstverortung wird für den Prozeß menschlicher Identitätsbildung seit langem zentrale Bedeutung zuerkannt. Zusammen mit der (räumlichen) Unterscheidung der eigenen Person von der jeweiligen Umwelt – ebenso wie das Wissen um zeitliche Abläufe eine Fähigkeit, die jeder Mensch als Säugling erst erlernen muß – bildet sie die axiomatische Grundlage individuellen Bewußtseins. Vgl. den Ausschnitt von Immanuel KANT, Die notwendigen Formen der Wahrnehmung, in: Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen, hg. v. Lambert WIESING (suhrkamp tb wissenschaft 1562), Frankfurt a.M. 2002, S. 127-138, hier bes. S. 129f.; DERS. Theoretische Philosophie. Texte und Kommentar, hg. v. Georg MOHR, Bd. 1: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe (suhrkamp tb wissenschaft 1518), Frankfurt a.M. 2004, S. 101-133 passim. Zur bisherigen Erforschung des mittelalterlichen Geschichtsbewußtseins vgl. HansWerner GOETZ, Einleitung, in: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen, hg. v. DEMS., Berlin 1998, S. 9-16 (sowie die übrigen Beiträge des Bandes); DERS., Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter (Orbis Mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 1), Berlin 1999, S. 1439.
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mens der Wahrnehmung und der derzeitigen Konjunktur des Begriffs in geschichtswissenschaftlichen Abhandlungen einige klärende Vorbemerkungen erfordert, um Mißverständnisse zu vermeiden.6 Diese Ausführungen verstehen sich nicht als end- bzw. alleingültige Definition, sondern sollen lediglich in thematischer Engführung zur Vergangenheit das hier zugrundeliegende Konzept erläutern: Jede Beschäftigung mit der Vergangenheit, so ist in den historischen Wissenschaften hinlänglich gezeigt worden,7 resultiert aus Anlässen in der Gegenwart. Jedes Bild von der Vergangenheit ist unvermeidbar von aktuellen Ansichten und Interessen des Zurückblickenden nicht nur – im Sinne klassischer Quellenkritik – gefärbt, sondern dezidiert gestaltet bzw. ‚konstruiert‘.8 Zentrale neuronale Prozesse wie Erinnern und Vergessen prägen, neben bewußter und unterbewußter Auswahl der Inhalte und (zwangsläufig) tendenziöser Darstellung,9 einen jeden historischen Rückblick.10 Kurz: Temporale Referenzebene für 6
Vgl. exemplarisch für die große Zahl jüngerer Arbeiten, die mit dem Begriff ‚Wahrnehmung‘ operieren, die Aufstellung und Kategorisierung bei Hartmut BLEUMER u. Steffen PATZOLD, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittelalters, in: Wahrnehmungs und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. DENS. (Das Mittelalter 8, 2003), Berlin 2003, S. 11-15, sowie die Aufstellung bei Hans-Werner GOETZ, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: ebd., S. 23-33, hier S. 23f. mit Anm. 1ff. (ND. in: DERS. Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter, hg. v. Anna AURAST, Simon ELLING, Bele FREUDENBERG, Anja LUTZ u. Steffen PATZOLD, Bochum 2007, S. 19-29, hier S. 19f. mit Anm. 1ff.). 7 Vgl. neben den in Anm. 6 genannten Publikationen vor allem GOETZ, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein (wie Anm. 5), S. 13-25. 8 Zum Konstruktionscharakter der Vergangenheit in mittelalterlicher Historiographie vgl. etwa Hans-Werner GOETZ, „Konstruktion der Vergangenheit“. Geschichtsbewußtsein und „Fiktionalität“ in der hochmittelalterlichen Chronistik, dargestellt am Beispiel der Annales Palidenses, in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. v. Johannes LAUDAGE (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), Köln-Weimar-Wien 2003, S. 225-257, bes. S. 225-242 (ND. in: DERS., Vorstellungsgeschichte [wie Anm. 6], S. 523-544, bes. S. 523-534); zum Konstruktionsbegriff ferner Simon ELLING, Konstruktion, Konzeption und Wahrnehmung von Vergangenheit. Das Beispiel der Vita Heinrici II imperatoris Adalbolds von Utrecht, in: Bilder – Wahrnehmungen – Vorstellungen. Neue Forschungen zur Historiographie des hohen und späten Mittelalters, hg. v. Jürgen SARNOWSKY (Nova Mediaevalia 3), Göttingen 2007, S. 33-53, hier S. 34-39. 9 Vgl. Johannes FRIED, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. v. Jürgen MIETHKE u. Klaus SCHREINER, Sigmaringen 1994, S. 73-104, der auf die mittlerweile vielzitierte „doppelte Theoriebindung“ der Historiker hinwies. 10 Auf die besonderen Probleme, die diese Einsicht für die historischen Wissenschaften nach sich zieht, ist jüngst von prominenter Seite mehrfach mit Nachdruck aufmerksam gemacht worden. Vgl. Johannes FRIED, Geschichte und Gehirn. Irritationen der Geschichtswissenschaft durch Gedächtniskritik (Akademie der Wissenschaften und der Lite-
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die Darstellung von Vergangenheit ist nicht die Vergangenheit, sondern die jeweilige Gegenwart. Oder noch prägnanter formuliert: Gegenwart generiert Vergangenheit; zumindest in dem Sinne, in dem letztere für den Menschen relevant ist. Denn Vergangenheit stricte sensu, also als zurückliegender Teil eines linearen Zeitablaufes verstanden, kann nicht sinnlich wahrgenommen werden – ebensowenig wie die eigentliche Gegenwart, die im Moment der bewußten Reflexion durch das Individuum bereits nicht mehr Gegenwart ist (entsprechend läßt sich auch keine physikalische ‚Dauer‘ der Gegenwart messen).11 Die Unmöglichkeit sinnlicher Wahrnehmung gilt auch für die Zeit im Allgemeinen, die als unmittelbar gegebenes Phänomen bzw. „Vorstellung a priori“ im Sinne Kants überhaupt erst „formale Bedingung“12 jeglicher Wahrnehmung von Vergangenheit – wie sie hier verstanden werden soll – ist.13 Zudem besitzt ‚Vergangenheit‘ an sich keine materielle Existenz, welche im Wahrnehmungsprozeß verfälscht perzipiert werden könnte, sondern ist ein amorphes, stets aktualisiertes Produkt menschlichen Geistes. Jene Vergangenheit, an welcher der Mensch sein Denken und Handeln ausrichtet, ist immer das empfundene Ergebnis gegenwärtiger geistiger Operationen, die auf vergangenen Phänomenen, welche sich in die Erinnerung eingeschrieben haben, aufbauen, der Vergangenheit selbst aber nicht (mehr) teilhaftig ratur, Mainz / Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse, Jahrgang 2003, Nr. 7), Stuttgart 2003; ausführlich DERS., Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004; vgl. neuerdings auch den Versuch einer Umsetzung am Beispiel der Konstantinischen Schenkung in DERS., Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and its Original Meaning. With a Contribution by Wolfram Brandes: „The Satraps of Constantine“ (Millennium-Studien zur Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. / Millennium Studies in the Culture and History of the First Millennium C.E. 3), Berlin 2007; mit anderer Akzentuierung ferner GOETZ, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster (wie Anm. 6); DERS., Vorstellungen und Wahrnehmungen mittelalterlicher Zeitzeugen. Neue Fragen an die mittelalterliche Historiografie, in: Zwischen Politik und Kultur. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Mittelalter-Didaktik, hg. v. Wolfgang HASBERG u. Manfred SEIDENFUSS (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik 6), Neuried 2003, S. 45-57. 11 Allerdings gibt es durchaus ein ständig im Wandel begriffenes, individuelles Verständnis eines bestimmten Zeitraumes als der jeweiligen Gegenwart, das LE GOFF, Geschichte und Gedächtnis (wie Anm. 3), S. 26f., treffend als „Gegenwartsdauer“ beschrieben hat. 12 Vgl. KANT, Theoretische Philosophie. Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 4), S. 113122, bes. S. 116f. (dort auch das Zitat). Vgl. auch oben Anm. 4. 13 Im übrigen zeigen rezente Publikationen, daß auch in den Naturwissenschaften immer mehr die Erkenntnis gewonnen wird, daß Zeit (auch jenseits der Raum-Zeit-Problematik) kein absolutes Phänomen ist, sondern individuell und in verschiedenen Situationen unterschiedlich wahrgenommen wird. Vgl. exemplarisch David M. EAGLEMAN, Peter U. TSE, Dean BUONOMANO, Peter JANSSEN, Anna Christina NOBRE u. Alex O. HOLCOMBE, Time and the Brain. How Subjective Time Relates to Neural Time, in: The Journal of Neuroscience 25 (45), 2005, S. 10369-10371, die vor allem die neuronalen Grundlagen unterschiedlichen Zeitempfindens im Verhältnis zur physikalischen ‚Reaktionszeit‘ des Hirns thematisieren.
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sind. Das Etikett ‚vergangen‘ beschreibt im menschlichen Denken mithin keinen zeitlichen Aggregatzustand, der sich messen oder belegen ließe. Vielmehr wird erinnerten und/oder – auf welche Art auch immer – tradierten Sachverhalten (nicht Tatsachen!) die Qualität des ‚vergangen Seins‘ zugeschrieben, sie werden als vergangen ‚wahrgenommen‘. Diese temporale Zuschreibung ist jedoch keineswegs absolut, sondern erfolgt – abhängig vom Individuum wie vom Kontext – für jede Aussage aufs neue und kann sich entsprechend für ein und denselben Sachverhalt in einem anderen Kontext oder Diskurs (auch bzw. gerade innerhalb einer Quelle) ändern. Die mentale Grenze zwischen der wahrgenommenen Vergangenheit und Gegenwart oszilliert daher ständig und sorgt auf diese Weise für eine variierende „Gegenwartsdauer“14 und ein weit komplexeres Vergangenheitsbild der Quellen, als es die bisherigen Forschungen zum Geschichtsbewußtsein, die eher kohärente Geschichtsbilder oder mentale Einstellungen gegenüber der Vergangenheit als Gesamtphänomen herauszuarbeiten versuchten, zutage gefördert haben. Auch wenn diese Erkenntnisse selbstverständlich unverzichtbare Grundlage einer jeden Untersuchung bleiben, so gilt in unserem Fall das Interesse nicht so sehr solchen Vorstellungen und Wertungen, die von den Zeitgenossen mit der jeweils in Rede stehenden Vergangenheit verbunden wurden, sondern zunächst der Frage, welche der in den Quellen geschilderten Sachverhalte überhaupt dezidiert als ‚vergangen‘ von der empfundenen Gegenwart abgegrenzt wurden, und – soweit möglich – welche Motive dieser Abgrenzung zugrunde lagen und wie sie darstellerisch umgesetzt wurden. Als Quellengrundlage für eine entsprechend gelagerte Untersuchung, welche die temporale Differenzierung zwischen Vergangenheit und Gegenwart mit ihren Motiven und Ursachen thematisiert, bieten sich naturgemäß besonders historiographische Quellen an. Schließlich sind, unbeschadet der Tatsache, daß Geschichtsschreibung sich per Definition mit Vergangenem befaßt, gerade in dieser Quellengattung zeitliche Differenzierungen auszumachen; denn eine Geschichtsschreibung ohne aktuellen Sinn und Bezug, ohne den Sitz im Leben und damit in der Gegenwart wäre undenkbar. Auch in der Sicht der Zeitgenossen war ein solcher Bezug stets gegeben, wie die häufigen Anspielungen auf die aktuelle Situation in historiographischen Werken belegen – der Hinweis auf das Eingangszitat mag an dieser Stelle genügen –, die zugleich als erster Ansatzpunkt für eine Analyse der Vergangenheitswahrnehmung zu betrachten sind. Zu bedenken ist ferner, daß auch in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung verschiedene Formen, von der Weltchronik bis zur reinen ‚Zeitgeschichte‘ bzw. „Gegenwartsgeschichte“,15 existierten. Und auch das zeitgenössische Verständnis der historia als narratio rerum gestarum umfaßte durchaus Berichte über gesta der
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Gegenwart. Nicht zuletzt wies die Geschichte als magistra vitae für die Zeitgenossen ohnehin stets einen direkt faßbaren Wert für die Gegenwart auf.16 Ist die zeitliche Selbstverortung ein individueller Prozeß, der zwar von äußeren Umständen als Referenzpunkten beeinflußt, aber nicht gesteuert wird und im Endeffekt Ausfluß persönlicher Identitätsbildung ist, so stellt sich im Hinblick auf historiographische Schriften die Frage, wie sehr dieser Prozeß durch die Tendenz der Werke, ihre Absichten und causae scribendi beeinflußt wurde bzw. diese überlagerte, gerade wenn kollektive Identitäten neben das Ich der Verfasser treten (wie etwa bei Stammes- oder Institutionsgeschichten). Sie wird noch dringender, wenn die Quellen eine wie auch immer geartete Wechselwirkung zwischen individueller und kollektiver Anschauung nachgerade forcieren; so etwa im Falle von Bischofsgesten, die ganz dezidiert die Identität der jeweiligen Diözese als Institution in Form eines Tatenberichts ihrer Prälaten darzustellen und zu propagieren suchten, wobei nicht selten auf antike und urchristliche Traditionen verwiesen wurde.17 Für eine Analyse der Vergangenheitswahrnehmung in historiographischen Quellen bietet es sich daher an, auf frühmittelalterliche Bischofsgesten zurückzugreifen, da gerade bei diesen Werken ein Spannungsverhältnis von individuellem Zeitempfinden des Verfassers und gleichmäßig chronologisch erzählter Geschichte der Institution zu erwarten steht. Einen besonderen Reiz gewinnt letzteres gerade dann, wenn es sich bei dem untersuchten Werk um eine Auftragsarbeit handelt, die offenbar intendierte, eine Art ‚Corporate Identity‘ eines Bistums zu propagieren, dem der Verfasser selbst nicht angehörte, wie es etwa für den eingangs zitierten ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ der Fall ist.18 Hinsichtlich der causa scribendi und Darstellungsabsicht dieser Quelle gibt es in der Forschung unterschiedliche Auffassungen. Zwar besteht Einigkeit über eine „politische Zielsetzung“.19 Doch ob diese in der Propagierung einer reinen karolingisch-dynastischen „court history“ vor dem Hintergrund einer angestrebten Nachfolgeregelung zu sehen ist, wie Walter Goffart und ihm folgend ein Großteil der Forschung gemeint hat,20 oder ob nicht vielmehr originäre Interes16 Zum mittelalterlichen Stellenwert vgl. Hans-Werner GOETZ, Die Gegenwart der Vergangenheit im früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein, in: HZ 255, 1992, S. 61-97, hier passim (ND. in: DERS., Vorstellungsgeschichte [wie Anm. 6], S. 453-476). 17 Zum Genre der Institutionsgeschichtsschreibung vgl. Michel SOT, Local and Institutional History (300-1000), in: Historiography in the Middle Ages, hg. v. Deborah MAUSKOPF DELIYANNIS, Leiden-Boston 2003, S. 89-114. 18 Vgl. Reinhold KAISER, Die Gesta episcoporum als Genus der Geschichtsschreibung, in: Historiographie im frühen Mittelalter, hg. v. Anton SCHARER u. Georg SCHEIBELREITER (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32), München 1994, S. 459-480, hier S. 466 (mit Bezug auf Goffart). 19 Ebd., S. 478. 20 Vgl. Walter GOFFART, Paul the Deacon’s ‚Gesta episcoporum Mettensium‘ and the Early Design of Charlemagne’s Succession, in: Traditio 42, 1986, S. 59-93, das Zitat auf S. 91; ihm folgend KAISER (wie Anm. 19); Rosamond MCKITTERICK, Paolo Diacono e i Fran-
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sen des Metzer Bistums und seines Prälaten Angilramn im Streben nach einer kirchlichen Vormachtstellung die Richtung vorgaben, wie zuletzt wieder von Damien Kempf behauptet wurde,21 ist nicht endgültig geklärt. Wenn also die Metzer Bistumsgeschichtsschreibung des Paulus Diaconus, die in ihrer Grundstruktur häufig als nachgerade (untypisch-)prototypisch für die folgenden Werke dieses Genres angesehen wird,22 dezidiert politische Ziele verfolgte, die nicht notwendigerweise auch die ihres Verfassers waren – worin ein deutlicher Unterschied zu anderen Bistumsgesten zu sehen ist23 –, bietet es sich an, an ihrem prominenten Beispiel zu untersuchen, ob bzw. wie sehr die individuelle Wahrnehmung des Verfassers Einfluß auf die Darstellung der Vergangenheit der Institution des Bistums Metz hatte. Darüber hinaus wäre zu analysieren, ob bestimmte temporale Wahrnehmungs- und Deutungsmuster für Paulus Diaconus’ Arbeit bestimmend waren und welche Schlüsse diese möglicherweise im Hinblick auf die in der Forschung umstrittene politische Agenda des ‚Liber de episcopis Mettensibus‘24 zulassen, eines immerhin stilprägenden Werks,25 das in sei-
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chi. Il contesto storico e culturale, in: Paolo Diacono. Uno scrittore fra tradizione longobarda e rinnovamento carolingio, Atti del Convegno Internazionale di Studi, Cividale del Friuli – Udine, 6-9 maggio 1999, hg. v. Paolo CHIESA (Libri e Bibliotheche 9), Udine 2000, S. 9-29, hier S. 23: „Inoltre le Gesta espiscoporum [sic!] Mettensium, anch’esse di Paolo, commissionate dal vescovo Angilram di Metz nel 781, commemorano eventi di importanza vitale per la chiesa e per il regno franchi nella loro interezza. Paolo omette ogni riferimento ai re merovingi e alla loro chiesa. Il suo testo, come ha dimostrato Goffart, ha lo scopo di rafforzare la legittimità della successione carolingia e della loro rivendicazione della sovranità.“ Vgl. Damien KEMPF, Paul the Deacon’s Liber de episcopis Mettensibus and the Role of Metz in the Carolingian Realm, in: Journal of Medieval History 30, 2004, S. 279-299. Die These zuvor bereits bei Aline POENSGEN, Geschichtskonstruktionen des frühen Mittelalters zur Legitimierung kirchlicher Ansprüche in Metz, Reims und Trier, Diss. phil., Marburg 1971. Vgl. exemplarisch für den Großteil der Publikationen Michel SOT, Autorité du passé lointain, autorité du passé proche dans l’historiographie épiscopale (VIIIe-XIe siècle). Le cas de Metz, Auxerre et Reims, in: L’autorité du passé dans les sociétés médiévales, hg. v. Jean-Marie SANSTERRE (Collection de l’école francaise de Rome 333 / Insitut historique belge de Rome 52), Brüssel-Rom 2004, S. 139-162, hier S. 141. Gegen eine zu einheitliche Sichtweise der Bischofsgesten als stereotypes Genre – und damit implizit auch gegen einen Vorbildcharakter des ‚Liber‘ – wendet sich KAISER (wie Anm. 18). Sofern sie irgendwie in ihrer Funktion identifizierbar oder gar namentlich bekannt sind, waren die Verfasser der meisten frühmittelalterlichen Bistumsgesten – ebenso wie ihre Auftraggeber – Angehörige des Klerus der betreffenden Diözese. Vgl. Michel SOT, Gesta episcoporum. Gesta abbatum (Typologie des sources 37), Turnhout 1981, S. 22f., der ausdrücklich auf Paulus Diaconus als Ausnahme hinweist. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1). Die Einschätzung der Metzer Bistumsgeschichte des Paulus Diaconus als stilprägendes Vorbild aller weiteren Bischofsgesten nördlich der Alpen ist Legion. Vgl. exemplarisch die Handbücher von Franz BRUNHÖLZL, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 1: Von Cassiodor bis zum Ausklang der karolingischen Erneuerung, Mün-
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ner Form teilweise den ‚Liber pontificalis‘26 der römischen Kirche imitierte27 und das für den Raum nördlich der Alpen „das früheste Beispiel einer historiographisch erfaßten Institution neben dem Königtum“ überhaupt darstellt.28 Dies soll im Folgenden geschehen, um am Beispiel der Frage, ob der ‚Liber‘ sich primär an den Interessen von Diözese oder Dynastie orientierte, exemplarisch jene Differenzierungsmöglichkeiten aufzuzeigen, welche die oben skizzierte Untersuchung der Vergangenheitswahrnehmung mittelalterlicher Geschichtsschreiber eröffnet. Der Verfasser des ‚Liber‘, Paulus Diaconus,29 um 720 in Friaul geboren und aus langobardischem Adel stammend,30 war ehedem unter den Königen Ratchis
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chen 1975, S. 262 („das Werk des Paulus [steht] am Anfang einer langen Reihe mittelalterlicher Bischofs- und Bistumsgeschichten“); Johannes FRIED, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 (Propyläen Geschichte Deutschlands 1), Berlin 1994, S. 263 („die erste Bistumsgeschichte nördlich der Alpen“), Hans-Werner GOETZ, Europa im frühen Mittelalter, 500-1050 (Handbuch der Geschichte Europas 2), Stuttgart 2003, S. 273 („die erste eigentliche Bistumsgeschichte“), und Rudolf SCHIEFFER, Die Zeit des karolingischen Großreichs (714-887) (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 2), Stuttgart 102005, S. 12 („Paulus Diaconus [übertrug] das Muster des römischen Liber Pontificalis auf die Bischofsreihe der Stadt Metz [...] und [regte] damit manche weiteren Werke über die Taten (gesta) der einander folgenden Vorsteher eines Bistums [an]“). Zur Form und Funktion des ‚Liber pontificalis‘ als Vorbild der späteren Bischofsgesten vgl. BRUNHÖLZL (wie Anm. 25), S. 262; ferner Harald ZIMMERMANN, Art. Liber pontificalis, in LexMA V, Sp. 1946f.; DERS., Das Papsttum im Mittelalter. Eine Papstgeschichte im Spiegel der Historiographie, Stuttgart 1981; SOT (wie Anm. 17), S. 96-100. Gegen eine Überbetonung des Vorbildcharakters wendet sich KAISER (wie Anm. 18), S. 460 mit Anm. 5. Vgl. François Louis GANSHOF, L’historiographie dans la monarchie franque sous les Mérovingiens et les Carolingiens. Monarchie franque unitaire et Francie Occidentale, in: La storiografia altomedievale (Settimane di Studio XVII), Spoleto 1970, Bd. 2, S. 631-685, hier S. 657; Ernesto SESTAN, La storiografia dell’Italia longobarda: Paolo Diacono, in: ebd., Bd. 1, S. 357-386, hier S. 367, der ebd. gerade Paulus’ Kenntnis des ‚Liber pontificalis‘ hervorhebt: „Né va dimenticato, nel caso di Paolo Diacono, il Liber pontificalis della chiesa romana, che Paolo Diacono ben conosce ed utilizza [...].“ Daß dabei nur ein Teil der Metzer Bistumsgeschichte, namentlich das Chrodegang-Kapitel, tatsächlich auch die Form des ‚Liber pontificalis‘ imitierte, hat u.a. Walter GOFFART, The Narrators of Barbarian History (A.D. 550-800). Jordanes, Gregory of Tours, Bede, and Paul the Deacon, Princeton 1988, S. 373f., deutlich gemacht. Zuvor bereits DERS. (wie Anm. 20), S. 67. SCHMALE (wie Anm. 2), S. 136. Vgl. ihm folgend Dirk SCHLOCHTERMEYER, Bistumschroniken des Hochmittelalters. Die politische Instrumentalisierung von Geschichtsschreibung, Paderborn-München-Wien-Zürich 1998, S. 13. Zur Person des Paulus Diaconus vgl. auch im Folgenden immer noch am ausführlichsten Ludwig BETHMANN, Paulus Diaconus Leben und Schriften, in: Archiv 10, 1851 (ND. 1979), S. 247-334; ferner Wilhelm WATTENBACH u. Wilhelm LEVISON, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, II. Heft: Die Karolinger vom Anfang des 8. Jahrhunderts bis zum Tode Karls des Großen, bearb. v. Heinz LÖWE, Weimar 1953, S. 212-224; Franz Josef WORSTBROCK, Art. Paulus Diaconus, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 11: Nachträge und Korrekturen, Berlin-New York 2004, Sp. 1172-1186.
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und Desiderius eng mit dem Königshof in Pavia verbunden gewesen, wo er eine hervorragende Ausbildung genossen hatte, und später seiner Schülerin, der Königstochter Adelperga, an den Herzogshof von Benevent gefolgt. Um 774 schließlich wurde er Mönch im Kloster Montecassino.31 Dergestalt ‚italienisch‘ sozialisiert, war Paulus Diaconus ursprünglich in den frühen 80er Jahren des 8. Jahrhunderts aus seiner Heimat an den Hof Karls des Großen gekommen, um sich – u.a. mit einer an den König gerichteten Elegie32 – für die Freilassung seines Bruders Arichis einzusetzen, der sich wohl seit seiner Beteiligung an einem Aufstand in Friaul 776 in fränkischer Gefangenschaft befand.33 Die schriftstellerischen Fähigkeiten des langobardischen Mönches,34 die dieser u.a. mit seiner ‚Historia Romana‘, einer Überarbeitung und Weiterführung von Eutrops ‚Breviarium ab urbe condita‘, unter Beweis gestellt hatte, müssen bei diesem 30 Vgl. die Genealogie seiner eigenen Familie bei Paulus Diaconus, Historia Langobardorum lib. IV, c. 37, ed. Georg WAITZ (MGH SS rer. Germ. [48]), Hannover 1878, S. 164ff. 31 Zur Wahl Montecassinos als Kloster vgl. Marios COSTAMBEYS, The Monastic Environment of Paul the Deacon, in: Paolo Diacono (wie Anm. 20), S. 127-138, der ebd., S. 127f., davon ausgeht, daß die Frage nach dem Datum des Klostereintritts nicht zu beantworten sei. 32 Paulus Diaconus, Carmina X, Versus ad regem, ed. Ernst DÜMMLER, MGH Poet. Lat. I, Berlin 1881, S. 47f. 33 Zum (frühen) Verhältnis zwischen Paulus und Karl dem Großen an dessen Hof vgl. Germana GANDINO, La dialettica tra il passato e il presente nelle opere di Paolo Diacono, in: Paolo Diacono e il Friuli altomedievale (sec. VI-X). Atti del XIV Congresso internazionale di studi sull’Alto Medioevo, Bd. 1, Spoleto 2001, S. 67-97, hier S. 73f. 34 Zur Vielseitigkeit der historiographischen Arbeit des Paulus Diaconus vgl. etwa BRUNHÖLZL (wie Anm. 25), S. 315. Seine „nüchterne, quellengesättigte Darstellung [...], die Vergangenes als Interessantes schildert, aber an heilsgesch[ichtlicher] Einordnung und unmittelbarem Gegenwartsbezug nicht interessiert ist“ (C. Robert III. PHILLIPS, Art. Paulus Diaconus, in: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 9, Stuttgart-Weimar 2000, Sp. 440f., hier Sp. 440), ist schon lange ‚aktenkundig‘. Walter Berschin hat diese eher sachliche Art der Schilderung, die gerade in den Viten so viel der in anderen Fällen gerne gebotenen Wunder entbehrt und der eine intensive Beschäftigung mit den Quellen zugrunde lag, zu Recht „nach den Maßstäben der Zeit [...] wissenschaftlich“ genannt. Zur ‚historisch-kritischen‘ Arbeits- und Zitierweise Paulus’ vgl. Walter BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. II: Merowingische Biographie, Italien, Spanien und die Inseln im frühen Mittelalter (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 9), Stuttgart 1988, S. 149-154, das Zitat auf S. 153. Vgl. zu Paulus’ Prosa ferner FRIED (wie Anm. 25), S. 262f., etwa im Hinblick auf Paulus’ Bearbeitung von Eutrops ‚Breviarium ab urbe condita‘: „Paul hatte viel gelesen und schrieb ein gewandtes Latein, seine Verse besaßen eine gewisse Eleganz.“, nicht ohne die einnehmende Wirkung seines guten Stils zu vergessen: „So gewann er die Prinzessin [Adelperga, die Tochter des Langobardenkönigs Desiderius, deren Lehrer Paulus war] und nicht nur sie“ (ebd., S. 263). Eine deutlich negativere Einschätzung der schriftstellerischen Qualitäten des langobardischen Mönches im Hinblick auf Poesie findet sich bei Paul von WINTERFELD, Paulus diaconus oder Notker der Stammler?, in: NA 29, 1904, S. 468-471, bes. S. 471: „Diese [...] Scherze, [...] vollendet in ihrer Art, [...] sind viel zu gut für Paulus diaconus“.
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Anlaß das Interesse des Frankenkönigs erregt haben, der ihn – vermutlich nicht ohne sanften Druck – in seinen berühmten Gelehrtenzirkel, die sogenannte ‚Hofschule‘,35 aufnahm,36 wo Paulus bis 785/86 verblieb. Während dieses Aufenthaltes im Umkreis des fränkischen Königshofes entstand, vermutlich im Jahre 784,37 auch der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ auf Bitten des Metzer Bischofs und frisch ernannten Erzkapellans Angilramn.38 Der Inhalt des knappen Werkes ist hinreichend bekannt: In einer recht ungleichmäßigen „Verbindung von zählender (Chronographie) und erzählender (Historia) Geschichte“39 listet Paulus 37 Prälaten der Metzer Kirche vom Bistumsgründer, dem hl. Clemens, bis zu Angilramns unmittelbarem Vorgänger Chrodegang chronologisch auf und referiert (teilweise) ihre hervorragenden Taten und Qualitäten. Dabei stützte er sich offenbar auf die Diptychen der Metzer Kirche, die Historien Gregors von Tours und die Chroniken Fredegars sowie eventuell weitere, nicht näher bekannte Quellen, die er selbst vage als relatio prisca40 und relatio antiqua41 bezeichnet.42 Zudem dürfte auch mündlich tradiertes 35 Zur Hofschule Karls des Großen vgl. SCHIEFFER (wie Anm. 25), S. 132f., mit der dort in Anm. 32f. genannten Literatur. 36 Anders GOFFART (wie Anm. 27), S. 341, der ein Zusammentreffen von Karl dem Großen und Paulus Diaconus bereits 781 in Rom vermutet, anläßlich dessen Paulus eine Einladung an den fränkischen Hof erhalten haben soll. 37 Zur Bestimmung des Abfassungszeitraumes (bereits bekannt sind der Tod der Königin Hildegard im Vorjahr und die Heirat Karls des Großen mit Fastrada, doch war letzterer Beziehung noch kein Kind entsprossen; auch der Zug des Königs gegen Arichis II. von Benevent im Jahre 786 stand noch aus) vgl. Michel SOT, Le Liber de episcopis Mettensibus dans l’histoire du genre ‚Gesta episcoporum‘, in: Paolo Diacono (wie Anm. 20), S. 527-549, hier S. 529, der die ursprüngliche Datierung von Pertz bestätigt; ebenso bereits GOFFART (wie Anm. 27), S. 373, und KEMPF (wie Anm. 21), S. 282f. 38 So Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, ed. Ludwig BETHMANN u. Georg WAITZ (MGH SS rer. Lang. I), Hannover 1878, S. 219, selbst: [...] Sed et ego in libro quem de episcopis eiusdem civitatis conscripsi flagitante Angelramno, viro mitissimo et sanctitate praecipuo, praefatae ecclesiae archiepiscopo, de hoc sacratissimo viro Arnulfo quaedam eius miranda conposui, quae modo superfluum duxi replicare. Zur Person Angilramns, seiner Ernennung zum Erzkapellan (784), der Verleihung des Palliums an ihn und seinen Dispens von der bischöflichen Residenzpflicht vgl. Otto Gerhard OEXLE, Die Karolinger und die Stadt des heiligen Arnulf, in: FMSt 1, 1967, S. 250-364, hier S. 296f.; POENSGEN (wie Anm. 21), S. 15; SOT (wie Anm. 37), S. 529; Damien KEMPF, Art. Angilram, bishop of Metz, d. 791, in: International Encyclopaedia for the Middle Ages-Online. A Supplement to LexMA-Online. Turnhout: Brepols Publishers, 2006, in Brepolis Medieval Encyclopaedias [16. Februar 2010]. 39 WORSTBROCK (wie Anm. 29), Sp. 1178. KAISER (wie Anm. 18), S. 462, spricht im Hinblick auf die Bischofsgesten allgemein von einem „modu[s] mixtu[s] zwischen den beiden Extremen der (fast nur) ‚zählenden‘ Geschichtsschreibung der Bischofslisten und der (fast nur) ‚erzählenden‘ Geschichtsschreibung [nicht nur, S.E.] in den ‚Gegenwartskapiteln‘ der Bistumsgeschichten.“ Der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ wäre mithin ein Extrembeispiel für diese Mischform (vgl. ebd., S. 469). 40 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 262, Z. 22. 41 Ebd., S. 261, Z. 19.
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Wissen in die Schilderung eingeflossen sein.43 Allerdings beschränkt sich die Darstellung der meisten Bischöfe auf eine bloße Nennung ihrer Namen und einige Gemeinplätze; teilweise gefolgt von der lapidaren Feststellung, daß mehr Informationen über sie nicht in Erfahrung zu bringen gewesen seien.44 Lediglich vier – angeblich mit Bedacht ausgewählte45 – Bischöfe werden ausführlicher gewürdigt: der Bistumsgründer Clemens, der wundertätige Auctor, der wegen seiner (angeblichen) Rolle während der Hunneneinfälle offenbar auch im 8. Jahrhundert noch große Verehrung erfuhr, ferner der karolingische Spitzenahn Arnulf, der die Nähe von Bistum und Herrscherdynastie verkörperte, sowie der idealtypische Chrodegang, dessen Kirchenreformen während seines rezenten Pontifikats46 noch in lebhafter Erinnerung waren.47 Diese recht inkon42 Zu den von Paulus benutzten Quellen vgl. auch M. CHAUSSIER, Dissertation sur l’origine apostolique de l’église de Metz, in den Prolegomena zur Edition des ‚Libellus de ordine episcoporum Mettensium‘, in: Migne PL 95, Paris 1861, Sp. 673-698, hier Sp. 679; ferner bes. zur von Paulus verwendeten Version der Historien Gregors von Tours Helmut REIMITZ, Die Konkurrenz der Ursprünge in der fränkischen Historiographie, in: Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, hg. v. Walter POHL (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8), Wien 2004, S. 191-209, hier S. 206f. 43 Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 22 mit Anm. 2, die sich auf Paulus Diaconus selbst beruft, der z.B. Aussagen über Bischof Clemens mit der Einschränkung ut ferunt versieht (Liber de episcopis Mettensibus [wie Anm. 1], S. 261, Z. 23). 44 Vgl. etwa Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 262, Z. 6f. (zu den Bischöfen Felix, Patiens, Victor und seinem gleichnamigen Nachfolger, Simeon und Sambatus): Quorum omnium studiis certum est, crevisse Dei ecclesiam, quamvis eorum nobis specialiter occulta sunt gesta. Tatsächlich sind bis heute keine sicheren Erkenntnisse zu den Metzer Bischöfen vor der Mitte des 6. Jahrhunderts zu gewinnen. Vgl. Hans-Walter HERRMANN, Zum Stande der Erforschung der früh- und hochmittelalterlichen Geschichte des Bistums Metz, in: RhVjbll. 28, 1963, S. 131-199, hier S. 153ff. 45 Zu Paulus’ möglichen Intentionen in der Auswahl vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 71; SOT (wie Anm. 37), passim, und KEMPF (wie Anm. 21), passim. Allerdings sollte auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß Paulus nur zu den vier ausführlicher behandelten Bischöfen ausreichend Quellen zur Verfügung standen und somit eher die Materiallage als inhaltliche Gründe für die ‚Auswahl‘ entscheidend waren. Vgl. dazu auch oben Anm. 44 und OEXLE (wie Anm. 38), S. 299. 46 Chrodegang starb am 6. März 766. Zu seiner Person und seinem Pontifikat vgl. den Sammelband Saint Chrodegang, Communications présentées au colloque tenu à Metz à l’occasion du douzième centenaire de sa mort, hg. v. Jean SCHNEIDER, Metz 1967; Otto Gerhard OEXLE, Art. Chrodegang, in: LexMA II, Sp. 1948ff.; Martin A. CLAUSSEN, The Reform of the Frankish Church. Chrodegang of Metz and the „Regula canonicorum“ in the Eighth Century (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 4,61), Cambridge 2004. 47 Nur die Chrodegang-Vita folgt in ihrer Anlage dem Vorbild des römischen ‚Liber pontificalis‘. Ob die übrigen drei Episoden nach den biblischen Erzählungen von der Schöpfung, der Sintflut und der Erwählung Jakobs nachempfunden sind, wie GOFFART (wie Anm. 20), S. 74-87, und DERS. (wie Anm. 27), S. 374, meint, sei dahingestellt. Zwar scheint besonders die Analogie zwischen Jakob und Arnulf und ihrer Bevorzugung der
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sistente Gewichtung der Viten einzelner Bischöfe, die die Geschichte der Metzer Bischöfe von späteren Bischofsgesten (und vom ‚Liber pontificalis‘) doch deutlich unterscheidet,48 und die nur spärlich enthaltenen Informationen zur civitas Metz haben in der Forschung teilweise dazu geführt, daß dem Werk des langobardischen Mönches eine höhere Qualität abgesprochen wurde. Im Vergleich mit anderen Bischofsgesten bleibe der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ des Paulus „ein Gerippe, nicht zufriedenstellend und beinahe unberührt von archivalischen oder ortsbezogenen Informationen“, so urteilte zumindest Walter Goffart.49 Doch hat hier der Wunsch, das Werk an der ‚Idealform‘ eines bestimmten Genres zu messen, den Blick auf die eigentlichen Intentionen des Verfassers verstellt,50 denn das kurze Werk ist alles andere als eine mißlungene Stilübung. Vielmehr war der ‚Liber‘ durchaus „kompositorisch geschlossen“51 und erfüllte, folgt man Aline Poensgen und jüngst Damien Kempf, als Auftragsarbeit eines der ausgewiesensten Gelehrten seiner Zeit, wohl handfeste (vor allem) kirchenpolitische Zwecke, die Bischof Angilramn zur Stärkung seiner Position und zum Wohl seiner Diözese vorgegeben haben dürfte.52 Schließlich war er es, der Paulus „drängte [...], zum Lob seiner Bischofsstadt die Feder zu spitzen.“53 Hintergrund war offenbar die Rivalität von Metz und Trier um die regionale Vormachtstellung im Rahmen einer von Karl dem Großen angestrebten neuen ‚Metropolitanverfassung‘.54 Der karolingische Vorort Metz, der sich nach Ausweis
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jüngeren Söhne offensichtlich, doch fragt sich, wieso sie von Paulus nicht explizit angesprochen wurde, zumal ebenfalls im Arnulf-Kapitel der Vergleich mit Gideon in aller Breite dargelegt wird (vgl. unten Anm. 132). Vgl. SOT (wie Anm. 37), S. 547ff.; KEMPF (wie Anm. 21), S. 283f. GOFFART (wie Anm. 27), S. 373 („Paul’s work is skeletal, unsatisfactory, and almost untainted by archival and other local information.“). Zu vergleichbaren Einschätzungen des ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ vgl. SOT (wie Anm. 37), S. 527, der ebd. neben Goffart auch Louis Duchesne („une oeuvre écrite à peu de frais“ [vgl. Louis DUCHESNE, Fastes épiscopaux de l’ancienne Gaule, Bd. 3: Les provinces du nord et de l’est, Paris 1915, S. 46]) und Ernesto Sestan („une oeuvre de commande et cela se sent un peu“ [vgl. SESTAN (wie Anm. 27), S. 367]) zitiert. Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 298. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 71. Vgl. ebd., S. 9-72, bes. S. 70ff.; REIMITZ (wie Anm. 42), S. 208; KEMPF (wie Anm. 21), passim, der gegen Goffart die Ergebnisse von Poensgen (offenbar leider in Unkenntnis ihrer Arbeit) im wesentlichen bestätigt und ebd., S. 298, feststellt: „The focus of Paul’s work is, first and foremost, Metz.“ GOFFART (wie Anm. 20), S. 91, war davon ausgegangen, daß im Verhältnis zu einer karolingisch-dynastischen Legitimationspropaganda „Metz and its bishops are the subordinate element“. FRIED (wie Anm. 25), S. 263. Vgl. OEXLE (wie Anm. 38), S. 320-325, der diese Ansprüche vor allem in Angilramn und seiner persönlichen Ausnahmestellung begründet sieht; POENSGEN (wie Anm. 21), S. 1019. Zur Rolle von Metz in der Trierer Kirchenprovinz vgl. ferner HERRMANN (wie Anm. 44), S. 131 u. S. 158, der zwar eine aufstrebende Stellung von Metz gegenüber Trier und
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der Quellen Ende des 8. Jahrhunderts nicht zuletzt wegen der dortigen Bemühungen um eine Liturgiereform nach römischem Vorbild als Avantgarde der fränkischen civitates betrachtete und dessen Bischof Angilramn vom König selbst mit einer herausgehobenen Stellung bedacht worden war, wollte in diesem Rahmen nicht hinter der traditionellen Metropole der Provinz, Trier, zurückstehen bzw. erhob selbst Metropolansprüche.55 Hierin, und nicht in einer Legitimierung der karolingischen Herrschaft, die primäre Stoßrichtung des ‚Liber‘ zu sehen widerspricht – wie erwähnt – ausdrücklich der These Goffarts, daß das Werk vor allem der Propagierung und Legitimierung offizieller politischer Sichtweisen des karolingischen Hofes, mithin des Königs selbst, im Zuge einer dynastischen Reorganisation des fränkischen Reiches diente.56 Entsprechend wäre auch nicht anzunehmen, daß Karl der Große selbst das Werk in Auftrag gab und seine eigenen Vorfahren besonders berücksichtigt sehen wollte.57 Eher wäre in ihm wohl, wie Poensgen meinte, der primäre Adressat in einem äußerst beschränkten Kreis intendierter Leser/Hörer zu sehen.58 Warum Bischof Angilramn von Metz unter den Gelehrten am Hofe Karls des Großen59 – und wohl kaum während der Durchreise in Metz60 – gerade den Langobarden Paulus als Verfasser der Geschichte seines Bistums auswählte, muß letztlich Spekulation bleiben. Ein maßgeblicher Faktor dürfte jedoch – neben persönlicher Sympathie – dessen nachweisliche Kenntnis des ‚Liber Pontificalis‘,61 der großen römischen Vorlage aller Bischofsgesten, gewesen sein, eben-
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Reims konstatiert, aber davon ausgeht, daß die kirchliche Abhängigkeit von Trier „nie ernstlich in Frage gestellt“ war (ebd., S. 158); ferner OEXLE (wie Anm. 38), S. 328-345. In diesem Zusammenhang sind auch die Verleihung des Palliums an Angilramn und die lange Sedisvakanz nach seinem Tod zu sehen. Vgl. OEXLE (wie Anm. 38), S. 290ff. u. S. 317-325; zur herausragenden Rolle des Reformers Chrodegang als „nouveau Clément“ vgl. Michel SOT, Historiographie épiscopale et modèle familial en occident au IXe siècle, in: Annales 33/1, 1978, S. 433-449, hier S. 441. Vgl. GOFFART (wie Anm. 27), S. 433: „his Gesta of the bishops of Metz is in the nature of a tract justifying the (securely entrenched) Carolingian régime“. Die These zuvor ausführlich bei DEMS. (wie Anm. 20), passim. Vgl. auch oben Anm. 20, 21 u. 52. So etwa noch Pierre RICHÉ, Die Karolinger. Eine Familie formt Europa, München 31995, S. 386 (Original: Les Carolingiens. Une famille qui fit l’Europe, Paris 1983), der ebd. davon spricht, daß Karl von Paulus eine Geschichte der Metzer Bischöfe „verlangt“ habe. Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 9-72, bes. S. 70ff. Auch KAISER (wie Anm. 18), S. 472, spricht trotz seiner Anlehnung an Goffarts Thesen davon, daß „das Interesse an dieser Art der Darstellung [wie sie in den Gesta episcoporum allgemein vorherrscht] nur ein lokal beschränktes sein konnte.“ Zum gelehrten Personenkreis am Hof vgl. oben Anm. 35. So u.a. R.-S. BOUR, Un passage très discuté de Paul Diacre, in: Annuaire de la Société d’Histoire et d’Archéologie de la Lorraine 44, 1935, S. 137-146, hier S. 137: „À son passage à Metz, l’évêque de cette ville, Angilram, lui demanda de composer une histoire des ses prédécesseurs.“ Vgl. oben Anm. 27.
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so wie die Tatsache, daß dieser mit dem Verfassen einiger Epitaphien62 bereits für Metz in Erscheinung getreten war. Wichtig ist aber festzuhalten, daß mit Paulus Diaconus – im Gegensatz zu den Verfassern anderer Bischofsgesten – doch ein Außenstehender, ein ethnisch und geographisch ‚Fremder‘,63 der sich nicht gerade durch eine deutliche Identifikation mit seinem fränkischen Exil auszeichnete, die Aufgabe übernahm, die Interessen des fränkischen Bistums in schriftlicher Form zu vertreten. Denn von einer emotionalen Bindung an die Bischofsstadt oder gar einer Identifikation mit ihr ist keinesfalls auszugehen, wie die distanzierte Beschreibung der civitas im ‚Liber‘,64 darüber hinaus aber auch ein Brief an Abt Theudemar von Montecassino erkennen lassen, in welchem Paulus über das Leben am Hofe und im fränkischen Kloster u.a. schreibt: mihi palatium carcer est [...]; solo ab hac patria debili corpusculo teneor.65 Möglicherweise aber sah Angilramn in dieser ‚Fremdheit‘ sogar einen Vorteil, denn Paulus schien vergleichsweise unverdächtig, nur zum eigenen Wohle pro domo zu schreiben. Die Wahl des Langobarden mag daher aus Sicht des Erzkapellans für den könig-
62 Diese auf Geheiß Karls des Großen entstandenen Epitaphien für die in Metz begrabenen Frauen der karolingischen Familie – u.a. Karls Gemahlin Hildegard – inseriert Paulus selbst in seinen ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ (wie Anm. 1), S. 265ff. 63 Zum Fremdheitsbegriff in der Forschung vgl. den Beitrag von Anna AURAST in diesem Band. 64 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 284. 65 Paulus Diaconus, Epistola ad Theudemarum, ed. Georg WAITZ (MGH SS rer. Lang. I), Hannover 1878, S. 16f., hier S. 16 (im Vorwort zur Edition der ‚Historia Langobardorum‘). Ein Reflex auf das zwiespältige Verhältnis, welches Paulus wohl mit Karl dem Großen, der immerhin seinen Bruder lange gefangenhielt, und dem Frankenreich verband, mag sich auch noch im ‚Chronicon Salernitanum‘ finden, dessen Verfasser Ende des 10. Jahrhunderts gar von Plänen des angeblichen ‚Desiderius-Anhängers‘ Paulus Diaconus zur Ermordung Karls des Großen zu berichten wußte – die fällige Körperstrafe habe aber die doch große Zuneigung des Herrschers verhindert, der ihn auf Drängen der Großen letztlich verbannte. (Vgl. Chronicon Salernitanum c. 9, ed. Georg Heinrich PERTZ [MGH SS III], Hannover 1839, S. 476. Übersetzungen [in Ausschnitten] bei BETHMANN [wie Anm. 29], S. 247-334, hier S. 267f., und bei Otto ABEL, Paulus Diaconus und die übrigen Geschichtsschreiber der Langobarden [Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 15], Berlin 1849, S. 192-202.) Zur – teilweise kritischen – Darstellung und Bewertung Karls des Großen im ‚Chronicon Salernitanum‘ vgl. auch Walter POHL, Werkstätte der Erinnerung. Montecassino und die Gestaltung der langobardischen Vergangenheit (MIÖG Ergänzungsbd. 39), Wien-München 2001, S. 60-65, bes. S. 60. Freilich ist diese Anekdote – wie BETHMANN (in dieser Anm.), schon richtig festgestellt hat – dem Bereich der Sage zuzuweisen, doch scheint auch hier wie so häufig der Kern der Erzählung aus dem tradierten Wissen darum bestanden zu haben, daß der große langobardische Gelehrte sich nicht vorbehaltlos an den fränkischen Hof band, sondern sich zeitlebens weit mehr seiner italienischen Heimat verbunden fühlte (So auch POHL [in dieser Anm.], S. 65). Von einer besonderen Abneigung des Paulus gegen die Franken oder Karolinger auszugehen, ist aber sicherlich falsch. So auch schon COSTAMBEYS (wie Anm. 31), S. 128.
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lichen Adressaten des ‚Liber‘ auch eine gewisse Objektivitätsgarantie beinhaltet haben. In diesem Zusammenhang ist die Frage zu stellen, wie weit Paulus mit den örtlichen Gegebenheiten und der Geschichte der civitas Metz überhaupt vertraut war. Obwohl, ausgehend von der Vermutung des Herausgebers Pertz, in der Literatur mehrfach die Ansicht geäußert bzw. schlicht vorausgesetzt wurde, Paulus habe das kurze Werk in Metz selbst verfaßt,66 scheint diesbezüglich durchaus Skepsis angebracht.67 Diese Einschätzung beruht – soweit ich sehe – im wesentlichen auf fünf eher schwachen Indizien: 1. einer Bemerkung des langobardischen Mönchs über eine wundersam instand gesetzte Altarplatte im ‚Liber‘ selbst;68 2. einem Brief, den dieser wohl am 10. Januar 783 „a ripa mosellae“ geschrieben hat,69 während zeitnah ein Aufenthalt Karls des Großen in Dieden66 Vgl. die entsprechende Bemerkung von Georg Heinrich PERTZ in der Einleitung seiner Edition des ‚Liber de episcopis Mettensibus‘, in: MGH SS II, Hannover 1852, S. 260 mit Anm. 3. Nicht umsonst schrieb er hier bezüglich des Abfassungsortes Metz jedoch „ut videtur“, da er seine These lediglich auf den von Paulus (ebd., S. 263) inserierten und eingangs zitierten ‚Mirakelbericht‘ über einen nach dem Zelebrieren der Messe durch Bischof Auctor verschwundenen Riss in einer Altarplatte des Metzer Stephansoratoriums stützte, in dem der Langobarde behauptet, daß die vormalige Fraktur auch durch intensives Betasten des Marmors nun kaum mehr bemerkt werden könne (vgl. oben Anm. 1). Der Halbsatz sed studiose contrectatum digitis veranlaßte Pertz, ebd. in Anm. 6 zu vermuten: „igitur Paullus ipsum inspexisse videtur.“ Es scheint gerade angesichts des eher distanzierten Kontextes nicht zwingend, daß Paulus hier persönlich ‚Hand angelegt‘ haben soll (auch wenn dies nicht ausgeschlossen werden kann). Vor allem aber mutet es äußerst gewagt an, von dieser Passage auf einen l ä n g e r e n A u f e n t h a l t w ä h r e n d d e r A b f a s s u n g d e s ‚ L i b e r ‘ zu schließen. Schließlich gehört einerseits der Hinweis auf die Möglichkeit, sich auch selbst haptisch von der Wirkung des beschriebenen Wunders überzeugen zu können, zum klassischen Repertoire frühmittelalterlicher Mirakelberichte und hat wohl rein affirmativen Charakter. Andererseits könnten entsprechende Äußerungen durchaus von Bischof Angilramn oder aus seinem Umfeld stammen, oder aber auch einer schriftlichen Vorlage entnommen sein. (Zu möglichen Vorlagen vgl. oben Anm. 42.) Für die Verbreitung der Metz-These in der Forschung vgl. Pertz folgend etwa POENSGEN (wie Anm. 21), S. 19; SOT (wie Anm. 37), S. 529f., der ebd. zwar gewisse Zweifel am Abfassungsort einräumt, aber doch von einer „connaissance effective des lieux par l’auteur“ ausgeht; DERS. (wie Anm. 22), S. 141: „Paul Diacre écrit en 784, très vraisemblablement à Metz, [...]“; indirekt auch KEMPF (wie Anm. 21), S. 284, der sich wie GOFFART (wie Anm. 27), S. 373, wundert, daß Paulus keine lokalen Urkunden als Quellen benutzt habe und die genannten Gebäude in Metz kaum beschreibe. 67 Vgl. dazu auch die Habilitationsschrift von Steffen PATZOLD, Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (MittelalterForschungen 25), Ostfildern 2008, S. 115f. mit Anm. 79 u. 80. 68 Vgl. oben Anm. 1 u. 66. 69 Paulus Diaconus, Epistola ad Theudemarum (wie Anm. 65). Die im ursprünglichen Brief genannten Namen, die eine nähere Bestimmung des Abfassungsortes zugelassen hätten, sind in der einzig erhaltenen Handschrift (Paris; BN, lat. 528), die den Brief als Formel überliefert, durch ille ersetzt. Hierzu und zur Datierung vgl. BETHMANN (wie Anm. 29), S. 260ff. u. S. 297.
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hofen bezeugt ist;70 3. der Annahme, Paulus habe Quellen benutzt, die nur in Metz zugänglich gewesen seien;71 4. seiner Kenntnis einiger Bauwerke, die letztlich aber doch selektiv und allgemein bleibt;72 und schließlich 5. seiner Autorschaft der im ‚Liber‘ erwähnten Epitaphien karolingischer Grablegen in Metz.73 Wirklich schlüssig jedoch läßt sich, wie bereits Georg Waitz richtig feststellte, aus keinem der Argumente von Pertz74 – und auch aus keinem neueren – ein zwingender Beweis für einen längeren Aufenthalt des Paulus Diaconus in Metz herleiten. Vielmehr ließe sich z.B. unter Hinweis auf die angeblich von Karl dem Großen persönlich zum ‚Liber‘ beigesteuerte Arnulf-Geschichte sowie Angilramns ständige Hofnähe seit seiner Ernennung zum Erzkapellan mit ebensogroßer Berechtigung eine Abfassung des Werkes am Hofe annehmen.75 Es existiert mithin kein einziger Beleg dafür, daß Paulus jemals für längere Zeit in Metz gewesen ist,76 wie dies etwa für die Pfalz Diedenhofen oder für Poitiers 70 Für Weihnachten 782 ist durch die ‚Annales regni Francorum‘ der Aufenthalt Karls des Großen in Diedenhofen belegt, vgl. BM2 260d. Aus dieser Nachricht mit Blick auf seine Aussagen (Aufenthalt in einem Kloster an der Mosel) im Brief an Theudemar (vgl. Anm. 69) zu schließen, daß Paulus am 10. Januar 783 in Metz gewesen sein müsse, erscheint nicht völlig abwegig, bleibt aber in jedem Fall Hypothese; nicht zuletzt, weil die Datierung des Briefes in das Jahr 783 einzig auf der Anwesenheit des Königs in Diedenhofen aufbaut und somit eine ständige räumliche Nähe des Paulus zum Hofe, aber nicht dessen unmittelbare Anwesenheit dort impliziert. 71 Vgl. etwa die Aufstellung der Quellen des Paulus bei CHAUSSIER (wie Anm. 42), Sp. 679, der ebd. zudem (ohne Quellen zu nennen) von einer Entsendung Paulus’ nach Metz durch Karl den Großen zwecks Gründung einer Schule ausgeht: „Il [sc. Charlemagne] le [sc. Paul] plaça quelque temps à Metz pour y fonder une école, et c’est là que Paul, à la prière de saint Angelramne, a écrit son Histoire des évêques de Metz [...]“. 72 Vgl. SOT (wie Anm. 37), S. 529f., hier S. 530: „Ces témoignages montrent bien que Paul Diacre connaissait les lieux.“ Diese Aussage muß zwar nicht zwangsläufig abgelehnt werden, doch sagt sie nichts über den Intensitätsgrad der Kenntnis aus. 73 Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 265ff. Paulus erwähnt ebd. S. 265, Z. 36, daß er selbst die Epitaphien auf Befehl Karls des Großen angefertigt habe. 74 So im Vorwort der Edition von Paulus Diaconus, Historia Langobardorum (wie Anm. 38), S. 20, Anm. 6 (in bezug auf den ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ und den Abfassungsort Metz): „Neque tamen locus a Pertzio, SS II, p. 260, allatus (ib. p. 263) docet, Paulum dum scriberet ibi praesentem fuisse.“ 75 Zur Arnulf-Episode Karls vgl. unten S. 228 mit Anm. 134; zu Angilramn vgl. die folgende Anm. 76 Auch der Hof Karls des Großen hat nach Ausweis der entsprechenden Regesten während der – kaum permanenten – Anwesenheit des langobardischen Autors (ca. zwischen 782 und 787) dort niemals nachweislich Station gemacht. Vgl. BM2 250-292, S. 102-121. Gewiß schließt dieser Befund einen Aufenthalt in Metz (etwa während der „in Francia“ verbrachten Zeiträume) nicht aus, doch scheint mir das Itinerar des Hofes, der, wenn der König sich zu dieser Zeit in Franken (und nicht in Sachsen oder Italien) aufhielt, meist in Aachen, Attigny oder Worms Station machte, ein starkes Indiz zu sein. Zu den bevorzugten Aufenthaltsorten vgl. auch Josef FLECKENSTEIN, Karl der Große und sein Hof, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 1: Persönlichkeit und Geschichte, hg. v.
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der Fall ist.77 Zugleich offenbart der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ – entgegen der Einschätzung von Pertz78 – inhaltlich eine deutliche Distanz des Autors und eine frappierende Unkenntnis der Stadt.79 Die von Poensgen, Goffart und Kempf als mögliches Indiz für tendenziöse Auslassung oder andere Schwerpunktsetzungen gewerteten ‚Lücken‘ in der Metzer Bischofsgeschichte80 dürften zu einem erheblichen Teil wohl eher (oder auch) relativer Unkenntnis des Verfassers geschuldet sein.81 Letztgültig wird sich ein Aufenthalt Paulus’ in Metz weder belegen noch ausschließen lassen. Mit ziemlicher Sicherheit aber war er mit der Stadt, ihren Traditionen und räumlichen Gegebenheiten weit weniger vertraut, als häufig angenommen wurde. Einzig die prominenten kirchlichen Gebäude werden ihm (aus eigener Anschauung oder Erzählungen) wohl näher bekannt gewesen sein – und auch hier ist ‚bekannt‘ als relativer Begriff zu betrachten. Woher auch immer Paulus seine wenigen konkreten Informationen bezog, eine große emotionale Bindung an die Diözese Metz bestand – im Gegensatz zu den Verfassern ande-
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Helmut BEUMANN, Düsseldorf 1965, S. 28f. Denkbar ist natürlich ebenfalls ein Kurzaufenthalt des Hofes in Metz auf der Durchreise, doch dürfte auch in einem solchen Fall Paulus’ Kenntnis der Stadt rudimentär geblieben sein. Bliebe noch der Fall, daß der langobardische Historiograph unabhängig vom Hof – denn nicht der gesamte Hofstaat begleitete Karl permanent – Metz (möglicherweise auch mehrfach) besucht hat, wie dies etwa durch Paulus selbst für Poitiers belegt ist (vgl. unten Anm. 77). Allerdings gründen die Versuche, einen Aufenthalt in Metz für 783/84 zu belegen, ausschließlich in der Annahme, die entsprechenden Werke (Epitaphien, ‚Liber‘) seien daselbst verfaßt worden (vgl. etwa GOFFART [wie Anm. 27], S. 342); der Zirkelschluß ist offensichtlich. Zudem ist nach 784 nicht einmal Angilramns häufiger Aufenthalt in seiner Bischofsstadt sicher anzunehmen, denn die sonst zwingende stabilitas loci war für den neuen Erzkapellan durch päpstlichen Dispens aufgehoben worden, wie ein ähnliches Ersuchen Karls des Großen für den neuen Erzkapellan Hildibold auf der Frankfurter Synode von 794 belegt, der das Recht haben sollte, am Hof zu weilen, sicut Angilramnum habuerat. Vgl. Capitulare Francofurtense a. 794 c. LV, ed. Albert WERMINGHOFF (MGH Conc. 2,1), Hannover 1906, S. 171; vgl. dazu ausführlich OEXLE (wie Anm. 38), S. 311-328. Paulus Diaconus, Historia Langobardorum I,5, (wie Anm. 30), S. 55 (Diedenhofen; im Hinblick auf die nach Breitengraden verschiedenen Sonnenstände und Schattenwürfe): Ego autem in Gallia Belgica in loco qui Totonis villa dicitur constitutus, status mei umbram metiens, decem et novem et semis pedes inveni. Sowie ebd. II,13, S. 95 (Poitiers; Paulus verfaßte auf Bitten des Abtes Aper von St. Hilarius ein Epitaph auf den dort bestatteten Fortunatus): Ad cuius [Fortunatus] ego tumulum, cum illuc orationis gratia adventassem, hoc epitaphium, rogatus ab Apro, eiusdem loci abbate, scribendum contexui. Vgl. oben Anm. 66. Vgl. PATZOLD (wie Anm. 67), S. 115f. mit Anm. 80, der unter Bezugnahme auf Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 261, Z. 30ff., darauf hinweist, daß Paulus „sich selbst offenbar nicht zu denjenigen zählte, ,die diesen Ort [sc. das Amphitheater von Metz] kennen‘“. Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 22; GOFFART (wie Anm. 20), S. 66; KEMPF (wie Anm. 21), S. 284 u. passim. Vgl. auch oben Anm. 67. Vgl. PATZOLD (wie Anm. 67), S. 115 mit Anm. 76.
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rer Bischofsgesten – sicher nicht, denn es war kaum die Geschichte seiner Diözese, die „der landfremde Langobarde“82 im ‚Liber de epsicopis Mettensibus‘ schrieb.83 Entsprechend ist zunächst ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Paulus’ persönlicher Sichtweise und der von ihm zu propagierenden Identität des austrischen Bistums anzunehmen. Welcher der beiden Pole wie sehr Einfluß auf die Vergangenheitswahrnehmung hatte, die das Werk offenbart, und welche Wechselwirkungen sich daraus für die Darstellung ergaben, soll im Folgenden gezeigt werden. Zunächst ist für den ‚Liber‘ die Gesta-typische chronologische Grundstruktur festzuhalten, welche sich schon durch das Aneinanderreihen der einzelnen Pontifikate gleichsam natürlich ergibt und das – wohl später entstandene – von Pertz in der MGH-Edition mitabgedruckte Incipit rechtfertigt, das von numero sive ordine der Bischöfe spricht, die „in Metz aufeinander gefolgt“ seien.84 Die strenge zeitliche Reihenfolge der Metzer Bischofsgeschichte korreliert dabei sowohl mit ihrem römischen Vorbild als auch mit dem frühmittelalterlichen, teleologischen Geschichtsbild im weiteren Sinne, das die Geschichte stets als auf den Jüngsten Tag gerichtetes opus restaurationis verstand und in der Historiographie häufig eine entsprechend chronologisch-lineare Darstellungsweise bevorzugte.85 Auch Paulus Diaconus selbst hat später in seiner Langobardengeschichte auf diesen ordo der Geschichte hingewiesen.86 Gerade für die Struktur der Werke des Genres der Institutionengeschichtsschreibung ist in der Forschung zudem auf den paradigmatischen Vorbildcharakter der spätantiken Werke des Eusebius hingewiesen worden, die in ihrer Mischung aus Chronographie und Historie wohl auch in der Metzer Bistumsgeschichte ihren Niederschlag gefunden haben dürften.87 Eine zeitliche Präzisierung der im ‚Liber‘ geschilderten gesta erfolgt allerdings nicht, denn Paulus’ Aneinanderreihung der Pontifikate läßt – ganz wie der ‚Liber Pontificalis‘ – eine Datierung nach Inkarnationsjahren, ja überhaupt jeglichen Versuch einer genaueren Datierung vermissen.88 82 Kurt-Ulrich JÄSCHKE, Zu Metzer Geschichtsquellen der Karolingerzeit, in: RhVjbll. 33, 1969, S. 1-13, hier S. 13. 83 So bereits SESTAN (wie Anm. 27), S. 367: „Paolo Diacono, non nativo di Metz, non sentimentalmente legato a quella diocesi transalpina e ai suoi santi, presta al sentimento di quei diocesani le sue virtù di letterato.“ Ebenso erst jüngst KEMPF (wie Anm. 21), S. 280: „That Paul should have been sufficiently interested in the bishopric of Metz to write its early history can only be explained by virtue of its association with Angilramn, since he has no other known connections with the Lorraine city.“ 84 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 261: Incipit libellus de numero sive ordine episcoporum qui sibi ab ipso praedicationis exordio in Mettensi civitate successerunt. 85 Vgl. GOETZ (wie Anm. 16), S. 66 (ND., S. 456). 86 Vgl. Paulus Diaconus, Historia Langobardorum IV,37 (wie Anm. 30), S. 164. Dazu auch Hans-Werner GOETZ, Die „Geschichte“ im Wissenschaftssystem des Mittelalters, in: SCHMALE (wie Anm. 2), S. 165-213, hier S. 185, Anm. 96. 87 Zum Vorbildcharakter Eusebs für die mittelalterlichen Bischofsgesten vgl. KAISER (wie Anm. 18), S. 463ff.; SOT (wie Anm. 17), S. 90f. 88 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 284, ferner SCHMALE (wie Anm. 2), S. 80, Anm. 38.
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Auch fehlt die gleichmäßige, schematische Einteilung des Werkes nach einzelnen Pontifikaten, die sich in späteren Bischofsgesten findet. Statt dessen konzentriert sich der langobardische Historiograph (notgedrungen?) auf die ausführliche Behandlung der oben genannten vier Pontifikate.89 In der Regel sind nicht einmal die Sedenzzeiten der einzelnen Prälaten angegeben. Angesichts der offensichtlichen Probleme, über die meisten Bischöfe überhaupt Näheres in Erfahrung zu bringen, wundert dies nicht, zeigt aber auch, daß für die intendierten Zwecke eine exakte Datierung irrelevant war bzw. dem Verfasser nicht relevant erschien. Ebenso wie die temporale Struktur des Werkes ist auch der vom Verfasser darstellerisch umgesetzte Versuch, die Gründung einer Institution in möglichst ferne Zeiten zurückzudatieren, keineswegs eine singuläre Besonderheit des ‚Liber‘. Vielmehr teilt das Werk die Berufung auf Rom und einen Apostel mit den späteren Gesten zahlreicher gallisch-fränkischer Bistümer,90 wobei der Ursprung des ‚Trends‘ allerdings nicht mehr auszumachen ist.91 Auf die von Paulus vorgenommene Verankerung der Anfänge des Metzer Bistums in apostolischurchristlicher Zeit, die dessen Gründung dem angeblichen Petrusschüler Clemens zuschrieb und so gleichsam die Anfänge der Christenheit und der (westlichen) Kirche überhaupt für die Diözese vereinnahmte, sowie auf die legitimierende Funktion dieser Konstruktion ist zur Genüge hingewiesen worden.92 Es soll hier daher ausreichen anzumerken, daß im Zuge dieses Gründungsmythos, der sich mit der Himmelfahrt Christi und der folgenden Ausbreitung der Kirche zunächst auf nach zeitgenössischem Verständnis fundamentalste historische Fakten berief,93 auch eine erste deutliche Abgrenzung der eigenen zeitlichen Position gegenüber den Berichtsinhalten erfolgt. Die Ereignisse um den Apostel Petrus, die letztlich zur Aussendung des heiligen Clemens nach Metz geführt haben sollen, werden nicht einfach nur als Handlungsstrang erzählt, sondern es wird einer zum Abfassungszeitpunkt komplett veränderten weltpolitischen Lage Rechnung getragen, wenn der ‚Liber‘ erwähnt, daß Rom totius tunc mundi caput
89 Vgl. oben S. 213 mit Anm. 47. 90 Vgl. Hans-Werner GOETZ, Vergangenheitswahrnehmung, Vergangenheitsgebrauch und Geschichtssymbolismus in der Geschichtsschreibung der Karolingerzeit, in: Ideologie e pratiche del reimpiego nell’alto medioevo (Settimane di Studio XLVI), Spoleto 1999, S. 177-225, hier S. 194f. (ND. in: DERS. [wie Anm. 6], S. 497-522, hier S. 505f.). Ferner Rosamond MCKITTERICK, Perceptions of the Past in the Early Middle Ages (The Conway Lectures in Medieval Studies), Notre Dame 2006, S. 38. 91 Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 25-30. 92 Vgl. ebd., S. 23f. Zum Rombezug ferner Michel SOT, La Rome antique dans l’hagiographie épiscopale en Gaule, in: Roma antica nel Medioevo. Mito, rappresentazioni, sopravvivenze nella ‚Respublica Christiana‘ dei secoli IX-XIII (Storia Ricerche), Mailand 2001, S. 163-188, hier S. 178f., der den Hinweis auf die antike ‚Welthauptstadt‘ eher als Mittel zum Bezug auf Petrus und Christus sieht. 93 So richtig GOFFART (wie Anm. 20), S. 69f.
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gewesen sei.94 Die durch das tunc ausgedrückte Vergangenheitszuschreibung, die sich nur wenige Zeilen später im Rahmen der Schilderung der Aussendung der Petrusschüler in die ihnen zugedachten (neben Metz ausschließlich italienischen!)95 Metropolen und Bistümer wiederholt,96 intendiert dabei nicht nur, das Berichtete möglichst altehrwürdig – und mithin ‚richtig‘ – erscheinen zu lassen.97 (Hierfür hätte allein der Hinweis auf den Apostel genügt.) Es geht Paulus auch und vor allem darum, die Ausbildung einer autoritativen kirchlichhierarchischen Ordnung, wie sie im Römischen Reich (in seiner alten Form) erfolgt war, als endgültig abgeschlossen darzustellen. Gleiches gilt für die wenig später folgende, „von alters her tradierte“ (sicut antiqua tradit relatio) Aussage des langobardischen Historiographen, in welcher er Metz als die „damals“ meistbevölkerte Stadt der Gallia Belgica schildert, was der Grund gewesen sei, warum Petrus seinen Schüler dorthin ausgesandt habe.98 Dieser Hinweis, der kaum verdeckt einen gleichsam natürlichen Primatsanspruch der ursprünglich größten civitas impliziert, ist angesichts des vorigen Arguments ebenso folgerichtig wie zwingend notwendig, lagen doch die Wurzeln von Trier und anderen Städten auch in römischer Zeit. Geschickt gelingt es Paulus Diaconus hier, die Aussagen über die antiken Verhältnisse mit den kirchenpolitischen Zielen seines Werkes zu verbinden.99 Denn der Charakter des abgeschlossenen, autoritativen Alten, der hier der Stellung von Metz als nachgerade apostolischem, kirchlichem Vorort beigegeben wird, verbietet implizit jede neue und spätere Diskussion bzw. Veränderung der lokalen kirchlichen Hierarchien, wie sie offenbar Ende des 8. Jahrhunderts im Zuge der sogenannten Metropolitanverfassung – zugunsten von Trier und Reims, den eigentlich traditionellen Metropolen – virulent war.100 Durch die literarische Generierung eines abgeschlossenen Vergangenheitszeitraumes, der die Gründung des Metzer Bistums u.a. mit derjenigen der Patri94 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 261, Z. 6ff.: Petrus [...] ad eam quae totius tunc mundi caput erat, hoc est urbem Romuleam, tota alacritate contendit [...]. 95 Es ist bezeichnend, daß Paulus trotz anderer ihm bekannter Überlieferungen zur Missionierung der gallischen Metropolen, wie etwa die Gregors von Tours, außer Metz nur italienische Metropolen bzw. Bistümer als Ziele der Petrusschüler nennt. Vgl. auch POENSGEN (wie Anm. 21), S. 26f. 96 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 261, Z. 11f.: Tunc denique Apollinarem Ravennam, Leucium Brundisium, Anatolium Mediolanum misit. 97 Zum autoritativen Stellenwert möglichst alter Herkunft in mittelalterlicher Historiographie vgl. GOETZ (wie Anm. 16), S. 68ff. (ND., S. 458ff.). 98 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 261, Z. 15-18: Ea igitur tempestate cum apud Galliam Belgicam Mediomatricum, quae etiam Mettis appellatur, civitas in ipsa Mosellae amnis ripa posita, copiosis populorum turbis abundaret, ad eandem beatus Petrus apostolus urbem Clementem nomine [...] sublimatum pontificali dignitati direxit [...]. 99 Vgl. hierzu u. im Folgenden: KEMPF (wie Anm. 21), S. 292, der sich zu Recht dezidiert gegen die von GOFFART (wie Anm. 20), S. 70, geäußerte Ansicht ausspricht, daß Metz durch diese Konstellation nicht aufgewertet werden solle. 100 Und in diesem Sinne gehen Paulus’ Ausführungen – anders als GOFFART, ebd. meinte – durchaus zu Lasten anderer Bischofssitze.
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archate von Alexandria, Rom und Antiochia in einen direkten zeitlichen und personalen Zusammenhang stellt,101 wird dem karolingischen Vorort einer der prominentesten Plätze bei der Grundlegung der gesamten Kirche zugewiesen. (Die tatsächliche Bistumsgründung hat bereits Duchesne erst um das Jahr 300 angenommen.)102 Somit kommt gleich zu Beginn des ‚Liber‘ auch im Bereich der Vergangenheitswahrnehmung der legitimatorische Grundtenor des Werkes zum Tragen: Die Geschichte hat Metz zur Metropole bestimmt – und daran ist nicht mehr zu rütteln.103 Zugleich werden subtil die aktuellen europäischen Machtverhältnisse durch den Verweis auf Roms „ehemalige“ Stellung als „Welthauptstadt“ angedeutet. Dies geschieht wohl nicht zuletzt angesichts des höfischen Adressatenkreises, der sich nach der Eroberung des Langobardenreiches durchaus zu Recht auf Augenhöhe mit Byzanz sehen mochte und sich eineinhalb Dekaden später anschickte, diesem Anspruch mit der Annahme des Kaisertitels durch Karl den Großen auch förmlich Ausdruck zu verleihen. Inwiefern hier auch die vieldiskutierte persönliche Stellung des Langobarden Paulus zur fränkischen Vorherrschaft Einfluß auf die Darstellung hatte, mag dahingestellt bleiben.104 Fest steht aber, daß die Abgrenzung einer maßgeblichen urchristlichen ‚Gründerzeit‘ mit seinen individuellen Vorstellungen von der Kirchengeschichte nicht im Konflikt gestanden haben dürfte.105 Über die Tätigkeit des hl. Clemens in Metz berichtet Paulus im Anschluß nur kurz. Allerdings ist auch hier eine temporale Besonderheit zu beobachten. Während die Tätigkeit des Missionars insgesamt in gleichzeitig betrachtender Weise, also ohne zeitliche Differenzierung im Zeithorizont des jeweiligen Inhalts erzählt wird, schließt das Clemens-Kapitel des ‚Liber‘ mit der Bemerkung, daß usque in praesentem diem Clemens’ erstes Lager, das (nunmehr ehemalige) Amphitheater der Stadt, unde olim verae salutis emanarunt insignia, frei von Schlangen und Krankheiten sei.106 Im Gegensatz zu den vorherigen zeitlichen Abgrenzungen wird hier die Vergangenheit durch das olim zwar deutlich von der Gegenwart des Verfassers abgegrenzt, jedoch nicht als abgeschlossenes Kapitel dargestellt. Vielmehr wird die anhaltende Gültigkeit bzw. Wirksamkeit bis auf den Abfassungszeitpunkt durch dessen explizite Erwähnung betont. Dabei ist 101 Vgl. ebd. Petrus hatte Paulus zufolge den alexandrinischen Patriarchat errichtet, noch ehe er nach Rom kam. Seinen Schüler Marcus soll er nach Alexandria geschickt haben. 102 Vgl. DUCHESNE, Fastes épiscopaux (wie Anm. 49), S. 54. Zur Diskussion um die erste christliche Gemeinde in Metz und den Pontifikat des Clemens vgl. HERRMANN (wie Anm. 44), S. 149-153. 103 So auch GOFFART (wie Anm. 27), S. 375, der hierin die zentrale Aussage des ClemensKapitels sieht. 104 Vgl. unten Anm. 179. 105 Vgl. Michael W. HERREN, Theological Aspects of the Writings of Paul the Deacon, in: Paolo Diacono (wie Anm. 20), S. 223-235, hier S. 226f., der aufzeigt, wie Paulus die Schilderung der Gründung von Metz nutzte, um den römischen Primat in der Kirche zu postulieren. 106 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 261, Z. 31ff.
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die Behauptung wundertätiger Persistenz nicht nur topischer Natur, sondern dient dem gleichen Zweck wie die oben beschriebenen temporalen Differenzierungen. Die Wirkmächtigkeit des Heiligen soll analog zu den ebenso lange bestehenden Metropol-Ansprüchen seiner Bischofsstadt verstanden werden, die gleichsam „einst“ wie „am heutigen Tag“ gültig sind. Nach einer Reihe recht einsilbiger Nennungen der unmittelbaren Nachfolger des hl. Clemens legt Paulus den nächsten Schwerpunkt des ‚Liber‘ auf die Darstellung des 13. Bischofs Auctor, während dessen Pontifikats Metz von den Hunnen geplündert worden sein soll. Ein Ereignis, das Paulus, der sich mit den Hunnenstürmen – gestützt auf die ‚Getica‘ des Jordanes – bereits ähnlich in seiner ‚Historia Romana‘ beschäftigt hatte, in relativer Breite schildert.107 Betrachtet man seinen Bericht genauer, so fällt auf, daß die Epoche der Hunnenstürme für ihn einen vergangenen Zeitraum eigener Qualität dargestellt haben muß, der sich eben durch die Einfälle plündernder Horden in das ehemalige Weströmische Reich definierte. Schon der erste Satz des Auctor-Kapitels erscheint in diesem Zusammenhang programmatisch, wenn der Bischof sein Amt antritt ea tempestate, quando non solum Gallia sed universus pene occidens barbarorum saevientium est perpessus saevitiam.108 Auch in den folgenden Ausführungen, in denen Paulus – Gregor von Tours,109 Fredegar und möglicherweise weitere Quellen ausschreibend bzw. zitierend110 – von zwei seinerzeit noch bekannten Wundern Auctors berichtet, setzt sich die eindeutige zeitliche Qualifizierung als Vergangenheit fort: so wenn in großer syntaktischer Nähe die militärischen Erfolge Attilas mit der Phrase eo igitur tempore eingeleitet werden, und kurz darauf in der Schilderung einer Vision des heiligen Servatius zur bevorstehenden Zerstörung von Metz zeitliche Bestimmungen wie tunc und ipso tempore verwendet werden, die für den Inhalt der Erzählung keineswegs zwingend erforderlich sind.111 Zu Recht hat daher Walter Goffart – in Parallele zur ‚Historia Romana‘ – diesbezüglich erkannt: „Barbarian invaders draw a line of demarcation between one epoch and the next.“112 Die ‚weltpolitische‘ Rahmensituation sowie die Ankündigung drohenden Unheils für Metz werden also als Vergangenheit bzw. als vergangen wahrgenommen. Die unmittelbare Schilderung der Einnahme und Zerstörung von Metz hingegen, das – Paulus zufolge – zunächst den Belagerern 107 Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 31 mit Anm. 4, die dort auch die wichtigsten Überschneidungen von ‚Historia Romana‘ und ‚Liber‘ aufzeigt. Vgl. Paulus Diaconus, Historia Romana, ed. Hans DROYSEN (MGH SS rer. Germ. [49]), Berlin 1879 (ND. München 1978). 108 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 262, Z. 24f. 109 Zur Übernahme und Vermischung zweier Geschichten Gregors von Tours durch Paulus vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 294. 110 Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 262f.; POENSGEN (wie Anm. 21), S. 32-41. 111 Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 262, Z. 34 u. Z. 42. 112 GOFFART (wie Anm. 27), S. 377.
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standhielt, dessen Mauern dann aber durch göttliche Intervention einstürzten und von dessen Gebäuden – ebenfalls durch himmlisches Eingreifen – einzig und wohl kaum zufällig die spätere Bischofskirche(!), das Stephansoratorium, verschont blieb, erfolgt im gleichzeitig erzählenden Ton, ohne auf die Gegenwart des Verfassers Bezug zu nehmen oder von dieser abgegrenzt zu werden. Gleiches gilt für die anschließende Gefangennahme Auctors, der allerdings durch Gottes Eingreifen nicht nur für sich, sondern auch für die übrigen Gefangenen die Freilassung durch die zuvor von einem Strafwunder geschlagenen Hunnen erreichen konnte. Für diese temporale Perspektive mögen zum einen die offensichtlichen Vorlagen der Geschichte, u.a. die biblischen Schilderungen zum Untergang Gomorrhas113 (oder – nach Goffart – der Sintflut)114 und Paulus’ eigener Bericht über die Belagerung Aquileias in der ‚Historia Romana‘,115 verantwortlich zeichnen. Zum anderen aber sind die Schilderungen auf den ersten Blick wegen ihres eher negativen Inhaltes nicht besonders gut geeignet, für die Gegenwart als Folie einer behaupteten Vormachtstellung zu fungieren. Denn in der Erzählung wird Metz aufgrund der Sünden seiner Einwohner zum Opfer der Hunnen, und auch Auctor wird mehr durch ein Wunder befreit, als daß er dieses bewirken würde. Doch müssen diese Episoden aus einer anderen, die ecclesia – als Auftraggeberin des Werkes – und nicht die civitas in den Mittelpunkt stellenden Perspektive gesehen werden, um sie zu verstehen.116 Denn Paulus stellt ein himmlisches Strafgericht dar, welches nur die Metzer Kirche übersteht.117 Die Darstellungsabsicht des ‚Liber‘ zwang hier also nicht zur Herstellung zeitlicher Abgrenzungen, sondern eher zur Propagierung der Kontinuität dessen, was an Metz als einziges schon immer gut und daher selbst vor größtem göttlichen Zorn gefeit war: der Kirche.118 Ferner ist auch keine persönliche Betroffenheit des Paulus zu erkennen. Gerade angesichts seines offensichtlichen ‚Recyclings‘ bereits in anderen Werken verwendeter Versatzstücke steht zu vermuten,119 daß der langobardische Mönch vielmehr – selbst emotional von seinem Berichtsgegenstand distanziert – für das Auctor-Kapitel auf nicht mehr näher erkennbare lokale Erzähltraditionen zurückgriff, die er wegen ihrer allgemeinen Bekanntheit sowie der für sein Werk offensichtlich schlechten Quellenlage kaum verschweigen konnte. (Die Hunnenstürme dürften in ihrer traumati113 Gen. 19. 114 Vgl. GOFFART (wie Anm. 27), S. 375f.; Gen. 7f. 115 Paulus Diaconus, Historia Romana XIIII,9ff. (wie Anm. 107), S. 113f. 116 Bereits GOFFART (wie Anm. 20), S. 72f., hat darauf aufmerksam gemacht, daß der ‚Liber‘ keineswegs eine stetige Erfolgsgeschichte erzählt, sondern gerade im Hunnensturm eine Zäsur erfährt, welche die Metzer Kirche und schließlich ihre rezente Reform durch Bischof Chrodegang in den Mittelpunkt rückt. 117 Vgl. GOFFART (wie Anm. 27), S. 375f. 118 KEMPF (wie Anm. 21), S. 294f., sieht im Auctor-Kapitel zudem eine erneute Betonung der engen Beziehung zwischen Metz und Rom. 119 Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 33ff.
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sierenden Wirkung kaum zu überschätzen sein. Daß ihre katastrophalen Folgen zumindest legendenhaft auch im 8. Jahrhundert noch bekannt waren, darf vorausgesetzt werden.) Für diese These spricht nicht zuletzt auch die Tatsache, daß Paulus’ Datierung von Auctors Pontifikat in die Zeit der Hunneneinfälle im Gegensatz zu vielen anderen Punkten des ‚Liber‘ durchaus realistisch erscheint.120 Erst das zweite von Paulus berichtete Wunder Auctors, die bereits weiter oben beschriebene Episode einer ehemals geborstenen Altarplatte, welche durch Auctors Wirken beinahe wieder ganz wurde,121 wartet erneut mit temporalen Abgrenzungen auf. Wie erwähnt, ist Paulus’ Behauptung, man könne die betreffende Altarplatte usque in praesentem diem „bewundern“, teilweise wohl in der Topik mittelalterlicher Mirakelberichte begründet, die auf diese Weise Glaubwürdigkeit zu erreichen hofften. Allerdings wird auch hier durch den Hinweis auf die anhaltende Wirkung in der Vergangenheit bewirkter Taten deren Gültigkeit für die Gegenwart herausgestellt. Im Gegensatz zur Freilassung Auctors durch die Hunnen tritt der Bischof in diesem Fall zudem auch als aktiv Wundertätiger in Erscheinung, so daß für die Ansprüche von Metz auf den Metropolstatus aus dieser Episode durchaus Kapital geschlagen werden konnte. Auch wenn die Herkunft der Anekdote angesichts des Vorhandenseins einer ‚Kontaktreliquie‘ gewiß erneut in lokalen Traditionen zu sehen ist, spricht viel für die Annahme einer entsprechenden Intention. Nicht ohne Grund fügt sich das Bild vom geborstenen Marmor, der wieder „solide“ geworden war und bis in die Tage Karls des Großen den alten Zustand erhielt, ideal zur Vorstellung einer Metropole, die nach der Zerstörung durch die Hunnen aufgrund göttlicher Intervention (spätestens mit Bischof Chrodegang) wieder dauerhaft zu alter Stärke und Würde zurückgefunden hatte.122 Auf das Auctor-Kapitel folgt erneut eine denkbar knappe Aufzählung weiterer Bischöfe, über die lediglich bei zwei Personen mehr als der Name berichtet wird, nämlich – kaum zufällig – deren Abstammung vom Frankenkönig Chlodwig,123 in dessen Tradition Karl der Große seine eigene Dynastie durch die Adaption merowingischer Namen für seine (allerdings jüngeren) Söhne erst kürzlich gestellt hatte.124 Durch diesen Kunstgriff gelingt es Paulus auch dort, wo ihm eine breitere Quellengrundlage fehlt, mit geringem Aufwand eine äußerst prominente, in der Herrschaftstradition des Frankenreiches verankerte Schnittmenge von Metzer Bistum und fränkischem Königtum zu suggerieren. Im ‚Liber‘ sind also keineswegs, wie behauptet worden ist, alle Spuren merowingischer 120 Vgl. ebd., S. 38. 121 Vgl. hierzu u. im Folgenden oben Anm. 1 u. 66. 122 Zur wiedererlangten Würde vgl. auch GOFFART (wie Anm. 20), S. 72f. 123 Bischof Agiulf und sein nepos und Nachfolger Arnoald. Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 264, Z. 6-9. 124 Ludwig der Fromme (Chlodwig) *778 und Lothar (Chlotar), der 779/80 als Kleinkind verstarb. Vgl. Thomas ZOTZ, Art. Karolinger, in: LMA 5, Sp. 1008-1014, hier Sp. 1010; GANDINO (wie Anm. 33), S. 80 mit den Anm. Vgl. zur (vornehmlich späteren) Berufung der Karolinger auch auf die Merowinger ferner OEXLE (wie Anm. 38), S. 270f.
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Herrschaft zugunsten karolingischer Legitimierung getilgt.125 Sie sind lediglich im Hinblick auf seine Ziele auf jene Passagen reduziert, in denen sie für eine Identifikation des Herrschers mit der Metzer Kirche gewinnbringend eingesetzt werden konnten. Hätte hingegen eine generelle dynastische Legitimierungsabsicht einer (positiv konnotierten) Nennung der Merowinger entgegengestanden, wie es von anderen Quellen durchaus belegt ist,126 so wäre ein Auslassen des Verweises auf Chlodwig im Rahmen einer bloßen Auflistung von Bischofsnamen für Paulus wohl ein Leichtes gewesen. Der anschließende ausführliche Bericht, der den größten Teil des ‚Liber‘ einnimmt, behandelt das Leben des karolingischen Spitzenahns Arnulf. Die Absicht, die Nähe der Metzer civitas und Kirche zur regierenden Dynastie besonders herauszustellen, welche Paulus mit der Beschreibung des königlichen Vorfahren vor allem verfolgte, ist so offensichtlich und so häufig behandelt worden, daß sie hier nicht näher erläutert werden muß.127 Paulus beginnt seine Ausführungen mit einem Verweis auf die Vita Arnulfs, welche für eine ausführliche Lebensbeschreibung heranzuziehen sei, und erklärt, angesichts ihres Vorhandenseins lediglich besonders denkwürdige bzw. dort nicht erwähnte Begebenheiten zu berichten.128 Dieser Hinweis auf die gegenwärtige Existenz einer Lebensbeschreibung des heiligen Arnulf, mithin auf den Abfassungszeitpunkt des ‚Liber‘, bewirkt natürlich einen Bruch in der sonst chronologisch vorgehenden Erzählung, der deutlich werden läßt, daß das Geschilderte der Vergangenheit angehört. Doch scheint die Differenzierung in diesem Fall tatsächlich der Apologie für die Kürze der Darstellung geschuldet zu sein. Im Hinblick auf die Vergangenheitswahrnehmung bietet der Bericht sonst nur wenig Spektakuläres. Zu sehr ist der Inhalt kompositorisch chronologisch durchstrukturiert. Weitere zeitliche Brüche sind zunächst nicht zu erkennen. Lediglich dort, wo eine noch fernere Vergangenheit als das eigentlich Berichtete in den Blick gerät, wird eine explizite temporale Differenzierung notwendig. So wenn in Analogie zur ‚Ringgeschichte‘ Arnulfs, der einen in die Mosel ge125 Vgl. Rosamond MCKITTERICK, History and Memory in the Carolingian World, Cambridge 2004, S. 60-83, hier S. 76f.: „Paul omitted all reference to the Merovingian kings and church. His text, as Goffart has argued, serves to reinforce the legitimacy of the Carolingians’ succession and claim to rule.“ Exakt dieselbe These noch einmal ebd., S. 124. Ähnlich bereits Goffart (wie Anm. 20), S. 86, der sich allerdings offenbar (und damit korrekt) nur auf die unmittelbare Aufzählung der Söhne Karls des Großen durch Paulus (Liber de episcopis Mettensibus [wie Anm. 1], S. 265, Z. 22-28) bezieht. 126 Vgl. MCKITTERICK (wie Anm. 125), S. 123-126; Janet L. NELSON, The Merovingian Church in Carolingian Perspective, in: The World of Gregory of Tours, hg. v. Kathleen MITCHELL u. Ian WOOD (Cultures, Beliefs and Traditions 8), Leiden u.a. 2002, S. 241259; OEXLE (wie Anm. 38), S. 270f. 127 Vgl. exemplarisch SOT (wie Anm. 55), S. 440f., sowie nicht zuletzt die Betonung der Abstammung Karls des Großen von Arnulf und der von ihm selbst über diesen berichteten Anekdote in Analogie zum biblischen Gideon (unten S. 228 mit Anm. 132). 128 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 264, Z. 13ff.
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worfenen Ring als Zeichen der Vergebung seiner Sünden später in einem ihm als Speise gereichten Fisch wiederfand,129 das biblische Vorbild Gideons bemüht wird,130 der olim [...] signum a domino poposcit.131 Der Rückgriff auf die Heilige Schrift erfolgt dabei, ganz im Sinne der bekannten mittelalterlichen Vorstellungen zu ihrer Autorität, zweifelsohne zur besonderen Aufwertung und Würdigung des Metzer Prälaten, wobei Arnulf sogar als Gideon überlegen dargestellt, mithin das vergangene Vorbild von der Gegenwart der Erzählung übertroffen wird.132 Dabei kann das Wiederauffinden des Ringes durch Arnulf auch als eine Art göttlicher Investitur gedeutet werden.133 Zugleich bietet diese Stelle einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart des Verfassers selbst, der zudem zeitlich näher definiert wird, wenn Paulus anmerkt, daß nicht irgendwer ihm diese Anekdote nahegebracht habe, sondern ipse totius veritatis assertor, praecelsus rex Karolus [...]; qui de eiusdem beati Arnulfi descendens prosapia, ei in generationis linea trinepos extabat.134 Die unterliegende Absicht ist offensichtlich: Karl der Große, der primäre Adressat des ‚Liber‘, wird zum Kronzeugen der Erzählung gemacht, ja nachgerade selbst zum ‚Geschichtsberichterstatter‘ stilisiert, der aus der Perspektive des Beobachters als gegenwärtiger Zeuge den Inhalten eine über jeden Zweifel erhabene Autorität verleiht. Auf diese Weise wird nicht nur die Glaubwürdigkeit der Geschichte erhöht, sondern der König zugleich auf die Anliegen der Metzer Bistumsgeschichte verpflichtet. Ähnlich verhält es sich bei jenem Rückblick auf die angeblich trojanische Herkunft der Franken, sicut a veteribus est traditum,135 die Paulus über den Namen des jüngeren Arnulfsohnes Anschisus, den dieser nach dem Vater des Aeneas erhalten habe, qui a Troia in Italiam olim venerat,136 implizit auf die karolingische Familie ausweitet.137 Diese „Ansippung“ war eine im mittelalterlichen Verständnis nicht unübliche Verfahrensweise, die nach Hans-Werner Goetz „das lebendige Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart zum Ausdruck“ brachte 129 Vgl. ebd., Z. 15-28. 130 Vgl. Idc 6,36-40. 131 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 264, Z. 29. 132 Arnulf sei Gideon darin gleich, von Gott ein Zeichen des Sieges über seine Feinde erbeten zu haben. Allerdings seien die Feinde Arnulfs die stärkeren gewesen. Vgl. ebd. Der Vergleich mit Gideon ist zudem gerade im Hinblick auf dessen Wertung im Neuen Testament interessant, werden ihm doch hier Qualitäten zugeschrieben, die Paulus wohl auch mit den Karolingern verbunden wissen wollte. Vgl. Hbr. 11,32ff.: Et quid adhuc dicam deficiet enim me tempus enarrantem de Gedeon Barac Samson Iepthae David et Samuhel et prophetis qui per fidem devicerunt regna operati sunt iustitiam adepti sunt repromissiones obtuaverant ora leonum extinxerunt impetum ignis effugerunt aciem gladii convaluerunt de infirmitate fortes facti sunt in bello castra verterunt exterorum. 133 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 286. 134 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 264, Z. 34ff. 135 Ebd., Z. 39f. 136 Ebd. Zum Italienbezug vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 46ff. 137 Vgl. dazu ebd., S. 47f.; zur Umdeutung des Namens auch REIMITZ (wie Anm. 42), S. 207f.
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und nicht als Vergleich, sondern durchaus als qualitative „Personifikation historischer Gestalten“ verstanden wurde.138 Entsprechend hat Aline Poensgen zu Recht darauf hingewiesen, daß der seinem Bruder Chlodulf in allen Belangen überlegene Anschisus, als unmittelbarer Vorfahre der karolingischen Könige, hier deutlich in den Vordergrund gerückt wird, obwohl es Chlodulf war, der schließlich Bischof von Metz wurde.139 Und Walter Goffart hat für diesen Umstand sogar das biblische Vorbild Jakobs und seiner Söhne verantwortlich gemacht,140 eine These, die angesichts des Troja-Kontextes nicht zwingend erscheint,141 aber (wenn ein solcher Zusammenhang vom mittelalterlichen Adressaten mitgedacht wurde) doch den Reiz einer doppelten – heidnischen wie biblischen – Auserwähltheitslegitimation der karolingischen Sippe birgt. Es ist daher offensichtlich, daß gerade an dieser Stelle das Interesse, die Geschichte des Bistums darzustellen, besonders massiv mit dem Versuch verbunden wurde, die karolingische Dynastie in den Rahmen traditioneller Herkunftssagen einzubeziehen, die eine autoritative historische Herrschaftslegitimation – diesmal unter absichtlicher Umgehung der Merowinger142 – verhießen und gleichsam einen neuen Stammbaum des Herrscherhauses nahelegten.143 Deutlich ist auch hier die Qualifizierung der geschilderten Sachverhalte als vergangen der Darstellungsabsicht des Werkes geschuldet, denn naturgemäß ließ sich gerade im Rahmen der Schilderung des karolingischen Spitzenahns eine Interessenidentität von fränkischem Bistum und karolingischem Herrscherhaus besonders deutlich suggerieren. Die trojanische Vergangenheit, die die Karolinger für sich in Anspruch nahmen, die Ansippung, so das Argument, lag – wie der gesamte Aufstieg der Dynastie – in Metz begründet. Ein persönliches Motiv des langobardischen Verfassers hingegen scheint als Ursache dieser Konstruktion eher un-
138 Vgl. GOETZ (wie Anm. 90), S. 219 (ND. S. 519). 139 POENSGEN (wie Anm. 21), S. 55f. Vgl. auch KEMPF (wie Anm. 21), S. 287f. 140 Vgl. GOFFART (wie Anm. 20), S. 69 u. S. 74-87; DERS. (wie Anm. 27), S. 375. Ferner oben Anm. 89. 141 Vgl. auch PATZOLD (wie Anm. 67), S. 116, Anm. 81. 142 An dieser Stelle, die unmittelbar Bezug auf die zur gleichen Zeit massiv propagierte ‚offizielle‘ Sicht der karolingischen Abstammung und Legitimation nimmt, wäre eine Nennung der Merowinger zweifelsohne kontraproduktiv gewesen. Vgl. oben S. 226f. mit Anm. 123-126. 143 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 287f.; ähnlich bereits REIMITZ (wie Anm. 42), S. 208. SOT (wie Anm. 55), S. 440f., hat zudem auf den Umstand der zusätzlichen Legitimation der Karolinger durch die Vereinigung von Bischofslinie und Herrscherhaus in der Person Arnulfs hingewiesen: „La sainteté du pseudo-lignage épiscopal a été transmise au lignage carolingien : elle contribue à légitimer son ascension à la royauté, et son sacre.“ (ebd., S. 440). Auch hierfür könnte allerdings das Kalkül, das Herrscherhaus an die Diözese zu binden, ausschlaggebendes Motiv gewesen sein.
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wahrscheinlich, auch wenn erneut auf (das antike) Italien angespielt wird.144 Doch gerade Paulus’ häufig mit Verwunderung aufgenommene, angeblich einer ‚nationalen Selbstleugnung‘ nahe kommende Darstellung der Langobarden im Verhältnis zu den siegreichen Franken bestätigt, wie sehr der ‚Liber‘ ein Auftragswerk war und wie sehr der Verfasser – der wohlgemerkt ohnehin als Bittsteller am Hofe weilte!145 – seine persönlichen Ansichten zurückzustellen willens und in der Lage war.146 Besonders deutlich wird dies wenig später im Zuge des vom ‚Liber‘ gebotenen kurzen Aufrisses des Aufstiegs der Nachkommen Arnulfs bis zu Karl dem Großen mitsamt ihren (militärischen) Großtaten, der durchaus die offizielle Sichtweise des Hofes widerspiegeln könnte, ohne daß deren Propagierung das oberste Ziel war, und kaum andere Ziele verfolgt haben dürfte, als der karolingischen Dynastie zu schmeicheln. Dort heißt es anläßlich der Ausführungen zum Sieg Karls des Großen über die Langobarden, also Paulus’ eigenes ‚Volk‘, zur Situation Roms, quae aliquando mundi totius domina fuerat, et tunc a Langobardis depressa gemebat, daß der fränkische König die Stadt und ganz Italien – als rechtmäßiger Herrscher, so wird impliziert – von der Bedrängung durch die Langobarden befreit habe.147 Erneut wird, wie bereits zu Beginn des ‚Liber‘, in einem weiten Rückgriff in die Vergangenheit (aliquando) die antike Weltherrschaft Roms bemüht, in diesem Fall jedoch nicht, um die Stadt Metz hervorzuheben, sondern um die fränkische, durch trojanische Herkunft legitimierte Hegemonie nebst dem sie verkörpernden Monarchen in die Nachfolge der klassischen Weltmacht zu stellen.148 Dabei wird durch das Generieren einer weiteren Vergangenheitsebene (tunc) unterstrichen, wie vollständig und endgültig der Erfolg Karls des Großen gewesen sei, der das Königtum der Langobarden – im unmittelbaren Wortsinn – zur Vergangenheit machte, jedoch ohne seine Gegner vollständig zu vernichten. Ein entsprechendes Lob der Kampfkraft der Langobarden zur Aufwertung der Leistung Karls des Großen, wie es Aline Poensgen vermißte,149 war daher an dieser Stelle gar nicht mehr vonnöten (bzw. hätte sich hinsichtlich der persönlichen Ziele des Paulus als kontraproduktiv erweisen können). Vielmehr erscheint Karl hier im Lichte einer klassischen (antiken) Herrschertugend, die auszuüben ihm die Situation erlaubte: der clementia (caesaris), die auch der bi144 Zum Problem des Verhältnisses Karls des Großen zu Rom und Italien in der Darstellung des Paulus vgl. auch im Folgenden POENSGEN (wie Anm. 21), S. 51-57; zu den Franken und Rom vgl. MCKITTERICK (wie Anm. 90), S. 35-61, ferner auch oben Anm. 92. 145 Vgl. oben nach Anm. 32. 146 Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 50f., die sich wundert, daß Paulus die Übernahme des Langobardenreiches als „mehr oder weniger kampflos“ schilderte, da starke Gegner Karls Leistung doch aufgewertet hätten. Eine gewisse Neutralität bei der Darstellung von Franken und Langobarden als siegreiche und unterlegene gentes hat MCKITTERICK (wie Anm. 125), S. 60-83, auch für die ‚Historia Langobardorum‘ festgestellt. 147 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 265, Z. 17f. 148 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 288. 149 Vgl. oben Anm. 146.
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blischen Überlieferung nach der Herrschaft (die Karl im Langobardenreich gerade erst antrat) besondere Stärke verlieh.150 Die temporalen Zuschreibungen erfolgen auch in dieser Episode definitiv zielgerichtet im Hinblick auf die Absicht der Metzer Bistumsgeschichte, die Bedeutung der Bischofsstadt hervorzuheben. Denn auch wenn die Schilderung sich kurzfristig zugunsten der politisch-militärischen Erfolge der Karolinger von Angilramns Bischofssitz abwendet, so geschieht dies doch stets unter dem deutlichen Hinweis auf den Metzer Ursprung der erfolgreichen Dynastie in Form der – erneut biblischen wie heidnischen Vorbildern ähnelnden151 – dauernden und bewußt eine direkte Sukzession suggerierenden152 Angabe der Filiation (x genuit y), an deren Spitze Paulus nicht umsonst Anschisus setzt, jenen Arnulfsohn, der gleichsam die säkulare Laufbahn einschlug und hier als Bindeglied zwischen Bistum und Königshaus
150 Ähnlich bereits KEMPF (wie Anm. 21), S. 288: Karl als „a conqueror of great clemency“. Zur Tradition der clementia als Herrschertugend seit der Antike vgl. Sen. clem.; zur Aktualität der Milde auch zur Zeit Karls des Großen vgl. etwa die die clementia betreffenden Ausführungen bei Smaragd von St. Mihiel, Via regia XIX, ed. Jacques-Paul Migne (PL 102), Paris 1851 (ND. Turnhout 1976), Sp. 931-970, hier Sp. 958f., die das Ideal in der alttestamentlichen Überlieferung verankern: Misericordia et veritas custodiunt regem, et roboratur clementia thronus ejus (Prov. 20,28; bei Migne fälschlich 20,18); dasselbe Bibelzitat bemüht wenig später auch Jonas von Orléans, De institutione regia III,1, ed. Alain DUBREUCQ (Sources chrétiennes 407), Paris 1995, S. 186, Z. 46f., unter der Überschrift: Quid sit rex, quid esse quidue debeat cauere (ebd. III,1, Z. 1, S. 184); ähnlich auch ebd. III,1, Z. 111ff., S. 192, unter Bezugnahme auf Fulgentius’ von Ruspe ‚De veritate praedestinationis et gratiae Dei‘, ed. Jean FRAIPONT (CCL 91 A), Turnhout 1968, II,39, S. 517): Clementissimus quoque imperator non ideo est uas misericordiae praeparatum in gloriam quia apicem terreni principatus accepit. Vgl. ferner – zur Bewertung der clementia in Hofkreisen – auch die Anrede Karls des Großen im Begleitschreiben aus dem Jahre 800 zur Stellungnahme gegen Felix von Urgel durch Alcuin, Ep. 202, ed. Ernst DÜMMLER (MGH Epp. 4), Berlin 1895 (ND. 1974), S. 335f., hier S. 335: clementissimo regnorum rectori Carolo regi Francorum et Langobardorum ac patricio Romanorum; zudem – auch wenn die clementia dort nicht als eigenständige Tugend geführt wird – die Ausführungen bei Dems., De virtutibus et vitiis VIII (de indulgentia), ed. Jacques-Paul Migne (PL 101), Paris 1851 (ND. Turnhout 1966), Sp. 613-638, hier Sp. 618: Qui clementer peccantibus ignoscere novit, clementiam divinae pietatis certissime accipiet. Vgl. ferner Ernst TREMP, Die Überlieferung der Vita Hludowici imperatoris des Astronomus (MGH Studien u. Texte 1), Hannover 1991, S. 2f.; DERS., Einleitung, in: Thegan, Die Taten Kaiser Ludwigs u. Astronomus, Das Leben Kaiser Ludwigs, MGH SS rer. Germ. 64, Hannover 1995, S. 101 mit Anm. 324. 151 Vgl. etwa die Analogie zum ‚Liber generationis Iesu Christi‘ bei Mt 1,1-16, und zur AmalerGenealogie bei Jordanes, Getica XIV, ed. Theodor MOMMSEN, MGH AA 5,1, Berlin 1882, S. 76f., die Paulus bekannt war. Der legitimierende Charakter derartiger Genealogien dürfte offensichtlich sein. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die Verbindung der karolingischen Dynastie mit Metz in „der ersten Herrschergenealogie des christlichen Mittelalters“ vom Anfang des 9. Jahrhunderts. Vgl. OEXLE, Die Karolinger (wie Anm. 38), S. 252-256. 152 Vgl. GOFFART (wie Anm. 20), S. 64 mit Anm. 23.
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dient.153 Beide Institutionen erscheinen in der Folge als Teile eines Ganzen. Noch unmittelbarer konnte man den Herrscher kaum auf das Wohlergehen der ihm ‚verwandten‘ Metzer Diözese zu verpflichten suchen. Das ‚langobardische Ich‘ des Historiographen hingegen tritt während des gesamten ‚KarolingerKapitels‘ erneut völlig in den Hintergrund, wie gerade die Schilderung der ‚rechtmäßigen‘ Eroberung des Langobardenreiches durch Karl den Großen deutlich macht. Dieselben Schlüsse wie für Karls des Großen Erfolge in Italien gelten auch für die Erwähnungen der Sarazenen und Basken, die bereits vor den Langobarden für die Zeit Karl Martells in den Fokus von Paulus’ Zusammenschau karolingischer Großtaten geraten waren. Erstere seien von dem Karolinger – in der Schlacht bei Tours und Poitiers – so gründlich besiegt worden, ut usque hodie gens illa truculenta et perfida Francorum arma formidet.154 Letztere, die schon lange (iamdudum) gegen die Franken rebelliert hatten, fielen wiederum dem Durchgreifen Pippins des Jüngeren zum Opfer.155 Der Hinweis auf das ‚Heute‘ des Verfassers und die historischen Auseinandersetzungen mit den Basken offenbaren hier dieselben Merkmale zeitlicher Differenzierung zum Zwecke der Betonung einer intendierten panegyrischen Aussage zugunsten des karolingischen Herrscherhauses, die wir oben bereits gesehen haben. Nach einem ausführlichen Inserat der von Paulus selbst verfaßten Epitaphien für die in Metz bestatteten Frauen der karolingischen Familie, darunter Karls des Großen Gattin Hildegard, die die große Königsnähe der Stadt nochmals deutlich vor Augen führen sollten,156 sowie weiteren Bischofsviten im Telegrammstil (u.a. von Arnulfs ‚bösem‘ Sohn Chlodulf) endet der ‚Liber‘ mit der einzigen ausführlichen Vita, die in ihrer Form tatsächlich weitgehend das Vorbild des ‚Liber pontificalis‘ aufnimmt – der Beschreibung des Wirkens des großen Metzer Kirchenreformers Chrodegang, des unmittelbaren Vorgängers von Paulus’ Auftraggeber Angilramn.157 Diese starke Stilisierung nach der römischen Vorlage schlägt sich wohl auch auf die zeitlichen Zuschreibungen innerhalb des Chrodegang-Kapitels nieder. So dienen nähere temporale Bestimmungen dort vor allem der Verknüpfung mit der Förderung des Bischofs durch König Pippin. So habe Chrodegang zunächst am Hofe Karl Martells eine prominente Stellung eingenommen, ac demum Pippini regis temporibus pontificale decus promeruit.158 153 Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 265, Z. 4f., 8 u. 10f.: Anschisus genuit Pippinum [...] Pippinus genuit Karolum [...] Hic itaque genuit Pippinum [...] Huius item filius magnus rex Karolus extitit. Zur Funktion des Arnulf-Kapitels als Bindeglied zwischen Diözese und Dynastie vgl. auch oben Anm. 143. 154 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 265, Z. 7f. 155 Ebd., Z. 8ff.: Hic [Karl Martell] genuit Pippinum [...] qui inter reliqua quae patravit, Wascones iamdudum Francorum ditioni rebelles cum Waifaro suo principe felicitate mira debellavit et subdidit. 156 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 289; SOT (wie Anm. 55), S. 441. 157 Zu den Übereinstimmungen der Chrodegangvita mit den Viten im ‚Liber pontificalis‘ bzw. zu ihren Abweichungen vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 67ff. 158 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 267, Z. 46f.
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Auch sei der Bischof in diebus Pippini regis159 verstorben. Die geschilderten großartigen Leistungen des Prälaten werden durch diese ‚Datierung‘ nach dem König unmittelbar an die karolingische Dynastie gebunden, die Metzer Errungenschaften – wie die Liturgiereform nach römischem Vorbild oder die Restaurierung zentraler Sakralbauten – dadurch auch zu guten Werken der unmittelbaren Vorgänger Karls stilisiert. Die Betonung ist mithin zugleich als Ermahnung gegenüber dem König zu sehen, die lohnende Förderung der Metzer Kirche durch seinen Vater nicht – etwa zugunsten Triers – zu gefährden. Wie durchgreifend, heilsam und effektiv das Wirken Chrodegangs in der austrischen ‚Metropole‘ war, wird zudem im Falle der Kirchenreformen nach römischem Vorbild ebenfalls unter Zuhilfenahme eines Hinweises auf die schlechten Zustände der Vergangenheit betont. Denn der Bischof morem atque ordinem Romanae ecclesiae servare praecepit, quod usque ad id tempus in Mettensi ecclesia factum minime fuit.160 In der Darstellung des ‚Liber‘ hat Chrodegang also einen seit der Gründung des Bistums andauernden Mißstand durch die Einführung des römischen – und damit autoritativen – Ritus dauerhaft behoben und auf diese Weise Metz (endgültig) zu einem vorbildhaften Bistum gemacht. Kurz: Der Anspruch, Metropole zu sein, rechtfertigte sich nicht nur aus der Tradition, sondern auch aus der Qualität der dortigen Kirche. Allein, an dieser Stelle könnte auch Paulus’ persönliche Wahrnehmung ausschlaggebend gewesen sein, denn er stand wohl, trotz aller sonstigen Zurückhaltung in theologischen Belangen, in der seinerzeit virulenten Frage kirchlicher Führungsansprüche auf Seiten des Bischofs von Rom und war zweifelsohne mit dem römischen Ritus gut vertraut.161 Allerdings hätte seine ‚private‘ Sicht sich in diesem Fall wohl durchaus mit den Absichten der Großen des Metzer Bistums gedeckt, die offenbar bestrebt waren, sich durch eine „imitatio Romanae ecclesiae“162 zu profilieren – ein Konzept, dem auch die postulierte Gründung des Bistums durch einen Petrusschüler entspricht163 und in dem Aline Poensgen sogar ein zentrales Motiv des ‚Liber‘ hat sehen wollen: „die römische Kirche ist [...] Ursprung [der Metzer Kirche], ihr gleich zu werden, das Ziel.“164 Ein Konflikt zwischen Darstellungsabsicht und eigener Weltsicht bestand für Paulus also in der Frage des römischen Vorbilds sicher nicht. Mit Chrodegang endet der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘, nicht jedoch ohne die Perspektive einer weiteren Perpetuierung der Bischofsfolge (bis zum Jüngsten Tage) anzudeuten, denn so ist gewiß der Hinweis auf den Auftraggeber 159 Ebd., S. 268, Z. 31. 160 Ebd., Z. 9f. Zur Liturgiereform Chrodegangs bei Paulus vgl. auch Yitzhak HEN, Paul the Deacon and the Frankish Liturgy, in: Paolo Diacono (wie Anm. 20), S. 205-221, der sich gegen die von Cyrille Vogel genannten Indizien einer geplanten Kirchen- bzw. Liturgiereform bereits Pippins III. in der Beschreibung Bischof Chrodegangs ausspricht. 161 Vgl. hierzu HERREN (wie Anm. 105), bes. S. 227 u. S. 234. 162 POENSGEN (wie Anm. 21), S. 69. 163 Vgl. oben Anm. 92. 164 POENSGEN (wie Anm. 21), S. 69.
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und aktuellen Metzer Prälaten Angilramn auch zu verstehen,165 über dessen lobenswerten Lebenswandel zu berichten, Paulus – ganz im Zuge mittelalterlicher Topik – Besseren überlassen will.166 Es lag mithin bei Karl dem Großen, den doppelt, apostolisch wie durch den Spitzenahn Arnulf167 legitimierten Metropolitananspruch der civitas in der Gegenwart zu bestätigen und für die Zukunft zu bewahren. Daß der fromme Wunsch Angilramns, seine Bischofsstadt, die ohnehin durch seinen Einfluß am Hofe besonders in den Blick des großen Karolingers gerückt wurde, derart aufzuwerten, trotz der Hilfe eines großen langobardischen Gelehrten letztlich jedoch scheiterte, ist bekannt.168 In der Zusammenschau der – auch mit Rücksicht auf die Kürze der Quelle – wenigen Fälle expliziter temporaler Differenzierung im ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ läßt sich zunächst konstatieren, daß die Zuschreibungen von Vergangenheit Resultat der generellen Intention des Werkes sind, die Metzer Interessen im Hinblick auf die Ende des 8. Jahrhunderts zur Disposition stehende Machtverteilung innerhalb der fränkischen Kirche zu fördern. Sämtliche oben angeführten Belege erfüllen – sei es nun unbewußt oder als absichtlich verwendetes Stilmittel – den Zweck, die Rolle der ‚karolingischen‘ Bischofsstadt als rechtmäßige Metropole ihrer Region zu unterstreichen. Diese nahezu vollständige Deckungsgleichheit der in der Vergangenheitswahrnehmung offenbar wirksamen Deutungsmuster mit der beschriebenen Darstellungsabsicht ist, obwohl sie auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen mag, durchaus bemerkenswert. Sie spricht für eine weitgehende emotionale Distanz des Verfassers gegenüber den von ihm berichteten Sachverhalten. Denn häufig sind in historiographischen Quellen neben den durch die Intention des Werkes bewirkten temporalen Zuschreibungen auch durch davon abweichende, ‚persönliche‘, auf die Person des Autors bezogene Ansichten definierte Wahrnehmungsmuster zu erkennen, mit denen sich der Verfasser auch außerhalb seiner engeren Aussageabsicht bzw. seines Auftrags selbst identifizierte.169 Aus dem Bereich der frühmittelalterlichen Bischofsgesten sei hier diesbezüglich neben Beispielen aus den ‚Gesta pontificum Autissiodorensium‘170 be165 Vgl. GOFFART (wie Anm. 27), S. 377. 166 Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 268, Z. 34f. 167 Vgl. dazu auch GOETZ (wie Anm. 90), S. 211f. 168 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 291, dessen Vermutung hinsichtlich des Strebens Karls des Großen nach einem permanenten Sitz des Hofes – wie es später Aachen wurde – für diesen frühen Zeitpunkt jedoch letztlich noch nicht belegbar ist. 169 Vgl. exemplarisch für eine ausführliche Analyse, wenn auch für eine andere Gattung und Epoche ELLING (wie Anm. 8), S. 41-53. 170 Vgl. exemplarisch einige von zahlreichen Passagen in den Gesta pontificum Autissiodorensium, ed. Michel SOT, Guy LOBRICHON u.a., Les gestes des évêques d’Auxerre, Bd. 1 (Les classiques de l'histoire de France au Moyen Âge 42), Paris 2002, die nach den Ergebnissen einer ersten Durchsicht – neben anderen Indizien – ausgesprochen häufig die Gegenwart ihres Entstehungsprozesses im Kontrast zum Berichtshorizont aus Sicht der
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sonders auf Berthars ‚Gesta episcoporum Virdunensium‘ verwiesen, die – bei ähnlicher Darstellungsabsicht – in Form und Inhalt eine Identifikation des Autors mit seinem Bistum erkennen lassen, die der offensichtlichen Distanziertheit des Paulus Diaconus diametral entgegensteht.171 Welche Schlüsse lassen sich nun aus den gewonnenen Erkenntnissen ziehen? 1) Zunächst ist festzuhalten, daß es im ‚Liber‘ keine stets gültige, in sich kohärente Vorstellung davon gibt, welche Sachverhalte der Vergangenheit zuzurechnen sind, die als Maßstab entsprechender temporaler Abgrenzungen dienen würde. Statt dessen entscheiden von Fall zu Fall der Kontext und die Aussageabsicht über die zeitliche Differenzierung. Allgemeine Zeitvorstellungen spielen dabei offenbar keine größere Rolle. Allenfalls ist eine durchgehende Tendenz erkennbar, die (christlich-)römische Antike stets der Vergangenheit zuzuschreiben. Entsprechend liegen temporale Wahrnehmungsmuster des ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ eher im Bereich der Aussageabsicht des Werkes bzw. bestimmter Quellenpassagen als in den Geschichts- und Zeitvorstellungen des Verfassers begründet. 2) Ferner ist in bezug auf die eingangs gestellte Frage nach dem Spannungsfeld zwischen der Identität des Autors und der (vom Auftraggeber gewünsch1. Person reflektieren und so auf einen starken persönlichen Bezug der Verfasser zu den Inhalten hindeuten: [...] ut in gestis eiusdem sancti Amatoris legimus [...] (ebd. 5, S. 23, zu Bischof Eladius); [...] ut in gestis pontificalis legimus [...] (ebd. 7, S. 29, zu Bischof Germanus); Hec ideo premisimus, ut quo tempore beatus Germanus floruerit cercius demonstraremus. (ebd., S. 31); Fecit enim duas cruces [...], que ad nostram usque etatem in thesauris eiusdem æcclesiæ seruata permanserunt (ebd. 21, S. 113, zu Bischof Palladius); und passim. Zu den ‚Gesta pontificum Autissiodorensium‘ vgl. neuerdings Constance B. BOUCHARD, Episcopal Gesta and the Creation of a Useful Past in Ninth-Century Auxerre, in: Speculum 84, 2009, S. 1-35. 171 Vgl. Berthar, Gesta episcoporum Virdunensium, ed. Georg WAITZ (MGH SS IV), Hannover 1841, S. 36-45 passim, der ebenfalls einen ausgeprägten Stil aus Sicht der 1. Person pflegte und an seiner Hingabe an die Kirche von Verdun, deren Verluste durch den Brand der Bibliothek sein Werk (zumindest in Teilen) substituieren sollte, keinen Zweifel ließ, gerade in Verbindung mit temporalen Differenzierungen. Auch wenn ein ausführlicher Vergleich wünschenswert wäre, muß hier aus Raumgründen auf eine entsprechende Behandlung verzichtet werden, so daß an dieser Stelle einige Beispiele zur Veranschaulichung genügen sollen: De istis enim quae nostris oculis vidimus, quam plurima referre possumus. Tempore etenim Lotharii iunioris regis et domni Hattonis nostrae civitatis episcopi de istis sanctissimis viris reliquiae sunt sumptae et ad Theolegium monasterium [...] nostris temporibus sunt delatae (ebd. 2, S. 40, Z. 19-22, zu mehreren heiligen Bischöfen); Privilegium etenim nostris canonicis de antiquioribus villis fecit, et suis manibus aliorumque episcoporum ipsum sub divina attestatione roboravit. De virtutibus autem sancti patris nostri istud mirabile audivimus (ebd. 8, S. 43, Z. 20ff., zu Bischof Paulus); [Bischof Madelveus] Iherosolimam pervenit, et a patriarcha ipsius loci multorum sanctorum reliquias obtinuit, et eas [...] Virdunum apportavit, et in principali aecclesia nostra venerabiliter eas collocavit. Reliquias vero, quae fuerunt in antiquiori aecclesia [...] in cripta subterranea reposuit. Fuit enim tempore Pipini regis [...] (ebd. 12, S. 44, Z. 3-8). Zur Quelle vgl. Michel SOT, Art. Berthar, in: LexMA I, Sp. 2023f., der gerade darauf hinweist, daß Berthar schrieb, ohne „eigene Beobachtungen zu vernachlässigen“ (ebd. Sp. 2024).
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ten) ‚corporate identity‘ der Metzer Diözese, zumindest für den Bereich der Vergangenheitswahrnehmung, ein ganz eindeutiges Fazit zu ziehen: Paulus Diaconus gelingt es, seine eigenen Ansichten vollkommen hinter dem Versuch der Aufwertung des Metzer Bistums zurücktreten zu lassen. Das Individuum bleibt zugunsten der Institution im Hintergrund. Sogar in den wenigen Fällen, in denen dennoch ein individuelles Interesse hinter der betreffenden Vergangenheitszuschreibung vermutet werden könnte, ist wegen der Übereinstimmung mit der allgemeinen Aussageabsicht keine eindeutige Bestimmung möglich. Ob das Ausbleiben persönlicher Einflüsse der starren, nach Pontifikaten geordneten Struktur des Werkes geschuldet ist oder ob es sich um eine weitere singuläre Eigenschaft des ‚untypischen Prototypen‘ der fränkischen Bischofsgesten handelt, kann noch nicht endgültig entschieden werden. Letzteres scheint jedoch, angesichts des Ausnahmefalls eines institutionsfremden Autors, nicht unwahrscheinlich. Denn gerade weil der ‚Liber‘ sich eigentlich nicht an eine durchgehend gleiche Form hält, sondern die einzelnen Bischofsviten unterschiedlich gestaltet sind, steht zu vermuten, daß durchaus Raum für entsprechende Textgestaltungen des Paulus gewesen wäre. Ein Vergleich mit weiteren Bistumsgesten zur Klärung dieser Frage wäre wünschenswert, könnte aber dahingehend Probleme aufwerfen, daß bei der in den meisten Fällen gegebenen Zugehörigkeit des Verfassers zum Klerus der betreffenden Institution eine Interessenidentität beider Pole nicht auszuschließen ist,172 die für die Metzer Bischofsgesten angesichts der Vita ihres Verfassers definitiv nicht gegeben war. 3) Der obige Befund zeigt recht deutlich, daß der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ den Geist einer Auftragsarbeit atmet, die eine weitgehende Stärkung der Metzer Diözese in Zeiten möglicher kirchenpolitischer Umstrukturierungen zum Ziel hatte. Entsprechend ist Poensgen und Kempf Recht zu geben: „That Paul should have been sufficiently interested in the bishopric of Metz to write its early history can only be explained by virtue of its association with Angilramn“.173 Neben den Wünschen seines bischöflichen Freundes verfolgte der ‚fremde‘ Langobarde mit der Metzer Bistumsgeschichte – wenn überhaupt – eigene Interessen allenfalls indirekt und nicht eindeutig nachweisbar. (Angesichts seiner Bemühungen um die Freilassung seines Bruders muß eine solche, Konfliktpunkte meidende Zurückhaltung durchaus zielführend erschienen sein.) Keineswegs jedoch scheint sein Werk als Hofpropaganda zur Legitimation der karolingischen Herrschaft und zur Legitimierung einer Nachfolgeregelung ausgelegt zu sein, wie Goffart u.a. gemeint haben.174 Vielmehr bestätigt die Analyse der Vergangenheitswahrnehmung die These, daß das Werk zuallererst auf die Legitimation der Metzer Ansprüche am Hofe Karls des Großen abstellte und sich zu diesem Zweck mehrfach ‚offizielle‘ Geschichtsdeutungen zu eigen machte. Die von Sot betonte „glorification of the Carolingian familiy“ scheint 172 Vgl. oben Anm. 23. 173 KEMPF (wie Anm. 21), S. 280. Vgl. auch oben Anm. 52. 174 Vgl. oben Anm. 20 und 56.
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daher lediglich das Beiprodukt der zielgerichteten „glorification of the bishops of the time, who were chaplains for Charlemagne and promoted the Roman liturgy“, zu sein.175 Paulus Diaconus war mit seinen Bischofsgesten zuvorderst der Diözese, und nicht so sehr der regierenden Dynastie verpflichtet. Allerdings mußte für ihn zwischen diesen beiden Polen auch nicht notwendigerweise ein Interessenkonflikt bestehen, geschah die Propagierung der Metzer Interessen doch zu einem erheblichen Teil über das Lob der Karolinger. 4) Angesichts der gewonnenen Einsichten hinsichtlich der persönlichen Zurückhaltung des langobardischen Historiographen im ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ sollte zudem in jedem Fall geprüft werden, inwieweit diese Quelle – trotz einiger stilistisch-erzähltechnischer Parallelen mit seinen übrigen Werken176 – ohne nähere Differenzierung als Grundlage zur Erforschung allgemeiner Vorstellungen, Ansichten und Emotionen ihres Verfassers177 oder übergreifender Intentionen seines Gesamtwerkes geeignet ist. Auch ist durchaus fraglich, ob der ‚Liber‘ sich inhaltlich tatsächlich so nahtlos wie bisher häufig angenommen in die Reihe jener Quellen fügt, die primär der Propagierung übergreifender karolingischer Geschichtsdeutungen verpflichtet waren,178 da er aus diesen offenbar eher nach Bedarf einzelne Aspekte auswählte als selbst an ihrer Entwicklung mitzuwirken.179 5) Insgesamt ist der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ somit als ein Auftragswerk zu sehen, in dessen Erstellung sein Verfasser, der als Fremder am Hofe Karls des Großen weilte und wohl aus Gefälligkeit dem Wunsch Angilramns folgte, die Geschichte seines Bistums zu verfassen, wenig eigenes Herzblut legte. Als solches ist die Quelle aber ein besonderer Fall, der gerade für weiterführende wahrnehmungsgeschichtliche Untersuchungen frühmittelalterlicher Institutionsgeschichten eine wertvolle Vergleichsmöglichkeit bietet. 6) Über diese, eine bestimmte Quelle betreffenden Erkenntnisse hinaus konnte zudem praktisch aufgezeigt werden, in welcher Form die Analyse der Wahrnehmung von Vergangenheit, als eines zentralen Bereiches menschlicher Identitätsbildung, über den engeren Bereich der Fragestellung hinaus Licht auf das Verhältnis von Quellenautoren zu ihren Werken bzw. auf ihre möglichen Aussageabsichten zu werfen in der Lage ist. Gerade auch in dieser metho175 SOT (wie Anm. 17), S. 102. 176 Vgl. oben Anm. 107, und GANDINO (wie Anm. 33), S. 84-89, die vor allem Ähnlichkeiten zur ‚Historia Langobardorum‘ aufzeigt. 177 Vgl. etwa ebd., S. 89, den Versuch, die Parallelen zur ‚Historia Langobardorum‘ zu erklären: „Dunque, nei Gesta episcoporum Mettensium Paolo Diacono consegna anche parti originali della memoria storica e individuale del suo popolo, per costruire e legittimare il ruolo nella storia di chi il suo popolo ha sconfitto. Non si tratta tuttavia di un paradosso: si tratta piuttosto di una sorta di dono che la vicinanza fisica e affettiva a Carlo Magno aveva reso possibile.“ 178 Vgl. exemplarisch MCKITTERICK (wie Anm. 125), S. 76f. 179 Vgl. oben S. 226f. mit Anm. 123-126 sowie S. 229 mit Anm. 142f.
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dischen Funktionalisierung als ein Kontroll- und Differenzierungsinstrument im Hinblick auf (mittelalterliche) Quellen ist das Potential eines wahrnehmungsgeschichtlichen Ansatzes zu sehen.
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Exul, Paganus, Ignotus Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremden und Anderen in Brunos ‚Sachsenkrieg‘
Sein ‚Buch vom Sachsenkrieg‘ schrieb Bruno, ein nicht näher bekannter Geistlicher aus der Umgebung des Erzbischofs Werner von Magdeburg und später des Bischofs Werner von Merseburg, dem er sein opus widmete,1 in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, vermutlich kurz nach 1082.2 Er schilderte darin den Ausbruch und Verlauf des Sachsenaufstandes gegen König Heinrich IV., wobei seine Darstellung der Ereignisse stark subjektiv zugunsten der Sachsen und zuungunsten Heinrichs ausfiel. Als glühender Vertreter seines Volkes (gens Saxonum) zielte Bruno in seinem Werk vornehmlich darauf, die Sache der Sachsen, die Richtigkeit ihrer Auflehnung gegen den König und gleichzeitig die Schlechtigkeit, Ungerechtigkeit und Tyrannei Heinrichs IV. zu dokumentieren.3 Wegen 1 2
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Vgl. Brunos Buch vom Sachsenkrieg, neu bearb. v. Hans-Eberhard LOHMANN, MGH Dt. MA 2, Leipzig 1937, S. 12 (weiter aufgeführt als ‚Saxonicum bellum‘). Zu Autor und Werk vgl. Wilhelm WATTENBACH u. Robert HOLTZMANN, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier, 2. Tl., 3. u. 4. Heft: Die Zeit des Investiturstreits (1050-1125), Neuausgabe, besorgt v. Franz-Josef SCHMALE, Darmstadt 1967, S. 592-594, sowie ebd. Tl. 3, Nachtrag zu Tl. 2, Darmstadt 1971, S. 168*; vgl. auch Franz-Josef SCHMALE, Art. Bruno von Magdeburg, in: LMA 2, Sp. 791; DERS., Art. Bruno von Magdeburg, in: Verfasserlexikon 1, Spp. 1071-1073; DERS., Zu Brunos Buch vom Sachsenkrieg, in: DA 18, 1962, S. 236-244; zur Datierung des Werkes vgl. zusätzlich auch Wolfgang EGGERT, Das Wir-Gefühl bei fränkischen und deutschen Geschichtsschreibern bis zum Investiturstreit, in: DERS. u. Barbara PÄTZOLD, WirGefühl und Regnum Saxonum bei frühmittelalterlichen Geschichtsschreibern (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 21), Wien-Köln-Graz 1984, S. 13-179, hier S. 154, der sich dabei gegen Schmale, welcher die Niederschrift des Werkes zwischen 1082 und 1093 ansetzt, und für Klaus SPRIGADE, Über die Datierung von Brunos Buch vom Sachsenkrieg, in: DA 23, 1967, S. 544-548, hier S. 548, nach dem Bruno das Werk in den ersten Monaten des Jahres 1082 geschrieben haben muß, ausspricht. Vgl. dazu Gerd ALTHOFF, Pragmatische Geschichtsschreibung und Krisen. Zur Funktion von Brunos Buch vom Sachsenkrieg, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. v. Hagen KELLER, Klaus GRUBMÜLLER u. Nikolaus STAUBACH (Münstersche Mittelalter-Schrr. 65), München 1992, S. 95-107, bes. S. 100ff. – Kontrovers dazu Wolfgang EGGERT, Wie „pragmatisch“ ist Brunos Buch vom Sachsenkrieg?, in: DA 51, 1995, S. 543-553; Gerd ALTHOFF, Heinrich IV. (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2006, S. 86ff. Ähnlich auch Eberhard KESSEL, Die Magdeburger Geschichtsschreibung im Mittelalter bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für die
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seiner einseitigen und subjektiven Sicht auf die Ereignisse und die handelnden Personen galt Brunos Saxonicum bellum zeitweise als ein Schriftstück, dem „jegliche[r] Quellenwert abgesprochen“ wurde.4 Folgt man hingegen einem mentalitäts- und vorstellungsgeschichtlichen Ansatz, der nicht in erster Linie auf die historische Glaubwürdigkeit eines Tatsachenberichts Wert legt, sondern vornehmlich auf die vom Autor geäußerten Anschauungen, Bewertungen und Überzeugungen, so wird die längst obsolet gewordene, im Historismus des 19. Jahrhunderts wurzelnde Frage nach der möglichst wirklichkeitsgetreuen und objektiven Wiedergabe der Geschehnisse durch einen Quellentext irrelevant. Als ein eindeutiges und leidenschaftlich verfaßtes Zeugnis von Ab- und Ausgrenzung von Anderen oder Fremden eignet sich Brunos ‚Sachsenkrieg‘ mit seinen subjektiven Stellungnahmen daher besonders gut, um an seinem Beispiel mittelalterliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremdheit und Alterität aufzuzeigen und zu analysieren.
1. Forschungs- und begriffliche Problematik von ‚Fremdheit‘ Um sich an die mittelalterlichen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Fremdheit herantasten zu können, ist es notwendig, sich zunächst mit den Begriffen ‚Fremde‘, ‚Fremdheit‘ oder ‚fremd‘ zu befassen. Doch die Begriffe, obwohl sie „eine Grundkategorie unserer Lebenserfahrung“5 zur Sprache bringen sollten, bereiten nicht nur einer Mittelalterhistorikerin Probleme; auch in der übrigen Wissenschaftswelt ist eine genaue Definition der Begriffe sowie eine
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Provinz Sachsen und Anhalt 7, 1931, S. 109-184, hier S. 144. Vgl. außerdem Otto-Hubert KOST, Das östliche Niedersachsen im Investiturstreit. Studien zu Brunos Buch vom Sachsenkrieg (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 13), Göttingen 1962, der seine Untersuchung vor allem auf die in Brunos Werk eingefügten Briefe stützt. So faßt Franz-Josef SCHMALE, Einleitung, in: Quellen zur Geschichte Kaiser Heinrichs IV., hg. v. DEMS. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. FSGA 12), 4., erweiterte Aufl., Darmstadt 2000, S. 1-49, hier S. 29, die ältere Forschung zusammen. Ein ähnliches Urteil über die Unbrauchbarkeit des Werkes äußerte auch Gerd TELLENBACH, Der Charakter Heinrichs IV. Zugleich ein Versuch über die Erkennbarkeit menschlicher Individualität im hohen Mittelalter, in: Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum 65. Geburtstag, hg. v. Gerd ALTHOFF, Dieter GEUENICH, Otto Gerhard OEXLE u. Joachim WOLLASCH, Sigmaringen 1988, S. 345-367, hier S. 348. Einen hohen mentalitätsgeschichtlichen Wert des ‚Sachsenkrieges‘ hingegen stellt Ernst SCHUBERT, Geschichte Niedersachsens vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, in: Geschichte Niedersachsens, begr. v. Hans PATZE, Bd. 2,1: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, hg. v. Ernst SCHUBERT (Veröffentlichungen der hist. Komm. für Niedersachsen und Bremen 36), Hannover 1997, S. 1-904, hier S. 269-271, fest. Meinhard SCHUSTER, Ethnische Fremdheit, ethnische Identität, in: Die Begegnung mit dem Fremden. Wertungen und Wirkungen in Hochkulturen vom Altertum bis zur Gegenwart, hg. v. DEMS. (Colloquium Rauricum 4), Stuttgart-Leipzig 1996, S. 207-221, hier S. 207.
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eindeutige Beschreibung der dahinter liegenden Phänomene schwierig. Das Ausmaß des Problems wird schon allein an der Tatsache deutlich, daß es in der klassischen Wissenschaft von kultureller Fremdheit wie der Ethnologie bislang keine erschöpfende Begriffsklärung gibt – „der Fremdheitsbegriff ist kein Grundbegriff der Ethnologie, der sich einen festen Platz in einschlägigen Lehrbüchern und Lexika erobert hat“, beklagt Bargatzky.6 Richtungweisende Impulse auf dem Gebiet der Fremdheitsforschung verdanken wir statt dessen Forschern anderer Wissenschaftszweige, allen voran Klassikern der Soziologie wie Georg Simmel, Max Weber oder Alfred Schütz.7
1.1. ‚Fremdheit‘ als modernes Phänomen in den Sozialwissenschaften und in der Philosophie Laut Simmels berühmt gewordener Definition ist der Fremde „der, der heute kommt und morgen bleibt.“ Außerdem ist er, so Simmel weiter, „innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises […] fixiert, aber seine Position in diesem ist dadurch wesentlich bestimmt, daß er nicht von vornherein in ihn gehört, daß er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt“.8 Der Soziologe Zygmunt Bauman brachte die Überlegungen Simmels auf den Punkt, indem er das Wesen des Fremden als desjenigen umschrieb, der „socially distant yet physically close“ ist.9 Das Wort „physisch“ ist hier nicht wörtlich zu verstehen; es bedeutet vielmehr jede Art von materieller und/oder geistiger Anwesenheit, die von anderen Menschen wahrgenommen und registriert wird. Denn Fremde können nur dann als Fremde wahrgenommen und klassifi6
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Thomas BARGATZKY, Die Ethnologie und das Problem der kulturellen Fremdheit, in: Den Fremden wahrnehmen. Bausteine für eine Xenologie, hg. v. Theo SUNDERMEIER (Studien zum Verstehen fremder Religionen 5), Gütersloh 1992, S. 13-29, hier S. 15. BARGATZKY selbst definiert den Fremden auf folgende Weise: „es handelt sich dabei um eine Person, die in einer bestimmten Gesellschaft nicht primär sozialisiert wurde“ (ebd. S. 19, Anm. 16). Vgl. exemplarisch Georg SIMMEL, Exkurs über den Fremden, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 685-691; Max WEBER, Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen, in: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51985, S. 234-244; Alfred SCHÜTZ, Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch, in: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie, hg. v. Arvid BRODERSEN, Den Haag 1972, S. 53-69 u. DERS., Der Heimkehrer, ebd., S. 70-84. Gleichzeitig ist zu beobachten, daß das Thema Fremdheit neben dem rein akademischen Bereich u.a. auch in der Schuldidaktik reges Interesse und Anwendung findet: Vgl. exemplarisch Arnold BÜHLER, Zwischen Europa und Orient. Der Kreuzzug Barbarossas – ein Lernfeld für das Fremdverstehen?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 57, 2006, S. 412-426; Herbert PROKASKY, Das Eigene und das Fremde. Ansatz zu einem Geschichtsunterricht in weltbürgerlicher Absicht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58, 2007, S. 76-89. SIMMEL (wie Anm. 7), S. 685. Zygmunt BAUMAN, Postmodern Ethics, Oxford-Cambridge, MA 1993, S. 153.
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ziert werden, wenn sie sich, wie Bauman es ausdrückt, „in Reichweite“10 befinden. Diese Inkongruenz zwischen den sozialen und physischen Koordinaten, die einen Fremden ausmachen und in der modernen Welt als normal und allgemein verbreitet gelten, gab es in vormodernen Gesellschaften wie der mittelalterlichen viel seltener. Zu dieser Zeit waren soziale und physische Nähe in den meisten Fällen identisch11 – für gewöhnlich war der mittelalterliche Mensch von Familienangehörigen, Freunden, Bekannten und Nachbarn umgeben, und kannte verhältnismäßig wenige Menschen, auf die die erwähnte Inkongruenz zutraf, und die demzufolge als Fremde eingestuft wurden. In der modernen urbanen Welt hingegen ist die fehlende Überlappung der beiden Koordinaten fast allgegenwärtig, weshalb wir heutzutage nicht nur daran gewöhnt sind, Fremde wahrzunehmen, um sie gleichzeitig zu ignorieren, sondern auch mit der Tatsache umzugehen, daß wir im Alltag viel häufiger auf Fremde als auf Angehörige unseres Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreises treffen.12 Einschränkend muß hier allerdings eingeräumt werden, daß es auch in der modernen Welt durchaus (ländliche) Gegenden gibt, in denen keine (groß)städtische Anonymität herrscht, und wo demzufolge Fremde selten sind und in den meist kleinen Gemeinschaften auffallen. In seinem Versuch, die „Vieldeutigkeit des Fremden“ zu benennen, unterscheidet der Philosoph Bernhard Waldenfels drei Bedeutungsnuancen und -kontraste des Begriffes: „Fremd ist erstens, was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt als Äußeres, das einem Inneren entgegensteht […]. Fremd ist zweitens, was Anderen gehört […], im Gegensatz zum Eigenen. […] Fremd ist drittens, was von anderer Art, was fremdartig, unheimlich, seltsam ist […], im Gegensatz zum Vertrauten. Der Gegensatz Äußeres/Inneres verweist auf einen Ort des Fremden, der Gegensatz Fremdes/Eigenes auf den Besitz, der Gegensatz Fremdartiges/Vertrautes auf eine Art des Verständnisses. Daß es sich hierbei um verschiedene Bedeutungen handelt, zeigt sich darin, daß ein und derselbe Sachverhalt in einem Sinne fremd sein kann, im anderen nicht, so 10 Ebd., S. 159. 11 Ebd., S. 150. 12 Vgl. dazu auch Rudolf STICHWEH, Der Fremde – zur Soziologie der Indifferenz, in: Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, hg. v. Herfried MÜNKLER unter Mitarbeit v. Bernd LADWIG (Studien und Materialien der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Die Herausforderung durch das Fremde der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften), Berlin 1997, S. 45-64, hier S. 55f. sowie Kai-Uwe HELLMANN, Fremdheit als soziale Konstruktion. Eine Studie zur Systemtheorie des Fremden, in: Die Herausforderung durch das Fremde. Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Die Herausforderung durch das Fremde, hg. v. Herfried MÜNKLER unter Mitarbeit v. Karin MESSLINGER u. Bernd LADWIG (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen Forschungsberichte 5), Berlin 1998, S. 401459, hier S. 405. Ähnlich auch Jerzy STRZELCZYK, Die Wahrnehmung des Fremden im mittelalterlichen Polen, in: Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposions des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlaß des 1000. Todestages der Kaiserin Theophanu, hg. v. Odilo ENGELS u. Peter SCHREINER, Sigmaringen 1993, S. 203-220, hier S. 203.
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das Haus des Nachbarn, das mir nicht gehört, aber wohlvertraut ist, oder ein ausländischer Kollege, mit dem ich eng zusammenarbeite.“13
So klar die dreifache Kategorisierung des Begriffes ‚fremd‘ also erscheint, so vielschichtig und ambivalent zeigt sich ihre Anwendung in der Wirklichkeit. Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Die Herausforderung durch das Fremde“, geleitet vom Politikwissenschaftler Herfried Münkler, erarbeitete u.a. in Anlehnung an das Konzept Waldenfels’ als eins ihrer Ergebnisse drei „Leitvorstellungen“ von Fremdheit, die den Untersuchungen der Arbeitsgruppe zugrunde lagen. Dabei handelt es sich zum einen um die sogenannte ‚soziale Fremdheit‘, die sich auf Nichtzugehörigkeit anderer Personen oder auch deren Besitzes bezieht, zum anderen um die ‚kulturelle, lebensweltliche Fremdheit‘, die sich auf die Tatsache bezieht, daß einem etwas unvertraut ist oder merkwürdig, ‚befremdlich‘ vorkommt, und schließlich um die Vorstellung, daß Fremdheit „gradualisierbar“ ist. Dahinter steckt die Idee, daß definitive, strikt von dem Eigenen getrennte Fremdheit, sei sie sozial oder kulturell, nur selten vorkommt, und sie statt dessen eher in „Grenz- und Übergangsbereichen“ zwischen dem Eigenen und Fremden ausfindig zu machen ist.14 Auch hier also fehlt es an einer eindeutigen und klar umrissenen Definition von ‚Fremdheit‘; vielmehr weist Münkler ähnlich wie Waldenfels auf die Mehrdeutigkeit oder schwierige Faßbarkeit des Begriffes hin. Auch in der Sozialpsychologie wird ‚Fremdheit‘ thematisiert, allerdings wird dabei der Schwerpunkt auf die Analyse von ‚Fremdheit‘ als der Kehrseite von ‚Normalität‘ gelegt: „Der Durchschnitt markiert das Übliche, Berechenbare, und was stark davon abweicht, ist nicht einzuordnen, ist fremd. [...] Die Bestimmung einer sozialen Gruppe als ‚nicht normal‘ kann alle genannten Facetten des Normalitätsbegriffes gleichzeitig einschließen: Die Anderen sind uns fremd, sie sind uns unterlegen und sie sind eine Bedrohung für uns.“15 In der Psychologie wird demnach das Fremde erstens, zumindest bei Schmid, mit dem Anderen gleichgesetzt, was erneut ein Beispiel dafür ist, wie ungenau die Fremdheitsbegrifflichkeit benutzt wird, und zweitens als das nicht Normale vor allem negativ konnotiert und als verwirrend, minderwertig oder bedrohlich ausgelegt. Hier wird also ‚fremd‘ mit ‚feindlich‘ gleichgestellt, das es zu bekämpfen gilt, damit es 13 Bernhard WALDENFELS, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt/M. 2006, S. 111f. 14 Vgl. dazu den Band Die Herausforderung durch das Fremde (wie Anm. 12), und insbesondere Herfried MÜNKLER u. Bernd LADWIG, Einleitung: Das Verschwinden des Fremden und die Pluralisierung der Fremdheit, in: ebd., S. 11-25, bes. S. 23. 15 Jeannette SCHMID, Die Wahrnehmung des Anderen. Sozialpsychologische Anmerkungen zu Ethnozentrismus und Marginalisierung, in: Fremde der Gesellschaft. Historische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Differenzierung von Normalität und Fremdheit, hg. v. Marie Theres FÖGEN (Ius Commune. Veröffentlichungen des MPI f. Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt/M. Sonderhefte Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 56), Frankfurt/M. 1991, S. 147-167, hier S. 148.
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die Kohärenz des eigenen Weltbildes und damit der eigenen Identität nicht ins Wanken bringt.
1.2. ‚Fremdheit‘ als Forschungsgegenstand in der Mediävistik Vergleichen wir den gerade skizzierten modernen Wissensstand mit der mittelalterlichen Überlieferung, so müssen wir feststellen, daß wir über keine theoretischen Texte mittelalterlicher Gelehrter verfügen, die sich mit dem Phänomen ‚Fremdheit‘ in ähnlichem Ausmaß befaßt hätten. Dieser Umstand macht die Untersuchung von mittelalterlichen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von Fremdheit und Alterität umso diffiziler, bedeutet er doch, daß wir den hier zu untersuchenden Mustern nicht mit Hilfe von Aussagen und Überlegungen der Zeitgenossen entgegenkommen können. Daß Fremde in der mittelalterlichen Gesellschaft – verglichen mit der Moderne – verhältnismäßig selten auftraten und als halbwegs ungewöhnlich galten, blieb nicht ohne Folgen. Menschen, die sich als Fremde, Nichtzugehörige einer Gruppe näherten, strebten meist danach, in die Gruppe aufgenommen zu werden, dazuzugehören, auch wenn sie mit Einschränkungen, Vorbehalt oder Argwohn zu rechnen hatten, die einem „nicht von Anfang an“16 Dagewesenen entgegengehalten werden: „The unattached person during the Middle Ages was one either condemned to exile or doomed to death: if alive, he immediately sought to attach himself, at least to a band of robbers. To exist, one had to belong to an association: a household, a manor, a monastery, a guild; there was no security except in association, and no freedom that did not recognize the obligations of a corporate life. One lived and died in the style of one’s class and corporation.“17
Dieser spezifische Drang zur Gruppenzugehörigkeit, die Lewis Mumford für die mittelalterliche Gesellschaft als von konstitutivem Rang ausmachte, müßte auch, so wird zumindest in der Forschung behauptet, für die (doch so heterogene) Gruppe der mittelalterlichen Fremden auszumachen sein. Mit anderen Worten, auch unter Fremden müßte es zu spezifischen Gruppenbildungen gekommen sein, sei es von innen, in einem Akt von „Selbstzuordnung“, oder von außen, d.h. als Gruppenzuordnung durch andere. Diesen Überlegungen entsprechend, postuliert Jerzy Strzelczyk die Möglichkeit einer klaren Kategorisierung von Fremden im Mittelalter, und zählt dabei vier verschiedene Ebenen von 16 Vgl. dazu Zygmunt BAUMAN, Moderne und Ambivalenz, in: Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt?, hg. v. Ulrich BIELEFELD, Hamburg 1998, S. 23-49, hier S. 29. 17 Lewis MUMFORD, The culture of cities, New York 1938, S. 29. Zu dem Konzept von Abweisung (Tod, Exil) und Aneignung (Eingliederung in die eigene Gemeinschaft) von Fremden vgl. auch Justin STAGL, Grade der Fremdheit, in: Furcht und Faszination (wie Anm. 12), S. 85-114, hier S. 102-105.
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Fremdheit auf: die regionale, die ethnisch/politische, die religiöse und die gesellschaftliche (soziale) Fremdheit.18 Gleichzeitig räumt Strzelczyk jedoch ein, daß die von ihm aufgestellten Kategorien, wollte man sie genau so in mittelalterlichen Texten wiederfinden, nicht gerade leicht herauslesbar oder greifbar sind.19 Fremdheitskategorien wie die von Strzelczyk, aber auch grundsätzlichere Überlegungen zum Thema Fremdheit, die von Soziologen, Philosophen oder Psychologen angestellt werden, tragen deshalb häufig, wollte man mit ihnen möglichst exakt an Texten arbeiten, die einer Mittelalterhistorikerin zur Verfügung stehen, bei konkreter Quellenanalyse eher zu weiteren Problemen bei, als daß sie hilfreich sind. Dies ist wohl einer der Gründe dafür, daß es in der Mediävistik lange Zeit in bezug auf die Thematik ‚Fremdheit‘ und ‚Fremde‘ vorwiegend Studien über (spätmittelalterliche) Reise- und Gesandtenberichte oder Berichte über exotische, weit entfernt lebende Völker gab20 – dort konnten Fremdgruppen nämlich verhältnismäßig leicht von den Eigenen allein schon geographisch getrennt und so auch mental unterschieden und eindeutig identifiziert werden. Anders verhält es sich mit Quellentexten wie historiographischen Werken, in denen sich die Verfasser nicht explizit mit der Problematik der Fremden und Fremdheit befassen, sondern diese in größeren Erzählzusammenhängen entweder nur indirekt oder gar nicht erst erwähnen bzw. benennen. In solchen Fällen ist es erwiesenermaßen unergiebig, Kategorien anwenden zu wollen, die aus der Perspektive eines modernen Geschichtswissenschaftlers modellhaft konstruiert wurden, wie die von Strzelczyk vorausgesetzten. Nicht nur gestaltet es sich schwierig, diese analog in den zu untersuchenden Texten wiederzufinden, sondern dadurch, daß sie bereits vorgefertigt und verfestigt den mittelalterlichen Texten gewissermaßen übergestülpt werden, lassen sie nicht mehr 18 STRZELCZYK (wie Anm. 12), S. 204. 19 Ebd. Strzelczyk spricht den Kategorien ‚ethnisch-politisch‘ und ‚religiös‘ durchaus Chancen zu, sie in den Quellen relativ leicht in Analogie wiederzufinden, wohingegen ‚soziale‘ und ‚regionale‘ Fremdheit seiner Auffassung nach nur schwer aus den Quellen „extrahiert“ werden können. 20 Vgl. exemplarisch Ines HENSLER, Ritter und Sarrazin. Zur Beziehung von Fremd und Eigen in der hochmittelalterlichen Tradition der „Chansons de geste“ (Beihefte zum AKG 62), Köln-Weimar-Wien 2006; John V. TOLAN, Saracens. Islam in the Medieval European Imagination, New York 2002; Marina MÜNKLER, Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts, Berlin 2000; Fremdheit und Reisen im Mittelalter, hg. v. Irene ERFEN u. Karl-Heinz SPIEß, Stuttgart 1997; Felicitas SCHMIEDER, Europa und die Fremden. Die Mongolen im Urteil des Abendlandes vom 13. bis in das 15. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 16), Sigmaringen 1994; Arnold ESCH, Anschauung und Begriff. Die Bewältigung fremder Wirklichkeit durch den Vergleich in Reiseberichten des späten Mittelalters, in: HZ 253, 1991, S. 281-312; Johannes KODER, Die Sicht des „Anderen“ in Gesandtenberichten, in: Begegnung (wie Anm. 12), S. 113-129; FOLKER Reichert, Begegnungen mit China. Die Entdeckung Ostasiens im Mittelalter (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 15), Sigmaringen 1992; DERS., Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart 2001.
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zu, sich den Texten und ihren impliziten Besonderheiten ohne zusätzliche Einschränkungen, welche die „doppelte Theoriebindung“ nach Johannes Fried einem Mittelalterhistoriker ohnehin abfordert,21 zu nähern. Erschwerend kommt noch hinzu, daß die meisten theoretischen Überlegungen zur Fremdheit, und seien sie auch von Mediävisten angestellt, von modernen Gesellschaften, ihren spezifischen, nicht selten urbanen Modalitäten ausgehen und vergessen, daß mittelalterliche Gesellschaften weder mit solchen noch mit den ‚face-to-face‘ Stammesgesellschaften in der Gegenwart, die lange Zeit vor allem von Ethnologen als Modelle von „Urgesellschaften“ betrachtet und untersucht wurden, viel gemeinsam haben.22 Das Problem einer geeigneten Definition von Fremden im Mittelalter spricht u.a. Christian Lübke an und versucht, einer Lösung des Problems näherzukommen, indem er für eine Kombination von mehreren Ebenen von Fremdheit plädiert, die die Realien und Mechanismen mittelalterlicher Gesellschaften geeigneter abzubilden vermag: Es handelt sich dabei um eine „Erweiterung der Kategorie der ethnisch und anthropo-morphologisch Fremden durch den (sozialen) Aspekt der Externität, die geographisch [...] oder rechtlich begründet sein kann.“23 Gleichwohl räumt Lübke vernünftigerweise ein, damit nicht „die Fremdheit an sich“ umschreiben zu können, sondern lediglich eine Arbeitsgrundlage für seine Untersuchungen geschaffen zu haben. Mit anderen Worten, dem mittelalterlichen Fremdheitsphänomen kann man nicht mit fertigen, modernen Theorien oder Modellen beikommen, sondern man sollte sich erstens auf die Daten einlassen, die uns die mittelalterlichen Autoren in ihren Texten liefern, und zweitens daraus eine geeignete Arbeitsmethode und -definition zusammenstellen, die der jeweiligen Fragestellung und den zur Verfügung stehenden Quellen gerecht wird.24 21 Johannes FRIED, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im frühen Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. v. Jürgen MIETHKE u. Klaus SCHREINER, Sigmaringen 1994, S. 73-104. 22 Zusammenfassend dazu vgl. Hans-Werner GOETZ, „Fremdheit“ im früheren Mittelalter, in: Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken, hg. v. Peter AUFGEBAUER u. Christine VAN DEN HEUVEL (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 232), Hannover 2006, S. 245-265, bes. S. 245-250. 23 Christian LÜBKE, Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten Gesellschaften (9.-11. Jahrhundert) (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart 23), Köln-Weimar-Wien 2001, S. 110. 24 Vgl. z.B. The Stranger in Medieval Society, hg. v. Frank Ronald P. AKEHURST u. Stephanie CAIN VAN D’ELDEN (Medieval Cultures 12), Minneapolis, MN-London 1998; Volker SCIOR, Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 4), Berlin 2002; Meeting the Foreign in the Middle Ages, hg. v. Albrecht CLASSEN, New York-London 2002; David FRAESDORFF, Der barbarische
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2. Methodische Vorgehensweise – Fremde und Andere in mittelalterlicher Historiographie Die dargestellten methodischen Schwierigkeiten, aber auch die Polysemie25 des Fremdheitsbegriffes machen es so schwierig, aus schriftlichen Zeugnissen, die bei der Erforschung der Vergangenheit in erster Linie zur Verfügung stehen, auf diejenige Ebene der Texte zu schließen, in der die Denk-, Verständnis- und Mentalitätsstrukturen sichtbar werden, die den Autoren jener Texte eigen waren. Hier begriffsgeschichtliche Methoden anzuwenden gestaltet sich deshalb in vielen Fällen als nützlich, aber nicht ausreichend. Es finden sich nur wenige Textstellen, zumal in Chroniken des Hochmittelalters, in denen ‚fremd‘, ‚Fremde‘ oder ‚Fremdheit‘ als Begriffe thematisiert, geschweige denn ihre Bedeutung erklärt wird. Um dieser Unzulänglichkeit zu entgehen, müssen wir unser methodisches Suchinstrumentarium modifizieren. In der vorliegenden Studie soll daher der Versuch unternommen werden, eine taugliche Untersuchungsmethode zu finden und sie an Brunos von Merseburg Saxonicum Bellum zu erproben. Der Ausgangspunkt wird dabei sein, mittelalterliche Texte nicht auf moderne Theorien hin zu untersuchen, oder in ihnen unsere fertigen Fremdheitskonzepte wiederfinden zu wollen, sondern, umgekehrt, nach gegebenenfalls vorhandenen Fremdheitskategorien eines mittelalterlichen Autors zu suchen und diese zu bestimmen, um daraus die mittelalterlichen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremdheit herausarbeiten zu können.26 Um sich also den mittelalterli-
Norden. Vorstellungen und Fremdheitskategorien bei Rimbert, Thietmar von Merseburg, Adam von Bremen und Helmold von Bosau (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 5), Berlin 2005. Einen komparatistischen Ansatz versuchte in seiner Dissertation auch Andreas MOHR, Das Wissen über die Anderen. Zur Darstellung fremder Völker in den fränkischen Quellen der Karolingerzeit (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 7), Münster-New York-München-Berlin 2005, ohne jedoch eine Definition für bzw. Reflexion über die von ihm durchgehend synonym verwendeten Begriffe „Fremde“ und „Andere“ zu liefern. 25 WALDENFELS (wie Anm. 13), S. 112; so auch MÜNKLER u. LADWIG (wie Anm. 14), S. 22. Daß die Bezeichnung ‚Polysemie‘ in vielen Fällen eher ein Euphemismus ist, zeigt die weitverbreitete Tatsache, daß eine genauere Definition des zu untersuchenden Phänomens ‚Fremdheit‘ in der Forschung (zumal in der Geschichtswissenschaft) nicht einmal versucht wird. In den meisten Fällen wird das Verständnis davon, was der jeweilige Autor mit Fremdheit meint, wortlos vorausgesetzt, was beim Leser nicht selten den Eindruck von einem nicht nur vieldeutigen, sondern gar schwammigen Begriff hinterläßt. 26 Dabei beziehe ich mich auf die theoretischen Überlegungen zu mittelalterlichen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von Hans-Werner GOETZ, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: Wahrnehmungsund Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut BLEUMER u. Steffen PATZOLD (Das Mittelalter. Perspektiven interdisziplinärer Mittelalterforschung 8), Berlin 2003, S. 23-33, sowie von Hartmut BLEUMER u. Steffen PATZOLD, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittelalters, in: ebd., S. 4-20, bes. S. 6f.,
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chen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern in bezug auf Fremde nähern zu können, gilt es zum einen, begriffsgeschichtlich vorzugehen. Dabei werden diejenigen Wörter in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt, die von den mittelalterlichen Autoren in ihren Texten für die Bezeichnung von Fremden benutzt wurden. Doch bereits diese Herangehensweise birgt Probleme in sich. Die Wörter nämlich, die von den Autoren in ihrer Schriftsprache Latein benutzt wurden, sind genauso wenig eindeutig wie ihre Übersetzungen in moderne Sprachen. Anders ausgedrückt, die lateinischen Autoren kannten mehrere, sprachgeschichtlich in ihren Bedeutungen unterschiedliche Wörter, die heute vereinfachend als lateinische Entsprechungen für ‚fremd‘ oder ‚Fremder‘ betrachtet werden, jedoch jeweils eine bestimmte Facette des zu bezeichnenden Zustands unterstrichen. Auch wenn Wörter wie alienigena, advenus, peregrinus, extraneus etc. heute meist vereinfachend mit ‚Fremder‘ übersetzt werden, können ihnen ihre unterschiedlichen Bedeutungen nicht abgesprochen werden.27 Da wir den mittelalterlichen Autoren nicht unterstellen können, jenen Wörtern genau den gleichen Abstraktionsgrad zukommen zu lassen, wie wir es in modernen Sprachen, beeinflußt von modernen Theorien, tun, dürfen wir die Vieldeutigkeiten der in ihren Texten nachgewiesenen Wörter nicht unbeachtet lassen. Doch damit sind die Schwierigkeiten, die eine Untersuchung von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von Fremden in mittelalterlichen Texten mit sich bringt, noch lange nicht ausgeräumt: Andere Gruppen, die in den Texten als von den Autoren wahrgenommen entweder erwähnt oder ausführlich beschrieben wurden, sind nicht automatisch Fremde – sie so zu kategorisieren hieße erneut, moderne Maßstäbe an mittelalterliche Überlieferung zu legen, ohne klären zu können, ob diese Kategorien tatsächlich auch so von den Verfassern des schriftlichen Untersuchungsmaterials beabsichtigt und stillschweigend angewendet wurden. Auch auf die Gefahr hin, eine Selbstverständlichkeit feststellen zu müssen, kann hier nicht anders als angemerkt werden, daß die Urheber der Texte zu ihren Absichten oder Hintergedanken, also dem, was nicht vordergründig in ihren Werken dokumentiert ist, nicht mehr befragt werden können. Um dieses unlösbare Problem zu umgehen, werden im folgenden alle Gruppen, die als zusammenhängende und zusammengehörende Einheiten von Bruno in seinem ‚Sachsenkrieg‘ wahrgenommen und als mit der Eigengruppe nicht identisch gedeutet wurden, als ‚Andere‘ bezeichnet. Damit werden die Eigenschaften von Nicht-Zugehörigkeit und Verschiedenheit anderer Gruppen von der eigenen (welche das ist/sind, wird noch zu klären sein) beschrieben, ohne ihnen zwangsläufig das doch so schwer definierbare Prädikat von Fremdheit aufzustempeln, wenn es ihnen nicht von Bruno selbst explizit verliehen wurde. Im folgenden gilt es also zunächst festzustellen, ob Wörter für ‚Fremde‘ als solche von Bruno von Merseburg benutzt und thematisiert werden und, wenn 14f., und Steffen PATZOLD, Wahrnehmen und Wissen. Christen und „Heiden“ an den Grenzen des Frankenreichs im 8. und 9. Jahrhundert, in: ebd., S. 83-106, bes. S. 85. 27 Vgl. dazu GOETZ (wie Anm. 22), S. 253ff.
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dies der Fall ist, genauer zu untersuchen, um welche Wörter mit welchen Bedeutungsnuancen es sich dabei vornehmlich handelt. Als nächstes werden Nennungen von Individuen oder Gruppen in Brunos Text unter die Lupe genommen, die als von dem Kleriker als Andere einstuft gelten können, da sie in seinen Ausführungen mehr oder weniger klar als nicht zu seiner Eigengruppe zugehörig gekennzeichnet wurden. Daß es sich bei der Eigengruppe nicht nur um die Sachsen handeln muß, soll ebenfalls diskutiert werden.
3. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremden und Anderen in Brunos ‚Sachsenkrieg‘ 3.1. Explizite Nennungen von Fremden Wenden wir uns also zunächst Passagen im Saxonicum Bellum zu, in denen ausdrücklich von Fremden die Rede ist. Um wen handelt es sich dabei? Unterscheiden sich diese Fremden stark voneinander, oder teilen sie eher Gemeinsamkeiten? Bietet uns Bruno detaillierte Beschreibungen dieser Fremden, oder handelt es sich bei ihnen eher um schemenhafte, nicht weiter spezifizierte „Skizzen“? Wie werden sie vom Autor dargestellt und charakterisiert, mit welcher/n Wertung(en) versehen? Schon in der ersten Erwähnung von „fremden (bzw. auswärtigen) Völkern“ (nationes exterae)28 begegnen wir einer ablehnenden Grundhaltung des Verfassers Fremden gegenüber: Als der junge König Heinrich IV. seine Burgenbautätigkeit auf Sachsen ausweitete und der zuerst erbauten Harzburg zahlreiche weitere Befestigungsanlagen hinzufügte, ahnten die sächsischen Landsleute Brunos (nostrates)29 noch nicht, daß dies in erster Linie Gefahr für sie selbst bedeutete, und unterstützten Heinrich sogar bei seinem Vorhaben. Doch statt die Burgen als Stützpunkte gegen „Heiden“30 (contra paganos)31 zu nutzen, was in Brunos Augen aus Heinrich einen wahrhaft Heiligen gemacht hätte, und sie, wie die Sachsen zunächst erhofften, gegen besagte nationes exterae kriegerisch zu verwenden, gingen die landfremden,32 da meist schwäbischen Burgbesatzungen sodann auf 28 ‚Saxonicum bellum‘ 16, S. 23, Z. 13. 29 Ebd., Z. 10. 30 Da das Wort „Heide“ als Übersetzung für den Quellenbegriff paganus kein wertfreier, sondern ein abwertender Ausdruck von Ausgrenzung ist, der der jüdisch-christlichen religiösen Polemik entstammt, wird er hier in Anführungszeichen verwendet. Vgl. dazu Hubert CANCIK, Art. Heidentum, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 3, S. 64-66 sowie Hubert MOHR, Art. Heiden, in: Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien 2, S. 10f. Zum Gegensatzpaar „Heiden“-Christen als asymmetrische Gegenbegriffe vgl. Reinhart KOSELLECK, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 757), Frankfurt/M. 1989, S. 229-241. 31 ‚Saxonicum bellum‘ 16, S. 23, Z. 8. 32 Als solche (landfremd) werden sie an dieser Stelle von Bruno jedoch nicht bezeichnet, sondern nur als Burgbesatzungen Heinrichs. Es lag Bruno also nichts daran, sie hier (aus-
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Raubzüge in die umliegenden sächsischen Siedlungen.33 „Fremde Völker“ werden hier im weitesten Sinne und negativ konnotiert mit „Heiden“ gleichgesetzt, jedoch nicht ausschließlich. Zu ihren Hauptmerkmalen rechnen zum einen ihre geographische Lage außerhalb (exter) des „Zentrums“, das hier mit dem (ost)sächsischen Gebiet gleichzustellen ist, und zum anderen ihre feindliche Einstellung dem gesamten Reich gegenüber, da sie zu bekämpfen sowohl den Sachsen als auch König Heinrich laut Bruno zugute käme. Gleichwohl impliziert der Begriff auch eine starke soziale Komponente, indem er durch räumliche Entfernung und feindselige Grundeinstellung den ‚Unsrigen‘ gegenüber auf soziale Nicht-Zugehörigkeit und Ausgeschlossenheit hinweist. Darüber hinaus ist an dem Beispiel das von Fremdheitsforschern wie Simmel oder Bauman hervorgehobene Verhältnis zwischen Nähe und Ferne zu erkennen,34 das die Wahrnehmung und anschließend die Deutung von Fremden erst möglich macht: Die Sachsen wissen von der Existenz fremder, nichtchristlicher Völker in ihrer weiteren Umgebung, weil sie mit diesen Völkern immer wieder in (größtenteils kriegerische) Kontakte und Auseinandersetzungen geraten. Anzumerken ist noch, daß die räumliche Entfernung allein, die der Begriff exter zunächst suggerieren könnte, nicht zwangsläufig dem Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremdheit entspricht. Natürlich gab es auch in mittelalterlichen Gesellschaften Menschen, die zwar von der eigenen Gruppe geographisch entfernt waren, ihr jedoch gleichzeitig als zugehörig galten. Solche Personen wurden jedoch in den meisten Fällen nicht mit dem Attribut exter versehen. Das lateinische Wort war allein zur Umschreibung derjenigen Menschen vorgesehen, mit deren räumlicher Entfernung auch eine fehlende mentale, da auf Zuschreibungen beruhende Zugehörigkeit zu der eigenen Gruppe eng zusammenhing35. drücklich) als Fremde zu etikettieren. Der Begriff „land- bzw. stammesfremd“ wurde erst in der modernen Forschung geprägt. 33 Zur landfremden Burgbesatzung in Ostsachsen vgl. u.a. Gerold MEYER VON KNONAU, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., Bd. 2: 1070-1077, Leipzig 1894, S. 229; Lutz FENSKE, Adelsopposition und kirchliche Reformbewegung im östlichen Sachsen. Entstehung und Wirkung des sächsischen Widerstandes gegen das salische Königtum während des Investiturstreits (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 47), Göttingen 1977, S. 17, 32f.; Wolfgang GIESE, Reichsstrukturprobleme unter den Saliern – der Adel in Ostsachsen, in: Die Salier und das Reich, Bd. 1: Salier, Adel und Reichsverfassung, hg. v. Stefan WEINFURTER unter Mitarb. v. Helmuth KLUGER, Sigmaringen 1991, S. 273-308, hier S. 288; Karl LEYSER, Von sächsischen Freiheiten zur Freiheit Sachsens. Die Krise des 11. Jahrhunderts, in: Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich, hg. v. Johannes FRIED (Vorträge und Forschungen 39), Sigmaringen 1991, S. 67-83, hier S. 76; Sabine BORCHERT, Herzog Otto von Northeim (um 1025-1083). Reichspolitik und personelles Umfeld (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 227), Hannover 2005, S. 107f.; ALTHOFF, Heinrich IV. (wie Anm. 3), S. 92. 34 Vgl. o. Kap. I.1. 35 So SCIOR (wie Anm. 24), S. 18f.
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Doch es gibt weitere Facetten in den hier zu erforschenden Wahrnehmungsund Deutungsmustern von Fremden. Diese können nämlich auch als reale Gefährdung für die Existenz eines Individuums oder einer Gruppe angesehen werden, wie es uns Bruno in der Ansprache Ottos von Northeim auf dem Stammestag der Sachsen in Hoetensleben klarzumachen versucht. In seinem Appell warnte Otto die sächsischen Krieger davor, dem unrechtmäßigen Handeln Heinrichs und seiner Burgbesatzungen widerstandslos nachzugeben, weil dieser sich dann nicht davor scheuen würde, ihnen ihren ganzen Besitz wegzunehmen und ihn an Fremde (hominibus advenis)36 abzugeben. Doch die Schreckensvision Ottos sieht noch Schlimmeres vor: König Heinrich wäre demzufolge auch dazu fähig, sächsische Männer, die bisher adlig und frei waren, an fremde, unbekannte Menschen (ignoti homines)37 abzugeben, um sie dort als Knechte dienen zu lassen. Die Sachsen sollten, ermahnte Otto, ihre Trägheit ablegen, damit weder sie noch ihre Kinder zu Knechten Fremder (exuli homines)38 werden. Auch hier ist der Grundton, in dem von Fremden die Rede ist, eindeutig negativ. Doch in dem Schreckensszenario, das Bruno uns in Ottos Rede unterbreitet, ist der Kontext, in dem von Fremden die Rede ist, nicht zufällig gewählt. Betrachten wir daher die von Bruno verwendeten Wörter etwas genauer. Bei Fremden, die unberechtigt von den Reichtümern der Sachsen profitieren könnten, handelt es sich, ähnlich wie in dem vorherigen Beispiel, unter anderem um Menschen, die sich von den ‚Unsrigen‘ in erster Linie durch ihren abweichenden Herkunftsort (advena) unterscheiden. Mit anderen Worten, es werden fremde Menschen nach Sachsen kommen, so Otto, die nicht in Sachsen geboren und beheimatet sind, und werden den nach sächsischem Verständnis rechtmäßigen Besitzern und Erben der dortigen Güter eben diese entreißen.39 Damit wird nicht nur die Befürchtung ausgesprochen, daß die Sachsen ihres gesamten Guts beraubt werden sollten, sondern diese Ungerechtigkeit wird noch zusätzlich dadurch gesteigert, daß es an dubiose „Dahergelaufene“ verschleudert wird, die, könnte man hinzufügen, dies nicht im geringsten verdient, geschweige denn rechtmäßig zuerkannt bekommen haben. Brunos Wortwahl in diesem Abschnitt des ‚Sachsenkrieges‘ ist alles andere als zufällig. Die sächsischen Großen sollten beim Anhören der Rede Ottos aufhorchen und sich das Ausmaß der Gefahren und Erniedrigungen, die ihnen von Heinrichs Seite drohten, klar vor Augen führen. Es wäre sicherlich ein schwerer Schlag für die sächsischen Adligen gewesen, wenn sie ihre Besitztümer und Ländereien ausgerechnet an Auswärtige, an Angehörige anderer Stämme verlören, die von draußen daherkommen und die Sachsen ihrer Erbgüter berauben würden. Um das bittere Maß voll zu machen, könnten dar36 37 38 39
‚Saxonicum bellum‘ 25, S. 29, Z. 18f. Ebd., Z. 19f. Ebd., Z. 34. Zur Problematik der Besitzrechte in Ostsachsen, die infolge der Regentschaft von Kaiserin Agnes (1056-1062) besonders prekär wurde, vgl. zuletzt BORCHERT (wie Anm. 33), S. 108f. und ALTHOFF, Heinrich IV. (wie Anm. 3), S. 92f.
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über hinaus, sollte Heinrichs Strategie erfolgreich sein, stolze sächsische Krieger und ihre Kinder in die Knechtschaft gegeben werden, was, wie bereits die Wortwahl nahelegt, eine generationenwährende, die sächsischen Geschlechter zugrunderichtende und in weite Zukunft reichende Schreckensvorstellung bedeute. Doch damit nicht genug: Zu ihren baldigen Herren würden nämlich laut Otto/Bruno keine anderen werden als unbekannte und zudem gemeine Menschen, da vom niederen Stand (ignotus) oder auch von ihrem Grund und Boden Losgelöste (exul = ex u. solum). Gemeint sind hier die bei den Sachsen verhaßten (meist schwäbischen) Ministerialen, eine in der salischen Zeit zunehmend wichtiger werdende Schicht der Unfreien, die dem König direkt unterstellt und mit administrativen und militärischen Aufgaben betraut war.40 Ihren Aufstieg verdankten die Ministerialen also nicht einer vornehmen Abstammung, sondern in erster Linie ihrer bedingungslosen Loyalität gegenüber dem König. Sie wurden somit, aus der Perspektive der sächsischen Großen betrachtet, aus zwei Gründen zu einer Gefahr für die Sachsen – sie waren nicht an die lokalen Herrschaftsstrukturen gebunden und hatten als unfreie Dienstleute des Königs keine Scheu davor, seine Befehle skrupellos umzusetzen. Sollte also ausgerechnet den Ministerialen des Königs die Oberhoheit über die Sachsen übertragen werden, würden die Sachsen nicht nur ihre Freiheit(en) verlieren,41 sondern, schlimmer noch, sie würden dadurch bestraft werden, daß sie von ehrlosen Unfreien unterjocht würden. Schon allein die Androhung einer solchen düsteren Zukunft sollte den Waffentragenden unter den Sachsen als Ansporn dienen, um sich mit aller Kraft vor Heinrich IV. und seinen Eingriffen auf dem sächsischen Gebiet zur Wehr zu setzen. Die beiden Unglücksfälle verstärken sich gegenseitig und tragen so rhetorisch zu einem Höhepunkt in der überlieferten Ansprache bei: Ist die Knechtschaft als solche für einen freien adligen Sachsen geradezu einem Todesurteil gleich,42 wird hier diese Strafe durch den Umstand verschärft, daß ein unbekannter, des Landes verwiesener und somit aus der Gemeinschaft ausgestoßener oder niederer Fremder zu seinem und seiner Kinder Herren werden und zugleich seine und seiner Nachkommen Freiheit und damit Adelszugehörigkeit auslöschen soll.43 Daß Fremde anscheinend mit Mißtrauen betrachtet und grundsätzlich als illoyal eingestuft wurden, illustriert eine weitere Textpassage aus Brunos ‚Sachsenkrieg‘. Darin stellten die Sachsen mehrere Bedingungen an Heinrich, die er erfüllen mußte, damit die Sachsen seine königliche Würde und Oberhoheit wie40 Ian S. ROBINSON, Henry IV of Germany 1056-1106, Cambridge 1999, S. 357. 41 Dazu vgl. v.a. LEYSER (wie Anm. 33), passim. 42 ‚Saxonicum bellum‘ 25, S. 29, Z. 28-31: Itaque non contra regem, sed contra iniustum meae libertatis ereptorem, non contra patriam, sed pro patria et pro libertate mea, quam nemo bonus nisi cum anima simul amittit, arma capio […]. 43 Bezeichnend ist, daß es sich bei der hier geschilderten Bedrohung von Fremden um Heinrich IV. und seine süddeutschen Parteigänger handelt und nicht, wie der unheilschwangere Ton der Darstellung nahelegen könnte, um ‚irgendwelche wilden Barbarenhorden‘.
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der anerkannten. Eine der Bedingungen sah vor, daß Heinrich keinen Fremden (homo extraneae gentis)44 als Berater bei sächsischen Angelegenheiten heranziehen durfte. Auch hier spielt der geographisch/räumliche Aspekt (extraneus) des Fremdseins eine bedeutende Rolle und bildet gleichzeitig den Gegensatz zu den betroffenen Sachsen: Menschen auswärtiger, fremder Völker können keine guten Berater im sächsischen Sinne sein, sobald es um sächsische Angelegenheiten geht; als Alternative für den königlichen Beraterposten würden die Sachsen wohl nur einen Angehörigen des eigenen Volkes gutheißen. Gleichzeitig deutet die Formulierung homo extraneae gentis deutlich auf den hier entscheidenden politischen Aspekt des Fremdseins, da es den Sachsen offenkundig besonders wichtig war, daß keine Angehörigen anderer politischer Verbände (gentes) über die sächsischen Geschicke mitentscheiden sollten.45 Ganz deutlich wird an dieser Stelle außerdem erkennbar, daß die Sachsen den Angehörigen anderer innerdeutscher Stämme kein ausreichendes Vertrauen aussprachen, zumindest in bezug auf politische Entscheidungen, die die Sachsen betreffen sollten. Die sächsischen Fürsten, die seit der Mitte des 11. Jahrhunderts verstärkt auf größere Unabhängigkeit vom König drangen, pochten nun auf ihre angestammten Herrschafts- und Mitspracherechte:46 Sie duldeten daher keine Einmischung von außen in die innersächsischen Angelegenheiten, was Bruno von Merseburg in seinem Werk mehr als deutlich macht. In Anbetracht der vorangegangenen Beispiele wirkt es alles andere als überraschend, daß Fremde bei Bruno zudem auch als Eindringlinge, ungebetene Gäste dargestellt werden, zumal wenn aus sächsischer Perspektive betrachtet. In dem hier zu schildernden Fall handelt es sich zwar oberflächlich um eine positive und konstruktive Beurteilung von Fremden, die der Kleriker König Heinrich in den Mund legte: Danach sei Sachsen nach der verheerenden Schlacht bei Mellrichstadt so verwüstet und entvölkert worden, daß die sächsische Erde zur Wüste und den wilden Tieren des Waldes zur Wohnung würde, wenn nicht fremde Völker (gentes exterae)47 kämen, um den Acker zu bebauen. Doch diese zunächst wohlwollend anmutende Einstellung des Königs gegenüber dem geschundenen Land war, so Brunos Interpretation, nur Schein. Heinrichs hinterhältiger Plan sah nämlich vor, auf diese Weise sächsische Gebiete mit Hilfe dem Salier ergebener Fürsten einzunehmen, indem er vorgab, ihnen das Land zur 44 ‚Saxonicum bellum‘ 31, S. 34, Z. 15. 45 Zu gentes als politischen und ethnischen Gemeinschaften vgl. vor allem Reinhard WENSKUS, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln-Wien 21977 sowie Hans-Werner GOETZ, Gentes. Zur zeitgenössischen Terminologie und Wahrnehmung ostfränkischer Ethnogenese im 9. Jahrhundert, in: MIÖG 108, 2000, S. 85-116. 46 Vgl. dazu FENSKE (wie Anm. 33), S. 34; GIESE (wie Anm. 33), S. 292f.; BORCHERT (wie Anm. 33), S. 104f.; ALTHOFF, Heinrich IV. (wie Anm. 3), S. 92-95; SCHUBERT (wie Anm. 4), S. 283; Stefan WEINFURTER, Das Jahrhundert der Salier (1024-1125), Ostfildern 2004, S. 139. 47 ‚Saxonicum bellum‘ 103, S. 92, Z. 8.
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Besiedlung freizugeben. Aus Brunos Sicht war dies ein erneuter Gewaltakt gegen die sächsische Freiheit, wobei die fremden Siedler aus sächsischer Perspektive nicht als „Aufbauhelfer“, sondern als ungewollte Fremdlinge gesehen wurden, die die rechtmäßigen Bewohner Sachsens, seien es Fürsten, Edle oder freie Bauern, aus ihren angestammten Gebieten vertreiben, damit anschließend Heinrich IV. seine wahren Pläne verwirklichen und ganz Ostsachsen in das übrige Reichsgebiet eingliedern kann. Versucht man nun die unterschiedlichen expliziten Nennungen von Fremden bei Bruno zusammenzufassen, kommt man zu folgenden Ergebnissen: Fremde leben außerhalb eigener bekannter Gebiete (exter = außen, jenseits) oder kommen daher (advenus von advenire = ankommen), um den ‚Unsrigen‘ mit feindlichen Absichten gegenüberzutreten. Sie können mit „Heiden“ identisch sein, doch auch andere Christen können als fremd betrachtet werden. Selbst andere Bewohner des Reiches, mit denen die Sachsen nicht nur die deutsche Sprache teilen, können in bestimmten Situationen als fremd eingestuft werden, sobald sie zur Bedrohung werden (homo extraneae gentis, gentes exterae). In solchen Fällen wird gerade ihre Nichtzugehörigkeit zum eigenen Gebiet, da von außen herstammend, hervorgehoben (extraneus, exter). Entscheidend dabei ist ihre politische Verankerung bzw. ihre (fehlende) Loyalität gegenüber dem Stamm der Sachsen (gens). Trachten sie zudem nach dem Besitz und dem Gebiet der Sachsen, werden sie von Bruno mit diffamierenden Attributen „ausgeschmückt“: Denn bei denjenigen, die die Freiheiten der Sachsen ausrotten wollen, kann es sich nur um Ausgestoßene, Vertriebene (exul von solum = Boden) oder Niedrige (ignotus) handeln, die den Sachsen weder rechtlich noch moralisch gewachsen sind.
3.2. Nennungen von Anderen Wenden wir uns nun denjenigen Textstellen in Brunos ‚Sachsenkrieg‘ zu, in denen Andere nicht ausschließlich als ‚Fremde‘ klassifiziert, nichtsdestoweniger von Eigenen (indirekt) abgegrenzt werden. Um aber Andere zu identifizieren, die Bruno in seinem Werk behandelt, muß zuerst festgestellt werden, was ‚das Eigene‘, wer die ‚Unsrigen‘ bei Bruno sind.48 Erst in Abgrenzung zu den WirGruppen in Brunos Text können die Nichtzugehörigen, Unbekannten oder Feindlichen definiert werden. Zunächst gilt es also zu fragen, zu welchen Gemeinschaften oder Gruppen sich der Kleriker Bruno selbst rechnete. Freilich muß an dieser Stelle angemerkt werden, daß die folgende Aufzählung von Brunos unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten weitestgehend auf Ableitungen basieren kann, die aus der Analyse des ‚Sachsenkriegs‘ selbst resultieren. Zuallererst war Bruno ein Geistlicher. Für diese Annahme spricht zum einen die allgemein bekannte Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit mittelalterli48 Zum Wir-Gefühl in Brunos ‚Sachsenkrieg‘ vgl. vor allem EGGERT (wie Anm. 2), S. 154ff.
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cher Autoren aufgrund der auf Kloster- und Domschulen beschränkten Bildungs- und Studiumsmöglichkeiten dem geistlichen ordo angehörten,49 und zum anderen die Hinweise, die uns Bruno in seinem Werk vielfach gibt, indem er sich als treuen Diener zunächst des Erzbischofs Werner von Magdeburg und später des Bischofs Werner von Merseburg darstellt.50 Daraus ist mit einiger Sicherheit zu folgern, daß diese soziale Schicht Bruno wohl bekannt war und daß er sich mit dem geistlichen Stand stark identifizieren konnte. Doch nicht nur das: natürlich war Bruno ein christlicher Geistlicher, was ihn zum Angehörigen der universitas christiana machte. Unzählige Belege gibt es in seinem Werk, die diese Annahme zu einer handfesten Tatsache machen; hier zu erwähnen wäre als ein Beispiel das von Bruno bereits in seinem Prolog angesprochene Vertrauen auf göttliche Barmherzigkeit, das mit entsprechenden Bibelzitaten untermauert wird.51 Nicht zuletzt zählte Bruno zu der geistigen und sozialen Elite seiner Zeit, was auch aus seiner freien Abkunft resultierte, und ihm eine weitere Identifikationsmöglichkeit bereitete. Auch hierfür spricht seine Nähe zu den führenden Klerikern Sachsens. Ferner ist Brunos eindeutige und wie selbstverständliche Identifikation mit der (sächsischen) Oberschicht in seiner Darstellung des Sachsenkrieges nicht anders zu deuten.52 Doch zugleich war Bruno selbstverständlich auch ein Sachse, wie bereits mehrfach angesprochen. Gut erkennbar wird dies an Textstellen, die das sächsische Gebiet als „unser“ Gebiet53 bzw. dessen Bewohner als „wir“ apostrophieren.54 Auch diese Gruppen49 Dazu z.B. Franz-Josef SCHMALE, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung. Mit einem Beitr. v. Hans-Werner GOETZ, Darmstadt 21993, S. 90f.; Herbert ZIELINSKI, Domschulen und Klosterschulen als Stätten der Bildung und Ausbildung, in: Canossa 1077 – Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik. Katalog in 2 Teilbdn. zur Ausstellung in Paderborn, Bd. 1: Essays, hg. v. Christoph STIEGEMANN u. Matthias WEMHOFF, München 2006, S. 175-181, hier S. 175. 50 Siehe beispielsweise ‚Saxonicum bellum‘ 38, S. 39, Z. 22-25: Cuius partem crustae panis insertam catulo dari praecepit; eumque sine mora mori vidimus et, quia episcopus talem medicinam non gustaverat, laetati sumus; ebd. prol., S. 12, Z. 2-5: Domino suo dilectissimo, numquam sine pia veneratione nominando, Werinhero sanctae Merseburgensis ecclesiae praesuli venerando Bruno, licet perexigua suae tamen familiae portio, quicquid valet hominis utriusque devotio. 51 Ebd. S. 13, Z. 3-9: Quod cum sui magnitudine, tum misericordia Dei, quam in ipso bello experti sumus, est memorabile, sicut in sequentibus, si quis legere dignabitur, poterit agnoscere. Sic enim in flagello vino severitatis oleum pietatis admiscuit, ut et prophetam vera locutum esse gaudentes agnosceremus: Cum iratus fueris, misericordiae recordaberis, et apostolum: Fidelis Deus, qui non permittet vos temptari super id, quod potestis. 52 Vgl. dazu u. Anm. 76. 53 ‚Saxonicum bellum‘ 34, S. 36, Z. 26-29: Fertur vero a finibus nostris discedens cum iuramento dixisse, quod numquam vellet amplius in Saxoniam redire, nisi prius eam virtutem contraxisset, qua posset in Saxonia facere, quicquid sibi libuisset. 54 Ebd. 32, S. 34, Z. 27-33: Eodem tamen tempore maximam circa nos clementiam Dei cognovimus, quam numquam tradere oblivioni debemus. Nam cum tanta esset hiemis asperitas, ut omnes fluvii vel paludes transire volentibus iter terrestre praeberent et cum, viris omnibus contra regem congregatis, solae
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zugehörigkeit stellte eine klare Identifikationsebene für ihn dar. Daneben gehörte Bruno der Partei der Antiheinricianer an, und er war ein glühender Befürworter der Sachsenaufstände gegen den Salier.55 In seinem Werk unterschied er ausdrücklich zwischen sächsischen Gesinnungsgenossen des Saliers und dessen entschiedenen Gegnern, wobei die Grenze nicht selten, so Bruno, innerhalb von Familien verlief. Folglich rechnete Bruno diejenigen der sächsischen Großen, die für König Heinrich waren, nicht zu den Seinen.56 Wollten wir unsere Überlegungen über die vielfältigen Gruppenzugehörigkeiten Brunos weiterspinnen, könnten wir zudem annehmen, daß Bruno trotz der Konflikte mit dem salischen König darüber hinaus auch ein Reichsangehöriger war, weshalb er diejenigen, die nicht zum Reich gehörten, als Andere wahrnehmen müßte. Damit würden wir jedoch Gefahr laufen, unsere (modernen) Vorstellungen auf den Autor zu projizieren, die so nicht zu beweisen sind, da für diese Annahme eindeutige Belege in seinem Werk fehlen. Aus dieser kurzen Zusammenstellung kann bereits auf Andere geschlossen werden, von denen Bruno in seinem Werk berichtet und deren Alterität ihm durchaus bewußt sein mußte. In seinem Text stoßen wir sogleich auf eine Stelle, in der von einem „gewissen Slawen“ (Sclavus quidam)57 berichtet wird. Dieser soll einen in Ungnade gefallenen Vertrauten des jungen Königs Heinrich nach Rußland begleitet und einen Brief an den russischen König mitgeführt haben, in dem Heinrichs Anweisung an den dortigen Herrscher dokumentiert war, den Gesandten entweder gefangenzunehmen oder zu töten, um so seine Rückkehr ins Reich zu vereiteln. Der namenlose Slawe, eine laut Bruno vilis persona, ließ mulieres cum parvulis domi relictae fuissent, pagani nobis semper infesti totam Saxoniam mulieribus et parvulis abductis poterant in cinerem convertere […]. 55 Zu den Sachsenaufständen vgl. exemplarisch KOST (wie Anm. 3), passim; FENSKE (wie Anm. 33), passim; Wolfgang GIESE, Der Stamm der Sachsen und das Reich in ottonischer und salischer Zeit. Studien zum Einfluß des Sachsenstammes auf die politische Geschichte des deutschen Reiches im 10. und 11. Jahrhundert und zu ihrer Stellung im Reichsgefüge mit einem Ausblick auf das 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1979, S. 148ff.; Karl LEYSER, Gregory VII and the Saxons, in: DERS., Communications and Power in Medieval Europe, Bd. 2: The Gregorian Revolution and beyond, hg. v. Timothy REUTER, London 1994, S. 69-75; Monika SUCHAN, Königsherrschaft im Streit. Konfliktaustragung in der Regierungszeit Heinrichs IV. zwischen Gewalt, Gespräch und Schriftlichkeit (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 42), Stuttgart 1997, S. 61ff.; SCHUBERT (wie Anm. 4), S. 263-304; ALTHOFF, Heinrich IV. (wie Anm. 3), S. 86ff.; Matthias BECHER, Die Auseinandersetzung Heinrichs IV. mit den Sachsen. Freiheitskampf oder Adelsrevolte?, in: Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert – Positionen der Forschung, hg. v. Jörg JARNUT u. Matthias WEMHOFF (MittelalterStudien 13), München 2006, S. 357-378. 56 ‚Saxonicum bellum‘ 37, S. 39, Z. 5-11: Inde factum est, ut in nostra parte pater, in adversa filius esset, hinc frater unus, illinc staret alius. Multi etiam de maioribus, qui bona in utrisque regionibus habebant, ut utraque servarent, sponte sua hic relicto filio sive fratre ad regem transibant, vel ipsi hic remanentes fratres vel filios ad regem transmittebant. Plerosque militaris ordinis ad se eodem modo vocabat, et prout cuiusque animum cognoscebat, minis sive promissionibus ad bellum civile sollicitabat. 57 Ebd. 13, S. 21, Z. 3.
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sich dazu überreden, den Brief an den früheren Vertrauten Heinrichs zu übergeben, und so scheiterte der üble Plan des jungen Königs. Bezeichnend ist in dieser Episode, daß zwar der größte Schurke, der die Fäden des hier beschriebenen Komplotts im Hintergrund zog, eigentlich Brunos Hauptantagonist Heinrich war, doch auch seine wertlosen und niederen (vilis) Helfer sind offenbar aus dem gleichen Holz geschnitzt: Nicht nur, daß der Slawe in Diensten des niederträchtigen Königs stand, er war auch so nichtswürdig, seine angebliche Loyalität gegenüber seinem Herren auf der Stelle zu vergessen, sobald ein anderer ihn dazu aufforderte. Dies machte in Brunos Augen aus dem slawischen einen doppelten (moralischen) Halunken. Ob sich hiervon ein bestimmtes negatives Slawenbild Brunos ableiten läßt, ist nicht ohne weiteres zu erkennen. Festzustellen ist aber, daß Bruno die Bezeichnung Sclavus quidam sicherlich nicht grundlos benutzte; zumindest kann angemerkt werden, daß die (gentes-) Bezeichnung Sclavus Bruno durchaus geläufig war und also auch die Slawen als eine Gemeinschaft von Anderen im Sinne von „nicht zu uns gehörig“ von ihm wahrgenommen wurden. Daß es in Brunos Wahrnehmungshorizont auch andere Völker (gentes) gab, zeigt eine Textstelle in seinem Buch, in der die vergeblichen Versuche Heinrichs geschildert werden, die umliegenden Völker (omnes circumquaque gentes)58 seines Reiches gegen die Sachsen zu mobilisieren. Dabei werden sowohl die (christlichen) Herrscher der anderen Reiche aufgelistet wie der Böhmenherzog Vratislav, der von Bruno nicht namentlich genannte Dänenkönig Sven Estridsen, Philipp, der (geschwächte) König des Lateinischen Frankens, Wilhelm, König des englischen Volkes oder Wilhelm von Poitou, Heinrichs Onkel. Mit ihnen in einem Atemzug werden die „heidnischen“ Liutizen genannt, die, aus moderner Perspektive betrachtet, auf den ersten Blick in diese Auflistung nicht hineinpassen, da sie als polytheistische, also nichtchristliche und allein dadurch verdammenswerte „Heiden“ kaum den zeitgenössischen christlichen, zumeist gottesfürchtigen Herrschern gleichgestellt werden dürften. Doch für Bruno ging es hier um mindestens zwei Sachverhalte: Erstens zählte er die umliegenden Völker des Reiches auf, die als militärische Macht für Heinrich von Gewicht sein könnten, also auch die Liutizen; zweitens, wenn auch indirekt, konnte Bruno dadurch Heinrich erneut desavouieren, indem er ihn mit potentiellen Verbündeten in Verbindung brachte, die keine Christen waren. Es kann nicht deutlich genug unterstrichen werden, daß der Gegensatz „Heiden“-Christen für Bruno eine zentrale Rolle spielte. Der Begriff pagani (und dessen gemeingermanische Entsprechung Heiden) wurde im Mittelalter zum „Ausgrenzungsschlagwort des christlichen Europas schlechthin.“59 Auch im Werk Brunos können wir diese abwertende Funktion der Bezeichnung beobachten. „Heiden“ als nicht näher identifizierte Horden von Nicht-Christen werden von ihm hin und wieder in den Erzählstrang eingewoben, in den meisten Fällen 58 Ebd. 36, S. 37, Z. 34. 59 So MOHR (wie Anm. 30), S. 11.
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jedoch nur, um das Grauen der geschilderten Begebenheiten noch stärker herauszustreichen. So hätten pagani, die alten Feinde der Sachsen (nobis semper infesti)60, im kalten Winter 1074 es leicht gehabt, sächsische Siedlungen über betretbare Flüsse und Sümpfe anzugreifen und in Asche zu legen, doch Gott bewahrte die Sachsen vor einer sicheren Katastrophe, indem er die „Heiden“ ihre angeborene Grausamkeit (genuina crudelitas)61 vergessen und innerhalb ihrer Grenzen in Ruhe ausharren ließ. Die feindliche Einstellung der „Heiden“ gegenüber Christen und Sachsen zugleich, was auf eine doppelte Abgrenzung hinweist, scheint eine Grundkonstante in der Vorstellung Brunos zu sein. Aus der oben angesprochenen Rede Ottos von Northeim gegen die „Burgenbauwut“ Heinrichs, der zufolge die Befestigungen nicht gegen Sachsen, sondern gegen „Heiden“ oder fremde Völker errichtet werden sollten, geht eindeutig hervor, daß es in Brunos Augen die Notwendigkeit der Verteidigung gegen die „Heiden“ gab. Das Verhältnis zu den pagani war demnach kaum differenziert, sondern vornehmlich durch Ablehnung, Feindseligkeit und Abwehr geprägt. Das ausgesprochen negative Wahrnehmungsmuster in bezug auf die „Heiden“ wird auch an jenen Stellen des ‚Sachsenkriegs‘ erkennbar, in denen nicht von leibhaftigen polytheistischen Nichtchristen die Rede ist, sondern in denen es ausreicht, seine Gegner als „Heiden“ zu bezeichnen, um sie auf diese Weise zu diffamieren. Bezeichnenderweise bedienen sich beide gegnerischen Seiten dieser Methode, sowohl die Sachsen in bezug auf Heinrich als auch der König im Hinblick auf seine sächsischen Widersacher. So beklagte sich Heinrich laut Bruno vor der Versammlung rheinfränkischer Fürsten über die Sachsen, sie hätten nicht nur die von Heinrich freigegebenen Burgen zerstört, sondern darüber hinaus ein geweihtes Stift verwüstet, ausgeplündert und entweiht, weswegen sie schlimmer seien als die „Heiden“ (paganis omnibus crudeliores)62. Überdies könne man die Sachsen nicht als Christen bezeichnen, weil sie mit ihren Verbrechen zeigten, daß sie Christus weder achteten noch fürchteten.63 Doch aus der Sicht des sächsischen Autors stand das Heer Heinrichs in Hinblick auf wildes, unzivilisiertes Wüten den Sachsen in nichts nach, im Gegenteil, ihre Gewalttätigkeiten und Greuel überstiegen geradezu alle christlichen Vorstellungen. Nach der Schlacht bei Behringen, die Heinrich für sich entscheiden konnte, rückte er nämlich zum großen Leidwesen der Sachsen mit seinem Heer ins sächsische Gebiet ein, wo Heinrichs Krieger grausamer wüteten, so Bruno, als pagani. Sie hätten, berichtet der Autor, sächsische Frauen bis in die Kirchen verfolgt, wohin sie vor ihnen zu flüchten versuchten, um sie dort wie die Barbaren (barbaro more)64 zu schänden, und anschließend zusammen mit den Kirchen zu verbren60 61 62 63
‚Saxonicum bellum‘ 32, S. 34, Z. 32. Ebd., S. 35, Z. 1. Ebd. 35, S. 37, Z. 9. Ebd., Z. 18-20: Ait Saxones non dicendos esse christianos, qui, cum supradicta scelera in domo Christi facerent, se Christum nec amare nec timere monstrarent. 64 Ebd. 47, S. 46, Z. 3.
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nen.65 Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung Heinrichs kam Erzbischof Werner in seinem Brief an die Bischöfe Siegfried von Mainz und Adalbero von Würzburg, in dem er die gewaltsame und gleichzeitig unnötige Vorgehensweise des Königs gegen die Sachsen scharf verurteilte. „Nicht einmal ein Heide war je so grausam,“ zitiert Bruno seinen Erzbischof, „diejenigen, die er ohne jede Mühsal und Gefahr seiner Herrschaft unterwerfen konnte, sich nur mit Gefahr für sich und die Seinen unterwerfen zu wollen.“66 Auch hier wird also das „Heidentum“ als ein negatives Sinnbild in der Argumentation benutzt, um die auf diese Weise Attributierten durch den Vergleich zu diskreditieren. Das „Heiden“-Bild, das hinter der Rhetorik steckt, zeichnet sich nicht dadurch aus, daß es ausdifferenzierten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern des Verfassers zugrunde liegen würde. Im Gegenteil, das hier bemühte Muster ist so negativ wie einfach, so daß die Anwendung des Begriffs einer Beschimpfung der gegnerischen Seite gleich kommt. Nicht nur mit „Heiden“, auch mit Exkommunizierten setzt sich der Kleriker Bruno in seinem Werk auseinander. Wie Individuen, die mit kirchlichem Bann belegt wurden, im späten 11. Jahrhundert wahrgenommen, behandelt und in die gesellschaftliche und kirchliche Ordnung ein- bzw. aus ihr ausgegliedert wurden, können wir in Brunos ‚Buch vom Sachsenkrieg‘ ausführlich am Beispiel des exkommunizierten Königs Heinrich und seiner Anhänger nachlesen. Nachdem Papst Gregor VII. Heinrich im Jahre 1076 mit dem kirchlichen Bann belegt und ihm kurz darauf auch die Königsherrschaft über das Reich abgesprochen hatte,67 galten der Herrscher und seine Getreuen als aus der Kirchengemeinschaft (ex communione) verbannt und ausgeschlossen. Ab diesem Zeitpunkt sollten sie von der übrigen christlichen Gemeinschaft als „Gebannte und Kirchenschänder“68 erachtet werden, mit denen man keine Gemeinschaft und keinen Verkehr haben durfte.69 Da der Papst sich jedoch aus der Sicht der sächsischen Antiheinricianer inkonsequenterweise immer wieder auf Verhandlungen mit Heinrich eingelassen hatte, beschwerten sie sich darüber in mehreren Briefen an den Papst und die römische Synode.70 In einem Antwortbrief ging Gregor VII. verbal scharf gegen die Partei Heinrichs vor, auch wenn der Brief sonst keine kon65 Ebd., S. 45, Z. 28-30, u. S. 46, Z. 1-3: Si pagani nos ita vicissent, non maiorem in victos crudelitatem exercerent. Feminis nil profuit in ecclesias fugisse vel illuc suas res comportasse. Nam viri per silvas diffugerant vel ubicumque spem salutis invenire latendo potuerant. Feminas in ipsis ecclesiis, etiam si fugissent ad altare, corrumpebant, suaque libidine barbaro more completa, feminas cum ecclesiis comburebant. 66 Ebd. 48, S. 47, Z. 21-24: Nulla fuit umquam in quolibet pagano tanta crudelitas, ut, quos sine omni periculo vel labore suae dominationi subdere potuisset, non sine suo suorumque periculo sibi subicere vellet. 67 Vgl. dazu ALTHOFF, Heinrich IV. (wie Anm. 3), S. 139ff. 68 ‚Saxonicum bellum‘ 112, S. 104, Z. 2-4: utrum hi, qui ista faciunt vel consentiunt facientibus, pro excommunicatis et sacrilegis habendi sint et si vel ipsis vel ipsorum fautoribus communicandum sit. 69 Ebd., Z. 7f.: Cumque in concilio huius sanctae ecclesiae, quae semper ab excommunicatis abstinere docuit [...]. 70 Ebd. 108-112, S. 97-105.
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kreten Anhaltspunkte für die weitere Vorgehensweise der Kurie gegen den exkommunizierten König zu bieten hatte. Für uns ist jedoch in diesem Zusammenhang interessant, mit welchen Begriffen die Gebannten in Detail bezeichnet wurden: Als Feinde Gottes und Söhne des Teufels bezeichnete der Papst laut Brunos Überlieferung die Widersacher der Sachsen,71 die nichts anderes als ihre Begierden zu befriedigen und den christlichen Glauben zu vernichten suchten, indem sie das ganze Reich verwüsteten. Sie wurden daher, so der Papst bei Bruno, mit der Fessel der Exkommunikation und des Fluches gebunden, weshalb ihnen keine Hilfe zu gewähren und mit ihnen keine Gemeinschaft zu halten sei.72 Wenden wir uns einer weiteren gesellschaftlichen Gruppe des Mittelalters zu, die Bruno in seinem ‚Sachsenkrieg‘ als eine eigenständige Gruppe identifiziert, nämlich den Bauern, so stellen wir fest, daß sie von dem Autor als eine geschlossene Gruppe wahrgenommen wurden, die sich von anderen Gesellschaftsschichten durch ihre Besonderheiten und charakterlosen Eigenschaften, ja Fehler, unterschieden. Der Forschung ist die Problematik der Wahrnehmung von Bauern bzw. „Unterschichten“ aus der Sicht der schreibenden Elite nicht unbekannt: „Medieval Europeans of the upper classes, like their modern descendants, regarded rural life as appealingly simple and admirably productive, but above all as strange, a tableau populated with alien beings of a lower order“73, konstatiert Paul Freedman, und stellt zudem einen Vergleich zwischen Bauern und anderen Gruppen her in der Wahrnehmung der christlichen Elite des Mittelalters: „Some of the opprobrious language used for peasants spilled over into hostile characterizations of Jews, Muslims, heretics, lepers, and strange foreign peoples, including the fantastic ‚monstrous‘ or ‚Plinian‘ races thought to inhabit the East. All these could be regarded as unclean, dishonest, savage, or cursed, and their religious, physical, or geographic differences viewed as fearsome“.74
71 Ebd. 113, S. 105, Z. 26: inimici Dei et filii diaboli. 72 Ebd., Z. 25-32: Sed quia pervenit ad nos, quod inimici Dei et filii diaboli quidam apud vos contra interdictum apostolicae sedis praedictum conventum procurent in irritum ducere et non iustitia, sed superbia ac totius regni desolatione suas cupiditates anhelent implere et christianam religionem destruere, monemus vos et ex parte beati Petri praecipimus, ut talibus nullum auxilium praebeatis neque illis communicetis. In praedicta enim synodo iam omnes excommunicationis et anathematis sunt vinculo innodati […]. 73 Paul FREEDMAN, Images of the Medieval Peasant (Figurae: Reading Medieval Culture), Stanford, CA 1999, S. 1. Vgl. dazu auch Hans-Werner GOETZ, „Unterschichten“ im Gesellschaftsbild karolingischer Geschichtsschreiber und Hagiographen, in: Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung, hg. v. Hans MOMMSEN u. Winfried SCHULZE (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien 24), Stuttgart 1981, S. 108-130. 74 FREEDMAN (wie Anm. 73), S. 2.
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In dieses Wahrnehmungsmuster paßt auch eine beiläufige Charakterisierung der Bauern, die in einem von Bruno zitierten Brief des Erzbischofs Werner von Magdeburg an den Erzbischof Siegfried von Mainz aus dem Jahr 1075 zu finden ist. Darin nennt der sächsische Prälat einen aus seiner Sicht einleuchtenden Grund für die von Heinrich scharf verurteilte Schändung der salischen Gräber in Sachsen. Diese befanden sich in einem von dem König errichteten Stift auf der Harzburg, dem in den Augen der Sachsen „Werk des Teufels“,75 und wurden im Zuge der angeordneten Schleifung der Burg von den Sachsen zerstört; der Inhalt wurde in der Gegend verstreut. Laut Erzbischof Werner handelte es sich bei den Übeltätern nicht um die Oberschicht der sächsischen Gesellschaft,76 in deren Namen der erzbischöfliche Brief verfaßt wurde, sondern um Bauern aus der Umgebung, die zu der Schleifarbeit von Heinrichs Dienstleuten angehalten wurden. Die Bauern jedoch, dumm und ungeschickt (imperiti) wie Bauern nun einmal sind, zerstörten nicht nur das Stift und seine Gräber, sondern wollten auch von den übrigen salischen Bauten nichts übrig lassen vor Furcht, die Burg Heinrichs, von der sie viel Arges erfahren hatten, könnte wiedererrichtet werden.77 Hier ist ein eindeutiges Wahrnehmungs- und Deutungsmuster bezüglich der (sächsischen) Bauern besonders gut zu erkennen: Zwar leben die Bauern in der Umgebung (vicinia), könnten demnach durchaus als Mitglieder der sächsischen Gesellschaft betrachtet werden, jedoch nicht so in der Wahrnehmung von Erzbischof Werner und damit auch des Klerikers Bruno: Sie gehören eben nicht zu den nostrates, die der Erzbischof in seinem Brief aufzählt, in anderen Worten zu der sächsischen Oberschicht. Diese will für ihre Untaten zudem nicht verantwortlich gemacht werden – die Abgrenzung und Distanzierung von der Unterschicht ist auffallend. Bauern werden außerdem wie selbstverständlich als töricht und unvernünftig charakterisiert, wodurch sie nicht nur von der Oberschicht abgegrenzt, sondern gleichzeitig auch für minderwertig erklärt werden. Es ist jedoch anzunehmen, daß die bedingungslose Aburteilung der bäuerlichen Schichten durch Bruno in seinem ‚Sachsenkrieg‘ sich nicht aus 75 So Stefan WEINFURTER, Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2006, S. 56. 76 Dieser Textstelle können wir entnehmen, welche gesellschaftlichen Gruppen Erzbischof Werner von Magdeburg und damit indirekt auch unser Autor Bruno als die ‚Unsrigen‘ betrachtete: es handelte sich dabei neben dem Erzbischof selbst um „alle sächsischen Bischöfe, Herzöge, Grafen und alle Kleriker und Laien, bedeutende und unbedeutende“ (‚Saxonicum bellum‘ 42, S. 41, Z. 14-16: et cum eo omnes Saxoniae praesules, duces, comites et universi simul clerici vel laici, magni vel parvi). Vgl. dazu auch KOST (wie Anm. 3), S. 15. Daß das Verhältnis der sächsischen Bauern zu dem Sachsenaufstand alles andere als unkompliziert war, unterstrich bereits FENSKE (wie Anm. 33), S. 51-61. 77 ‚Saxonicum bellum‘ 42, S. 42, Z. 10-19: De monasterio suo destructo vel de sepulcris filii vel fratris sui violatis et ossibus eorum disiectis cum, qualiter factum sit, audieritis, quia nos sumus innocentes, agnoscetis. Ipsius castelli, ubi haec acta sunt, destructionem nulli nostrum credere voluit, sed hanc operam suis famulis et familiaribus iniunxit; qui negligentes et pigri, quo citius, quod erant iussi, peragerent, omnes rusticos, qui in illa vicinia erant, convenire fecerunt et eis demoliendi castelli potestatem dederunt. Rustici vero, sicut rustici imperiti et ab eodem castello multa mala perpessi, cum nullus adesset, qui castigaret, nichil in ipso voluere relinqui, quo iterum deberet renovari.
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einer von ihm absolut und unveränderlich vertretenen Verdammung speist,78 sondern einem ganz bestimmten Zweck dient: Die sächsischen Adligen bemühen das primitive und einseitige Bauernbild, um Heinrichs Vorwürfe weit von sich weisen und den König erneut zu Verhandlungen anstatt militärischer Intervention in Ostsachsen überreden zu können.79 Wie besonders tragische Ironie des Schicksals mutet daher die Art an, auf die eben jener Erzbischof Werner drei Jahre später in der Schlacht von Mellrichstadt sein gewaltsames Ende fand: Er wurde, berichtet Bruno persönlich sichtlich berührt, „von den Bauern jener Gegend“ (ab incolis illius patriae) aufgegriffen und auf erbärmliche Weise getötet.80 Noch eindringlicher konnte der Antagonismus zwischen dem Kirchenfürsten und der bäuerlichen Schicht kaum illustriert werden.
4. Schlußbetrachtung Versuchen wir nun die obigen Ausführungen zusammenzufassen, so ergibt sich in bezug auf Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremden und Anderen ein aufschlußreiches Bild. 1. Fremdheit ist ein Abstraktum der Moderne, das mittelalterlichen Menschen nicht geläufig war. Von „Fremdheit an sich“81 und von entsprechend modernen Fremdheitskategorien im Mittelalter auszugehen ist daher ein Irrweg, über den die Vorstellungs-, Denk- und Urteilsweisen mittelalterlicher Zeitgenossen in keiner Weise erschlossen werden können. An Brunos Saxonicum bellum konnte dementsprechend aufgezeigt werden, daß es in seiner Vorstellungswelt zwar ein Konzept des Fremden gegeben hat, das in erster Linie mit Hilfe von Wörtern wie extraneus oder advenus an die Oberfläche trat, gleichwohl konnte in seinem Werk keine theoretische, abstrakte Definition von dem, was nun ‚fremd an sich‘ sein sollte, und die dem Konzept des Fremden zugrunde läge, gefunden werden. Es ist denkbar, daß sie nicht gefunden werden konnte, weil Bruno eine solche 78 Daß das Bauernbild des hohen Mittelalters durchaus differenziert und vielschichtig war, und erst nach den traumatischen Erfahrungen der großen Pestepidemien in der Mitte des 14. Jh. einem Wandel hin zur Vereinfachung mit negativem Vorzeichen unterlag, führt FREEDMAN (wie Anm. 73), S. 289ff. überzeugend aus. 79 Laut SCHUBERT (wie Anm. 4), S. 274f. wurde die bäuerliche Auflehnung gegen die königlichen Ministerialen und insbesondere die Grabschändung auf der Harzburg von den Großen beider Parteien als eine ernstzunehmende Bedrohung und Eskalation des Konfliktes aufgefaßt. Schubert selbst scheut sich nicht davor, in diesem Zusammenhang von einer Revolution des gemeinen Volkes, „welche die Herrschaft selbst in Frage stellt“ (S. 275), zu sprechen. 80 ‚Saxonicum bellum‘ 96, S. 89, Z. 11-16: Ex nostris itaque primi fecerunt fugam, qui numquam venire debuissent ad pugnam, episcopi scilicet unius nominis, sed, ut ita dicam, non unius ominis: uterque enim Werinherus vocatur. Sed Magedaburgensis ab incolis illius patriae interceptus, miserabiliter occiditur; Merseburgensis vero despoliatus, in patriam nudus revertitur. 81 Vgl. oben LÜBKE (wie Anm. 23).
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Definition für selbstverständlich hielt. Natürlich wurden auch im Mittelalter bestimmte Individuen oder Menschengruppen als fremd wahrgenommen und entsprechend an das eigene Welt- und Gesellschaftsbild angepaßt und gedeutet – auf eine ähnliche Weise werden auch heute Typologisierungen als Hilfskonstrukte angewendet, die den Umgang mit Fremden leichter machen sollen –,82 doch gestaltet es sich als ausgesprochen schwierig, an die darunter liegenden Mechanismen im Denken mittelalterlicher Autoren über das dem Historiker häufig als einziges zugängliche Medium, den (lateinischen) Text, zu gelangen. Methodisch sinnvoll, jedoch bei weitem nicht ausreichend, erscheint daher bei der Untersuchung von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von Fremden und Anderen als erster Schritt der begriffsgeschichtliche Ansatz zu sein. 2. So können wir in Brunos ‚Sachsenkrieg‘ Textstellen finden, in denen ‚Fremde‘ explizit genannt werden. Der Autor benutzt dafür Wörter wie nationes oder gentes exterae, homines ignoti, adveni, exuli oder homines extraneae gentis. Bereits die Tatsache, daß es sich bei den lateinischen Entsprechungen für den modernen Begriff ‚Fremde(r)‘ um attributive Nominalphrasen und gleich mehrere Wörter handelt, zeigt, daß wesentliche Unterschiede zwischen den mittelalterlichen und modernen Bezeichnungen bestehen, und sie daher nicht, wie es in den meisten (wissenschaftlichen) Übersetzungen der Fall ist, gleichgestellt werden dürfen. Erst durch eine genauere Begriffsanalyse kann man die eigentliche Semantik der lateinischen Termini erfassen und damit die ihnen zugrundeliegenden Denkmuster erkennen. Gemeinsam ist den hier verwendeten lateinischen Bezeichnungen vor allem, daß sie Menschengruppen kennzeichnen, die sich außerhalb des eigenen Umkreises befinden (exter), von außerhalb kommen (advenus), bzw. von ihrem Grund und Boden vertrieben wurden (exul). In das gleiche semantische Feld gehört auch das Attribut unbekannt (ignotus). Der Kleriker Bruno konnotiert die verwendeten Bezeichnungen ausnahmslos negativ: Die potentielle Nähe der ‚Fremden‘ ist grundsätzlich bedrohlich und deshalb nach Möglichkeit – meist mit militärischen Mitteln – abzuwehren. Gleichzeitig werden ‚Fremde‘ im Vergleich zu den eigenen gens-Angehörigen (d.h. Sachsen) abgewertet und als der Sachsen – wobei Bruno darunter die sächsische Oberschicht versteht – unwürdig dargestellt. Doch warum ist es für den Verfasser des ‚Sachsenkrieges‘ so wichtig, an ausgesuchten Stellen explizit von Fremden zu sprechen, an anderen aber, wie im folgenden Punkt 3. resümiert wird, nicht? Anzunehmen ist, daß Fremde, sonst in den Vorstellungen Brunos als selbstverständlich vorhanden, von ihm nur dann ausdrücklich genannt wurden, wenn er sie zur bestimmten Deutung und seinen Zwecken dienenden Stellungnahme gegen Heinrich IV. benutzen wollte.
82 Vgl. Herfried MÜNKLER u. Bernd LADWIG, Dimensionen der Fremdheit, in: Furcht und Faszination (wie Anm. 12), S. 11-44, hier S. 29f.
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3. Neben den expliziten Nennungen von ‚Fremden‘ begegnen wir in Brunos ‚Sachsenkrieg‘ weiteren Gruppen von Nicht-Zugehörigen, die in den obigen Überlegungen als ‚Andere‘ klassifiziert wurden. Da aus dem Text nicht klar hervorgeht, ob jene Gruppen von Bruno als Fremdgruppen wahrgenommen wurden – eine ausdrückliche Deutung der behandelten Gruppen als ‚Fremde‘ ist in dem Werk des Klerikers nicht zu entdecken – , wurden sie der allgemeineren Kategorie der ‚Anderen‘ zugeordnet, um auf diese Weise der Gefahr zu entgehen, moderne, vorgeformte Fremdkategorien dem mittelalterlichen Text aufzuzwingen, die so in dem Text gar nicht zu finden sind. Es ist daher müßig, von verschiedenen ‚Arten‘ von ‚Fremden‘ in mittelalterlichen Texten zu sprechen, da sie von den Autoren als solche weder wahrgenommen noch verstanden wurden. Gleichwohl können wir bei Bruno deutliche Ab- und Ausgrenzungsbemühungen beobachten, um die Grenzen zwischen der (den) eigenen Gemeinschaft(en) und den Fremden respektive den Anderen je nach Bedarf und zu erfüllenden Zwecken abzustecken. 4. Gleichzeitig wird am Beispiel der ‚Anderen‘ die Funktion der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster bei Bruno gut sichtbar, um zum Beispiel die Rangunterschiede zwischen den Gruppen zu begründen und die bestehenden Verhältnisse zu legitimieren. So werden ‚Heiden‘ als Gegensatz zu der eigenen christlichen Gemeinschaft angeführt, wobei sich die Polarisierung auch dann als nützlich erweist, wenn es darum geht, andere Christen und ihre Taten zu diskreditieren. Auf eine ähnliche Weise wird das negativ konnotierte Bild von den Bauern, die von der sächsischen Oberschicht als eine eigene gesellschaftliche Gruppe betrachtet wird, die zudem typischerweise dumm, verbohrt und von niederer gesellschaftlicher und moralischer Rangstufe ist, von Bruno benutzt, um den Edelmut und die moralische Überlegenheit der sächsischen Oberschicht im Gegensatz zu Heinrich IV. und seinen Anhängern herauszustreichen. 5. Entgegen der ursprünglichen Annahme, die den Initialüberlegungen des Projekts „Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter“, in dessen Rahmen der vorliegende Beitrag erarbeitet wurde, innewohnte, zeigt sich am Beispiel des ‚Sachsenkrieges‘ Brunos von Merseburg, daß die Wertungen, die aus den hier untersuchten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von ‚Fremden‘ und ‚Anderen‘ herausgearbeitet werden konnten, überwiegend negativer Natur sind. Sowohl explizit genannte ‚Fremde‘ als auch ‚Andere‘ werden von Bruno ausschließlich als bedrohlich, feindlich, barbarisch oder als minderwertig und verstockt charakterisiert. Bruno verzichtet in seinem Werk ganz und gar auf eine zumindest in bezug auf die Wertung differenzierte Darstellung jener Gruppen, die nicht zu den Seinen gehören. Ein wesentlicher Grund dieser einseitigen Darstellung liegt mit Sicherheit in der Funktion seines Werkes: Als eine Streitschrift gegen König Heinrich IV. und seine Parteigänger sollte es vor allem den Zweck erfüllen, die Auflehnung der nostrates, also der Opponenten Heinrichs aus
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der sächsischen Oberschicht, gegen den bis dahin rechtmäßigen Herrscher zu rechtfertigen und ihre Taten ins rechte Licht zu rücken. Da dies Brunos vornehmliche Schreibabsicht war, lag ihm kaum etwas daran, eine ausgewogene, differenzierte und, nach modernen Maßstäben, objektive Beschreibung der gegnerischen Parteien zu liefern. Gleichwohl läßt sich nicht leugnen, daß der sächsische Kleriker durchaus bemüht war, den von ihm wahrgenommenen und in seiner Schrift gedeuteten Fremden unterschiedliche, wenn auch vorherrschend negative, Qualitäten zuzusprechen. So verglich er beispielsweise den Salier und seine Krieger nicht ohne Grund mit „Heiden“, sondern um Heinrich und seinen Mannen eben jene Qualitäten zuzuschreiben, die allgemein als „heidnisch“ galten: Roheit, Gewalttätigkeit und Gnadenlosigkeit. Bezeichnend ist auch, daß der namenlose slawische Komplize des jungen Königs in Brunos Augen erst durch seine Beteiligung an Heinrichs verderblichem Plan eindeutig verurteilt wird, und nicht durch seine fremde Stammesangehörigkeit. Zwar bilden die hier aufgeführten Ergebnisse nicht mehr als eine erste Skizze der Fremdheitsproblematik, nichtsdestotrotz liefern sie Ansatzpunkte, die durch eine breiter angelegte Vergleichstudie mit anderen historiographischen Quellen jener Zeit zu aussagekräftigen und fruchtbaren Erkenntnissen zu Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von Fremden und Anderen im hohen Mittelalter führen können.
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STEFFEN PATZOLD
Zusammenfassung und Ausblick In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind ‚Wahrnehmung‘ und ‚Deutung‘ in verschiedenen Kulturwissenschaften zu viel gebrauchten Schlüsselwörtern avanciert. Sie haben sich aber noch nicht zu klar umrissenen oder gar allgemein akzeptierten Forschungsbegriffen verfestigt. Wer von ‚Wahrnehmung‘ und ‚Deutung‘ spricht, steht zur Zeit daher noch in der Pflicht, zu erklären, was er damit meint. Die sieben Beiträge, die im vorliegenden Band versammelt sind, haben diese Herausforderung angenommen. Ihr Ziel war es nicht, eine einzige, für künftige Studien verbindliche Definition zu etablieren. Angesichts des Forschungsstands mußte es vielmehr um anderes gehen: Es galt, das Spektrum möglicher Forschungsbegriffe in den drei beteiligten Disziplinen auszuloten und zugleich an fachspezifischen Beispielen die Erkenntnischancen, aber auch die methodischen Probleme anschaulich zu machen, die verschiedene Definitionen für die weitere Forschung in der Kunstgeschichte, der Germanistik und der Geschichtswissenschaft mit sich bringen, vor allem aber, die Erarbeitung mittelalterliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster methodisch zu reflektieren und exemplarisch an verschiedenen Inhalten vorzuführen. Die Ergebnisse dieser Beispielstudien vergleichend zueinander in Beziehung zu setzen, Fragen der Methodologie zu systematisieren und daraus einige Perspektiven künftiger Forschung abzuleiten, das ist die Aufgabe dieser Zusammenfassung.
1. Methodische Zugriffe Schon die ältere Forschung in den historisch ausgerichteten Disziplinen ist davon ausgegangen, daß Menschen nicht auf der Basis „objektiver Tatsachen“ handeln, sondern ihre Intentionen an dem Bild ausrichten, das sie sich von ihrer Welt machen. Wie komplex und vielstufig aber der mentale Prozeß ist, in dessen Verlauf diese Bilder entstehen, ist der Forschung erst in den letzten Jahren stärker bewußt geworden. Fächerübergreifender Konsens dürfte mittlerweile darüber bestehen, daß kein Mensch jemals ohne Voraussetzungen ein Bild von seiner Welt zu entwerfen vermag: Wie jemand die Welt sieht, ist vielmehr immer auch von Begriffen, von sozial vermitteltem Wissen, von den im Laufe der Sozialisation und der eigenen Erfahrungen angeeigneten Vorstellungen, ja sogar von vorübergehenden Stimmungen und Emotionen abhängig. Diese sozialen, „strukturellen“ Rahmenbedingungen einerseits und das immer wieder neue, individuelle, „ereignishafte“ Entwerfen von Bildern von der Welt andererseits stehen jedoch nicht in einem einfachen, einseitigen Kausalverhältnis zueinander.
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Sie bilden eine Art Regelkreis: Zwar vollzieht sich jeder einzelne Entwurf innerhalb solcher Rahmenbedingungen; er wirkt aber auch seinerseits wieder auf Begriffe, Wissen, Vorstellungen, Emotionen zurück – und kann damit seinerseits den strukturellen Rahmen verschieben. Zwei weitere Aspekte sind zu bedenken: Zum einen können Menschen in bestimmten Situationen feststellen, daß ihr Wissen, ihre Vorstellungen von der Welt falsch sind – etwa dann, wenn sie aufgrund solcher Vorannahmen in der Praxis scheitern. Und zum anderen können sich Menschen darüber bewußt werden, daß sie jeweils (nur) Bilder von ihrer Welt entwerfen; in diesem Falle können sie Theorien darüber bilden, wie dieses Entwerfen funktioniert und welche Faktoren es beeinflussen. Mit anderen Worten: Menschen fungieren nicht nur als ‚Durchlauferhitzer‘ von Diskursen und sozialem Wissen. Sie können über ihre Welt und ihr Handeln nachdenken, und sie sind (manchmal) lernfähig. Bisweilen nehmen sie solche Überlegungen bewußt vor, in reflektierter Deutung; oft genug werden die Unterscheidungen aber auch im Zuge der Wahrnehmung wirksam, ohne daß die Akteure sich dies eigens ins Bewußtsein riefen. Der vorliegende Band hat zeigen wollen, daß die Begriffe ‚Wahrnehmung‘ und ‚Deutung‘ hilfreich sind, um derartige mentale Prozesse zu beschreiben. In diesem Sinne bezieht sich ‚Wahrnehmung‘ vorzugsweise auf die Bereiche, in denen Bilder von der Welt unreflektiert entworfen werden; ‚Deutung‘ bezeichnet dagegen mehr die Entwürfe, an denen bewußte Reflexion der Akteure Anteil hat, wenngleich beides sich nicht immer klar trennen läßt. Die Begriffe ‚Wahrnehmungs-‘ und ‚Deutungsmuster‘ sind auf jene Strukturierungen gemünzt, die in einem Regelkreis einerseits aus zahllosen einzelnen Akten der Wahrnehmung bzw. Deutung hervorgebracht werden, andererseits aber auf diese Akte auch wieder zurückwirken. So definiert, sind Wahrnehmung und Deutung historisch wirksam. Sie bringen nämlich Unterscheidungen hervor, die handlungsleitend werden können. Für die drei in diesem Band gewählten Untersuchungsfelder ist das unmittelbar einsichtig: Die Grenze zwischen Fremdem und Eigenem ist ebenso wenig scharf und allgemeingültig bestimmbar wie diejenige zwischen Vergangenheit und Gegenwart oder zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Eine junge Frau, die fastet, kann als heilige Asketin verehrt, aber auch als anorektisches Mädchen therapiert werden. Ein Reisender kann als Fremder Mißtrauen wecken oder als Pilger freundliche Aufnahme finden. Was als fremd, was als eigen, was als (noch) gegenwärtig und was als (schon) vergangen empfunden wird, das beruht auf Zuschreibungen, die von Fall zu Fall je unterschiedlich ausfallen können. Was die Beiträge in diesem Band zusammenschließt, ist nun dreierlei: Erstens stellen sie alle die Frage nach derartigen unterscheidenden Zuschreibungen im Prozeß der Wahrnehmung und Deutung mittelalterlicher Zeitgenossen. Zwei-
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tens gehen alle Beiträge davon aus, daß diese Zuschreibungen historische Wirkung entfalteten: Sie setzten dem Handlungsspielraum von Menschen eine Grenze, prägten die Gestalt literarischer Texte mit und beeinflußten die Formen von Werken der bildenden Kunst. Drittens schließlich beruhen die Aufsätze in diesem Band allesamt auf der Überzeugung, daß sich Wahrnehmung und Deutung nur interdisziplinär erforschen lassen: Zum einen nämlich haben sich die mentalen Bilder, die aus den Prozessen der Wahrnehmung und Deutung hervorgegangen sind, in den unterschiedlichsten Überlieferungsträgern niedergeschlagen: in Geschichtsschreibung ebenso wie in theologischen Traktaten, in Reliquiaren ebenso wie in volkssprachiger Literatur. Schon diese unterschiedlichen Materialien machen fachspezifische Zugriffe erforderlich. Zum anderen sind der Prozeß des Entwerfens mentaler Bilder und deren Auswirkungen auf das Handeln, auf die Herstellung von Texten und die Gestaltung von (Kunst)Gegenständen so komplex, daß sie sich erst in der Kooperation mehrerer Disziplinen angemessen analysieren lassen. In diesem Sinne wollten die Beiträge in diesem Band bewußt ein Spektrum von Herangehensweisen aufzeigen, mit denen die verschiedenen historisch arbeitenden Disziplinen gemeinsam die Frage nach Wahrnehmung und Deutung in ihren verschiedenen Facetten fruchtbar machen können. Dabei sollen die Schwierigkeiten einer interdisziplinären Zusammenführung keineswegs verschwiegen werden. Bruno Reudenbach und Gia Toussaint haben Objekte untersucht, die dem Reliquienkult dienten. Reudenbach konzentriert sich dabei auf so genannte Körperteilreliquiare, Toussaint auf solche Behältnisse, die Christusreliquien bargen. Die Kernfrage ihrer beiden Aufsätze lautet: Wieso veränderten sich im Laufe des Mittelalters die Formen solcher Reliquiare? Die ältere Forschung hat diese Frage vor allem stilgeschichtlich beantwortet. Reudenbach und Toussaint gehen bei ihren Überlegungen dagegen von der didaktischen und medialen Funktion der Reliquiare aus. Eines der Grundprobleme, das Reliquienbehälter zu meistern hatten, lautete nämlich: Wie erreicht man es, daß recht unscheinbare (und oft auch unansehnliche) Leichenreste oder Holzstücke als heilig wahrgenommen werden? Wie vermittelt man den Gläubigen, daß in einem einzigen kleinen Partikel, der übriggeblieben ist, der ganze Leib des Heiligen und seine vollständige virtus wahrhaftig präsent sind? Wie kann die Gestaltung eines Reliquienbehältnisses dazu beitragen, dem Betrachter glaubhaft zu machen, daß die enthaltenen Reliquien auch wirklich das sind, was sie zu sein vorgeben? Und wie verhindert man bei alledem, daß figurale Reliquiare in eine gefährliche Nähe zu jenen Götzenbildern geraten, die von ‚Heiden‘ angebetet wurden? Antworten auf diese Fragen – das zeigen Reudenbach und Toussaint – können die Entwicklung von Körperteilreliquiaren und von jenen Behältnissen, die Christusreliquien enthielten, besser erklären als Vorannahmen über den Gang der Stilgeschichte oder gar über die menschliche Fähigkeit, die Natur in bildender Kunst nachzuahmen. Reliquiare wurden geschaffen, um wahrgenommen zu werden; und die Schöpfer der Reliquiare (jedenfalls aber die Konzepteure dieser
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Objekte) waren bemüht, die Wahrnehmung der Betrachter zu steuern. Die Gläubigen sollten in den wenig spektakulären Überresten den Heiligen und dessen virtus erkennen. Mit Blick auf die Methode könnte man also abstrahierend formulieren: Hier ist der Gegenstand der Untersuchung (die Form von Reliquiaren) aufgefaßt als das Ergebnis von Überzeugungen, die der Schöpfer des Werks für den Rezipienten wahrnehmbar machen wollte. Diese Überzeugungen wiederum sind aber nicht allein aus den Reliquiaren selbst zu eruieren; sie haben sich in Texten niedergeschlagen, die folglich bei der Analyse mitberücksichtigt werden müssen und auf deren geschichtswissenschaftliche Auswertung die Kunstgeschichte letztlich angewiesen bleibt. Denselben Weg, nur gewissermaßen in umgekehrter Richtung, ist Hans-Werner Goetz in seiner geschichtswissenschaftlichen Untersuchung gegangen. Sein Gegenstand sind historiographische Werke des Früh- und Hochmittelalters, die er als Zugang zur damaligen Wahrnehmung der Vergangenheit (als Zeitbegriff) nutzt. Er faßt diese Texte als Produkte der Wahrnehmung ihrer Autoren auf, geht also davon aus, daß die heute überlieferten Darstellungen stets auch durch Prozesse der Wahrnehmung seitens der Autoren mitgeprägt sind. Des Weiteren nimmt er an, daß diese zeitgenössische Wahrnehmung durch die Historiographen vor allem in deren Sprache Spuren hinterlassen habe. Deshalb stellt er eine detaillierte Analyse einzelner Begriffe und Wendungen in den Mittelpunkt seines Beitrags, die Zeitverhältnisse zum Ausdruck bringen, und untersucht deren Semantik, Funktion und Bedeutungsgehalt. Im zeitlich wie räumlich weiten Vergleich vieler Einzelbelege zeigen sich dann Gemeinsamkeiten im Wortgebrauch, die auf längerfristig wirksame und weit verbreitete Wahrnehmungsmuster hindeuten. Während Reudenbach und Toussaint nach den Mitteln fragen, mit denen die Schöpfer von Reliquiaren die Wahrnehmung von anderen Menschen anzuleiten suchten, geht es Goetz demnach um die Frage, wie sich die Wahrnehmung (und die Vorstellungen) der Schöpfer von Texten selbst in den von ihnen geschaffenen Werken niedergeschlagen haben. Denselben Ansatz haben auch Simon Elling und Anna Aurast gewählt, die daher in ihren Beiträgen ebenfalls wort- und begriffsgeschichtlich argumentiert haben. Sie fragen jedoch jeweils nach der Wahrnehmung nur eines Autors und konzentrieren sich dabei sogar auf eine Detailanalyse eines einzelnen Werks: Simon Elling auf die Geschichte der Metzer Bischöfe, die Paulus Diaconus in den 780er Jahren im Auftrag Angilrams von Metz schrieb; Anna Aurast auf das „Buch vom Sachsenkrieg“, das der Merseburger Geistliche Bruno wahrscheinlich im Jahr 1082 verfaßt hat. Die Konzentration auf Einzelwerke erlaubt es beiden, bei ihren Untersuchungen sowohl den ‚Sitz im Leben‘, den Schreibanlaß und die Darstellungsabsicht ihres Quellentextes als auch dessen narrative Struktur mitzuberücksichtigen. Eines der Ergebnisse der Studie von Hans-Werner Goetz lautet: Die Autoren hatten zwar klare Vorstellungen von dem, was „vergangen“ bedeutet, konn-
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ten das aber nur indirekt (über Zeitbezüge, Alter, Wandel) ausdrücken. Wie heute, so gab es auch im Früh- und Hochmittelalter keine scharfe Grenze zwischen den Zuschreibungen zur Vergangenheit und zur Gegenwart; vielmehr konnte auch schon damals diese Einordnung nicht nur von Autor zur Autor, sondern sogar innerhalb eines einzelnen Werks stark variieren. Simon Elling hat dieses Ergebnis als Ausgangspunkt genommen, um die Spuren der Vergangenheitswahrnehmung, die er im überlieferten Text ermittelt hat, für Grundfragen der Quellenkritik fruchtbar zu machen. Sein Argument lautet etwas zugespitzt: Paulus Diaconus verrät mit seinen in der Darstellung greifbaren Wahrnehmungsmustern seine persönliche Distanz zu dem Gegenstand, über den er handelt. Die bisherige Forschung hatte vorausgesetzt, daß der Langobarde sein Werk in Metz verfaßt und aus den ihm dort zur Verfügung stehenden Informationen bewußt einige wenige ausgewählt habe. Ellings Analyse deutet dagegen eher darauf hin, daß Paulus ein Auftragswerk verfaßte, für das er nicht eigens nach Metz reiste und sich auch sonst kaum persönlich engagierte. Das hat Folgen für den geschichtswissenschaftlichen Quellenwert, die historische Interpretation und die gattungsgeschichtliche Einordnung des Textes. Anna Aurast hat sich der Semantik der Fremdheit in Brunos Darstellung des Sachsenkriegs zugewendet. Sie hat dazu zunächst eine Gruppe lateinischer Wörter festgelegt, die den Begriff der Fremdheit bezeichnen können, und den Gebrauch dieser Wörter durch Bruno untersucht. Darüber hinaus hat sie eine Gruppe der „Anderen“ gebildet, die der Autor nicht ausdrücklich als Mitglieder seiner eigenen sozialen Gruppe gekennzeichnet hat. Anschließend hat sie vergleichend untersucht, welche Eigenschaften Bruno den „Fremden“ und den „Anderen“ zuschrieb. Während Goetz, Elling und Aurast die Frage nach Wahrnehmung und Deutung als eine Problemstellung heutiger Wissenschaft begreifen, um dem mittelalterlichen Denken näher zu kommen, bildet dieselbe Frage bei Reudenbach und Toussaint zugleich eine der Grundbedingungen, aus der heraus die Form von Reliquiaren erklärlich wird: Die Konzepteure von Reliquiaren nutzen die Wahrnehmung ihrer zeitgenössischen Betrachter, um sie zugleich anzuleiten und zu steuern. Der literaturwissenschaftliche Beitrag von Hartmut Bleumer knüpft hier an. Man könnte sagen: Bleumer interessiert sich dafür, wie Wahrnehmung im Mittelalter selbst reflektiert und gedeutet werden konnte. Dazu hat er nachgezeichnet, wie in einem literarischen Text des Hochmittelalters – dem „Trojanischen Krieg“ des Konrad von Würzburg – die Steuerung menschlicher Wahrnehmung nicht nur praktiziert, sondern auch reflektiert, zum ästhetischen Kernproblem erhoben und dem Rezipienten sichtbar gemacht wurde. Konrads Text, so Bleumers These, mache seinen Rezipienten deutlich, daß der Krieg um Troja wegen seiner Komplexität gar nicht erzählbar sei. Dieses Ziel erreiche der Text, indem er die je eigenen Leistungen von visueller Imagination und textueller Narration vorführe: Der Verfasser argumentiert mit der Figur des Augenzeugen,
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beschreibt immer wieder die Wahrnehmung seiner Figuren und regt zugleich in hohem Maße die visuelle Imagination seiner Rezipienten an. Gleichzeitig aber führt er vor, wie angesichts der Überfülle des Darzustellenden diese literarische Strategie versagt, ja versagen muß. Dadurch werden die Rezipienten letztlich doch wieder darauf zurückverwiesen, daß sie es mit narrativer Textualität zu tun haben. Von dieser Beobachtung ausgehend hat Bleumer dann Stellung bezogen zu drei Kernbegriffen der aktuellen germanistischen Debatte über literarische Wahrnehmung: zum Bild, zur Bilderzählung und zur Metapher. Dem Problem, wie Menschen im Mittelalter Wahrnehmung deuteten, ist schließlich auch der Beitrag von Steffen Patzold gewidmet. Er betrachtet die lebhafte und vielstimmige Debatte über die Eucharistie, die im 9. Jahrhundert im Frankenreich geführt wurde. An diesem Beispiel zeichnet er nach, wie differenziert zumindest einige der damaligen Zeitgenossen diskutieren konnten über das Verhältnis von dem, was sie sinnlich wahrnahmen, einerseits und der Wirklichkeit, dem wahren Geschehen andererseits. Im Eucharistiestreit der Karolingerzeit wird deutlich, daß die Akteure selbst mit einem gravierenden Unterschied zwischen ihrer Wahrnehmung und der Wirklichkeit rechneten, die der Mensch erst durch die weitere – mentale – Verarbeitung von Informationen erkennen konnte. Davon ausgehend hat Patzold argumentiert, daß die jüngeren mediävistischen Forschungen zu Ritualen und deren sozialer Funktion das Problem der Wahrnehmung und dessen komplexe mittelalterliche Deutung mitberücksichtigen sollten. Insgesamt hat der Band mithin drei Zugriffe auf mittelalterliche Wahrnehmungen und Deutungen zusammengeführt, die in den verschiedenen fachspezifischen Forschungszusammenhängen bisher meist getrennt voneinander diskutiert und angewendet werden: Die überlieferten Materialien lassen sich erstens daraufhin befragen, inwieweit und auf welche Weise sie die Wahrnehmungen ihrer Rezipienten anzuleiten und zu steuern versuchten (Reudenbach, Toussaint, Bleumer). Die überlieferten Werke lassen sich zweitens als ein Reservoir von in Texten und Bildern ‚sedimentierten‘ Wahrnehmungen ihrer Schöpfer begreifen (Goetz, Aurast, Elling). Und drittens läßt sich fragen, inwieweit die Zeitgenossen selbst über den Prozeß der Wahrnehmung nachdachten, sich in ihren Werken dazu äußerten oder sogar ihre Zeitgenossen darüber zu belehren suchten (Bleumer, Patzold). Die Zusammenschau unterschiedlicher methodischer Zugriffe hat zugleich bereits auf einige aktuelle Forschungsfelder aufmerksam gemacht, in denen der Frage nach Wahrnehmungen und Deutungen grundsätzliche Bedeutung zukommen dürfte: das Verhältnis von Stil, Form und Kultpraxis, die Diskussion über Bild und Erzählung, die Debatte über die Funktionalität von Ritualen, die Frage nach der Bedeutung des Autors für den Text. Zu all diesen Fragen hält die Forschung zu Wahrnehmungen und Deutungen Nuancierungen und Weiterungen bereit.
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2. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster Das Projekt, aus dem der vorliegende Band erwachsen ist, konnte von vornherein nicht darauf angelegt sein, ein Repertorium der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des europäischen Mittelalters zu erarbeiten. Gleichwohl ergeben sich aus den einzelnen Beiträgen auch Beobachtungen zu jenen Mustern, die die Wahrnehmung und Deutung des Verhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit, Eigenem und Fremden und Heiligem und Profanen prägten. Sie lassen die Vielfalt der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster ebenso erkennen wie ihre gezielte Bündelung auf bestimmte Aspekte. Darüber hinaus erlaubt es die Zusammenschau der Beiträge, weitere, grundlegende Dichotomien zu beschreiben, die sich in den verschiedenen Materialien finden lassen. Und schließlich geben die Beiträge zumindest auch erste Hinweise auf den Charakter solcher Wahrnehmungsmuster und auf dessen Reflexion durch die Zeitgenossen. Mit Blick auf die Wahrnehmung von Vergangenheit hat Hans-Werner Goetz in seinem Beitrag für die früh- und hochmittelalterliche Historiographie einerseits gewisse Parallelen zum aktuellen Vergangenheitsbegriff in der westlichen Welt nachweisen können. Zwar fehlte den mittelalterlichen Zeitgenossen ein vergleichbares Wort, wie es in der deutschen Sprache mit dem Substantiv „Vergangenheit“ vorhanden ist. Gleichwohl, so Goetz, hatten die Historiographen eine Vorstellung von Vergangenheit, die – wie der heutige Begriff auch – stets eine Relation bezeichnete: Vergangenheit wurde nur in der Abgrenzung zur jeweiligen Gegenwart manifest. Sie umfaßte dabei zwar nicht eine genau datierbare oder zeitlich fixierbare Spanne, wohl aber eine inhaltlich definierte Differenz, so daß den Abgrenzungskriterien (als wichtigem Untersuchungsgegenstand des Projekts) eine hohe Bedeutung zukommt. Die Historiographen rechneten sowohl mit Brüchen und Wandlungen in der Geschichte als auch mit Kontinuitäten. Anders als heutige Historiker legten ihre mittelalterlichen Vorläufer allerdings an die Vergangenheit durchweg dieselben Maßstäbe wie an die Gegenwart an: Eine Alterität der Vergangenheit nahmen sie nicht wahr. Deshalb zeichnete sich ihr Vergangenheitsbegriff durch eine starke Bezugnahme auf und Anknüpfung an die Gegenwart aus: Die Vergangenheit mochte dem Jetzigen nicht mehr entsprechen; doch sie blieb in den Augen der Historiographen aktuell. Nicht selten wurde die Vergangenheit daher auch der – als schlechter empfundenen – Gegenwart als Vorbild gegenübergestellt. Allerdings galt selten die Vergangenheit an sich als besser; meist bezog sich das Lob der Historiographen nur auf benennbare Sachverhalte aus der Vergangenheit. Ähnlich wie es Goetz für das Problem der Alterität im Laufe der Geschichte beobachtet hat, kommt Anna Aurast am Beispiel der Darstellung des Sachsenkriegs bei Bruno von Merseburg auch für die synchrone Perspektive zu dem Ergebnis: Ein Begriff von „Fremdheit an sich“ läßt sich nicht feststellen – und das, obwohl Bruno von seiner Darstellungsabsicht her ein hohes Interesse daran hatte, fremde Leute in Sachsen als bedrohlich, feindlich, verstockt oder in ande-
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rer Weise minderwertig abzuqualifizieren. Die Semantik des Heidnischen hat Bruno dabei nach Aurast sogar sehr bewußt für seine Zwecke instrumentalisiert: Sie war ihm ein wohlfeiles literarisches Mittel, um die Rohheit, Gewalttätigkeit und Gnadenlosigkeit Heinrichs IV. und seiner Anhänger dem Leser des „Buches vom Sachsenkrieg“ unmittelbar augenfällig zu machen. Gia Toussaint hat nachgezeichnet, welche Darstellungsmuster nach 1100 in westlichen Reliquiaren etabliert wurden, um Holzsplitter als authentische Überreste vom Kreuz Christi wahrnehmbar zu machen. Nach dem ersten Kreuzzug und der Einnahme Jerusalems 1099 vermehrte sich die Zahl der Splitter vom Kreuz Christi in Mittel- und Westeuropa dramatisch; zugleich kamen diese Partikel nun – anders als zuvor – in aller Regel nicht mehr als diplomatische Gastgeschenke oder auf anderen gut nachvollziehbaren Wegen in den Westen. Angesichts der Vielzahl von Splittern und aus Furcht vor Betrug hatten schon die Zeitgenossen ein hohes Bedürfnis, mit Hilfe der Reliquiare die Echtheit der Partikel anschaulich zu machen. Nach Toussaint war es viererlei, was diese Aufgabe erfüllte: Zum einen griffen die Auftraggeber oder Schöpfer von Reliquiaren nun auf die Form des Doppelkreuzes zurück; sie galt als byzantinisch und konnte daher als Verweis auf die Authentizität der Reliquie interpretiert werden. Zweitens wurden die Kreuzessplitter eingebettet in eine Bilderzählung, die auf die Vergangenheit zurückgriff: nicht auf die Bibel, sondern auf jene Legende, der zufolge Helena das wahre Kreuz aufgefunden hatte. Dieser Text eignete sich insofern, als er seinerseits bereits um Authentifizierung des entdeckten Holzes bemüht gewesen war. Drittens wurden Kreuzessplitter oft in einem kostbaren Materialkontext zur Schau gestellt, besonders häufig an Gemmenkreuzen. Und schließlich plazierte man die Kreuzesreliquie eben an diejenige Stelle, an der auch historisch das Corpus Christi gehangen hatte: unmittelbar auf die Kreuzesvierung. Damit diese Strategien der Authentifizierung den Zeitgenossen aber überhaupt wirksam und überzeugend erscheinen konnten, mußten tiefer liegende Wahrnehmungsmuster bereits etabliert sein: Das Doppelkreuz mußten die Betrachter ohne weiteres als christliches, aber dennoch fremdartiges Symbol begreifen können; ein hohes Alter und eine Einbettung in die Geschichte mußten sie als Echtheitsbeweis verstehen, funkelnde Edelsteine und Gold als Verweis auf Heiligkeit einordnen und das Holz vom „wahren“ Kreuz schließlich – trotz seiner veritas – doch zugleich auch als Zeichen interpretieren können, das seinerseits auf den wahren Leib des Herrn verwies, der an eben diesem Kreuz gestorben war. In einem vergleichbar komplexen Gemenge mehrerer Deutungsmuster hat Bruno Reudenbach den mentalen Rahmen für die Entstehung von Körperteilreliquiaren gesehen: Ihr glänzendes Material verwies die Betrachter auf den transzendenten Auferstehungsleib des Heiligen, der an der claritas Gottes teilhatte. Die Betonung des Körperteils schon in der äußeren Form des Reliquiars war ein Verweis auf die Vorstellung, daß in jedem einzelnen Fragment des Heiligen der
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gesamte Leib und seine ganze virtus präsent waren. Zugleich steht hinter den Objekten aber auch die Idee, daß die Heiligen ihrerseits Teile jenes Leibes Christi waren, der die Gemeinschaft der Christen bildete, die ecclesia. Zu diesen kunsthistorischen Beobachtungen fügt sich nahtlos die Debatte um die Eucharistie, die Steffen Patzold in seinem Beitrag nachgezeichnet hat. Zugespitzt ließe sich formulieren: Am Beispiel des Corpus Christi erörterten Zeitgenossen eben jene Dichotomien in expliziter Form, die für die Wahrnehmung der Heiligenleiber, die in Reliquiare eingeschlossen waren, zwar auch von Bedeutung gewesen sein müssen, für die Heiligen jedoch selten ausdrücklich in Texten diskutiert wurden. So finden sich in den karolingerzeitlichen Schriften zur Eucharistie dieselben Muster wieder: Auch hier geht es um das Problem von Einheit und Fragmentierung eines unteilbaren Leibes, um die Frage von der Gegenwart der ganzen Heilskraft in jedem einzelnen Fragment, um die Gleichzeitigkeit der Präsenz des Herrenleibes im Himmel und bei jeder Eucharistiefeier auf Erden, um das Verhältnis von vorgängigem Bibeltext und Nachvollzug in der Messe, schließlich um die Beziehung von figura und veritas. Vielleicht ist es kein Zufall, daß sich die frühesten Hinweise auf Körperteil-Reliquiare gerade für die Karolingerzeit finden? Vergangenheit ohne Alterität; Einheit bei Fragmentierung; Präsenz bei Absenz; Wirklichkeit im Abbild; Visualisierung in einem literarischen Text, der zugleich doch wieder selbst auf die Grenzen der Visualisierung verweist – in den Beiträgen des vorliegenden Bandes wird immer wieder greifbar, wie sehr die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster darauf ausgerichtet waren, Gegensätze miteinander auszusöhnen. Möglicherweise wäre gerade hier ein Grundzug solcher mentaler Muster in der Vormoderne zu suchen. Daß sich Ähnliches jedenfalls auch noch in anderen Bereichen beobachten ließe, kann hier nur stichwortartig angedeutet werden: In der Politik etwa bildete die gedachte Einheit des Reiches trotz seiner realpolitischen Fraktionierung bis weit in die Frühe Neuzeit hinein eine Determinante. Im kanonischen Recht stellte die Concordantia Discordantium Canonum eine wesentliche Herausforderung dar. Im Urkundenwesen konnte ein Diplom des Königs zwar ewige Gültigkeit beanspruchen; gleichwohl schien den Empfängern mit jedem Herrscherwechsel eine Bestätigung angeraten. Zwei weitere fächerübergreifende Ergebnisse des Bandes schließlich seien hervorgehoben: In den Reliquiaren, in der Geschichtsschreibung, in den theologischen Traktaten und in der Literatur wird deutlich, daß schon die mittelalterlichen Zeitgenossen in bestimmten Situationen selbst über das Phänomen der Wahrnehmung nachdenken konnten und die Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen bewußt zu lenken versuchten. Darüber hinaus hat sich gezeigt: Die Autoren von Texten wie auch die Schöpfer von Reliquiaren gingen davon aus, daß das vom Menschen sinnlich Wahrgenommene weder die Wirklichkeit selbst noch einfach ein getreues Abbild dieser Wirklichkeit war: Ein Reliquiar in Form eines Fußes war eben nicht einfach ein Abbild des Fußes eines Heiligen; das Brot der Eu-
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charistie war weder einfach der Leib des Herrn selbst noch ein einfaches Abbild dieses Leibes. Die Produzenten und Rezipienten mittelalterlicher Texte und Artefakte rechneten offenbar fest damit, daß solche Werke einer komplexen Interpretation bedurften. Für die mediävistische Quellenkritik stellt dies eine methodische Herausforderung dar, auf die noch keineswegs in allen Bereichen eine adäquate Antwort gefunden ist.
3. Fragen und Perspektiven Aus der gemeinsamen Arbeit im Projekt, aus dem auch dieser Band hervorgegangen ist, haben sich schließlich weitere Fragen ergeben, die in der Forschung noch nicht befriedigend beantwortet sind. Fünf dieser Problembereiche seien zum Schluß dieser Zusammenfassung zumindest noch knapp angesprochen. 1) Wahrnehmungs- und Deutungsmuster werden allein im Vergleich als solche erkennbar. Im Projekt hat ein solcher Vergleich zum einen über die verschiedenen Perspektiven der beteiligten Disziplinen stattgefunden, zum anderen über die Alterität der vormodernen Welt, zum dritten über den Vergleich verschieden(st)er Quellen und Quellenarten. Wünschenswert und weiterführend für eine Geschichte der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster wäre aber zweifellos auch ein interkultureller Vergleich – sei es mit nicht-christlichen Lebenswelten in Europa selbst, sei es mit außereuropäischen Kulturen. Ein solcher Kontrast würde es erlauben, die Spezifika jener lateinischen-christlichen Wahrnehmung, der das Projekt galt, noch genauer zu beschreiben. 2) Hinzu kommt die Frage nach der Geschichtlichkeit von Wahrnehmungsund Deutungsmustern: Wie entstanden sie? Wie entwickelten, wie wandelten sich solche Muster im Laufe des Mittelalters? Die Beiträge in diesem Band haben zwar versucht, diese Frage mitzubedenken; befriedigend beantwortet ist sie jedoch noch nicht. Hans-Werner Goetz hat für die Vergangenheitswahrnehmung an sich – im Gegensatz zum konkreten Geschichtsbild – eher lang dauernde Kontinuitäten vom 6. bis ins 12. Jahrhundert beobachtet. In der Tat wird man von einer Grundschicht langfristig wirksamer Muster ausgehen müssen, die etwa in der lateinischen Sprache ‚sedimentiert‘ waren und möglicherweise sogar bis weit in die Frühe Neuzeit hinein wirksam blieben. Daneben dürften bestimmte historische Momente oder Ereigniszusammenhänge aber auch zu einem Wandel von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern geführt haben. Gia Toussaint hat in ihrem Beitrag einen solchen Moment beschrieben: Die Einnahme Jerusalems im Jahr 1099 bedingte eine Flut von Kreuzesreliquien im Westen und zog, ohne daß dies von den Beteiligten geplant und intendiert gewesen wäre, auch einen Wandel in der Wahrnehmung dieser Reliquien nach sich. Auch die Körperteilreliquiare wurden, soweit erkennbar, erst in einer bestimmten historischen Phase entwickelt: Lag dieser Neuerung möglicherweise ein Wandel in der Wahrnehmung von Heiligkeit zugrunde? Der Streit um die Eucharistie, in dem zugleich das Verhältnis von dem sinnlich Wahrgenommenen zur Wirklich-
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keit verhandelt wurde, entbrannte nicht im 6. oder 7. Jahrhundert, sondern wurde in wenigen Jahrzehnten um die Mitte des 9. Jahrhunderts ausgetragen, um dann erst wieder in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts aufgegriffen und weitergeführt zu werden. Trug diese Debatte über Wahrnehmung und Wirklichkeit zu einem Wandel von Wahrnehmungsmustern auch in anderen Bereichen bei? Bruno von Merseburg hat sein „Buch vom Sachsenkrieg“ wohl 1082 verfaßt – also eben zu der Zeit, als tief greifende und grundsätzliche Konflikte das Reich spalteten. Inwieweit lassen sich seine Wahrnehmung und seine Darstellung von Anderen und Fremden als ein Überrest eines epochalen Wandels von Wahrnehmungsmustern verstehen, der durch die großen politischen Auseinandersetzungen im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts angestoßen wurde? 3) Eng verbunden mit diesen Fragen nach der Entstehung und dem Wandel von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern ist ein dritter Problemkomplex: die Rolle des Subjekts in einer Geschichte von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern. Solche Muster existieren nicht unabhängig vom Menschen; aber sie sind ein kollektives Phänomen, ein einzelner Akteur kann sie nur in begrenztem Maße individuell und intentional manipulieren. Welche Wirksamkeit die Versuche einzelner Menschen dabei erreichen, dürfte nicht zuletzt von deren sozialer Stellung abhängen: Ein Ratgeber des Königs hatte hier weit bessere Aussichten als ein unfreier Höriger. Zugleich hängt jeder einzelne Wahrnehmungsakt aber auch in hohem Maße von den Rahmenbedingungen ab, unter denen er sich ereignet. Daraus ergeben sich zwei Untersuchungsfelder, die bisher noch kaum von der Forschung beackert worden sind: Erstens ist zu fragen, ob sich in einzelnen Werken eine individuelle Auseinandersetzung des Autors mit etablierten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern beobachten läßt. Hartmut Bleumer hat dies für den „Trojanischen Krieg“ des Konrad von Würzburg nachgezeichnet: Der Verfasser rang mit der Darstellbarkeit eines überkomplexen Geschehens – und reflektierte dabei in neuer, individueller Weise das Verhältnis von Textualität, Bildlichkeit und Visualität. Inwieweit diese individuelle Lösung Schule machte und sich selbst wieder zu einem Wahrnehmungsmuster entwickelte, wäre noch zu untersuchen. Zweitens aber wäre die je individuelle ‚Bandbreite‘ möglicher Wahrnehmungen exakter zu erforschen. Simon Elling ist dieser Frage in seiner Analyse der Geschichte der Metzer Bischöfe aus der Feder des Paulus Diaconus nachgegangen. Methodisch wichtig wäre dabei, die klassischen Fragen der Quellenkritik in neuer Weise fruchtbar zu machen: Der Kontext der Entstehung des einzelnen Werkes und die Nähe und persönliche Einstellung des Autors zu seinem Gegenstand wären dann nämlich nicht mehr nur Kriterien für die Glaubwürdigkeit des Dargestellten, sondern zugleich auch Voraussetzungen, um die individuellen Abweichungen von etablierten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern historisch zu erklären. Nimmt man die beiden Fragebereiche zusammen, so könnte die Erforschung von Wahrnehmung und Deutung einen wichtigen Beitrag leisten zu einer Geschichte der Subjektivität.
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Steffen Patzold
4) In jüngerer Zeit in den Blick der Forschung geraten, aber noch nicht befriedigend geklärt ist der Zusammenhang zwischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern einerseits und Routinen und Handlungsmustern andererseits. Die Frage nach der Wahrnehmung und Deutung ist nicht zuletzt deshalb in den historischen Disziplinen wichtig, weil diese mentalen Prozesse Grundlagen für Handlungen darstellten, die ihrerseits historisch wirksam wurden. Die Frage nach „Spielregeln“, Konventionen und Handlungsmustern war sowohl für die geschichtswissenschaftliche als auch für die literaturwissenschaftliche Forschung der letzten zwei Jahrzehnte in hohem Maße fruchtbar. Die Beiträge in diesem Band sind für diesen Forschungszweig zumindest in einer Hinsicht von Interesse: Wenn den Zeitgenossen des Mittelalters bewußt war, daß das, was sie sinnlich wahrnahmen, unter Umständen kein einfaches Abbild der Wirklichkeit war, dann war die „symbolische Kommunikation“ ein erheblich komplexeres Phänomen, als es bisweilen vorausgesetzt wird. Um diese Kommunikation nachzuvollziehen und ihre Leistungsfähigkeit zu verstehen, wäre jedenfalls nicht nur eine Archäologie der zeichenhaften Handlungen notwendig (die sich gewissermaßen auf den „Sender“ konzentriert), sondern auch eine Kenntnis der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowie der zeitgenössischen Theorien der Wahrnehmung und Deutung (weil erst dadurch auch die Seite des „Empfängers“ mitberücksichtigt würde). 5) Im vorliegenden Band ist schließlich das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Ästhetik nur am Rande behandelt worden: Die Beiträge beschreiben mittelalterliche Muster der Wahrnehmung und Deutung und fragen nach deren Funktionalität und Wirkung. Um die Frage, was als schön, was als häßlich empfunden wurde und welche Rolle dies wiederum für die Gestaltung von Texten und Kunstgegenständen hatte – um diese Frage geht es in den Aufsätzen im Kern nicht. Immerhin verweist aber Hartmut Bleumers Analyse des „Trojanischen Krieg“ des Konrad von Würzburg auf das Problem der Visualisierung von Schönheit. Es entstand für den Verfasser des mittelalterlichen Textes dort, wo er die Gestalt der Helena zu schildern hatte. Inwieweit aber die literarischen, historiographischen oder gelehrten Texte oder auch die kunstvoll gestalteten Reliquiare selbst am Maßstab der Ästhetik gemessen wurden und wie die Rezipienten des Mittelalters in solchen Werken das Schöne wahrnahmen und deuteten, das wäre ein eigenes Forschungsthema. Das Projekt, aus dem dieser Sammelband erwachsen ist, hatte das Ziel, die methodischen Annäherungen an Wahrnehmung und Deutung in der Geschichtswissenschaft, der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft deutlicher zu profilieren, die verschiedenen Ansätze zu bündeln und sie miteinander in Beziehung zu setzen, ohne deshalb aber die historisch gewachsenen disziplinären Unterschiede und die je eigenen Erkenntnischancen zu nivellieren. Erst auf dieser Grundlage wird es möglich sein, die offenen Fragen zur Wahrnehmung und Deutung im Mittelalter einer Antwort näher zu bringen. Es ist noch viel zu tun.
Verzeichnis der aus dem Projekt erwachsenen Veröffentlichungen Anna Aurast, „Nachbarn“ als Fremde? „Nationale“ Abgrenzung in der Vorstellungswelt ausgewählter Chronisten des frühen 12. Jahrhunderts. Gallus Anonymus und Cosmas von Prag im Vergleich, Ungedruckte Magisterarbeit, Hamburg 2003. Dies., Wir und die Anderen. Identität im Widerspruch bei Cosmas von Prag, in: Produktive Kulturkonflikte, hg. v. Felicitas Schmieder (Das Mittelalter 10), Berlin 2005, S. 28-37. Dies., „Nachbarn“ als „Fremde“? Nationale Abgrenzung in der Vorstellungswelt von Gallus Anonymus und Cosmas von Prag, in: Bilder – Wahrnehmungen – Vorstellungen. Neue Forschungen zur Historiographie des hohen und späten Mittelalters, hg. v. Jürgen Sarnowsky (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter 3), Göttingen 2007, S. 55-75. Dies., Emotionen und ihre Funktionen vor dem Hintergrund des Ersten Kreuzzuges: Christliche und jüdische Texte im Vergleich, in: Meetings with Emotions. Human Past between Anthropology and History (Historiography and Society from the 10th to the 20th century), hg. v. Przemys!aw Wiszewski (Disputationes 2), Wroc!aw 2008, S. 21-40. Hartmut Bleumer, Die narrative Interferenz. Schritte einer historischen Narrativistik im literarischen Feld um Dietrich von Bern, Habil. masch., Hamburg 2002. Ders., Rez. zu Das Straßburger Heldenbuch. Rekonstruktion der Textfassung des Diepold von Hanowe, hg. v. Walter Kofler (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 667), 2 Bde., Göppingen 1999, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 121, 2002, S. 449-452. Ders., Motivation im ‚Wolfdietrich’ (B), in: 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mittelhochdeutsche Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietriche), hg. v. Klaus Zatloukal (Philologica Germanica 25), Wien 2003, S. 37-55. Ders., Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen zwischen Sangspruch und Minnesang, in: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla-Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich), hg. v. Helmut Birkhan (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Sitzungsberichte 721), Wien 2005, S. 83-102. Ders., Schemaspiele – ‚Biterolf und Dietleib‘ zwischen Roman und Epos, in: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, hg. v. Jan-Dirk Müller (Schriftenreihe des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), München 2007, S. 191-217. Ders., Rez. zu Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter, hg. v. Fritz Peter Knapp u. Manuela Niesner (Schriften zur Literaturwissenschaft 19), Berlin 2002, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 35, 2003, S. 187-190. Ders., Das ‚Annolied’ als ästhetisches Objekt, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. v. Manuel Braun u. Christopher Young (Trends in Medieval Philology 12), Berlin-New York 2007, S. 255-278. Ders., Wert, Variation, Interferenz. Zum Erzählphänomen der strukturellen Offenheit am Beispiel des Laurin, in: Dietrichepik. Beiträge der Tagung des Arbeitsgebiets „Literatur des Mittelalters und des Humanismus“ an der Universität Bremen veranstaltet in Zusammenarbeit mit der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft vom 6.-8. September 2001
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an der Universität Bremen, hg. v. Elisabeth Lienert (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 14), Frankfurt am Main 2003/04, S. 109-127. Ders., Wahrnehmung literarisch. Ein Versuch über ‚Parzival’ und ‚Tristan’, in: ebd. S. 137155. Ders., Rez. zu Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (Allgemeine Literaturwissenschaft - Wuppertaler Schriften 2), Berlin 2001, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 120, 2004, S. 107-111. Ders., Rez. zu Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters, hg. v. Ulrich Ernst u. Klaus Ridder (Ordo 8), Köln-Weimar-Wien 2003, in: Das Mittelalter 9, 2004, S. 185f. Ders., Rez. zu Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe, hg. v. Elisabeth Lienert u. Gertrud Beck (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 1), Tübingen 2003, in: Arbitrium 22/4, 2004, S. 287-293. Ders. u. Steffen Patzold, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittelalters, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Dens. (Das Mittelalter 8), Berlin 2004, S. 4-22. Simon Elling, Konstruktion, Konzeption und Wahrnehmung von Vergangenheit in historiographischen Quellen des frühen 11. Jahrhunderts, Ungedruckte Magisterarbeit, Hamburg 2004. Ders., Konstruktion, Konzeption und Wahrnehmung von Vergangenheit. Das Beispiel der Vita Heinrici II imperatoris Adalbolds von Utrecht, in: Bilder – Wahrnehmungen – Vorstellungen. Neue Forschungen zur Historiographie des hohen und späten Mittelalters, hg. v. Jürgen Sarnowsky (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter 3) Göttingen 2007, S. 33-53. David Fraesdorff, Der barbarische Norden. Vorstellungen und Fremdheitskategorien bei Rimbert, Thietmar von Merseburg, Adam von Bremen und Helmold von Bosau (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 7), Berlin 2005. Bele Freudenberg, Gefühlswelten im 10. Jahrhundert: das Beispiel Liudprands von Cremona und Rathers von Verona. Ungedruckte Magisterarbeit, Hamburg 2003. Hans-Werner Goetz, „Konstruktion der Vergangenheit“. Geschichtsbewußtsein und „Fiktionalität“ in der hochmittelalterlichen Chronistik, dargestellt am Beispiel der Annales Palidenses, in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. v. Johannes Laudage, Köln-Weimar-Wien 2003, S. 225-257. Ders., Vorstellungen und Wahrnehmungen mittelalterlicher Zeitzeugen. Neue Fragen an die mittelalterliche Historiografie, in: Mittelalter zwischen Politik und Kultur. Kulturwissenschaftliche Erweiterung der Mittelalter-Didaktik, hg. v. Wolfgang Hasberg u. Manfred Seidenfuß (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik 6), Neuried 2003, S. 45-57. Ders., Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut Bleumer u. Steffen Patzold (Das Mittelalter 8), Berlin 2004, S. 23-33. Ders., Vergangenheitsbegriff, Vergangenheitskonzepte und Vergangenheitswahrnehmung in der früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, hg. v. Christina Jostkleigrewe, Christian Klein, Kathrin Prietzel, Peter F. Saeverin und Holger Südkamp (Europäische Geschichtsdarstellungen 7), Köln-Weimar-Wien 2005, S. 171-202. Ders., Constructing the Past. Religious Dimensions and Historical Consciousness in Adam of Bremen’s Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, in: The Making of Christian Myths in the Periphery of Latin Christendom (c. 1000-1300), hg. v. Lars Boje Mortensen, Kopenhagen 2006, S. 17-51.
Verzeichnis der aus dem Projekt erwachsenen Veröffentlichungen
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Ders., „Fremdheit“ im frühen Mittelalter, in: Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken, hg. v. Peter Aufgebauer u. Christine van den Heuvel, unter Mitarbeit von Brage Bei der Wieden, Sabine Graf und Gerhard Streich, Hannover 2006, S. 245-265. Ders., The perception of “power” and “state” in the Early Middle Ages, in: Representations of Power in Medieval Germany, 500-1500, hg. v. Simon McLean u. Björn Weiler (International Medieval Research 16), Turnhout 2006, S. 15-36. Ders., Textualität, Fiktionalität, Konzeptionalität. Zur Vorstellungswelt mittelalterlicher Geschichtsschreiber und zur Konstruktion ihrer Texte, in: Mittellateinisches Jahrbuch 41, 2006, S. 1-21. Ders., „Wahrnehmung“ der Arbeit als Erkenntnisobjekt der Geschichtswissenschaft, in: Arbeit im Mittelalter, hg. v. Verena Postel, Berlin 2006, S. 21-33. Ders., Die Wahrnehmung von ‚Staat‘ und ‚Herrschaft‘ im frühen Mittelalter, in: Staat im frühen Mittelalter, hg. v. Stuart Airlie, Walter Pohl u. Helmut Reimitz (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Denkschriften 334 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006, S. 39-58. Ders., Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter, hg. v. Anna Aurast, Simon Elling, Bele Freudenberg, Anja Lutz u. Steffen Patzold, Bochum 2007. Ders., Alt sein und alt werden in der Vorstellungswelt des frühen und hohen Mittelalters, in: Alterskulturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.. Internationaler Kongreß Krems an der Donau 16. bis 18. Oktober 2006, hg. v. Gerhard Jaritz u. Elisabeth Vavra (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. SB 780 = Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 21), Wien 2008, S. 17-58. Ders., „Debilis“. Vorstellungen von menschlicher Gebrechlichkeit im frühen Mittelalter, in: Homo Debilis. Behinderte – Kranke – Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte 3), hg. v. Cordula Nolte, Korb 2009, S. 21-55. Ders., Sarazenen als „Fremde“? Anmerkungen zum Islambild in der abendländischen Geschichtsschreibung des frühen Mittelalters, in: Fremde, Feinde und Kurioses. Innen- und Außenansichten unseres muslimischen Nachbarn (Festschrift Gernot Rotter) (Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients. Beihefte zur Zeitschrift „Der Islam“, n.F. 24), Berlin-New York 2009, S. 39-66. Ders., Erwartungen an den „Staat“: die Perspektive der Historiographie in spätkarolingischer Zeit, in: Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven, hg. v. Walter Pohl u. Veronika Wieser (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Denkschriften 16 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009, S. 471485. Steffen Patzold (Hg.), Bischofsstädte als Kultur- und Innovationszentren (Das Mittelalter 7), Berlin 2003. Ders., Wahrnehmen und Wissen. Christen und ‚Heiden’ an den Grenzen des Frankenreichs im 8. und 9. Jahrhundert, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut Bleumer u. Dems. (Das Mittelalter 8), Berlin 2004, S. 83-106. Ders., L’épiscopat du haut moyen âge en vue de la médiévistique allemande, in: Cahiers de Civilisation Médiévale 48, 2005, S. 341-358. Ders., Redéfinir l’office épiscopal: les évêques francs face à la crise des années 820/30, in: Les élites au Haut Moyen Âge, Crises et renouvellements, hg. v. François Bougard, Laurent Feller u. Régine Le Jan (Collection Haut Moyen Âge 1) Turnhout 2006, S. 337-359. Ders., Die Bischöfe im karolingischen Staat. Praktisches Wissen über die politische Ordnung im Frankenreich des 9. Jahrhunderts, in: Staat im frühen Mittelalter, hg. v. Stuart Airlie,
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Anhang
Walter Pohl u. Helmut Reimitz (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Denkschriften 334 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006, S. 133-162. Ders. u. Andreas Schorr, Personennamen in drei hagiographischen Quellen des Frühmittelalters. Die Viten des Austregisel von Bourges, des Ansbert von Rouen und des Einsiedlers Goar, in: Name und Gesellschaft im Frühmittelalter. Personennamen als Indikatoren für sprachliche, ethnische und kulturelle Gruppenzugehörigkeiten ihrer Träger, hg. v. Dieter Geuenich u. Ingo Runde (Deutsche Namenforschung auf sprachgeschichtlicher Grundlage 2), Hildesheim-Zürich-New York 2006, S. 73-99. Ders., Den Raum der Diözese modellieren? Zum Eigenkirchen-Konzept und zu den Grenzen der potestas episcopalis im Karolingerreich, in: Les élites et leurs espaces. Mobilité, rayonnement, domination (du VIe au XIe siècle), hg. v. Philippe Depreux, François Bougard u. Régine Le Jan (Collection Haut Moyen Âge 5), Turnhout 2007, S. 225-245. Ders., L’archidiocèse de Magdebourg. Perception de l’espace et identité (Xe-XIe siècle), in: L’espace du diocèse. Genèse d’un territoire dans l’Occident médiéval (Ve-XIIIe siècle), hg. v. Florian Mazel, Rennes 2008, S. 167-193. Ders., Eine Hierarchie im Wandel: Die Ausbildung einer Metropolitanordnung im Frankenreich des 8. und 9. Jahrhunderts, in: Hiérarchie et stratification sociale dans l’Occident médiéval (400-1100), hg. v. Dominique Iogna-Prat, François Bougard u. Régine Le Jan (Collection Haut Moyen Âge 6), Turnhout 2008, S. 161-184. Ders., Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen 25), Ostfildern 2008. Ders., Bischöfe als Träger der politischen Ordnung des Frankenreichs im 8./9. Jahrhundert, in: Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven, hg. v. Walter Pohl u. Veronika Wieser (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften 386 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009, S. 255-268. Bruno Reudenbach, „Gold ist Schlamm“. Anmerkungen zur Materialbewertung im Mittelalter, in: Material in Kunst und Alltag, hg. v. Monika Wagner u. Dietmar Rübel (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 1), Berlin 2002, S. 1-12. Ders., Reliquien von Orten. Ein frühchristliches Reliquiar als Gedächtnisort, in: Reliquiare im Mittelalter., hg. v. Dems. u. Gia Toussaint (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 5), Berlin 2005, S. 21-41. Ders., Visualizing Holy Bodies: Observations on Body Part Reliquaries, in: Romanesque Art and Thought in the twelfth Century: Essays in Honor of Walter Cahn, hg. v. Colum Hourihane (The Index of Christian Art Occasional Papers 10), Princeton 2008, S. 95-106. Ders., Kopf, Arm und Leib. Reliquien und Reliquiare der heiligen Elisabeth, in: Elisabeth von Thüringen, eine europäische Heilige. Aufsätze, hg. v. Dieter Blume u. Matthias Werner, Petersberg 2007, S. 193-202. Ders., Loca sancta. Zur materiellen Übertragung der heiligen Stätten, in: Jerusalem, du Schöne. Vorstellungen und Bilder einer heiligen Stadt, hg. v. Dems. (Vestigia Bibliae 28), Bern 2008, S. 9-32. Ders. u. Gia Toussaint, Die Wahrnehmung und Deutung von Heiligen. Anmerkungen zur Medialität von Reliquiaren, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut Bleumer und Steffen Patzold (Das Mittelalter 8, 2003), Berlin 2004, S. 34-40. Ders. u. Gia Toussaint (Hg.), Reliquiare im Mittelalter (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 5), Berlin 2005. Fabian Schwarzbauer, Geschichtszeit. Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs von Michelsberg, Honorius Augustodunensis’ und Ottos von Freising (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 5), Berlin 2005.
Verzeichnis der aus dem Projekt erwachsenen Veröffentlichungen
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Volker Scior, Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 4), Berlin 2002. Markus Späth, Das ‚Regestum‘ von Sant’Angelo in Formis. Zur Medialität der Bilder in einem klösterlichen Kopialbuch des 12. Jahrhunderts, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 31, 2004, S. 41-59. Ders., Sehen und Deuten. Zur Bedeutung von Visualität in der Vergangenheitswahrnehmung klösterlicher Chronistik des 11. und 12. Jahrhunderts, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut Bleumer u. Steffen Patzold (Das Mittelalter 8), Berlin 2004, S. 67-82. Ders., Kopieren und Erinnern. Rezeption von Urkundenschriftbildern in klösterlichen Kopialbüchern des Hochmittelalters, in: ‚Übertragungen‘: Formen und Konzepte von Reproduktionen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Albrecht Hausmann u.a. (Trends in Medieval Philology 5), Berlin-New York 2005, S. 121-128. Ders., Verflechtung von Erinnerung. Bildproduktion und Geschichtsschreibung im Kloster San Clemente a Casauria während des 12. Jahrhunderts (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 8), Berlin 2007. Gia Toussaint, Heiliges Gebein und edler Stein. Der Edelsteinschmuck von Reliquiaren im Spiegel mittelalterlicher Wahrnehmung, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut Bleumer u. Steffen Patzold (Das Mittelalter 8), Berlin 2004, S. 41-66. Dies., Die Sichtbarkeit der Reliquie im Reliquiar – eine Folge der Plünderung Konstantinopels?, in: Reliquiare im Mittelalter, hg. v. Bruno Reudenbach u. Ders. (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 5), Berlin 2005, S. 89-106. Dies., Konstantinopel in Halberstadt. Alte Reliquien in neuem Gewand, in: Produktive Kulturkräfte, hg. v. Felicitas Schmieder (Das Mittelalter 10), Berlin 2005, S. 38-62. Dies., Jerusalem – Imagination und Transfer eines Ortes, in: Jerusalem, du Schöne. Vorstellungen und Bilder einer heiligen Stadt, hg. v. Bruno Reudenbach (Vestigia Bibliae 28), Bern 2008, S. 33-60. Dies., Imagination von Architektur. Das Halberstädter Tafelreliquiar als Bild des himmlischen Jerusalem, in: Mikroarchitektur im Mittelalter. Ein gattungsübergreifendes Phänomen zwischen Realität und Imagination, hg. v. Uwe Albrecht u. Christine Kratzke, Leipzig 2008, S. 213-223. Dies., Die Halberstädter Staurothek. Tradition und Innovation, in: Kunst, Kultur und Geschichte im Harz und Harzvorland um 1200, hg. v. Ulrike Wendland, Halle 2008, S. 304313. Dies., Die Kreuzzüge und die Erfindung des Wahren Kreuzes, in: Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa. Vorträge und Workshops einer internationalen Frühlingsschule, hg. v. Michael Borgolte u. Bernd Schneidmüller, Berlin 2010, S. 151-169. Dies., Die Hände der Heiligen zwischen Magie und Anatomie, in: Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte, hg. v. Mariacarla Gadebusch Bondio, Berlin 2010, S. 4362. Dies., Großer Schatz auf kleinem Raum. Die Kreuzvierung als Reliquienbühne, in: Le trésor au Moyen Age / Schatzkulturen im Mittelalter, hg. v. Lucas Burkart u. Pierre-Alain Mariaux (Micrologus Library), Florenz (im Druck).
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Register 1. Personen Achilles, lit. Fig. 132, 138, 140 Adalbero, Bf. v. Würzburg 259 Adalbert, Ebf. v. Hamburg-Bremen 184 Adam v. Bremen, Autor 165,175f., 177f., 180, 182f., 184, 190 Adamnanus, Abt v. Iona 39 Adelperga, Tochter d. lang. Kgs. Desiderius 211 Adrevald v. Fleury 91 Aegidius, röm. Militärführer 191 Aeneas, lit. Fig. 228 Agobard, Ebf. v. Lyon 89 Albert v. Aachen, Kleriker 56f. Albrecht v. Brandenburg 23 Alexander I., Papst 11, 22, 30, 63 Alexios I. Komnenos, byz. Ks. 40 Alkuin v. York, Autor 80 Amalar, Bf. v. Trier 80, 89f., 102104 Amalrich, Prior v. Hl. Grab 49 Ambrosius, Bf. v. Mailand 20, 36f., 92 Angilramn, Bf. v. Metz 209, 212, 214-216, 218, 231f., 234, 236f., 270 Ansegisel, Sohn Arnulfs v. Metz 228f., 231 Ansellus, Kantor v. Hl. Grab 47f., 56f. Apollonius, Hl. 21 Arichis, Br. d. Paulus Diaconus 211 Arkulf, Bf. v. Périgueux 39 Arnold v. Lübeck, Autor 178, 186 Arnulf v. Chocques, Patriarch v. Jerusalem 42 Arnulf v. Mailand, Autor 170, 176, 180, 201
Arnulf, Bf. v. Metz 213, 218, 227f., 230-232, 234 Attila, Kg. d. Hunnen 170 Auctor, Bf. v. Metz 203, 213, 224226 Augustinus, Bf. v. Hippo Regius 44, 92, 94, 162, 164, 166 Balduin I., Kg. v. Jerusalem 57 Basilius, Hl. 28 Benedikt v. Nursia, Hl. 98 Bernhard v. Angers 23, 29 Bernhard, Hz. v. Sachsen 182 Bernhardin v. Siena, Franziskaner 59 Bernward, Bf. v. Hildesheim 21, 74f. Berta, Äbtissin 71 Berthar, Domkanoniker in Verdun 235 Berthold v. Sperberseck 52 Berthold, Abt v. Zwiefalten 52, 185 Berthold, Stifter d. Klosters in Denkendorf 61 Blasius, Hl. 19, 21 Bodicus, comes 191 Bonifatius, Ebf. v. Mainz 172 Bruno v. Merseburg, Autor 239f., 247-265, 270f., 273f., 277 Caesar 190, 198 Caesarius v. Prüm 184 Chilperich, frk. Kg. 190 Chindaswinth, westgot. Kg. 192 Chlodulf, Bf. v. Metz 229, 232 Chlodwig I., frk. Kg. 190, 226f. Chlothar I., frk. Kg. 190 Chramn, Sohn Chlothars I. 190
286 Chrodegang, Bf. v. Metz 212f., 226, 232f. Clemens, Bf. v. Metz 212f. 221, 223f. Cosmas v. Prag, Autor 181 Cyrill, Bf. v. Jerusalem 36 Cyrus, Perserkg. 170 Daimbert, Patriarch v. Jerusalem 57 Dares, lit. Fig. 111 David, Kg. v. Georgien 47 Deianira, lit. Fig. 140 Demetrius, Hl. 64 Desiderius, langob. Kg. 211 Dionysius, Hl. 14 Discordia, lit. Fig. 119, 121, 123f., 126, 136 Egbert, Bf. v. Trier 14 Egeria, Pilgerin 37f. Einhard, Autor 180, 185, 187 Ekkehard IV., Mönch in St. Gallen 201 Erich v. Friaul, Hz. 171 Eugen III., Papst 45 Eusebius, Bf. v. Caesarea 36, 165, 220 Eutrop, Autor 211 Eventius, Hl. 22 Fardulf, Abt v. St-Denis 14 Fides, Hl. 24 Florus, Diakon in Lyon 89f., 102f., 105f. Fredegar, Autorname 191, 192, 212, 224 Fredugard, Mönch in St-Riquier 89, 104 Friedrich I. Barbarossa, Ks. 66, 175, 187 Frutolf v. Michelsberg, Autor 165 Fulcher v. Chartres, Autor 42 Fulcher, Patriarch v. Jerusalem 49
Anhang
Gabriel, Erzengel 64 Galon, Bf. v. Paris 47 Gebhard, Abt v. Schaffhausen 52 Gelasius, Bf. v. Caesarea 37 Georg, Hl. 64 Gerald v. Aurillac 29 Gérard Ithier, Prior v. Grandmont 45 Gerbert, Dieb 24 Gereon, Hl. 182 Germanus, Bf. v. Paris, Hl. 174 Gero, Ebf. v. Köln 54 Gertrud, Gf.in 19 Giotto, Maler 13 Gottfried v. Bouillon, Hz. v. Niederlothringen 41 Gottfried v. Straßburg, Autor 119 Gottfried, dän. K.gssohn 172 Gottschalk, Mönch in Orbais 90f., 104-106 Gregor VII., Papst 197, 259 Gregor, Bf. v. Tours 25, 169, 172, 174, 182, 190-192, 201, 212, 224 Guibert v. Nogent, Autor 185, 192 Guntard, Briefpartner Amalars v. Trier 102 Gunther v. Pairis, Autor 170 Haito, Bf. v. Basel 79, 81, 93 Hatto, Ebf. v. Mainz 200 Hector, lit. Fig. 128-130, 133, 138, 140 Hecuba, lit. Fig. 115, 139 Heinrich d. Löwe, Hz. v. Sachsen u. Bayern 73, 75 Heinrich II., Ks. 193 Heinrich III., Kg. v. England 48 Heinrich III., Ks. 71 Heinrich IV., Ks. 197, 239, 249253, 256-259, 261-264, 274 Helena, lit. Fig. 115, 117-119, 129, 132, 136f., 139f., 278
Register
Helena, Mutter Konstantins 35-39, 41f., 50, 64, 67f., 274 Helmold v. Bosau, Autor 175, 177f., 189 Herakleios, byz. Ks. 36, 40f. Herbord, Mönch in Michelsberg 175, 181 Hercules, lit. Fig. 140 Heribald, Bf. v. Auxerre 91 Heriold, dän. Kg. 172 Hieronymus, Kirchenvater 165 Hildegard, Gem. Karls d. Gr. 232 Hildibert, Ebf. v. Mainz 183 Hinkmar, Ebf. v. Reims 91, 188, 189 Honorius Augustodunensis, Mönch 53, 55f. Hrabanus Maurus, Ebf. v. Mainz 28, 91 Hugo v. St. Viktor, Autor 26 Isidor, Bf. v. Sevilla 166, 183 Jacobus de Voragine 37, 44 Jason, lit. Fig. 139 Johannes Chrysostomos 36, Johannes II. Komnenos, byz. Ks. 46 Johannes Kinnamos, Autor 46 Johannes Scotus Eriugena 91 Johannes v. Würzburg, Kleriker 49f. Jordanes, Autor 224 Juno, lit. Fig. 121, 128 Jupiter, lit. Fig. 116, 124f., 128 Karl d. Große, Ks. 171, 175f., 185, 187f., 190f., 200 Karl d. Kahle, Ks. 87f., 99f., 105f., 185, 211, 214f., 217f., 223, 226, 228, 230-234, 236f. Karl III., Ks. 172 Karl d. Einfältige, Kg. 193
287 Karl Martell, Hausmeier 232 Konrad II., Hz. v. DachauMeranien 60 Konrad II., Ks. 174, 177, 189, 193 Konrad III., Hz. v. DachauMeranien 60 Konrad v. Würzburg, Autor 109, 111f., 114, 117, 119, 122, 124f., 128, 131-135, 139f., 143, 154, 271, 277f. Konrad, Abt v. Petershausen 182 Konrad d. Jüngere, Hz. v. Kärnten 174 Konrad, Regularkanoniker 49 Konstantin, Ks. 35f., 38f., 41, 64, 67f., 190 Laktanz, Autor 24 Liudger, Bf. v. Münster 168 Liutward, Bf. v. Vercelli 172 Lothar I., Ks. 89, 97 Ludwig d. Bayer, Ks. 49 Ludwig d. Deutsche, Kg. 182 Ludwig d. Fromme, Ks. 86, 89, 97, 172, 181, 185 Ludwig VII., Kg. v. Frankreich 46 Macliavus, Bf. v. Vannes 191 Mamas, Hl. 21 Manuel I. Komnenos, byz. Ks. 46 Martialis, Hl. 23 Martin, Ebf. v. Tours 201 Mathilde, Mgf.in v. Canossa 21 Mathilde, Äbtissin 75 Matthew Paris, Autor 48 Maurus, Schüler d. hl. Benedikt 98 Maxentius, Ks. 67 Maximianus, Ebf. v. Ravenna 69 Minucius Felix, altkirchl. Apologet 37, 44 Mistui, Abodritenfürst 175 Nero, Ks. 170, 190 Nessus, lit. Fig. 140
288 Ninus, legend. Assyrerkg. 187 Nithard, Autor 185, 200 Norbert v. Xanten 171 Notger Balbulus, Autor 171 Odo, westfrk. Kg. 193 Omar I., Kalif 41 Orosius, Autor 189 Ortlieb v. Zwiefalten, Autor 52, 62 Otto I., Ks. 49, 183, 188f., 191 Otto II., Ks. 176 Otto III., Ks. 188, 193 Otto v. Northeim 251f., 258 Otto, Bf. v. Freising 165, 168, 171, 175, 183f., 186f., 191f., 195, 197, 200f. Ovid, Autor 109 Pallas, lit. Fig. 121f., 128 Paris, lit. Fig. 114-119, 121-126, 128, 132, 136f. Paschasius Radbertus, Abt v. Corbie 86-106 Paulinus v. Nola, Mönch u. Bf. 50 Paulus Diaconus 203, 209-212, 214-228, 230-237, 270f., 277 Peleus, lit. Fig. 116, 128, 130, 133 Petrus Venerabilis, Abt v. Cluny 17, 24, 62 Pharamund, angebl. Merowingerkg. 191 Philipp I., Kg. v. Frankreich 257 Pippin I., Kg. 232f. Pippin, Kg., Sohn Ludwigs d. Fr. 97 Polyxena, lit. Fig. 140 Pontius Pilatus 47, 193 Priamus, lit. Fig. 116, 128, 134 Proculus, Priester 172 Prokopius, Hl. 64 Quintianus, Bf. v. Rodez u. Clermont 172
Anhang
Radbertus ! Paschasius Radbertus Rahewin, Autor 187 Ratchis, langob. Kg. 210 Ratramnus v. Corbie 87f., 99-106 Regino, Abt v. Prüm 200 Roger v. Helmarshausen, Goldschmied 72f. Rothad, Bf. v. Soissons 188f. Rufinus, Bf. v. Aquileia 37 Salagast, legend. Schöpfer d. Lex Salica 191 Servatius, Bf. v. Tongeren 224 Siegfried, Ebf. v. Mainz 259, 261 Sigebert v. Gembloux, Autor 165 Silvester I., Papst 23 Sozomenos, Autor 38 Stephan v. Muret, Ordensgründer 45 Suger, Abt v. Saint-Denis 45 Sulpicius Severus, Autor 50 Sven Estridsen, dän. Kg. 257 Syagrius, röm. Militärführer 191 Thegan, Chorbf. v. Trier 181 Theoderich, ostgot. Kg. 193 Theodor, Hl. 64 Theodosius I., Ks. 36, 98, 192 Theodulf, Bf. v. Orléans 80 Theodulus, Hl. 22 Theophanu, Gattin Ottos II. 75 Thetis, lit. Fig. 116 Theudegisel, westgot. Kg. 191 Theudemar, Abt v. Montecassino 216 Theudis, westgot. Kg. 191 Thiadrich, frk. König 185 Thietmar, Bf. v. Merseburg 54, 175, 188, 200 Thiofrid v. Echternach 17-19, 23, 25, 30 Tiberius, Ks. 193 Titus, Ks. 189
Register
Trebetas, leg. Gründer Triers 187, 191 Tulga, westgot. Kg. 192 Unwan, Ebf. v. Hamburg-Bremen 182 Urban II., Papst 40 Venus, lit. Fig. 117f., 121-125, 128f., 136 Vespasian, Ks. 173, 189 Victricius, Bf. v. Rouen 21 Vratislav, böhm. Hz. 257 Vulcanus, lit. Fig. 130 Wala, Abt v. Corbie 86, 97f. Walahfrid Strabo 80 Walpert, Hl. 15 Waltcaud, Bf. v. Lüttich 80 Walter Suffield, Bf. v. Norwich 48
289 Wandalbert v. Prüm, Autor 181 Warin, Abt v. Corvey 87, 97f. Warmund, Patriarch v. Jerusalem 61 Werner, Bf. v. Merseburg 190, 239, 255 Werner, Ebf. v. Magdeburg 239, 255, 259, 261f. Wibald, Abt v. Stavelot 11, 66 Widukind v. Corvey, Autor 173, 178, 180f., 183-185, 188, 190f., 193 Wilhelm II., Kg. v. England 257 Wilhelm v. Malmesbury, Autor 177 Wilhelm v. Poitou 257 Willibald, Biograph d. Bonifatius 172 Wipo, Autor 172, 174, 177, 180, 189
2. Orte Aachen 69, 183, 191 Alexandria 223 Antiochia 40, 42, 223 Aquileia 225 Askalon 42 Aubazine 61 Aurillac 29 Auxerre 91
Byzanz 36, 40f. 43, 57, 65, 71, 89, 223
Babylon 170 Basel 15 Behringen 258 Benevent 211 Berlin 71f. Berry 61 Bosporus 33 Bourges 61 Braunschweig 15, 19 Brüssel 76
Denkendorf 58f., 61 Diedenhofen 217f.
Classe 69 Clermont 40 Cluny 62f. Corbie 86f., 89-92, 94, 97, 101, 104 Corvey 91, 98
Edessa 40 Enger 72f. Erligheim 61 Essen 28, 69, 75 Flamersheim 181 Friaul 210f.
Anhang
290 Fritzlar 71, 73f. Fulda 91 Golgatha 40, 54 Grandmont 45 Halberstadt 70 Hamburg 175, 182 Harzburg 249, 261 Helmarshausen 72 Hildesheim 74 Hoetensleben 251 Ingelheim 187 Jerusalem 34, 36, 38-43, 47, 49-58, 60f., 64, 66, 69f., 77, 274, 276 Köln 23, 28f. Konstantinopel 33f., 38-41, 43, 46, 50, 64, 66, 70 Kythera 136 Langres 21 Limoges 23, 61 Lübeck 175 Lyon 89, 91, 102 Magdeburg 189-191, 239 Mailand 181 Mainz 23, 91 Mellrichstadt 262 Merseburg 190, 197, 239, 270 Metz 203, 209, 211, 214-216, 218234, 236f., 270f., 277 Monastir 66 Monopoli 65 Montecassino 211 Monza 69 München 60, 68 New York 61, 63 Nimwegen 187
Noirmoutier 86 Norwich 48 Novalesa 182, 187, 191 Nürnberg 75 Oldenburg 175 Orbais 91, 105 Palästina 36, 40, 49, 54, 69 Paris 47, 182 Pavia 193, 211 Petershausen 182 Poitiers 218, 232 Quierzy 90f. Ravenna 69 Reims 91 Rom 36, 41, 51, 175, 210, 215, 221, 223, 230, 233, 259 Saint-Denis 14 Saint-Riquier 89, 91 Sankt Gallen 201 Scheyern 60 Schwerin 178 Soissons 191 Stavelot 11, 12, 22, 63, 65f., 68 Steinfurt-Borghorst 71 Theben 190 Thionville ! Diedenhofen Tongeren 67 Tours 201, 232 Trier 14, 89, 187, 214f., 222, 233 Troja 109, 111, 115-117, 128, 132, 134-136, 138-140, 170, 173, 192, 228-230, 271 Weißenburg 80 Westminster 48 Zwiefalten 27, 51-53, 61f.
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Abbildungsnachweise: Zum Beitrag Reudenbach: Abb. 1: Catalogues des collections. Musées Royaux d'Art et d'Histoire, Bruxelles, hg. von Francis Van Noten, Bd. 1: La Salle aux Trésors, Turnhout 1999, Nr. 1. Abb. 2: Egbert, Erzbischof von Trier 977 - 993. Gedenkschrift der Diözese Trier zum 1000. Todestag. Bd. 1: Katalog- und Tafelband, hg. v. Franz J. Ronig, Trier 1993. Abb. 3: Der Basler Münsterschatz (Katalog der Ausstellungen New York-BaselMünchen), hg. v. Historischen Museum Basel, Basel 2001, S. 77. Abb. 4, 5: Heinrich der Löwe und seine Zeit: Herrschaft und Repräsentation der Welfen (1125-1235) (Katalog der Ausstellung im Herzog Anton UlrichMuseum, Braunschweig 1995), hg. v. Jochen Luckhardt u. Franz Niehoff, München-Braunschweig 1995, Bd. 1, S. 246, 100. Zum Beitrag Toussaint: Abb. 1: Monumenta Boica 10 (1768). Abb. 2: Angelo Lipinsky, La stauroteca minore con perle nel tesoro di San Pietro in Vaticano, in: Bollettino della Badia Greca di Grottaferrata N.S. 12, 1958, S. 19-39. Abb. 3: Heinrich der Löwe und seine Zeit: Herrschaft und Repräsentation der Welfen (1125-1235) (Katalog der Ausstellung im Herzog Anton UlrichMuseum, Braunschweig 1995), hg. v. Jochen Luckhardt u. Franz Niehoff, München-Braunschweig 1995, Bd. 1. Abb. 4: Die Kreuzzüge. Kein Krieg ist heilig, hg. v. Hans-Jürgen Kotzur, Mainz 2004. Abb. 5: Barbara Drake-Boehm, Une croix-reliquaire limousine au musée du Berry, in: La Revue des Musées de France. Revue du Louvre 56, 2006, S. 28-37. Abb. 6, 7: William Voelkle, The Stavelot Triptych, New York 1980. Abb. 8: The Glory of Byzantium: art and culture of the Middle Byzantine era, A.D. 843-1261, hg. v. Helen C. Evans und Dems., New York 1997. Abb. 9: Henk van Os, Der Weg zum Himmel, Amsterdam 2000. Abb. 10: Canossa 1077. Erschütterung der Welt, hg. v. Christoph Stiegemann u. Matthias Wemhoff, München 2006, Bd. 2. Abb. 11: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik, hg. v. Anton Legner, Bd. 3, Köln 1985. Abb. 12: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, hg. v. Michael Brandt, Hildesheim 1993, Bd. 2.
HARTMUT BLEUMER
Zwischen Wort und Bild Narrativität und Visualität im ‚Trojanischen Krieg‘ Konrads von Würzburg (Mit einer kritischen Revision der Sichtbarkeitsdebatte)
1. Narration und Imagination
Bilden Sie mal einen Satz mit … visuell Vi su ell die Sonne strahlt – als würde sie dafür bezahlt (Robert Gernhardt, Reim und Zeit)
Das historische Großereignis des Trojanischen Krieges ist dem Mittelalter wohlbekannt. Über die ‚Ilias Latina‘, die ‚Achilleis‘ des Statius und vor allem durch die Werke Ovids sind die Begebenheiten und Figuren dieses Ereigniskomplexes kanonische Gegenstände der lateinischen Bildung.1 Dem scheint es zu entsprechen, daß kein Thema so oft in volkssprachlich-literarischen Beschreibungen oder Erwähnungen von Bildkunstwerken vorkommt wie der Trojanische Krieg.2 Dennoch ist es offenbar schwierig, dieses Großereignis narrativ zu aktualisieren. Eine Erklärung dafür könnte lauten: Der Krieg um Troja besitzt eine kulturhistorische Mächtigkeit, die das narrative Vermögen der Erzähler übersteigt. Genauer: Der Grad seiner Ereignishaftigkeit übersteigt die Möglichkeiten der narrativen Vermittlung.3 Dahinter steht, auch wenn es mit Blick auf 1
2
3
Vgl. Günter GLAUCHE, Schullektüre im Mittelalter. Entstehung und Wandlungen des Lektürekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 5), München 1979, S. 70f., 76, 98f., 101f., 110, 124. Zur weiteren Entwicklung des Schultextbestandes Nikolaus HENKEL, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 90), München-Zürich 1988, S. 13-64, hier besonders in den Übersichten S. 57-64. Vgl. Haiko WANDHOFF, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 3), Berlin-New York 2003, S. 183-188, zu den Problemen des Ansatzes siehe unten in Abschnitt V. Diese Mächtigkeit der Erzähltradition wird zuletzt zum Ausgangspunkt der Prologinterpretation bei Beate KELLNER, daz alte buoch von Troye … daz ich ez welle erniuwen. Poetologie im Spannungsfeld von ‚wiederholen‘ und ‚erneuern‘ in den Trojaromanen Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträ-
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Hartmut Bleumer
die Umfänge der volkssprachigen Texte auf den ersten Blick so aussieht,4 kein quantitatives Problem, sondern eine strukturelle Schwierigkeit, die sich zwischen Erzähler und Ereignis ergibt: Ein Erzähler, der den Trojanischen Krieg angemessen erzählen wollte, er käme um seinen Begriff, weil angesichts der Komplexität dieses Krieges die Begriffe von Geschichte und Erzählung geradezu zu kollabieren drohen. Die narrativ nicht mehr zu bewältigende Mächtigkeit dieses Ereigniskomplexes würde sich darin zeigen, daß sein Geschehen über die aus ihm extrapolierbaren Geschichten – phänomenologisch gesprochen – ‚opalisiert‘ wird.5 In ihrer Gegenläufigkeit heben die verschiedenen narrativen Handlungen das Geschehen nicht einfach aus dem prä-narrativen Zustand des Geschehens auf das Niveau der Geschichte, sondern diese Geschichte schlägt wieder in den Zustand eines nunmehr post-narrativen Geschehens um, welches allerdings infolge der Narrativierungen in hohem Maße axiologisch aufgeladen ist. Die verschiedenen narrativen Interpretationsangebote, die ein Erzähler angesichts dieses Krieges zu machen hat, erzeugen damit angesichts des an sich noch sinnlosen Geschehens keine sinnvolle Geschichte mehr, sondern sie bewirken einen aporetischen Sinnüberschuß. Denn in letzter Konsequenz führen sie zu einer Sinntotalität, die nicht mehr verstanden werden kann, sondern in deren verschiedenen Sinnlinien das Verstandene zu einer dilemmatischen Summe gerät, deren Fülle den Rezipienten ratlos zurückläßt.
4 5
ge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hg. v. Gerd DICKE, Manfred EIKELMANN u. Burghart HASEBRINK (Trends in Medieval Philology 10), Berlin-New York 2006, S. 231-262, hier S. 248-250. Sie ist für das folgende narrativistisch zu fassen. Dazu wird mit Wolf SCHMID, Narrativity and Eventfulness, in: What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory, hg. v. Tom KIND u. HansHarald MÜLLER (Narratologia 1), Berlin-New York 2003, S. 17-33 (vgl. auch den Passus in DERS., Elemente der Narratologie, Berlin-New York 2005, S. 11-27), von der Ereignishaftigkeit als einer gradationsfähigen Kategorie ausgegangen. Die vier dafür maßgeblichen Kriterien, die Schmid Relevanz, Imprädikabilität, Konsekutivität und Irreversibilität nennt, werden im Text geradezu übererfüllt. Festzuhalten ist, daß die generelle Festlegung in Schmids jüngerer Fassung seiner Überlegungen, „Narrativ ist ein Text schon dann, wenn er nur temporale Verbindungen enthält“ (S. 16), den Rekurs des folgenden Beitrages auf die Bestimmung von Schmid nicht diskreditiert. Es scheint sich nämlich um eine gegen die forcierte Betonung der kausalen Motivierung zur Bestimmung von Narrativität gerichtete Überpointierung zu handeln, die auch die in Schmids eigener Minimaldefinition festgehaltene grundlegende Bedeutung des Spannungsverhältnisses zwischen Anfangs- und Endzustand einer narrativen Zustandsveränderung oder Geschichte (S. 13f.) unterläuft. Vgl. dazu die Übersichten bei Elisabeth LIENERT, Deutsche Antikenromane des Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 39), Berlin 2001, S. 103-162. Weil dieser Begriff von Roman INGARDEN, Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang: Von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel, Tübingen 21960, S. 149152, S. 269f., einen Effekt schillernder Mehransichtigkeit der im ästhetischen Prozeß realisierten intentionalen Gegenstände bezeichnet, der auf der sprachlichen Mehrdeutigkeit des Textes beruht, dürfte er für die folgenden Überlegungen zum Visualitätsproblem besonders geeignet sein.
Narrativität und Visualität im ‚Trojanischen Krieg‘ Konrads von Würzburg
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Konrad von Würzburg, so kann man thesenhaft formulieren, hat sich das Erzählproblem des großen Krieges in der skizzierten Weise zurechtgelegt und es in seinem ‚Trojanischen Krieg‘ zugleich zu einer Aufgabe der literarischen Wahrnehmung umformuliert: Den Schwierigkeiten der narrativen Bewältigung dieses Großereignisses begegnet der Text dadurch,6 daß er den Rezipienten, in Fortführung der voraufgehenden Verbildlichungen des Themas in der mittelhochdeutschen Literatur, zu einem ‚Augenzeugen‘ macht. Freilich kann diese Augenzeugenschaft nach dem Gesagten nicht als einfacher Wahrnehmungsprozeß an das Geschehen gekoppelt sein. Der metaphorische Status der Rede vom Rezipienten als Augenzeugen ist vielmehr entschieden festzuhalten. Die Augenzeugenschaft von Konrads Gewährsmann Dares, der als Quelle im Prolog genannt wird (296) und der dann, zum Beweis seiner Augenzeugenfunktion, auch als Figur in der Handlung vor Troja auftaucht (12394ff.), ist darum auch nur ein undeutliches Indiz für die Visualisierungstendenzen des Textes.7 Denn – wie in 6
7
Das Interpretationsproblem der Erzählform zeichnet sich im Spannungsverhältnis zwischen den beiden Positionen von Christoph CORMEAU (Quellenkompendium oder Erzählkonzept? Eine Skizze zu Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘, in: Befund und Deutung. Zum Verhältnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literaturwissenschaft. Hans Fromm zum 26.5.1979, hg. v. Klaus GRUBMÜLLER u.a., Tübingen 1979, S. 303-319) und Franz Josef WORSTBROCK (Der Tod des Hercules. Eine Problemskizze zur Poetik des Zerfalls in Konrads von Würzburg „Trojanerkrieg“, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration im Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Harald HAFERLAND u. Michael MECKLENBURG [Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19], München 1996, S. 273-284. Wieder in: DERS, Ausgewählte Schriften, hg. v. Susanne KÖBELE u. Andreas KRASS, Stuttgart 2004, S. 246-258) ab. Während Cormeau vorschlägt, den Text über eine Reihe von romanartigen Erzählmustern vor einem höfischen Normhorizont zu lesen, wird für Worstbrock dieser Normhorizont gerade aufgelöst, weshalb für ihn die Lektüre über romanartige Sinnbildungsmuster zum Thema Minne und Aventiure nicht trägt. Freilich führt Worstbrocks Volte gegen Cormeau, die sich zugleich und zu Recht gegen die trivialisierende Schematisierung der Liebesgeschichten als ‚bestrafte Minneverfehlung‘ durch Hartmut KOKOTT richtet (Konrad von Würzburg. Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie, Stuttgart 1989, bes. S. 279f.), den eigenen Ansatz wiederum in ein charakteristisches Dilemma: Die reflexive Auflösung der Sinnangebote, die Worstbrock als Weg in den Sinnverlust interpretiert, wäre mit Cormeau gerade als besondere Sinnfülle zu begreifen. Einen entscheidenden Anstoß, die Ästhetisierung als Antwort auf das narrative Problem der Präsentation einer fatalen Handlung zu begreifen, liefert Burkhard HASEBRINK, Rache als Geste. Medea im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hochund Spätmittelalters. FS für Volker Mertens zum 65. Geburtstag, hg. v. Matthias MEYER u. Hans-Jochen SCHIEWER, Tübingen 2002, S. 209-230. Zur Reduktion des von der Dares-Nennung abhängenden Augenzeugentopos im Vergleich zu Benoît und zu der damit einhergehenden Aufwertung der künstlerischen Kompetenz des Erzählers Stefanie SCHMITT, Inszenierungen von Glaubwürdigkeit. Studien zur Beglaubigung im späthöfischen und frühneuzeitlichen Roman (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 129), Tübingen 2005, S. 126133; zum franz. Text weniger ausführlich DIES., Autorisierung des Erzählens in Romanen mit historischen Stoffen? Überlegungen zu Rudolfs von Ems Alexander und Konrads von
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Hartmut Bleumer
allen Texten Konrads –8 zielt das Erzählen auch im ‚Trojanerkrieg‘-Torso derart offensiv auf die sprachliche Anregung der visuellen Imagination des Rezipienten, daß die ‚Augenzeugenschaft‘ mit Blick auf das Erzählte mindestens ebenso prekär wird wie das Erzählen vom Trojanerkrieg selbst. Als Hypothese sei dazu formuliert: Genau darauf scheint es anzukommen. In Konrads ‚Trojanischem Krieg‘ kreuzen sich zwei Schwierigkeiten, offenbar mit dem Ziel einer wechselseitigen Ergänzung. Einerseits stellt sich Konrads Text dem Problem der narrativ-prozessualen Sinnkonstitution anhand eines überkomplexen Geschehens, andererseits geht dies mit dem ästhetischen Versuch einher, die visuelle Imagination in besonderer Weise über das narrative Arrangement sprachlicher Zeichen anzuregen. Wenn aber die Schwierigkeiten im Bereich der visuellen Imagination und der Narration jeweils die gleichen sind, führt dies zu einer Kreisfigur: Sollte auch die Visualität in eine Aporie münden, ist der Rezipient auf die narrative Textualität zurückverwiesen. Damit ließe sich für den Status des sogenannten ‚Augenzeugen‘ zunächst wiederum metaphorisch festhalten: Man sieht bei einer Lektüre des ‚Trojanischen Krieges‘ nicht einfach das Erzählte, man sieht auch und zuerst das Erzählen. Wenn das richtig ist, dann kommt es in Konrads ‚Trojanischem Krieg‘ zu einem Chiasmus zwischen Narration und Imagination, in dem sich die Schwierigkeiten der narrativ-prozessualen Sinnvermittlung in der Visualisierungsleistung sprachlicher Zeichen gleichsam umkehren und aufheben: Die Erzählung gewährt ein Maß an Freiheit, das aus den Leerstellen im narrativen Verlauf in den
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Würzburg Trojanerkrieg, in: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter, hg. v. Beate KELLNER, Peter STROHSCHNEIDER u. Franziska WENZEL (Philologische Studien und Quellen 190), Berlin 2005, S. 187-201, hier S. 195199. Zur sprachlichen Überpointierung der Sichtbarkeit als generellem poetischen Prinzip Konrads immer noch grundlegend der Entwurf von Wolfgang MONECKE, Studien zur epischen Technik Konrads von Würzburg. Das Erzählprinzip der „wildekeit“ (Germanistische Abhandlungen 24), Stuttgart 1968, S. 11: „die wilde Erzählung weckt Aufmerksamkeit und Wissbegier, erregend verführt sie den Hörer zu konkretem Mitgehen. […] Dann entfaltet die âventiure wilde ihren vollen idealen Glanz, das Bild seiner Pracht wird zum hinreißenden Vorbild.“ Zuvor hatte Dennis Howard GREEN, Konrads ‚Trojanerkrieg‘ und Gottfrieds ‚Tristan‘. Vorstudien zum Gotischen Stil in der Dichtung, Diss. Basel 1949, S. 10, 14, 63f., 73, den imaginären Charakter der Darstellung bereits mit den darin wirksamen Farb- und Lichtvergleichen zutreffend beschrieben, die damit verbundene Auflösungstendenz des Sichtbaren aber kritisiert. Über das Visuelle hinausgehend hat Christoph CORMEAU allgemein von einer „synästhetischen Komposition von Sinneswahrnehmungen“ im Erzählen gesprochen (Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Rezeption, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 95107, hier S. 95), die dezidiert als Schriftphänomene zu begreifen sind. Darum ist Jan-Dirk MÜLLER, schîn und Verwandtes. Zum Problem der ‚Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik), in: Im Wortfeld des Textes (wie Anm. 3), S. 287-307, zuzustimmen, der angesichts der paradoxen Grundverfassung der sprachlichen Visualisierungen Kritik an einer vereinfachenden Rede von Konrads ‚Ästhetik‘ geübt hat.
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Bereich der phänomenalen Unbestimmtheit zurückführt.9 Diese Rekurrenz hat eine changierende Überfülle im Bereich der visuellen Imagination zur Folge, die gerade da einen besonders intensiven visuellen Eindruck erzeugt, wo die narrative Ordnung in Probleme gerät. Aus der narrativen Überkomplexität entstünde demnach die Möglichkeit einer besonderen visuellen Intensität.10 Der MechaDer literarische Text läßt sich damit als praktische Gegenbewegung zur modernen literaturtheoretischen Entwicklung von der Phänomenologie zur stärker semiotisch ausgerichteten Rezeptionsästhetik lesen: Umzukehren wäre damit die forschungsgeschichtliche Abfolge der Begriffe der Leerstelle bei Wolfgang ISER, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (Uni-Taschenbücher 636), München 41994, aus dem der ‚Unbestimmtheitsstelle‘ bei INGARDEN (wie Anm. 5), S. 261-270, dem wiederum die – terminologisch schwankenden – Überlegungen zur phänomenalen Unbestimmtheitsstelle bei Husserl vorausgehen. Besonders: Edmund HUSSERL, Ding und Raum. Vorlesungen 1907, hg. v. Ulrich CLAESGES (Husserliana XVI), Den Haag 1973, bes. S. 49-54, S. 58f., dazu mit Blick auf die folgenden Überlegungen ergänzend DERS., Phantasie und Bildbewußtsein, in: DERS., Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlaß (1898-1925), hg. v. Eduard MARBACH (Husserliana XXIII), The Hague-Boston-London 1980, S. 1-107, hier die Begriffe von Bild, Bildobjekt und Bildsujet, symbolischer und ästhetischer Funktion (S. 1720, S. 32-36). Vgl. das entsprechende Plädoyer für eine Verbindung von Semiotik und Phänomenologie durch Eckhart LOBSIEN, Bildlichkeit, Imagination, Wissen: Zur Phänomenologie der Vorstellungsbildung in literarischen Texten, in: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, hg. v. Volker BOHN (Poetik 3; edition suhrkamp 1475), Frankfurt a.M. 1990, S. 89-114, der für das Zusammenspiel einer Semiotik des ästhetischen Gegenstandes mit einer Phänomenologie ästhetischer Erfahrung votiert hat und bilanziert: „Bildlichkeit also ist die durch die Vorstellung bewirkte Amalgamierung von vorgegebenen Zeichen in Repräsentationsfunktion mit einem vorgängigen Wahrnehmungswissen zu einem Bewußtseinsobjekt.“ (S. 101f.). 10 Dazu die paradoxen Umschreibungen bei MONECKE (wie Anm. 8), der resümierend von einem „eigentümlichen Vergegenwärtigungsprinzip“ gesprochen hat, „das nicht gestaltend hinstellt, sondern zum Scheinen bringt. Das Bild wird schwebend zwischen Unsagbarkeits- und Überbietungstopos heraufgerufen. Es beruhigt sich nicht, es kommt nicht zu fester Kontur. Die Kraft, die es aus seiner Schwäche nimmt, gereicht ihm nicht zu gesammelten Dasein, sondern äußert sich in Aktivität: es leuchtet, strahlt, gibt schîn, wodurch es appelliert und erzieht“ (S. 178). Das Bewegungsmoment in den Beschreibungen konstatiert kurz zuvor, noch tastend, Hans Joachim GERENTZ, Konrad von Würzburg. Charakter und Bedeutung seiner Dichtung, in: Weimarer Beiträge 7, 1961, S. 27-45, hier S. 30. Über die dem Erzähltext selbst eingeschriebene, sich steigernde Bewegung der Bildererzeugung, die nach dem mittelalterlichen Modell des Wahrnehmungsapparates strukturiert wird, definiert sich der Begriff der Intensität nach Hans Jürgen SCHEUER, Bildintensität. Eine imaginationstheoretische Lektüre des Strickerschen Artusromans „Daniel von dem Blühenden Tal“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 124‚ 2005‚ S. 23-46, bes. S. 25f. Die folgenden Überlegungen fragen umgekehrt nach der Modellierung der Wahrnehmung durch die Strukturen von Geschichte und Narration. Vgl. unabhängig von Scheuer und allgemeiner den Begriff der Intensität als übersteigerte Korrelation von diskursiven Verfahren und phänomenaler Wahrnehmung bei Michael WALTENBERGER, Diß ist ein red als hundert. Diskursive Konventionalität und imaginative Intensität in der Minnerede Der rote Mund, in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten, 9
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nismus kollabiert jedoch am Ende in einem Opalisierungseffekt: Die höchste visuelle Intensität wäre in der vollständigen Loslösung von der sprachlichen Differenzierung zugleich nur noch ein ‚weißes Rauschen‘.11 In diesem Effekt liegen dann aber Problem und Möglichkeit der ästhetischen Narration zugleich vor. Denn die totale literarische Visualität, so ließe sich thesenartig formulieren, läßt sich als eine ästhetische Antwort auf die theoretisch unmögliche Aufgabe ansehen, den größten Krieg aller Zeiten zu erzählen. Hält man dieses Modell für stichhaltig, so bietet der Versuch Konrads, seine Erzählung vom Trojanerkrieg sprachlich zu visualisieren, durch seine radikalen konzeptionellen Pointierungen eines hergebrachten literarischen Themas eine ausgezeichnete Möglichkeit, das Wahrnehmungsproblem in der mittelhochdeutschen Erzählliteratur selbst wahrzunehmen. Anhand der ‚ästhetischen Narration‘ Konrads lassen sich demnach insbesondere jene bisherigen Forschungsansätze zum Wahrnehmungsproblem auf ihre Validität hin prüfen, in denen das Stichwort der ‚Augenzeugenschaft‘ geradezu zu einem Programmwort avancieren konnte. Darum gehen die folgenden Überlegungen in zwei Schritten vor: Sie vertrauen sich zunächst induktiv dem Erzählwerk Konrads an, um dann, in einem zweiten Schritt, einige methodische und konzeptionelle Einsprüche zur Wahrnehmungsdiskussion in der germanistischen Mediävistik zu wagen.
2. Die Ästhetik des Anfangs Das doppelt-gegenläufige Konzept von Konrads ästhetischer Narration wird gleich zu Beginn des Textes in der berühmten Szene vom Urteil des Paris inszeniert, die Konrad im Unterschied zu seiner Vorlage an den Anfang des Textes gestellt und signifikant ausgeweitet hat.12 Deren implizite poetologische Pro-
hg. v. Horst WENZEL u. C. Stephen JAEGER (Philologische Studien und Quellen 195), Berlin 2006, S. 248-274, bes. S. 253, 255f., 268f. 11 Zur Begriffsverwendung siehe unten, Anm. 24. 12 Dazu bei Benoît nur die Erwähnung durch Paris selbst bei der Vorbereitung zur Fahrt der Trojaner nach Griechenland (Vgl. Le Roman de Troie par Benoît de Sainte-Maure, publié d’après tous les manuscrits connus par Léopold CONSTANS, 6 Bde., Paris 19041912, V. 3873-3921 [im folgenden RTr]). Vgl. den Hinweis bei Karl BASLER, Konrads von Würzburg ‚Trojanischer Krieg‘ und Benoîts de Ste Maure ‚Roman de Troje‘, Phil. Diss. Berlin 1910, S. 12; KOKOTT (wie Anm. 6), S. 261. Zur Vorlagenfrage die allgemeine Übersicht bei Gerhard P. KNAPP, Hector und Achill. Die Rezeption des Trojastoffes im deutschen Mittelalter. Personenbild und struktureller Wandel (Utah Studies in Literature and Linguistics 1), Bern-Frankfurt a.M. 1974, S. 14-20, sowie grundlegend und detailliert im Nachvollzug des Textverlaufes Elisabeth LIENERT, Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘ (Wissensliteratur im Mittelalter 22), Wiesbaden 1996, S. 30-182 passim; vgl. ebd. auch den Forschungsbericht S. 3-10. Die ältere Forschung zu Konrad allgemein überblickt Rüdiger BRANDT, Konrad von Würzburg (Erträge der Forschung 249), Darmstadt 1987, zum ‚Trojanerkrieg‘ S. 173-187.
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grammatik ist oftmals diskutiert worden,13 die folgende Beschreibung kann sich daher darauf konzentrieren, die Korrelation von sinnlicher Wahrnehmung und narrativer Strukturierung zu verfolgen. Das Ende der Geschichte des Trojanischen Krieges ist seinem Beginn schon mehrfach eingeschrieben: Der Erzähler nimmt am Ende des Prologes den Ausgang der zu erzählenden Handlung in der sogenannten ‚Troja-Formel‘ schon vorweg, nach der die besondere Schönheit einer Frau in den Untergang führt:14 ê diz getihte neme ein zil, / des ich nû hie beginnen wil (323f.), erklärt der Erzähler, daß minne (321) und clârheit (318) Helenas zu einem großen Sterben führten.15 Am Anfang der eigentlichen Handlung deutet dann wiederum Hecubas Traum auf das Ende Trojas voraus. Weil Hecuba mit Paris schwanger ist, gerät das Traum13 Vgl. GERENTZ (wie Anm. 10), S. 37; MONECKE (wie Anm. 8), S. 141-143, S. 173-181, der
den Einfluß Ovids geltend gemacht hat. Zum bildungsgeschichtlichen Bekanntheitsgrad des Paris-Urteils Wiebke FREYTAG, Zur Logik wilder âventiure in Konrads von Würzburg Paris-Urteil, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 373395, hier S. 373-377. Ferner LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 271-281, als Teil einer Bestandsaufnahme zur Beschreibung von Glanzeffekten; pointierter MÜLLER (wie Anm. 8), S. 300f. Die prägnanteste Analyse der Beschreibung des Apfels der Discordia liefert der durch den Titel seines Beitrages exakt qualifizierte Ansatz von Hans Jürgen SCHEUER, Wahrnehmen – Blasonieren – Dichten. Das Heraldisch-Imaginäre als poetische Denkform in der Literatur des Mittelalters, in: Wappen als Zeichen. Mittelalterliche Heraldik aus kommunikations- und zeichentheoretischer Perspektive, hg. v. Wolfgang ACHNITZ (Das Mittelalter 11), München 2006, S. 53-70, hier S. 60-62, dort das Fazit: „In der heraldisch miniaturisierten Ekphrasis des Apfels verdichten sich so Antagonismus und Dilemmatik, die Grundstrukturen der Discordia, deren maßlose Vergrößerung der Trojanische Krieg selbst ist.“ (S. 62). Vgl. zur weiteren, älteren Literatur die Hinweise in der allgemeinen Besprechung der Stelle bei Martin PFENNIG, erniuwen. Zur Erzähltechnik im Trojaroman Konrads von Würzburg (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1537), Frankfurt a.M. u.a. 1995, S. 167-169. 14 Das Stichwort zuerst mit Bezug auf Konrad am Beispiel des ‚Nibelungenliedes‘ bei Joachim HEINZLE, Gnade für Hagen? Die epische Struktur des Nibelungenliedes und das Dilemma der Interpreten, in: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985, hg. v. Fritz Peter KNAPP (Germanische Bibliothek), Heidelberg 1987, S. 257-276, hier S. 269f.; in die Forschung zum ‚Trojanerkrieg‘ übernommen von Elisabeth Lienert. Zur Aufwertung der Helena-Figur nachdrücklich zuerst Elisabeth LIENERT, Helena – thematisches Zentrum von Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 409-420; DIES., Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg, in: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen, hg. v. Horst BRUNNER (Reclam Universal-Bibliothek 8914), Stuttgart 1993, S. 391-410, hier 406; DIES., Geschichte (wie Anm. 12), S. 24, 28f., 219f.; DIES., Deutsche Antikenromane (wie Anm. 4), S. 122. Daß Helena bei Konrad im Unterschied zu Benoît zu einem „Leitmotiv“ wird, betont schon BASLER (wie Anm. 12), S. 9. 15 Ausgabe: Der trojanische Krieg von Konrad von Würzburg. Nach den Vorarbeiten K. FROMMANNS u. F. ROTHS hg. v. Adelbert VON KELLER (Bibliothek des literarischen Vereins Stuttgart 44), Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1858, Amsterdam 1965. Dazu: Karl BARTSCH, Anmerkungen zu Konrads Trojanerkrieg (Bibliothek des literarischen Vereins Stuttgart 133), Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1858, Amsterdam 1965.
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bild zur Metapher für das folgende Geschehen: Paris ist die aus dem Herzen seiner Mutter erwachsende Fackel, die Troja bis auf den Grund niederbrennen wird (350-363). Daß dieses Ende Trojas unabwendbar ist, wird im weiteren Textverlauf immer wieder in der Handlungslogik angedeutet, wörtlich ausgesprochen und auch bildlich gezeigt,16 und zwar von Beginn an. Priamus befiehlt, Paris als Auslöser des Unheils zu ermorden, doch die ihn töten sollen, verschonen ihn; und als der Jüngling dann auf dem Fest erscheint, das Jupiter anläßlich der Vermählung von Thetis und Peleus veranstaltet, führt ihn sein Vater, ohne ihn zu erkennen, nach Troja zurück und vereitelt damit den eigenen Plan. Mit Blick auf die zu erzählende Geschichte unterstreicht diese Handlungskonstruktion die Unabwendbarkeit des Endes. Zugleich macht sie auch die Eigenart des finalen Erzählens deutlich: Die Erzählung tendiert zur Darstellung eines Geschehens, das die Geschichte als Bedingung der eigenen Möglichkeit überspielt. Weil das Ende im Anfang schon bekannt ist, erscheint das Geschehen nicht etwa als ein erstmaliger Entwurf im Rahmen der Geschichte, sondern die Geschichte wird gewissermaßen noch einmal durchlaufen und ermöglicht es, den Geschehensverlauf als paradigmatisch organisierte Ereignisreihe zu beobachten.17 Mit den gewendeten Zeitverhältnissen zwischen Anfang und Ende kehrt sich so auch das Kräfteverhältnis der narrativen Ebenen um: Mit der Bevorzugung des Geschehens vor der Geschichte tendiert die Erzählung zwangsläufig zur Schilderung; die Gegenbegriffe von Narration und Deskription gehen ineinander über.18 16 Zu den wörtlichen Vorausdeutungen PFENNIG (wie Anm. 13), S. 92-109. Zu visuellen
Erscheinungen mit Vorausdeutungsfunktion MONECKE (wie Anm. 8), S. 75, zu beiden Arten der Vorausdeutungen summarisch LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 238f., S. 256f. 17 Vgl. dazu die klassische Beschreibung anhand der Ausführungen zum Begriff der ‚Motivation von hinten‘ durch Clemens LUGOWSKI, Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung v. Heinz SCHLAFFER (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 151), Frankfurt a.M. 21994, S. 66-83. 18 Die Möglichkeit der Hybridisierung der polaren Begriffe räumt SCHMID, Elemente (wie Anm. 3), S. 17f. grundsätzlich ein. Daß sich der Gegensatz von Narration und Deskription letztlich über die umgekehrte Zeitbeziehung der Rede des Erzählers zur Handlung ergibt, hat Gérard GENETTE, Frontiers of Narrative, in: DERS., Figures of Literary Discourse. Translated by Alan SHERIDAN, New York 1982, S. 127-144, gezeigt: „narration is concerned with actions or events considered as pure processes, and by that very fact it stresses the temporal, dramatic aspect of the narrative; description, on the other hand, because it lingers on objects and beings considered in their simultaneity, and because it considers the processes themselves as spectacles, seems to suspend the course of time and to contribute to spreading the narrative in space“ (S. 136). Damit beschreibt Genette für die Deskription genau jene Simultanität auf der discours-Ebene, die Lugowski für die Motivation von hinten auf der histoire-Ebene festgehalten hat. Um es sehr einfach synthetisierend zu formulieren: Ein Geschehen läßt sich immer nur beschreiben, eine Geschichte immer nur erzählen, aber das Geschehen entsteht im Rahmen der Geschichte durch eine Auflösung ihres vormaligen zeitlichen Entwurfs.
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Im ‚Trojanerkrieg‘ Konrads wird dieser Mechanismus des beobachtenden Nachvollzugs zu einer durchgreifenden Ästhetisierung des Geschehens genutzt: Sogar die kausale Motivation der Handlung richtet sich auf ästhetische Zwecke. Als Antrieb der Handlung fungiert die Minne, die letztlich nichts anderes zu sein scheint als das Begehren des Schönen. Zuerst rettet die Schönheit das Leben des Paris, als dieser ermordet werden soll. Der Säugling beginnt zu lachen, bezeichnenderweise aufgrund seines eigenen Spiegelbildes, das er im Schwert seiner Mörder erblickt (474-481). Die Wirkung seiner Schönheit bleibt nicht aus: Paris wird verschont. Ebenso ist seine bestrickende Schönheit der Auslöser für das heftige Verlangen seines Vaters, den ihm noch unbekannten Jüngling für seinen Hof in Troja zu gewinnen: sîn herze sîn dô nie vergaz, noch kam von im sîn ouge niht. mit vlîzeclicher angesiht begund er kapfen dar ûf in und kêrte muot, herz unde sin dar ûf in manger hande wîs, daz der getriuwe Pârîs sîn ingesinde würde. (3238-45) Und dieses Begehren des Vaters wiederholt sich nochmals in seinem Sohn. Paris begehrt in Helena wiederum eine unvergleichliche Schönheit, die seiner eigenen analog ist. Helena gilt nach den Worten der Venus als die schönste Frau, die jemals gelebt hat (2660-67). Das Verlangen nach Schönheit bietet damit zweifellos eine narrative Erklärungsmöglichkeit für das folgende Untergangsgeschehen.19 Die Schönheit ist stets ein Wert, den die verschiedenen Akteure gegen einen Widerstand begehren und den sie sich selbst zu attribuieren suchen, womit die narrative Struktur im Sinne der strukturalistischen Basisdefinition als Dreischritt aus Konfrontation, Domination und Attribution abgeschlossen wäre. Aber durch genau diese Struktur entsteht mit Blick auf die Schönheit auch ein Wahrnehmungsproblem. Denn Wahrnehmung setzt eine Differenz zwischen dem Betrachter und dem 19 Als Grundposition dazu Algirdas Julien GREIMAS, Actants, Actors, and Figures, in:
DERS., On Meaning. Selected Writings in Semiotic Theory, Translation by Paul J. PERRON and Frank H. COLLINS, Foreword by Fredric JAMESON, Introduction by Paul J. PERRON, London 1987, S. 106-120, hier S. 107f.; zuvor einfacher DERS., Die Struktur der Erzählaktanten. Versuch eines generativen Ansatzes, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II, hg. v. Jens IHWE (Ars Poetica. Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst. Texte 8. Literaturwissenschaft und Linguistik III), Frankfurt a.M. 1972, S. 218-238; speziell zur Funktion der Werte: DERS., Elements of a Narrative Grammar, in: DERS., On Meaning (in dieser Anm.), S. 63-83, hier S. 79f.; DERS., A Problem of Narrative Semiotics: Objects of Value, in: DERS., On Meaning (in dieser Anm.), S. 84-105.
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Betrachteten voraus. Doch die ideale Schönheit, wie sie insbesondere von Helena verkörpert wird, ist so anziehend, daß der Betrachter danach strebt, jede Differenz zu ihr aufzuheben.20 Allgemein heißt das: Die wahrzunehmende Schönheit verschwindet in dem Moment, in dem sie in der Geschichte erreicht wird, ebenso wie die Zeitlichkeit der Geschichte aufgehoben ist, wenn der Rezipient sein Ziel erreicht und im Betrachten des Schönen aufgeht: Das Begehren des Schönen erzeugt im Rahmen der narrativen Struktur ein doppeltes Dilemma. Angedeutet wird es schon in dem Vergleich, den Venus Paris gegenüber zur Charakterisierung von Helenas Schönheit heranzieht: nû sich, wie diu S!rêne und ir süezes dônes grif ziehe an sich vil manic schif, sus kan diz wunneclîche wîp mit ir clârheit mangen lîp an sich ziehen unde nemen. (2668-73) Die Schönheit des Gesanges der Sirenen hat eine tödliche Anziehungskraft: Weil das Begehren darauf ausgeht, die Quelle des Gesanges selbst zu erreichen, fallen im Sirenen-Mythos die höchste Erfüllung des Begehrens und der Tod zusammen.21 Was für die akustische Wirkung der Sirenen gilt, trifft offenbar 20 Vgl. die Anregung, die Wahrnehmung von Schönheit als Teil eines narrativen Musters zu
begreifen, jetzt auch in den Überlegungen zum Erzählen von Heiligen bei Andreas HAMMER u. Stephanie SEIDL, Die Entfremdung vom Eigenen: Narrative Wahrnehmungsmuster von Heiligkeit im mittelhochdeutschen ‚Passional‘, in: Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, hg. v. Michael BORGOLTE u.a., München 2008, S. 134-153, hier S. 134-141. Zu den Schwierigkeiten der Vermittlung neuzeitlicher Ästhetik mit mittelalterlichen Schönheitsbegriffen jüngst der Überblick bei Manuel BRAUN, Kristallworte, Würfelworte. Probleme und Perspektiven eines Projekts ‚Ästhetik mittelalterlicher Literatur‘, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. v. DEMS. u. Christopher YOUNG (Trends in Medieval Philology 12), Berlin-New York 2007, S. 1-40, bes. S. 6-10. Zum Schönheitsbegriff bei Konrad als einer Klimax der mittelalterlichen Schönheitsbegriffe, in der zugleich bereits ein neuzeitliches Schönheitsverständnis aufscheint, das überzeugende Votum von Dieter KARTSCHOKE, Über die Schönheit in der Literatur im Mittelalter, in: Der schöne Schein der Kunst und sein Schatten. FS für Rolf Peter Janz zum 60. Geburtstag, hg. v. Hans Richard BRITTMACHER u. Fabian STROEMER, Bielefeld 2000, S. 41-56, hier S. 52-56. 21 Vgl. zum Sirenen-Mythos im Mittelalter allgemein das Material bei Jane CHANCE, Medieval Mythography, Bd. 1: From Roman North Africa to the School of Chartres, A.D. 4331777, Gainesville u.a. 1994, hier S. 330, S. 587f. (Anm. 26), Bd. 2: From the School of Chartres to the Court at Avignon, 1177-1350, Gainesville u.a. 2000, hier S. 220f., S. 267 u.ö. Speziell zum Mittelhochdeutschen Manfred KERN, Art. Sirenes, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. v. DEMS. u. Alfred EBENBAUER, Darmstadt 2003, S. 582-586. Der Klang ist eine Variante des Schönheitsproblems, die für die Ästhetik Konrads ebenso zentral ist, hier aber unberücksichtigt blei-
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auch auf die visuelle Wirkung Helenas zu. Der Vergleich deutet also nicht nur erneut auf das Ende der zu erzählenden Handlung hin. Markiert wird auch, daß Helenas Schönheit an sich unerreichbar bleibt. Ihre Wahrnehmung bleibt immer in der Distanz unvollständig; wenn sie in der Indifferenz zum Betrachter Vollständigkeit erreicht, ist sie tödlich. Daß dies keine überpointierte Deutung der Stelle im Sinne des narrativen Wahrnehmungsproblems ist, verdeutlicht zunächst das Urteil des Paris angesichts des Apfels der Discordia. Ähnlich wie die Petitcreiu-Figur im ‚Tristanroman‘ ist dieser Kunstgegenstand im Sprachkunstwerk für die ästhetische Wirkung des Textes insgesamt charakteristisch. Statt über die Kategorien von Farbe und Klang wie bei Gottfried bestimmt sich der Apfel bei Konrad jedoch über die Kategorien von Farbe und Schrift.22 Der Apfel selbst ist ein visuelles Wunder, weil er eine paradoxe Farbtotalität darstellt.23 Auf der Oberfläche dieses Kunstwerks im Erzählkunstwerk changieren alle Farbwerte, ohne daß sich zwischen ihnen differenzieren oder einer von ihnen klar herausheben ließe: an im lac hôher künste flîz von meisterlicher kûre. ein wunderlich mixtûre ûz dem rîlichen apfel schein. diu was verworren under ein von aller hande glaste sô sêre und alsô vaste, daz keiner liehten varwe schîn dâ volleclîche möhte sîn; und was ir aller teil doch dâ. (1400-09)
bleiben muß. Dazu künftig die überzeugende These von Almut SCHNEIDER, er liez ze himel tougen erhellen sîner stimme dôn. Sprachklang als poetische Fundierung normativen Sprechens, in: Text und Normativität im deutschen Mittelalter, XX. Anglo-German Colloquium, 05.-09.09.2007 in Bonn, hg. v. Elke BRÜGGEN u. Franz Josef HOLZNAGEL (in Druckvorbereitung), in der sich zunächst am Beispiel der Legenden Konrads mit Rückgriff auf mittelalterliche Musiktheorie der Klang als jene Seite des Wortes erweist, über die seine Bedeutung präsent gemacht wird. 22 Zur gesteigerten Appellfunktion der Darstellung gegenüber dem Rezipienten CORMEAU (wie Anm. 8), S. 97f.; zur poetologischen Funktion am deutlichsten MÜLLER (wie Anm. 8), S. 300f. Vgl. auch die Hinweise auf die Vorbildfunktion der Petitcreiu-Figur bei LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 43, S. 210f. Zu der Umakzentuierung gegenüber Gottfried paßt die Beobachtung von PFENNIG (wie Anm. 13), daß die beglückende Wirkung des Klanges als „Petitcreiu-Effekt“ (S. 58) in die Stimme des Paris verschoben ist (3043-45). 23 Vgl. im Rahmen des heraldischen Beschreibungsmodells grundsätzlich SCHEUER (wie Anm. 13), S. 61.
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Der Apfel ist damit der optische Inbegriff dessen, was die Informationstheorie metaphorisch als ‚weißes Rauschen‘ bezeichnet hat: Die Menge von Informationen, die sich in einem Kanal übermitteln läßt, wird bei ihrer Übersteigerung problematisch, denn dann beginnt der quantitative Informationszuwachs den Informationswert zu vernichten. Daraus ergibt sich der Effekt des Rauschens als eine wechselseitige Störung der Einzelinformationen, was darin kulminiert, daß bei einer maximalen Informationsmenge der Informationswert gleich Null ist. Um dieses Paradox zu bezeichnen, greift selbst die Wissenschaftssprache der Informationstheoretiker zur Metapher: Das sinnvoll-sinnlose Rauschen heißt ‚weiß‘. Wenn es um die Übermittlung sprachlicher Zeichen geht, dann macht es also dieser Theorie zufolge keinen Unterschied, ob gar keine oder zu viele Information übermittelt werden. Aber, um die metaphorische Rede der Informationstheorie auszunutzen, im ‚Weiß‘ des Rauschens ist der Unterschied zwischen fehlender und maximaler Informationsmenge gleichwohl sichtbar. Die Überfülle der Zeichen bringt diese zum Verstummen, aber die weiße Markierung macht dieses Schweigen beredt. Ganz analog zu diesem Gebrauch der Farbmetapher der Wissenschaftssprache heißt das für den farbigen Kunstgegenstand im mittelalterlichen Erzähltext: Die Farbwerte des Apfels überlagern sich derart, daß sie eine maximale Farbwirkung erreichen; in der Überlagerung der Farbinformationen hebt sich die Farbigkeit insgesamt auf, nur ist diese dezidierte Opalisierung ein Ziel seiner sprachlichen Darstellung. Damit verkörpert der Apfel das paradoxe Ideal der Semiotik eines offenen Kunstwerks.24 Als Summe der visuellen Möglichkeiten markiert der Apfel nämlich ebenso die Grenze der sprachlichen Zeichen wie auch den Versuch, in der Rede von der Farbtotalität die eigene sprachliche Grenze zu überschreiten. Auch was seine narrative Einbettung angeht, erscheint der Apfel wie ein visualisierter Erzählerkommentar. Denn das Aussehen des Apfels charakterisiert 24 Auf dieses Paradox hat Umberto ECO bei seiner Anwendung des informationstheoretischen
Grundmodells auf die Mehrdeutigkeiten der ästhetischen Botschaft wiederholt aufmerksam gemacht (Das offene Kunstwerk, übersetzt v. Günter MEMMERT [suhrkamp taschenbuch wissenschaft 222], Frankfurt a.M. 61993, darin einführend S. 90-108, und zum ‚weißen Rauschen‘ besonders S. 168, 172f., 175f., 178). Für den Bereich der Literaturtheorie ist auf die wenigstens dem Grundsatz nach verwandte, aber weniger elaborierte informationstheoretische Begründung der Leistung des ästhetischen Textes bei Jurij M. LOTMAN (Die Struktur literarischer Texte, übersetzt v. Rolf-Dietrich KEIL [Uni-Taschenbücher 103], München 31989, S. 110-121) zu verweisen. Davon unabhängig hat von seiten der philosophischen Ästhetikdiskussion auch Martin SEEL, Ästhetik des Erscheinens (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1641), Frankfurt a.M. 2003, S. 223-253, bes. S. 230f., auf den informationstheoretischen Begriff rekurriert, ihn freilich auf das bloße ‚Rauschen‘ reduziert, d.h. um die darin enthaltene Paradoxie verkürzt (S. 228, Anm. 5), um dann in seinem eigenen Prägungsversuch des Ausdrucks ‚Rauschen‘ ausgerechnet auf dessen Paradoxie zu insistieren. Weil diese bei Seel aber nicht semiotisch, sondern phänomenologisch gedacht wird, ist sie immerhin offensichtlicher auf den Begriff des Geschehens anwendbar und läßt sich mit Blick auf die Geschehensproblematik im ‚Trojanischen Krieg‘ heranziehen: „Immer aber ist das Rauschen ein Geschehen ohne ein phänomenal bestimmbares Etwas, das geschieht.“ (S. 233.)
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die Situation genau, in der er auftaucht. Von Discordia, die ihre schöne Gestalt durch einen Zauber unsichtbar werden läßt (1297-1317), wird das Sichtobjekt des Apfels den drei ununterscheidbar schönsten Göttinnen Juno, Pallas und Venus zugespielt, die den homodiegetischen Betrachtern der Szene ein ebenso unfaßbares Schauwunder bieten, wie der Apfel es liefert. Der „Wunsch der Vielen beim Anblick der drei vornehmen Göttinnen im Festesglanz reflektiert auch die Wirkungsgesetze dieser Kunst.“25 Die selben götinn alle drî schœn unde missewende frî wâren sô liutsælic gar und alsô rehte wunnevar an lîbe und an gezierde grôz, daz manic lûter ouge entslôz, ûf der hôchgezîte sich, daz die götinne keiserlich ze wunder ane blicte. ir drîer clârheit schicte, daz manger dâ begunde jehen: ‚ach got, wan solt ich iemer sehen und êweclichen schouwen dis ûz erwelten frouwen, der leben ist sô vollekomen!‘ (1223-37) Erst der Versuch der Differenzierung, der den Übergang von bloßer Perzeption zur intentionalen Wahrnehmung bedeutet, zerstört diesen ganzheitlichen sinnlichen Eindruck, der beim Publikum den Wunsch nach zeitenthobener Kontemplation im êweclichen schouwen weckt. Angesichts der Totalität der Schönheit verfehlt die Intentionalität der Wahrnehmung genau das, was sie erfassen will. Dieses Dilemma beginnt mit dem sprachlichen Zeichen und seiner Differenzierungsleistung. Die Schrift auf dem Apfel verdeutlicht dieses Zeichenproblem, das sich dann im Urteil des Paris fortsetzt. Denn was die Sprache bzw. das Urteil leisten soll, ist unter logischem Gesichtspunkt unmöglich: die Differenzierung dessen, was es nur in einer Totalitätserfahrung gibt. Der Apfel soll der Schönsten und Besten gehören. In ihrer Schönheit sind aber die drei Göttinnen eins: Da jede das Ideal der Schönheit vertritt, läßt sich keine herausheben, ohne das Ideal an den anderen zu zerstören. Die soeben zitierte Haltung des erzählten Publikums akzentuiert diesen Zusammenhang hinlänglich. Das gleiche Dilemma gilt, wie die wörtliche Debatte der Göttinnen um ihre weiteren Vorzüge sehr deutlich werden läßt, für die von ihnen verkörperten Tugenden oder Glücksgaben. Reichtum und Ansehen (Juno), Weisheit 25 MONECKE (wie Anm. 8), S. 134.
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und Kunst (Pallas) sowie Minne und Schönheit (Venus) entfalten ihre ideale Wirkung nur dort, wo sie unlöslich zusammenwirken – das läßt sich als negatives Gesamtergebnis des Streitgespräches (1902-2683) festhalten. Bei den Versuchen der Göttinnen, die von ihnen vertretenen Tugenden im rhetorisch ausgefeilten Streit um den Apfel isoliert herauszustellen, wirken diese nämlich entgegen der Absicht ihrer Verfechterinnen für sich genommen defizitär. Folglich kann das von Paris verlangte rationale Urteilsvermögen auch nicht angeben, welche Göttin von den anderen abzuheben wäre. Im Rahmen des sprachlichen Diskurses zeigt dieser selbst die Unmöglichkeit, ein differenzierendes Urteil zu fällen.26 Aber diese Schwierigkeit des Urteils läßt sich ästhetisch repräsentieren und damit aufheben. Die Struktur des Urteils ist im Apfel geradezu vorgebildet. Zunächst ist die Sprache auf dem Apfel wie die farblichen Erscheinungen seiner Oberfläche eigentümlich total: Die Botschaft, die besagt, daß der Schönsten der Apfel gehören möge, erscheint in einer Art universaler Schrift. Jeder, der diese Schriftzeichen auf dem Apfel liest, glaubt die sprachliche Botschaft in seinem eigenen Idiom zu vernehmen: in swelher zungen man daz lesen wolte bî der selben zît, diu wart ân allen widerstrît und in vil kurzen stunden an den buochstaben funden, die man dâ stân gelîmet sach. von hôher künste diz geschach, daz sich diu schrift verkêrte und iegelichen lêrte dâ vinden sîne sprâche. (1472-81) Aber die Interpretation dieser Botschaft ist durch das Begehren der Leserinnen immer eine andere. Ebenso ist der Text auf dem Apfel erst dann vollständig, wenn zu ihm die entsprechende Schöne gefunden worden ist. Insofern setzen die sprachlichen Zeichen auf dem Apfel jene Differenz, die dann im Begehren nach seiner Schönheit zur Struktur der Geschichte mit ihren konkreten Folgen führt. Die durch das Begehren motivierten sprachlichen Einzelhandlungen im Redestreit verfehlen notwendig ihr Ziel: Die Schönheit der Göttinnen wie auch ihre Tugenden lösen sich im differenzierenden Diskurs um den Apfel sofort 26 Zum rhetorischen Aufbau die Beschreibung durch FREYTAG (wie Anm. 13), die einerseits
durchaus die Fragwürdigkeit der Argumentationen herausstellt (S. 389f.), gleichwohl im merkwürdig unkritischen Verhältnis zur wahrheitskonstituierende Leistung von rhetorisch-logischen Mitteln insgesamt festhält, daß bei Konrad die „Frage […] mit logischrhetorischen Mitteln seiner Zeit zu einer vernünftigen Lösung“ (S. 384f.) gebracht werde.
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auf. Und genau dies wiederum läßt die Schönheit des Apfels als Desiderat einer Totalität erscheinen. Vielleicht kann man deshalb sogar sagen: Die Schönheit des Apfels wird erst durch seine dissoziierende sprachliche Botschaft und den anschließenden Diskurs vollständig wahrnehmbar. Denn erst die sprachlichzeichenhafte Differenz erzeugt das Verlangen nach ihrer Überwindung in der Totalität. Für die Erzählung des ‚Trojanischen Krieges‘ hieße das: Weil die Schönheit das unbedingte Begehren weckt, kommt das Schöne wiederum durch das Begehren auf einen narrativen Begriff. Ebenso wie der Erzähler die Schönheit nicht sprachlich angemessen beschreiben kann, weil sie durch sprachliche Zeichen nicht mehr referentialisierbar ist, ebenso läßt sich die Zuteilung des Apfels in der Rede der Göttinnen nicht im einzelnen argumentativ begründen. Aber man kann anhand der Geschichte ihres Begehrens von der Schönheit erzählen. Erst auf diese Weise behält der Erzähler sein Recht. So führt die Ästhetik des Apfels durch die Einbindung in eine narrative Struktur jedes interesselose Wohlgefallen in seinem Übergang von Farbspiel und Zeichen ad absurdum, weil sich zeigt, daß die vollkommene Schönheit nur über das vollkommene Begehren noch begriffen werden kann, daß sie folglich nicht eigentlich beschreibbar, sondern letztlich nur erzählbar ist. In diesem Sinne wäre das Erzählen als produktive Möglichkeit zu begreifen. So gesehen trifft folglich auch das Urteil des Paris genau das Richtige, wenn dieser Venus den Apfel zuteilt. Die Repräsentantin von Minne und Schönheit erhält den Apfel, weil sie das Dilemma des Urteils mit seiner narrativen Triebkraft repräsentiert, ebenso wie der Apfel der Discordia das Dilemma im Wechselspiel von Visualität und Schrift deutlich macht und zum Antrieb der Geschichte werden läßt. Diese kann mit ihrem Ende das Schöne zwar ebenfalls nicht erreichen, aber zwischen Anfang und Ende der Geschichte scheint ein Vorgriff auf das ferne Ziel möglich.27
3. Beschreibung, Beobachtung und Erzählung: Verlust und Wiedergewinn der Differenz Weil die beschreibende Sprache und die Narration eines Erzählers nicht das gleiche sind, bietet sich über das Urteil des Paris ein narrativer Ausweg aus den geschilderten Dilemmata an. Die vollkommene Schönheit ist der sprachlichen Differenzierung im Modus einer einfachen Beschreibung ebensowenig zugänglich, wie sich der Apfel der Discordia einer speziellen Figur praktisch richtig zuteilen läßt. Der notwendige Fehler, der durch das praktische Urteil entsteht, 27 Die narrative Struktur würde damit jene hermeneutische Bewegung aufnehmen, die
Hans-Georg Gadamer in einer Vorstudie zu seinem Hauptwerk als ‚Vorgriff der Vollkommenheit‘ bezeichnet hat: Hans-Georg GADAMER, Vom Zirkel des Verstehens, in: DERS., Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register (DERS., Gesammelte Werke 2), Tübingen 21993, S. 57-65, hier S. 61f.
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erzeugt jenes Ungleichgewicht, das der darauf folgenden Geschichte ihre Dynamik verleiht. Und weil in dieser Geschichte auch noch etwas Unsagbares begehrt wird, kommt es zugleich zu einer produktiven Leerstelle. Diese Leerstelle versucht der Erzähler bei Konrad von Würzburg zu visualisieren. Nach der Einführung des Apfels der Discordia als ästhetischem Objekt des Begehrens in der Geschichte wird nun auch der Prozeß des Erzählens selbst ästhetisch. Als Venus Paris am Hofe Jupiters in Erscheinung treten läßt, wird dieses Potential der ‚ästhetischen Narration‘ deutlich. Denn auch die Schönheit des Paris stellt eine ästhetische Wirkungskategorie mit narrativen Folgen dar. Ihre sprachliche Darstellung ist ein narratives Problem des Erzählers, das in der Wirkung, die diese Schönheit in der erzählten Handlung entfaltet, gelöst wird. Man könnte insgesamt sagen: Die Betrachter des Paris in der erzählten Handlung können sehen, was der Leser des Textes nicht sehen kann, aber indem die Wirkung auf den homodiegetischen Rezipienten erzählt wird, erzeugt auch das Erzählen beim Leser einen visuellen Effekt. Nur ist der ästhetische Effekt auf den Leser der Wahrnehmung der homodiegetischen Rezipienten gerade nicht analog. Die Korrelation von externer Lektüre und interner Wahrnehmung ist prinzipiell asymmetrisch, weil der Text immer zuerst als abstraktes Zeichenensemble, die Welt immer zuerst als ein konkretes Sinnesdatum begegnet.28 Die Wahrnehmungen der handelnden Figuren und die Visualisierungsleistung der Beschreibungssprache des Erzählers treten sukzessive auseinander. Beim ersten Auftritt des Jünglings ist seine Schönheit noch verdeckt. Sie wird nicht selbst dargestellt, sondern über eine Differenz angedeutet: Paris tritt am Hofe der Götter in der groben, ärmlichen Kleidung des Hirten auf (1652-63), die wiederum im Gegensatz zu der nur angedeuteten körperlichen Schönheit steht.29 Metonymisch konkretisiert erscheint diese Schönheit in den goldenen Locken des Paris (1676f.), sonst bleibt sie aber unkonkret. Der Erzähler vermag sie dennoch metaphorisch auszudrücken. Die Schönheit, d.h. wörtlich wiederum: die clârheit (1684) des Paris manifestiert sich in einer liehten varwe (1685), sie ist strahlend, und die Wirkung dieses Leuchtens wird erst in der Analogie zur Rosenblüte visualisierbar: diu gap sô wunnebæren schîn ûz sînem swarzen huote, als ob ein hac dâ bluote von rôsen rîchen dornen. (1686-89)
28 Diesen Grundsatz der Asymmetrie unterstreicht allgemein Jan-Dirk MÜLLER, Visualität,
Geste, Schrift. Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 122‚ 2003, S. 118-132, bes. S. 127. 29 Zu den weiteren Kontrasten in der Paris-Darstellung auch MONECKE (wie Anm. 8), S. 128.
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Anhand dieser Differenz wird die Schönheit von den Frauen des Hofes wahrgenommen: Alle sehen ihn an und erklären, daß es nicht richtig sei, wenn ein sô glanzer jungelinc / ein hirte solte heizen. (1694f.) Dabei findet das Darstellungsproblem der Schönheit im clâren schîn (1698), ja in der clârheit seine genaue semantische Entsprechung. Denn das Lehnwort zielt sprachhistorisch nicht zuerst und allein auf die neuzeitlich dominierende Bedeutung einer vollständigen Transparenz, sondern auf Glanz und Leuchtkraft.30 Die changierende Verbindung von Glanz und Transparenz gilt dann auch bei Konrad: Was als lichtvoll-glänzend wahrgenommen wird, ist doch zugleich von vollkommen durchscheinender und damit unsichtbarer Klarheit. Es handelt sich um das Paradox einer sinnlichunsinnlichen Erfahrung. Und weil die Qualität der clârheit für sich nicht eigentlich sichtbar ist, bleibt sie auf die Differenz zu ihrer Umgebung angewiesen, denn sie kommt erst über diese Differenz zur Erscheinung. Diese Unterscheidung erweist sich auch in der späteren, konkreteren Beschreibung des Paris vollends als konstitutiv. Nach dem Urteil stattet Venus selbst den Jüngling mit Gewändern aus, die seiner körperlichen Schönheit adäquat sind. Damit verschwindet zunächst die bisherige Differenz der sozialen Hülle des ärmlichen Gewandes zum schönen Körper in der ausführlichen descriptio des Erzählers. Das bedeutet jedoch zugleich, daß nun die Darstellung selbst problematisch wird. Die Pracht der Kleidung führt zur Figur der Hyperbel, die ins Paradox gesteigert ist: Paris soll die ideale Schönheit der Götter mit seiner Gestalt noch einmal überbieten, nach den Worten der Venus trägt am Hofe Jupiters nämlich niemand ein so prächtiges Gewand (2904-09). Daher erscheint Paris nun geradezu, sprachlich genau auf seine Strahlkraft hin pointiert, wie ein glanzer engel (2928) vor den Augen des anwesenden Publikums. Wie eine konkrete Beschreibung einer solchen überidealisierten Schönheit aussehen soll, vermag man sich nicht auszumalen. Die weitere Beschreibung der Lichtgestalt des Helden legt daher zunächst den Akzent darauf, die Fülle des Lichtes mit Hilfe der Feuermetaphorik auszudrücken – der Kranz, den Paris trägt, brennt vor Gold (2912), durch den Goldschmuck seines Kleides scheint dieses förmlich in Flammen zu stehen (2938-41). Auf diese für den Text fundamentale Metapher wird noch zurückzukommen sein. Ohnehin liegt die Vermutung nahe, daß die Metapher als Bildrede jenes synthetische Vermögen ent30 Vgl. dazu den Artikel ‚Klar‘, in: Deutsches Wörterbuch v. Jacob u. Wilhelm GRIMM, Bd.
5: K – Kyrie eleison, bearb. v. Rudolf HILDEBRAND, Leipzig 1873, Sp. 981-997, bes. 981985, 987f. Belege des Mittelhochdeutschen zum Lemma in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses v. Georg Friedrich BENECKE ausgearb. v. Wilhelm MÜLLER u. Friedrich ZARNCKE, Stuttgart 1990, Bd. 1, S. 836 (ND. der Ausgabe Leipzig 1854-1866); Matthias LEXER, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement u. alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche v. BENECKEMÜLLER-ZARNCKE. Mit einer neuen Einleitung sowie einer zusammengef. und wesentlich erw. Korrigendaliste v. Kurt GÄRTNER, Stuttgart 1992, Bd. 1: A-M, Sp. 1606f. (ND. der Ausgabe Leipzig 1869-1878); Kurt GÄRTNER u.a., Findebuch zum mittelhochdeutschen Wortschatz. Mit einem rückläufigen Index, Stuttgart 1992, S. 201.
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hält, mit dem sich das Differenzproblem überwinden ließe.31 Vorerst ist indes nur praktisch festzuhalten: Die in der Feuermetapher vorweggenommene Entdifferenzierung setzt sich in komplexer Form im Farbspiel fort, das sich nun an Paris genau so entfaltet, wie es zuvor am Apfel der Discordia deutlich geworden war. Nur ist jetzt das Problem der Versprachlichung des Wahrnehmbaren angesichts der Farbigkeit eines wunderbaren Pelzbesatzes am Gewand des Paris vollends auf den Punkt gebracht. Dessen Leuchtkraft schlägt ins nicht mehr Sichtbare um: kein ouge nie sô lûter wart, daz sînen glanz erkande; sô rehte maniger hande varwe ûz im gleiz unde bran, daz iegelichez hâr dar an het einen sunderlichen schîn. swie nû niht wan sehs varwe sîn, sô gleiz iedoch vil mangiu dâ, diu niemer hie, noch anderswâ bî keinen jâren wirt erkant. (2986-95) In der Sprache des Erzählers kehrt damit einerseits das Differenzkriterium wieder, das im Geschehen verloren gegangen war. Die Farbbezeichnungen lassen sich mit Hilfe der vom Erzähler auf sechs bezifferten Grundfarben differenziert setzen, die Gesamtwirkung der Farben entzieht sich aber eben damit der sprachlichen Beschreibung. Die Farbwirkung, auf die der Erzähler hinaus will, läßt sich über die genaue Deskription gerade nicht erreichen, sie ist im Differenzmedium der Sprache nicht darstellbar und soll zugleich die Möglichkeiten der visuellen Wahrnehmung übertreffen. Jedoch – und das ist die Pointe der Konstruktion – sie läßt sich metaphorisch ausdrücken und anhand ihrer praktischen Wirkung begreifen. Die Farben des Gewandes brennen, und nachdem dann auch die körperliche Schönheit des Paris in ihren Farben geschildert wurde, heißt es insgesamt: die vrouwen und diu ritterschaft / die kapften in ze wunder an. (3072f.) Die homodiegetischen Betrachter gehen distanzlos in der visuellen Wirkung dieses Schauwunders auf, ebenso wie in der Figur der Metapher die Distanz des einzelnen sprachlichen Zeichens zur Bedeutung aufgehoben ist. 31 Vorgezeichnet ist diese These durch die Überlegungen HASEBRINKs (wie Anm. 6), S. 217
u. 228, der die Kleiderbeschreibung Medas als Textmetapher des Erzählers erkennt, die auf der Figurenebene noch einmal von Medea selbst in der Handlung praktisch realisiert wird, indem diese die Tötung Kreusas durch ein vergiftetes Gewand betreibt. Zu präzisieren wäre mit Blick auf das folgende freilich gerade hier, daß Kreusas Kleid brennt, d.h. die Textmetapher geht sofort in die Feuermetapher über. Zur Kleidung als Textmetapher vgl. allgemein Andreas KRASS, Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel (Bibliotheca Germanica 50), Tübingen-Basel 2006, S. 74-76 u. 360-374, mit weiterer Literatur. Zur grundsätzlichen Leistung der Metapher siehe unten, nach Anm. 51.
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Das führt letztlich zu einer gegenläufigen Doppelbewegung: Die Wahrnehmung des erzählten Publikums löst sich auf, indem sie auf das Niveau der schlichten Perzeption von sinnlichen Gegebenheiten herabsinkt. Aber im Gegenzug wird sich die literarische Wahrnehmung ihrer selbst bewußt. Die Relation von elementarer, vorreflexiver Aisthesis und literarisch-reflexiver Ästhetik erweist sich so als ein prekäres Spannungsverhältnis.32 Inwiefern diese homodiegetische Wirkung mit der Wirkung der versprachlichten Diegese auf den Rezipienten genauer korreliert, läßt sich an den Schlachtschilderungen verfolgen, die für die Bildwirkung des Erzählens im ‚Trojanerkrieg‘ als besonders einschlägig gelten.33 Was diese Schilderungen auszeichnet, ist ihre irritierend widersprüchliche narrative Ästhetik, die sich vorrangig im Gegensatz zwischen der Grausamkeit der erzählten Handlung und der Schönheit der Beschreibung manifestiert. In der Geschichte wird gestorben, während die Sprache des Erzählers Aspekte visueller Schönheit evoziert. In diesem Gegensatz kommt die allgemeine Aporie der ästhetischen Narration vielleicht am stärksten zum Ausdruck, ebenso erweist sich hier wohl auch am deut32 Dieses Spannungsverhältnis dokumentiert sich bis in den jüngeren philosophischen Dis-
kurs hinein, was vielleicht zeigt, daß es selbst nicht diskursiv, sondern eben nur ästhetisch zu bewältigen ist: Vgl. die Auseinandersetzung der Positionen von Wolfgang WELSCH, Erweiterungen der Ästhetik. Eine Replik, in: Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, hg. v. Birgit RECKI u. Lambert WIESING, Berlin 1997, S. 39-67, als Richtigstellung zu den Verkürzungen von Martin SEEL, Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung, in: ebd., S. 17-38. Während Welsch Aisthesis und Ästhetik als korrelative Begriffe denkt, wozu er sich auf die notwendige Protoreflexivität sinnlicher Wahrnehmung berufen kann, die im Begriff der Ästhetik zu einer komplexen Oszillation von Reflexion und Imagination ausgeweitet ist, operiert Seel mit einem verkappten Autonomiepostulat: Seel glaubt, aus seinem berechtigten Insistieren auf der (Selbst-)Reflexivität ästhetischer Erfahrung heraus, die Ästhetik von der Aisthesis grundsätzlich abspalten zu müssen (S. 35), um die Ästhetik als ausgezeichnete Weise der Selbstvergegenwärtigung qualifizieren zu können (S. 32). Vgl. zum Projekt eines in der Aisthesis fundierten ‚ästhetischen Denkens‘ auch besonders Wolfgang WELSCH, Ästhetisches Denken (Reclams Universal-Bibliothek 8084), Stuttgart 62003, S. 11-78. Vgl. auch den an der Basis des ästhetischen Prozesses angesiedelten Begriff der ‚Atmosphäre‘ bei Gernot BÖHME, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 39-71, mit ähnlicher Frontstellung zu Seel, S. 118. 33 Vgl. dazu wiederholt LIENERT, Helena (wie Anm. 14), S. 419; DIES., Konrad von Würzburg (wie Anm. 14), S. 400f. u. 410; DIES., Deutsche Antikenromane (wie Anm. 4), S. 133f., die die Ästhetisierung der Kampfdarstellungen als distanzierende Abstraktionsversuche deutet (bes. DIES., Zwischen Detailverliebtheit und Distanzierung. Zur Wahrnehmung des Krieges in den deutschen Antikenromanen des Mittelalters, in: Die Wahrnehmung und Darstellung von Kriegen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. v. Horst BRUNNER [Imagines Medii Aevi 6], Wiesbaden 2000, S. 31-48, hier S. 42). Daß damit aber die von ihr mit dem Stichwort ‚Ästhetik des Grauens‘, DIES., Geschichte (wie Anm. 12), bes. S. 388f., betonte Gegenläufigkeit gerade relativiert und nicht erklärt wird, weil in der Distanzierung der fragliche Gegensatz nur heruntergespielt wird, ist ein Problem, das Lienert selbst andeutet, aber nicht gelten lassen möchte.
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lichsten, inwiefern die Aporie auf ihre Selbstüberwindung im Rahmen der Geschichte hin angelegt sein dürfte. Anhand des ersten Kampfes, der im Text dargestellt wird, dem von Konrad eigens gegenüber seiner Quelle hinzuerfundenen Kampf von Peleus und Hector, läßt sich diese These zunächst stellvertretend konkretisieren, da dieser Kampf ausdrücklich als stellvertretende Handlung für eine erste Schlacht beginnt (vgl. 3520-3610) und zugleich die späteren Schlachten antizipiert.34 Anhand der großen Schlachtschilderungen am Ende des Textfragments wird das Gesagte dann zu verifizieren sein. Der Kampf bildet, als konfrontative Handlung, das Zentrum einer narrativen Grundstruktur aus Konfrontation, Domination und Attribution. Der diskursive Streit um das begehrte Objekt, in diesem Falle um Paris, geht voran, dazu bietet der Kampf eine praktische Auseinandersetzung, die die antagonistischen Kräfte austariert. Das Ende des Kampfes legt fest, welcher Aktant sich das begehrte Objekt attribuiert, ob also Paris am Hofe der Götter bleibt oder mit Priamus nach Troja zieht. In der Schilderung des Kampfes gerät dieser nun aber, solange er unentschieden bleibt, in eine für das Erzählen typische Schwebesituation: Das Geschehen hat einen noch ungewissen Ausgang, die Geschichte pausiert, wartet gewissermaßen auf ihre entscheidende Wendung. Die narrative Pause ist der traditionelle Ort der Deskription des Erzählers, aber hier betrifft die Deskription keinen stillstehenden Gegenstand, sondern ein Geschehen, das als Zentrum der Geschichte fungiert:35 Der Kampf bildet damit eine spannungsreiche Leerstelle von besonderer Imaginationswirkung. Er enthält konträre Möglichkeiten, die Handlung weiterzuführen. Und in dieser Offenheit entfalten die visuellen Ausdrücke des Erzählers ihre besondere Wirkung, indem sie die Möglichkeiten einer naiven Imagination des Kampfes als Simulation einer tatsächlichen Erscheinung durchkreuzen. Eingangs werden die Kontrahenten beschrieben, Hector für die Seite des Priamus und der Venus, und Peleus für die Seite des Jupiterhofes sowie der Göttinnen Juno und Pallas. Dabei steht die Figur Hectors geradezu für das Ziel und das Dilemma des Kampfes. Wiederum sprengt der visuelle Effekt, den dieser Held hervorruft, die Möglichkeiten des Sichtbaren. Doch es ist nicht allein die blendende Leuchtkraft der Erscheinung Hectors, die akzentuiert wird. Nicht nur, daß sein Kettenhemd aus spiegelnd glänzenden Stahlringen besteht (370434 Vgl. zur konkreten Stellvertretungs- und allgemeinen Antizipationsfunktion PFENNIG
(wie Anm. 13), S. 215f.; allgemeiner als Vorwegnahme des Zukünftigen KNAPP (wie Anm. 12), S. 59; auf die Handlungslogik konzentriert KOKOTT (wie Anm. 6), S. 275f. Als symbolische Konfliktlösungsstrategie akzentuiert den Stellvertreterkampf Udo FRIEDRICH, Diskurs und Narration. Zur Kontextualisierung des Erzählens in Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘, in: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, hg. v. Jan-Dirk MÜLLER unter Mitarbeit v. Elisabeth MÜLLER-LUCKNER (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), München 2007, S. 99-120, hier S. 108f. 35 Vgl. dazu Gérard GENETTE, Die Erzählung, 2München 1998, S. 214f., der festhält, daß Beschreibungen nicht unbedingt als narrative Pausen aufgefaßt werden müssen.
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09), sich darüber ein leuchtend grüner Brustharnisch befindet (3710-19), der vom einem geradezu brennenden Rot seines samtenen Waffenkleides gerahmt wird (3734f.), und die Gesamtwirkung der Lichterscheinung wiederum erst durch die Reaktion des Publikums vollends verdeutlicht werden kann (ez wart ûf ihn gekapfet / mit liehten ougen spiegelvar, 3788f.). Sein Wappen und seine Zimierde bezeichnen vielmehr die Wirkung der Schönheit, denn sie nehmen genau jenen Mythos auf, an dem Venus zuvor das Dilemma der Minne zu Helenas Schönheit angedeutet hatte: Hector tritt an im Zeichen der Sirene, das selbst wiederum sowohl als Sicht- als auch als Klangkunstwerk erscheint: er hete ûf sînem helme daz houbet der S!rênen clâr, daz truoc von golde reidez hâr, und ein antlitze silberîn, die beide gâben liehten schîn ûf der grüenen heide breit, ouch clanc daz hâr von golde reit, sô der helm gerüeret wart, nâch maniger süezen schellen art, diu vil schône ist worden lût. (3776-85) Das Bildnis der Sirene ist nun genau wahrnehmbar, aber eben deshalb, weil das Bild zuerst ein Zeichen ist. Ausdrücklich wird das Sirenenbildnis als etwas bezeichnet, was den Klang sichtbar macht: Es visualisiert wie die Schrift ein gedœnes bilde (3741). Das Sprachbild steht für das Klangbild wie das geschriebene Wort. Insgesamt bezeichnet das Bildnis der Sirene damit die Aporie der visuellen Überfülle in der Narration und kommt durch diese Zeichenhaftigkeit zu seiner eigenen Bildhaftigkeit. Das hieße allgemein in Umkehrung des bisherigen Dilemmas der literarischen Wahrnehmung: Die Bilder des Textes werden erst wahrnehmbar, wenn sie selbst als sprachliche Zeichen begriffen sind. So wie es keine einfache Perzeption eines realen Bildes geben kann, weil die bloße Sinneswahrnehmung die Schemagebundenheit und die Verweisstruktur des Bildes übersieht und damit noch gar keinen Bildbegriff zuläßt,36 so kann die literarische Darstellung eines Bildes nur die Schemagebundenheit und die Verweisstruktur der Bildwahrnehmung ansprechen, ohne daß eine visuelle Perzeption im Bereich der sprachlichen Zeichen und der Schrift überhaupt möglich wäre. Die literarische Ästhetik kennt keine elementare Aisthesis. Denn auch hier gilt: Eine einfache Perzeption des geschriebenen Textes vernimmt nur die Sichtbarkeit der Schrift, wie auch eine einfache Perzeption eines gesprochenen Textes nur Wort36 Vgl. Rudolf ARNHEIM, Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges.
Neufassung, ins Deutsche übertragen v. Hans HERMANN, Berlin-New York 1978, zur Funktion der aktiven Wahrnehmung für den Bildbegriff bes. S. 5, 20, 46, zur Schemagebundenheit bes. S. 163.
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klänge vernimmt, und in beiden Fällen kommt der Text noch nicht auf seinen Begriff.37 Doch ebenso wie die Wahrnehmung des Bildes erst mit dem Verständnis seiner Verweisstruktur ansetzt, ermöglicht es die Zeichenhaftigkeit des Bildes wiederum, das Bild über das Sprachkunstwerk zur Erscheinung zu bringen. Obwohl das Sichtbare im Erzähltext also nirgends gegeben ist, kann es doch im Rahmen einer Verweisstruktur animiert werden: Der Text wiederholt allein die Zeichenstruktur des Bildes und macht so Bilder unter Aussparung der visuellen Perzeption wahrnehmbar. Im Sinne dieser immanenten Bewegung verweisen im ‚Trojanerkrieg‘ Bilder und Akteure der Diegese aufeinander. So setzt sich in der Gestalt des Peleus vor allem dieser Bezeichnungsvorgang des Visuellen fort. Zur Lichthaftigkeit des Hector passt die Inszenierung seines Gegners Peleus genau, aber dies ist nicht so sehr eine Frage der einfachen Farbwirkung, sondern vor allem wiederum die des Wappentieres und der Zimierde. Die Waffen des Peleus sind zwar ganz konkret göttlichen Ursprungs, seine von Vulcanus selbst geschmiedete Rüstung wird in den Farben bzw. Tinkturen Schwarz, Rot, Silber und Gold beschrieben. Seine Zimierde ist indes selbst zeichenhaft: Er trägt nämlich den Adler, also jenes Tier, das in der mittelalterlichen Auslegungstradition für seinen lichtvollen Blick bekannt ist, das einzig die Strahlkraft der Sonne zu ertragen vermag. Daß es auf diese Bedeutung besonders ankommt, akzentuiert die konkrete Gestaltung des Adlers. Seine Augen werden ausdrücklich hervorgehoben: Das Tier besitzt zwei wunderliche[…] ougen, / [...] / ûz sîme kopfe brunnen / zwêne karvunkelsteine. / seht, alsô kam der reine / Pêleus ze velde (3844-49). Die Lichtwirkung des Karfunkelstein-Auges in der Zimierde des Adlers macht zeichenhaft deutlich, daß dieser Gegner der Lichterscheinung Hectors trotzen kann. Wenn dabei das Publikum des Textes vom Erzähler aufgefordert wird, sich wie das Publikum des erzählten Festes zu verhalten, nämlich den Auftritt des Kämpfers zu sehen (vgl. 3848f.), so kann dieser Visualisierungsvorgang nur dann erfolgreich sein, wenn die Zeichenhaftigkeit der Bildwahrnehmung grundsätzlich begriffen ist. Hector oder Peleus zu ‚sehen‘, das ist kein Appell an das Publikum, sich zwei Kämpfer farbig als Summe von Sinnesdaten auszuphantasieren. Vielmehr geht es darum, sich das Wahrnehmungsproblem der Geschichte als bildlichen Zeichenprozeß vorzustellen. Nach dieser Einleitung des Kampfes ist es verständlich, wieso dessen Darstellung eine ambivalente Struktur aufweist. Einerseits wird der Streit als hart und bis auf den Tod gefährlich geschildert, bluot, schûm unde sweiz (3897) fließen, einem Pferd wird der Schädel gespalten und die Helden kämpfen bis zur völligen Erschöpfung. Andererseits hat dies die schönste Farbwirkung: Die blitzen37 Für die aus dem Zeichenbegriff hervorgehenden bzw. ihn hervorbringenden medialen
Kriterien wäre anzuschließen an Peter STROHSCHNEIDER, Textualität mittelalterlicher Literatur. Eine Problemskizze anhand des ‚Wartburgkrieges‘, in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. v. Jan-Dirk MÜLLER u. Horst WENZEL, Stuttgart-Leipzig 1999, S. 19-41.
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den Waffen erzeugen einen leuchtenden Funkenflug (3958-61), das aus den Schilden geschlagene rot-leuchtende Gold (3975) wird zu einer Blumensaat, welche die von den Kämpfern zertretenen Blüten des Maies ersetzt (3986-93). Und wieder werden die visuellen Effekte durch die homodiegetischen Rezipienten als solche markiert (des nâmen die götinne war / mit vlîzeclichen ougen, 3978f.). Folglich hat es auch einen Doppelsinn, wenn der Erzähler später erklärt, des wart ze fuoze ein strît vernomen, / der schœnste, den man ie gesach. (4070f.) Der gefahrvolle Kampf erzeugt einen schönen Anblick, aber dieser Anblick bildet eine erkennbare Differenz zur Auseinandersetzung, weil die sprachlich thematisierten visuellen Werte den Kampf bezeichnen und ihn nicht im naiven Verständnis einer neuzeitlichen Bildsimulation abbilden. Die Handlung selbst kann darum auch durchaus konventionell erzählt werden, soweit es um Sieg und Niederlage in der Geschichte geht. In diesem Sinne nimmt das Publikum ebenfalls großen Anteil am Hin und Her des Kampfglücks (4128-46; 4260-73). Aber sogar was sich in dieser erzählten Handlung an Gestalten begegnet, die Akteure, die den Konflikt durchspielen und entscheiden, sie sind letztlich und ausdrücklich Bilder. Als die Kämpfer aufeinander zustürzen, heißt es nämlich: si kâmen snurrend als ein pfîl, der snellet ûz der nüzze. man seit, daz nie geschüzze sô balde ein tracke wilde, sô drâte ir zweiger bilde kam ûf den orsen dar geflogen. (3922-27) Wo sonst als in der Rede vom bilde ist der Text beim Wort zu nehmen?38 Die Semantik des mit knapp 150 Belegen schon quantitativ auffällig häufigen Wortes läßt sich beschreiben, wenn man von der Beobachtung ausgeht, daß Konrad dann, wenn andere Autoren zur Bezeichnung eines Akteurs im Geschehen um38 Dies gilt insbesondere in Ergänzung zu den wiederholten Feststellungen einer mehrdeu-
tigen Semantik von Schrift- und Bildbezeichnungen bei Horst WENZEL, Schrift und Gemeld. Zur Bildhaftigkeit der Literatur und zur Narrativik der Bilder, in: Bild und Text im Dialog, hg. v. Klaus DIRSCHERL (Passauer Interdisziplinäre Kolloquien 3), Passau 1993, S. 29-52, hier S. 29-39; DERS., Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 292-296; DERS., Schrift und Bild. Zur Repräsentation der audiovisuellen Wahrnehmung im Mittelalter, in: DERS., Höfische Repräsentation. Symbolische Kommunikation und Literatur im Mittelalter, Darmstadt 2005, S. 182-204 (zuerst 1993), S. 187f.; in jüngerer Zeit zu bilde, auf Wenzels Paradebeispiel Thomasin von Zerclaere bezogen, DERS., Sagen und Zeigen. Zur Poetik der Visualität im „Welschen Gast“ des Thomasin von Zerclaere, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 125, 2006, S. 128, hier S. 6-9; DERS., Erzählende Bilder und bildhafte Literatur. Plädoyer für eine TextBildwissenschaft, in: Iconic Worlds. Neue Bilderwelten und Wissensräume, hg. v. Christa MAAR u. Hubert BURDA, Köln 2006, S. 232-250, hier S. 234-237.
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schreibend lîp verwenden, mit Vorliebe bilde verwendet. Die auch sonst belegte mittelhochdeutsche Grundbedeutung von bilde als Bildnis bzw. Bildwerk gilt auch für den ‚Trojanischen Krieg‘:39 Als bilde werden konventionell die Bildnisse z.B. auf Kleidung oder Wänden bezeichnet,40 solche Bildnisse können als (Götter-)Bild anbetungswürdig oder magisch wirksam sein.41 Die allgemeinere visuelle Wirksamkeit des Bildnisses gilt dann aber auch für die äußere Gestalt der Protagonisten: Insbesondere Paris soll dem Wunsch seines Vaters zufolge in Troja wie ein Bildschmuck fungieren, mîn hof mit sînem bilde / sol werden wunneclîche erlûht. (3406f.) Vor diesem Hintergrund erweist sich, daß die häufige Bezeichnung der Akteure als bilde diese nicht nur einfach von ihrer äußeren Erscheinung her akzentuiert, – wenn Konrad präzise von körperlichen Gestalten sprechen will, verwendet er statt bilde das Wort figûre –42 sondern deren Erscheinungsqualität ganz in den Vordergrund rückt. Das bilde wird deshalb auch, in der Vorgeschichte des Paris und insbesondere in der Verkleidungsgeschichte des Achilles, im Spiegelbild seinem klassischen Reflexionsmedium zugeführt (477, 28370, 28490, 28540), in dem deutlich wird, daß sich diese Erscheinungsqualität des bildes durch seinen Verweischarakter konstituiert, der es vom Abbild unterscheidet. Seine Verweisfunktion zeigt sich in den Möglichkeiten der Täuschung durch einen oberflächlichen Gestaltwandel, zunächst an der Protheusfigur (4515, 4525), vor allem aber anhand des (wîplich) bilde,43 das Achilles bietet. D.h. bilde ist im ‚Trojanischen Krieg‘ alles, was sich in besonderer Weise der Betrachtung darbietet und eine Verweisbeziehung des Sichtbaren mit einer Bedeutung anknüpft. Darum ist auch der Text selbst ein bilde: Er wird zum Vorbild (264, 284, 18592, 29965) für den Rezipienten, weil auch seine Bilder durch Zeichen konstituiert werden. Diese Verweisbeziehung ist im bilde Helenas besonders intensiv. Helenas Erscheinung ist geradezu ein Phantasma des Paris und seines Begehrens, das mit dem Plan, Helena konkret zu erringen, dynamisiert wird: der troum von sînem bilde 39 Vgl. zum sonstigen Gebrauch das Lemma ‚bilde‘ in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch
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(wie Anm. 30), Bd. 1, S. 120; LEXER (wie Anm. 30), Bd. 1, Sp. 273f.; GÄRTNER u.a. (wie Anm. 30), S. 46. Vgl. auch die Diskussion bei Timothy R. JACKSON, die voegle sam si vlügen. Topoi und Erzählmotive in der künstlerischen Darstellung der Natur, in: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997, in Zusammenarbeit mit Frank FÜRBETH u. Ulrike ZITZELSPERGER hg. v. Alan ROBERTSHAW u. Gerhard WOLF, Tübingen 1999, S. 41-52, bes. S. 46-52. Der Beleg des ‚Trojanischen Krieges‘ V. 3926 unter der Rubrik ‚äußeres Ansehen, Gestalt, Person‘ in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch, hg. v. Kurt GÄRTNER, Klaus GRUBMÜLLER u. Karl STACKMANN, Bd. 1, Lfg. 4: besingen – bluotekirl, bearb. v. Kurt GÄRTNER u.a., Stuttgart 2007, Sp. 799. 3051, 3056, 17441, 17647, 17651, 17661, 17670, 30019. 870, 9094, 9101, 9120, 9290, 9296, 9592, 17674, 17661, 17670. Vgl. 1308, 3035, 4547, 5675, 5852, 9109, 9301, 9642, 15655, 17654, 19823, 39270, synonym dazu auch forme 5854, die forme und die figûre 29571. 13963, 14212, 14283, 14337, 14374, 14384, 14393, 14438, 14444, 14467 u.ö.
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/ war êrst z’eim ende vollebrâht / dô dirre verte was erdâht (23658-60). Damit ist das bilde hier paradox definiert: Das bilde ist das stets ferne Ziel des begehrlichen Blickes.44 Weil es sich in der Distanz konstituiert und eine endlose Annäherungsbewegung provoziert, die im Ergreifen der konkreten Gestalt nicht zu haben ist, ist es wiederholt im Reim als wilde charakterisiert: In der wildekeit des Sichtbaren ist das Bild gegeben und doch flüchtig. Es liegt in der Konsequenz dieser Dynamik, das bilde ausdrücklich nicht mit der statischen Materialität eines Bildträgers zu verwechseln, es ist in diesem Sinne ausdrücklich kein Gemälde, denn im Unterschied zum lebendigen Bild ist das materielle Gemälde statisch und tot: nû seht, wie von den wenden erschîne ein tôt gemælde blint, swâ lebende crêâtiure sint, sus wâren alle varwe tôt unde erloschen garwe, sô man ir lebendez bilde kôs. (19715-19) Auf die anfängliche Kampfsituation der Bilder von Hector und Peleus übertragen heißt das: Die Akteure kommen nur als Ansichten im Text zur Erscheinung. Weil sie darin dezidierte Erzeugnisse des Textes sind, haben diese Ansichten den medialen Status des Bildes zwischen materialer Sichtbarkeit und konkreter Dinglichkeit. Der Kampf ist also in praktischer Hinsicht auf die Handlung eine Auseinandersetzung von Hector und Peleus, aber er ist auch und zuerst ein Kampf der Bilder. Deren Bildhaftigkeit wird allerdings erst erreicht, wenn sie selbst als visualisierte Zeichenkomplexe begriffen werden, die gerade keine direkt sichtbaren Abbildungen von Akteuren sind. Als eine solche Bezeichnung des Sichtbaren liefert die Darstellung also keine Simulation der sichtbaren Welt, sondern eine Stimulation einer Bildvorstellung, die nicht mimetisch, sondern zeichenhaft ist.
4. Die Schlacht als Bildereignis und narratives Zentrum Das Modell des Einzelkampfes wiederholt eine Schlacht in großem Maßstab, sie kompliziert damit seine narrativen und visuellen Möglichkeiten. In Konrads ‚Trojanischem Krieg‘, der eingangs bereits als ein überflüzzeclich[…] hort / von strîte (291f.) bezeichnet wird, weil er von der größten Schlacht aller Zeiten handelt (292f.), hat sich das Modell der ästhetischen Narration folglich gerade an der großen Kampfschilderung zu bewähren. Die Ästhetisierung beginnt darum 44 Vgl. dazu passend in der Umkehr die Bezeichnung des Ungeheuerlich-Widerwärtigen als
unbilde (6177, 6349, 7445, 9390, 9861, 10825, 10853, 13659, 14075, 14151, 14423, 16322, 21576, 28956, 32927, 34372, 36361, 38976, 39758).
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schon mit dem Ort der Kampfhandlung: Nach der ersten Zerstörung durch die Griechen (11391ff.) ist Troja von Priamus als ein Schauwunder wiedererrichtet worden, dessen Beschreibung durch den Erzähler nur deshalb dem konkreten visuellen Eindruck in der Diegese gerecht wird, weil der überwältigende Sinneseindruck in Intensität umgesetzt wird: Die Anlage der Stadt läßt sich, wie bei Benoît vorgegeben (RTr 2977-3186), präzise beschreiben (17336-391), die Farben und das Aussehen der verwendeten edlen Materialien lassen sich in diese Beschreibung eintragen (17392-417).45 Aber dies führt nicht etwa zu einem konkreten Raumkonzept, sondern es läuft auf eine visuelle Gesamtwirkung zu, welche die Möglichkeiten der Wahrnehmung wiederum in charakteristischer Weise überfordert: reht als ein irdisch paradîs diu stat erwünschet dûhte, wan si gar schône lûhte von rîchen dingen manger slaht. (17444-447) Die entdifferenzierende Gesamtwirkung der sprachlichen Visualisierung spiegelt sich in dem reichen Bilderschmuck der Häuser der Stadt (17441), dem figürlichen Schmuck der Fenster, in der in ihrer Farbigkeit glänzenden Halle des Königs (17512-521) und zuletzt in der Leuchtkraft der in Silber und Gold gefaßten Götterbilder des Palastes (17646-657). Diese Bilder können angesprochen werden, sind aber nun auch in ihrer Gesamtwirkung schwierig zu vermitteln. Das Bildensemble erzeugt keinen räumlichen Eindruck, es löst ihn auf. Diese Schwierigkeit ist im Rahmen der Erzählung bezeichnend: In ihrem visuellen Reichtum wirken die Ansichten der Stadt so überfüllt wie das Geschehen des Trojanischen Krieges als überkomplex erscheint. Und wiederum macht ein Kunstwerk im Erzählkunstwerk den ästhetischen Status des Ganzen deutlich: Die besondere visuelle Wirkung Trojas kommt pointiert im Inneren der Stadt noch einmal in dem wundersamen Vogelbaum rîlich unde wunnesam (17573) zur Geltung, der, in konzentrierter Überbietung der Quelle, von Konrad nicht nur in seiner Fähigkeit, auf mechanische Weise die schönste Musik hervorzubringen, gepriesen wird (17582-585), sondern auch als ein beglückendes Schaukunstwerk zur Darstellung kommt.46 Die auf ihm dargestellten Vögel sind nicht zuerst 45 Dazu der detaillierte Vergleich bei LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 92-94. 46 Vgl. dagegen die Reihe der verschiedenen Automaten bei Benoît (RTr 14711-918). Zur
Tradition der Automatendarstellung Ulrich ERNST, Zauber – Technik – Imagination. Zur Darstellung von Automaten in der Erzählliteratur des Mittelalters, in: Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. Klaus GRUBMÜLLER u. Markus STOCK (Wolfenbüttler Mittelalter-Studien 17), Wiesbaden 2003, S. 115-172, zu Konrad hier S. 153. Vgl. zuvor ausschnittartig, dafür mit der älteren Literatur: Christoph FASBENDER, rehte alsam er lebte. Nachbildung als Überbietung der Natur in der Epik des Mittelalters. Anmerkungen zu Texten und zu interpretatorischen Konsequenzen, in: Na-
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Klangkörper, sie sind Schauobjekte, denn sie glänzen in allen Farben, wîz, brûn, gel, rôt, grüen unde blâ / diu vögellîn drûf glizzen. (17586f.) Und zur Gesamtwirkung heißt es: der boum und das gestüele was sô wol gewürket, als ich las, daz alle die des jâhen, die ez mit ougen sâhen, sô kürlich werc enwürde nie geworht ûf al der erden hie. (17619-624) Aber auch nach außen ist die Stadt auf Visualität hin angelegt: Der wunderbare Turm der Stadt ist nicht nur selbst ein Schauobjekt, weil auch er bildgeschmückt ist (17469-71), der Turm ist auch ein Aussichtspunkt, von dem wiederum die Welt um Troja herum betrachtet werden kann: die burger mohten schouwen ab sînen hôhen zinnen, swes ieman dâ beginnen kund in dem lande und ûf dem mer. (17472-475) Das heißt: Die Stadt Troja ist ein Bildereignis mit einer zeichenhaften Verweisfunktion, das selbst für den Charakter der Visualisierung dessen steht, was sich vor Troja ereignet. Die Stadt besitzt eine visuelle Überfülle, angesichts deren die Vorstellungen des Bildes als Abbild des real Sichtbaren und des Raumes als fester Orientierungsgröße in einen Zirkel hineinlaufen: Ebenso wie derjenige, der sich den Text als eine mimetische Darstellung zu imaginieren versucht, dem Rauschen der Farben und Bildreize letztlich blind gegenübersteht, so führt auch die Hoffnung auf konkrete bildliche und räumliche Visualisierungen angesichts der Stadt Troja zu keinem Ziel. Es entsteht vielmehr jene Verweisstruktur, ohne die vom Bild noch nicht zu reden ist, aber dies führt letztlich zu keiner konkreten visuellen Imagination, weil in ihr Bilder immer nur auf Bilder verweisen. Konrads fragmentarischer Text bricht nach der dritten Schlacht ab, wobei der zweiten Schlacht schon quantitativ das Hauptgewicht zukommt (2948237584). So wie ein Einzelkampf die Schlacht vertreten kann, so vertritt die Schlacht wiederum den Krieg als Ganzes: Die größte Schlachtschilderung, die Konrads ‚Trojanerkrieg‘ bietet, wäre damit als zentrales narratives Ereignis des Textes anzusehen. Doch gerade hinsichtlich seiner narrativen Stringenz hat dieser Textpassus in der Forschung wenig Beifall gefunden: Die Geschehensschilderungen treten derart in den Vordergrund, daß man den Ablauf der Geschichte tur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters (wie Anm. 39), S. 53-64, hier S. 59f.
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förmlich aus den Augen verliert.47 Nach dem bisher Gesagten liegt diese Gegenläufigkeit von Handlung und Visualisierung aber in der Konsequenz der Darstellung. Das Schlachtereignis böte demnach den Höhepunkt des ästhetischen Erzählverfahrens. Darum läßt es sich auch als Ziel der bildlichen Verweise betrachten, zumal die zweite Schlacht in ihrer Mitte mit dem Auftritt Helenas über den Zinnen Trojas eine Szene enthält, in der das aporetische Zentrum der Auseinandersetzung mit seinem narrativen Wirkungsmechanismus selbst zur Anschauung kommt. Die Schönheit der Venus hat zuvor das Beschreibungsvermögen des Erzählers bereits überschritten. Als Helena im Venus-Tempel auf Kythera ihrem zukünftigen Geliebten Paris begegnet, gibt das dem Erzähler die passende Gelegenheit zu einer ausführlichen, über 300 Verse umfassenden descriptio, die den rhetorischen Kunstregeln folgt. In der ausführlich geschilderten, changierenden Vielfarbigkeit des bildgeschmückten Mantels der Helena enthält diese Beschreibung ein weiteres Kunstwerk im Erzählkunstwerk, das die Wirkung des Apfels der Discordia mit konkretem Blick auf die im Paris-Urteil verheißene Helenagestalt wieder aufnimmt (19908-20296, bes. 20055-199). Eben darum ist diese konkrete Beschreibung Helenas für sich genommen, trotz ihrer Kunstfertigkeit, unvollkommen. Sie steht nämlich im Kontrast zu der schon von der Parisfigur angesprochenen visuellen Unfaßbarkeit dieser Schönheit (19824-831), der ihre Unsagbarkeit durch den Erzähler entspricht (20036f.) und die letztlich dort erst ausgedrückt werden kann, wo sie in ihrer Lichtwirkung thematisiert wird, etwa mit den Worten: si kam reht als diu sunne / dort her durliuhteclichen schine / und mit ir in das tempel hine / wolt alle sterne wîsen (19880-883, vgl. 19826-831).48 Helenas Schönheit ist von blendender clârheit (19713, 19737, 19828, 19859 u.ö.) und damit im genauen Wortsinne evident, d.h. einleuchtend.
47 Zur Bildwirkung der Schlachtdarstellung und dem damit gegebenen Unterschied zur Vor-
lage schon BASLER (wie Anm. 12), S. 32f., S. 63-65. Die weiteren älteren Wertungen zusammenfassend PFENNIG (wie Anm. 13), S. 211f., der die zweite Schlacht, entgegen der eingestandenen hyperbolischen Visualisierungstechnik, durch die Konzentration auf die Handlungsebene als realistische Darstellung zu lesen und zu ordnen versucht (S. 262282), was bezogen auf die Geschehensabläufe zweifellos möglich ist, aber die Frage der erzählerischen Darstellung unterläuft. Vgl. zum Handlungsverlauf auch LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 141-162. 48 Dieses Problem akzentuiert zu Recht LIENERT, Helena (wie Anm. 14), S. 411. Vgl. zum Unsagbarkeitstopos die Belegsammlung schon bei Moses SIGALL, Konrad von Würzburg und der Fortsetzer seines Trojanerkrieges, 3 Bde. (Programm des Gr.-Or. Obergymnasiums in Suczawa), Czernowitz 1893, 1894 u. 1897, hier Bd. 2, 1894, S. 8f. Zur Technik und Tradition der Beschreibung detailliert Jean-Mark PASTRÉ, Typologie und Ästhetik: Das Porträt der Helena im ‚Trojanerkrieg‘ Konrads von Würzburg, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 397-408, der freilich die Lichtwirkung als konsequenten Abschluß des Beschreibungsverfahrens begreift und damit dem Unsagbarkeitstopos nur eine einfache Steigerungsfunktion zubilligt. Zur Überpointierung indes MÜLLER (wie Anm. 8), S. 298f.
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Diese evidente Lichtwirkung verdeutlicht, daß insbesondere Helenas Schönheit ebenso eine narrative wie ästhetische Wirkungskategorie ist. Folglich wird diese Schönheit in der Wirkung auf Paris besonders greifbar, der selbst bezeichnenderweise auf das glanzvolle Bild Helenas ‚farbig‘ reagiert: des wart er als ein regenboge geverwet von der minne der glanzen küneginne, der schœne durch sîn herze brach. wan dô sîn ouge ir bilde ersach, dô was zehant diu minne dâ und tet im kunt, daz Helenâ dâ kæme bî den stunden (19790-797).49 Diese Wirkungskategorie zeigt dann in der Schlacht ihre dilemmatische Struktur ganz praktisch.50 Helena weiß um ihre fatale Wirkung, die sie selbst ausdrücklich beklagt (33959-994). Die Fatalität ihrer Schönheit zeichnet sich als visuelles Phänomen ab, denn Helena leuchtet wie eine Sonne, die das Licht ihrer Umgebung gleichsam aufzehrt: Jeder Glanz erlischt jetzt durch ihre Strahlkraft (34072-77). Der elementare Handlungsmechanismus des Trojanischen Krieges steht so schon vor Augen und setzt sich im Kampf fort. Denn mit diesem Glanz Helenas wetteifert wiederum der Glanz der Schilde in der Schlacht, die unterhalb der Zinnen tobt (34050-67), wie auch die Schönheit Helenas die Griechen praktisch zum Kampf anspornt (34004-21). Der Kampf selbst ist wiederum ein tödlicher Glanz, denn seine Darstellung bewegt sich in einem Oppositionsverhältnis aus farbiger Schönheit und blutigem Sterben. Die Wechselwirkung der visuellen Reize, die die Sprache hier schafft, sie führt auf einen fatalen, sich selbst perpetuierenden Mechanismus. Die sprachlich unermeßliche Schönheit erzeugt ein tödliches Begehren, dessen schreckliche Folgen selbst nochmals so unermeßlich sind, daß sie nur über das Totalitätsphänomen der Schönheit angesprochen werden können. Mit anderen Worten: Das Wechselspiel zwischen sichtbarer Schönheit und tödlicher Handlung vollzieht sich nicht einfach nur auf der Handlungs- und auf der Darstellungsebene. Vielmehr werden beide Ebenen miteinander kurzgeschlossen. Nicht nur, daß das Begehren der Schönheit den Kampf auslöst, daß die visuelle Wirkung die Handlung in der Diegese vorantreibt; die Handlung selbst wird wiederum zu einem visuellen Diskurs, d.h. sie gibt nicht nur einen Eindruck von dem, was geschieht, sondern sie visualisiert zugleich den diesem Geschehen zugrundeliegenden fatalen Mechanismus. Das Bild-Ereignis ist so 49 Vgl. LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 100, die von einer „Schauszene ohne Glei-
chen“ spricht.
50 Vgl. MONECKE (wie Anm. 8), S. 131f.
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eine Art Bild-Rede, es gewinnt durch diese Verschränkung der Ebenen die Struktur der Metapher. Diese Struktur begründet damit so etwas wie den ‚Master-Tropus‘ des Textes. Die metaphorische Grundverfassung des ‚Trojanischen Krieges‘ läßt sich auch ganz am Ende des Textfragmentes noch einmal sehr gut fassen, denn hier findet auch noch der Erzähler in der Handlung sein Gegenstück: In den Kämpfen von Hector und Achill wetteifern diese beiden Kämpfer geradezu mit dem Erzähler, sie werden nämlich mit ihren Schwertern zu Malern des blutigen Schlachtgemäldes von Troja: si kunden beide mâlen / mit bluote ûf dem gevilde / vil jæmerlicher bilde. (40128-130) Und damit erzeugen sie wiederum ein Paradox, das der Lichtwirkung des Textes und der Schönheit, wie der Erzähler sie zu fassen versucht, genau entgegensteht. Denn die Bilder, die Hector und Achill malen, führen nicht, wie die Sprache des Erzählers, ins Licht, vielmehr führen sie in die Dunkelheit: Der Dampf des Blutes und der Toten in ihrem Gemälde verfinstert schließlich die Farbwirkung, die sich gleich in der Mischung der Farben selbst nochmals auflöst: dô wart vil heizez bluotes gemenget under kalten sweiz. diu wolken und der lüfte kreiz dâ wurden tunkel dur den rouch, der von den tôten liuten ouch hôh über sich ze berge dampf. dâ schuof der angestbære kampf, daz sich dô manic schilt zercloup, dar ûz die liehte varwe stoup, wîz, brûn, gel, rôt, grüen unde blâ und einen nebel mahte dâ mit ir gestüppe manicvalt. (40146-157) Natürlich müssen diese ‚Maler‘ im Geschehen dem Erzähler unterlegen sein, denn der Erzähler überblickt im Gegensatz zu ihnen das Ganze der Geschichte, deren Sinn den nur perzipierenden Beteiligten ebenso dunkel bleibt, wie sie die Lichtwirkung der eigenen Farbmalerei schließlich selbst zunichte machen. Im Gegenzug kann indes der Erzähler das Sinnpotential dieses Ganzen ansprechen, freilich auch er nur mit Hilfe seiner zentralen Metapher. So wie der Text aufs Ganze gesehen als Umsetzung einer erzählten Handlung in Bildrede erscheint, so zeichnet sich im konkreten Metapherngebrauch, der bis zur Metaphorisierung des Textes selbst reicht, die Bedeutung des narrativ nicht zu bewältigenden Krieges ab. Am Ende der großen Schlacht tritt deshalb noch einmal die zentrale Metapher des Textes hervor. Der Erzähler gibt zu, daß sein Bericht von der Schlacht nur unvollständig sein kann, denn er bricht seine ausführlichen Namensnen-
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nungen schließlich ab, weil er nicht alle Namen zu nennen weiß (36850-855).51 Um aber die Fülle dennoch zu erfassen, muß er zur bildlichen Rede greifen, die den Figuren keine Kontur mehr gibt.52 Es kommt zu einer visuellen Apotheose aus Leib und Licht, deren Schönheit zugleich ein mortlich jâmer (36938) ist, der sich über das Bild des Feuers mit seiner verzehrenden Lichtwirkung erfassen läßt: dô möhte ein glanz gestirne ûz niuwen flammen sîn geborn. man schriet dâ leder unde horn, golt, silber, îsen unde bein. (36912-915) Die Bedeutung des Kampfes ist in der Licht- und Flammenwirkung zu sehen, die das Erzählen von ihm beschwört. Damit kommt der Text auch hier wiederum auf jene Leitmetapher zu sprechen, die den Text bei der Beschreibung aller prägnanter Lichtphänomene durchzieht: das Feuer, in dem Troja schließlich untergeht.53 Der Brand Trojas, von dem im ‚Trojanerkrieg‘-Torso Konrads nicht mehr erzählt wird, er ist in der zerstörerischen Lichtwirkung, die als Feuer angesprochen wird, im Text schon von Hecubas Traumbild an überall zu sehen. So führt nicht nur die Minnehandlung um Helena, alle im Text vorkommenden Minnehandlungen führen ihre männlichen Protagonisten ins Feuer. Jason findet bei Konrad, in Umakzentuierung der Vorlage, als Folge seiner Untreue gegenüber Medea den Tod in den Flammen. Überboten wird dies durch den Tod des 51 Das Verfahren mag an die Historiographie gemahnen, wie Albrecht JÜRGENS, Über den
Umgang mit ‚Geschichte‘ in Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘-Fragment, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 431-442, hier S. 440, vorschlägt, aber das unterstreicht im ästhetischen Zusammenhalt des Textes gerade nicht den Anspruch auf eine faktische Historizität, der schon den neuzeitlichen Geschichtsbegriff vorwegnähme. Auf der ambivalenten Position zwischen Geschichtsschreibung und Literatur vor der Etablierung des neuzeitlichen Geschichtsdenkens insistiert deutlicher die Skizze von Joachim KNAPE, Geschichte bei Konrad von Würzburg, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 421-430. LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 314-318, schlägt konkreter von der allgemeinen Exemplarizität der Einzelhandlungen die Verbindung zur Historizität der materia des Trojanischen Krieges. 52 Die ästhetische Auflösung und der damit verbundene Unterschied zu einer traditionellen descriptio, die sich in den Dienst einer historiographischen Schilderung stellen ließe, mag das genau komplementäre Beschreibungsverfahren von Benoît zeigen, der an anderer Stelle Namenskataloge mit Figurenschreibungen zu anschaulichen Portraitkatalogen kombiniert (RTr 5093-5582). 53 Vgl. LIENERT, Helena (wie Anm. 14), S. 417f.; DIES., Geschichte (wie Anm. 12), S. 36, 207f., 249f., 274, 308; DIES., Deutsche Antikenromane (wie Anm. 4), S. 128. Zum Material auch die allgemeine Erhebung durch SIGALL (wie Anm. 48), S. 24-46, der für den Text insgesamt 505 Metaphern und 464 Vergleiche gezählt hat, sowie einzelne Hinweise bei Elisabeth RAST, Vergleich, Gleichnis, Metapher und Allegorie bei Konrad von Würzburg, Würzburg 1936, S. 6, S. 28f.
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Hercules, der, als er begreift, daß er durch das Gewand des Nessus innerlich verbrennt, aus seiner Reflexion über das eigene Minnevergehen gegenüber Deianira sogar selbst den Tod in den Flammen wählt. Hector und Achilles entfachen im Zusammenspiel mit den Lichterscheinungen von Helena und Polyxena vor Troja das Feuer des Kampfes, das Troja insgesamt lichtvoll verzehren wird: Dieses Feuer ist damit keine Visualisierung des Geschehens um Troja, es fungiert als Repräsentation seiner Bedeutung. Vielleicht auch deshalb vergleicht die Autorfigur des ‚Trojanischen Krieges‘ seine Tätigkeit maßgeblich mit der Selbsterneuerung des Phönix (32-53), der durch das Feuer wiedergeboren wird. Dieser Initialvergleich führt jedenfalls im Prolog auf die Lichtmetapher: Die Kunst Konrads soll ein anderes Licht sein als jenes, von dem sich die Fledermaus in der Nacht täuschen läßt, obwohl es sich nur um den Widerschein handelt, den ein feuchtes, faules Holz gibt (153-169). Konrads Erzähler will wie eine vom Laub verdeckte Nachtigall (192-211) selbst unsichtbar und selbstgenügsam singen und gerade dadurch eine materia von hoher Dignität über sprachliche Brillanz ästhetisch-visuell zugänglich machen: das alte buoch von Troye / […] erniuwen / mit worten lûter unde glanz (269-275) zu einem sælic bilde (284).54 Zusammen mit der Troja-Formel vom Anfang des Textes könnte sich demnach ein Hinweis auf den Master-Tropus und seine Bild erzeugende Funktion anbahnen, unter dem das ästhetische Konzept des ganzen Textes zu fassen wäre. Um der unaussprechlichen Schönheit Helenas willen wird nicht nur gestorben, um der unaussprechlichen Schönheit willen wird auch erzählt. Weil die Schönheit nicht direkt wahrgenommen und nicht sprachlich beschrieben, sondern nur durch das Begehren und seine narrativen Folgen begriffen werden kann, geht es nicht um die Visualisierung eines Geschehens, sondern um die Visualisierung eines ebenso narrativen wie ästhetischen Wirkungszusammenhangs. In der sprachlichen Figur der Metapher ist dieser Wirkungszusammenhang begriffen. Die Sinnfülle des Ereignisses des Trojanischen Krieges wäre so sprachlich sichtbar. 54 Zum Prolog allgemeiner Trude EHLERT, Zu Konrads von Würzburg Auffassung vom
Wert der Kunst und von der Rolle des Künstlers, in: Jahrbuch der Oswald-vonWolkenstein-Gesellschaft 5, 1988/89, S. 79-94, bes. S. 90f., mit der älteren Forschung. Zum erklärten ästhetischen Programm Konrads am Beispiel des ‚Partonopier‘-Prologs grundsätzlich Walter HAUG, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 21992, S. 356f. Die übliche Akzentuierung des Konrad eigenen ästhetischen Autonomiepostulats, das in der erneuten Verwendung des Nachtigallenvergleichs (192-211) steckt, ist demnach mit KELLNER (wie Anm. 3), S. 253f., 258f., festzuhalten. Die Pointe in der Reihe der Sichtbarkeitsvergleiche wäre – um der Spur zu folgen, die MÜLLER (wie Anm. 8), S. 295f., zu den Lichtbezeichnungen im Prolog gelegt hat – aber zudem darin zu sehen, daß Konrad die Nachtigall in seinem Vergleich gerade dann singen läßt, swenn über si gestürzet / wirt ein gezelt von loube (196f.), und das Nicht-Bild des dem Blick entzogenen Vogels gegenüber dem Publikum mit der Aufforderung seht (206) auf sich bezieht: Es geht schon hier um die Paradoxie der Visualisierung im sprachlichen Medium. Die Prologbeschreibung von LIENERT, Geschichte (wie Anm. 12), S. 17-29, geht auf die Bildlichkeit nicht ein.
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5. Wahrnehmung zwischen Wort und Bild? Wenn man diese Interpretation des ‚Trojanischen Krieges‘ wenigstens dem Grundsatz nach akzeptiert, dann ergeben sich Einsprüche gegenüber einigen Vereinfachungs- und Analogisierungstendenzen, die in Teilen der germanistisch-mediävistischen Diskussion zum Themenfeld der ‚literarischen Wahrnehmung‘ anzutreffen sind. Diese Einwände lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: Sie betreffen den Bildbegriff, daran anschließend die Rede von der Bilderzählung und schließlich zusammenfassend den Status der Metapher als paradoxer Denkfigur wissenschaftlicher Erkenntnis. Was den Bildbegriff betrifft, so zeigt sich an einem Text wie dem ‚Trojanischen Krieg‘ geradezu programmatisch die Berechtigung der Zusammenführung von moderner Bildtheorie und Imaginationspraxis mittelalterlicher Literatur. Nur darf man, wenn man diese Berechtigung anzuerkennen bereit ist, die Figur ihrer Begründung nicht einfach vergessen, so banal sie auch sein mag: Die Bedingung der Möglichkeit textueller Bildwahrnehmung liegt gerade darin, daß Texte keine visuellen Medien sind. Die im Text erzeugte Bildimagination arbeitet von vornherein in jenem phänomenalen Zwischenraum der schematischen Erzeugung intentionaler Werte und ihrer Bedeutungen, den die moderne Bildtheorie als Kern des Bildbegriffs ausgemacht hat.55 Schon zur wirkungsgeschichtlichen Anpassung der historischen Texte an die aktuellen Wahrnehmungskonventionen wäre folglich die Verwendung aktueller Bildtheorien nützlich, aber dies setzt grundsätzlich voraus, daß die theoretisch unterschiedlich akzentuierten, gleichwohl allgemein gültigen Grundunterscheidungen nicht schon deshalb unausgesprochen unterlaufen werden, weil man sich angesichts 55 Vgl. zur Übersicht Oliver Robert SCHOLZ, Art. Bild, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. v.
Karlheinz BARCK u.a., Bd. 1: Absenz-Darstellung, Stuttgart-Weimar 2000, S. 618-669. Daran anschließend hat Lambert WIESING, Die Hauptströmungen der gegenwärtigen Philosophie des Bildes, in: DERS., Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1737), Frankfurt a.M. 2005, S. 17-36, ergänzend zur Unterscheidung der aktuellen bildtheoretischen Entwicklung in eine semiotische und phänomenologische Richtung die besondere Akzentuierung der anthropologischen Bildtheorien als dritten Weg der Bildtheorie markiert, was sowohl mit Blick auf den Artikel von Scholz sinnvoll erscheint, da dieser selbst mit der anthropologischen Sicht eröffnet, als auch hinsichtlich der mediävistischen Diskussion durch den Einfluß der kunsthistorischen Schriften von Hans BELTING, besonders: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft (Bild und Text), München 2001, bes. S. 11-55. Als philosophischanthropologische Grundposition mit stärker hermeneutischer Ausrichtung zuvor Hans JONAS, Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens, in: Was ist ein Bild?, hg. v. Gottfried BOEHM (Bild und Text), München 1995, S. 105-124. Die Unterschiede zwischen den europäischen und insbesondere deutschen bildtheoretischen Grundpositionen und dem daneben etablierten angloamerikanischen Visualtätsdiskurs betont Gustav FRANK, Textparadigma kontra visueller Imperativ: 20 Jahre Visual Culture Studies als Herausforderung der Literaturwissenschaft. Ein Forschungsbericht, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 21, 2006, S. 26-89.
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des abstrakten Untersuchungsobjektes ‚Text‘ immer schon auf der theoretisch sicheren Seite wähnt. Jedenfalls kommt es gerade bei einigen Verfechtern moderner Theorie-Importe zu Gleichsetzungen, die nicht nur den Widerspruch einer eher traditionell-philologischen Textbetrachtung herausfordern, sondern auch der modernen Theoriebildung nicht recht angemessen sind.56 So ist es zum Beispiel ein Selbstwiderspruch, zunächst den kategorialen Unterschied zwischen Bild- und Textmedien festzuhalten, auf dem das komplementäre Verhältnis der Textualität des Bildes und der Bildlichkeit der Texte beruht und auf dessen Grundlage folglich die Analyse von Bildbeschreibungen erst sinnvoll wird,57 dann aber durch die Analogisierung der Begriffe ‚Bild‘ und ‚Spiegelung‘ jene Differenz zwischen Bild und Abbild einzuebnen,58 auf die es im Anschluß an den kunsttheoretischen Bildbegriff gerade ankommt. Dies gilt umso mehr, als diese Differenz in der Kunst- und Bildtheorie verschiedentlich gerade am Problem des Spiegels und der Spiegelung erörtert wurde.59 Auch eine genauere Orientierung an der historischen Semantik des Wortes bilde macht eine solche Vorstellung schwierig. Die Folge der Analogisierung von Bild und Abbild zeigt sich dann im Umgang mit den klassisch-rhetorischen Vorgaben, wenn nämlich der Begriff der evidentia irrtümlich als Beleg für ein Abbildverhältnis 56 Vgl. die Einwände in der Rezension des Bandes: Beweglichkeit der Bilder. Text und Ima-
gination in den illustrierten Handschriften des „Welschen Gastes“ von Thomasin von Zerclaere, hg. v. Horst WENZEL u. Christina LECHTERMANN (pictura et poesis 15), KölnWien-Weimar 2002, durch Michael CURSCHMANN, Interdisziplinäre Beweglichkeit – Wie weit reicht sie?, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 123, 2004, S. 109-117, der aus streng fachdisziplinärer Sicht nachdrücklich auf sachliche Fehler und nicht zuletzt auf die Diffusion des Bildbegriffs hingewiesen hat (S. 116). Daraufhin die Reaktion von Horst WENZEL, Sagen und Zeigen (wie Anm. 38), bes. S. 5, Anm. 11, die sich im wesentlichen mit pauschalen Hinweisen auf neuere bildwissenschaftliche Grundannahmen munitioniert, deren genaue Applikation aber schuldig bleibt. Vgl. auch die harsche Kritik an der Forschungsentwicklung von Norbert OTT, Word and Image as a Field of Research: Sound Methodologies or just a Fashionable Trend? A Polemic from a European Perspective, in: Visual Culture and the German Middle Ages, hg. v. Kathryn STARKEY u. Horst WENZEL (The New Middle Ages), New York 2005, S. 15-32, in der S. 17f. methodologische Defizite, ein fehlendes wissenschaftsgeschichtliches Bewußtsein bei Theorieimporten und fehlende interdisziplinäre Überblicke moniert werden. Vgl. zuletzt die Kritik der phänomenologischen Begriffsverwendung in Anlehnung an Husserls Begriff der ‚Lage‘ durch Horst WENZEL, Einleitung, in: Visualisierungsstrategien (wie Anm. 10), S. 7-13, von Caroline EMMELIUS in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 131, 2009, S. 356-364. 57 Mit vollem Recht: WANDHOFF, Ekphrasis (wie Anm. 2), S. 4-7. 58 Ebd. S. 34f. 59 Am bekanntesten heute vermutlich BELTING, Bildanthropologie (wie Anm. 55), S. 23f. Vgl. die bildpsychologische Begründung der Unterscheidung von Abbild und Bild bei ARNHEIM (wie Anm. 36), S. 94f. Auf der Unterscheidung zwischen Bild und Abbild beruht im übrigen die Selbstreflexion des Bildes mit Hilfe des Spiegelmotivs in der bildenden Kunst: Vgl. Bernhard LYPP, Spiegel-Bilder, in: Was ist ein Bild? (wie Anm. 55), S. 411-442.
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herangezogen wird.60 Freilich geht es in der Rhetorik, wenn dort gefordert wird, Sachverhalte vor Augen zu führen, gerade nicht darum, diese einfach nur abzuschildern. Ein solches Verfahren der sprachlichen Visualisierung wäre ziemlich langweilig und damit rhetorisch unwirksam. Die pointierte visuelle Evidenz durch die clârheit bei Konrad von Würzburg weist darum nicht zufällig in die entgegengesetzte Richtung: Die evidentia zielt prinzipiell auf einen lebendigen, d.h. gesteigerten und intensivierten visuellen Eindruck, also nicht auf die Simulation von Abbildungen, sondern auf die Stimulation von dynamischen Bildprozessen im Betrachter.61 Damit soll gewiß nicht bestritten werden, daß solche Bildprozesse über den verdichteten Einsatz einzelner visueller Merkmale zu der Auffassung eines Abbildes führen können. Nur hat gerade diese Merkmalsorientierung mit einer realistischen Abbild-Auffassung zunächst offenbar wenig zu tun, der Weg zur Abbildung einer sichtbaren Wirklichkeit erweist sich vielmehr als historisch stark gestreckte Entwicklung.62 Ganz entsprechend hat auch die Frage nach dem Umgang mit den mittelalterlichen imaginationstheoretischen Vorgaben eine grundsätzlich zeichenhafte Verfassung des Wahrnehmungsprozesses deutlich werden lassen, in der sich die Vorstellung einer abbildbaren Wirklichkeit von 60 Vgl. Haiko WANDHOFF, velden und visieren, blüemen und florieren: Zur Poetik der Sichtbarkeit
in den höfischen Epen des Mittelalters, in: Zeitschrift für Germanistik n.F. 9, 1999, S. 588-597, S. 590, ausführlicher DERS., Ekphrasis (wie Anm. 2), S. 21-25, wo dieser mit Forschungsäußerungen arbeitet, in denen die essentielle Funktion der ‚Lebendigkeit‘ einer textvermittelten Augenwahrnehmung unterstrichen wird. Wandhoff mißversteht die Rede von der Lebendigkeit dann aber wenig später ausdrücklich als „Lebensechtheit“ (S. 25). Vgl. auch Horst WENZEL, Der Leser als Augenzeuge. Zur mittelalterlichen Vorgeschichte kinematographischer Wahrnehmung, in: Singularitäten – Allianzen, hg. v. Jörg HUBER (Interventionen 11), Zürich 2002, S. 147-177, hier S. 155. 61 Vgl. Hans Jürgen SCHEUER, Cerebrale Räume. Internalisierte Topographie in der Literatur und Kartographie des 12./13. Jahrhunderts (Hereford-Karte, ‚Straßburger Alexander‘), in: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, hg. v. Hartmut BÖHME (Germanistische Symposien-Berichtsbände 27), Stuttgart-Weimar 2005, S. 12-36, der sich auf den grundlegenden Beitrag von Franz Josef WORSTBROCK, dilatatio materiae. Zur Poetik des ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, in: FMSt 19, 1985, S. 1-30, berufen kann, aus dem sich dieses Konzept ableiten läßt, vgl. bes. ebd. S. 25f. zur Zeichenfunktion der Farbproportionen auf dem Zelter Enites in Hartmanns ‚Erec‘. Vgl. dazu auch den allgemeinen Überblick von Ansgar KEMMANN, Art. Evidentia, Evidenz, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert UEDING, Bd. 3: Eup-Hör, Darmstadt 1996, Sp. 33-47, hier Sp. 33 u. 39-41. Vgl. zur Illustration das an Licht- und Glanzmetaphern reiche Paradigma bei Galfred von Vinsauf: Poetria Nova, in: Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du Moyen Âge, hg. v. Edmond FARAL (Bibliothèque de l'École des Hautes Études. Sciences historiques et philologiques 238), ND. Paris 1958, S. 194-262, hier V. 562-598. 62 Vgl. grundsätzlich Dieter KARTSCHOKE, Der ain was grâ, der ander was chal. Über das Erkennen und Wiedererkennen physiognomischer Individualität im Mittelalter, in: FS Walther Haug u. Burghart Wachinger, hg. v. Johannes JANOTA u.a., Bd. 1, Tübingen 1992, S. 1-24.
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vornherein als unzulänglich erweist.63 Vor diesem Hintergrund ist die Verbindung von Bild- und Abbildbegriff prinzipiell schwierig, es sei denn, man begreift das Abbild in Umkehr des rhetorischen Verständnisses als radikale hermeneutische Kategorie, in der eine transzendente Bedeutung unmittelbar sichtbar wird.64 Erlaubt man sich dennoch eine Nivellierung des Bildbegriffs, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, auch die Metapher des Bildraumes wörtlich zu verstehen und den mittelalterlichen Texten, in Anlehnung an die Möglichkeiten computergestützter Erzeugung virtueller Räume, ein dreidimensionales Raumsystem zu unterlegen.65 Nur wiederholt dies noch einmal die problematische Analogisierung, diesmal in der Auflösung des Gegensatzes von aktiver Raumwahrnehmung und passiver Immersion.66 Nachvollziehbar ist diese vereinfachende Analogisierung insbesondere dann nicht, wenn zugleich und zu Recht die Dynamik von Visualisierungsprozessen unter dem phänomenologischen Leitbegriff der Kinästhese unentwegt betont wird.67 Vielleicht ist es deshalb nützlich, die Konsequenzen der Umsetzung des 63 Vgl. Joachim BUMKE, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis
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im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach (Hermaea 94), Tübingen 2001, bes. S. 35-76, ausgehend von den Farbzeichen der Blutstropfenszene in Parzivals Imaginationsprozeß, der zugleich modellhaft die naive Vorstellung einer direkten Wahrnehmung durchkreuzt, wie sie durch die Vertreter des Artushofes repräsentiert wird. Das im Zeichenbegriff angelegte Differenzkriterium bildet den Ausgangspunkt zu den Überlegungen zu „Wahrnehmungsstilen“ in mittelhochdeutscher Literatur am Beispiel von Konrads von Würzburg ‚Engelhart‘ durch Armin SCHULZ, Notwendige Unterscheidungen. Zur Epistemik der Sinne bei Konrad von Würzburg, in: www.germanistik2001.de. Vorträge des Erlanger Germanistentags, in Zusammenarbeit mit Petra BODEN u.a. hg. v. Hartmut KUGLER, Bd. 1, Bielefeld 2002, S. 129-142. Vgl. beispielhaft für diesen hermeneutischen Bildbegriff und zum Paradox eines transzendentalen Kontaktes den Ansatz von Bruno QUAST, Vera Icon. Über das Verhältnis von Kulttext und Erzählkunst in der „Veronika“ des Wilden Mannes, in: Mittelalter (wie Anm. 37), S. 197-216, bes. S. 198, sowie ausführlich DERS., Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit (Bibliotheca Germanica 48), Tübingen-Basel 2005, S. 1-8, zum Problem des simulacrum und seiner narrativen Auflösung S. 77-90. „Eine Vielzahl gerade der mittelalterlichen Kunst- und Architekturbeschreibungen zeichnet sich, wie bereits angedeutet, durch eine dreidimensionale Räumlichkeit aus“, WANDHOFF, Ekphrasis (wie Anm. 2), S. 34. Zur Immersion als jener Eigenschaft einer dargestellten Bildwelt, mit der diese den Betrachter in die Darstellung ‚eintauchen‘ läßt, die Differenzierungen bei Lambert WIESING, Virtuelle Realität: die Angleichung des Bildes an die Imagination, in: DERS., Artifizielle Präsenz (wie Anm. 55), S. 107-124, der einerseits deutlich macht, daß Immersion als Eigenschaft von Bildern prinzipiell schon vor der Entstehung der Neuen Medien möglich ist, andererseits darlegt, inwiefern die Bewegungen der medialen Immersion als einer fremden Rahmenvorgabe und der eigenständigen Imagination prinzipiell verschieden bleiben müssen. Vgl. in Ergänzung zu dem in Anm. 56 genannten Sammelband zur ‚Beweglichkeit der Bilder‘ und die in Anm. 38 verzeichneten Beiträge etwa auch Horst WENZEL, Visualität. Zur Vorgeschichte der kinästhetischen Wahrnehmung, in: Zeitschrift für Germanistik
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lebensweltlich-phänomenologischen Wahrnehmungsmodells in einen historischliteraturphänomenologischen Ansatz anzudeuten, der zugleich den Erfordernissen der Textsemiotik gerecht werden muß. Offenbar ist es konsensfähig zu sagen, daß visuelle Erscheinungen von Objekten für die lebensweltliche Wahrnehmung selbst nicht einfach in einem dreidimensionalen Raumsystem auftauchen, sondern erst unter den Bedingungen der Raumkategorie jeweils für sich räumlich synthetisiert werden müssen. Es gibt demnach keinen Raum vor der Wahrnehmung, sondern dieser konstituiert sich erst über die Objekte der Wahrnehmungsbewegung. Folglich kann man keinen Raum ansetzen, in dem sich die Wahrnehmung bewegt, sondern der Raum selbst ist erst in der Wahrnehmung gegeben.68 Dem scheint es zu entsprechen, daß die bildende Kunst des Mittelalters nicht zentralperspektivisch ist, sondern man sie, der Phänomenologie des Raumes durchaus vergleichbar, als ‚aggregativ‘ bezeichnen kann.69 Analog dazu ist auch der zentralperspektivische Augentrug des Raumes eine neuzeitliche, kulturell wohl eingeübte Konvention, die der naive Betrachter übersehen mag, die aber für die Wahrnehmung mittelalterlicher Texte gerade keine Geltung beanspruchen kann.70 Diesen die Wahrnehmung gerade unterlaun.F. 9, 1999, S. 549-556, hier S. 550; DERS. u. Christina LECHTERMANN, Repräsentation und Kinästhetik, in: Theorien des Performativen, hg. v. Erika FISCHER-LICHTE u. Christoph WULF (Paragrana 10), Berlin 2001, S. 191-213, bes. 193f.; DERS., Der Leser als Augenzeuge (wie Anm. 60), S. 149f., 173f. Zum Begriff der Kinästhese vgl. besonders Edmund HUSSERL, Ding und Raum (wie Anm. 9), S. 153-203. Ein weiteres Begriffsverständnis legen dagegen nahe Christina LECHTERMANN u. Carsten MORSCH, Einführung, in: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten, hg. v. DENS. (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, n.F. 8), Bern u.a. 2004, S. I-XIV. 68 Vgl. dazu die Pointe in der Argumentation bei HUSSERL, Ding und Raum (wie Anm. 9), für den der Rahmenbegriff der Wahrnehmung gerade nicht der des Raumes, sondern der des Feldes ist, und zwar in der ausdrücklichen Wendung gegen Kant: „Der Raum aber ist die notwendige Form der Dinglichkeit und nicht die Form der Erlebnisse“ (S. 43). 69 Vgl. die klassische Begriffsprägung durch Erwin PANOFSKY, Perspektive als „symbolische Form“, in: DERS., Deutschsprachige Aufsätze II, hg. v. Karen MICHELS u. Martin WARNKE (Studien aus dem Warburg-Haus 1,II), Berlin 1998, S. 664-757. Dazu Karl CLAUSBERG, „Wozu hat der Mensch zwei Augen?“ – Der Mythos der Perspektive, in: Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, hg. v. Wolfgang MÜLLER-FUNK u. Hans Ulrich RECK (Ästhetik der Naturwissenschaften), Wien-New York 1996, S. 163-183. Das Fortwirken der aggregativen Raumkonstitution im Übergang zur Renaissancemalerei illustriert von Seiten der germanistischen Mediävistik sehr eindringlich Peter CZERWINSKI, Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II, München 1993, S. 93-143, wobei jedoch festzuhalten ist, daß durch die Präsenzvorstellung Czerwinskis die Raumkategorie radikal von einer bildphänomenologischen zu einer semantischen umgewertet wird. 70 Dies hat Christina LECHTERMANN, Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur um 1200 (Philologische Studien und Quellen 191), Berlin 2005, S. 71f., zu Recht festgehalten, womit sie sich konzeptionell auf einen unausgesprochenen Gegensatz zu den Arbeiten von Wenzel und, stärker noch, von Wandhoff zubewegt, an
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fenden Augentrug für die mittelalterlichen Texte mit dem Begriff des Abbildes oder dem des dreidimensionalen Raumes anzusetzen, in dem dann etwa Deiktika den Text unversehens wieder zu einem ‚Schauraum‘ machen,71 wiederholt von Seiten der Textwissenschaft unfreiwillig einen vielkritisierten Effekt der postmodernen Bildindustrie, in dem Bild- und Raumwahrnehmung auf ähnliche Weise umgangen werden.72 Wenn also hier mit Gottfried Boehm der Satz gilt: die sie sich einleitend (S. 15) noch anschließt. Zugleich hat Lechtermann in ihren theoretischen Vorbemerkungen das Moment der Distanznahme nachdrücklich als Bedingung der Möglichkeit medialer Präsenzerfahrung herausgestellt (S. 10f.) und damit die paradoxe Konstitution des Zwischenbereichs ästhetischer Erfahrung weit stärker als ihre Vorläufer markiert. 71 Vgl. in jüngerer Zeit Horst WENZEL, Wahrnehmung und Deixis. Zur Poetik der Sichtbarkeit in höfischer Literatur, in: Visualisierungsstrategien (wie Anm. 10), S. 17-43. Das Problem ist bei Wenzel sogar ein doppeltes, indem Wenzel einerseits Bild- und Textrezeption als gleichartige Prozesse ansetzt (S. 19f.), dann aber mit seiner Vorstellung vom Text als Raum, in dem sich die Wahrnehmung abspielt, jene phänomenologische Offenheit aufhebt, die er aus den kunstwissenschaftlichen Anregungen völlig zu Recht importieren will. Vgl. dazu die vor dieser Theoretisierung des ‚Schauraumes‘ liegenden, überzeugenden Ausgangsüberlegungen bei WENZEL, Hören und Sehen (wie Anm. 38), S. 99104, S. 128-142. Vgl. auch die erhellende Analyse zum ‚Meleranz‘ des Pleiers von Carsten MORSCH, Bewegte Betrachter. Kinästhetische Erfahrung im Schauraum mittelalterlicher Texte, in: Kunst der Bewegung (wie Anm. 67), S. 45-72, die überzeugend jene dynamische Imaginationslenkung nachvollzieht, durch die sich der Text vom Modell des ‚Schauraumes‘ eigentlich abheben müßte, dann indes die These vertritt, es bestünde ein Analogieverhältnis zwischen der textuellen Raumkonstitution und dem Raumkonzept in mittelalterlicher Architektur: Morschs Analyse erweist freilich, und dies sehr genau, ein Komplementärverhältnis. 72 Vgl. die weitgehende Parallelisierung mit den Visualisierungseffekten des Cyberspace bei WANDHOFF, Ekphrasis (wie Anm. 2), bes. S. 333-339. Wandhoffs abschließende These, daß die literarisch vermittelte Betrachtung von „Bild- und Bauwerke(n) […] als ein imaginativ zu vollziehendes Durchwandern dreidimensionaler Schauräume konzipiert“ (S. 325) sei, setzt jene neuzeitliche Konzeption des ‚Systemraumes‘ an, auf deren historische Problematik für das Mittelalter Wandhoff selbst im Verlauf seiner Studie durchaus hingewiesen hat (S. 114, Anm. 126). Die Schwierigkeiten des einfachen Vergleichs werden auch in der Zusammenstellung von mittelalterlichen und neuzeitlichen Medienbereichen der ‚Arbeitsgruppe Wahrnehmung‘ im Themenheft ‚Praktiken des Performativen‘ klar, vgl. Barbara GRONAU u.a. (Arbeitsgruppe Wahrnehmung), Wahrnehmung und Performativität, in: Praktiken des Performativen, hg. v. Erika FISCHER-LICHTE u. Christoph WULF (Paragrana 13), Berlin 2004, S. 15-80, wo am Beispiel einer Passage des ‚Partonopier‘-Romans Konrads der Prozeß der literarischen Veranschaulichung in der Diegese als variabel beschrieben, dann aber, im Unterschied dazu, eine „konstante“ Räumlichkeit in Texten postuliert wird (S. 35-37). Die zunehmende Neigung zu einer solchen Gleichsetzung ist auch in der Sukzession der Arbeiten Wenzels zu beobachten: Erhellend bleibt die Beschreibung der episch-aggregativen Raumkonstitution des ‚Nibelungenliedes‘ bei Horst WENZEL, Szene und Gebärde, in: DERS., Höfische Repräsentation (wie Anm. 38), S. 97119, die von der Parallelisierung mit modernen Medien noch absieht. Der Übergang zeigt sich etwa in WENZEL, Visualität (wie Anm. 67), S. 549, der Unterschiede zum Medium ‚Kino‘ noch nachdrücklich markiert, schließlich aber wächst offenbar die Gewißheit, „daß
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„Das vielbeschworene neue Zeitalter des Bildes ist ikonoklastisch, auch dann, wenn es seine Enthusiasten nicht einmal bemerken“,73 dann besteht für die neuere Forschungsphase zur Bildwahrnehmung mittelalterlicher Texte eine vergleichbare Gefahr, falls sie sich ihrer theoretischen und historischen Prämissen nicht konsequenter vergewissert. Im Anschluß an diese wäre nämlich zu sagen: Der Text ist kein Raum, sondern eine Bewegung zwischen Wort und Bild.74 Die zweite Schwierigkeit, die den Umgang mit sogenannten Bilderzählungen betrifft, ergibt sich, sobald man den vereinfachten Bildbegriff narrativ zu prozessieren versucht. Denn die narratologische Einsicht, daß Bilder narrativ organisiert sein können, besagt weder, daß alle Bilder narrativ sind, noch bedeutet sie, daß Narrativität und Visualität auf einer Wahrnehmungsebene angesiedelt sind. Die erste Annahme setzt vorschnell die allgemeine Textualität des Bildes mit der speziellen Möglichkeit der Narrativität gleich. Und die in der zweiten Annahme aufgehobene Differenz der Narrativität zur Visualität ist für das Bild genauso wesentlich wie im Erzähltext, nur steht sie unter einem umgekehrten Vorzeichen. Der vorangehende Interpretationsversuch sollte diese Begriffs- und Ebenendifferenz am Textbeispiel praktisch illustrieren. Fragt man nach entsprechenden Beispielen im Umgang mit der bildenden Kunst, dann mag es genügen, allgemein festzuhalten, daß der Erfolg der narratologischen Vorstöße in die Bildwissenschaft ja gerade auf der besagten Ebenendifferenz beruht: Die Wirkung der sogenannten Bilderzählungen oder narrativen Bilder beruht darauf, daß sie kulturell immer schon präsupponierte Erzählmuster abrufen und ihnen
der neuzeitlichen Tendenz zur Audiovisualität der Medien eine mittelalterliche Audiovisualität der Kommunikation entspricht“: WENZEL, Schrift und Bild (wie Anm. 38), S. 186. 73 Gottfried BOEHM, Die Wiederkehr der Bilder, in: Was ist ein Bild? (wie Anm. 55), S. 1138, hier S. 35, der nachdrücklich darauf hingewiesen hat, daß das ideale Abbild im Unterschied zum Bild keinerlei Eigenwert beanspruchen darf (S. 18). Daß dieser Eigenwert genauer in der prinzipiellen Zeichenhaftigkeit des Bildes zu fassen ist, über die das Abbild hinwegtäuscht, läßt sich etwa mit William. J. Thomas MITCHELL, Was ist ein Bild?, in: DERS., Bildtheorie, hg. und mit einem Nachwort v. Gustav FRANK, Frankfurt a.M. 2008, S. 15-77, hier S. 53f., behaupten. Zum Mechanismus dieser Täuschung im Kontext des inflationären Bildgebrauchs der Begriff der ‚Anästhetik‘ bei WELSCH, Ästhetisches Denken (wie Anm. 32), S. 29-35. 74 Vgl. zur Räumlichkeit und Zeitlichkeit in unangestrengter Klarheit Uta STÖRMER-CAYSA, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman (De-Gruyter-Studienbuch), Berlin-New York 2007, die in kluger Integration vorausgehender Forschungspositionen zeigt, wie sich das aggregative Raummodell aus den Handlungsstrukturen der Figuren in Aventiure- sowie Liebes- und Abenteuerromanen mit deren jeweils verschiedenen, divergenten Zeitmodellen ergibt, S. 35-42, 240, d.h. nochmals: daß Raum und Zeit nicht als systemische Vorbedingungen des Handlungsentwurfs zu sehen sind, sondern als dessen Konsequenz in eine aggregativ anmutende Erzählwelt führen.
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im Gegenzug zum narrativen Zeitverlauf augenblickliche Prägnanz verleihen.75 Aus narratologischer Sicht mag dabei der recht freie Umgang mit dem Begriff der Erzählung in der Kunstgeschichte als problematisch erscheinen, weil er nämlich im Begriff der Bilderzählung metaphorisch zu werden beginnt. Genau diese Tendenz hat ihn wahrscheinlich hier so produktiv werden lassen.76 Bei der Rückübertragung bildwissenschaftlicher Verallgemeinerungen auf die Literatur drohen dann aber Irrtümer, weil die Metapher wiederum wörtlich genommen wird: Wenn man Bilder per se als narrativ auffaßt, droht nicht nur die Gefahr, angesichts von Bildern in Erzähltexten Deskription und Narration zu verwechseln. Vielmehr kommt auch noch im Umgang mit nicht-narrativen Texten wie dem ‚Sachsenspiegel‘ und dem ‚Welschen Gast‘ angesichts von bildlichen Darstellungen wie selbstverständlich die Rede von der Bilderzählung auf, was vom historischen Phänomen her ungerechtfertigt ist und auch die modernen theoretischen Vorgaben letztlich mißversteht.77 75 Vgl. paradigmatisch Mieke BAL, Reading „Rembrand“. Beyond the Word-Image Opposi-
tion (Cambridge new art history and criticism), New York-Cambridge 1991, die am Historienbild vorgeht (S. 10f., modellhaft für das Verfahren S. 19-24), also an jener Gattung, die Erzählungen verarbeitet. Darum gerät der Ansatz an seine Grenzen, wenn er das Stilleben beschreibt, das folglich als eine Abwesenheit von Geschichte interpretiert werden muß (S. 380). Narratologisch gesehen wäre also stärker zu pointieren: Das Einzelbild kann Erzählungen nicht repräsentieren, sondern nur auf sie rekurrieren, und selbst in der Bildserie fallen zentrale Bestandteile der narrativen Struktur aus: vgl. Werner WOLF, Art. Pictorial Narrativity, in: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, hg. v. David HERMAN, Manfred JAHN u. Marie-Laure RYAN, London-New York 2005, S. 431-435, bes. S. 433 u. 434. Daß die histoire-Implementierung bei der weitgehenden Argumentation über eine fokalisierende Instanz auf der discours-Ebene noch nicht zum Problem wird, zeigt wie zur Bestätigung der Artikel von Mieke BAL, Art. Visual Narrativity, in: ebd., S. 629-633. Vgl. auch, jenseits der narratologischen Erwägungen, den entsprechenden Hinweis bei CZERWINSKI, Gegenwärtigkeit (wie Anm. 69), S. 117f. 76 Vgl. dazu als wichtiges Beispiel der mediävistischen Kunstgeschichte Wolfgang KEMP, Sermo corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster, München 1987, der vom Glasfenster als einem ‚narrativen Medium‘ ausgeht (S. 7f.), aber durchweg lediglich den Verlauf von Responsions- und Oppositionsverhältnissen beschreibt, so daß trotz der Rede von der ‚Bilderzählung‘ der Übergang vom traditionellen Begriff der Komposition zu der offenbar angezielten Vorstellung einer Narration nicht erreicht werden kann, weil kein hinreichendes Konzept der Geschichtsstruktur vorliegt. Ferner kann hier nur noch auf den folgenreichen Ausruf des pictural turn durch William J. Thomas MITCHELL, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago-London 1994, S. 11f., verwiesen werden, in dem das Problem der zügigen Übertragung narratologischer Begriffe ebenfalls recht deutlich wird: dort S. 158-161 bereits die Tendenz zur Gleichsetzung von Text und Erzähltext, durch die die These von der Textualität der Bilder uneingesehen in die ihrer prinzipiellen Narrativität überzugehen droht. 77 Vgl. mit Blick auf das Material der Bildbeschreibungen schon Harald HAFERLAND u. Michael MECKLENBURG, Einleitung, in: Erzählungen in Erzählungen, hg. v. DENS. (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur), München 1996, S. 11-25, die den Begriff der Bilderzählung als Haupttyp der Erzählung in Erzählungen akzeptieren (S. 12), aber sofort einschränken: „An mittelalterlichen Bildbeschreibungen fällt auf, daß sie
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Diese Mißverständnisse führen auf den dritten Punkt, der sich in den bisherigen Anmerkungen schon andeutet: auf die Rolle der Metapher für die Wahrnehmungsforschung. Denn die Diskussion um die Bedingungen und Möglichkeiten der Wahrnehmung ist wohl auch deshalb von einer erstaunlichen Anziehungskraft, weil die darin enthaltenen Lösungsangebote gerade nicht simplifizierend als falsch zu kritisieren sind, sondern häufig, ohne dies immer genügend zu berücksichtigen, als metaphorisch erscheinen. Unmittelbar auffällig ist jedenfalls die Metaphernbildung an zentralen Positionen des Diskurses über die Wahrnehmung, besonders natürlich bei der Augenzeugenmetapher,78 ferner beim Übergang von Technikmetaphern zu Technikvergleichen bei Wandhoff,79 aber die rhetorisch-poetische Form der descriptio kaum je zu Gunsten einer selbständigen Erzählung verlassen. Sie sind deshalb nur im Ansatz Erzählungen.“ Anders die Behandlung der Text-Bild Verhältnisse des ‚Sachsenspiegels‘ bei WENZEL, Schrift und Bild (wie Anm. 38), S. 197f., dazu die entsprechende Rubrik von der ‚Narrativik der Bilder‘ bereits in DERS., Hören und Sehen (wie Anm. 38), S. 292-337. Besonders illustrativ ist der Umgang mit dem ‚Welschen Gast‘, dessen Betrachtung von Wenzel ein Arbeitsprogramm unter der Narrativitätsprämisse auferlegt wurde: DERS., Einleitung, in: Beweglichkeit der Bilder (wie Anm. 56), S. 1-7, hier S. 1. Von der visuellen Narrativität im ‚Welschen Gast‘ spricht folglich z.B. Kathryn STARKEY, From Symbol to Scene: Changing Strategies of Representation in the Manuscripts of the ‚Welsche Gast‘, in: ebd., S. 121-142, hier S. 136 u. 138, und Wenzel selbst (DERS., Der Dichter und der Bote. Zu den Illustrationen der Vorrede in den Bilderhandschriften des ‚Welschen Gastes‘ von Thomasin von Zerclaere, in: ebd., S. 82-103, hier S. 92) setzt sogar für die bildlichen Repräsentationen des tihters des nicht narrativen Textes gegen jede narratologische Basisbestimmung einen ‚Erzähler‘ an. Ausdrücklich problematisiert wird der Narrationsbegriff nur bei Karin LERCHNER, Narration im Bild. Szenische Elemente im Bildprogramm des ‚Welschen Gastes‘, in: ebd., S. 65-81, die S. 70 festhält, daß die Bilderfolge des ‚Welschen Gastes‘ gerade nicht narrativ ist, daher aber der Narrativität im Einzelbild nachspürt. Vgl. dagegen wieder WENZEL, Erzählende Bilder (wie Anm. 38), S. 239-245. Die Fortführung des Selbstverständnisses der Bildnarration geradezu plakativ als Problem bei LECHTERMANN, Berührt werden (wie Anm. 70), die den Begriff des Narrativen, der sogar laut Titel ihres Buches über ‚Narrative Strategien der Präsenz‘ das Korrelat zu ihrem Präsenzbegriff hätte bilden müssen, in ihrer Studie gänzlich undiskutiert läßt. 78 Die Augenzeugenmetapher in den Beiträgen von WANDHOFF, velden und visieren (wie Anm. 60), S. 588, sowie DERS., Ekphrasis (wie Anm. 2), der für die Beschreibung von TrojaBildwerken in der Erzählliteratur auf der ganz konkreten Möglichkeit „einer geradezu ‚kinematographischen‘ Tele-Vision, einer medial vermittelten Augenzeugenschaft zweiter Ordnung“ (S. 187) insistiert hat; vgl. ferner etwa WENZEL, Visualität (wie Anm. 67), S. 590; WENZEL u. LECHTERMANN (wie Anm. 67), S. 201f.; WENZEL, Der Leser als Augenzeuge (wie Anm. 60), passim. 79 Vgl. besonders Haiko WANDHOFF, Der Schild als Bild-Schirm. Die Anfänge der Heraldik und die Visualisierung der Literatur im 13. und 14. Jahrhundert, in: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“, hg. v. Peter WIESINGER unter Mitarbeit v. Hans DERKITS, Bd. 5: Mediävistik und Kulturwissenschaften, betreut v. Horst WENZEL, Stephan JAEGER u. Alfred EBENBAUER. Mediävistik und Neuere Philologie, betreut v. Peter STROHSCHNEIDER, Ingrid BENNEWITZ u. Werner RÖCKE (Jahrbuch für Internationale
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etwa auch bei der Metapher der ‚Bilderzählung‘. Orientiert man sich an der Kunstwissenschaft, dann ist diese Metaphorizität des wissenschaftlichen Diskurses über Visualität nicht weiter verwunderlich: Die Kunstwissenschaft basiert geradezu auf Bildrede, die sie methodisch zu kontrollieren hat. Damit ist sie ihrem Gegenstand adäquat, sobald man das Bild in dem Sinne als metaphorisch auffaßt, daß es eine sprachlich vorstrukturierte imaginäre Konstruktion des Visuellen ist, also – überpointiert gesagt – eine Art bildlicher Rede, in der die Rede als Bedingung der Möglichkeit des Bildes buchstäblich übersehen wird.80 Für die bildlichen Möglichkeiten von Texten könnte man dann umgekehrt sagen: Das visuelle Vermögen eines Textes beruht auf einer fortgesetzten Metaphorik, in der das Wort durch die bildliche Imaginationsleistung geradezu überhört wird. Wählt man einen hermeneutisch fundierten, anthropologischen Bildbegriff,81 dann läßt sich festhalten: Die Sprache, prinzipiell an das akustische Medium der Stimme gekoppelt, vermittelt in den textlichen Aufschichtungen von der sprachlichen Metapher bis hin zur bildlichen Assoziation den Anschein einer unmittelbaren Anschaulichkeit, und dieser gelingt es, die prinzipielle Unanschaulichkeit des Hörbaren zu überspielen. Bei der Gegenüberstellung von Bild und Text ergibt sich damit eine komplementäre Doppelbewegung, weil hier wie dort das hermeneutische Potential der Metapher auf dieselbe Weise genutzt wird.82 Das Bild vermag im visuellen Medium eine Bedeutung auszusagen, ebenso wie im Text eine Bedeutung sichtbar werden kann: Das sind jeweils zwei Varianten der paradoxen Metaphernstruktur. Und aufgrund ihrer strukturellen Identität vermögen diese Varianten jeweils die Desiderate ihres Komplements aufzuzeigen.83 Die unsichtbare Bedeutung des Bildes müßte hörbar werden, die unhörbare Bedeutung des Textes sichtbar sein, wollte man die Semantik zwischen Text und Bild adäquat zugänglich machen. Folglich ist jede mediale Realisierung dieser Struktur immer schon auf ihr Gegenstück angewiesen und läuft auf einen Chiasmus hinaus.
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Germanistik, Reihe A: Kongressberichte 57), Bern u.a. 2002, S. 81-88; DERS., Ekphrasis (wie Anm. 2), S. 39-68 passim, ferner bes. S. 331 u. 334. Vgl. dazu den Vorschlag von Gottfried BOEHM, Die Wiederkehr der Bilder (wie Anm. 73), S. 16, in seinem Durchgang durch die klassischen Eckpositionen der philosophischen Bilddiskussion: „Wenn es eine Illusion war, Erkenntnis von Realität nach dem Modell des Abbilds zu begreifen, wenn Kausalitäten zwischen Subjekt und Objekt auszuschließen sind, dann bietet sich die Metapher als Brückenschlag besonders an.“ Ergänzend zu JONAS (wie Anm. 55) vgl. die Bilddefinition bei Hans Georg GADAMER, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (DERS., Gesammelte Werke 1), Tübingen 1990, S. 139-149. Zum verwendeten Metaphernbegriff Paul RICŒUR, Die lebendige Metapher (Übergänge 12), München 1986, hier zur paradoxen Struktur S. 33-35, zur Ebene ihrer Situierung S. 52-55, zur Beziehung von Metapher und Bildlichkeit S. 205-208 sowie zu ihrer wahrheitskonstituierenden Leistung S. 225-227 u. 238f. Vgl. MITCHELL, Was ist ein Bild? (wie Anm. 73), S. 72-77.
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Diesen Chiasmus kennt nun auch die Wahrnehmungsforschung bereits, nur liegt er nicht in einem einzelnen Ansatz vor. Er zeigt sich im wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick auf die Initiationsphase der Forschungsrichtung seinerseits sozusagen in einem Zwischenraum: bei der Kontrastierung von den beiden einflußreichen Vorstößen von Horst Wenzel einerseits und Peter Czerwinski andererseits. So erscheint es im Rückblick als irritierend, daß die umfassende Studie von Horst Wenzel zu den Stichworten von ‚Hören und Sehen, Schrift und Bild, Kultur und Gedächtnis im Mittelalter‘ ihre Überzeugungsmächtigkeit dadurch gewinnt, daß sie die prinzipielle Relevanz von literarischen Wahrnehmungsphänomenen zeigt, aber im Durchgang durch die Fülle unterschiedlich gelagerter Beispiele eine präzise theoretische und terminologische Fixierung des Demonstrierten gerade nicht erreicht.84 Ganz entsprechend tendieren auch alle weiteren Arbeiten Wenzels in der variierenden Wiederholung seiner Basisparadigmen viel mehr zur Einübung als zur Ausdifferenzierung seines Anliegens. In seinen Studien, so könnte man überpointiert sagen, taucht damit etwas von genau dem Verfahren wieder auf, das für das Mittelalter als kommunikative Praxis behauptet wird: Der Vorrang von auditiven und visuellen Darstellungs- und Zeigeformen vor dem unsinnlich-differenzierenden Prinzip der Schrift. Das heißt gewiß nicht, daß Wenzel diesem Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung und Imagination einerseits und schriftlich konzeptualisierter Reflexion andererseits nicht schon in seiner Hauptschrift energisch auf der Spur gewesen ist. Aber Wenzel kommt von der paradoxen Konstitution seiner Spur sofort wieder ab, da es ihm zur Etablierung seiner Fragerichtung ein beständiges Anliegen ist, grundsätzlich auf die Relevanz von Hören und Sehen im Textzusammenhang aufmerksam zu machen.85 Und so wird man dem Buch von Wenzel nicht unrecht tun, wenn man behauptet, daß die paradoxe Grundfigur in den verschiedenen Korrelationsbeziehungen noch nicht hinreichend geklärt ist, denn vielleicht war diese Vagheit sogar eine Bedingung der Möglichkeit, mit solcher unausgesetzten Entschiedenheit auf die Relevanz von Wahrnehmungs-
84 Vgl. WENZEL, Hören und Sehen (wie Anm. 38). 85 Immer wieder steuern die Beispielreihen auf eine Paradoxie zwischen Hören und Sehen
sowie zwischen Schrift und Bild zu: Schrift und Text bilden auch bei Wenzel die medial vermittelte Voraussetzung für das Postulat einer vermeintlich unvermittelten Wahrnehmung, und dieses Bedingungsverhältnis wiederholt sich auch bei der körpergebundenen Kommunikation. Ein Beispiel dafür wäre etwa die zustimmende Wiedergabe einer Formulierung von Paul Zumthor: „Die Aufführung bildet eine Erfahrung, aber zugleich ist sie es.“ Ebd., S. 53, Zit. Paul ZUMTHOR, Einführung in die mündliche Dichtung. Aus dem Franz. übersetzt v. Irene SELLE, Berlin 1990, S. 208.) Der hier zugrundeliegende Mechanismus für das Verhältnis von Schrift und Bild wird über den Rekurs auf Überlegungen zur hermeneutischen Paradoxie von Hans-Georg Gadamer angedeutet: Das Lesen wäre demnach die Voraussetzung einer auditiven oder visuellen Erfahrung, die, gerade weil sie schriftvermittelt ist, eine Anschaulichkeit besitzt, welche die triviale Wahrnehmung übersteigt.
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prozessen hinzuweisen.86 Ein geradezu verblüffend deutliches Indiz für diese praktizierte, aber nicht reflektierte Paradoxie ist schließlich das Ende von Wenzels Basisstudie selbst: Sie schließt mit Überlegungen zur Metapher. Damit gelangen die Überlegungen genau zu dem Tropus, dessen paradoxe Struktur der Bildrede dem ganzen Unternehmen nun auch theoretisch hätte unterlegt werden können. Dies geschieht indes noch nicht, weil Wenzel nur die praktischen Verwendungen von Metaphern in den Blick nimmt.87 Wenn man diese Zuspitzung zuläßt, dann erscheinen die ausführlichen Anläufe zur „Geschichte der Wahrnehmung“, die Peter Czerwinski unternommen hat, als das genaue Gegenstück zu den impliziten Desideraten Wenzels. Während Wenzels Studien ein außerordentlicher praktischer Erfolg beschieden war, bekennt Czerwinski sein eigenes Scheitern – ein Bekenntnis, das offensichtlich im Sinne einer dekonstruktivistischen Denkfigur als Erfolg einer theoretischen Einsicht verbucht sein will. Und nicht zufällig finden Czerwinskis Überlegungen am Ende nicht zur praktischen Beobachtung der Metapher, sondern münden im Versuch einer theoretischen Rechtfertigung über den Begriff der Allegorie.88 Im Gegensatz zu Wenzels korrelativen Überlegungen setzt Czerwinski für die kulturelle Situation des Mittelalters ein, offenbar von vornherein vom oben zitierten Bildbegriff Panofskys ausgehendes,89 ‚aggregatives‘ Wahrnehmungskonzept an, das Bedingungsverhältnisse gerade ausschließt. Demnach existieren eine unmittelbar körpergebundene Kommunikation, in der sich Bedeutung direkt und unverstellt ausspricht, und eine abstrakt-zeichenhafte Reflexion, die den Sinn verfügbar macht, unvermittelt nebeneinander.90 Dieser aggregative Wahrnehmungsansatz läßt nun zweifellos vorreflexive Identitätsbehauptungen zu und erlaubt es ebenso, hochreflexive Passagen daneben zu stellen. Zugleich soll aber Reflexion auch ihr Gegenteil sein: „Reflexion erscheint nicht als unun86 Das verbleibende Desiderat zeigt sich etwa, wenn wiederholt der Primat des Sehens ge-
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genüber dem Hören behauptet wird. „Nicht das Ohr, wie viele geistliche Autoren und manche Theoretiker der oral poetry schlicht konstatieren, dominiert die höfische Kultur, sondern im Ensemble aller Sinne dominiert das Auge“ (ebd., S. 32). Polemisch könnte man heute gegen Wenzels Diktum einwenden: Vielleicht sollte gerade ein Mediävist auf geistliche Autoren des Mittelalters hören. Wenn nämlich zwischen abstrakt-schriftlicher Sinnbildung und konkret-körperlicher Imagination eine paradoxe Korrelationsbeziehung besteht, dann dürfte sich diese auch im Verhältnis von Hören und Sehen fortsetzen. WENZEL, Hören und Sehen (wie Anm. 38), S. 414-450. Peter CZERWINSKI, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter, Frankfurt a.M.-New York 1989; DERS., Gegenwärtigkeit (wie Anm. 69); DERS., Verdichtete Schrift. comprehensiva scriptura. Prolegomena zu einer Theorie der Iniziale, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 22, 1997, S. 1-35; DERS., per visibilia ad invisibilia. Texte und Bilder vor dem Zeitalter von Kunst und Literatur, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 25, 2000, S. 1-94; DERS., Allegorealität, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 28, 2003, S. 1-37. Czerwinski hat diesen Bezug freilich erst nachträglich hergestellt oder auch exponiert: CZERWINSKI, Gegenwärtigkeit (wie Anm. 69), S. 56f. u. passim. Zuerst CZERWINSKI, Glanz der Abstraktion (wie Anm. 88), S. 13f., S. 23 u.ö.
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terbrochen präsentes Vermögen einer transzendenten Identität, […] sondern bleibt in einer Welt vorherrschender Dinglichkeit selbst ans Konkret-Sinnliche, an eine einzelne Geste gefesselte Besonderheit.“91 Mit anderen Worten: die mittelalterlichen Protagonisten denken mit ihren Körpern. Dies wäre, in Czerwinskis an Hegel orientiertem Geschichtsmodell, typisch für eine frühe kulturhistorische Situation, in der Reflexion noch nicht als die Vorbedingung der damit immer schon problematischen Wahrnehmung angesehen wird, sondern in der die Wahrnehmung als eine immer noch sichere Vorbedingung der Reflexion erscheint. Daß dieses Modell überhaupt auf ein vorschriftliches Einfachheitspostulat setzen kann, ist freilich – wie die Dekonstruktion gezeigt hat – das Ergebnis einer dezidiert schriftlichen Projektion moderner Reflexivität.92 Wohl deshalb hat Czerwinski den geschlossenen Zirkel der Interpretation in seinen Unmittelbarkeitsbehauptungen zunächst nicht aufgegeben und in konsequenter Umsetzung seiner kritischen Haltung zur neuzeitlichen Reflexion seinen wissenschaftlichen Schreibprozeß selbst zu einer aggregativen Kollage werden lassen, dann aber mit dem Eingeständnis des Scheiterns des eigenen Ansatzes sein Präsenzverständnis in die Gegenrichtung aufgelöst: Wenn sich Unmittelbarkeit der Bedeutung nicht mehr behaupten läßt, führt die Wendung zur Abstraktion und Reflexion zur prinzipiell vermittelten Sinnbildungsleistung der Allegorie. Das hieße allerdings: In dem, was dann als ‚Allegorealität‘ bezeichnet wird, wäre das alte Projekt der Geschichte der Wahrnehmung auch nach seinem Scheitern mit gleicher Logik, nur unter verändertem Vorzeichen, fortgesetzt. Wenn dagegen die Reflexion als der Gipfelpunkt eines ästhetischen Prozesses verstanden wird, läßt sich das Dilemma im Zwischenraum von Distanz und Unmittelbarkeit auflösen. Ist Wahrnehmung ein immer schon konstruierender, latent reflexiver Prozeß, dann ist das Aggregative nicht Ausdruck einer Opposition, sondern einer paradoxen Korrelation. In diesem Sinne unterlegt auch Czerwinski seiner These zur Allegorie als allgemeiner Wahrnehmungsform übergangsweise eine Struktur, die entgegen seinem früheren Ansatz korrelativ und – erstmalig und im Unterschied zu Wenzel ausdrücklich – paradox ist: Czerwinski begründet sein Vorgehen anhand der Metapher:93 Weil deren Struk91 Ebd., S. 22. 92 Vgl. die Kritik am „Traum nach einer unerfüllten und unmittelbaren Präsenz“ durch
Jacques DERRIDA, Grammatologie (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 417), Frankfurt a.M. 71998, S. 202. Czerwinski selbst glaubt, sich auf dem Wege der Polemik gegen die Zeichenzentriertheit der Dekonstruktion selbst vom Zeichenproblem frei machen zu können (CZERWINSKI, Gegenwärtigkeit [wie Anm. 69], S. 67f. u. S. 74, Anm. 101). 93 Vgl. dagegen zunächst CZERWINSKI, Glanz der Abstraktion (wie Anm. 88), S. 50f., wo die Metapher als rein transzendentale Figur bürgerlichen Denkens aufgefaßt und damit pauschal für die rein dinglich-konkrete Wahrnehmung, wie Czerwinski sie ansetzt, als unangemessen gekennzeichnet wird. Produktiv dagegen: DERS., Allegorealität (wie Anm. 88), S. 2-7, wo freilich durch die Auffassung „Metaphern sind direktes Sprechen“ (S. 5), das implizite Reflexionsvermögen der Metapher permanent unterdeterminiert bleibt, was dann auch für die etwas unorthodoxe Auffassung der Allegorie gilt, die Czerwinski als
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tur Präsenz und Distanz der Wahrnehmung in eins setzt, ist sie genau die Figur des Übergangs, die sich in den wissenschaftssprachlichen Umschreibungen des Wahrnehmungsproblems vor seiner Theoretisierung immer schon ausgesprochen hat. Das hieße aber insgesamt als Ergebnis dieser Gegenüberstellung: Wenzels vortheoretischer Erfolg und Czerwinskis theoretisches Dilemma wären in der Wendung zur Metapher als einer Struktur zwischen Theorie und Praxis aufzulösen. Anhand des ausgezeichneten Titels von Czerwinskis Studie ‚Der Glanz der Abstraktion‘ läßt sich, gerade nach der Lektüre der glänzenden Bildlichkeit von Konrads ‚Trojanischem Krieg‘, die Lösungsfigur noch einmal andeuten, die sich daraus für die Auffassung eines literarischen Textes ergibt.94 Das abstraktzeichenhafte Denken führt ins Dilemma, denn es erzeugt jene glänzendundurchdringlichen Oberflächen, in denen sich die unerfüllbare Sehnsucht nach einer darunterliegenden, unmittelbar zugänglichen Bedeutung artikuliert. Aber in der Metapher steckt das Wissen um dieses Dilemma ebenso wie die Struktur seiner Auflösung: Der literarische Text setzt dieses Wissen in einem ästhetischen Prozeß um. Vor diesem Hintergrund lassen sich jedenfalls verschiedene, auf den ersten Blick widerstreitende Positionen der Forschung zu einer gemeinsamen Figur zusammentragen. So haben die Beiträge von Philipowski die beiden Seiten des Dilemmas der frühen Überlegungen Czerwinskis in pointierter Weise expliziert. Zunächst votiert Philipowski in ihren Skizzen mit äußerstem Nachdruck für das Unmittelbarkeitspostulat, indem für die Geste des Körpers festgehalten wird: „[S]ie ‚i s t‘ und ‚b e d e u t e t‘ nicht“;95 in einer ebenso radikalen Kehrtwende hat sie dann aber Text und Reflexion den Primat der literarischen Wahrnehmung zuerkannt. Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildete freilich schon von Anfang an der Anspruch, die Metaphorik der vorausgehenden Ansätze aufzulösen,96 nur wurde dieser Anspruch in der Vorstellung von der ‚Wahrheit des Körpers‘ gerade nicht umgesetzt, weil diese Wahrheit selbst als Metapher gedacht ist. In der radikalen Wende zum Zeichen ist dieser Anspruch wiederum zu weitgehend erfüllt, weil unter dem Primat der Differenz die Möglichkeit der
allgemeine, unmittelbare Wahrnehmungsform definiert, was heißt, daß CZERWINSKI die Transzendierungsleistung der Allegorie unterschätzt (S. 10). 94 Zur Begründung des Titels bei CZERWINSKI, Glanz der Abstraktion (wie Anm. 88), S. 40f. 95 Vgl. Katharina PHILIPOWSKI, Geste und Inszenierung. Wahrheit und Lesbarkeit von Körpern im höfischen Epos, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 122, 2000, S. 455-477; Katharina PHILIPOWSKI, Das Gelächter der Cunneware, in: Zeitschrift für Germanistik n.F. 13, 2003, S. 9-25, nochmals mit der These: „Die Körper haben ihre eigene Wahrheit – eine eminent sichtbare – Wahrheit.“ (S. 13.) 96 Vgl. PHILIPOWSKI, Geste und Inszenierung (wie Anm. 95), S. 457: „Wo über Gesten nachgedacht wird, ist Metaphorik kaum zu vermeiden, doch gerade diese Metaphorik verführt zu vorschnellen terminologischen Verengungen.“
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metaphorischen Wahrheitskonstitution verschwindet.97 Zwischen Unmittelbarkeit und Distanz bleibt so ein Spielraum, in den die Kritik von Jan-Dirk Müller vorgestoßen ist. Gegenüber dem Unmittelbarkeitspostulat insistiert Müller nachdrücklich auf der Zeichenhaftigkeit des Textes, macht aber zugleich auf das Prinzip der Asymmetrie aufmerksam, das zunächst zwischen dem Leser des Textes und den wahrnehmenden Akteuren der erzählten Handlung besteht und das sich in der konkreten Wahrnehmung symbolischer Handlungen fortsetzen kann.98 Genaugenommen bedeutet der Hinweis auf dieses Wahrnehmungsprinzip der Asymmetrie eine Umformulierung des Prinzips des Aggregativen, indem dieses auf die Rezeptionsbeziehung angewendet wird. Das heißt einerseits, daß der Primat des Zeichens in der Diskussion der historischen Wahrnehmung unhintergehbar ist, andererseits ist dies gerade die Voraussetzung für das Unmittelbarkeitspostulat, das man für sich genommen auch, mit Harald Haferland, als eine metonymische Teilhaberelation denken kann.99 Wahrnehmung ist damit für die Reflexion ein Zeichenprozeß, aber für die Imagination als Teil des ästhetischen Vermögens vermag sich die Verweisfunktion des Zeichens auch selbst zu löschen. Damit wäre man bei der pointiertesten theoretischen Entwicklung. Man könnte nämlich – mit Hans Jürgen Scheuer – Text und Wahrnehmungsprozesse ganz ineinander aufgehen lassen, weil sie keinen Gegensatz, sondern eine Korrelation bilden. Dies führt freilich zu einer vollständig metaphorischen Denkform.100 Wenn man also Texte mit Scheuer in direkter Umsetzung mittelalterlicher mentaler Modelle als Prozesse zur Erzeugung von Intensität begreift, 97 Vgl. in der Kritik von Katharina PHILIPOWSKI, Vom Formalismus allegorischer Unmit-
telbarkeit. Zu Peter Czerwinskis ‚Allegorealität‘, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 124, 2005, S. 122-126. In Übertragung auf die Emotionsforschung DIES., Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt? Trûren, zorn, haz, scham und nît zwischen Emotionspsychologie und Narratologie, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 128, 2006, bes. S. 262-267. 98 Vgl. MÜLLER, Visualität (wie Anm. 28). Als konsequente Umsetzung der Asymmetrie den Umschlagsprozeß von symbolischen Handlungen in ambige Zeichenprozesse nach JanDirk MÜLLER, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, bes. zur ‚nibelungischen Anthropologie‘ und zur Störung von Ritualen, S. 201-248, 345-387. 99 In seinem konzeptionellen Vorschlag: Harald HAFERLAND, Das Mittelalter als Gegenstand der kognitiven Anthropologie. Eine Skizze zur historischen Bedeutung von Partizipation und Metonymie, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 126, 2004, S. 36-64, hier S. 55f.; vgl. auch DERS., Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden, in: Euphorion 99, 2005, S. 323-364, besonders S. 331-335 zum „metonymische(n) Wahrnehmungsmodus“. 100 Vgl. besonders SCHEUER, Cerebrale Räume (wie Anm. 61), bes. S. 31 u. 35f. Der Ausgangspunkt von Scheuers Überlegungen ist nicht publiziert: DERS., Farbige Verhältnisse. Zur Topik kultureller und literarischer Farbkonzeptionen in Texten des 12.-14. Jahrhunderts und bei Heinrich von Kleist, Habil. Masch. Göttingen 2000. Ich danke Hans Jürgen Scheuer dafür, daß er mir sein Manuskript überlassen hat – und nicht zuletzt für verschiedene ‚erhellende‘ Gespräche.
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wenn also nunmehr der Text selbst Wahrnehmung ist, dann müßte man sich im Gegenzug, im Sinne des vorliegenden Versuchs, auch hier einerseits der narrativen Voraussetzungen und andererseits des Übergangs von der Reflexion zur Metaphorik vergewissern. Der ästhetische Prozeß des anschaulichen Erzählens findet so vielleicht in der Figur der Metapher seine reinste Ausprägung, und diese wäre dann, wiederum paradox – ein Begriff.
H A N S -W E R N E R G O E T Z
Vergangenheit und Gegenwart Mittelalterliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster am Beispiel der Vorstellungen der Zeiten in der früh- und hochmittelalterlichen Historiographie
1. Forschungsstand und methodischer Ansatz Im Zuge des Paradigmenwechsels der Geschichtswissenschaft, demzufolge die Quelle nicht nur Informationsträger und Medium für vergangene Wirklichkeiten, nicht nur „Zeitzeugnis“, sondern unmittelbares Produkt ihres Autors ist und damit zum „Zeitzeugen“ selbst führt, ist die Historiographie geradezu zum Paradebeispiel zunächst für das Geschichtsdenken (Johannes Spörl), dann für die politische Ideengeschichte (Helmut Beumann) und schließlich für die gesamte Vorstellungswelt der Geschichtsschreiber (und ihrer Rezipienten) avanciert. Da jede Nachricht (tendenziös) „gefiltert“ ist und nicht das damalige Geschehen oder ehemalige Zustände abbildet, sondern diese durch die Perspektive des Autors – bewußt oder unbewußt – verändert, ist jede Geschichtsschreibung zunächst „konstruierte Gegenwarts- und Vergangenheitsdarstellung“, die somit die dem Bericht zugrunde liegenden Wahrnehmungen und Vorstellungen der Verfasser widerspiegelt.1 Folglich bietet sie einen ebenso vielseitigen wie unmittelbaren Zugang für deren Erforschung. Aus einem Vergleich verschiedener Nachrichten und unterschiedlicher Quellen lassen sich dann die hinter der Darstellung durchscheinenden Wahrnehmungsmuster herausarbeiten. Dabei ist das Verständnis der Vergangenheit (und deren Einordnung in das Verständnis der Zeit[en], also nicht zuletzt ihre Abgrenzung und ihr Bezug zur Gegenwart) zweifellos zentral in einer literarischen Gattung, die vor allem der Darstellung und Memorierung vergangener Zeiten gewidmet ist. Die Vielfalt der Historio1
Ich verzichte hier auf eine erneute theoretische Erörterung des inzwischen verbreiteten Ansatzes; vgl. Hans-Werner GOETZ, „Vorstellungsgeschichte“. Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit. Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung, in: AKG 61, 1979 (erschienen 1982), S. 253-271; zuletzt DERS., Wahrnehmungsund Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut BLEUMER u. Steffen PATZOLD (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 8), Berlin 2003, S. 23-33.
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graphie gestattet zugleich den Blick auf räumliche, zeitliche sowie gegebenenfalls auch „institutionelle“ Differenzierungen, auch wenn im folgenden eher die strukturellen Grundzüge im Mittelpunkt stehen werden. Im Vergleich mit anderen Quellen (und Teilprojekten) werden weitere Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen greifbar. Frappierend erscheinen zunächst zwei Beobachtungen. Die erste betrifft den Forschungsstand, die zweite die mittelalterliche Historiographie selbst. Trotz unzähliger Studien zur historischen und politischen Vorstellungswelt der mittelalterlichen Historiographie2 und, in jüngerer Zeit, zum Geschichtsbewußtsein ihrer Autoren,3 zur historischen Erinnerung und deren Funktionen4 sowie zur 2
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Vgl. neben den Studien von Spörl und Beumann und deren Schülern und den übergreifenden Arbeiten zur Historiographie (Benoît LACROIX, L’historien au Moyen Âge, Montréal-Paris 1971; Bernard GUENÉE, Histoire et culture historique dans l’Occident médiéval, Paris 1980; Franz-Josef SCHMALE, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung, Darmstadt !1993) die einschlägigen Monographien und Sammelbände: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. v. Hans PATZE (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987; L’historiographie médiévale en Europe, hg. v. Jean-Philippe GENET, Paris 1991; Historiographie im frühen Mittelalter, hg. v. Anton SCHARER u. Georg SCHEIBELREITER (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 32), Wien-München 1994; Rolf SPRANDEL, Chronisten als Zeitzeugen. Forschungen zur spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung in Deutschland (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter, N.F. 3), Köln-Weimar-Wien 1994; L’histoire et les nouveaux publics dans l’Europe médiévale (XIIIe-XVe siècles), hg. v. Jean-Philippe GENET, Paris 1997; The Medieval Chronicle, hg. v. Erik KOOPER (Costerus, N.S. 120), Amsterdam-Atlanta 1999; Die Geschichtsschreibung in Mitteleuropa. Projekte und Forschungsprobleme, hg. v. Hubert Zenon NOWAK u. Jaros!aw WENTA (Subsidia historiographica 1), Toru" 1999; Sverre BAGGE, Kings, Politics, and the Right Order of the World in German Historiography, c. 950-1150, Leiden-Boston-Köln 2002; Historiography in the Middle Ages, hg. v. Deborah MAUSKOPF DELIYANNIS, Leiden u.a. 2003. Vgl. Hans-Werner GOETZ, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 1), Berlin 1999; The Perception of the Past in Twelfth-Century Europe, hg. v. Paul MAGDALINO, London-Rio Grande 1992; Amy G. REMENSNYDER, Remembering kings past. Monastic foundation legends in medieval southern France, Ithaca-London 1995; Medieval Concepts of the Past. Ritual, Memory, Historiography, hg. v. Gerd ALTHOFF, Johannes FRIED u. Patrick J. GEARY (Publications of the German Historical Institute), Cambridge 2000; Medieval Futures. Attitudes to the Future in the Middle Ages, hg. v. A. J. BURROW u. Ian P. WEI, Woodbridge 2000; The Uses of the Past in the Early Middle Ages, hg. v. Yitzhak HEN u. Matthew INNES, Cambridge 2002; L’autorité du passé dans les sociétés médiévales, hg. v. Jean-Marie SANSTERRE (Collection de l’école française de Rome 33 / Institut historique belge de Rome 52), Brüssel-Rom 2004. Vgl. Patrick J. GEARY, Phantoms of remembrance. Memory and oblivion at the end of the first millennium, Princeton 1994; Medieval Memories. Men, Women and the Past in Europe, 700-1300, hg. v. Elizabeth VAN HOUTS, London 2001; Walter POHL, Werkstätte der Erinnerung. Montecassino und die Gestaltung der langobardischen Vergangenheit (MIÖG Ergänzungsbd. 39), Wien-München 2001; Rosamond MCKITTERICK, History and Memory in the Carolingian World, Cambridge 2004.
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Fiktionalität auch der Geschichtsschreibung5 ist die Frage nach der Wahrnehmung und dem Verständnis von Vergangenheit an sich, über die einschlägigen Untersuchungen zum Geschichtsbild und dessen Funktionen hinaus, bislang in dieser Form nicht oder allenfalls im Rahmen der Untersuchung mittelalterlicher Zeitbegriffe6 und Zeitkonzepte7 gestellt worden, obwohl sie für jede Historiographie zentral sein muß und den mittelalterlichen Chroniken tatsächlich immer wieder ein Vergangenheitsbewußtsein attestiert worden ist.8 Die Analyse entsprechender Wahrnehmungs- und Deutungsmuster ist in dieser Perspektive gänzlich als Forschungsdefizit zu bewerten. Ein Ziel des Teilprojekts war es folglich, diesen Aspekt stärker zu beleuchten und ihn mit den bisherigen Forschungstraditionen zusammenzuführen. Dabei geht es nicht um die – demgegenüber recht gut erforschte – Wahrnehmung und Deutung des Geschichtsverlaufs seitens der Autoren als der konkret wahrgenommenen und dargestellten Vergangenheit, also um das Geschichtsbild, sondern um die – subtil hinter der Darstellung verborgene – Wahrnehmung und Deutung des Vergangenen (an sich), die Frage nämlich, was als vergangen und wie und warum es als vergangen wahrgenommen wird. Nicht minder auffällig erscheint die Tatsache, daß auch die mittelalterlichen Geschichtsschreiber, soweit ich sehe, nirgends explizit reflektieren, was sie unter 5
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Vgl. Gabrielle M. SPIEGEL, The Past as Text. The Theory and Practice of Medieval Historiography (Parallax), Baltimore 1997; Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. v. Johannes LAUDAGE (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), Köln-Weimar-Wien 2003. Vgl. Walter FREUND, Modernus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters (Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung 4), Köln-Graz 1957; Elisabeth GÖSSMANN, Antiqui und Moderni im Mittelalter. Eine geschichtliche Standortbestimmung (Münchener Universitätsschriften. Kath.-Theol. Fakultät. Veröffentlichungen des Grabmann-Instituts, N.F. 23), München-Paderborn-Wien 1974; Antiqui und Moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. v. Albert ZIMMERMANN (Miscellanea Mediaevalia 9), Berlin-New York 1974; Nico LETTINCK, Geschiedbeschouwing en beleving van de eigen tijd in de eerste helft van de twaalfde eeuw, Amsterdam 1983. Vgl. Hans-Werner GOETZ, Die Zeit als Ordnungsfaktor in der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993, hg. v. Peter DILG, Gundolf KEIL u. DietzRüdiger MOSER, Sigmaringen 1995, S. 63-74; DERS., Historiographisches Zeitbewußtsein im frühen Mittelalter. Zum Umgang mit der Zeit in der karolingischen Geschichtsschreibung, in: Historiographie im frühen Mittelalter (wie Anm. 2), S. 158-178; DERS., Zeitbewußtsein und Zeitkonzeptionen in der hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: Zeitkonzeptionen – Zeiterfahrung – Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. v. Trude EHLERT, Paderborn u.a. 1997, S. 12-32; vor allem Fabian SCHWARZBAUER, Geschichtszeit. Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs von Michelsberg, Honorius’ Augustodunensis und Ottos von Freising (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 6), Berlin 2005. Vgl. GOETZ, Geschichtsschreibung (wie Anm. 3); DERS., Die Gegenwart der Vergangenheit im früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein, in: HZ 255, 1992, S. 6197.
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„Vergangenheit“ bzw., da eine solche Abstrahierung mittelalterlichem Denken fremd war, unter „vergangen sein“ eigentlich verstehen (obwohl sie durchweg davon handeln). Aus diesem Sachverhalt zu schließen, daß es kein Vergangenheitsbewußtsein und kein Vergangenheitskonzept gegeben habe, wäre angesichts der vielfältigen Dokumentation vergangenen Geschehens absurd. Offenbar bestand keinerlei Bedürfnis und auch keinerlei Notwendigkeit, hier mehr begriffliche Klarheit in einen Sachverhalt zu bringen, der allen Lesern vertraut (zugleich aber höchst schwierig zu erklären) war.9 Die Auswertung der Quellen muß folglich indirekte Wege gehen, um die entsprechenden Wahrnehmungsund Deutungsmuster zu eruieren. Die verwendete Begrifflichkeit, das darin transportierte Verständnis, die Charakterisierungen vergangenen Geschehens als (irgendwie) vergangen, die dabei zugrunde gelegten Kriterien und Inhalte sowie die Bewertung des Vergangenen, nicht minder aber Abgrenzungen von der und Bezüge zur Gegenwart bilden hier die wesentlichen Anhaltspunkte. Im folgenden können nicht alle Ergebnisse des Teilprojekts vorgeführt, können vor allem nicht alle Belege ausgebreitet werden. Manches wird andernorts erscheinen (oder ist bereits erschienen).10 Im Verlauf des Projekts wurde eine Reihe sehr unterschiedlicher Quellen aus verschiedenen Teilen Europas ausgewertet.11 Im Bewußtsein, daß gerade bei der Frage nach der Vorstellungs9
Bekannt und immer wieder zitiert ist die Aussage Augustins, Confessiones 11,14,17, ed. Lucas VERHEIJEN, CCL 27, Turnhout 1981, S. 202, die Zeit sei ihm ein „unlösbares Rätsel“ (ebd. 11,22,28, S. 207): „Wenn niemand mich danach fragt, so weiß ich es; sobald ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht“. 10 Von den einschlägigen Arbeiten seien hier genannt: Hans-Werner GOETZ, „Konstruktion der Vergangenheit“. Geschichtsbewußtsein und „Fiktionalität“ in der hochmittelalterlichen Chronistik, dargestellt am Beispiel der Annales Palidenses, in: Von Fakten und Fiktionen (wie Anm. 5), S. 225-257; DERS., Wahrnehmungs- und Deutungsmuster (wie Anm. 1); DERS., „Wahrnehmung“ der Arbeit als Erkenntnisobjekt der Geschichtswissenschaft, in: Arbeit im Mittelalter, hg. v. Verena POSTEL, Berlin 2006, S. 21-33; DERS., Textualität, Fiktionalität, Konzeptionalität. Zur Vorstellungswelt mittelalterlicher Geschichtsschreiber und zur Konstruktion ihrer Texte, in: Mittellateinisches Jahrbuch 41, 2006, S. 1-21. Von anderen, im Umkreis des Projekts erschienenen Arbeiten seien ausdrücklich genannt: Volker SCIOR, Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 4), Berlin 2002; SCHWARZBAUER, Geschichtszeit (wie Anm. 7); David FRAESDORFF, Der barbarische Norden. Vorstellungen und Fremdheitskategorien bei Rimbert, Thietmar von Merseburg, Adam von Bremen und Helmold von Bosau (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 5), Berlin 2005, sowie die Arbeiten von Markus SPÄTH (unten Anm. 249). 11 Eine wesentliche Grundlage für verschiedene Auswertungen bildet, neben vielen Einzelbelegen und der Nutzung elektronischer Medien, die für das Projekt erstellte Datenbank nach einem bestimmten Formular. Dabei wurden bewußt verschiedene Genera aus verschiedenen Regionen vor allem des 9. bis 12. Jahrhunderts berücksichtigt: Welt- und Reichschroniken (Regino von Prüm; Widukind von Corvey; Thietmar von Merseburg; Hermann von Reichenau; Frutolf von Michelsberg; Wipo; Gallus Anonymus; Cosmas von Prag; Heinrich von Huntingdon; Wilhelm von Malmesbury; Johannes von Worce-
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welt zunächst jede Quelle einzeln zu analysieren wäre, können in diesem Rahmen nur summierende und vergleichende Beobachtungen angestellt werden.12 Auf der Grundlage der Vorarbeiten13 werden zunächst die Befunde zur Wahrnehmung und Deutung der Vergangenheit in der früh- und hochmittelalterlichen Historiographie (und zwar zur geschichtstheologischen, begrifflichen, zeitlichen sowie inhaltlichen Determinierung und Wertung) sowie ihre Bedeutung für das Projektthema mit folgenden Leitfragen vorgestellt: Wie wird Vergangenheit verstanden, bezeichnet, abgegrenzt, charakterisiert und bewertet? Nach solchen Abgrenzungen sind anschließend die Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu analysieren. Abschließend sind aus diesen Befunden Folgerungen für die darin transportierten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu ziehen. Es versteht sich von selbst, daß auf dieser Grundlage nur vorsichtige (und keineswegs in jedem Fall eindeutige) Beobachtungen angestellt und Schlüsse gezogen werden können.
ster), Bistums- und Klostergeschichten (z.B. Chronicon Novaliciense; Chronicon Vulturnense; Ortlieb und Berthold von Zwiefalten; Adam von Bremen; Gesta episcoporum Halberstadensium), Vergangenheits- und Gegenwartsgeschichten (letztere: Brunos Buch vom Sachsenkrieg), aus dem Deutschen Reich, aus Frankreich, England, Italien und Ostmitteleuropa. 12 Eine ausführliche Analyse einzelner Chroniken wird die Dissertation von Simon Elling bieten. Zu Projektarbeiten über einzelne Werke vgl. auch Hans-Werner GOETZ, Constructing the Past. Religious Dimensions and Historical Consciousness in Adam of Bremen’s Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, in: The Making of Christian Myths in the Periphery of Latin Christendom (c. 1000-1300), hg. v. Lars Boje MORTENSEN, Kopenhagen 2006, S. 17-51; DERS., Die Wahrnehmung von ‚Staat‘ und ‚Herrschaft‘ im frühen Mittelalter, in: Staat im frühen Mittelalter, hg. v. Stuart AIRLIE, Walter POHL u. Helmut REIMITZ (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Denkschriften 334 / Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006, S. 39-58; DERS., The Perception of „Power“ and „State“ in the Early Middle Ages, in: Representations of Power in Medieval Germany, 800-1500, hg. v. Björn WEILER u. Simon MACLEAN (International Medieval Research 16), Turnhout 2006, S. 15-36. 13 Vgl. vor allem Hans-Werner GOETZ, Vergangenheitsbegriff, Vergangenheitskonzepte, Vergangenheitswahrnehmung in früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsdarstellungen, in: Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, hg. v. Christina JOSTKLEIGREWE, Christian KLEIN, Kathrin PRIETZEL, Peter F. SAEVERIN u. Holger SÜDKAMP (Europäische Geschichtsdarstellungen 7), Köln-Weimar-Wien 2005, S. 171202. Hier geht es um die Folgerungen der dort ausgebreiteten Befunde für die Projektziele, doch muß immer wieder auch auf dort in breiterem Rahmen vorgetragene Belege zurückgegriffen werden.
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2. Die Befunde und ihre Deutung 2.1. Geschichtstheologischer Hintergrund: Zeitkonzepte und Heilsgeschichte Zunächst ist an die bekannte Tatsache zu erinnern, daß jedes mittelalterliche Vergangenheitskonzept in der Chronistik sich zwangsläufig in heilsgeschichtliche Vorstellungen vom Geschichtsablauf einfügt: Geschichte ist Teil des göttlichen Heilsplans, auch wenn die Chronisten das durchaus nicht ständig wiederholen müssen, sondern es explizit tatsächlich nur in wenigen Quellen in den Vordergrund tritt. Die Geschichte ist damit ziel- und zukunftsgerichtet (indem sie auf ihr Ende im Jüngsten Gericht zuläuft), der Zeit unterworfen und somit nicht zuletzt in der Chronologie erfahr- und erfaßbar. Solchen Vorstellungen liegt ein entsprechendes Zeitverständnis zugrunde. Die Zeit ist nach patristisch-mittelalterlicher Auffassung eine das Irdische kennzeichnende Größe: Sie ist mit der Schöpfung geschaffen14 – es gibt, so Augustin, keine Zeit vor der Schöpfung15 –, also Teil der Schöpfung, und sie endet mit der Welt.16 Folglich hebt sie sich grundlegend von der – Gott eigenen – Ewigkeit ab, in der es keinerlei zeitliche Entwicklung gibt, die vielmehr durch eine „Zeitlosigkeit“ bzw. (besser) eine „Allgegenwart“ oder ewige Gegenwart ohne Gestern und Morgen, Vergangenheit und Zukunft,17 geprägt ist18 und in
14 Vgl. Augustinus, De civitate Dei 11,6, ed. Bernhard DOMBART u. Alfons KALB (Bibliotheca Teubneriana), Leipzig 1928, Bd. 1, S. 469: procul dubio non est mundus factus in tempore, sed cum tempore. 15 Vgl. Augustinus, Confessiones 11,15 (wie Anm. 9), S. 202: Aut quae tempora fuissent, qua abs te condita non essent? Aut quomodo praeterirent, si nunquam fuissent? Cum ergo sis operator omnium temporum, si fuit aliquod tempus, antequam faceres caelum et terram, cur dicitur, quod ab opere cessabas? Id ipsum enim tempus tu feceras, nec praeterire potuerunt tempore, antequam faceres tempora. Ausführlich zu Augustins Zeitvorstellungen: Kurt FLASCH, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo, das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt a. M. 1993; Dorothea GÜNTHER, Schöpfung und Geist. Studien zum Zeitverständnis Augustins im XI. Buch der Confessiones (Elementa. Schriften zur Philosophie und ihrer Problemgeschichte 58), Amsterdam-Atlanta 1993. 16 So im frühen 12. Jahrhundert Honorius Augustodunensis, Imago mundi 2,3, ed. Valerie I. J. FLINT, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 49, 1983, S. 92: Tempus autem mundi est umbra !vi. Hoc cum mundo incipit et cum mundo desinet. Honorius illustriert das anschließend mit seinem vielzitierten Bild von der Zeit als Seil, das sich von Osten nach Westen ausspannt und durch tägliches Aufwickeln schließlich vollständig aufgebraucht wird: Veluti si funis ab oriente in occidentem extenderetur qui cottidie plicando collectus, tandem totus absumeretur. 17 Vgl. Petrus Damiani, ep. 119, ed. Kurt REINDEL, MGH Briefe d. dt. Kaiserzeit IV,3, München 1989, S. 359: et non tanquam praeterita vel futura, sed ut revera praesentia suoque subiecta conspectui perspicacissimo comprehendit intuitu. [...] Omnipotenti itaque Deo non est heri vel cras, sed hodie sempiternum.
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der sich nichts ändern kann.19 (Irdische) Zeit hingegen läßt ein Denken in und über die Vergangenheit überhaupt erst zu, denn: „Es gab kein Damals, als es keine Zeit gab.“20 Gott geht daher nicht der Zeit, sondern allem Zeitlichen voraus (sonst wäre er ja nicht allzeitlich). Kennzeichen der (irdischen) Zeit ist zum einen die Tatsache, daß sie begrenzt ist, also Anfang (in der Schöpfung) und Ende (im Jüngsten Gericht) hat.21 Daraus folgt zum andern, daß es einen – meßbaren – Zeitablauf (nach Tag und Nacht, Jahreszeiten und Jahren),22 einen Wandel (mutatio, vicissitudo, mutabilitas),23 ein Vorher und Nachher gibt (bzw. erfolgt jegliches Geschehen sowohl nach einem anderen wie vor einem anderen)24 und man somit drei Zeiten 18 Vgl. Augustinus, De civitate Dei 11,21 (wie Anm. 14), S. 489: non enim more nostro ille vel quod futurum est prospicit, vel quod praesens est aspicit, vel quod praeteritum est respicit. [...] Ille quippe non ex hoc in illud cogitatione mutata, sed omnino incommutabiliter videt; ita ut illa quidem quae temporaliter fiunt, et futura nondum sint et praesentia iam sint et praeterita iam non sint, ipse vero haec omnia stabili et sempiterna praesentia comprehendat. [...] quoniam non sicut nostra, ita eius quoque scientia trium temporum, praesentis videlicet et praeteriti vel futuri, varietate mutatur. Daß spätere Autoren wie Honorius, Imago mundi 2,1-3 (wie Anm. 16), S. 92f., noch zwischen einem aevum als Zeit der Engel (und Seelen der Heiligen) und einer göttlichen aeternitas unterscheiden, sei hier nur am Rande erwähnt. 19 Vgl. im 12. Jahrhundert Hugo von St. Viktor, In Ecclesiasten homiliae 19, hom. 13, Migne PL 175, Paris 1854, Sp. 207 C (zu Eccl. 3,1): Extra tempora enim aeternitas erit, et mutabilitas non erit; et non erit ibi tunc, omnia tempus habent; sed omne quod erit, sic erit, ut pro tempore aliud et aliud esse non possit, sed quod erit semper erit. 20 So Augustin, Confessiones 11,15 (wie Anm. 9), S. 202: Non enim erat tunc, ubi non erat tempus. 21 Vgl. Hugo von St. Viktor, In Ecclesiasten homiliae 19, hom. 13 (wie Anm. 19), Sp. 206 B: Tempus etiam habent omnia certum et determinatum, quando incipiant et quando finiantur. 22 Vgl. Honorius Augustodunensis, Hexaemeron c. 4, Migne PL 172, Paris 1854, Sp. 260 D: et nihil aliud tempus sit nisi diei ac noctis, vel anni, ut puta veris, aestatis, autumni, hiemis vicissitudo; vel rerum de praeterito in praesens, de praesenti in futurum transmutatio. Vgl. Hugo von St. Viktor, In Ecclesiasten homiliae 19, hom. 13 (wie Anm. 19), Sp. 208 C: et sunt dies et menses, et anni, et lustra, et saecula, et horae breves, et momenta, et instantia; et omnia haec tempus sunt in ipsis quae transeunt, et vere non sunt. 23 Vgl. Augustinus, De civitate Dei 11,6 (wie Anm. 14), S. 468: Si enim recte discernuntur aeternitas et tempus, quod tempus sine aliqua mobili mutabilitate non est, in aeternitate autem nulla mutatio est. Im 12. Jahrhundert Honorius Augustodunensis, Imago mundi 2,3 (wie Anm. 16), S. 93: Tempus autem a temperamento dicitur, et nihil aliud quam vicissitudo rerum intellegitur. Die mutabilitas der Welt wird dann vor allem von Hugo von St. Viktor und Otto von Freising betont. Quia temporum mutabilitas stare non potest, so schreibt Otto gleich zu Beginn seiner Chronik (prol. 1, ed. Adolf HOFMEISTER, MGH SSrG 45, Hannover-Leipzig 21912, S. 6), müsse der Weise sich von ihr ab- und der stabilitas zuwenden. Vgl. dazu Hans-Werner GOETZ, Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 19), Köln-Wien 1984, bes. S. 86-90 u. S. 143-158. 24 Augustinus, De civitate Dei 11,6 (wie Anm. 14), S. 469: Quod enim fit in tempore, et post aliquod fit et ante aliquod tempus; post id quod praeteritum est, ante id quod futurum est; nullum autem posset esse praeteritum, quia nulla erat creatura, cuius mutabilibus motibus ageretur. Deutlich auch Hugo von St. Viktor, In Ecclesiasten hom. 19, hom. 13 (wie Anm. 19), Sp. 206 B: Omnia
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unterscheiden kann: ein Damals (die Vergangenheit), ein Jetzt (die Gegenwart) und ein Dereinst (die Zukunft, die aber ständig eingeholt und damit zur Vergangenheit wird: „sobald es gekommen ist, wird es schon wieder vergangen sein“).25 Ohne dieses Zeitverständnis gäbe es folglich keine Vorstellung von der Vergangenheit. Für den Neuplatoniker Augustin ist das ein ontologisches Problem: Da die Vergangenheit nicht mehr, die Zukunft aber noch nicht „ist“ (= existiert), besitzt nur die Gegenwart ein „Sein“. Sie ist jedoch so kurz, daß man sie gar nicht messen kann. Sie ist demnach alleiniger Referenzpunkt, selbst aber ohne jede Dauer.26 Diese ständige Auflösung ist daher eine Folge des Zeitverständnisses, die Vergangenheit eine Folge des zeitlichen Wandels: „Wenn nichts vorüberginge, gäbe es keine Vergangenheit.“27 Damit erhält die Vergangenheit ihren Stellenwert: Sie „ist“ zwar nicht mehr, aber es gibt sie; ja, es gibt sie nicht nur, sondern sie nimmt auch immer weiter zu, während die Zukunft immer mehr zusammenschmilzt, eben weil die Zeit endlich ist. Die Vergangenheit läßt sich zwar nicht mehr erleben, wohl aber erinnern. Genau hier, in der memoria des Vergangenen, erhält nun die Geschichtsschreibung ihre Funktion,28 erhält das Nachdenken über Vergangenheit seinen Sinn, „verschmelzen“ in gewisser Weise Vergangenheit und Gegenwart in der Geschichtsdarstellung. Die (augustinischen) Vorstellungen von den drei Zeiten und vom Wesen der Zeit (und der Vergangenheit) wurden, wie die zitierten Beispiele schon andeuten, im Mittelalter vielfach aufgegriffen. Es gab also unbezweifelbar ein Bewußtsein der Existenz des Vergangenen und eine Vorstellung von ihrem Wesen (und somit auch ein Bewußtsein von ihrer Abgrenzung von Gegenwart und Zukunft). Letztlich war das Voraussetzung für ein Geschichtsdenken und somit auch für eine Geschichtsschreibung, wo solche Vorstellungen immer wieder
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tempus habent, ut nihil perpetuum semperque permanens inveniatur: sed omne quod est aut aliud subsequatur ut non ab initio veniat, aut praecurrat aliud ut usque ad finem se non extendat. Augustinus, Confessiones 11,16 (wie Anm. 9), S. 202: alioquin non omnia tempora praecederes. Sed praecedes omnia praeterita celsitudine semper praesentis aeternitatis et superas omnia futura, quia illa futura sunt, et cum uenerint, praeterita erunt. Vgl. Augustinus, De civitate Dei 11,21 (oben Anm. 18). Augustinus, Confessiones 11,27 (wie Anm. 9), S. 207: „et non sunt praeterita uel futura“. Praesens uero tempus quomodo metimur, quando non habet spatium? Metimur ergo, cum praeterit, cum autem praeterierit, non metitur; quid enim metiatur, non erit. Sed unde et qua et quo praeterit, cum metitur? Vnde nisi ex futuro? Qua nisi per praesens? Quo nisi in praeteritum? Ex illo ergo, quod nondum est, per illud, quod spatio caret, in illud, quod iam non est. Vgl. Augustinus, De civitate Dei 11,21 (wie Anm. 14), S. 489: ita ut illa quidem, quae temporaliter fiunt, et futura nondum sint et praesentia iam sint et praeterita iam non sint. So Augustinus, Confessiones 11,17 (wie Anm. 9), S. 203: si nihil praeteriret, non esset praeteritum tempus. Vgl. etwa Gregor von Tours, Historiae prol., ed. Bruno KRUSCH u. Wilhelm LEVISON, MGH SSrM 1,1, Hannover 1951, S. 1: pro commemoratione praeteritorum.
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anklingen,29 auch wenn sie nur selten näher explizit erläutert werden (wie bei Otto von Freising). Welche Bedeutung die Zeit (und damit die Vergangenheit) aber für die mittelalterlichen Geschichtsschreiber besaß, ergibt sich aus mehreren Indizien:30 aus dem Stellenwert der Chronologie, den zeitlichen Bezügen durch zahlreiche Zeitbegriffe, den – für wichtige Ereignisse komplexen – Datierungen und der zeitlichen Zuordnung der Ereignisse (dem engen Bezug zwischen tempus und gesta)31 in der historiographischen Darstellung. Die mittelalterlichen Chronisten legten in aller Regel größten Wert sowohl auf eine chronologische Erzählfolge (auch wenn diese immer wieder unter- und durchbrochen werden konnte) als auch auf eine zeitliche Zuordnung. Ausgangspunkt bildet die „Synopse“ der Weltgeschichte in der – für das gesamte Mittelalter grundlegenden – Weltchronik des Eusebius von Caesarea und in deren lateinischer Übersetzung und Fortsetzung durch Hieronymus, deren Ziel es war, die verschiedenen Zeitsysteme, vor allem biblische und profane Geschichte, in synoptischen Tabellen zu „synchronisieren“. Frutolf von Michelsberg stellt die (vorchristliche) Frühgeschichte später geradezu als chronographische Zeittabelle dar, und Sigebert von Gembloux legt seiner Chronik die Herrscherchronologie der führenden Reiche als Grundschema zugrunde.32 Autoren wie Adam von Bremen bedauern, daß ihnen für frühere Zeiten keine genaueren Datierungen vorlagen, und bemühen sich, solche zu erschließen.33 Nicht minder bedeutsam ist die Vorstellung von Wandel und Zäsuren in der Geschichte, die jedoch konform geht mit der Betonung der Kontinuität und des ständigen Bezugs von Vergangenheit und Gegenwart: Einer „Verzeitlichung“ der Ereignisse entspricht auf der Sinnebene eine „Entzeitlichung“ des Vergangenen.34 In solche Vorstellungen fügen sich zwangsläufig die terminologischen Befunde ein.
29 Vgl. etwa Lampert von Hersfeld, Annales a. 1074, ed. Oswald HOLDER-EGGER, MGH SSrG 38, Hannover-Leipzig 1894, S. 175: multa sua erga eos in preteritum bene merita commemorans, plura in futurum pollicens. 30 Vgl. dazu GOETZ, Geschichtsschreibung (wie Anm. 3), S. 156ff. u. S. 193ff. und die in Anm. 7 genannten Arbeiten. 31 Vgl. Hugo von St. Viktor, De arca Noe morali 4,9, Migne PL 176, Paris 1854, Sp. 678 D: In serie rerum gestarum ordo temporis invenitur. 32 Vgl. Hans-Werner GOETZ, Die hochmittelalterliche Chronik als gesta temporum: Zeitbewußtsein und Zeitdarstellung im 12. Jahrhundert (im Druck); kurz DERS., Geschichtsschreibung (wie Anm. 3), S. 200ff. 33 Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum 1,17, ed. Bernhard SCHMEIDLER, MGH SSrG 2, Hannover-Leipzig 31917, S. 24: Verum quod distinctio temporum ibi obscura est, pleraque ab aliis scriptis congruentia tempori mutuavimus. 34 Vgl. Hans-Werner GOETZ, The Concept of Time in the Historiography of the Eleventh and Twelfth Centuries: Regarding Dates and Chronology but Ignoring Temporal Changes, in: Medieval Concepts (wie Anm. 3), S. 139-165; DERS., Geschichtsschreibung (wie Anm. 3), S. 208ff.
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2.2. Begriffliche Determinierung: Die Vergangenheitsterminologie der Geschichtsschreiber Der Befund über die Zeitterminologie der früh- und hochmittelalterlichen Chronisten ist schnell zusammengefaßt (und weist, unbeschadet eines individuellen Begriffsgebrauchs im einzelnen, tatsächlich eine insgesamt sehr ähnliche Struktur auf). – Auffällig ist zunächst, daß der einzige, (wie bei Augustin) relativ eindeutig das Vergangene bezeichnende Begriff, praeteritum, der sich nach der Definition Isidors von Sevilla zudem engstens mit der historia als Geschichtsschreibung verband,35 die sich des Vergangenen erinnerte, in diesem Sinn in historiographischen Quellen eher selten aufgegriffen und angewandt wird.36 Vielmehr wird gerade praeteritum, wie gleich noch zu zeigen ist, zeitlich weit enger gefaßt und in der Regel auf eine erst kürzlich vergangene Zeit bezogen. (In Schulschriften wurde es hingegen vorwiegend für die grammatischen Zeiten benutzt.) Offenbar gab es in der chronologischen Erzählung kein Bedürfnis, die Vergangenheit als Ganzes anzusprechen oder abzugrenzen. – Bezeichnend für das Vergangenheitsverständnis ist auch der Gebrauch der Altersbegriffe antiquus, antiquitus, antiquitas einerseits und vetus, vetustas andererseits, die in vielen (nicht in allen) Fällen synonym verwendet werden37 und sich mit der Bezeichnung des Alters durchaus, wenngleich sehr differenziert, auf Vergangenes beziehen. Ähnliches gilt für priscus, das Früheres vom Heutigen abgrenzt. – Antiquus, vetus und priscus werden zwar ungleich häufiger als praeteritus verwendet, sind jedoch ebenfalls keineswegs die häufigsten Termini. Viele andere Begriffe beherrschen das („Vergangenheits-“)Feld: konkrete Zeitangaben, aber auch relationale Wendungen wie, mit Bezug auf die Berichtszeit, „in jenen Tagen“ (his diebus) oder „zu jener Zeit“ (eo tempore und ähnlich) oder, auf Vergangenes bezogen, in früheren Zeiten (priscis temporibus) oder ähnliche Wendungen, die, oft ohne genauere zeitliche Festlegung, auf Früheres schlechthin deuten. 35 Isidor, Etymologiae sive Origines I, c. 41, ed. W. M. LINDSAY, Oxford 1911 (ND. 1962): Historia est narratio rei gestae, per quam ea, quae in praeterito facta sunt, dinoscuntur. Dieser Sachverhalt wurde vielfach aufgegriffen. Vgl. Honorius Augustodunensis, Expositio in psalmos, De mysterio psalmorum, Migne PL 172, Sp. 273 B: Historia est, quae praeterita narrat. Zur historia als Geschichtsschreibung vgl. Hans-Werner GOETZ, Die „Geschichte“ im Wissenschaftssystem des Mittelalters, in: Franz-Josef SCHMALE, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung, Darmstadt 1985, S. 165-213. 36 Eines der seltenen Beispiele bietet Orosius, Historiae adversum paganos 1 prol., ed. Karl ZANGEMEISTER, CSEL 5, Wien 1882, S. 3, der das Interesse an dem Vergangenen als Kennzeichen des Christentums bezeichnet, während die Heiden nicht danach fragen: praeterita autem aut obliuiscantur aut nesciant. 37 Hermannus quondam Judaeus, Opusculum de conversione sua 19, ed. Gerlinde NIEMEYER, MGH QGG 4, Weimar 1963, S. 119, spricht (anläßlich seiner Taufe) geradezu von ad antique vetustatis renovationem.
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Entsprechende Termini für die Gegenwart bzw. die eigene Zeit (des Autors) sind nostris diebus, nostris temporibus/nostrum tempus, modernis temporibus, hodierno die oder einfach hodie. Jeweils für sich genommen, treten auch diese Begriffe nicht allzu häufig auf. Gängig sind vielmehr kurze, letztlich aber unbestimmte Adverbien. Am weitaus häufigsten werden – quantitativ deutlich in dieser Reihenfolge38 – tunc (allerdings in der Doppelbedeutung „damals“ und „dann“), olim, quondam und dudum (alle drei unterschiedslos für „einst“), für die Gegenwart entsprechend nunc und modo verwendet (freilich mit dem Unterschied, daß der letzte Begriff mehrdeutig und nicht ausschließlich zeitlich determiniert ist). Dem entspricht ein relatives „Vorher“ – „Nachher“ (antea – postea). Die Begrifflichkeit ist insgesamt weder einheitlich noch eindeutig, doch kennen die mittelalterlichen Chronisten zumindest eine ganze Reihe verschiedener, sich überschneidender terminologischer Möglichkeiten, vergangene Zustände von den gegenwärtigen abzuheben und somit, zumindest indirekt, als „vergangen“ zu kennzeichnen. Dieser Befund, der seinerseits ein – wenn auch unreflektiertes – Bewußtsein von Vergangenem und Vergangenheit dokumentiert, wirft die Frage nach den zeitlichen, inhaltlichen und wertenden Abgrenzungen (und Bezügen) zwischen Vergangenheit und Gegenwart und nach den diesen jeweils zugrunde gelegten Kriterien auf.
2.3. Vergangenheit und Gegenwart: Abgrenzungen und Abgrenzungskriterien 2.3.1.
Zeitliche Determinierung: Wo hört „Vergangenheit“ auf?
Die zeitbezogenen Begriffe kennzeichnen zwar nicht „Vergangenheit“ und „Gegenwart“ im heutigen Sinn, grenzen mit der Kennzeichnung als (zeitlich) vergangen oder gegenwärtig aber doch beide Zeiten voneinander ab, und das um so mehr, als tunc – nunc/modo oder ähnliche Konstellationen häufig, betont kontrastierend, paarweise auftreten. Eine genauere zeitliche Fixierung der Vergangenheit ist nach Durchsicht zahlreicher Belegstellen allerdings nicht möglich und war offenbar auch gar nicht beabsichtigt. Praeteritum ist für die mittelalterli38 Eine Auszählung nach den Scriptores in den e-MGH und nach der digitalen „Quellensammlung zur mittelalterlichen Geschichte“ (1-3) ergibt folgende Werte: eMGH Quellensammlung praeteritus 195 178 tunc 6745 3650 quondam 1215 786 olim 894 656 dudum 766 357 nunc 4104 1690 modo 2789 1444 hodie 736 2661
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chen Chronisten, auf bestimmte Vorgänge bezogen, zwar gelegentlich alles Vergangene – so wenn Otto von Freising von preteritorum temporum calamitates spricht39 –, meint in der Regel jedoch nahezu ausschließlich das unmittelbar Vorangegangene: Der Begriff begegnet weit überwiegend als konkrete Zeitbestimmung in Wendungen wie praeterito die/praeterita nocte, praeterita aestate/praeterito hiberno oder (häufig) anno praeterito.40 Er bezieht sich damit gerade nicht auf eine ferne, sondern eine extrem gegenwartsnahe Vergangenheit und wird manchmal sogar unmittelbar mit dem entsprechenden gegenwärtigen Zeitabschnitt (Jahr) verknüpft und diesem einbezogen.41 Wenn die Fischer, denen der heilige Liudger befahl, einen Stör zu fangen, antworteten, die Zeit dazu sei längst vorbei (longe esse praeteritum tempus, quo tales pisces compraehendi poterant), dann meinten sie damit lediglich die ungünstige Jahreszeit!42 Wohl aber grenzt praeteritus, vor allem in theologischen Traktaten, das Frühere oder eher noch: alles Bisherige, doch nicht zuletzt wiederum noch innerhalb der eigenen Lebenszeit,43 vom Jetzigen ab44 und spielt somit auf einen – irgendwann in der (näheren) Vergangenheit eingetretenen – Wandel (eine Wandlung) an,45 deutet vielfach aber auch auf ei39 Otto von Freising, Chronik 2 prol. (wie Anm. 23), S. 68. 40 So recht häufig; z.B. Nithard, Historiae III, c. 4, ed. Ernst MÜLLER, MGH SSrG 44, Hannover-Leipzig 31907 (ND. 1965), S. 34: quod praeterite noctis passi fuerant; Astronomus, Vita Hludowici imperatoris c. 58, ed. Ernst TREMP, MGH SSrG 64, Hannover 1995, S. 520: praeterita vespera; Annales regni Francorum a. 804, ed. Friedrich KURZE, MGH SSrG 6, Hannover 1895, ND. 1950, S. 119: aestate praeterita; Gregor von Tours, Historiae 9,40 (wie Anm. 28), S. 465: praeterito hiberni huius tempore; ebd. 8,35, S. 404: anno praeterito; Annales Bertiniani a. 845, ed. Félix GRAT, Jeanne VIELLIARD u. Suzanne CLÉMENCET, Paris 1964, S. 51: anno praeterito; ebd. a. 838, S. 24: annis praeteritis; Regino von Prüm, Chronicon a. 761, ed. Friedrich KURZE, MGH SSrG 50, Hannover 1890, S. 46: preterito anno; Cosmas von Prag, Chronicon 2,12, ed. Berthold BRETHOLZ, MGH SSrG N.S. 2, Berlin 21955, S. 100: tributum trium annorum iam preteritorum. 41 Vgl. etwa Annales Bertiniani a. 869 (wie Anm. 40), S. 157: frater suus Hludouuicus rex Germaniae ab expeditione hostili de Vuinidis cum quibus praesenti et praeterito anno sepe comminus sui congredientes aut nihil aut parum utilitatis egerunt; Cosmas von Prag, Chronicon 3,1 (wie Anm. 40), S. 162: preteriti et presentis anni tributum. 42 Altfrid, Vita Liudgeri (I) 1,29, ed. Wilhelm DIEKAMP, Vitae sancti Liudgeri (Die Geschichtsquellen des Bisthums Münster 4), Münster 1881, S. 34. 43 Wenn Eigil, Vita Sturmi c. 12, ed. Pius ENGELBERT (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Hessen und Waldeck 29), Marburg 1968, S. 143, zur Gründung des Klosters Fulda schreibt: quod praeteritis temporibus ante nos nemo inchoavit, so bezieht sich auch das auf eine nahe Vergangenheit, denn das Kloster war erst durch (Bonifatius und) Sturm gegründet worden. 44 Praeterita bezieht sich beispielsweise auf frühere Sünden (peccata), Werke (opera), Übel (mala), Schuld (culpa), Verbrechen (crimina), Beispiele (exempla), Taten (gesta), Bußen (poenitentia), Kriege (bella), Siege (victoriae), Reichtümer (opes) und anderes mehr. 45 So warf sich Liudolf, der Sohn Ottos des Großen, dem Vater zu Füßen, bat für das Vergangene um Gnade, forderte für die Gegenwart Besserung und gelobte für die Zukunft Vorsicht (cautela): Thietmar von Merseburg, Chronicon 2,8, ed. Robert HOLTZMANN, MGH SSrG N.S. 9, Berlin !1955, S. 46/48: Post haec Dudo cum Hugone penitentia ductus patris
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nen bis zur Gegenwart heranreichenden Tatbestand. Das als praeteritum Bezeichnete ist damit zwar vergangen, liegt in der Regel aber noch nicht weit zurück und wirkt (noch) auf die Gegenwart ein. Differenzierter, aber im Prinzip ähnlich verhält es sich mit den Begriffen antiquus und antiquitas sowie priscus, die fast durchweg einen früheren Zustand oder frühere Personengruppen (vor allem Amtsträger) beschreiben, die vorher (vor dem Jetzigen) herrschten, etwa alle früheren oder bisherigen Könige und Kaiser;46 antiqui duces sind die früheren Herzöge,47 antiqui imperatores die früheren Kaiser,48 priscus abba ist ein früherer Abt,49 antiqui dei sind die vor der Christianisierung verehrten Götter.50 Priscus bezeichnet überhaupt alles Frühere: die früheren Autoren, auf die man sich stützt,51 oder die früheren Zeiten (mit anderen Begriffen52 oder kulturellen Leistungen53). Veteres, antiqui und prisci sind „die Alten“, die den Nachfahren und der Gegenwart als Vorbilder dienen.54 Geradezu von einem „früheren Alter“ (prisca vetustas) spricht, in Verbindung beider Zeitbegriffe, Gregor von Tours in bezug auf einen Ortsnamen,55 von „den alten
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pedibus advolvitur, de preteritis veniam et de presentibus supplex poscit emendationem, de futuris quoque cautelam spospondit. In diesem Sinne etwa Orosius, Historiae adversum paganos VII, c. 20 (wie Anm. 36), S. 478f.: Ita magnificis ludis augustissimus omnium praeteritorum hic natalis annus a Christiano imperatore celebratus est; Annales regni Francorum a. 796 (wie Anm. 40), S. 98: Karl der Große ließ thesaurum priscorum regum [der Awaren] nach Aachen bringen. Vgl. Cosmas von Prag, Chronicon 2,2 (wie Anm. 40), S. 83 (antiqui duces haben veteres thesauros in einer Schatzkammer verborgen); Annales Fuldenses Cont. Ratisb. a. 899, ed. Friedrich KURZE, MGH SSrG 7, Hannover 1891, S. 133 (filium antiqui ducis Zuentobolchi). Vgl. Wipo, Gesta Chuonradi imperatoris 33, ed. Harry BRESSLAU, MGH SSrG 61, Hannover 31915, S. 53, zur Durchsetzung des von den antiqui imperatores festgesetzten Zinses; Regino von Prüm, Chronicon a. 877 (wie Anm. 40), S. 113: Karl der Kahle erhob Boso zum König über die Provence, ut more priscorum imperatorum regibus videretur dominari. Vgl. Vita Eugendi abbatis 23, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 3, Hannover 1896, S. 165: sanctus quoque Pachomius Syrorum priscus abba. Herbord, Vita Ottonis ep. Babenbergensis 3,16, ed. Rudolf KÖPKE, MGH SSrG 33, Hannover 1868, S. 130: et tamen antiquos deos nostros non dimittamus. Vgl. Walahfrid Strabo, Vita Galli 2,9, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 4, Hannover 1902, S. 318: Descriptis his quae priscorum sollertia de vita, fine et virtutibus beati Galli ad nos usque scripto transmisit [...] Vgl. Jonas von Bobbio, Vita Columbani 1,10, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 4, Hannover 1902, S. 76: invenitque castrum firmissimo olim fuisse munimine cultum, a supradicto loco distantem plus minus octo milibus, quem Luxovium prisca tempora nuncupabant. Vgl. Ratbod von Utrecht, Vita Bonifatii 3, ed. Wilhelm LEVISON, MGH SSrG 57, Hannover-Leipzig 1905, S. 64: Multi itaque priscis fuere temporibus, qui has gloriosas sedes ob dilectionem Dei et beatissimi Martini partim edificiis grandibus et laquearibus pictis, partim auro argentoque ac gemmis et ceteris huiusmodi pompis ornare studuerunt. Vgl. Jonas von Bobbio, Vita Columbani 1,1 (wie Anm. 52), S. 65: scilicet ut posteris alma redolerent priscorum exempla. Gregor von Tours, Liber de virtutibus s. Martini 1,29, ed. Wilhelm ARNDT u. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 1,2, Hannover 1885, S. 602: Loco autem illi Navicellis nomen prisca vetustas indiderat.
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Pfalzen der alten Könige“56 und von „den früheren Kennzeichen der Sitten der Alten“57 Gunther von Pairis, von „früheren Taten der Alten“ (prisca veterum gesta), ohne deren Aufzeichnung es keine Erinnerung an das Vergangene gäbe,58 Arnulf von Mailand! Wann das „Frühere“ in Jetziges übergeht, ist hingegen nicht festzumachen. Vergangenheitsbegriffe kennzeichnen demnach das (irgendwann) vor der Gegenwart Geschehene. Im Gegensatz zu praeteritus beziehen sich antiquus, priscus, aber auch quondam oft jedoch auf einen sehr weit zurückreichenden Zeitraum und deuten somit auf ein „hohes Alter“ oder auf eine lange zurück liegende Vergangenheit. Diese Begriffe können sich beispielsweise auf „das alte Babylon“ (des Perserkönigs Cyrus),59 auf Troja,60 das Alte61 und das Neue Testament,62 auf römische Kaiser wie Nero,63 auf den Hunnenkönig Attila,64 die 56 Gunther von Pairis, Ligurinus 3, v. 225, ed. Erwin ASSMANN, MGH SSrG 63, Hannover 1987, S. 243: Qua veterum fulgent antiqua palacia regum. 57 Ebd. v. 430, S. 254: antiqua refloreat etas, Prisca vetustorum redeant insignia morum. 58 Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium praef., ed. Claudia ZEY, MGH SSrG 67, Hannover 1994, S. 118: Nisi enim prisca veterum gesta stilus commendaret utcumque, nulla prorsus preteritorum vobis superesset memoria. Vgl. Aldhelm, De metris et enigmatibus ac pedum regulis, ed. Rudolf EHWALD, MGH AA 15, Berlin 1919, S. 81: sicut prisca veterum auctoritas tradidisse monstratur. Kein König, Bischof oder Amtsträger, so Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum 8,3, ed. Diana GREENWAY, Oxford 1996, S. 496, kenne mehr seine Vorgänger vor 1000 Jahren! 59 Otto von Freising, Gesta Frederici prol., ed. Franz-Josef SCHMALE, FSGA 17, Darmstadt 1967, S. 116; Jordanes, Romana, ed. Theodor MOMMSEN, MGH AA 5,1, Berlin 1882, S. 4: antiqua Assiria. 60 Vgl. Historia Welforum 1, ed. Erich KÖNIG (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1), Sigmaringen 21978, S. 2, zur Herkunft der Franken, qui quondam a Troia egressi; Wipo, Gesta Chuonradi 2 (wie Anm. 48), S. 16: de antiquo genere Troianorum regum. Wipo prol., ebd. S. 5, spricht von den veteres philosophi mit Bezug auf griechisch-römische Staatsdenker (explizit angesprochen ist Macrobius). 61 Vgl. Gregor von Tours, Historiae 10,24 (wie Anm. 28), S. 517: velut memoratus Loth quondam in Sodomis. Die antiqua miracula bei Cosmas von Prag, Chronicon 2,4 (wie Anm. 40), S. 89, spielen auf die wunderbare Überquerung des Roten Meeres der Israeliten beim Auszug aus Ägypten an. Vgl. Wipo, Gesta Chuonradi prol. (wie Anm. 48), S. 5: Verendum est modernis scriptoribus vitio torporis apud Deum vilescere, cum primitiva auctoritas veteris testamenti, quae historias patrum fructifero labore diligenter exarat, novarum rerum frugem in memoriae cellario recondi debere praefiguret et doceat; Vita Dagoberti III, 4, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 2, Hannover 1888, S. 514, zu Salomon (antiquis diebus). 62 Vgl. Vita Norberti, Schol., ed. Roger WILMANS, MGH SS 12, Hannover 1856, S. 674, zum Pfingstereignis: Spiritus sanctus, qui quondam centum viginti linguarum erudierat diversitatem. 63 Vgl. Gregor von Tours, Historiae 6,46 (wie Anm. 28), S. 320: König Chilperich, „der Nero und Herodes unserer Zeit“, verwüstete das Land und erfreute sich daran, sicut quondam Nero, cum inter incendia palatii tragidias decantaret. In dem von Rahewin, Gesta Frederici imperatoris 4,80, ed. Franz-Josef SCHMALE, FSGA 17, Darmstadt 1974, S. 688, inserierten Synodalschreiben des Konzils von Pavia von 1160, das Viktor III. zum Papst erhob, wird erwähnt, daß Roland (Alexander III.) Rom verlassen habe und erst in Cisterna, in qua Nero imperator quondam ab Urbe profugus latitavit, den Papstmantel erhalten habe.
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Frühzeit der Sachsen65 oder Briten66 oder gar auf mythische Götter beziehen.67 Die Anrede tu quondam Lucifer (angesichts einer Teufelsaustreibung) in der Vita Norberts von Xanten greift sogar auf die vorparadiesischen Zustände im Himmel zurück.68 Antiqui reges sind dann nicht mehr (nur) die früheren,69 sondern die „alten“ (ganz frühen) Könige.70 Wenn Otto von Freising behaupten kann, das Römische Reich sei über all den Wandlungen durch seine antiquitas zum Greis geworden,71 dann ist damit gerade nicht eine frühere (vergangene) Epoche (die „Antike“), sondern die lange, bis heute fortwährende Dauer angesprochen.72 Entsprechend meint antiquitus „vor langer Zeit“ (und sofern der Zustand noch gilt, ist auch hier sein Alter angesprochen).73 In solchen Zusammenhängen werden auch vetusta tempora74 oder vetera secula75 zu (längst) vergangenen Zeiten. Wenn die Fränkischen Reichsannalen hingegen vermelden, daß es um den legendären „Ring“ der Awaren longis retro temporibus ruhig gewesen sei, bis Erich von Friaul ihn wegen der inneren Zwistigkeiten zwischen den awarischen Für-
64 Vgl. Lampert von Hersfeld, Annales a. 1071 (wie Anm. 29), S. 130: quo famosissimus quondam rex Hunorum Attila in necem christianorum atque in excidium Galliarum hostiliter debachatus fuerat. 65 Vgl. Adam von Bremen, Gesta 1,3 (wie Anm. 33), S. 6: De antiquitate Saxonum meminit Orosius et Gregorius Turonensis ita: [...]. Vgl. Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,2, ed. Paul HIRSCH u. Hans-Eberhard LOHMANN, MGH SSrG 60, Hannover 1935, S. 4. 66 Nach Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum 3,5 (wie Anm. 58), S. 144, benutzten die römischen Missionare in Canterbury die antiquitus a Britannis errichtete Martinskirche. 67 So berichtet Lampert von Hersfeld, Annales a. 1071 (wie Anm. 29), S. 130, von einem Schwert, das einst dem Kriegsgott Mars und später Attila gehörte. 68 Vita Norberti 14 (wie Anm. 62), S. 687: Miser et miserrime tu quondam Lucifer, qui mane oriebaris, in deliciis paradysi fuisti. 69 Vgl. oben S. 169. 70 So etwa Rahewin, Gesta Frederici 4,86 (wie Anm. 63), S. 710: Scripturas et antiquorum regum gesta sedule perquirit. Vgl. Einhard, Vita Karoli 29, ed. Oswald HOLDER-EGGER, MGH SSrG 25, Hannover-Leipzig 1911, S. 33: veterum regum actus et bella canebantur. 71 Otto von Freising, Chronik 1 prol. (wie Anm. 23), S. 7: ex tot alternationibus [...] antiquitate senuit. 72 Vgl. Casus monasterii Petrihusensis 1,48, ed. Otto FEGER (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 3), Sigmaringen 21978, S. 80, zum Bild der Gottesmutter, das der Abt Gebhard geschaffen hatte: Qu! omnia istis iam temporibus antiquitatis coegit desistere esse quod fuerant. Tempora antiquitatis bezeichnen auch hier eher das hohe Alter als „vergangene Zeiten“. 73 So wird der ursprünglich für die Klostergründung (in Zwiefalten) vorgesehene Ort ex vetustate urbis antiquitus ibi constructae Altinburg vocitatus (so Ortlieb von Zwiefalten, Chronicon 1,2, ed. Luitpold WALLACH, Erich KÖNIG u. Karl Otto MÜLLER [Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 2], Sigmaringen 21978, S. 14). Vgl. Annales Fuldenses a. 894 (wie Anm. 47), S. 123: murum antiquitus fundatum perfodere temptant. 74 So Jonas von Bobbio, Vita Columbani 1,10 (wie Anm. 52), S. 76 (vetusta paganorum tempora). 75 Annales Bertiniani a. 862 (wie Anm. 40), S. 91f., zu Bischof Rothad von Soissons, der mit den alttestamentlichen Pharaonen verglichen wird (vgl. unten Anm. 212).
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sten zu plündern vermochte,76 dann reichen die „vergangenen Zeiten“ hier bis an das Berichtsjahr heran; wie lange sie zurückreichen, bleibt hingegen offen. Tatsächlich greifen die Begriffe nicht immer sehr weit in die Vergangenheit zurück. Wenn etwa Notker Balbulus bereits die Kleidung Karls des Großen als antiqua consuetudo bezeichnen kann, so liegt das erst ein paar Jahrzehnte zurück, gilt in seiner Zeit aber bereits als „veraltet“.77 Auf diesen Wandel aber kommt es an. Oft liegt er noch in der vorigen oder sogar in derselben Generation. So berichten die ‚Annales Bertiniani‘ zum Jahr 852 von Gottfried, dem Sohn des Dänen Heriold, der „einst“ unter Kaiser Ludwig dem Frommen (nämlich im Jahre 826, also vor gerade 26 Jahren) getauft worden war.78 An der Stelle, an der Bonifatius einst (quondam) das Martyrium erlitt, wurde seiner schon bald nach seinem Tod (754) abgefaßten Vita zufolge später (aber noch zu Lebzeiten des Verfassers Willibald in der folgenden Generation) eine Kirche errichtet.79 Wenn Gregor von Tours zum Tod des Priesters Proculus vermerkt, dieser habe dem heiligen Quintian „einst“ Unrecht angetan, so muß sich das zwangsläufig ebenfalls zu beider Lebenszeit zugetragen haben.80 Priscis temporibus, so schreiben die Fuldaer Annalen zum Jahr 887, habe Karl III., als er noch König in Alemannien war (das heißt zwischen 876 und 882, also maximal elf Jahre vor der Abfassungszeit der Annalen), den niedrig geborenen Liutward (von Vercelli) über alle anderen gesetzt.81 Und wenn Wipo die Aufstände in Italien als eodem tempore bedeutend, modernis temporibus aber unerhört klassifiziert,82 dann unterscheidet er unmittelbar zwischen einer (erneut nur wenig zurückliegenden) Vergangenheit und einer offenbar friedlicheren Gegenwart. „Weit zurückliegend“ (tempore remota) sind für den Werdener Verfasser der Liudgervita aber auch die Jahre, in de76 Annales regni Francorum a. 796 (wie Anm. 40), S. 98: Sed et Heiricus dux Foroiulensis missis hominibus suis cum Wonomyro Sclavo in Pannonias hringum gentis Avarorum longis retro temporibus quietum, civili bello fatigatis inter se principibus, spoliavit. 77 Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni imperatoris 1,34, ed. Hans F. HAEFELE, MGH SSrG N.S. 12, München !1980, S. 47. 78 Annales Bertiniani a. 852 (wie Anm. 40), S. 65: Godefridus, Herioldi Dani filius, qui quondam sub imperatore Ludouuico Mogontiaci fuerat baptizatus, a Lothario deficiens, ad suos se confert. 79 Willibald, Vita Bonifatii 9, ed. Wilhelm LEVISON, MGH SSrG 57, Hannover-Leipzig 1905, S. 56. Anselm von Canterbury, so berichtet Eadmer, Historia Novorum in Anglia 1, ed. Martin RULE, RS 81, London 1884, S. 45f., habe sich an – den folglich noch lebenden – Wulfstan von Worcester gewandt, unus et solus de antiquis Anglorum patribus, vir in omni religione conspicuus et antiquarum Angliae consuetudinum scientia apprime imbutus. 80 Gregor von Tours, Historiae 3,13 (wie Anm. 28), S. 109: Lovolautrum autem castro hostis expugnant Proculumque presbiterum, qui quondam sanctum Quintiano iniuriam intulerat, ad altarium eclesiae miserabiliter interficiunt. Gerade bei Gregor von Tours ist ein solcher Gebrauch häufig anzutreffen. Vgl. ebd. 4,47, S. 184, zu Theudebert, dem Sohn Chilperichs, qui a Sigybertho quondam adpraehensus sacramentum dederat, ut ei fidelis esset; ebd. 4,51, S. 187: sicut quondam ante mortem Chlothari factum vidimus; ebd., S. 188: Sigila, qui quondam ex Ghotia venerat. 81 Annales Fuldenses a. 887 (wie Anm. 47), S. 105. 82 Wipo, Gesta Chuonradi 34 (wie Anm. 48), S. 54: Item eodem tempore magna et modernis temporibus inaudita confusio facta est Italiae propter coniurationes, quas fecerat populus contra principes.
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nen er die Wunder des Heiligen noch nicht selbst miterlebt hat,83 und er macht einen Einschnitt mit dem Jahr 864 als der ihm nächsten Zeit (proximo tempore). Sind praeteritus und antiquus, aber auch olim und tunc somit zunächst auf einen – viel oder auch nur wenig – früheren (allerdings oft andauernden) Zustand gerichtet, so schafft die häufige Gegenüberstellung von „Damals“ und „Jetzt“ jeweils eine mehr oder weniger klare Abgrenzung beider Zeiten, die in jedem Einzelfall eine zeitliche Einordnung erlaubt, im Gesamtvergleich allerdings ebensowenig zu einem eindeutigen Ergebnis führt: Es gibt keine feste Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die mit „einst“ oder „damals“ bezeichneten Gegebenheiten84 können (erneut) sehr weit (etwa in die Zeit des Alten Testaments oder Trojas) zurückreichen, aber auch nur wenige Jahre zurückliegende Ereignisse bezeichnen. Olim etwa kann sich – bei ein und demselben Autor (wie Widukind von Corvey) – auf die römische Eroberung Britanniens unter Kaiser Vespasian beziehen,85 aber auch nur eine Generation86 oder wenige Jahre zurückliegen,87 und Gleiches gilt für quondam, das zusätzlich gern benutzt wird, um auszudrücken, daß jemand bereits verstorben ist88 oder ein bestimmtes Amt, das er vorher innegehabt hat, jetzt nicht mehr ausübt.89 Auch 83 Vita Liudgeri III 2,26 (wie Anm. 42), S. 123: Sed nos haec, quae a praesenti longiuscule sunt tempore remota, eorum fidei, qui se vidisse testati sunt, relinquemus. 84 Vgl. dazu GOETZ, Vergangenheitsbegriff (wie Anm. 13), S. 182-185, mit Beispielen, die hier nicht wiederholt seien. 85 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,8 (wie Anm. 65), S. 8f. benutzt olim für die Eroberung Britanniens unter Vespasian. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus, ed. Georg Heinrich PERTZ, MGH SS 2, Hannover 1829, S. 264, geht anläßlich der fränkischen Herkunftssage gar bis auf Aeneas und Troja zurück: ab Anchise patre Aeneae, qui a Troia in Italiam olim venerat, creditur esse deductum. 86 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,35 (wie Anm. 65), S. 50, zu den Slawensiegen Ottos des Erlauchten, die Heinrichs I. Erfolge vorbereiteten. 87 Ebd. 2,1, S. 63, zur Designation Ottos I. (929) durch seinen Vater Heinrich I., anläßlich der Königswahl Ottos im Jahre 936: iam olim designatum regem a patre. 88 Vgl. Adam von Bremen, Gesta 2,6 (wie Anm. 33), S. 138, zu Emma, uxor quondam Liutgeri comitis; Annales Bertiniani a. 844 (wie Anm. 40), S. 46: Pippinus Pippini quondam regis filius; Lampert von Hersfeld, Annales a. 1071 (wie Anm. 29), S. 125: comitatum Reginheri quondam comitis usw. Solche Stellen sind ausgesprochen häufig. Ein Beleg dafür ist auch die sich verfestigende Formal regnum (quondam) Hlotharii für das Teilreich Lothars II. 89 Vgl. Regino von Prüm, Chronicon a. 746 (wie Anm. 40), S. 43, zu dem ehemaligen Hausmeier Karlmann, der sich als Mönch nach Montecassino zurückzog: Iste est Carlomannus quondam rex Francorum; Continuator Reginonis a. 966, ebd. S. 177: Eodem anno Berengarius quondam Italiae rex exul moritur et in Babenberg regio more sepelitur; Annales Bertiniani a. 866 (wie Anm. 40), S. 128, zum Streit über Bischöfe ab Ebone quondam Remorum archiepiscopo post depositionem suam ordinati; Gregor von Tours, Historiae 5,18 (wie Anm. 28), S. 224, zur Enthauptung Ciucilos, qui quondam comes palatii Sygiberthi regis fuerat; Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,33 (wie Anm. 65), S. 46, zu Karl dem Einfältigen: regia quondam potestate preditus, modo privatus; Lampert von Hersfeld, Annales a. 1073 (wie Anm. 29), S. 148: Otto dux quondam Baioariae; Wilhelm von Malmesbury, Historia novella 1,21, ed. Edmund KING, Oxford 1998, S. 40: Denique multos etiam comites, qui ante non fuerant, instituit. Auch dafür gäbe es viele weitere Belege.
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einstige Getreue können nun einem anderen Herrn gehorchen.90 Wipo schreibt mit seinen bald nach dem Tod Konrads II. verfaßten ‚Gesta‘ dieses Königs nach eigenen Worten über die selbst miterlebte Zeit (meis temporibus),91 doch zugleich über einen bereits verstorbenen König: Die Epoche Konrads II. ist damit gewissermaßen Gegenwart und Vergangenheit zugleich. Die Zeit der Königswahl ist für Wipo bereits ein nur noch erinnertes „Damals“ (tunc temporis principes);92 ein sieben Jahre vor dem Tod eingetretener Vorfall hat sich ebenfalls bereits „damals“ ereignet,93 und selbst den gerade ein Jahr zurückliegenden Aufstand Herzog Konrads ordnet Wipo im Bericht zu 1027 als „früher“ (prius) geschehen ein.94 Umgekehrt kann „neulich“ (nuper) unter Umständen die Zeit vor 130 Jahren meinen, in der zweiten Bedeutung des Begriffs („vor Zeiten“).95 Und schließlich kann sich die aktuelle Gegenwart gegen die gesamte bisherige Vergangenheit abgrenzen: Der Autor einer kleinen Schrift, welche die Wunder des heiligen Germanus anläßlich des Normanneneinfalls von 845 festhält, die preteritis ac nostris […] temporibus geschehen sind,96 glaubt, eine solche Bedrohung habe sich nie zuvor in der Vergangenheit (retroactis temporibus) ereignet,97 ja, seit der Schöpfung habe man dergleichen niemals vernommen oder gelesen.98 Zugleich habe den Franken aber die Kriegsbereitschaft gefehlt, wie sie früher gang und gäbe gewesen sei (ut antiquitus mos erat).99 Das Vergangene (und Einstige) kann sich demnach vor langer, aber auch vor recht kurzer Zeit ereignet haben, wird in der Regel aber auf einen Wandel deuten. Entsprechend werden mit Begriffen wie antiquus oder auch quondam sehr häufig Zustände gekennzeichnet, die jetzt nicht mehr gelten (gegebenenfalls aber in der Gegenwart wiederbelebt oder wiederhergestellt werden sollen). So berichtet Gregor von Tours von einer Taufe nach früherem Ritus,100 gestattete 90 Vgl. Annales Bertiniani a. 873 (wie Anm. 40), S. 192: Der geblendete Karlmann wurde per homines quondam suos aus dem Kloster Corbie zu Ludwig dem Deutschen geführt. 91 Wipo, Gesta Chuonradi prol. (wie Anm. 48), S. 8: quae meis temporibus acciderant, prout ipse vidi aut relatu aliorum didici. 92 Ebd.: si prius, qui pontifices vel caeteri principes tunc temporis regni praesidio fuerint, commemorabo. 93 Ebd. 29, S. 48: Damals (tunc temporis), nämlich im Jahr 1032, zürnte der Kaiser dem Herzog Udalrich von Böhmen. 94 Ebd. 21, S. 41. 95 So bei Adam von Bremen, Gesta 1,63 (wie Anm. 33), S. 60, mit Bezug auf Erzbischof Unni im Jahre 936. 96 Miracula in Normannorum adventu facta 1, ed. Georg WAITZ, MGH SS 15,1, Hannover 1887, S. 10, und (vollständig) ed. Karl de SMEDT, Wilhelm van HOOFF u. Joseph de BACKER, Analecta Bollandiana 2, 1883, S. 69-98, hier S. 70. 97 Ebd. 2, WAITZ, S. 10, SMEDT/HOOFF/BACKER, S. 71. 98 Ebd. 4, WAITZ, S. 11, SMEDT/HOOFF/BACKER, S. 72. 99 Ebd. 3, WAITZ, S. 10, SMEDT/HOOFF/BACKER, S. 71. 100 Gregor von Tours, Liber in gloria confessorum 68, ed. Wilhelm ARNDT u. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 1,2, Hannover 1885, S. 788: De quo etiam ad aliud lavacrum, in quo consuetudo prisca baptizari instituit, aqua defertur; non tamen cumulatur, ut de illis fontibus Hispaniae supra retulimus.
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Karl der Große den Fränkischen Reichsannalen zufolge den Awaren die Herrschaft eines Khans iuxta priscum eorum ritum,101 war Hamburg für Adam von Bremen einst die berühmteste Stadt der Sachsen,102 brannte der Abodritenfürst Mistui nach Thietmar von Merseburg Hômanburg (Hamburg) nieder, wo einst ein Bischofssitz war,103 war Oldenburg einst Bistum (jetzt war es Lübeck),104 waren die Ungarn für Helmold von Bosau einst das stärkste Volk gewesen, vor denen sich sogar das Römische Reich fürchtete,105 oder waren einstmals blühende Städte jetzt erschreckend öde.106 Die „alten Bräuche“ der Slawen bei Herbord bezogen sich auf deren jetzt abgelegtes Heidentum.107 Oft waren die so beschworenen Zustände seit langem vorüber: Als die Römer Friedrich Barbarossa die Kaiserkrone aus ihrer Hand anboten, soll der Herrscher Otto von Freising zufolge geantwortet haben: „Das war einmal (fuit, fuit quondam); einst gab es in diesem Staat Tugend. ‚Einst‘, sage ich. Könnten wir doch ebenso wahr wie gern ‚jetzt‘ sagen. Doch dein oder vielmehr auch unser Rom spürt den Wandel der Zeiten.“108 In solchen Worten werden „einst“ und „jetzt“ deutlich voneinander abgehoben und durch einen langen Zeitraum ebenso getrennt wie durch den inzwischen eingetretenen Wandel. Das Alte kann sogar ganz verschwinden, in Vergessenheit geraten und durch Neues ersetzt werden.109 Oft ist das „Frühere“, „Alte“ oder „Einstige“ allerdings gerade nicht vergangen, sondern dauert „von alters her“ bis zur Gegenwart an: Kirchen etwa sind
101 Annales regni Francorum a. 805 (wie Anm. 40), S. 120. 102 Adam von Bremen, Gesta 1,1 (wie Anm. 33), S. 4: quoniam Hammaburg nobilissima quondam Saxonum civitas. 103 Thietmar von Merseburg, Chronicon 3,18 (wie Anm. 45), S. 120. Der Bischofssitz war 847 nach Bremen verlegt worden. 104 Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,69, ed. Bernhard SCHMEIDLER, MGH SSrG 32, Hannover 31937, S. 134: Inde progrediens visitavit Aldenburg, ubi sedes quondam episcopalis fuerat. 105 Ebd. 1,1, S. 6: Ungarica gens validissima quondam et in armis strennua, ipsi etiam Romano imperio formidolosa. 106 So Lampert von Hersfeld, Annales a. 1074 (wie Anm. 29), S. 184: et quod circumiacentis regionis opulentissimas quondam villas nunc in horrorem vastamque solitudinem redegisset. 107 Herbord, Vita Ottonis 2,17 (wie Anm. 50), S. 67: Quae omnia illi cum multo gaudio, alacritate ac devotione suscipientes et gratias agentes, omnes veteres et profanas superstitiones suas et gentiles observantias penitus abiciebant, et exuti veterem hominem cum actibus suis, in vitae novitate ambulare coeperunt et proficere. Vgl. auch Willibald, Vita Bonifatii 6 (wie Anm. 79), S. 27: expurgata paganica vetustate dank der Taufe vieler Menschen. Die Vita Eugendi abbatis 2 (wie Anm. 49), S. 154, spricht vom „alten Heidentum“ (vetusta paganitas). 108 Otto von Freising, Gesta Frederici 2,32 (wie Anm. 59), S. 346: Fuit, fuit quondam in hac re publica virtus. Quondam dico. Atque o utinam tam veraciter quam libenter nunc dicere possemus! Sensit Roma tua, immo et nostra, vicissitudines rerum. 109 Vgl. Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,12 (wie Anm. 104), S. 25: De urbibus vero aut prediis aut curtium numero, quae ad possessionem pontificis pertinebant, non est huius operis explanare, eo quod vetera in oblivionem venerint, et ecce nova sunt omnia.
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ab antiquis temporibus bestimmten Heiligen geweiht.110 Das Alte ist damit teilweise immer noch wirksam (wie alte Canones) oder sichtbar (wie alte Bauten), oder es wird erneuert: Der mos antiquorum principum, die (Rechts-)Gewohnheiten der römischen Kaiser, wurden nach den Fränkischen Reichsannalen durch die Kaiserkrönung Karls des Großen wiederbelebt,111 und in Mailand war Arnulf zufolge das alte Gewohnheitsrecht, wonach einer der „Kardinäle“ in der Erzbistumswürde nachfolgen sollte, noch wohlbekannt.112 Dieselben Begriffe beziehen sich damit sowohl auf vergangene, seit langem oder auch erst seit kurzem nicht mehr gültige als auch auf seit früheren Zeiten bis heute andauernde Zustände und kennzeichnen damit – wiederum – nicht zwangsläufig die Vergangenheit, auch wenn sie auf Vergangenes rekurrieren. In der Geschichtserzählung differenzieren solche Zeitbegriffe genau genommen sogar zwischen (mindestens) drei Zeit- (mit zwei Vergangenheits-)ebenen: der Gegenwart des Schreibers, der vergangenen Berichtszeit und der davor liegenden Vergangenheit. Nunc/modo/hodie können sich auf die beiden ersten, tunc kann sich auf die beiden letzten beziehen (wenngleich es in der Regel eher auf die Berichtszeit verweist). Jenes kann in der Wahrnehmung der Autoren demnach sowohl ein historisches als auch ein gegenwärtiges „Jetzt“, dieses sowohl ein die damalige Gegenwart kennzeichnendes als auch ein im Vergleich zu dieser Zeit bereits vergangenes „Damals“ sein. So hebt beispielsweise der nach 1060 schreibende Adam von Bremen den Rückfall der Slawen ins Heidentum nach dem Tod Ottos II. (982) als nunc von dem Einst (olim) des Alten Testaments (der Vernichtung der sieben Stämme Kanaan) ab.113
2.3.2.
Inhaltliche Determinierung: Wodurch wird Vergangenes gekennzeichnet?
Ähnlich vielfältig wie die zeitliche ist die inhaltliche Determinierung des Vergangenen, die sich vor allem in den Damals-Jetzt-Gegenüberstellungen enthüllt. Tatsächlich gibt es eine Fülle inhaltlicher Abgrenzungskriterien, nach denen (jeweils) zwischen „damals“ und „jetzt“ unterschieden wird. Zeigen solche Vergleiche in der Regel einen zeitlichen Wandel an, indem sie Zustände in einer (oft durchaus noch nahen) Vergangenheit ansprechen, die, wie erwähnt, jetzt entweder nicht mehr gelten oder aber in der Vergangenheit begonnen haben und bis
110 Vgl. Ortlieb von Zwiefalten 1,3 (wie Anm. 73), S. 18, zu Maria als Patronin seiner Klosterkirche. 111 Annales regni Francorum a. 801 (wie Anm. 40), S. 113. 112 Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium 1,1 (wie Anm. 58), S. 119: Priscam namque noverat loci consuetudinem, ut decedente metropolitano quilibet unus ex maioris ecclesie precipuis cardinalibus, quos vocant ordinarios, succedere debeat. 113 Adam von Bremen, Gesta 2,44 (wie Anm. 33), S. 105.
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zur Gegenwart andauern, so geht es inhaltlich häufig um einen Namens-114 oder Titelwechsel (wenn beispielsweise der Kaiser „damals“, nämlich „seinerzeit“, noch König war),115 ein neues Amt,116 einen Wechsel der Standes-117 oder der Herrschaftsverhältnisse – damals, zu Beginn der Regierungszeit Konrads II., so Wipo, war Burgund noch nicht (wie jetzt) Teil des Römischen Imperiums;118 einst hatte Polen nach Helmold von Bosau einen König, jetzt nur Herzöge119 –, um einen Wechsel der politisch-sozialen Beziehungen120 oder auch um eine Verschärfung der Politik121 oder einen Wandel des Charakters,122 nicht zuletzt aber auch einen Wandel des Glaubens durch Annahme des Christentums: Wilhelm von Malmesbury grenzt nostra secula von den secula gentilium ab; „unsere Zeitalter“ sind hier folglich die christlichen Zeiten.123 Dänen, Norweger und Schweden, so Adam von Bremen in einem höchst bezeichnenden Kommentar, einst (olim) Piraten und Plünderer, begnügten sich jetzt (nunc) mit ihren eigenen 114 So hieß die Elbe nach Adam von Bremen, Gesta 1,2 (wie Anm. 33), S. 5, früher Albis, jetzt Albia, hießen die Westsachsen nach Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum 3,37 (wie Anm. 58), S. 190, früher (antiquitus) Geuisse, die Britannischen Inseln einst Albion (Adam von Bremen, Gesta 2,22, Schol. 19, S. 81). Vgl. auch Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum 1,3, S. 14, zu den Städtenamen zur Zeit der Römer und Briten. 115 Zum Beispiel bei Thietmar von Merseburg, Chronicon 7,70 (wie Anm. 45), S. 484. 116 Der Magdeburger Dompropst Geddo, quondam scolae magister, sed tunc aecclesiae custos, wurde als Nachfolger Rotmanns nach Thietmar von Merseburg, Chronicon 7,35 (wie Anm. 45), S. 442: In drei Perioden hat er also drei verschiedene Ämter innegehabt: vor der Berichtszeit Schulleiter, zur Berichtszeit Kustos, seither und zur Abfassungszeit Propst. 117 Vgl. Thietmar von Merseburg, Chronicon 6,25 (wie Anm. 45), S. 304: Als die Liutizen (heidnische) Soldaten in das christliche Heer Heinrichs II. sandten, sah sich Thietmar zu folgendem Kommentar veranlaßt: Hii milites, quondam servi nostrisque iniquitatibus tunc liberi, tali comitatu ad regem auxiliandum proficiscuntur. 118 Wipo, Gesta Chuonradi 1 (wie Anm. 48), S. 12: Burgundia enim nondum Romano imperio, ita ut nunc, acclinis fuerat. Quod autem modo subiecta est, trium regum gloriae asscribitur. Vgl. Gregor von Tours, Historiae 2,27 (wie Anm. 28), S. 71: Anno autem quinto regni eius Siacrius Romanorum rex, Egidi filius, apud civitatem Sexonas, quam quondam supra memoratus Egidius tenuerat, sedem habebat. 119 Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,1 (wie Anm. 104), S. 7: quondam habuit regem, nunc autem ducibus gubernatur. 120 Vgl. Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,10 (wie Anm. 65), S. 17, zur Rede Irings: ‚Haec‘, ait, ‚misit tibi quondam tuus propinquus, modo servus.‘ Vgl. ebd. 2,2, S. 67: Sigifridus vero, Saxonum optimus et a rege secundus, gener quondam regis, tunc vero affinitate coniunctus, eo tempore procurabat Saxoniam. 121 So hatte Erzbischof Adalbert von Bremen nach Adam, Gesta 3,37 (wie Anm. 33), S. 180, das Bistum schon vorher (antea) durch Heerfahrten und Hofhaltung belastet; jetzt richtete er es durch die Einrichtung von Propsteien und Burgen ganz zugrunde. 122 So verschlechterte sich Adalberts Charakter am Ende; vgl. ebd. 3,1, S. 143: Nam cum talis fuerit ab initio, circa finem deterior videbatur. 123 Wilhelm von Malmesbury, Historia novella 2,26 (wie Anm. 89), S. 52: Responsum est a legato ex compendio non debere illum, qui se Christi fidei subiectum meminisset, indignari si a ministris Christi ad satisfactionem uocatus esset, tanti reatus conscius quantum nostra secula nusquam uidissent. Gentilium quippe seculorum opus esset episcopos incarcerare et possessionibus suis exuere.
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Grenzen, und während sie vorher nur ein barbarisches Gekrächze zustande gebracht hätten, sängen sie nun in Christi Namen das Halleluja.124 Zeitlich ist die Grenze zwischen einst und jetzt hier wiederum nicht festzumachen – es handelt sich schließlich um einen längeren Prozeß –, typologisch aber wird deutlich, daß der Übergang vom Heidentum zum Christentum, vom Barbarentum zur Zivilisation und von der Piraterie zur Staatlichkeit Adam hier gleichermaßen als Abgrenzungskriterien dienen. Durch die Christianisierung der Sachsen unter Karl dem Großen, so berichtet entsprechend Widukind von Corvey, seien die einstigen Bundesgenossen der Franken, „wie man jetzt sieht,“ zu deren einträchtigen Glaubensbrüdern und mit jenen zu einem christlichen Volk geworden.125 Ganz ähnlich, jetzt aber auf das Land (und seine Bewohner) bezogen, erscheint das Slawengebiet (Slavorum regio) von der Eider bis zur Ostsee und von der Elbe bis nach Schwerin Helmold von Bosau einst (olim) wegen der Hinterhalte schrecklich und beinahe wüst, jetzt aber (nunc) ist es dante Deo ganz in eine Kolonie der Sachsen mit Städten, Burgen und Kirchen (civitates et oppida, et [...] ecclesiae) verwandelt.126 Zahl und Art der Abgrenzungskriterien sind höchst vielfältig: Allein bei Adam von Bremen bezieht sich das (zusätzlich) auf die (ersehnte) Einrichtung von Suffraganbistümern,127 die Einführung der Kanonikerregel128 oder die Herabwirtschaftung des Erzbistums,129 bei Arnold von Lübeck auf die Anpassung der Dänen in Waffen und Kleidung an die übrigen „Nationen“.130 Ein ähnlich großes Spektrum an verschiedenen Inhalten weist die Charakterisierung als „alt“ oder „früher“ (antiquus, vetus, priscus) auf. Die Geschichtsschreiber kennen alte Rechte (und damit eine alte Ehre): einen antiquus honor (wie die Ehre der früher einmal florierenden Bremer Kirche),131 eine antiqua consuetudo132 oder antiqui canones;133 ferner alte Grenzen,134 frühere Schuld oder Ver124 Adam von Bremen, Gesta 4,44 (wie Anm. 33), S. 280. 125 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,15 (wie Anm. 65), S. 25: ob id qui olim socii et amici erant Francorum, iam fratres et quasi una gens ex Christiana fide, veluti modo videmus, facta est. 126 Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 2,110 (wie Anm. 104), S. 218. 127 Adam von Bremen, Gesta 2,1 (wie Anm. 33), S. 61. 128 Ebd. 2,48, S. 108. 129 Ebd. 2,17, S. 73: olim viris et armis potens [...], nunc vero [...] in solitudinem redacta est. 130 Arnold von Lübeck, Chronica Slavorum 3,5, ed. J. M. LAPPENBERG, MGH SSrG 21, Hannover 1869, S. 146. 131 So Adam von Bremen, Gesta 1 prol. (wie Anm. 33), S. 1: Mox igitur ut oculis atque auribus accepi ecclesiam vestram antiqui honoris privilegio nimis extenuatam multis egere constructorum manibus, cogitabam diu, quo laboris nostri monimento exhaustam viribus matrem potuerim iuvare. Vgl. ebd. 3,70, S. 225: antiqui honoris privilegia; ähnlich Otto von Freising, Chronik 4,5 (wie Anm. 23), S. 191, zur Translation des regnum Romanorum auf die Griechen: mansitque propter antiquam Urbis dignitatem solo nomine ibi. Die „Würde“ des Römischen Reichs ist zwar vergangen, wirkt aber zumindest im Namen nach. Vgl. auch Annales regni Francorum a. 805 (wie Anm. 40), S. 120, zur Gesandtschaft des Awarenkhans: petens sibi honorem antiquum, quem caganus apud Hunos habere solebat. 132 Vgl. Annales Bertiniani a. 841 (wie Anm. 40), S. 39, zum alten Recht der Sachsen (optionem cuiuscumque legis uel antiquorum Saxonum consuetudinis).
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dienste,135 Sünden oder Missetaten,136 immer wieder auch alte, zum Teil verlassene oder heruntergekommene, teils aber auch ehrwürdige Bauten (Kirchen, Burgen, Häuser),137 außerdem früheres Elend138 oder Unglück (antiqua calamitas),139 alte Streitigkeiten,140 „alte Treue“,141 „alte Liebe“142 und „alten Haß“,143 „frühere Eide“,144 „alte Bündnisse“ und „alten Frieden“,145 „alte Freundschaften“ oder „Feindschaften“ (antiqua/vetus amicitia/inimicitia)146 oder „alte“ 133 Vgl. ebd. a. 872, S. 187 (et quaedam contra antiquos canones sed et contra suam ipsam synodum constituerunt); Thangmar, Vita Bernwardi 13, ed. Georg Heinrich PERTZ, MGH SS 4, Hannover 1841, S. 764 (antiqua canonum statuta). 134 Vgl. Annales Fuldenses a. 869 (wie Anm. 47), S. 67, zu den Böhmen: et ceteris circumcirca vicinis antiquos terminos Thuringiorum transgredientes. 135 Vgl. Lampert von Hersfeld, Annales a. 1072 (wie Anm. 29), S. 137 (ob vetus meritum suum); ebd. a. 1075, S. 211 (veniam se eis dare veteris culpae); Brunos Buch vom Sachsenkrieg 117, ed. Hans-Eberhard LOHMANN, MGH Deutsches Mittelalter 2, Leipzig 1937, S. 110, zur früheren Tugend Herzog Ottos von Northeim (ut antiquae memor virtutis). 136 Vgl. Brunos Buch vom Sachsenkrieg 7 (wie Anm. 135), S. 17: antiqua flagitia sua. 137 Vgl. Thangmar, Vita Bernwardi 12 (wie Anm. 133), S. 763 zur antiqua aecclesia in Brunshausen; Adam von Bremen, Gesta 2,81 (wie Anm. 33), S. 139, zur früheren Bischofsburg in Bremen, die durch einen Brand gänzlich zerstört wurde (veterisque habitaculi nullum remansit vestigium); ebd. 3,27, S. 170: Der Herzog verließ die alte Burg in Hamburg und baute eine neue zwischen Elbe und Alster auf (Nam et dux eo tempore relicto veteri castello Hammaburg novum quoddam praesidium sibi suisque fundavit infra Albiam flumen et rivum, qui Alstra vocatur). Ehrwürdig: Vita Norberti 19 (wie Anm. 62), S. 698: Bei dem Aufstand der Magdeburger flüchtete sich Norbert auf einen unvollendet gebliebenen Kirchturm, quod ab imperatore Ottone constructum erat antiquitus loco. Nach Brunos Buch vom Sachsenkrieg 34 (wie Anm. 135), S. 36, verschonte Heinrich IV. die zu Ehren des Reichs errichteten antiquae urbes (im Gegensatz zu den neuen Burgen). 138 Calamitates preteritorum temporum: Otto von Freising, Chronik 2 prol. (oben Anm. 39). 139 So Gregor von Tours, Historiae 5,27 (wie Anm. 28), S. 233. 140 Vgl. Annales Bertiniani a. 845 (wie Anm. 40), S. 50 (veteri discordia recrudescente); Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 2,107 (wie Anm. 104), S. 210 (vetus controversia); Adam von Bremen, Gesta 2,8 (wie Anm. 33), S. 66, zu den früheren Aufständen der Sachsen (propter veteres illius gentis seditiones). 141 Vgl. Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 3,44 (wie Anm. 65), S. 123, zu Gesandten der Ungarn: tamquam ob antiquam fidem ac gratiam eum visitantes. 142 Vgl. Gregor von Tours, Liber de passione Iuliani 2, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 1,2, Hannover 1885, S. 564: propter antiquam dilectionem eorum. 143 Vgl. Vita Norberti 8 (wie Anm. 62), S. 677: coepit eos humili exhortatione a veteris odii litibus revocare; Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium 1,10 (wie Anm. 58), S. 132: Post hec et alia multa inspirante deo et interveniente consultu sapientium partis utriusque nova pax vetera dissolvit odia; Thangmar, Vita Bernwardi 43 (wie Anm. 133), S. 777 (vetus odium). 144 Annales regni Francorum a. 781 (wie Anm. 40), S. 58: ut reminisceret priscorum sacramentorum suorum (zur Ermahnung Tassilos III.). 145 Vgl. Gunther von Pairis, Ligurinus 10,75 (wie Anm. 56), S. 468: Omnia in antiquam correcta reducere pacem. 146 Vgl. Gregor von Tours, Historiae 10,14 (wie Anm. 28), S. 500; Annales regni Francorum a. 808 (wie Anm. 40), S. 126: propter antiquas inimicitias (der Wilzen mit den Abodriten); Brunos Buch vom Sachsenkrieg 36 (wie Anm. 135), S. 38 (ut antiquae memor amicitiae sibi
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(= schon früher angewandte) Charaktereigenschaften oder Maßnahmen.147 In solchen Beispielen geht es also oft um (politische oder auch persönliche) Beziehungen, die in der Vergangenheit begründet wurden und/oder eine längere Tradition hatten. Für Widukind sind die Ungarn mehrfach „die alten Feinde“ (antiqui hostes).148 Selbst Wörter können „alt“ werden und außer Gebrauch geraten,149 aber auch ihren ursprünglichen Sinn behalten.150 Auch hier sind die Begriffe vielfach relativ und relational: Eine Stadt (bzw. ein Stadtteil) wird zur „Altstadt“, wenn daneben eine neue Siedlung errichtet wird.151 Nicht selten ist auch der Geschichtsbericht selbst angesprochen: Das Volk der Sachsen sei, so Adam von Bremen, sicut tradit antiquitas, von Britannien über das Meer an die Küsten Germaniens gekommen.152 Von historiae et antiquorum res gestae, die Karl dem Großen vorgelesen wurden, spricht unmittelbar Einhard in seiner Karlsvita.153 Die antiqui, so Wipo, hätten die acta der Sieger niedergeschrieben, um ihnen die ewige Erinnerung der Nachwelt zu sichern,154 und Arnulf von Mailand las Berichte „in uralten Geschichtsbüchern, die heute in der
[...] in auxilium veniat); ebd. 87, S. 81f. (quod Suevos tam crudeliter antiquum foedus infregisse poenituit); ebd. 130, S. 123 (veteres amicos); Cosmas von Prag, Chronica Boemorum 3,9 (wie Anm. 40), S. 169 (renovant antiqua amicicie et pacis federa); ebd. 3,12, S. 172 (per antique amicitie federa); ebd. 3,42, S. 215 (quatenus cum rege novello, nomine Stephano, renovaret et corroboraret antiquam pacem et amiciciam); Adam von Bremen, Gesta 3,29 (wie Anm. 33), S. 172 (pro veteri amicitia nil abnegaturum); Lampert von Hersfeld, Annales a. 1074 (wie Anm. 29), S. 196 (veteri amiciciae); ebd. 1075, S. 230 (novis occasionibus veteres inimiciciae instaurarentur). Alte Vertraute (antiqui familiares): Brunos Buch vom Sachsenkrieg 33 (wie Anm. 135), S. 35. 147 So fürchteten die Sachsen nach Brunos Buch vom Sachsenkrieg 131 (wie Anm. 135), S. 123, die alte Hinterlist (antiqua ars) Heinrichs IV. 148 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,38 (wie Anm. 65), S. 55; 2,5, S. 71; 2,14, S. 78; vgl. Gregor von Tours, Liber in gloria confessorum 31 (wie Anm. 100), S. 767: refert antiquitas. 149 Vgl. Adam von Bremen, Gesta 1,12 (wie Anm. 33), S. 14: Huic parrochiae X pagos subiecimus, quos etiam abiectis eorum antiquis vocabulis et divisionibus in duas redegimus provintias, his nominibus appellantes, Wigmodiam et Lorgoe. Die Namen treffen ebensowenig mehr zu wie die alte Gaueinteilung. Vgl. Willibald, Vita Bonifatii 6 (wie Anm. 79), S. 31, zum prisco paganorum vocabulo. 150 Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium 3,6 (wie Anm. 58), S. 173, zu dem Umstand, daß das Schlachtfeld (Campo Morto) antiquitus campus [...] Mortuus hieß und sich deshalb der alte Begriff bewahrheitete: Implevit denique die illa veteris idioma vocabuli. 151 Vgl. Adam von Bremen, Gesta 3,27, zur Verlagerung der Herzogsburg an die untere Alster (oben Anm. 137): Ita nimirum cordibus vel mansionibus ab invicem divisis, dux novum, archiepiscopus vetus coluit oppidum. Vgl. aber auch einfach den Hinweis auf das Alter einer Stadt: Annales Fuldenses a. 871 (wie Anm. 47), S. 74: urbem antiquam Rastizi. 152 Adam von Bremen, Gesta 1,4 (wie Anm. 33), S. 7. Vgl. ebd. 1,51, S. 52: Sanctitati eius testimonium asserit veterum tradicio. Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 85), S. 264: gens Francorum, sicut a veteribus est traditum, a Troiana prosapia trahit exordium. 153 Einhard, Vita Karoli 24 (wie Anm. 70), S. 29: Legebantur ei historiae et antiquorum res gestae. 154 Wipo, Gesta Chuonradi prol. (wie Anm. 48), S. 6.
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Stadt Mailand liegen“.155 Thegan wiederum berichtet, Ludwig der Fromme sei so freigebig gewesen, „wie man es vorher weder in alten Büchern noch in modernen Zeiten gehört hat“.156 Antiquitas ist hier (und anderwärts157), gleichbedeutend mit vetustas,158 offensichtlich eine alte Überlieferung. Die erste Goarvita, die Vorlage Wandalberts von Prüm, gilt diesem entsprechend als perantiquus,159 der Bibelbericht ist für Herbord historia antiquitatis.160 Allerdings kann das Alter die Erinnerung (und Überlieferung) auch verblassen lassen: Vor lauter vetustas, so Widukind von Corvey, sei die Herkunft der Sachsen ganz unklar und nur gerüchteweise (fama) überliefert161 (wobei vetustas hier sowohl das Alter der Überlieferung als auch das lange zurückliegende Zeitalter meinen kann), und für Cosmas von Prag gerät lange Vergangenes sogar leicht in den Verdacht der „Fiktion“.162 Stets ist Vergangenes in der Gefahr, wegen der vetustas temporum vergessen oder verfälscht zu werden.163 Alter bewirkt also, wie einige der genannten Beispiele zeigen und oben bereits angedeutet ist, Verfall und Zerstörung, so daß oft nur noch Reste übrig bleiben.164 So stürzte der Soller in der Pfalz Flamersheim wegen seines zu hohen 155 Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium (wie Anm. 58), S. 234: Legitur enim in antiquissimis historiis, que hodie habentur in civitate Mediolanensi. 156 Thegan, Vita Hludowici imperatoris 19, ed. Ernst TREMP, MGH SSrG 64, Hannover 1995, S. 202: ut antea nec in antiquis libris nec modernis temporibus auditum est. 157 Vgl. Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,69 (wie Anm. 104), S. 130, zu den skandinavischen Bischöfen, quos Hammemburgensi ecclesiae quondam pertinuisse commemorat antiquitas. Ebd. 1,6, S. 16: Tradit enim veterum antiqua relacio, mit Bezug auf die Zeit Ludwigs des Deutschen. 158 Vgl. Thietmar von Merseburg, Chronicon 8,30 (wie Anm. 45), S. 528: Post tempora Caroli in una die vel anno aliquid in hiis regionibus tale non accidit, sicut vetustas asserit. 159 Wandalbert von Prüm, Vita s. Goaris, ed. Hans-Erich STIENE (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters 11), Frankfurt a. M. 1981, S. 37: Haec habui de uita sancti uiri Goaris, quae scripturae mandarem, accepta ex uetustis et perantiquis exemplaribus. 160 Herbord, Vita Ottonis 3,16 (wie Anm. 50), S. 130: iuxta historia antiquitatis, qua dicitur: Populus Samariae deos gentium colens, nichilominus Domino serviebat. 161 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,2 (wie Anm. 65), S. 4: Et primum quidem de origine statuque gentis pauca expediam, solam pene famam sequens in hac parte, nimia vetustate fere certitudinem obscurante. 162 Cosmas von Prag, Chronicon 1,13 (wie Anm. 40), S. 32: Et quoniam hec antiquis referuntur evenisse temporibus, utrum sint facta an ficta, lectoris iudicio relinquimus. 163 So Casus monasterii Petrihusensis 1,2 (wie Anm. 72), S. 40: et alia multa, qu! vetustate temporum memoria deleta sunt. 164 Vgl. Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,2 (wie Anm. 104), S. 8, zu der von den Dänen vollständig zerstörten Stadt Vinneta: Presto sunt adhuc antiquae illius civitatis monimenta. Vgl. ebd. 1,12, S. 24, zur Besiedlung und Christianisierung der „Provinzen“ Schleswig und Wagrien, die Reste der früheren (heidnischen) Besiedlung nur in den entlegenen Wäldern übrig ließ: Adhuc restant antiquae illius habitacionis pleraque indicia, precipue in silva, quae ab urbe Lutilinburg per longissimos tractus Sleswich usque protrahitur, cuius vasta solitudo et vix penetrabilis inter maxima silvarum robora sulcos pretendit, quibus iugera quondam fuerant dispertita. Vgl. ähnlich Casus monasterii Petrihusensis 1,3 (wie Anm. 72), S. 40, zu Bregenz: loco qui adhuc ruinas ostendit antiqu! habitationis.
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Alters (pro nimia vetustate) ein, und unter den Trümmern wurde der König (Ludwig der Deutsche) schwer verletzt.165 Das antiquitus geweihte und damit geschützte Paris erlag nach Gregor von Tours „neulich“ doch einer Feuersbrunst.166 Während man den Leichnam des heiligen Gereon in seinem Sarkophag unversehrt vorfand – ein Zeichen der Heiligkeit –, war das Leichentuch antiquitate debilitato.167 Ein ähnliches Schicksal erlitten die Kirchengemälde im Kloster Petershausen, denen die antiquitas derart ihren Glanz genommen hatte, daß Abt Konrad sie vollständig entfernen ließ.168 Auch das (Kopf-?)Reliquiar des heiligen Gregor, das einst (olim) verschlossen war, lag jetzt (nunc) pre antiquitate völlig offen.169 Alter wurde hier gleichsam im Verfall sichtbar gemacht,170 Altes durch Neues ersetzt. In Hamburg bauten Erzbischof Unwan und Herzog Bernhard eine neue Burg aus den Ruinen der alten (folglich zerfallenen) Stadt,171 die hier (wie so oft) also zu ganz anderen Zwecken wiederbenutzt wurden.172 Entsprechend konnten Zustände (auch Schriften) „veralten“: Der Chronist von Novalesa erkannte einen früheren Schreiber an manu antiquaria.173 Überall aber wird der frühere Zustand entweder als nicht mehr existent oder aber als zumindest verändert wahrgenommen, ob er sich nun zum Guten oder zum Schlechten hin gewandelt hatte. Das kann bis zum Verlust der innewohnenden Kräfte gehen: Auf Island, das seinen Namen vom Eis trage („Eisland“), so will Adam von
165 Regino von Prüm, Chronicon a. 870 (wie Anm. 40), S. 100f.; Annales Bertiniani a. 870 (wie Anm. 40), S. 171 (de quodam solario uetustate confecto). Vgl. Cosmas von Prag, Chronicon 3,45 (wie Anm. 40), S. 219, zum Jahr 1119: Ein starker Nordwind (oder vielmehr Satan selbst) zerstörte das alte, äußerst feste Mauerwerk der Herzogspfalz Wissegrad (heute ein Teil Prags). 166 Gregor von Tours, Historiae 8,33 (wie Anm. 28), S. 402f. Ebd. 1,32, S. 25: Die Alemannen zerstörten in Gallien cunctasque aedes, quae antiquitus fabraecatae fuerant. Ähnlich Paulus Diaconus, Historia Langobardorum 5,11, ed. Ludwig BETHMANN u. Georg WAITZ, MGH SSrL, Hannover 1878, S. 149: Alles in Rom antiquitus aus Erz Errichtete hat Kaiser Konstantin (Constans III.) dermaßen wegtragen und nach Konstantinopel schaffen lassen, daß er selbst von der Marienkirche (dem alten Pantheon) die Ziegel wegschaffen ließ (omnia quae fuerant antiquitus instituta ex aere in ornamentum civitatis deposuit); danach Regino von Prüm, Chronicon a. 576 (wie Anm. 40), S. 30. 167 Vita Norberti 12 (wie Anm. 62), S. 682. 168 Casus monasterii Petrihusensis 1,22 (wie Anm. 72), S. 56ff. 169 Ebd. 1,26, S. 60. 170 Vgl. zu diesem Aspekt die Arbeiten von Markus Späth (unten Anm. 249). 171 So Adam von Bremen, Gesta 2,70 (wie Anm. 33), S. 132. 172 Vgl. Gregor von Tours, Historiae 5,7 (wie Anm. 28), S. 204, zu einer Zelle, die der Tourser Kleriker Senoch inter parietes antiquos errichtet hatte. 173 Chronicon Novaliciense 3,20, ed. Gian Carlo ALESSIO, Turin 1982, S. 168: Hic famulus fuit predicte ecclesie, tam in scientia litterarum valde imbutus, quamque in recta conscriptione scriptor velocissimus. Siquidem ipse multos et varios ac permaximos libros in eadem ecclesiam suis conscripsit temporibus. Ergo ubicumque sua manu antiquaria libros a se conscriptos inter alios invenimus, extimplo recognoscimus.
Vergangenheit und Gegenwart
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Bremen wissen, sei dieses Eis propter antiquitatem gar so schwarz und trocken, daß es brenne, wenn es angezündet werde.174
2.3.3.
Wertende Determinierung: Wie wird Vergangenheit beurteilt?
Daß die Vergangenheit nicht nur weitaus vorherrschender, sondern konstitutiver Bestandteil mittelalterlicher Chroniken175 und gerade der Rückblick auf die frühen Anfänge zentral ist, daß die Vergangenheit darüber hinaus oft als Ideal und Maßstab für die Gegenwart betrachtet wird (und diese Perspektive eine wesentliche Funktion der Geschichtsschreibung bildet), ist schon mehrfach betont worden.176 Den Streitschriftenautoren bieten historische exempla geradezu rechtskräftige Vorbilder,177 für Otto von Freising bilden die antiqui patres entsprechend ein Leitbild.178 Mit dem Verweis auf ein hohes Alter (dem Rückbezug auf eine fernere Vergangenheit) verbindet sich folglich durchaus eine Wertung. So berief sich bei dem Streit der drei rheinischen Erzbischöfe um die Königsweihe Ottos des Großen nach Widukind von Corvey der Trierer Erzbischof bekanntlich darauf, daß sein Bistum das älteste, gleichsam von Petrus selbst gegründete sei, während der Kölner den in seiner Diözese liegenden Krönungsort Aachen geltend machte. Den Sieg trug hier allerdings Hildibert von Mainz wegen persönlicher auctoritas davon.179 Entsprechend wird gegebenenfalls gern das Alter eines Volkes180 oder eines Geschlechts betont: Daß Isidor von Sevilla die Goten als antiquissimum regnum 174 Adam von Bremen, Gesta 4,36 (wie Anm. 33), S. 272. 175 Vgl., trotz aller Problematik der konkreten Abgrenzung, den Versuch von Norbert KERSKEN, Geschichtsschreibung im Europa der „nationes“. Nationalgeschichtliche Gesamtdarstellungen im Mittelalter (Münstersche Historische Forschungen 8), KölnWeimar-Wien 1995, S. 764ff. sowie die Tabellen S. 865f., den Anteil an Vor-, Vergangenheits- und Zeitgeschichte jeweils prozentual anzugeben. 176 Vgl. exemplarisch GOETZ, Geschichtsschreibung (wie Anm. 3), S. 216-227. 177 Vgl. Hans-Werner GOETZ, Geschichte als Argument. Historische Beweisführung und Geschichtsbewußtsein in den Streitschriften des Investiturstreits, in: HZ 245, 1987, S. 3169. 178 Otto von Freising, Gesta Frederici 1,61 (wie Anm. 59), S. 258 (iuxta antiquorum patrum instituta vel exempla). Vgl. Rahewin, Gesta Frederici 4,86 (wie Anm. 63), S. 710; Brunos Buch vom Sachsenkrieg 112 (wie Anm. 135), S. 104: Ergo praeter illam, quae ab antiquis patribus et a vestra sanctitate in huiusmodi praevaricatores promulgata est, sententiam archiepiscopus Mogontinus maiorum exempla secutus. 179 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 2,1 (wie Anm. 65), S. 65f.: quia antiquior sedes esset et tamquam a beato Petro apostolo fundata. Zur Berufung vieler gallischer Bistümer auf Petrus vgl. Walter LEVISON, Die Anfänge rheinischer Bistümer in der Legende, in: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. DEMS., Düsseldorf 1948, S. 9-27. 180 Das zeigen schon die vielfach, jedoch durchweg einzeln behandelten Herkunftssagen, die sich im übrigen nicht allein auf das eigene Volk bezogen. Schon Fredegar, Chronicon, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 2, Hannover 1888, auf den die Sage von einer trojanischen Herkunft der Franken zurückgeht, verweist an anderen Stellen auf die Herkunft der Rö-
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bzw. (in der zweiten Fassung) als antiquissima gens bezeichnet,181 soll sie zweifellos ebenso aufwerten wie Widukinds ausdrückliche Charakterisierung der Sachsen als gens antiqua et nobilis:182 „Alt“ ist „edel“, Alter „adelt“ gleichsam;183 Otto von Freising bezeugt geradezu eine antiqua nobilitas.184 Daß Erzbischof Adalbert von Bremen Altes verachtete und Neuerungen bevorzugte, wird vom Bremer Geschichtsschreiber Adam durchaus kritisiert.185 Altes erheischt daher eine gewisse Ehrfurcht, auch in bezug auf historische Überlieferungen.186 Bezeichnend ist hier etwa der Hinweis des Caesarius von Prüm (im Jahre 1222), er habe bei der Abschrift des Prümer Urbars (von 893) die Latinität seiner Vorlage ob antiquitatis reverentiam beibehalten und lediglich die überlebten, barbarischen Ortsnamen – damit meint Caesarius die Romanisierungen – dem zeitgemäßen Gebrauch angepaßt.187 Man könne es kaum vermeiden, durch neue Schriften diejenigen zu beleidigen, die selbst die alten, von gelehrten Männern verfaßten
mer aus Troja (2,8), die Ansiedlung der Burgunder (2,46) und der Goten (2,56f.) sowie auf die Herkunft der Langobarden aus Skandinavien (3,65). Zu Beginn des 12. Jahrhunderts fügen Frutolf und Sigebert ihrem Bericht jeweils die Herkunftssagen der einzelnen Völker ein. Vgl. GOETZ, Geschichtsschreibung (wie Anm. 3), S. 186ff. 181 Isidor von Sevilla, Historia Gothorum 1, ed. Theodor MOMMSEN, MGH AA 11, Berlin 1894, S. 268; ed. Cristóbal RODRIGUEZ ALONSO, Las historias de los Godos, Vandalos y Suevos de Isidoro de Sevilla. Estudio, edición critica y traduccion (Fuentes y estudios de historia Leonesa 13), Leon 1975, S. 172. Dabei bezieht sich Isidor nicht nur auf eine frühe skandinavische Herkunft (wie bei Jordanes), sondern leitet die Goten von Iafeths Sohn Magog ab. Vgl. Jordanes, Romana 147 (wie Anm. 59), S. 18, zu den Etruskern: antiquissimus Italiae populus. 182 Widukind, Res gestae Saxonicae 1,2 (wie Anm. 65), S. 4. 183 Entsprechend entstammt der Lothringer Giselbert einem edlen Geschlecht und einer alten Familie: nobili genere ac familia antiqua natus (ebd. 1,30, S. 43). Für Adam von Bremen, Gesta 1,52 (wie Anm. 33), S. 52, sind die Karolinger vetus Karoli [...] prosapia. Vgl. Wipo, Gesta Chuonradi 2 (oben Anm. 48), S. 15f., zur Abstammung Adelheids, der Mutter Konrads des Älteren, von den Merowingern und damit von den trojanischen Königen. 184 Otto von Freising, Gesta Frederici 2,14 (wie Anm. 59), S. 310, mit Bezug auf die Menschen in Italien, die ihren alten Adel vergäßen und barbarisch Gesetze mißachteten. Vgl. ebd. 1,35, S. 198, zu den „durch alten Adel berühmten“ antiken Städten Korinth, Theben und Athen (antiqua nobilitate celebres). Herbord, Vita Ottonis 2,25 (wie Anm. 50), S. 81, spricht von Stettin in Pommern als civitatem antiquissimam et nobilissimam und als Pomeranorum matremque civitatem. 185 Adam von Bremen, Gesta 3,9 (wie Anm. 33), S. 150: Et primo quidem floccipendens auream decessorum mediocritatem vetera contempsit, nova molitus omnia perficere. 186 Der Verfasser der Historia Welforum 1 (wie Anm. 60), S. 2, sucht Nachrichten zu seinem Thema in diversis chronicis et historiis sive antiquis privilegiis. 187 Das Prümer Urbar, ed. Ingo SCHWAB (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde 20. Rheinische Urbare 5), Düsseldorf 1983, S. 158: nomina seu vocabula, que in eo repperi, ut communi magis paterent intellectui in usitatiorem quasi glosando latinitatem transfudi mirabili tamen et quodam inaudito quo idem conscriptus est gramatice stilo ob antiquitatis reverentiam permanente illeso. Verumtamen vocabula villarum, que ex longevitate quasi barbara videbantur, nominibus, que eis modernitas indidit, commutavi [...].
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Denkmäler verschmähten, so schrieb auch Einhard188 und betonte damit sowohl den Wert alter Überlieferungen als auch die Notwendigkeit der Neufassung. Die alte Überlieferung galt jedenfalls als ehrwürdig und besaß eine entsprechende Autorität.189 Dank der Chronik Bertholds von Zwiefalten sollten die Mönche das „Alte und Verwurzelte, vor vielen Jahrhunderten Gesagte und Geschehene, durchschauen, als sei es vor ihnen aufgestellt“.190 Die Vergangenheit ist Modell, Muster und Vorbild, in einem Maße, daß sich auch die Menschen der Gegenwart bemühen mußten, der Nachwelt nicht schimpflich zu erscheinen. So wollte die Partei Karls des Kahlen Nithard zufolge trotz ihrer hoffnungslosen Unterlegenheit lieber kämpfen als den Nachkommen ein schimpfliches Andenken zu hinterlassen.191 Solche Vergangenheitsverehrung führt leicht zur Gegenwartskritik: Einige hätten, so schreibt Guibert von Nogent, die manchmal, doch durchaus nicht immer schlechte Angewohnheit, die vergangenen Jahrhunderte zu preisen, aber die Taten der Heutigen zu tadeln.192 Besonders deutlich wird die Zeitkritik bei Nithard, der die Brüderkriege der Söhne Ludwigs des Frommen der Idealzeit Karls des Großen gegenüberstellt: Damals (tunc) herrschten Überfluß und Freude, jetzt hingegen (nunc) Mangel und Trauer. Selbst die Elemente, die damals Nutzen brachten, seien jetzt schädlich.193 Widukind von Corvey berichtet – geradezu in doppelter Rückschau – zur Frühzeit der Sachsen, wie ein vertrauter Sklave Thiadrichs, den dieser zu Rate zog, an das Verhalten der maiores nostri erinnert habe, an das die Gegenwart (nostri) nicht heranreiche.194 188 Einhard, Vita Karoli prol. (wie Anm. 70), S. 1: si tamen hoc ullo modo vitari potest, ut nova scriptione non offendantur qui vetera et a viris doctissimis atque disertissimis confecta monumenta fastidiunt. 189 Vgl. Vita Landiberti episcopi Traiectensis prol., ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 6, Hannover 1913, S. 408, zur früheren Lebensbeschreibung: quibus etiam apud nos maximam auctoritatem non levis, sed venerabilis sancit antiquitas. 190 Berthold von Zwiefalten, Chronicon praef., ed. Luitpold WALLACH, Erich KÖNIG u. Karl Otto MÜLLER (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 2), Sigmaringen 21978, S. 136: antiqua et inveterata, quae ante multa saecula ab eis dicta gestaque sunt, velut coram posita inspiciunt. Vgl. Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum prol. (wie Anm. 58), S. 4: Historia igitur preterita quasi presentia uisui representat, futura ex preteritis imaginando diiudicat. 191 Nithard, Historiae 2,10 (wie Anm. 40), S. 25. 192 Guibert von Nogent, Gesta Dei per Francos 1,1, ed. Ch. THUROT, Recueil des croisades, Hist. occ. 4, Paris 1879, S. 123: Quorumdam mortalium vitiose aliquotiens, sed non semper, moribus constat inolitum, ut modernorum facta vituperent, praeterita saecla sustollant. In diesem Urteil wird sowohl die Perspektive Guiberts als auch der zitierten Autoren erkennbar. Wenn Guibert hinzufügt, daß die Taten einer sich im Verfall befindlichen alten Welt nicht immer erinnerungswürdig seien, läßt auch er die Hochschätzung des Vergangenen deutlich erkennen (Praedicantur merito pro hominum novitate priscis acta temporibus: sed multo justius efferri digna sunt, quae mundo prolabente in senium peraguntur utiliter a rudibus). 193 Nithard, Historiae 4,7 (wie Anm. 40), S. 49f. 194 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,9 (wie Anm. 65), S. 14: Erat autem Thiadrico servus satis ingeniosus, cuius consilium expertus est saepius probum, eique propterea quadam familiaritate coniunctus. Hic rogatus sententiam dare: ‚In rebus‘, inquit, ‚honestis pulcherrimam semper
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Daß etwas bereits „seit alters“ (antiquitus) währt, gilt folglich sowohl als gut195 (und gegebenenfalls als erneuerungswert) als auch, nicht zuletzt im Rechtsbereich,196 in gewissem Sinn als verbindlich. Die „alten Canones“ oder Gesetze sind demnach vorbildhaft und werden immer wieder erneuert;197 gegen sie zu verstoßen, ist Unrecht und Entehrung.198 Man könne nicht einfach, so läßt Arnold von Lübeck argumentieren, eine Bestimmung (über den an Laien verschenkten Kirchenzehnt) ändern, die ex longa antiquitate usus zur Gewohnheit geworden sei, vielmehr sei eine von Geschlecht zu Geschlecht weitertradierte Gewohnheit als eine „gerechte Tradition“ bestätigt,199 und ganz ähnlich äußert sich Otto von Freising: Eine alte Gewohnheit gilt gleichsam als Gesetz.200 Der esse arbitror perseverantiam, quam ita coluerunt maiores nostri, ut a ceptis negotiis raro vel numquam deficerent. Nec tamen labores nostros eorum aequandos putaverim, qui parvis copiis ingentes gentium copias superaverunt.‘ Der im folgenden vorbildhaft gelobte Hathagat (ebd. 1,11, S. 18f.) ist wohl als Verkörperung dieser Tugenden der Vorfahren gedacht. 195 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 3,65 (wie Anm. 65), S. 140, betont, daß die Dänen zwar „seit langem“ (antiquitus) Christen waren, aber dennoch immer noch den heidnischen Göttern dienten. 196 Vgl. (stellvertretend) Gerhard DILCHER, Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als methodisch-theoretisches Problem, in: Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter, hg. v. DEMS. u.a. (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 6), Berlin 1992, S. 21-65; DERS., Gesetzgebung als Rechtserneuerung. Eine Studie zum Selbstverständnis der mittelalterlichen Leges, in: Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. FS Adalbert Erler, Aalen 1976, S. 13-35. 197 Vgl. oben S. 175f. Vgl. Otto von St. Blasien, Chronicon 14, ed. Adolf HOFMEISTER, MGH SSrG 47, Hannover 1912, S. 15f., zum Reichstag von Roncaglia, wo Friedrich Barbarossa alte Gesetze erneuerte, allerdings auch neue hinzufügte (renovatis antiquis legibus novas de suo promulgavit) und die alten Steuern wiederherstellte (Preterea vectigalia antiquitus constituta necnon exactiones pro imperii necessitate exigendas in rationem cesaris, ubi, quando et a quibus et quomodo tractentur, decretum est et edicto confirmatum). 198 Vgl. Annales qui dicuntur Einhardi a. 792, ed. Friedrich KURZE (wie Anm. 40, zu den Annales regni Francorum), S. 91, zum Adoptianismus des Bischofs Felix von Urgel: valde incaute atque inconsiderate et contra antiquam catholicae ecclesiae doctrinam adoptivum non solum pronuntiavit [...]; Annales Bertiniani a. 872 (wie Anm. 40), S. 132, zum 8. allgemeinen Konzil von Konstantinopel gegen die Bilderverehrung: et quaedam contra antiquos canones sed et contra suam ipsam synodum constituerunt. Vgl. Thangmar, Vita Bernwardi 13 (oben Anm. 133): Quod ipse libens annuit, haut considerans, quantum antiqua canonum statuta temeravit. Deshalb wollte Konrad II. keinem Nachkommen die antiqua beneficia parentum wegnehmen (Wipo, Gesta Chuonradi 6, wie Anm. 48, S. 28). Vgl. Gregor von Tours, Liber de miraculis b. Andreae apost. 18, ed. Bruno KRUSCH, MGH SSrM 1,2, Hannover 1885, S. 835, zu einem ungerechten Mann in Thessaloniki, der omnia priscae legis decreta convelli wollte. 199 Arnold von Lübeck, Chronica Slavorum 3,19 (wie Anm. 130), S. 161: Et quamvis hec pro prelatis esse videantur, non tamen credo, quod ista facile mutari possint, que ex longa antiquitate usus in consuetudinem vertit, immo ipsa consuetudo a progenie in progenies descendens quasi iusta traditione roboravit. 200 Otto von Freising, Gesta Frederici 2,48 (wie Anm. 59), S. 378: Denique vetus consuetudo pro lege aput Francos et Suevos inolevit, ut, si quis nobilis, ministerialis vel colonus coram suo iudice pro huiusmodi excessibus reus inventus fuerit, antequam mortis sententia puniatur, ad confusionis suae ignominiam nobilis canem, ministerialis sellam de comitatu in proximum comitatum gestare cogatur.
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mos antiquus, so meint Otto an anderer Stelle nicht ohne aktuellen und funktionalen Hintersinn (Barbarossas Anrecht auf die Kaiserkrone), nach dem das Römische Reich auf die Franken und dann auf „uns“ (die „Deutschen“) übergegangen ist, besagt, daß vor einem Italienzug des Kaisers von den dortigen Städten die Steuern eingetrieben würden, und ebenso sollten ex antiqua consuetudine alle Würden und Ämter ruhen; vielmehr sollte alles nach Recht und Gesetz vom Kaiser selbst verhandelt werden.201 Der Klosterchronist von Novalesa beruft sich auf das hohe Alter (antiquitas) eines Dekrets, das Frauen aus dem Konvent ausschloß und das einst (olim) dort aufgefunden wurde, seit der Gründung bis zur Zerstörung des Klosters durch die Sarazenen galt und sogar noch neulich (nuper) beachtet wurde, das heute (hodie) aber nur noch wenige befolgten (wie, so ist zu ergänzen, es richtig wäre).202 In diesen Zusammenhang der Rechtskontinuität wird man auch die Erneuerung eines gebrochenen Bündnisses stellen dürfen.203 Uraltes kann sich über Jahrtausende erhalten und schon dadurch Ehrfurcht erwecken, wie die (römische) Moselbrücke in Trier, deren Bau der Verfasser der ‚Gesta Treverorum‘ bereits den Nachfahren des angeblichen Stadtgründers, des Ninussohnes Trebetas, zuschreibt.204 Altes mußte allerdings auch deshalb ständig erneuert werden, weil „Alter“ (als historischer Zustand), bei aller Wertschätzung in der Praxis, wie schon erwähnt, zwangsläufig zum Verfall führte. Das galt für Gesetze ebenso wie für Bauten, Gegenstände oder Bilder. Nach Einhard befahl Karl der Große den Bischöfen, alle Kirchen im ganzen Reich, die vetustate conlapsae waren, zu erneuern.205 Später ließ Friedrich Barbarossa Rahewin zufolge die einst (quondam) von Karl dem Großen wunderschön errichteten Pfalzen Nimwegen und Ingelheim, die jetzt iam tam neglectu quam vetustate verfallen waren, decentissme wiederaufbauen.206 Es gibt viele solcher Beispiele,207 die zugleich die Erneuerungsbedürftig201 Otto von Freising, Gesta Frederici 2,16 (wie Anm. 59), S. 312. Zur antiqua consuetudo auch Brunos Buch vom Sachsenkrieg 92 (wie Anm. 135), S. 86. Kaiser Otto IV. legte in die von Heinrich VI. quondam den Veronesern übergebene Burg Garda more antiquorum eine Reichsbesatzung (Otto von St. Blasien, Chronicon 52 [wie Anm. 197], S. 86f., zum Jahr 1209). 202 Chronicon Novaliciense 2,2 (wie Anm. 173), S. 58ff. 203 Vgl. Brunos Buch vom Sachsenkrieg 87 (wie Anm. 135), S. 82: antiquum foedus infregisse; ad eos legatos de renovando foedere mittere conplacuit; Cosmas von Prag, Chronicon 3,9 (wie Anm. 40), S. 169: renovant antiqua amicicie et pacis federa; ähnlich ebd. 3,42, S. 215. 204 Gesta Treverorum 1 u. 3, ed. Georg WAITZ, MGH SS 8, Hannover 1848, S. 130 u. S. 132. 205 Einhard, Vita Karoli 17 (wie Anm. 70), S. 20. Nach den Marbacher Annalen a. 759, ed. Hermann BLOCH, MGH SSrG 9, Hannover 1907, S. 9, war Aachen longa vetustate deserta ac demolita, bevor Karl es neu errichtete. 206 Rahewin, Gesta Frederici 4,86 (wie Anm. 63), S. 712. 207 Ähnlich etwa Wipo, Gesta Chuonradi 7 (wie Anm. 48), S. 29f. zu der quondam vom König Theoderich gegründeten und später von Otto III. ausgeschmückten Pfalz Pavia; Cosmas von Prag, Chronicon 3,11 (wie Anm. 40), S. 171, zu einer Äbtissin Windelmut, die die Peterskriche ex vetustate a fundamento dirutam usque ad perfectionem deducens reedificavit; Annalista Saxo a. 996, ed. Klaus NASS, MGH SS 37, Hannover 2006, S. 264: Hic civitatem Halberstat,
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keit wie die Wertschätzung des Alten belegen. Oft war ein völliger Neubau allerdings unvermeidlich.208 Erreichte man dabei die alte Schönheit, so wirkte das freilich beinahe wie ein Wunder.209 Da die Vergangenheit nicht minder aber abschreckende Beispiele bereit hält, wird man dennoch nicht prinzipiell von einer Wertschätzung der Vergangenheit, sondern eher bestimmter Epochen, Personen, Vorfälle sprechen müssen. Für Thietmar von Merseburg etwa ist die Zeit Ottos I. (in der sein Bistum gegründet wurde) aureum seculum, der idealen Zeit Karls des Großen vergleichbar.210 Als Kaiser Otto III. hingegen die großenteils „zerstörte“, alte Gewohnheit der Römer wiederbeleben wollte (wie zum Beispiel die Einnahme der Mahlzeiten allein an einem erhöhten Tisch), stieß er damit keineswegs auf allgemeine Zustimmung.211 Hinkmar von Reims diffamiert seinen Gegner Rothad von Soissons, indem er ihm vorwirft, als „neuer Pharao“ die „alten Jahrhunderte“ zu verkörpern.212 Fast könnte man meinen, daß das längst Vergangene hier an sich zur Negativfolie wird, doch tatsächlich richtet sich die Abwertung wiederum nur auf eine bestimmte Epoche: die heidnischen Pharaonen des Alten Testaments. Diese aber werden durchaus negativ gesehen. Daß antiquus nicht per se nur Gutes bezeichnet, beweist im übrigen allein schon die häufige Wendung antiquus hostis für den Teufel213 (und wenn Widukind die Ungarn immer wieder antiqui hostes
quam invenit ex antiquitate collapsam, renovare cepit; ebd. a. 1124, S. 583: castrum quoddam Uuifelesburch tempore Hunorum constructum, sed vetustate temporis postea neglectum, anno non integro, antequam moreretur, reedificavit. 208 Vgl. Herbord, Vita Ottonis 1,22 (wie Anm. 50), S. 22, zur Klosterkirche Michelsberg bei Bamberg: Nam illa structura vetus cum in ciborii emisperio rimam haberet intrinsecus, ne forte collapsa monachos percuteret, quasi de occasione gavisus, destructo veteri sancto Michaheli maioris fabricae monasterium novum construxit, ipsamque rem fratrum talentis plus quam 90 redituum per singulos annos cumulavit. Vgl. Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,12 (oben Anm. 104), zur Errichtung neuer Städte anstelle der alten. 209 Vgl. Annales Fuldenses a. 823 (wie Anm. 47), S. 23, zur Erneuerung des Muttergottesbildes in der Johanneskirche in Gravedona am Comer See: et ob nimiam vetustatem obscurata et pene abolita tanta claritate per duorum dierum spatia effulsit, ut omnem splendorem novae picturae suae vetustatis pulchritudine cernentibus penitus vincere videretur. Vgl. Thangmar, Vita Bernwardi 8 (wie Anm. 133), S. 761, zur Ausmalung des Hildesheimer Doms: Unde exquisita ac lucida pictura tam parietes quam laquearia exornabat, ut ex veteri novam putares. 210 Thietmar von Merseburg, Chronicon 2,13 (wie Anm. 45), S. 52; ebd. 2,45, S. 92. 211 Ebd. 4,47, S. 184: Imperator antiquam Romanorum consuetudinem iam ex parte [magna] deletam suis cupiens renovare temporibus multa faciebat, quae diversi diverse sentiebant. 212 Annales Bertiniani a. 862 (wie Anm. 40), S. 92: Sed isdem post eiusdem concilii iudicium, unde appellauerat, expetens, constitutis duodecim ab eadem synodo iudicii exequendi iudicibus, nouus Pharao propter sui cordis duritiam, et uetera secula repraesentans, homo mutatus in beluam, propter designatos excessus, qui gestorum serie continentur, quoniam corrigi noluit, in suburbio Suessorum ciuitatis deponitur. 213 So sehr häufig beispielsweise in der Vita Norberti 3 (wie Anm. 62), S. 673; 9, S. 679, 15, S. 690, u.ö. Vgl. Herbord, Vita Ottonis 3,10 (wie Anm. 50), S. 121; Annales Fuldenses a. 858 (wie Anm. 47), S. 52.
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nennt,214 dann ist das zweifellos als eine entsprechende Anspielung zu verstehen, welche die heidnischen Ungarn als „Teufelssöhne“ kennzeichnen soll.) Daß Altes an Wert verliert, gilt nicht minder für den „profanen“ Alltagsbereich: Um während seines Italienzugs vor den Slawen Ruhe zu haben, so berichtet Helmold von Bosau, befahl ihnen der Kaiser, alle Seeräuberschiffe (piraticas naves) nach Lübeck zu bringen. In ihrer gewohnten, dreisten Unverfrorenheit lieferten sie jedoch nur wenige und zudem uralte (vetustissimas), kaum mehr gefechtsfähige Schiffe ab.215 Das „Alter“ macht (hier: die Schiffe) praktisch unbrauchbar. Altes kann demnach je nach Kontext positiv oder negativ bewertet werden. In beiden Fällen aber schafft, bei aller Abgrenzung und unabhängig von der jeweiligen Bewertung, die Erwähnung des Vergangenen zugleich einen Bezug zur Gegenwart. Tatsächlich ist darin sogar der eigentliche Anknüpfungspunkt des Vergangenheitsverständnisses zu sehen.
2.4. Vergangenheit und Gegenwart – Verknüpfende Bezüge 2.4.1.
Vergleiche
Bewirkt der eingetretene Wandel nämlich eine Abgrenzung von Vergangenheit und Gegenwart, so werden beide durch die Gegenüberstellung nicht minder aufeinander bezogen. Das erfolgt formal bereits durch den tunc–nunc-Vergleich, ist zugleich aber inhaltlich determiniert, wenn sich beispielsweise ein ähnlich strafendes Gottesgericht schon in der Frühzeit der Menschheit zeigt und damit das Jüngste Gericht präfiguriert216 oder wenn, wie erwähnt, für Hinkmar von Reims der Bischof Rothad von Soissons als novus Pharao die vetera secula „repräsentiert“.217 Die Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart werden gern in solchen direkten Vergleichen hergestellt (ein Mittel, mit dem schon Orosius die relative Milde der christlichen Zeiten hatte beweisen wollen):218 vor allem der jetzigen Könige mit früheren, aber auch bestimmter Ereignisse oder Zustände. So vergleicht Wipo die strenge Rache Konrads II. an den aufständischen und heidnischen Liutizen mit dem Vorgehen der römischen Kaiser Titus und Vespasian, die als Bestrafung der Juden für den Verrat Christi 30 Juden für dieselbe Summe, nämlich eine (kleine) Münze („einen Groschen“), verkauft hatten;219 der Magdeburger Annalist stellt Otto den Großen (als Bistumsgründer) in 214 Vgl. oben Anm. 148. 215 Helmold von Bosau, Chronica Slavorum 1,87 (wie Anm. 104), S. 170. 216 So Otto von Freising, Chronik 1,3 (wie Anm. 23), S. 39, zur Vernichtung Sodoms und Gomorras. 217 Annales Bertiniani a. 862 (oben Anm. 40). 218 Vgl. GOETZ, Die Geschichtstheologie des Orosius (Impulse der Forschung 32), Darmstadt 1980, S. 29ff. 219 Wipo, Gesta Chuonradi 33 (wie Anm. 48), S. 53: Idcirco in eisdem versibus caesar ultor fidei vocatur et Romanis principibus Tito et Vespasiano comparatur, qui in ultionem Domini triginta Iudaeos pro uno nummo commutaverant, cum Iudaei Christum pro totidem denariis vendiderint.
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eine Reihe mit Caesar (dem ersten Gründer Magdeburgs) und Karl dem Großen (dessen Wiederbegründer).220 Adam von Bremen vergleicht den Abfall der Slawen vom heidnischen Glauben mit der Zerschlagung der sieben Stämme Kanaan, weil Gott beide Male die Treulosigkeit seines Volkes bestraft.221 In diesen Rahmen fallen auch die nicht seltenen typologischen Vergleiche früherer und jetziger Personen oder Ereignisse, die positiv oder negativ bewertet werden. So nennt Gregor von Tours den gehaßten Merowingerkönig Chilperich den „Nero und Herodes unserer Zeit“ (Nero nostri temporis et Herodis),222 während er Chlodwig anläßlich seiner Taufe als „neuen Konstantin“ feiert.223 Den Krieg zwischem dem Merowingerkönig Chlothar und seinem Sohn Chramn vergleicht Gregor mit der Auseinandersetzung Davids gegen seinen Sohn Absalom: „Wie ein neuer David“ ging Chlothar in den Kampf.224 Die Geschicke seiner Kirche und ihrer Bischöfe unter Bischof Werner zu erzählen, meinte der Merseburger Chronist, hieße eher den Fall Thebens wiederholen als die Ereignisse der Gegenwart zu schildern!225 Die mittelalterliche Typologie ist schon vielfach behandelt worden.226 In unserem Zusammenhang weist sie auf ein bestimmtes Verhältnis, nämlich einen engen Zusammenhang, zwischen Vergangenheit und Gegenwart (bzw. Berichtszeit), der durch Gleichartigkeit gekennzeichnet ist und zugleich Gottes Wirken offenbart.
2.4.2.
Kontinuität
Nicht minder wichtig als die in solchen Vergleichen dokumentierte Gemeinsamkeit (und Vergleichbarkeit) von Damals und Heute ist die Kontinuität über die Zeiten hinweg: die Dauer eines geltenden Zustandes von einem Zeitpunkt in der Vergangenheit an bis zum heutigen Tag (so etwa mehrfach bei Widukind 220 Annales Magdeburgenses a. 938, ed. Georg Heinrich PERTZ, MGH SS 16, Stuttgart 1859, S. 143: Prefatus autem imperator Otto magnus et post tempora Karoli nulli inter omnes Romana sceptra gerentibus secundus, volens non solum suae sed et futurae etatis generationibus relinquere nominis sui memoriale celebrandum, simulque ob aeternae remunerationis praemium, novum huius civitatis posuit fundamentum. Zu Caesar als Städtegründer vgl. Heinz THOMAS, Julius Caesar und die Deutschen. Zu Ursprung und Gehalt eines deutschen Geschichtsbewußtseins in der Zeit Gregors VII. und Heinrichs IV., in: Die Salier und das Reich, hg. v. Stefan WEINFURTER, Bd. 3, Sigmaringen 1991, S. 245-277. 221 Adam von Bremen, Gesta 2,44 (wie Anm. 33), S. 105: ille, inquam, modicam gentilium portionem nunc indurare voluit, per quos nostra confunderetur perfidia. Vgl. oben S. 176 bei Anm. 113. 222 Gregor von Tours, Historiae 6,46 (wie Anm. 28), S. 319. 223 Ebd. 2,31, S. 77. 224 Ebd. 4,20, S. 153. 225 Chronicon episcoporum Merseburgensium 11, ed. Roger WILMANS, MGH SS 10, Stuttgart u.a. 1852, S. 185. 226 Vgl. stellvertretend Wilhelm KÖLMEL, Typik und Atypik. Zum Geschichtsbild der kirchenpolitischen Publizistik (11.-14. Jahrhundert), in: Speculum historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung, FS Johannes Spörl, hg. v. Clemens BAUER, Laetitia BOEHM u. Max MÜLLER, Freiburg-München 1965, S. 277-302.
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von Corvey)227 oder aber die Wiederbegründung eines vergangenen Zustands. So nahm der letzte „römische Statthalter“ in Gallien, Syagrius, Gregor von Tours zufolge seinen Sitz in Soissons, wo schon sein Vater Aegidius residiert hatte;228 Bodicus eroberte bei den Bretonen den Herrschaftsbereich seines Vaters zurück, den ihm Macliavus streitig gemacht hatte.229 Eine ungebrochene Kontinuität ist vielfach bezeugt: Alte Insignien oder Bauwerke waren immer noch erhalten (wie der Thron Karls des Großen in der Aachener Pfalzkapelle im 11.230 oder der Dom Ottos des Großen in Magdeburg im 12. Jahrhundert231). Indem Otto von Freising die Herkunftssage der Trierer von dem Assyrer Trebetas aufgreift, fügt er gleichzeitig an, daß man die Größe und Herrlichkeit dieser einstigen (tunc) Hauptstadt Galliens noch an den Ruinen erkennen könne; die Mauern eines wie die babylonische Mauer aus gebrannten Ziegeln errichteten Palastes seien noch heute (adhuc) von solcher Festigkeit, daß kein Werkzeug sie zum Einsturz bringen könne.232 Gängige Namen leiteten sich von historischen Begebenheiten ab: Der Weg Karls des Großen durch Italien heiße, so der Chronist von Novalesa, usque in hodiernum diem via Francorum, und die von ihm entlohnten Führer würden usque in presentem diem servi [...] Transcornati genannt.233 Bräuche überdauerten ohnehin die Jahrhunderte: Die Angeln folgten nach Widukind „bis heute“ dem alten sächsischen Stammesbrauch, indem sie weiterhin die Sachs als Waffe benutzten.234 Das bis heute nach seinem (angeblichen) Schöpfer Salagast benannte Gesetz der Franken (die Lex Salica) führte Otto von Freising auf die Zeit des ersten Königs in Gallien (nach der Übersiedlung aus Troja), Pharamund, zurück.235 Iam olim, schrieb Fredegar zu den ermordeten Königen des 6. Jahrhunderts (Theudis und Theudegisel), hätten die Goten die schlechte Angewohnheit (vicium) gehabt, einen mißliebigen König umzubrin227 Vgl. Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,3 (wie Anm. 65), S. 5: Pro certo autem novimus Saxones his regionibus navibus advectos et loco primum applicuisse qui usque hodie nuncupatur Hadolaun. Usque hodie/usque in praesens/usque in hodiernum diem noch mehrfach; vgl. ebd. 1,12, S. 20f. (Mars); 1,13, S. 23 (Iring); 1,14, S. 23 (Ständeordnung der Sachsen); 1,31, S. 44 (Reginberns Befreiung der Sachsen von den Dänen). 228 Gregor von Tours, Historiae 2,27 (oben Anm. 118). 229 Ebd. 5,16, S. 214: eumque cum filio eius Iacob gladio interemet partemque regni, quam quondam pater eius tenuerat, in sua potestate restituit. 230 Wipo, Gesta Chuonradi 6 (wie Anm. 48), S. 28: Collecto regali comitatu rex Chuonradus primum per regionem Ribuariorum usque ad locum qui dicitur Aquisgrani palatium pervenit, ubi publicus thronus regalis ab antiquis regibus et a Carolo praecipue locatus totius regni archisolium habetur. Vgl. auch Otto von Freising, Gesta Frederici 1,10 (wie Anm. 59), S. 148, zum bis heute sichtbaren Grab Heinrichs IV. in Speyer (sicut hodie cernitur). 231 Annales Magdeburgensis a. 938/39 (wie Anm. 220), S. 143. 232 Otto von Freising, Chronik 1,8 (wie Anm. 23), S. 47. 233 Chronicon Novaliciense 3,14 (wie Anm. 173), S. 154/156. 234 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1,6 (wie Anm. 65), S. 6: Erat autem illis diebus Saxonibus magnorum cultellorum usus, quibus usque hodie Angli utuntur, morem gentis antiquae sectantes. 235 Otto von Freising, Chronik 4,32 (wie Anm. 23), S. 224.
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gen,236 ohne an dieser Stelle freilich anzugeben, auf welche Ereignisse der Gegenwart er dabei anspielt; doch erinnerte er in der letzten Nachricht über die Goten zur Erhebung Chindaswinths im Jahre 642 an diese Sitte, sprach jetzt allerdings nicht mehr von der Ermordung, sondern von der Vertreibung von Königen. Auch Chindaswinth brachte seinen Vorgänger Tulga nicht um, sondern ließ ihn zum Geistlichen scheren und statt dessen alle Goten töten, die sich an der Vertreibung von Königen schuldig gemacht hatten.237 Seit der Auswanderung aus Troja bis zum heutigen Tag, so beteuerte Fredegar an anderer Stelle anläßlich der berühmten Herkunftssage, konnte kein Volk je wieder die Franken besiegen, während sie selbst die anderen mühelos unterwarfen.238 Nach der Civitas-Lehre Ottos von Freising gab es seit Theodosius usque ad nostrum tempus bekanntlich nur eine einzige civitas permixta.239 Der Bezugspunkt in der Vergangenheit impliziert in diesen und vielen anderen Beispielen einen vorangehenden Wandel und somit einen Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die dennoch zugleich in einer einzigen Kontinuitätslinie stehen, wenn derselbe Autor die Weltherrschaft als solche als ein gleichbleibendes Kriterium der Weltgeschichte betrachtet, während sie immer wieder auf andere Träger überging.240 Ganz zeitlos war natürlich die Christusverehrung: wie gestern bei den Alten, so heute bei den „Modernen“, schrieb Guibert von Nogent.241 Und wenn die Makkabäer einst himmlische Hilfe bekamen, als sie für Beschneidung und Schweinefleisch kämpften, so stehe das um so mehr den Kreuzfahrern zu, die für die Wiederreinigung der Kirchen und die Verbreitung des Glaubens stritten.242 Zu den aus der Vergangenheit bis jetzt erhaltenen Zeugnissen gehören im übrigen (vielfach) auch die Geschichtsüberlieferungen selbst. So hatte sich nach Gregor von Tours, wie dieser Autor glaubt, beispielsweise der Bericht über die Wunder, die Leiden und die Aufer236 Fredegar 3,42 (wie Anm. 180), S. 105: Gothi vero iam olim habent vicium, cum rex eis non placeat, ab ipsis interficetur. 237 Ebd. 4,82, S. 163: Tandem unus ex primatis nomini Chyntasindus, collictis plurimis senatorebus Gotorum citerumque populum, regnum Spaniae sublimatur. Tulganem degradatum et ad onos clerecati tunsorare fecit. Cumque omnem regnum Spaniae suae dicione firmassit, cognetus morbum Gotorum, quem de regebus degradandum habebant, unde sepius cum ipsis in consilio fuerat, quoscumque ex eis uius viciae prumtum contra regibus, qui a regno expulsi fuerant, cogneverat fuesse noxius, totus sigillatem iubit interfici aliusque exilio condemnare. 238 Ebd. 2,6, S. 46: Post haec nulla gens usque in presentem diem Francos potuit superare, qui tamen eos suae dicione potuisset subiugare. 239 Otto von Freising, Chronik 7 prol. (wie Anm. 23), S. 309. 240 Zur Regna- und Translatio-Lehre Ottos von Freising vgl. GOETZ, Otto (wie Anm. 23), S. 137ff. 241 Guibert von Nogent, Gesta Dei per Francos 1,1 (wie Anm. 192), S. 123: Si Deum in Judaico populo magnificatum audivimus, Jesum Christum, sicut heri apud antiquos, ita et hodie apud modernos, esse et valere certis experimentis agnovimus. 242 Ebd. 6,9, S. 206f.: Et si Machabaeis olim pro circumcisione et carne porcina pugnantibus, evidens apparuisse legitur coeleste suffragium, quanto amplius his debuit qui, pro repurgio ecclesiis adhibendo et statu fidei propagando, fusi sanguinis Christo detulere servitium.
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stehung Christi, den Pilatus an Kaiser Tiberius sandte, bis zu seiner Zeit erhalten.243
2.4.3.
Erneuerung
Ein dritter Bezug ergibt sich aus der bereits behandelten Erneuerung des Alten, das im allgemeinen als bewahrenswert galt.244 Die beim Tod Heinrichs II. von den Pavesen mutwillig zerstörte Kaiserpfalz von Pavia war nach Wipo „einst“ von Theoderich errichtet und von Otto III. prunkvoll ausgeschmückt worden.245 Ihre Zerstörung war ein Frevel an Kaisertum und Reich (wie Konrad den Pavesen vorwarf), zugleich aber auch an den alten Traditionen. Entsprechend häufig wurde Verfallenes, wie schon erwähnt, wiederhergestellt (das heißt nicht unbedingt restauriert, sondern erneuert). Das konnte sich auch auf die Herrschaftsverhältnisse beziehen: Als die westfränkischen Großen von Karl dem Einfältigen abfielen und sich Odo zuwandten, beriefen sie sich nach den ‚Annales Vedastini‘ auf ihr früheres Vasallenverhältnis: schließlich sei ihr Herr der Sohn seines früheren Herrn.246 Entscheidend erscheint das gleichartige (und gleich bleibende) Verhältnis über verschiedene Wandlungen (hier: der neuen Generationen) hinweg.
3. Folgerungen aus den Befunden hinsichtlich der mittelalterlichen, historiographischen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster 3.1. Stellenwert und Einordnung der Vorstellungen von der Vergangenheit Die Analysen dürften wohl gezeigt haben, welchen Stellenwert Wahrnehmungsund Deutungsmuster für die Geschichtsschreibung an sich, für das Verständnis von „Geschichte“ und „Vergangenheit“ und dessen darstellerische Umsetzung im besonderen und für die Vorstellungswelt mittelalterlicher Menschen überhaupt haben. Damit bestimmt sich zugleich ihre Bedeutung für eine moderne Geschichtswissenschaft. Wahrnehmungen und Deutungen der Autoren hängen tatsächlich eng miteinander zusammen. Sie resultieren aus deren Erfahrungen, 243 Gregor von Tours, Historiae 1,24 (wie Anm. 28), S. 19. 244 Vgl. oben S. 183ff. 245 Wipo, Gesta Chuonradi 7 (wie Anm. 48), S. 29f.: Erat in civitate Papiensi palatium a Theoderico rege quondam miro opere conditum ac postea ab imperatore Ottone tertio nimis adornatum. 246 Annales Vedastini a. 897, ed. Bernhard von SIMSON, MGH SSrG 12, Hannover 1909, S. 78f.: Verum post haec hi qui cum Karolo erant, videntes suam paucitatem et nullum tutum habere locum refugii, iterum ad Odonem regem dirigunt, quatinus ad memoriam reduceret, quod senior eorum filius esset sui quondam senioris, et partem aliquam ei ex paterno regno concederet.
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ihrem Wissen, ihren Überzeugungen und Wertmaßstäben, die sich in ihrer Vorstellungswelt bündeln, wie sie sich uns ihrerseits (zu Teilen) aus ihren Schriften erschließt. In der – gleichartigen – Häufung der Belege und der Ähnlichkeit des Verständnisses verschiedener Autoren, aber auch in der stilisierten Gestaltung und im unwillkürlichen Aufgreifen solcher Denkweisen aber werden die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sichtbar, die den (einzelnen) Wahrnehmungen und Deutungen zugrunde liegen. Verständnis, Vorstellung und Deutung der Vergangenheit sind für Chronisten, deren Gegenstand ganz oder vornehmlich die Vergangenheitsdarstellung ist, selbstredend zentrale Kategorien, die dennoch, soweit es nämlich die Frage betrifft, was Vergangenheit für sie eigentlich ist, unbewußt und unreflektiert in die Texte einfließen. (Mehr oder weniger) bewußt reflektiert werden allenfalls der Umgang mit der Vergangenheit und deren Deutung, soweit sie nämlich eine Bewertung historischer Sachverhalte betrifft und die Ansichten des Autors offenlegt, also die Darstellung selbst und die Anordnung und zeitliche Verknüpfung der Fakten einerseits sowie die Interpretation der Geschichte andererseits, die ihrerseits vorhandenen Traditionen und bestimmten Absichten und Funktionen der Schriften entspringen. Hingegen wird die – hier erstmal untersuchte – Deutung der Vergangenheit als Vergangenheit ganz entsprechend der Wahrnehmung kaum bewußt reflektiert und allenfalls durch „Zeichen“ wie Vergangenheits- oder Altersbegriffe sowie den damit transportierten Konnotationen mit expliziter Abgrenzung von späteren Zeiten oder von der Gegenwart gewährleistet. Was vergangen ist, warum es vergangen ist, wo und weshalb es sich von der Gegenwart abgrenzt, wie und weshalb es sich mit der Gegenwart berührt, wo und weshalb es folglich (noch) gegenwärtig ist: das alles sind keine objektiven, eindeutig festlegbaren „Wahrheiten“, sondern – zunächst individuelle – menschliche Empfindungen (und damit mentalitätsgeschichtliche Größen), die auf der Vorstellungswelt (einschließlich des Wissens beruhen), aber gerade deshalb bestimmten (auch überindividuellen) Mustern folgen. Die Analysen haben aber auch aufgezeigt, wie schwierig es ist, solche Muster konkret zu benennen: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Verständnisses von der Vergangenheit bestimmen Denken und Schreiben unserer Chronisten. Da sie aber nirgends explizit reflektiert werden, sind sie behutsam aus den Texten herauszuarbeiten: aus den Begriffen, den damit implizierten Konnotationen, aus deren Kontext und den Abgrenzungen (und Bezügen). Die Folgerungen sind hier deutend aus den dargelegten Befunden und Beobachtungen zu ziehen. Man wird daher eher nach Funktionen der Geschichtsschreibung und des Geschichtsbildes gegenüber Problemen der Gegenwart des Autors247 als nach Funktionen des Vergangenheitskonzeptes an sich fragen können. Das verfügbare Spektrum an Wahrnehmungsmustern wird aber nahezu überall verwendet und ausgeschöpft. Die Deutungsmuster ergeben sich folgerichtig allgemein 247 Vgl. dazu vgl. GOETZ, Geschichtsschreibung (wie Anm. 3).
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aus dem geschichtstheologischen (heilsgeschichtlicher Geschichtsverlauf) und philosophischen Hintergrund (Zeit und Zeitablauf), konkret aber aus solchen Abgrenzungskriterien. Auf Schriftquellen gestützt, kann mit dieser Methode zudem natürlich nur die Schicht der gebildeten Verfasser, meist Geistlicher und Mönche, sowie deren Leserkreis, darunter auch Könige und Laien, erfaßt werden. Zu solchen Mustern zählen – als Hintergrund – nicht zuletzt natürlich die geschichtstheologischen Vorstellungen vom Geschichtsablauf und von der Zeit. Sie belegen ein Bewußtsein von der Zeit als meßbarem Faktor, von der Unterscheidung der Zeiten und somit von der Vergangenheit als abgrenzbarer Zeit wie auch ein Vergangenheitsbewußtsein (von der Vergangenheit als erinnerungswürdiger Zeit). Daß Vergangenheit ein Produkt und ein Element der Zeit und Zeit ein Faktor des Irdischen und Geschöpflichen ist, macht sie zunächst zu einem auf die irdische Geschichte beschränkten Faktor, der sich in der Ewigkeit auflösen wird. Das geht so weit, daß Otto von Freising im achten Buch seiner Chronik immerhin fragen kann, ob die Menschen im Jenseits sich denn ihrer Zeit auf Erden (also ihrer Vergangenheit) überhaupt werden erinnern können (si in illa beata patria preteritae vitae memoriam seu scientiam habeant) und die Frage bejaht: Die Erinnerung wird bleiben, nur der Schmerz über die Übel wird verblassen.248 Im Gesamtheilsplan gesehen, ist Vergangenheit folglich weder Ziel noch Ideal. Auf Erden aber spielt sie durchaus eine bestimmende Rolle: Daß irdisches Geschehen nicht ohne Zeitablauf, daß Vergangenheit nicht ohne Gegenwart und Zukunft denkbar sind, prägt die diesbezüglichen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Chronisten entscheidend. Deren Überzeugung, daß Gegenwart ohne Kenntnis der Vergangenheit nicht verständlich wird, verleiht dieser darüber hinaus eine herausragende Bedeutung: Der Blick in die Vergangenheit ist wichtig, Geschichtsschreibung eine zentrale (theologische) Schriftgattung. Die Vergangenheit an sich ist vorüber, sie lebt aber in der Erinnerung und im Bewußtsein von Gegenwart und Nachwelt weiter (und das festzuhalten, ist nach einem vielzitierten „Topos“ gerade das Ziel mittelalterlicher Geschichtsschreibung). Die Bedeutung der Vergangenheit (und in diesem Sinne ein Vergangenheitsbewußtsein) stehen für die mittelalterlichen Autoren daher außer Frage. Eine klare Definition des Begriffs (oder auch nur eine eindeutige Terminologie) gibt es hingegen nicht. Existenz und Inhalt der Vergangenheit werden von den Autoren vielmehr als bekannt vorausgesetzt. Ähnliche Befunde einerseits und ein Bewußtsein vom Stellenwert der Vergangenheit sprechen aber für das Vorhandensein von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern, d.h. Vorstellungsmodellen und Wahrnehmungsstrukturen, nach denen Vergangenheit „verortet“, verstanden und funktional verwertet wird. Dabei scheinen die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster – ebenso wie der Sprachgebrauch – (relativ) einheitlich zu sein, 248 Otto von Freising, Chronik 8,28 (wie Anm. 23), S. 438.
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auch wenn autorenspezifischen Besonderheiten noch näher nachzugehen wäre. Vor diesem Hintergrund wäre nun nach den spezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern der Vergangenheit (nämlich der Art und Weise der Wahrnehmung, mit der das Wahrgenommene begriffen und gedeutet wird) zu fragen. In der Historiographie als Schriftgattung ergeben sich die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zunächst zwangsläufig aus deren schriftlichen Niederschlag. Daß die Autoren (und deren Zeitgenossen) Vergangenheit daneben aber auch sinnlich, nämlich (vor allem) visuell, wahrgenommen haben, zeigt sich etwa an Beschreibungen des sichtbar werdenden Alters konkreter Gegenstände und Orte (Ruinen, Zerstörung, Verblassen).249
3.2. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Vergangenen (der Vergangenheitsvorstellungen) (1) Die früh- und hochmittelalterlichen Autoren kennen weder einen eindeutigen Begriff für die Vergangenheit, noch zeigt sich eine Vergangenheitskonzeption unmittelbar in der Terminologie, die vielmehr (zeitlich) mehrschichtig bis indifferent benutzt wird. Daß etwas „vergangen“ ist, ergibt sich in der Geschichtsschreibung entweder aus dem Zeitablauf (der chronologischen Erzählung) selbst oder aus einer Vielzahl von Begriffen und Wendungen, mit denen Vergangenes als „vergangen“ entweder im Sinne von vor der eigenen Zeit geschehen oder/und im Sinne von „jetzt nicht mehr existent“, „nicht mehr gültig“ oder „nicht mehr gegenwärtig“ klassifiziert und entsprechend von der Gegenwart abgegrenzt wird. Insgesamt ergibt sich aus unterschiedlichen Begriffen und den damit transportierten Vorstellungen somit eine Reihe verschiedener Wahrnehmungsweisen, ohne daß diese sich jeweils bestimmten Begriffen zuordnen lassen: Die Vergangenheit konnte begrifflich erfaßt werden, wurde dann in der Regel aber nur zeitlich, nicht jedoch bereits inhaltlich gedeutet. Man faßt hier einen wichtigen Komplex des Verhältnisses von sprachlichen Ausdrucksformen und deren semantisch zugeordneter Deutung und wird daraus folgern dürfen, 249 Vgl. dazu die Arbeiten von Markus SPÄTH, Sehen und Deuten. Zur Bedeutung von Visualität in der Vergangenheitswahrnehmung klösterlicher Chronistik des 11. und 12. Jahrhunderts, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster (wie Anm. 1), S. 67-82; DERS., Das ‚Regestum‘ von Sant’Angelo in Formis. Zur Medialität der Bilder in einem klösterlichen Kopialbuch des 12. Jahrhunderts, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 31 (2004), S. 41-59 zur Visualisierung bestimmter Erinnerungen; DERS., Kopieren und Erinnern: Rezeption von Urkundenschriftbildern in klösterlichen Kopialbüchern des Hochmittelalters, in: ‚Übertragungen‘: Formen und Konzepte von Reproduktionen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Albrecht HAUSMANN u.a. (Trends in Medieval Philology 5), Berlin-New York 2005, S. 121-128, zur Übernahme und Abwandlung von Zeichen und Bildern der originalen Vorlagen in Kopialbüchern und zur Bildlichkeit als Träger historischer Erinnerung. Umfassend DERS., Verflechtung von Erinnerung. Bildproduktion und Geschichtsschreibung im Kloster San Clemente a Casauria während des 12. Jahrhunderts (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 8), Berlin 2007.
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daß es „supraterminologische“, generelle Vorstellungen von der Vergangenheit gab und daß diese durchaus (von der Gegenwart) abgrenzbar erscheint, während man eine durchgängig feste, zeitliche oder inhaltliche Abgrenzung vergeblich sucht: Man stand der Vergangenheit zwar keineswegs indifferent, wohl aber höchst variabel gegenüber. (2) Man wird ebenso feststellen können, daß über der chronologischen Erzählung, die in der Regel den Zeitraum von den (jeweiligen) Anfängen (der Welt, eines Reichs, eines Bistums oder Klosters etc.) bis zur eigenen Gegenwart kontinuierlich abdeckte, eine Abgrenzung der Vergangenheit von der Gegenwart begrifflich und in der Vorstellung vorhanden, eine klare zeitliche (und nur ansatzweise auch eine inhaltliche) Scheidung jedoch weder intendiert war noch notwendig erschien und letztlich auch gar nicht möglich war. Deshalb spielt der praeteritum-Begriff, der solches durchaus hätte leisten können (und das in der Theorie der drei Zeiten auch geleistet hat), in der historiographischen Praxis keine (oder auch eine bezeichnende) Rolle, indem er sich nicht auf die Vergangenheit, sondern auf einen bestimmten, meist kurzen und oft sogar gegenwartsnahen Zeitabschnitt bezog. „Vergangenheit“ und „Gegenwart“ wurden – mittelaltergemäß – nicht als Abstraktum verstanden, sondern konkret wahrgenommen (nämlich als bestimmter, periodischer Zeitabschnitt wie Jahr, Jahreszeit, Monat, Tag usw. vor allem der jüngsten Vergangenheit) und auf bestimmte Epochen, Ereignisse oder Personen bezogen. Vergangenes konnte daher sowohl unterschiedlich weit (manchmal sehr weit in die Frühzeit, oft aber auch nur wenige Jahre oder sogar Monate) zurückreichen als folglich auch von unterschiedlicher Dauer sein. Für Otto von Freising liegt ein wesentlicher Einschnitt zur christlichen Gegenwart in der Christianisierung des Reichs (und dem Beginn der civitas permixta) in der Spätantike,250 zugleich aber läßt er nostra tempora mit den Auseinandersetzungen zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. (der Auflösung dieser Einheit) beginnen.251 Wohl aber wurde die antiquitas als hohes Alter oder Veränderungen in der Geschichte wahrgenommen. Es ist somit bezeichnend für mittelalterliche Wahrnehmungsmuster, daß dieselben Begriffe sich auf Ereignisse beziehen konnten, die vor langer oder vor kurzer Zeit, vor der Berichtszeit (der Gegenwart des Berichts) oder vor der Abfassungszeit (der Gegenwart des Autors) geschehen waren. Die zeitliche Zuordnung oder Abgrenzung und die Klassifizierung als „früher“ oder „einst“ war letztlich wichtiger als die Kennzeichnung als „vergangen“. Wenn die Merseburger Bistumschronik beispielsweise die „Vorgeschichte“ des Bistums von der 250 Vgl. dazu Joachim EHLERS, Ab errorum tenebris ad veram lucem. Otto von Freising entdeckt den Ursprung seiner Zeit in der christlichen Spätantike, in: Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, hg. v. Walter POHL (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8), Wien 2004, S. 309-315. 251 Otto von Freising, Chronik 7 prol. (wie Anm. 23), S. 309: Mit diesem Ereignis sei er ad nostra tempora recentemque memoriam angelangt.
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(angeblichen) Stadtgründung durch Cäsar bis zur Bistumsgründung schildert,252 dann bietet sie eine Vergangenheitserzählung, ohne diese – über eine Chronologie (in diesem Fall ohne konkrete Zeitangaben) hinaus – als solche kenntlich zu machen. Für die Wahrnehmung mittelalterlicher Chronisten war in bezug auf die Terminologie und auf das Vergangenheitsverständnis (nicht aber das Geschichtsbild!) folglich weder eine Differenzierung nach „Vergangenheit“ und „Gegenwart“ noch die Entfernung von der Gegenwart (die Frage, vor wie langer Zeit sich etwas ereignet hatte) entscheidend, sondern das Verhältnis beider und der inzwischen eingetretene Wandel (der zu sehr verschiedenen Zeiten eingetreten sein konnte, so daß sich die breite Zeitspanne zwanglos erklärt). Die Abgrenzung war, anders als für die Zeitzählung selbst und die insgesamt abgelaufene Zeit, offensichtlich wichtiger als die Zeitdifferenz (der Zeitraum oder der Zeitpunkt). Die Wahrnehmung richtete sich folglich nicht auf die Zeitdauer, sondern auf den inhaltlichen Bezug (als Wandel oder als vergleichbarer Zustand). Dennoch gab es in bezug auf die chronologische Zuordnung und die Wertung ein Bewußtsein vom Grad der Vergangenheit, war beispielsweise der Rückgriff auf ferne Vergangenheiten besonders beliebt und legitimierend. (3) Die mittelalterlichen Wahrnehmungsmuster von der Vergangenheit waren, anders als das konkrete historische Geschehen, daher nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, durch eine zeitliche Fixierung, sondern durch andere Faktoren geprägt: beispielsweise durch Wahrnehmungen des Alters oder die Feststellung, daß etwas früher, einstmals, damals oder kürzlich geschehen war. In beiden Fällen – und das ist nicht minder bezeichnend – konnte das Berichtete (endgültig) „vergangen“ (im Sinne von vorüber oder nicht mehr geltend) wie auch noch wirksam (oder gültig) sein: Die terminologisch-zeitliche Einstufung war daher zunächst unabhängig von einer Bewertung als „vergangen“ im Sinne der Vergänglichkeit, die sich vielmehr erst aus einer inhaltlichen Abgrenzung, einem Wandel, ergab. „Vergangenheit“ hat in mittelalterlicher Wahrnehmung daher weder einen klaren Anfang noch ein klares Ende, sondern verhielt sich – je nach Inhalt – relativ zur Gegenwart. Wohl aber ordnete sie das Geschehen zeitlich in den Geschichtsverlauf ein, das in diesem Sinne „vergangen“, nämlich einer vergangenen Epoche zugehörig, war. (4) Die „Wahrnehmung“ der „Vergangenheit“ erfolgte – neben der Betonung eines hohen Alters – somit auf anderem Wege bzw. in anderer Wahrnehmungsweise: (a) Einmal erschien Vergangenheit als zeitliche Folge und in Abgrenzung von der Gegenwart: als „Damals“ und „Heute“, „Einst“ und „Jetzt“, „Früher“ und „Später“, „Vorher“ und „Nachher“ bzw., auf die Vergangenheit bezogen, als das Vorher (vor dem Jetzt), das Früher (vor dem Heute), das Alte (vor dem 252 Chronicon episcoporum Merseburgensium (wie Anm. 225), S. 163-166.
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Neuen (einschließlich alter Überlieferungen und schriftlicher Vorlagen der Geschichtsschreiber) bzw., relativ, als das Ältere vor dem Neueren, aber auch – relational – als Alter(n); das Alter war wichtig (auch als legitimierendes Argument), aber in den seltensten Fällen praktisch entscheidend für eine Kennzeichnung als Vergangenheit. (b) Zum andern ergab sich Vergangenes als Implikation der Differenz (ebenso wie des Bezugs) zur Gegenwart (darauf ist im folgenden noch näher einzugehen), und zwar nach einer Vielzahl verschiedener Kriterien. Einen Wandel (zum Besseren oder Schlechteren) machten die Geschichtsschreiber vor allem am Wechsel der Herrschafts-, Rechts- und Glaubensverhältnisse (Christianisierung, aber auch Abfall vom christlichen Glauben) fest, außerdem an einem Namenswechsel oder Bedeutungswandel, an einem Charakterwandel oder am Erhaltungszustand von Sachwerten und Bau- und Kunstwerken. (c) Dieser Wandel konnte allmählich oder plötzlich erfolgen. Wenn er sich zeitlich festmachen ließ, kam es zu Zäsuren im Geschichtsverlauf, die durchaus registriert wurden. Gelegentlich wurde betont, daß etwas in Gegenwart oder Vergangenheit (Berichtszeit) gegenüber aller bisherigen Geschichte überhaupt erstmalig eintrat. Veränderungen in der Geschichte, Wiederholbarkeiten ebenso wie Einmaligkeiten, wurden also durchaus wahrgenommen. Dabei boten die Geschichte selbst wie auch die Geschichtsberichte das Repertoire für die Kennzeichnung als „alt“ oder „früher“. (d) Inhaltlich resultierte die Wahrnehmung der Vergangenheit – mit einer wahren Fülle verschiedener Möglichkeiten – aus der Zuschreibung bestimmter Eigenschaften oder Kennzeichen, die allerdings von der jeweiligen Abgrenzung (und Gegenüberstellung) abhängig und daher keineswegs fixiert waren, sondern sogar Gegenteiliges beinhalten konnten. So konnte in einer Region oder bei einem Volk beispielsweise sowohl das Heidentum (nach der Christianisierung) als auch das Christentum (bei einem Rückfall ins Heidentum) als vergangen (im Sinne von: nicht mehr gültig) registriert werden. Insgesamt läßt sich daher kein festes Spektrum bestimmter Eigenschaften festmachen, die „Vergangenes“ charakterisieren. (5) Wurde Vergangenes einerseits von der Gegenwart abgegrenzt (und dann eben im Wandel charakterisiert), so wurde es andererseits nicht minder – und im Prinzip gleichzeitig – in einen engen Bezug zur Gegenwart gestellt. Die Wahrnehmung der Vergangenheit erfolgte in mehrfacher Hinsicht aus der Perspektive der Gegenwart: (a) Vergangenes wurde nicht in seinen zeitspezifischen Eigenheiten gewürdigt, sondern mit zeitgenössischen Maßstäben und Vorstellungen betrachtet und gedeutet:253 Der Wandel blieb daher ein formaler. Etwas konnte vergehen und entstehen, vergessen oder erneuert werden, aber es war nicht von grundauf an253 Beispiele bei GOETZ, Geschichtsschreibung (wie Anm. 3), S. 208ff.
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ders(artig) und konnte daher ohne weiteres mit gegenwärtigen Zuständen verglichen und nach denselben Kriterien bemessen werden. Wenn Nithard feststellt, wie viel besser die Zeit Karls des Großen gegenüber den jetzigen Brüderkriegen war, dann ist sein Maßstab in beiden Fällen der „öffentliche Nutzen“ (publica utilitas), der in der Gegenwart jedoch abhanden gekommen war. In vielen anderen Fällen bildete Gottes (gleichartiges) Wirken in Bibel und Geschichte das Vergleichsmoment. (b) Vergangenes wurde folglich mit dem Jetzigen (als ähnlich) verglichen oder auch (als verändert) konfrontiert, im letzteren Fall zumeist idealisiert und mit der Intention der Gegenwartskritik der eigenen Zeit als Vorbild entgegengehalten. Für Thietmar von Merseburg war die eigene Zeit schlechter als alle früheren.254 Regino von Prüm kündigt im Widmungsbrief seines Sendhandbuchs an Erzbischof Hatto von Mainz an, daß er die Beispiele der früheren fränkischen Konzilien vor allem dann genutzt habe, wenn er sie als „unseren gefährlichen Zeiten“ allzu notwendig erkannt habe, dem aber aus „dieser schändlichen Zeit“ vieles hinzufüge, „was in früheren Zeiten unerhört war, weil es nicht geschehen ist und deshalb auch nicht aufgeschrieben oder mit klaren Stellungnahmen verdammt worden ist, von den heutigen Regeln der Väter aber verdammt wurde und täglich verdammt wird“.255 (c) Vergangenes wurde aber nicht nur durch Vergleich mit der Gegenwart konfrontiert, sondern auch durch eine lange Kontinuität mit dieser verbunden, indem etwas „bis heute“ andauerte oder aber, wenn es zerfallen war, erneuert oder wiederhergestellt wurde. Hier war das Vergangene gerade nicht vergangen, sondern immer noch existent. Wandel und Kontinuität waren für die mittelalterlichen Chronisten keine Gegensätze, sondern wirkten, gewissermaßen als sich geschichtlich wandelnde Kontinuität, zusammen, um diesen Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu verdeutlichen. Ein Namenwechsel etwa bedeutete Wandel gegenüber der Epoche früherer Benennungen und zugleich eine seither einsetzende (sprachliche) Kontinuität bis zur Gegenwart. Für Otto von Freising war Italien für die transalpinen Gebiete seit der Eroberung durch die Langobarden (exhinc) verloren; extunc hieß es „Langobardien“ (Lombardei).256 254 Thietmar von Merseburg, Chronicon 8,13 (wie Anm. 45), S. 508: Tempora haec prioribus cunctis inferiora. 255 Regino von Prüm, Epistola ad Hattonem (in der Edition der Chronik vorangestellt, wie Anm. 40), S. XX: Si quem autem movet, cur frequentioribus nostrorum, id est Galliarum ac Germaniae, conciliorum usus sim exemplis, accipiat responsum et sciat, quia ea maxime inserere curavi, quae his periculosis temporibus nostris necessariora esse cognovi et quae ad susceptum propositae causae negotium pertinere videbantur. Illud etiam adiiciendum, quod multa flagitiorum genera hoc pessimo tempore in aeclesia et perpetrata sunt et perpetrantur, quae priscis temporibus inaudita, quia non facta, et ideo non scripta et fixis sententiis damnata; quae modernis patrum regulis et dampnata sunt et quotidie dampnantur. 256 Otto von Freising, Chronik 5,5 (wie Anm. 23), S. 237. Dieser Zustand war allerdings vorübergehend, bis Karl der Große Italien unterwarf, ohne daß Otto an dieser Stelle (5,29, S. 254f.) einen erneuten Kommentar einflocht.
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Ein treffender Beleg für das Zusammenwirken von Wandel und Kontinuität ist auch die – lückenlose – Aufeinanderfolge von Amtsträgern (Königen, Bischöfen, Äbten): Dem Tod eines Amtsträgers folgte die Bestellung des Nachfolgers, so daß sich bei einem dauernden Wechsel der Amtsträger insgesamt eine kontinuierliche Institutionsgeschichte ergab. Die Durchnumerierung der Amtsträger (wie der Tourser Bischöfe „seit Martin“ bei Gregor von Tours oder der Könige bei Otto von Freising und vielen anderen Autoren) verstärkte diesen Eindruck. Selbst Autoren, die in ihrer Vergangenheitsgeschichte gar nicht bis in die eigene Zeit vordrangen, wie Ekkehard IV. in seinen ‚Casus sancti Galli‘, sahen sich und ihr Kloster in einer langen Kontinuitätslinie und identifizierten sich mit den Vorgängern (wie hier den Sankt Galler Mönchen) früherer Zeiten als „den Unsrigen“.257 (d) Vergangenes wurde in jedem Fall auf die Gegenwart ausgerichtet. Deutlich drückt das Arnulf von Mailand im Vorwort seiner „Gegenwartsgeschichte“ (‚Liber gestorum recentium‘) aus: Obwohl er Zeitgeschichte darstellen will, macht er zunächst einmal deutlich, daß die Gegenwart von der Vergangenheit abhängt und seine Erzählung ihren Ausgang folglich in der Vergangenheit nehmen muß (dabei will er freilich die vetustas, das ganz Alte, übergehen).258 „Vergangen“ meinte daher zwar oft: „verfallen“, „veraltet“, „dem Jetzigen nicht mehr entsprechend“ – und kennzeichnete somit den Wandel sowie, wertend, das Nichtbeständige und „Vergängliche“ der Geschichte. Doch es bedeutete nicht: „nicht mehr aktuell“, sondern wurde im Gegenteil vielmehr auf die Gegenwart angewandt und erhielt somit eine Funktion im Tagesgeschehen (oder „Tagesdenken“). (6) Das Vergangene wurde darüber hinaus stets relativ zur Gegenwart gesehen (und hat daher zwangsläufig fließende Grenzen): als Vergangenheit gegenüber der Berichtszeit, die ihrerseits wiederum Vergangenheit gegenüber der Gegenwart ist, wie gegenüber der Gegenwart selbst. Das Vergangene konnte sowohl zeitlich zugeordnet als auch einfach als „irgendwann einmal in früherer Zeit geschehen“ eingestuft werden. Es konnte vor langer Zeit geschehen oder unmittelbar vorausgegangen, früher abgeschlossen sein oder bis zur Gegenwart (oder auch bis zu einem anderen Zeitpunkt in der Vergangenheit, in der Regel der Berichtszeit) andauern. In solchen Fällen wird die im allgemeinen so wichtige zeitliche Zuordnung durch genaue Datierung geradezu belanglos.
257 Ekkehard spricht immer wieder von früheren St. Galler Mönchen als nostri; vgl. etwa Casus s. Galli 52, ed. G. MEYER VON KNONAU (Mittheilungen zur vaterländischen Geschichte, N.F. 5/6), St. Gallen 1877, S. 199; 116, S. 385. 258 Arnulf von Mailand, Liber gestorum recentium praef. (wie Anm. 58), S. 118: Set quia ex preteritis pendent presentia, ab illis ad ea, que sunt in manibus, gestorum decurrat oratio; ita tamen, ut relicta vetustate ex recenti memoria summatur exordium. Arnulf beginnt mit dem Jahr 931. In Buch 2 (ab 1018) berichtet er dann als Augenzeuge.
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(7) Schließlich: Die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart impliziert zwangsläufig oft einen wertenden Vergleich. Das Vergangene wird dabei gern herausgehoben und gerade deshalb, wie schon erwähnt, nicht selten zur Gegenwartskritik herangezogen. Daß Vergangenheit einen Wert darstellt und Ehrfurcht erheischt, daß sie idealisiert werden und sowohl Rechtsansprüche begründen bzw. Recht schaffen als auch vorbildhaft wirken konnte, läßt sich vielfach nachweisen. Ehrfurcht vor dem Alter ist entsprechend häufig bezeugt oder angemahnt. Dennoch ist es nicht die Vergangenheit an sich, sondern stets eine bestimmte Epoche oder etwas Bestimmtes in der Vergangenheit, das positiv bewertet wird, während jene auch negative Beispiele bereithielt und „Alter“ gleichzeitig eben „Zerfall“ implizierte. Der „Fortbestand“ wurde dann letztlich als Besonderheit herausgestellt. Die Vergangenheitsvorstellungen der Geschichtsschreiber waren demnach durchaus von bestimmten, in sich kohärenten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern geprägt: Die Vergangenheit war Maßstab, aber nicht Selbstzweck, sondern wurde in ihrer Funktion für und ihrem Verhältnis zur Gegenwart betrachtet. Darüber konnte, trotz aller Abgrenzungen, die Frage, um welche Vergangenheit es sich jeweils handelte, verblassen. Anhand des Verständnisses und der Wahrnehmung von „Vergangenheit“ zeigen sich somit insgesamt bestimmte, in der Einleitung dieses Bandes als Erkenntnisziele des Forschungsprojekts erläuterte Eigenschaften und Wertungen, Abgrenzungen und Abgrenzungskriterien, Übergänge und Bezüge, die mittelalterlicher Wahrnehmung und Deutung zugrunde liegen. Wieweit die festgestellten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster gattungsspezifisch sind, wird erst ein Vergleich mit den anderen Beiträgen dieses Bandes und weiteren Forschungen erkennen lassen. Ein grundlegender Wandel der Vergangenheitskonzepte vom frühen zum hohen Mittelalter wird in den hier vorgelegten Befunden hingegen ebensowenig deutlich wie größere regionale Unterschiede. Hinsichtlich des Verständnisses der Zeiten läßt sich „a growing sense [...] of the present as distinct from the past“259 meines Erachtens in der hier behandelten Epoche daher nicht feststellen. Es scheint vielmehr, daß die der Darstellung zugrunde liegenden Konzepte langfristig wirksam gewesen sind und einen prägenden Bestandteil einer katholisch-abendländischen Kultur darstellen.
259 So Giles CONSTABLE, Past and Present in the Eleventh and Twelfth Centuries. Perceptions of Time and Change, in: L’Europa dei secoli XI e XII fra novità e tradizione: sviluppi di una cultura. Atti della decima Settimana internazionale di studio, Mendola 2529 agosto 1986. (Miscellanea del Centro di studi medioevali 12), Mailand 1989, S. 135170, hier S. 164.
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Institution versus Individuum, Diözese versus Dynastie Zu Motiven der Wahrnehmung von Vergangenheit in Paulus Diaconus’ ‚Liber de Episcopis Mettensibus‘
„Noch bis auf den heutigen Tag“, so schrieb der langobardische Historiograph Paulus Diaconus in seiner Mitte der 80er Jahre des 8. Jahrhunderts verfaßten Geschichte der Metzer Bischöfe, „kann dies unvermindert bewundert werden.“1 Er bezog sich damit auf eine ehemals geborstene marmorne Altarplatte des Metzer Stephansoratoriums, deren wundersame ‚Instandsetzung‘ durch den Bischof Auctor er zuvor geschildert hatte. Kommt dieser Aussage im Rahmen des knappen Mirakelberichts, dessen Bestandteil sie ist, vor allem affirmative Bedeutung zu, so ist sie indirekt auch Indiz für ein allgemeines Phänomen, welches ebenso lange bekannt wie zentral für die historische Forschung ist:2 die Bedeutung der jeweiligen Gegenwart als zwangsläufigem ‚Standort‘ des Betrachters für jeglichen Blick zurück in die Vergangenheit3 und als – zumindest unterbewußter – temporaler Fluchtpunkt aller Geschichtsschreibung. 1
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Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus, ed. Georg Heinrich PERTZ (MGH SS II), Hannover 1852, S. 260-270 (im folgenden: ‚Liber‘), hier S. 263, Z. 48-52: Illico omnis illa confractio ita solidata est, quasi antea divisa minime fuisset. Est tamen in eodem marmore, quod non mediocriter usque in praesentem diem possit admirari. Nam ita apparet hactenus attentius cernentibus quasi divisum; sed studiose contrectatum digitis, ita probatur solidum, ut nullius in eo divisionis sentiatur indicium. Zur entsprechenden Forschungsgeschichte seit Droysen vgl. – gerade im Hinblick auf die Historiographie – etwa Franz-Josef SCHMALE, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung. Mit einem Beitrag von Hans-Werner GOETZ (Die Geschichtswissenschaft), Darmstadt 21993, S. 5-10 (mit Literatur); ferner die in Anm. 5 genannten Publikationen. Die Erkenntnis des unmittelbaren Gegenwartsbezuges aller Zeitebenen für den Menschen ist altbekannt und auch in der Mediävistik mittlerweile vielzitiert. Es sei an dieser Stelle nur exemplarisch verwiesen auf Aristoteles’ Äußerung, daß „das Gedächtnis [...] der Vergangenheit teilhaftig“ sei (Aristoteles, Über Gedächtnis und Erinnerung [,!"#$ %&'%() *+$ ,&+%&'-".)‘], 449b: / 01 %&'%( 234 5"&3%6&37; die Übersetzung nach Paul RICŒUR, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen (Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 2), Göttingen 32002, S. 21 mit Anm. 2), und Augustinus’ Reflexionen zum Phänomen der Zeit in den ‚Confessiones‘: Tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non video (Aurelius Augustinus, Confessiones XI,20, ed. Lucas VERHEIJEN (CCL 27), Turnhout 1981, S. 207). Das letztere Zitat findet sich (in der mediävistischen Forschung) u.a. bei Jacques LE GOFF, Geschichte und Gedächtnis (Propyläen TB), Berlin 1999, S. 27 (Original: Storia e memoria, Turin 1977), RICŒUR, Rätsel der Vergangenheit (in dieser
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Zugleich ist die zeitliche Selbstverortung, die Bestimmung der eigenen Gegenwart, für jedes Individuum axiomatische Voraussetzung der Ausprägung einer eigenen Identität.4 Entsprechend ist davon auszugehen, daß alle temporalen Aussagen historischer Quellen, welche Vergangenheit und Gegenwart differenzieren, meist auch als Korrelat der Identitätsbildung ihrer Verfasser zu verstehen sind, dies allerdings, je nach der Intensität der Identifikation mit den Inhalten des einzelnen Werkes, mehr oder weniger stark. Die Frage nach der Wahrnehmung von Vergangenheit in historiographischen Quellen ist mithin dazu geeignet, einen zentralen Punkt des Selbstverständnisses ihrer Verfasser zu beleuchten und so die bisherigen vorstellungsgeschichtlichen Untersuchungen zum mittelalterlichen Geschichtsbewußtsein im Hinblick auf individuelle temporale Deutungsmuster zu differenzieren.5 Sie kann – wie zu zeigen sein wird – zudem als ein ‚Meßinstrument‘ fungieren, um auf Grundlage erkennbarer Wahrnehmungsmuster die emotionale Nähe des Verfassers zu seinem Werk auszuloten oder bestimmte Stoßrichtungen der Schilderung offenzulegen und auf diese Weise Aufschluß über mögliche, in der Forschung umstrittene Intentionen der betreffenden Quelle zu gewinnen. Wenn im Folgenden von ‚Wahrnehmung‘ der Vergangenheit die Rede ist, so wird damit ein Begriff verwendet, der angesichts der Komplexität des Phäno-
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Anm.), S. 44, und Fabian SCHWARZBAUER, Geschichtszeit. Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs von Michelsberg, Honorius’ Augustodunensis und Ottos von Freising (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 6), Berlin 2005, S. 23. Ebenfalls Bezug auf die genannten Darlegungen des Augustinus nimmt Hans-Werner GOETZ, Vergangenheitsbegriff, Vergangenheitskonzepte, Vergangenheitswahrnehmung in früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsdarstellungen, in: Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, hg. v. Christina JOSTKLEIGREWE, Christian KLEIN, Kathrin PRIETZEL, Peter F. SAEVERIN u. Holger SÜDKAMP (Europäische Geschichtsdarstellungen 7), Köln-Weimar-Wien 2005, S. 171-202, hier S. 176f. mit Anm. 13; ausführlicher DERS., in diesem Band. Dieser zeitlichen Selbstverortung wird für den Prozeß menschlicher Identitätsbildung seit langem zentrale Bedeutung zuerkannt. Zusammen mit der (räumlichen) Unterscheidung der eigenen Person von der jeweiligen Umwelt – ebenso wie das Wissen um zeitliche Abläufe eine Fähigkeit, die jeder Mensch als Säugling erst erlernen muß – bildet sie die axiomatische Grundlage individuellen Bewußtseins. Vgl. den Ausschnitt von Immanuel KANT, Die notwendigen Formen der Wahrnehmung, in: Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen, hg. v. Lambert WIESING (suhrkamp tb wissenschaft 1562), Frankfurt a.M. 2002, S. 127-138, hier bes. S. 129f.; DERS. Theoretische Philosophie. Texte und Kommentar, hg. v. Georg MOHR, Bd. 1: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe (suhrkamp tb wissenschaft 1518), Frankfurt a.M. 2004, S. 101-133 passim. Zur bisherigen Erforschung des mittelalterlichen Geschichtsbewußtseins vgl. HansWerner GOETZ, Einleitung, in: Hochmittelalterliches Geschichtsbewußtsein im Spiegel nichthistoriographischer Quellen, hg. v. DEMS., Berlin 1998, S. 9-16 (sowie die übrigen Beiträge des Bandes); DERS., Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter (Orbis Mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 1), Berlin 1999, S. 1439.
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mens der Wahrnehmung und der derzeitigen Konjunktur des Begriffs in geschichtswissenschaftlichen Abhandlungen einige klärende Vorbemerkungen erfordert, um Mißverständnisse zu vermeiden.6 Diese Ausführungen verstehen sich nicht als end- bzw. alleingültige Definition, sondern sollen lediglich in thematischer Engführung zur Vergangenheit das hier zugrundeliegende Konzept erläutern: Jede Beschäftigung mit der Vergangenheit, so ist in den historischen Wissenschaften hinlänglich gezeigt worden,7 resultiert aus Anlässen in der Gegenwart. Jedes Bild von der Vergangenheit ist unvermeidbar von aktuellen Ansichten und Interessen des Zurückblickenden nicht nur – im Sinne klassischer Quellenkritik – gefärbt, sondern dezidiert gestaltet bzw. ‚konstruiert‘.8 Zentrale neuronale Prozesse wie Erinnern und Vergessen prägen, neben bewußter und unterbewußter Auswahl der Inhalte und (zwangsläufig) tendenziöser Darstellung,9 einen jeden historischen Rückblick.10 Kurz: Temporale Referenzebene für 6
Vgl. exemplarisch für die große Zahl jüngerer Arbeiten, die mit dem Begriff ‚Wahrnehmung‘ operieren, die Aufstellung und Kategorisierung bei Hartmut BLEUMER u. Steffen PATZOLD, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittelalters, in: Wahrnehmungs und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. DENS. (Das Mittelalter 8, 2003), Berlin 2003, S. 11-15, sowie die Aufstellung bei Hans-Werner GOETZ, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: ebd., S. 23-33, hier S. 23f. mit Anm. 1ff. (ND. in: DERS. Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter, hg. v. Anna AURAST, Simon ELLING, Bele FREUDENBERG, Anja LUTZ u. Steffen PATZOLD, Bochum 2007, S. 19-29, hier S. 19f. mit Anm. 1ff.). 7 Vgl. neben den in Anm. 6 genannten Publikationen vor allem GOETZ, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein (wie Anm. 5), S. 13-25. 8 Zum Konstruktionscharakter der Vergangenheit in mittelalterlicher Historiographie vgl. etwa Hans-Werner GOETZ, „Konstruktion der Vergangenheit“. Geschichtsbewußtsein und „Fiktionalität“ in der hochmittelalterlichen Chronistik, dargestellt am Beispiel der Annales Palidenses, in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. v. Johannes LAUDAGE (Europäische Geschichtsdarstellungen 1), Köln-Weimar-Wien 2003, S. 225-257, bes. S. 225-242 (ND. in: DERS., Vorstellungsgeschichte [wie Anm. 6], S. 523-544, bes. S. 523-534); zum Konstruktionsbegriff ferner Simon ELLING, Konstruktion, Konzeption und Wahrnehmung von Vergangenheit. Das Beispiel der Vita Heinrici II imperatoris Adalbolds von Utrecht, in: Bilder – Wahrnehmungen – Vorstellungen. Neue Forschungen zur Historiographie des hohen und späten Mittelalters, hg. v. Jürgen SARNOWSKY (Nova Mediaevalia 3), Göttingen 2007, S. 33-53, hier S. 34-39. 9 Vgl. Johannes FRIED, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. v. Jürgen MIETHKE u. Klaus SCHREINER, Sigmaringen 1994, S. 73-104, der auf die mittlerweile vielzitierte „doppelte Theoriebindung“ der Historiker hinwies. 10 Auf die besonderen Probleme, die diese Einsicht für die historischen Wissenschaften nach sich zieht, ist jüngst von prominenter Seite mehrfach mit Nachdruck aufmerksam gemacht worden. Vgl. Johannes FRIED, Geschichte und Gehirn. Irritationen der Geschichtswissenschaft durch Gedächtniskritik (Akademie der Wissenschaften und der Lite-
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die Darstellung von Vergangenheit ist nicht die Vergangenheit, sondern die jeweilige Gegenwart. Oder noch prägnanter formuliert: Gegenwart generiert Vergangenheit; zumindest in dem Sinne, in dem letztere für den Menschen relevant ist. Denn Vergangenheit stricte sensu, also als zurückliegender Teil eines linearen Zeitablaufes verstanden, kann nicht sinnlich wahrgenommen werden – ebensowenig wie die eigentliche Gegenwart, die im Moment der bewußten Reflexion durch das Individuum bereits nicht mehr Gegenwart ist (entsprechend läßt sich auch keine physikalische ‚Dauer‘ der Gegenwart messen).11 Die Unmöglichkeit sinnlicher Wahrnehmung gilt auch für die Zeit im Allgemeinen, die als unmittelbar gegebenes Phänomen bzw. „Vorstellung a priori“ im Sinne Kants überhaupt erst „formale Bedingung“12 jeglicher Wahrnehmung von Vergangenheit – wie sie hier verstanden werden soll – ist.13 Zudem besitzt ‚Vergangenheit‘ an sich keine materielle Existenz, welche im Wahrnehmungsprozeß verfälscht perzipiert werden könnte, sondern ist ein amorphes, stets aktualisiertes Produkt menschlichen Geistes. Jene Vergangenheit, an welcher der Mensch sein Denken und Handeln ausrichtet, ist immer das empfundene Ergebnis gegenwärtiger geistiger Operationen, die auf vergangenen Phänomenen, welche sich in die Erinnerung eingeschrieben haben, aufbauen, der Vergangenheit selbst aber nicht (mehr) teilhaftig ratur, Mainz / Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse, Jahrgang 2003, Nr. 7), Stuttgart 2003; ausführlich DERS., Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004; vgl. neuerdings auch den Versuch einer Umsetzung am Beispiel der Konstantinischen Schenkung in DERS., Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and its Original Meaning. With a Contribution by Wolfram Brandes: „The Satraps of Constantine“ (Millennium-Studien zur Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. / Millennium Studies in the Culture and History of the First Millennium C.E. 3), Berlin 2007; mit anderer Akzentuierung ferner GOETZ, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster (wie Anm. 6); DERS., Vorstellungen und Wahrnehmungen mittelalterlicher Zeitzeugen. Neue Fragen an die mittelalterliche Historiografie, in: Zwischen Politik und Kultur. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Mittelalter-Didaktik, hg. v. Wolfgang HASBERG u. Manfred SEIDENFUSS (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik 6), Neuried 2003, S. 45-57. 11 Allerdings gibt es durchaus ein ständig im Wandel begriffenes, individuelles Verständnis eines bestimmten Zeitraumes als der jeweiligen Gegenwart, das LE GOFF, Geschichte und Gedächtnis (wie Anm. 3), S. 26f., treffend als „Gegenwartsdauer“ beschrieben hat. 12 Vgl. KANT, Theoretische Philosophie. Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 4), S. 113122, bes. S. 116f. (dort auch das Zitat). Vgl. auch oben Anm. 4. 13 Im übrigen zeigen rezente Publikationen, daß auch in den Naturwissenschaften immer mehr die Erkenntnis gewonnen wird, daß Zeit (auch jenseits der Raum-Zeit-Problematik) kein absolutes Phänomen ist, sondern individuell und in verschiedenen Situationen unterschiedlich wahrgenommen wird. Vgl. exemplarisch David M. EAGLEMAN, Peter U. TSE, Dean BUONOMANO, Peter JANSSEN, Anna Christina NOBRE u. Alex O. HOLCOMBE, Time and the Brain. How Subjective Time Relates to Neural Time, in: The Journal of Neuroscience 25 (45), 2005, S. 10369-10371, die vor allem die neuronalen Grundlagen unterschiedlichen Zeitempfindens im Verhältnis zur physikalischen ‚Reaktionszeit‘ des Hirns thematisieren.
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sind. Das Etikett ‚vergangen‘ beschreibt im menschlichen Denken mithin keinen zeitlichen Aggregatzustand, der sich messen oder belegen ließe. Vielmehr wird erinnerten und/oder – auf welche Art auch immer – tradierten Sachverhalten (nicht Tatsachen!) die Qualität des ‚vergangen Seins‘ zugeschrieben, sie werden als vergangen ‚wahrgenommen‘. Diese temporale Zuschreibung ist jedoch keineswegs absolut, sondern erfolgt – abhängig vom Individuum wie vom Kontext – für jede Aussage aufs neue und kann sich entsprechend für ein und denselben Sachverhalt in einem anderen Kontext oder Diskurs (auch bzw. gerade innerhalb einer Quelle) ändern. Die mentale Grenze zwischen der wahrgenommenen Vergangenheit und Gegenwart oszilliert daher ständig und sorgt auf diese Weise für eine variierende „Gegenwartsdauer“14 und ein weit komplexeres Vergangenheitsbild der Quellen, als es die bisherigen Forschungen zum Geschichtsbewußtsein, die eher kohärente Geschichtsbilder oder mentale Einstellungen gegenüber der Vergangenheit als Gesamtphänomen herauszuarbeiten versuchten, zutage gefördert haben. Auch wenn diese Erkenntnisse selbstverständlich unverzichtbare Grundlage einer jeden Untersuchung bleiben, so gilt in unserem Fall das Interesse nicht so sehr solchen Vorstellungen und Wertungen, die von den Zeitgenossen mit der jeweils in Rede stehenden Vergangenheit verbunden wurden, sondern zunächst der Frage, welche der in den Quellen geschilderten Sachverhalte überhaupt dezidiert als ‚vergangen‘ von der empfundenen Gegenwart abgegrenzt wurden, und – soweit möglich – welche Motive dieser Abgrenzung zugrunde lagen und wie sie darstellerisch umgesetzt wurden. Als Quellengrundlage für eine entsprechend gelagerte Untersuchung, welche die temporale Differenzierung zwischen Vergangenheit und Gegenwart mit ihren Motiven und Ursachen thematisiert, bieten sich naturgemäß besonders historiographische Quellen an. Schließlich sind, unbeschadet der Tatsache, daß Geschichtsschreibung sich per Definition mit Vergangenem befaßt, gerade in dieser Quellengattung zeitliche Differenzierungen auszumachen; denn eine Geschichtsschreibung ohne aktuellen Sinn und Bezug, ohne den Sitz im Leben und damit in der Gegenwart wäre undenkbar. Auch in der Sicht der Zeitgenossen war ein solcher Bezug stets gegeben, wie die häufigen Anspielungen auf die aktuelle Situation in historiographischen Werken belegen – der Hinweis auf das Eingangszitat mag an dieser Stelle genügen –, die zugleich als erster Ansatzpunkt für eine Analyse der Vergangenheitswahrnehmung zu betrachten sind. Zu bedenken ist ferner, daß auch in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung verschiedene Formen, von der Weltchronik bis zur reinen ‚Zeitgeschichte‘ bzw. „Gegenwartsgeschichte“,15 existierten. Und auch das zeitgenössische Verständnis der historia als narratio rerum gestarum umfaßte durchaus Berichte über gesta der
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Gegenwart. Nicht zuletzt wies die Geschichte als magistra vitae für die Zeitgenossen ohnehin stets einen direkt faßbaren Wert für die Gegenwart auf.16 Ist die zeitliche Selbstverortung ein individueller Prozeß, der zwar von äußeren Umständen als Referenzpunkten beeinflußt, aber nicht gesteuert wird und im Endeffekt Ausfluß persönlicher Identitätsbildung ist, so stellt sich im Hinblick auf historiographische Schriften die Frage, wie sehr dieser Prozeß durch die Tendenz der Werke, ihre Absichten und causae scribendi beeinflußt wurde bzw. diese überlagerte, gerade wenn kollektive Identitäten neben das Ich der Verfasser treten (wie etwa bei Stammes- oder Institutionsgeschichten). Sie wird noch dringender, wenn die Quellen eine wie auch immer geartete Wechselwirkung zwischen individueller und kollektiver Anschauung nachgerade forcieren; so etwa im Falle von Bischofsgesten, die ganz dezidiert die Identität der jeweiligen Diözese als Institution in Form eines Tatenberichts ihrer Prälaten darzustellen und zu propagieren suchten, wobei nicht selten auf antike und urchristliche Traditionen verwiesen wurde.17 Für eine Analyse der Vergangenheitswahrnehmung in historiographischen Quellen bietet es sich daher an, auf frühmittelalterliche Bischofsgesten zurückzugreifen, da gerade bei diesen Werken ein Spannungsverhältnis von individuellem Zeitempfinden des Verfassers und gleichmäßig chronologisch erzählter Geschichte der Institution zu erwarten steht. Einen besonderen Reiz gewinnt letzteres gerade dann, wenn es sich bei dem untersuchten Werk um eine Auftragsarbeit handelt, die offenbar intendierte, eine Art ‚Corporate Identity‘ eines Bistums zu propagieren, dem der Verfasser selbst nicht angehörte, wie es etwa für den eingangs zitierten ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ der Fall ist.18 Hinsichtlich der causa scribendi und Darstellungsabsicht dieser Quelle gibt es in der Forschung unterschiedliche Auffassungen. Zwar besteht Einigkeit über eine „politische Zielsetzung“.19 Doch ob diese in der Propagierung einer reinen karolingisch-dynastischen „court history“ vor dem Hintergrund einer angestrebten Nachfolgeregelung zu sehen ist, wie Walter Goffart und ihm folgend ein Großteil der Forschung gemeint hat,20 oder ob nicht vielmehr originäre Interes16 Zum mittelalterlichen Stellenwert vgl. Hans-Werner GOETZ, Die Gegenwart der Vergangenheit im früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein, in: HZ 255, 1992, S. 61-97, hier passim (ND. in: DERS., Vorstellungsgeschichte [wie Anm. 6], S. 453-476). 17 Zum Genre der Institutionsgeschichtsschreibung vgl. Michel SOT, Local and Institutional History (300-1000), in: Historiography in the Middle Ages, hg. v. Deborah MAUSKOPF DELIYANNIS, Leiden-Boston 2003, S. 89-114. 18 Vgl. Reinhold KAISER, Die Gesta episcoporum als Genus der Geschichtsschreibung, in: Historiographie im frühen Mittelalter, hg. v. Anton SCHARER u. Georg SCHEIBELREITER (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32), München 1994, S. 459-480, hier S. 466 (mit Bezug auf Goffart). 19 Ebd., S. 478. 20 Vgl. Walter GOFFART, Paul the Deacon’s ‚Gesta episcoporum Mettensium‘ and the Early Design of Charlemagne’s Succession, in: Traditio 42, 1986, S. 59-93, das Zitat auf S. 91; ihm folgend KAISER (wie Anm. 19); Rosamond MCKITTERICK, Paolo Diacono e i Fran-
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sen des Metzer Bistums und seines Prälaten Angilramn im Streben nach einer kirchlichen Vormachtstellung die Richtung vorgaben, wie zuletzt wieder von Damien Kempf behauptet wurde,21 ist nicht endgültig geklärt. Wenn also die Metzer Bistumsgeschichtsschreibung des Paulus Diaconus, die in ihrer Grundstruktur häufig als nachgerade (untypisch-)prototypisch für die folgenden Werke dieses Genres angesehen wird,22 dezidiert politische Ziele verfolgte, die nicht notwendigerweise auch die ihres Verfassers waren – worin ein deutlicher Unterschied zu anderen Bistumsgesten zu sehen ist23 –, bietet es sich an, an ihrem prominenten Beispiel zu untersuchen, ob bzw. wie sehr die individuelle Wahrnehmung des Verfassers Einfluß auf die Darstellung der Vergangenheit der Institution des Bistums Metz hatte. Darüber hinaus wäre zu analysieren, ob bestimmte temporale Wahrnehmungs- und Deutungsmuster für Paulus Diaconus’ Arbeit bestimmend waren und welche Schlüsse diese möglicherweise im Hinblick auf die in der Forschung umstrittene politische Agenda des ‚Liber de episcopis Mettensibus‘24 zulassen, eines immerhin stilprägenden Werks,25 das in sei-
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chi. Il contesto storico e culturale, in: Paolo Diacono. Uno scrittore fra tradizione longobarda e rinnovamento carolingio, Atti del Convegno Internazionale di Studi, Cividale del Friuli – Udine, 6-9 maggio 1999, hg. v. Paolo CHIESA (Libri e Bibliotheche 9), Udine 2000, S. 9-29, hier S. 23: „Inoltre le Gesta espiscoporum [sic!] Mettensium, anch’esse di Paolo, commissionate dal vescovo Angilram di Metz nel 781, commemorano eventi di importanza vitale per la chiesa e per il regno franchi nella loro interezza. Paolo omette ogni riferimento ai re merovingi e alla loro chiesa. Il suo testo, come ha dimostrato Goffart, ha lo scopo di rafforzare la legittimità della successione carolingia e della loro rivendicazione della sovranità.“ Vgl. Damien KEMPF, Paul the Deacon’s Liber de episcopis Mettensibus and the Role of Metz in the Carolingian Realm, in: Journal of Medieval History 30, 2004, S. 279-299. Die These zuvor bereits bei Aline POENSGEN, Geschichtskonstruktionen des frühen Mittelalters zur Legitimierung kirchlicher Ansprüche in Metz, Reims und Trier, Diss. phil., Marburg 1971. Vgl. exemplarisch für den Großteil der Publikationen Michel SOT, Autorité du passé lointain, autorité du passé proche dans l’historiographie épiscopale (VIIIe-XIe siècle). Le cas de Metz, Auxerre et Reims, in: L’autorité du passé dans les sociétés médiévales, hg. v. Jean-Marie SANSTERRE (Collection de l’école francaise de Rome 333 / Insitut historique belge de Rome 52), Brüssel-Rom 2004, S. 139-162, hier S. 141. Gegen eine zu einheitliche Sichtweise der Bischofsgesten als stereotypes Genre – und damit implizit auch gegen einen Vorbildcharakter des ‚Liber‘ – wendet sich KAISER (wie Anm. 18). Sofern sie irgendwie in ihrer Funktion identifizierbar oder gar namentlich bekannt sind, waren die Verfasser der meisten frühmittelalterlichen Bistumsgesten – ebenso wie ihre Auftraggeber – Angehörige des Klerus der betreffenden Diözese. Vgl. Michel SOT, Gesta episcoporum. Gesta abbatum (Typologie des sources 37), Turnhout 1981, S. 22f., der ausdrücklich auf Paulus Diaconus als Ausnahme hinweist. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1). Die Einschätzung der Metzer Bistumsgeschichte des Paulus Diaconus als stilprägendes Vorbild aller weiteren Bischofsgesten nördlich der Alpen ist Legion. Vgl. exemplarisch die Handbücher von Franz BRUNHÖLZL, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 1: Von Cassiodor bis zum Ausklang der karolingischen Erneuerung, Mün-
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ner Form teilweise den ‚Liber pontificalis‘26 der römischen Kirche imitierte27 und das für den Raum nördlich der Alpen „das früheste Beispiel einer historiographisch erfaßten Institution neben dem Königtum“ überhaupt darstellt.28 Dies soll im Folgenden geschehen, um am Beispiel der Frage, ob der ‚Liber‘ sich primär an den Interessen von Diözese oder Dynastie orientierte, exemplarisch jene Differenzierungsmöglichkeiten aufzuzeigen, welche die oben skizzierte Untersuchung der Vergangenheitswahrnehmung mittelalterlicher Geschichtsschreiber eröffnet. Der Verfasser des ‚Liber‘, Paulus Diaconus,29 um 720 in Friaul geboren und aus langobardischem Adel stammend,30 war ehedem unter den Königen Ratchis
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chen 1975, S. 262 („das Werk des Paulus [steht] am Anfang einer langen Reihe mittelalterlicher Bischofs- und Bistumsgeschichten“); Johannes FRIED, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 (Propyläen Geschichte Deutschlands 1), Berlin 1994, S. 263 („die erste Bistumsgeschichte nördlich der Alpen“), Hans-Werner GOETZ, Europa im frühen Mittelalter, 500-1050 (Handbuch der Geschichte Europas 2), Stuttgart 2003, S. 273 („die erste eigentliche Bistumsgeschichte“), und Rudolf SCHIEFFER, Die Zeit des karolingischen Großreichs (714-887) (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 2), Stuttgart 102005, S. 12 („Paulus Diaconus [übertrug] das Muster des römischen Liber Pontificalis auf die Bischofsreihe der Stadt Metz [...] und [regte] damit manche weiteren Werke über die Taten (gesta) der einander folgenden Vorsteher eines Bistums [an]“). Zur Form und Funktion des ‚Liber pontificalis‘ als Vorbild der späteren Bischofsgesten vgl. BRUNHÖLZL (wie Anm. 25), S. 262; ferner Harald ZIMMERMANN, Art. Liber pontificalis, in LexMA V, Sp. 1946f.; DERS., Das Papsttum im Mittelalter. Eine Papstgeschichte im Spiegel der Historiographie, Stuttgart 1981; SOT (wie Anm. 17), S. 96-100. Gegen eine Überbetonung des Vorbildcharakters wendet sich KAISER (wie Anm. 18), S. 460 mit Anm. 5. Vgl. François Louis GANSHOF, L’historiographie dans la monarchie franque sous les Mérovingiens et les Carolingiens. Monarchie franque unitaire et Francie Occidentale, in: La storiografia altomedievale (Settimane di Studio XVII), Spoleto 1970, Bd. 2, S. 631-685, hier S. 657; Ernesto SESTAN, La storiografia dell’Italia longobarda: Paolo Diacono, in: ebd., Bd. 1, S. 357-386, hier S. 367, der ebd. gerade Paulus’ Kenntnis des ‚Liber pontificalis‘ hervorhebt: „Né va dimenticato, nel caso di Paolo Diacono, il Liber pontificalis della chiesa romana, che Paolo Diacono ben conosce ed utilizza [...].“ Daß dabei nur ein Teil der Metzer Bistumsgeschichte, namentlich das Chrodegang-Kapitel, tatsächlich auch die Form des ‚Liber pontificalis‘ imitierte, hat u.a. Walter GOFFART, The Narrators of Barbarian History (A.D. 550-800). Jordanes, Gregory of Tours, Bede, and Paul the Deacon, Princeton 1988, S. 373f., deutlich gemacht. Zuvor bereits DERS. (wie Anm. 20), S. 67. SCHMALE (wie Anm. 2), S. 136. Vgl. ihm folgend Dirk SCHLOCHTERMEYER, Bistumschroniken des Hochmittelalters. Die politische Instrumentalisierung von Geschichtsschreibung, Paderborn-München-Wien-Zürich 1998, S. 13. Zur Person des Paulus Diaconus vgl. auch im Folgenden immer noch am ausführlichsten Ludwig BETHMANN, Paulus Diaconus Leben und Schriften, in: Archiv 10, 1851 (ND. 1979), S. 247-334; ferner Wilhelm WATTENBACH u. Wilhelm LEVISON, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, II. Heft: Die Karolinger vom Anfang des 8. Jahrhunderts bis zum Tode Karls des Großen, bearb. v. Heinz LÖWE, Weimar 1953, S. 212-224; Franz Josef WORSTBROCK, Art. Paulus Diaconus, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 11: Nachträge und Korrekturen, Berlin-New York 2004, Sp. 1172-1186.
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und Desiderius eng mit dem Königshof in Pavia verbunden gewesen, wo er eine hervorragende Ausbildung genossen hatte, und später seiner Schülerin, der Königstochter Adelperga, an den Herzogshof von Benevent gefolgt. Um 774 schließlich wurde er Mönch im Kloster Montecassino.31 Dergestalt ‚italienisch‘ sozialisiert, war Paulus Diaconus ursprünglich in den frühen 80er Jahren des 8. Jahrhunderts aus seiner Heimat an den Hof Karls des Großen gekommen, um sich – u.a. mit einer an den König gerichteten Elegie32 – für die Freilassung seines Bruders Arichis einzusetzen, der sich wohl seit seiner Beteiligung an einem Aufstand in Friaul 776 in fränkischer Gefangenschaft befand.33 Die schriftstellerischen Fähigkeiten des langobardischen Mönches,34 die dieser u.a. mit seiner ‚Historia Romana‘, einer Überarbeitung und Weiterführung von Eutrops ‚Breviarium ab urbe condita‘, unter Beweis gestellt hatte, müssen bei diesem 30 Vgl. die Genealogie seiner eigenen Familie bei Paulus Diaconus, Historia Langobardorum lib. IV, c. 37, ed. Georg WAITZ (MGH SS rer. Germ. [48]), Hannover 1878, S. 164ff. 31 Zur Wahl Montecassinos als Kloster vgl. Marios COSTAMBEYS, The Monastic Environment of Paul the Deacon, in: Paolo Diacono (wie Anm. 20), S. 127-138, der ebd., S. 127f., davon ausgeht, daß die Frage nach dem Datum des Klostereintritts nicht zu beantworten sei. 32 Paulus Diaconus, Carmina X, Versus ad regem, ed. Ernst DÜMMLER, MGH Poet. Lat. I, Berlin 1881, S. 47f. 33 Zum (frühen) Verhältnis zwischen Paulus und Karl dem Großen an dessen Hof vgl. Germana GANDINO, La dialettica tra il passato e il presente nelle opere di Paolo Diacono, in: Paolo Diacono e il Friuli altomedievale (sec. VI-X). Atti del XIV Congresso internazionale di studi sull’Alto Medioevo, Bd. 1, Spoleto 2001, S. 67-97, hier S. 73f. 34 Zur Vielseitigkeit der historiographischen Arbeit des Paulus Diaconus vgl. etwa BRUNHÖLZL (wie Anm. 25), S. 315. Seine „nüchterne, quellengesättigte Darstellung [...], die Vergangenes als Interessantes schildert, aber an heilsgesch[ichtlicher] Einordnung und unmittelbarem Gegenwartsbezug nicht interessiert ist“ (C. Robert III. PHILLIPS, Art. Paulus Diaconus, in: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 9, Stuttgart-Weimar 2000, Sp. 440f., hier Sp. 440), ist schon lange ‚aktenkundig‘. Walter Berschin hat diese eher sachliche Art der Schilderung, die gerade in den Viten so viel der in anderen Fällen gerne gebotenen Wunder entbehrt und der eine intensive Beschäftigung mit den Quellen zugrunde lag, zu Recht „nach den Maßstäben der Zeit [...] wissenschaftlich“ genannt. Zur ‚historisch-kritischen‘ Arbeits- und Zitierweise Paulus’ vgl. Walter BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. II: Merowingische Biographie, Italien, Spanien und die Inseln im frühen Mittelalter (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 9), Stuttgart 1988, S. 149-154, das Zitat auf S. 153. Vgl. zu Paulus’ Prosa ferner FRIED (wie Anm. 25), S. 262f., etwa im Hinblick auf Paulus’ Bearbeitung von Eutrops ‚Breviarium ab urbe condita‘: „Paul hatte viel gelesen und schrieb ein gewandtes Latein, seine Verse besaßen eine gewisse Eleganz.“, nicht ohne die einnehmende Wirkung seines guten Stils zu vergessen: „So gewann er die Prinzessin [Adelperga, die Tochter des Langobardenkönigs Desiderius, deren Lehrer Paulus war] und nicht nur sie“ (ebd., S. 263). Eine deutlich negativere Einschätzung der schriftstellerischen Qualitäten des langobardischen Mönches im Hinblick auf Poesie findet sich bei Paul von WINTERFELD, Paulus diaconus oder Notker der Stammler?, in: NA 29, 1904, S. 468-471, bes. S. 471: „Diese [...] Scherze, [...] vollendet in ihrer Art, [...] sind viel zu gut für Paulus diaconus“.
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Anlaß das Interesse des Frankenkönigs erregt haben, der ihn – vermutlich nicht ohne sanften Druck – in seinen berühmten Gelehrtenzirkel, die sogenannte ‚Hofschule‘,35 aufnahm,36 wo Paulus bis 785/86 verblieb. Während dieses Aufenthaltes im Umkreis des fränkischen Königshofes entstand, vermutlich im Jahre 784,37 auch der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ auf Bitten des Metzer Bischofs und frisch ernannten Erzkapellans Angilramn.38 Der Inhalt des knappen Werkes ist hinreichend bekannt: In einer recht ungleichmäßigen „Verbindung von zählender (Chronographie) und erzählender (Historia) Geschichte“39 listet Paulus 37 Prälaten der Metzer Kirche vom Bistumsgründer, dem hl. Clemens, bis zu Angilramns unmittelbarem Vorgänger Chrodegang chronologisch auf und referiert (teilweise) ihre hervorragenden Taten und Qualitäten. Dabei stützte er sich offenbar auf die Diptychen der Metzer Kirche, die Historien Gregors von Tours und die Chroniken Fredegars sowie eventuell weitere, nicht näher bekannte Quellen, die er selbst vage als relatio prisca40 und relatio antiqua41 bezeichnet.42 Zudem dürfte auch mündlich tradiertes 35 Zur Hofschule Karls des Großen vgl. SCHIEFFER (wie Anm. 25), S. 132f., mit der dort in Anm. 32f. genannten Literatur. 36 Anders GOFFART (wie Anm. 27), S. 341, der ein Zusammentreffen von Karl dem Großen und Paulus Diaconus bereits 781 in Rom vermutet, anläßlich dessen Paulus eine Einladung an den fränkischen Hof erhalten haben soll. 37 Zur Bestimmung des Abfassungszeitraumes (bereits bekannt sind der Tod der Königin Hildegard im Vorjahr und die Heirat Karls des Großen mit Fastrada, doch war letzterer Beziehung noch kein Kind entsprossen; auch der Zug des Königs gegen Arichis II. von Benevent im Jahre 786 stand noch aus) vgl. Michel SOT, Le Liber de episcopis Mettensibus dans l’histoire du genre ‚Gesta episcoporum‘, in: Paolo Diacono (wie Anm. 20), S. 527-549, hier S. 529, der die ursprüngliche Datierung von Pertz bestätigt; ebenso bereits GOFFART (wie Anm. 27), S. 373, und KEMPF (wie Anm. 21), S. 282f. 38 So Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, ed. Ludwig BETHMANN u. Georg WAITZ (MGH SS rer. Lang. I), Hannover 1878, S. 219, selbst: [...] Sed et ego in libro quem de episcopis eiusdem civitatis conscripsi flagitante Angelramno, viro mitissimo et sanctitate praecipuo, praefatae ecclesiae archiepiscopo, de hoc sacratissimo viro Arnulfo quaedam eius miranda conposui, quae modo superfluum duxi replicare. Zur Person Angilramns, seiner Ernennung zum Erzkapellan (784), der Verleihung des Palliums an ihn und seinen Dispens von der bischöflichen Residenzpflicht vgl. Otto Gerhard OEXLE, Die Karolinger und die Stadt des heiligen Arnulf, in: FMSt 1, 1967, S. 250-364, hier S. 296f.; POENSGEN (wie Anm. 21), S. 15; SOT (wie Anm. 37), S. 529; Damien KEMPF, Art. Angilram, bishop of Metz, d. 791, in: International Encyclopaedia for the Middle Ages-Online. A Supplement to LexMA-Online. Turnhout: Brepols Publishers, 2006, in Brepolis Medieval Encyclopaedias [16. Februar 2010]. 39 WORSTBROCK (wie Anm. 29), Sp. 1178. KAISER (wie Anm. 18), S. 462, spricht im Hinblick auf die Bischofsgesten allgemein von einem „modu[s] mixtu[s] zwischen den beiden Extremen der (fast nur) ‚zählenden‘ Geschichtsschreibung der Bischofslisten und der (fast nur) ‚erzählenden‘ Geschichtsschreibung [nicht nur, S.E.] in den ‚Gegenwartskapiteln‘ der Bistumsgeschichten.“ Der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ wäre mithin ein Extrembeispiel für diese Mischform (vgl. ebd., S. 469). 40 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 262, Z. 22. 41 Ebd., S. 261, Z. 19.
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Wissen in die Schilderung eingeflossen sein.43 Allerdings beschränkt sich die Darstellung der meisten Bischöfe auf eine bloße Nennung ihrer Namen und einige Gemeinplätze; teilweise gefolgt von der lapidaren Feststellung, daß mehr Informationen über sie nicht in Erfahrung zu bringen gewesen seien.44 Lediglich vier – angeblich mit Bedacht ausgewählte45 – Bischöfe werden ausführlicher gewürdigt: der Bistumsgründer Clemens, der wundertätige Auctor, der wegen seiner (angeblichen) Rolle während der Hunneneinfälle offenbar auch im 8. Jahrhundert noch große Verehrung erfuhr, ferner der karolingische Spitzenahn Arnulf, der die Nähe von Bistum und Herrscherdynastie verkörperte, sowie der idealtypische Chrodegang, dessen Kirchenreformen während seines rezenten Pontifikats46 noch in lebhafter Erinnerung waren.47 Diese recht inkon42 Zu den von Paulus benutzten Quellen vgl. auch M. CHAUSSIER, Dissertation sur l’origine apostolique de l’église de Metz, in den Prolegomena zur Edition des ‚Libellus de ordine episcoporum Mettensium‘, in: Migne PL 95, Paris 1861, Sp. 673-698, hier Sp. 679; ferner bes. zur von Paulus verwendeten Version der Historien Gregors von Tours Helmut REIMITZ, Die Konkurrenz der Ursprünge in der fränkischen Historiographie, in: Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, hg. v. Walter POHL (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8), Wien 2004, S. 191-209, hier S. 206f. 43 Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 22 mit Anm. 2, die sich auf Paulus Diaconus selbst beruft, der z.B. Aussagen über Bischof Clemens mit der Einschränkung ut ferunt versieht (Liber de episcopis Mettensibus [wie Anm. 1], S. 261, Z. 23). 44 Vgl. etwa Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 262, Z. 6f. (zu den Bischöfen Felix, Patiens, Victor und seinem gleichnamigen Nachfolger, Simeon und Sambatus): Quorum omnium studiis certum est, crevisse Dei ecclesiam, quamvis eorum nobis specialiter occulta sunt gesta. Tatsächlich sind bis heute keine sicheren Erkenntnisse zu den Metzer Bischöfen vor der Mitte des 6. Jahrhunderts zu gewinnen. Vgl. Hans-Walter HERRMANN, Zum Stande der Erforschung der früh- und hochmittelalterlichen Geschichte des Bistums Metz, in: RhVjbll. 28, 1963, S. 131-199, hier S. 153ff. 45 Zu Paulus’ möglichen Intentionen in der Auswahl vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 71; SOT (wie Anm. 37), passim, und KEMPF (wie Anm. 21), passim. Allerdings sollte auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß Paulus nur zu den vier ausführlicher behandelten Bischöfen ausreichend Quellen zur Verfügung standen und somit eher die Materiallage als inhaltliche Gründe für die ‚Auswahl‘ entscheidend waren. Vgl. dazu auch oben Anm. 44 und OEXLE (wie Anm. 38), S. 299. 46 Chrodegang starb am 6. März 766. Zu seiner Person und seinem Pontifikat vgl. den Sammelband Saint Chrodegang, Communications présentées au colloque tenu à Metz à l’occasion du douzième centenaire de sa mort, hg. v. Jean SCHNEIDER, Metz 1967; Otto Gerhard OEXLE, Art. Chrodegang, in: LexMA II, Sp. 1948ff.; Martin A. CLAUSSEN, The Reform of the Frankish Church. Chrodegang of Metz and the „Regula canonicorum“ in the Eighth Century (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 4,61), Cambridge 2004. 47 Nur die Chrodegang-Vita folgt in ihrer Anlage dem Vorbild des römischen ‚Liber pontificalis‘. Ob die übrigen drei Episoden nach den biblischen Erzählungen von der Schöpfung, der Sintflut und der Erwählung Jakobs nachempfunden sind, wie GOFFART (wie Anm. 20), S. 74-87, und DERS. (wie Anm. 27), S. 374, meint, sei dahingestellt. Zwar scheint besonders die Analogie zwischen Jakob und Arnulf und ihrer Bevorzugung der
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sistente Gewichtung der Viten einzelner Bischöfe, die die Geschichte der Metzer Bischöfe von späteren Bischofsgesten (und vom ‚Liber pontificalis‘) doch deutlich unterscheidet,48 und die nur spärlich enthaltenen Informationen zur civitas Metz haben in der Forschung teilweise dazu geführt, daß dem Werk des langobardischen Mönches eine höhere Qualität abgesprochen wurde. Im Vergleich mit anderen Bischofsgesten bleibe der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ des Paulus „ein Gerippe, nicht zufriedenstellend und beinahe unberührt von archivalischen oder ortsbezogenen Informationen“, so urteilte zumindest Walter Goffart.49 Doch hat hier der Wunsch, das Werk an der ‚Idealform‘ eines bestimmten Genres zu messen, den Blick auf die eigentlichen Intentionen des Verfassers verstellt,50 denn das kurze Werk ist alles andere als eine mißlungene Stilübung. Vielmehr war der ‚Liber‘ durchaus „kompositorisch geschlossen“51 und erfüllte, folgt man Aline Poensgen und jüngst Damien Kempf, als Auftragsarbeit eines der ausgewiesensten Gelehrten seiner Zeit, wohl handfeste (vor allem) kirchenpolitische Zwecke, die Bischof Angilramn zur Stärkung seiner Position und zum Wohl seiner Diözese vorgegeben haben dürfte.52 Schließlich war er es, der Paulus „drängte [...], zum Lob seiner Bischofsstadt die Feder zu spitzen.“53 Hintergrund war offenbar die Rivalität von Metz und Trier um die regionale Vormachtstellung im Rahmen einer von Karl dem Großen angestrebten neuen ‚Metropolitanverfassung‘.54 Der karolingische Vorort Metz, der sich nach Ausweis
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jüngeren Söhne offensichtlich, doch fragt sich, wieso sie von Paulus nicht explizit angesprochen wurde, zumal ebenfalls im Arnulf-Kapitel der Vergleich mit Gideon in aller Breite dargelegt wird (vgl. unten Anm. 132). Vgl. SOT (wie Anm. 37), S. 547ff.; KEMPF (wie Anm. 21), S. 283f. GOFFART (wie Anm. 27), S. 373 („Paul’s work is skeletal, unsatisfactory, and almost untainted by archival and other local information.“). Zu vergleichbaren Einschätzungen des ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ vgl. SOT (wie Anm. 37), S. 527, der ebd. neben Goffart auch Louis Duchesne („une oeuvre écrite à peu de frais“ [vgl. Louis DUCHESNE, Fastes épiscopaux de l’ancienne Gaule, Bd. 3: Les provinces du nord et de l’est, Paris 1915, S. 46]) und Ernesto Sestan („une oeuvre de commande et cela se sent un peu“ [vgl. SESTAN (wie Anm. 27), S. 367]) zitiert. Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 298. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 71. Vgl. ebd., S. 9-72, bes. S. 70ff.; REIMITZ (wie Anm. 42), S. 208; KEMPF (wie Anm. 21), passim, der gegen Goffart die Ergebnisse von Poensgen (offenbar leider in Unkenntnis ihrer Arbeit) im wesentlichen bestätigt und ebd., S. 298, feststellt: „The focus of Paul’s work is, first and foremost, Metz.“ GOFFART (wie Anm. 20), S. 91, war davon ausgegangen, daß im Verhältnis zu einer karolingisch-dynastischen Legitimationspropaganda „Metz and its bishops are the subordinate element“. FRIED (wie Anm. 25), S. 263. Vgl. OEXLE (wie Anm. 38), S. 320-325, der diese Ansprüche vor allem in Angilramn und seiner persönlichen Ausnahmestellung begründet sieht; POENSGEN (wie Anm. 21), S. 1019. Zur Rolle von Metz in der Trierer Kirchenprovinz vgl. ferner HERRMANN (wie Anm. 44), S. 131 u. S. 158, der zwar eine aufstrebende Stellung von Metz gegenüber Trier und
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der Quellen Ende des 8. Jahrhunderts nicht zuletzt wegen der dortigen Bemühungen um eine Liturgiereform nach römischem Vorbild als Avantgarde der fränkischen civitates betrachtete und dessen Bischof Angilramn vom König selbst mit einer herausgehobenen Stellung bedacht worden war, wollte in diesem Rahmen nicht hinter der traditionellen Metropole der Provinz, Trier, zurückstehen bzw. erhob selbst Metropolansprüche.55 Hierin, und nicht in einer Legitimierung der karolingischen Herrschaft, die primäre Stoßrichtung des ‚Liber‘ zu sehen widerspricht – wie erwähnt – ausdrücklich der These Goffarts, daß das Werk vor allem der Propagierung und Legitimierung offizieller politischer Sichtweisen des karolingischen Hofes, mithin des Königs selbst, im Zuge einer dynastischen Reorganisation des fränkischen Reiches diente.56 Entsprechend wäre auch nicht anzunehmen, daß Karl der Große selbst das Werk in Auftrag gab und seine eigenen Vorfahren besonders berücksichtigt sehen wollte.57 Eher wäre in ihm wohl, wie Poensgen meinte, der primäre Adressat in einem äußerst beschränkten Kreis intendierter Leser/Hörer zu sehen.58 Warum Bischof Angilramn von Metz unter den Gelehrten am Hofe Karls des Großen59 – und wohl kaum während der Durchreise in Metz60 – gerade den Langobarden Paulus als Verfasser der Geschichte seines Bistums auswählte, muß letztlich Spekulation bleiben. Ein maßgeblicher Faktor dürfte jedoch – neben persönlicher Sympathie – dessen nachweisliche Kenntnis des ‚Liber Pontificalis‘,61 der großen römischen Vorlage aller Bischofsgesten, gewesen sein, eben-
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Reims konstatiert, aber davon ausgeht, daß die kirchliche Abhängigkeit von Trier „nie ernstlich in Frage gestellt“ war (ebd., S. 158); ferner OEXLE (wie Anm. 38), S. 328-345. In diesem Zusammenhang sind auch die Verleihung des Palliums an Angilramn und die lange Sedisvakanz nach seinem Tod zu sehen. Vgl. OEXLE (wie Anm. 38), S. 290ff. u. S. 317-325; zur herausragenden Rolle des Reformers Chrodegang als „nouveau Clément“ vgl. Michel SOT, Historiographie épiscopale et modèle familial en occident au IXe siècle, in: Annales 33/1, 1978, S. 433-449, hier S. 441. Vgl. GOFFART (wie Anm. 27), S. 433: „his Gesta of the bishops of Metz is in the nature of a tract justifying the (securely entrenched) Carolingian régime“. Die These zuvor ausführlich bei DEMS. (wie Anm. 20), passim. Vgl. auch oben Anm. 20, 21 u. 52. So etwa noch Pierre RICHÉ, Die Karolinger. Eine Familie formt Europa, München 31995, S. 386 (Original: Les Carolingiens. Une famille qui fit l’Europe, Paris 1983), der ebd. davon spricht, daß Karl von Paulus eine Geschichte der Metzer Bischöfe „verlangt“ habe. Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 9-72, bes. S. 70ff. Auch KAISER (wie Anm. 18), S. 472, spricht trotz seiner Anlehnung an Goffarts Thesen davon, daß „das Interesse an dieser Art der Darstellung [wie sie in den Gesta episcoporum allgemein vorherrscht] nur ein lokal beschränktes sein konnte.“ Zum gelehrten Personenkreis am Hof vgl. oben Anm. 35. So u.a. R.-S. BOUR, Un passage très discuté de Paul Diacre, in: Annuaire de la Société d’Histoire et d’Archéologie de la Lorraine 44, 1935, S. 137-146, hier S. 137: „À son passage à Metz, l’évêque de cette ville, Angilram, lui demanda de composer une histoire des ses prédécesseurs.“ Vgl. oben Anm. 27.
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so wie die Tatsache, daß dieser mit dem Verfassen einiger Epitaphien62 bereits für Metz in Erscheinung getreten war. Wichtig ist aber festzuhalten, daß mit Paulus Diaconus – im Gegensatz zu den Verfassern anderer Bischofsgesten – doch ein Außenstehender, ein ethnisch und geographisch ‚Fremder‘,63 der sich nicht gerade durch eine deutliche Identifikation mit seinem fränkischen Exil auszeichnete, die Aufgabe übernahm, die Interessen des fränkischen Bistums in schriftlicher Form zu vertreten. Denn von einer emotionalen Bindung an die Bischofsstadt oder gar einer Identifikation mit ihr ist keinesfalls auszugehen, wie die distanzierte Beschreibung der civitas im ‚Liber‘,64 darüber hinaus aber auch ein Brief an Abt Theudemar von Montecassino erkennen lassen, in welchem Paulus über das Leben am Hofe und im fränkischen Kloster u.a. schreibt: mihi palatium carcer est [...]; solo ab hac patria debili corpusculo teneor.65 Möglicherweise aber sah Angilramn in dieser ‚Fremdheit‘ sogar einen Vorteil, denn Paulus schien vergleichsweise unverdächtig, nur zum eigenen Wohle pro domo zu schreiben. Die Wahl des Langobarden mag daher aus Sicht des Erzkapellans für den könig-
62 Diese auf Geheiß Karls des Großen entstandenen Epitaphien für die in Metz begrabenen Frauen der karolingischen Familie – u.a. Karls Gemahlin Hildegard – inseriert Paulus selbst in seinen ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ (wie Anm. 1), S. 265ff. 63 Zum Fremdheitsbegriff in der Forschung vgl. den Beitrag von Anna AURAST in diesem Band. 64 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 284. 65 Paulus Diaconus, Epistola ad Theudemarum, ed. Georg WAITZ (MGH SS rer. Lang. I), Hannover 1878, S. 16f., hier S. 16 (im Vorwort zur Edition der ‚Historia Langobardorum‘). Ein Reflex auf das zwiespältige Verhältnis, welches Paulus wohl mit Karl dem Großen, der immerhin seinen Bruder lange gefangenhielt, und dem Frankenreich verband, mag sich auch noch im ‚Chronicon Salernitanum‘ finden, dessen Verfasser Ende des 10. Jahrhunderts gar von Plänen des angeblichen ‚Desiderius-Anhängers‘ Paulus Diaconus zur Ermordung Karls des Großen zu berichten wußte – die fällige Körperstrafe habe aber die doch große Zuneigung des Herrschers verhindert, der ihn auf Drängen der Großen letztlich verbannte. (Vgl. Chronicon Salernitanum c. 9, ed. Georg Heinrich PERTZ [MGH SS III], Hannover 1839, S. 476. Übersetzungen [in Ausschnitten] bei BETHMANN [wie Anm. 29], S. 247-334, hier S. 267f., und bei Otto ABEL, Paulus Diaconus und die übrigen Geschichtsschreiber der Langobarden [Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 15], Berlin 1849, S. 192-202.) Zur – teilweise kritischen – Darstellung und Bewertung Karls des Großen im ‚Chronicon Salernitanum‘ vgl. auch Walter POHL, Werkstätte der Erinnerung. Montecassino und die Gestaltung der langobardischen Vergangenheit (MIÖG Ergänzungsbd. 39), Wien-München 2001, S. 60-65, bes. S. 60. Freilich ist diese Anekdote – wie BETHMANN (in dieser Anm.), schon richtig festgestellt hat – dem Bereich der Sage zuzuweisen, doch scheint auch hier wie so häufig der Kern der Erzählung aus dem tradierten Wissen darum bestanden zu haben, daß der große langobardische Gelehrte sich nicht vorbehaltlos an den fränkischen Hof band, sondern sich zeitlebens weit mehr seiner italienischen Heimat verbunden fühlte (So auch POHL [in dieser Anm.], S. 65). Von einer besonderen Abneigung des Paulus gegen die Franken oder Karolinger auszugehen, ist aber sicherlich falsch. So auch schon COSTAMBEYS (wie Anm. 31), S. 128.
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lichen Adressaten des ‚Liber‘ auch eine gewisse Objektivitätsgarantie beinhaltet haben. In diesem Zusammenhang ist die Frage zu stellen, wie weit Paulus mit den örtlichen Gegebenheiten und der Geschichte der civitas Metz überhaupt vertraut war. Obwohl, ausgehend von der Vermutung des Herausgebers Pertz, in der Literatur mehrfach die Ansicht geäußert bzw. schlicht vorausgesetzt wurde, Paulus habe das kurze Werk in Metz selbst verfaßt,66 scheint diesbezüglich durchaus Skepsis angebracht.67 Diese Einschätzung beruht – soweit ich sehe – im wesentlichen auf fünf eher schwachen Indizien: 1. einer Bemerkung des langobardischen Mönchs über eine wundersam instand gesetzte Altarplatte im ‚Liber‘ selbst;68 2. einem Brief, den dieser wohl am 10. Januar 783 „a ripa mosellae“ geschrieben hat,69 während zeitnah ein Aufenthalt Karls des Großen in Dieden66 Vgl. die entsprechende Bemerkung von Georg Heinrich PERTZ in der Einleitung seiner Edition des ‚Liber de episcopis Mettensibus‘, in: MGH SS II, Hannover 1852, S. 260 mit Anm. 3. Nicht umsonst schrieb er hier bezüglich des Abfassungsortes Metz jedoch „ut videtur“, da er seine These lediglich auf den von Paulus (ebd., S. 263) inserierten und eingangs zitierten ‚Mirakelbericht‘ über einen nach dem Zelebrieren der Messe durch Bischof Auctor verschwundenen Riss in einer Altarplatte des Metzer Stephansoratoriums stützte, in dem der Langobarde behauptet, daß die vormalige Fraktur auch durch intensives Betasten des Marmors nun kaum mehr bemerkt werden könne (vgl. oben Anm. 1). Der Halbsatz sed studiose contrectatum digitis veranlaßte Pertz, ebd. in Anm. 6 zu vermuten: „igitur Paullus ipsum inspexisse videtur.“ Es scheint gerade angesichts des eher distanzierten Kontextes nicht zwingend, daß Paulus hier persönlich ‚Hand angelegt‘ haben soll (auch wenn dies nicht ausgeschlossen werden kann). Vor allem aber mutet es äußerst gewagt an, von dieser Passage auf einen l ä n g e r e n A u f e n t h a l t w ä h r e n d d e r A b f a s s u n g d e s ‚ L i b e r ‘ zu schließen. Schließlich gehört einerseits der Hinweis auf die Möglichkeit, sich auch selbst haptisch von der Wirkung des beschriebenen Wunders überzeugen zu können, zum klassischen Repertoire frühmittelalterlicher Mirakelberichte und hat wohl rein affirmativen Charakter. Andererseits könnten entsprechende Äußerungen durchaus von Bischof Angilramn oder aus seinem Umfeld stammen, oder aber auch einer schriftlichen Vorlage entnommen sein. (Zu möglichen Vorlagen vgl. oben Anm. 42.) Für die Verbreitung der Metz-These in der Forschung vgl. Pertz folgend etwa POENSGEN (wie Anm. 21), S. 19; SOT (wie Anm. 37), S. 529f., der ebd. zwar gewisse Zweifel am Abfassungsort einräumt, aber doch von einer „connaissance effective des lieux par l’auteur“ ausgeht; DERS. (wie Anm. 22), S. 141: „Paul Diacre écrit en 784, très vraisemblablement à Metz, [...]“; indirekt auch KEMPF (wie Anm. 21), S. 284, der sich wie GOFFART (wie Anm. 27), S. 373, wundert, daß Paulus keine lokalen Urkunden als Quellen benutzt habe und die genannten Gebäude in Metz kaum beschreibe. 67 Vgl. dazu auch die Habilitationsschrift von Steffen PATZOLD, Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (MittelalterForschungen 25), Ostfildern 2008, S. 115f. mit Anm. 79 u. 80. 68 Vgl. oben Anm. 1 u. 66. 69 Paulus Diaconus, Epistola ad Theudemarum (wie Anm. 65). Die im ursprünglichen Brief genannten Namen, die eine nähere Bestimmung des Abfassungsortes zugelassen hätten, sind in der einzig erhaltenen Handschrift (Paris; BN, lat. 528), die den Brief als Formel überliefert, durch ille ersetzt. Hierzu und zur Datierung vgl. BETHMANN (wie Anm. 29), S. 260ff. u. S. 297.
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hofen bezeugt ist;70 3. der Annahme, Paulus habe Quellen benutzt, die nur in Metz zugänglich gewesen seien;71 4. seiner Kenntnis einiger Bauwerke, die letztlich aber doch selektiv und allgemein bleibt;72 und schließlich 5. seiner Autorschaft der im ‚Liber‘ erwähnten Epitaphien karolingischer Grablegen in Metz.73 Wirklich schlüssig jedoch läßt sich, wie bereits Georg Waitz richtig feststellte, aus keinem der Argumente von Pertz74 – und auch aus keinem neueren – ein zwingender Beweis für einen längeren Aufenthalt des Paulus Diaconus in Metz herleiten. Vielmehr ließe sich z.B. unter Hinweis auf die angeblich von Karl dem Großen persönlich zum ‚Liber‘ beigesteuerte Arnulf-Geschichte sowie Angilramns ständige Hofnähe seit seiner Ernennung zum Erzkapellan mit ebensogroßer Berechtigung eine Abfassung des Werkes am Hofe annehmen.75 Es existiert mithin kein einziger Beleg dafür, daß Paulus jemals für längere Zeit in Metz gewesen ist,76 wie dies etwa für die Pfalz Diedenhofen oder für Poitiers 70 Für Weihnachten 782 ist durch die ‚Annales regni Francorum‘ der Aufenthalt Karls des Großen in Diedenhofen belegt, vgl. BM2 260d. Aus dieser Nachricht mit Blick auf seine Aussagen (Aufenthalt in einem Kloster an der Mosel) im Brief an Theudemar (vgl. Anm. 69) zu schließen, daß Paulus am 10. Januar 783 in Metz gewesen sein müsse, erscheint nicht völlig abwegig, bleibt aber in jedem Fall Hypothese; nicht zuletzt, weil die Datierung des Briefes in das Jahr 783 einzig auf der Anwesenheit des Königs in Diedenhofen aufbaut und somit eine ständige räumliche Nähe des Paulus zum Hofe, aber nicht dessen unmittelbare Anwesenheit dort impliziert. 71 Vgl. etwa die Aufstellung der Quellen des Paulus bei CHAUSSIER (wie Anm. 42), Sp. 679, der ebd. zudem (ohne Quellen zu nennen) von einer Entsendung Paulus’ nach Metz durch Karl den Großen zwecks Gründung einer Schule ausgeht: „Il [sc. Charlemagne] le [sc. Paul] plaça quelque temps à Metz pour y fonder une école, et c’est là que Paul, à la prière de saint Angelramne, a écrit son Histoire des évêques de Metz [...]“. 72 Vgl. SOT (wie Anm. 37), S. 529f., hier S. 530: „Ces témoignages montrent bien que Paul Diacre connaissait les lieux.“ Diese Aussage muß zwar nicht zwangsläufig abgelehnt werden, doch sagt sie nichts über den Intensitätsgrad der Kenntnis aus. 73 Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 265ff. Paulus erwähnt ebd. S. 265, Z. 36, daß er selbst die Epitaphien auf Befehl Karls des Großen angefertigt habe. 74 So im Vorwort der Edition von Paulus Diaconus, Historia Langobardorum (wie Anm. 38), S. 20, Anm. 6 (in bezug auf den ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ und den Abfassungsort Metz): „Neque tamen locus a Pertzio, SS II, p. 260, allatus (ib. p. 263) docet, Paulum dum scriberet ibi praesentem fuisse.“ 75 Zur Arnulf-Episode Karls vgl. unten S. 228 mit Anm. 134; zu Angilramn vgl. die folgende Anm. 76 Auch der Hof Karls des Großen hat nach Ausweis der entsprechenden Regesten während der – kaum permanenten – Anwesenheit des langobardischen Autors (ca. zwischen 782 und 787) dort niemals nachweislich Station gemacht. Vgl. BM2 250-292, S. 102-121. Gewiß schließt dieser Befund einen Aufenthalt in Metz (etwa während der „in Francia“ verbrachten Zeiträume) nicht aus, doch scheint mir das Itinerar des Hofes, der, wenn der König sich zu dieser Zeit in Franken (und nicht in Sachsen oder Italien) aufhielt, meist in Aachen, Attigny oder Worms Station machte, ein starkes Indiz zu sein. Zu den bevorzugten Aufenthaltsorten vgl. auch Josef FLECKENSTEIN, Karl der Große und sein Hof, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 1: Persönlichkeit und Geschichte, hg. v.
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der Fall ist.77 Zugleich offenbart der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ – entgegen der Einschätzung von Pertz78 – inhaltlich eine deutliche Distanz des Autors und eine frappierende Unkenntnis der Stadt.79 Die von Poensgen, Goffart und Kempf als mögliches Indiz für tendenziöse Auslassung oder andere Schwerpunktsetzungen gewerteten ‚Lücken‘ in der Metzer Bischofsgeschichte80 dürften zu einem erheblichen Teil wohl eher (oder auch) relativer Unkenntnis des Verfassers geschuldet sein.81 Letztgültig wird sich ein Aufenthalt Paulus’ in Metz weder belegen noch ausschließen lassen. Mit ziemlicher Sicherheit aber war er mit der Stadt, ihren Traditionen und räumlichen Gegebenheiten weit weniger vertraut, als häufig angenommen wurde. Einzig die prominenten kirchlichen Gebäude werden ihm (aus eigener Anschauung oder Erzählungen) wohl näher bekannt gewesen sein – und auch hier ist ‚bekannt‘ als relativer Begriff zu betrachten. Woher auch immer Paulus seine wenigen konkreten Informationen bezog, eine große emotionale Bindung an die Diözese Metz bestand – im Gegensatz zu den Verfassern ande-
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Helmut BEUMANN, Düsseldorf 1965, S. 28f. Denkbar ist natürlich ebenfalls ein Kurzaufenthalt des Hofes in Metz auf der Durchreise, doch dürfte auch in einem solchen Fall Paulus’ Kenntnis der Stadt rudimentär geblieben sein. Bliebe noch der Fall, daß der langobardische Historiograph unabhängig vom Hof – denn nicht der gesamte Hofstaat begleitete Karl permanent – Metz (möglicherweise auch mehrfach) besucht hat, wie dies etwa durch Paulus selbst für Poitiers belegt ist (vgl. unten Anm. 77). Allerdings gründen die Versuche, einen Aufenthalt in Metz für 783/84 zu belegen, ausschließlich in der Annahme, die entsprechenden Werke (Epitaphien, ‚Liber‘) seien daselbst verfaßt worden (vgl. etwa GOFFART [wie Anm. 27], S. 342); der Zirkelschluß ist offensichtlich. Zudem ist nach 784 nicht einmal Angilramns häufiger Aufenthalt in seiner Bischofsstadt sicher anzunehmen, denn die sonst zwingende stabilitas loci war für den neuen Erzkapellan durch päpstlichen Dispens aufgehoben worden, wie ein ähnliches Ersuchen Karls des Großen für den neuen Erzkapellan Hildibold auf der Frankfurter Synode von 794 belegt, der das Recht haben sollte, am Hof zu weilen, sicut Angilramnum habuerat. Vgl. Capitulare Francofurtense a. 794 c. LV, ed. Albert WERMINGHOFF (MGH Conc. 2,1), Hannover 1906, S. 171; vgl. dazu ausführlich OEXLE (wie Anm. 38), S. 311-328. Paulus Diaconus, Historia Langobardorum I,5, (wie Anm. 30), S. 55 (Diedenhofen; im Hinblick auf die nach Breitengraden verschiedenen Sonnenstände und Schattenwürfe): Ego autem in Gallia Belgica in loco qui Totonis villa dicitur constitutus, status mei umbram metiens, decem et novem et semis pedes inveni. Sowie ebd. II,13, S. 95 (Poitiers; Paulus verfaßte auf Bitten des Abtes Aper von St. Hilarius ein Epitaph auf den dort bestatteten Fortunatus): Ad cuius [Fortunatus] ego tumulum, cum illuc orationis gratia adventassem, hoc epitaphium, rogatus ab Apro, eiusdem loci abbate, scribendum contexui. Vgl. oben Anm. 66. Vgl. PATZOLD (wie Anm. 67), S. 115f. mit Anm. 80, der unter Bezugnahme auf Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 261, Z. 30ff., darauf hinweist, daß Paulus „sich selbst offenbar nicht zu denjenigen zählte, ,die diesen Ort [sc. das Amphitheater von Metz] kennen‘“. Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 22; GOFFART (wie Anm. 20), S. 66; KEMPF (wie Anm. 21), S. 284 u. passim. Vgl. auch oben Anm. 67. Vgl. PATZOLD (wie Anm. 67), S. 115 mit Anm. 76.
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rer Bischofsgesten – sicher nicht, denn es war kaum die Geschichte seiner Diözese, die „der landfremde Langobarde“82 im ‚Liber de epsicopis Mettensibus‘ schrieb.83 Entsprechend ist zunächst ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Paulus’ persönlicher Sichtweise und der von ihm zu propagierenden Identität des austrischen Bistums anzunehmen. Welcher der beiden Pole wie sehr Einfluß auf die Vergangenheitswahrnehmung hatte, die das Werk offenbart, und welche Wechselwirkungen sich daraus für die Darstellung ergaben, soll im Folgenden gezeigt werden. Zunächst ist für den ‚Liber‘ die Gesta-typische chronologische Grundstruktur festzuhalten, welche sich schon durch das Aneinanderreihen der einzelnen Pontifikate gleichsam natürlich ergibt und das – wohl später entstandene – von Pertz in der MGH-Edition mitabgedruckte Incipit rechtfertigt, das von numero sive ordine der Bischöfe spricht, die „in Metz aufeinander gefolgt“ seien.84 Die strenge zeitliche Reihenfolge der Metzer Bischofsgeschichte korreliert dabei sowohl mit ihrem römischen Vorbild als auch mit dem frühmittelalterlichen, teleologischen Geschichtsbild im weiteren Sinne, das die Geschichte stets als auf den Jüngsten Tag gerichtetes opus restaurationis verstand und in der Historiographie häufig eine entsprechend chronologisch-lineare Darstellungsweise bevorzugte.85 Auch Paulus Diaconus selbst hat später in seiner Langobardengeschichte auf diesen ordo der Geschichte hingewiesen.86 Gerade für die Struktur der Werke des Genres der Institutionengeschichtsschreibung ist in der Forschung zudem auf den paradigmatischen Vorbildcharakter der spätantiken Werke des Eusebius hingewiesen worden, die in ihrer Mischung aus Chronographie und Historie wohl auch in der Metzer Bistumsgeschichte ihren Niederschlag gefunden haben dürften.87 Eine zeitliche Präzisierung der im ‚Liber‘ geschilderten gesta erfolgt allerdings nicht, denn Paulus’ Aneinanderreihung der Pontifikate läßt – ganz wie der ‚Liber Pontificalis‘ – eine Datierung nach Inkarnationsjahren, ja überhaupt jeglichen Versuch einer genaueren Datierung vermissen.88 82 Kurt-Ulrich JÄSCHKE, Zu Metzer Geschichtsquellen der Karolingerzeit, in: RhVjbll. 33, 1969, S. 1-13, hier S. 13. 83 So bereits SESTAN (wie Anm. 27), S. 367: „Paolo Diacono, non nativo di Metz, non sentimentalmente legato a quella diocesi transalpina e ai suoi santi, presta al sentimento di quei diocesani le sue virtù di letterato.“ Ebenso erst jüngst KEMPF (wie Anm. 21), S. 280: „That Paul should have been sufficiently interested in the bishopric of Metz to write its early history can only be explained by virtue of its association with Angilramn, since he has no other known connections with the Lorraine city.“ 84 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 261: Incipit libellus de numero sive ordine episcoporum qui sibi ab ipso praedicationis exordio in Mettensi civitate successerunt. 85 Vgl. GOETZ (wie Anm. 16), S. 66 (ND., S. 456). 86 Vgl. Paulus Diaconus, Historia Langobardorum IV,37 (wie Anm. 30), S. 164. Dazu auch Hans-Werner GOETZ, Die „Geschichte“ im Wissenschaftssystem des Mittelalters, in: SCHMALE (wie Anm. 2), S. 165-213, hier S. 185, Anm. 96. 87 Zum Vorbildcharakter Eusebs für die mittelalterlichen Bischofsgesten vgl. KAISER (wie Anm. 18), S. 463ff.; SOT (wie Anm. 17), S. 90f. 88 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 284, ferner SCHMALE (wie Anm. 2), S. 80, Anm. 38.
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Auch fehlt die gleichmäßige, schematische Einteilung des Werkes nach einzelnen Pontifikaten, die sich in späteren Bischofsgesten findet. Statt dessen konzentriert sich der langobardische Historiograph (notgedrungen?) auf die ausführliche Behandlung der oben genannten vier Pontifikate.89 In der Regel sind nicht einmal die Sedenzzeiten der einzelnen Prälaten angegeben. Angesichts der offensichtlichen Probleme, über die meisten Bischöfe überhaupt Näheres in Erfahrung zu bringen, wundert dies nicht, zeigt aber auch, daß für die intendierten Zwecke eine exakte Datierung irrelevant war bzw. dem Verfasser nicht relevant erschien. Ebenso wie die temporale Struktur des Werkes ist auch der vom Verfasser darstellerisch umgesetzte Versuch, die Gründung einer Institution in möglichst ferne Zeiten zurückzudatieren, keineswegs eine singuläre Besonderheit des ‚Liber‘. Vielmehr teilt das Werk die Berufung auf Rom und einen Apostel mit den späteren Gesten zahlreicher gallisch-fränkischer Bistümer,90 wobei der Ursprung des ‚Trends‘ allerdings nicht mehr auszumachen ist.91 Auf die von Paulus vorgenommene Verankerung der Anfänge des Metzer Bistums in apostolischurchristlicher Zeit, die dessen Gründung dem angeblichen Petrusschüler Clemens zuschrieb und so gleichsam die Anfänge der Christenheit und der (westlichen) Kirche überhaupt für die Diözese vereinnahmte, sowie auf die legitimierende Funktion dieser Konstruktion ist zur Genüge hingewiesen worden.92 Es soll hier daher ausreichen anzumerken, daß im Zuge dieses Gründungsmythos, der sich mit der Himmelfahrt Christi und der folgenden Ausbreitung der Kirche zunächst auf nach zeitgenössischem Verständnis fundamentalste historische Fakten berief,93 auch eine erste deutliche Abgrenzung der eigenen zeitlichen Position gegenüber den Berichtsinhalten erfolgt. Die Ereignisse um den Apostel Petrus, die letztlich zur Aussendung des heiligen Clemens nach Metz geführt haben sollen, werden nicht einfach nur als Handlungsstrang erzählt, sondern es wird einer zum Abfassungszeitpunkt komplett veränderten weltpolitischen Lage Rechnung getragen, wenn der ‚Liber‘ erwähnt, daß Rom totius tunc mundi caput
89 Vgl. oben S. 213 mit Anm. 47. 90 Vgl. Hans-Werner GOETZ, Vergangenheitswahrnehmung, Vergangenheitsgebrauch und Geschichtssymbolismus in der Geschichtsschreibung der Karolingerzeit, in: Ideologie e pratiche del reimpiego nell’alto medioevo (Settimane di Studio XLVI), Spoleto 1999, S. 177-225, hier S. 194f. (ND. in: DERS. [wie Anm. 6], S. 497-522, hier S. 505f.). Ferner Rosamond MCKITTERICK, Perceptions of the Past in the Early Middle Ages (The Conway Lectures in Medieval Studies), Notre Dame 2006, S. 38. 91 Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 25-30. 92 Vgl. ebd., S. 23f. Zum Rombezug ferner Michel SOT, La Rome antique dans l’hagiographie épiscopale en Gaule, in: Roma antica nel Medioevo. Mito, rappresentazioni, sopravvivenze nella ‚Respublica Christiana‘ dei secoli IX-XIII (Storia Ricerche), Mailand 2001, S. 163-188, hier S. 178f., der den Hinweis auf die antike ‚Welthauptstadt‘ eher als Mittel zum Bezug auf Petrus und Christus sieht. 93 So richtig GOFFART (wie Anm. 20), S. 69f.
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gewesen sei.94 Die durch das tunc ausgedrückte Vergangenheitszuschreibung, die sich nur wenige Zeilen später im Rahmen der Schilderung der Aussendung der Petrusschüler in die ihnen zugedachten (neben Metz ausschließlich italienischen!)95 Metropolen und Bistümer wiederholt,96 intendiert dabei nicht nur, das Berichtete möglichst altehrwürdig – und mithin ‚richtig‘ – erscheinen zu lassen.97 (Hierfür hätte allein der Hinweis auf den Apostel genügt.) Es geht Paulus auch und vor allem darum, die Ausbildung einer autoritativen kirchlichhierarchischen Ordnung, wie sie im Römischen Reich (in seiner alten Form) erfolgt war, als endgültig abgeschlossen darzustellen. Gleiches gilt für die wenig später folgende, „von alters her tradierte“ (sicut antiqua tradit relatio) Aussage des langobardischen Historiographen, in welcher er Metz als die „damals“ meistbevölkerte Stadt der Gallia Belgica schildert, was der Grund gewesen sei, warum Petrus seinen Schüler dorthin ausgesandt habe.98 Dieser Hinweis, der kaum verdeckt einen gleichsam natürlichen Primatsanspruch der ursprünglich größten civitas impliziert, ist angesichts des vorigen Arguments ebenso folgerichtig wie zwingend notwendig, lagen doch die Wurzeln von Trier und anderen Städten auch in römischer Zeit. Geschickt gelingt es Paulus Diaconus hier, die Aussagen über die antiken Verhältnisse mit den kirchenpolitischen Zielen seines Werkes zu verbinden.99 Denn der Charakter des abgeschlossenen, autoritativen Alten, der hier der Stellung von Metz als nachgerade apostolischem, kirchlichem Vorort beigegeben wird, verbietet implizit jede neue und spätere Diskussion bzw. Veränderung der lokalen kirchlichen Hierarchien, wie sie offenbar Ende des 8. Jahrhunderts im Zuge der sogenannten Metropolitanverfassung – zugunsten von Trier und Reims, den eigentlich traditionellen Metropolen – virulent war.100 Durch die literarische Generierung eines abgeschlossenen Vergangenheitszeitraumes, der die Gründung des Metzer Bistums u.a. mit derjenigen der Patri94 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 261, Z. 6ff.: Petrus [...] ad eam quae totius tunc mundi caput erat, hoc est urbem Romuleam, tota alacritate contendit [...]. 95 Es ist bezeichnend, daß Paulus trotz anderer ihm bekannter Überlieferungen zur Missionierung der gallischen Metropolen, wie etwa die Gregors von Tours, außer Metz nur italienische Metropolen bzw. Bistümer als Ziele der Petrusschüler nennt. Vgl. auch POENSGEN (wie Anm. 21), S. 26f. 96 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 261, Z. 11f.: Tunc denique Apollinarem Ravennam, Leucium Brundisium, Anatolium Mediolanum misit. 97 Zum autoritativen Stellenwert möglichst alter Herkunft in mittelalterlicher Historiographie vgl. GOETZ (wie Anm. 16), S. 68ff. (ND., S. 458ff.). 98 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 261, Z. 15-18: Ea igitur tempestate cum apud Galliam Belgicam Mediomatricum, quae etiam Mettis appellatur, civitas in ipsa Mosellae amnis ripa posita, copiosis populorum turbis abundaret, ad eandem beatus Petrus apostolus urbem Clementem nomine [...] sublimatum pontificali dignitati direxit [...]. 99 Vgl. hierzu u. im Folgenden: KEMPF (wie Anm. 21), S. 292, der sich zu Recht dezidiert gegen die von GOFFART (wie Anm. 20), S. 70, geäußerte Ansicht ausspricht, daß Metz durch diese Konstellation nicht aufgewertet werden solle. 100 Und in diesem Sinne gehen Paulus’ Ausführungen – anders als GOFFART, ebd. meinte – durchaus zu Lasten anderer Bischofssitze.
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archate von Alexandria, Rom und Antiochia in einen direkten zeitlichen und personalen Zusammenhang stellt,101 wird dem karolingischen Vorort einer der prominentesten Plätze bei der Grundlegung der gesamten Kirche zugewiesen. (Die tatsächliche Bistumsgründung hat bereits Duchesne erst um das Jahr 300 angenommen.)102 Somit kommt gleich zu Beginn des ‚Liber‘ auch im Bereich der Vergangenheitswahrnehmung der legitimatorische Grundtenor des Werkes zum Tragen: Die Geschichte hat Metz zur Metropole bestimmt – und daran ist nicht mehr zu rütteln.103 Zugleich werden subtil die aktuellen europäischen Machtverhältnisse durch den Verweis auf Roms „ehemalige“ Stellung als „Welthauptstadt“ angedeutet. Dies geschieht wohl nicht zuletzt angesichts des höfischen Adressatenkreises, der sich nach der Eroberung des Langobardenreiches durchaus zu Recht auf Augenhöhe mit Byzanz sehen mochte und sich eineinhalb Dekaden später anschickte, diesem Anspruch mit der Annahme des Kaisertitels durch Karl den Großen auch förmlich Ausdruck zu verleihen. Inwiefern hier auch die vieldiskutierte persönliche Stellung des Langobarden Paulus zur fränkischen Vorherrschaft Einfluß auf die Darstellung hatte, mag dahingestellt bleiben.104 Fest steht aber, daß die Abgrenzung einer maßgeblichen urchristlichen ‚Gründerzeit‘ mit seinen individuellen Vorstellungen von der Kirchengeschichte nicht im Konflikt gestanden haben dürfte.105 Über die Tätigkeit des hl. Clemens in Metz berichtet Paulus im Anschluß nur kurz. Allerdings ist auch hier eine temporale Besonderheit zu beobachten. Während die Tätigkeit des Missionars insgesamt in gleichzeitig betrachtender Weise, also ohne zeitliche Differenzierung im Zeithorizont des jeweiligen Inhalts erzählt wird, schließt das Clemens-Kapitel des ‚Liber‘ mit der Bemerkung, daß usque in praesentem diem Clemens’ erstes Lager, das (nunmehr ehemalige) Amphitheater der Stadt, unde olim verae salutis emanarunt insignia, frei von Schlangen und Krankheiten sei.106 Im Gegensatz zu den vorherigen zeitlichen Abgrenzungen wird hier die Vergangenheit durch das olim zwar deutlich von der Gegenwart des Verfassers abgegrenzt, jedoch nicht als abgeschlossenes Kapitel dargestellt. Vielmehr wird die anhaltende Gültigkeit bzw. Wirksamkeit bis auf den Abfassungszeitpunkt durch dessen explizite Erwähnung betont. Dabei ist 101 Vgl. ebd. Petrus hatte Paulus zufolge den alexandrinischen Patriarchat errichtet, noch ehe er nach Rom kam. Seinen Schüler Marcus soll er nach Alexandria geschickt haben. 102 Vgl. DUCHESNE, Fastes épiscopaux (wie Anm. 49), S. 54. Zur Diskussion um die erste christliche Gemeinde in Metz und den Pontifikat des Clemens vgl. HERRMANN (wie Anm. 44), S. 149-153. 103 So auch GOFFART (wie Anm. 27), S. 375, der hierin die zentrale Aussage des ClemensKapitels sieht. 104 Vgl. unten Anm. 179. 105 Vgl. Michael W. HERREN, Theological Aspects of the Writings of Paul the Deacon, in: Paolo Diacono (wie Anm. 20), S. 223-235, hier S. 226f., der aufzeigt, wie Paulus die Schilderung der Gründung von Metz nutzte, um den römischen Primat in der Kirche zu postulieren. 106 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 261, Z. 31ff.
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die Behauptung wundertätiger Persistenz nicht nur topischer Natur, sondern dient dem gleichen Zweck wie die oben beschriebenen temporalen Differenzierungen. Die Wirkmächtigkeit des Heiligen soll analog zu den ebenso lange bestehenden Metropol-Ansprüchen seiner Bischofsstadt verstanden werden, die gleichsam „einst“ wie „am heutigen Tag“ gültig sind. Nach einer Reihe recht einsilbiger Nennungen der unmittelbaren Nachfolger des hl. Clemens legt Paulus den nächsten Schwerpunkt des ‚Liber‘ auf die Darstellung des 13. Bischofs Auctor, während dessen Pontifikats Metz von den Hunnen geplündert worden sein soll. Ein Ereignis, das Paulus, der sich mit den Hunnenstürmen – gestützt auf die ‚Getica‘ des Jordanes – bereits ähnlich in seiner ‚Historia Romana‘ beschäftigt hatte, in relativer Breite schildert.107 Betrachtet man seinen Bericht genauer, so fällt auf, daß die Epoche der Hunnenstürme für ihn einen vergangenen Zeitraum eigener Qualität dargestellt haben muß, der sich eben durch die Einfälle plündernder Horden in das ehemalige Weströmische Reich definierte. Schon der erste Satz des Auctor-Kapitels erscheint in diesem Zusammenhang programmatisch, wenn der Bischof sein Amt antritt ea tempestate, quando non solum Gallia sed universus pene occidens barbarorum saevientium est perpessus saevitiam.108 Auch in den folgenden Ausführungen, in denen Paulus – Gregor von Tours,109 Fredegar und möglicherweise weitere Quellen ausschreibend bzw. zitierend110 – von zwei seinerzeit noch bekannten Wundern Auctors berichtet, setzt sich die eindeutige zeitliche Qualifizierung als Vergangenheit fort: so wenn in großer syntaktischer Nähe die militärischen Erfolge Attilas mit der Phrase eo igitur tempore eingeleitet werden, und kurz darauf in der Schilderung einer Vision des heiligen Servatius zur bevorstehenden Zerstörung von Metz zeitliche Bestimmungen wie tunc und ipso tempore verwendet werden, die für den Inhalt der Erzählung keineswegs zwingend erforderlich sind.111 Zu Recht hat daher Walter Goffart – in Parallele zur ‚Historia Romana‘ – diesbezüglich erkannt: „Barbarian invaders draw a line of demarcation between one epoch and the next.“112 Die ‚weltpolitische‘ Rahmensituation sowie die Ankündigung drohenden Unheils für Metz werden also als Vergangenheit bzw. als vergangen wahrgenommen. Die unmittelbare Schilderung der Einnahme und Zerstörung von Metz hingegen, das – Paulus zufolge – zunächst den Belagerern 107 Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 31 mit Anm. 4, die dort auch die wichtigsten Überschneidungen von ‚Historia Romana‘ und ‚Liber‘ aufzeigt. Vgl. Paulus Diaconus, Historia Romana, ed. Hans DROYSEN (MGH SS rer. Germ. [49]), Berlin 1879 (ND. München 1978). 108 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 262, Z. 24f. 109 Zur Übernahme und Vermischung zweier Geschichten Gregors von Tours durch Paulus vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 294. 110 Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 262f.; POENSGEN (wie Anm. 21), S. 32-41. 111 Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 262, Z. 34 u. Z. 42. 112 GOFFART (wie Anm. 27), S. 377.
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standhielt, dessen Mauern dann aber durch göttliche Intervention einstürzten und von dessen Gebäuden – ebenfalls durch himmlisches Eingreifen – einzig und wohl kaum zufällig die spätere Bischofskirche(!), das Stephansoratorium, verschont blieb, erfolgt im gleichzeitig erzählenden Ton, ohne auf die Gegenwart des Verfassers Bezug zu nehmen oder von dieser abgegrenzt zu werden. Gleiches gilt für die anschließende Gefangennahme Auctors, der allerdings durch Gottes Eingreifen nicht nur für sich, sondern auch für die übrigen Gefangenen die Freilassung durch die zuvor von einem Strafwunder geschlagenen Hunnen erreichen konnte. Für diese temporale Perspektive mögen zum einen die offensichtlichen Vorlagen der Geschichte, u.a. die biblischen Schilderungen zum Untergang Gomorrhas113 (oder – nach Goffart – der Sintflut)114 und Paulus’ eigener Bericht über die Belagerung Aquileias in der ‚Historia Romana‘,115 verantwortlich zeichnen. Zum anderen aber sind die Schilderungen auf den ersten Blick wegen ihres eher negativen Inhaltes nicht besonders gut geeignet, für die Gegenwart als Folie einer behaupteten Vormachtstellung zu fungieren. Denn in der Erzählung wird Metz aufgrund der Sünden seiner Einwohner zum Opfer der Hunnen, und auch Auctor wird mehr durch ein Wunder befreit, als daß er dieses bewirken würde. Doch müssen diese Episoden aus einer anderen, die ecclesia – als Auftraggeberin des Werkes – und nicht die civitas in den Mittelpunkt stellenden Perspektive gesehen werden, um sie zu verstehen.116 Denn Paulus stellt ein himmlisches Strafgericht dar, welches nur die Metzer Kirche übersteht.117 Die Darstellungsabsicht des ‚Liber‘ zwang hier also nicht zur Herstellung zeitlicher Abgrenzungen, sondern eher zur Propagierung der Kontinuität dessen, was an Metz als einziges schon immer gut und daher selbst vor größtem göttlichen Zorn gefeit war: der Kirche.118 Ferner ist auch keine persönliche Betroffenheit des Paulus zu erkennen. Gerade angesichts seines offensichtlichen ‚Recyclings‘ bereits in anderen Werken verwendeter Versatzstücke steht zu vermuten,119 daß der langobardische Mönch vielmehr – selbst emotional von seinem Berichtsgegenstand distanziert – für das Auctor-Kapitel auf nicht mehr näher erkennbare lokale Erzähltraditionen zurückgriff, die er wegen ihrer allgemeinen Bekanntheit sowie der für sein Werk offensichtlich schlechten Quellenlage kaum verschweigen konnte. (Die Hunnenstürme dürften in ihrer traumati113 Gen. 19. 114 Vgl. GOFFART (wie Anm. 27), S. 375f.; Gen. 7f. 115 Paulus Diaconus, Historia Romana XIIII,9ff. (wie Anm. 107), S. 113f. 116 Bereits GOFFART (wie Anm. 20), S. 72f., hat darauf aufmerksam gemacht, daß der ‚Liber‘ keineswegs eine stetige Erfolgsgeschichte erzählt, sondern gerade im Hunnensturm eine Zäsur erfährt, welche die Metzer Kirche und schließlich ihre rezente Reform durch Bischof Chrodegang in den Mittelpunkt rückt. 117 Vgl. GOFFART (wie Anm. 27), S. 375f. 118 KEMPF (wie Anm. 21), S. 294f., sieht im Auctor-Kapitel zudem eine erneute Betonung der engen Beziehung zwischen Metz und Rom. 119 Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 33ff.
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sierenden Wirkung kaum zu überschätzen sein. Daß ihre katastrophalen Folgen zumindest legendenhaft auch im 8. Jahrhundert noch bekannt waren, darf vorausgesetzt werden.) Für diese These spricht nicht zuletzt auch die Tatsache, daß Paulus’ Datierung von Auctors Pontifikat in die Zeit der Hunneneinfälle im Gegensatz zu vielen anderen Punkten des ‚Liber‘ durchaus realistisch erscheint.120 Erst das zweite von Paulus berichtete Wunder Auctors, die bereits weiter oben beschriebene Episode einer ehemals geborstenen Altarplatte, welche durch Auctors Wirken beinahe wieder ganz wurde,121 wartet erneut mit temporalen Abgrenzungen auf. Wie erwähnt, ist Paulus’ Behauptung, man könne die betreffende Altarplatte usque in praesentem diem „bewundern“, teilweise wohl in der Topik mittelalterlicher Mirakelberichte begründet, die auf diese Weise Glaubwürdigkeit zu erreichen hofften. Allerdings wird auch hier durch den Hinweis auf die anhaltende Wirkung in der Vergangenheit bewirkter Taten deren Gültigkeit für die Gegenwart herausgestellt. Im Gegensatz zur Freilassung Auctors durch die Hunnen tritt der Bischof in diesem Fall zudem auch als aktiv Wundertätiger in Erscheinung, so daß für die Ansprüche von Metz auf den Metropolstatus aus dieser Episode durchaus Kapital geschlagen werden konnte. Auch wenn die Herkunft der Anekdote angesichts des Vorhandenseins einer ‚Kontaktreliquie‘ gewiß erneut in lokalen Traditionen zu sehen ist, spricht viel für die Annahme einer entsprechenden Intention. Nicht ohne Grund fügt sich das Bild vom geborstenen Marmor, der wieder „solide“ geworden war und bis in die Tage Karls des Großen den alten Zustand erhielt, ideal zur Vorstellung einer Metropole, die nach der Zerstörung durch die Hunnen aufgrund göttlicher Intervention (spätestens mit Bischof Chrodegang) wieder dauerhaft zu alter Stärke und Würde zurückgefunden hatte.122 Auf das Auctor-Kapitel folgt erneut eine denkbar knappe Aufzählung weiterer Bischöfe, über die lediglich bei zwei Personen mehr als der Name berichtet wird, nämlich – kaum zufällig – deren Abstammung vom Frankenkönig Chlodwig,123 in dessen Tradition Karl der Große seine eigene Dynastie durch die Adaption merowingischer Namen für seine (allerdings jüngeren) Söhne erst kürzlich gestellt hatte.124 Durch diesen Kunstgriff gelingt es Paulus auch dort, wo ihm eine breitere Quellengrundlage fehlt, mit geringem Aufwand eine äußerst prominente, in der Herrschaftstradition des Frankenreiches verankerte Schnittmenge von Metzer Bistum und fränkischem Königtum zu suggerieren. Im ‚Liber‘ sind also keineswegs, wie behauptet worden ist, alle Spuren merowingischer 120 Vgl. ebd., S. 38. 121 Vgl. hierzu u. im Folgenden oben Anm. 1 u. 66. 122 Zur wiedererlangten Würde vgl. auch GOFFART (wie Anm. 20), S. 72f. 123 Bischof Agiulf und sein nepos und Nachfolger Arnoald. Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 264, Z. 6-9. 124 Ludwig der Fromme (Chlodwig) *778 und Lothar (Chlotar), der 779/80 als Kleinkind verstarb. Vgl. Thomas ZOTZ, Art. Karolinger, in: LMA 5, Sp. 1008-1014, hier Sp. 1010; GANDINO (wie Anm. 33), S. 80 mit den Anm. Vgl. zur (vornehmlich späteren) Berufung der Karolinger auch auf die Merowinger ferner OEXLE (wie Anm. 38), S. 270f.
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Herrschaft zugunsten karolingischer Legitimierung getilgt.125 Sie sind lediglich im Hinblick auf seine Ziele auf jene Passagen reduziert, in denen sie für eine Identifikation des Herrschers mit der Metzer Kirche gewinnbringend eingesetzt werden konnten. Hätte hingegen eine generelle dynastische Legitimierungsabsicht einer (positiv konnotierten) Nennung der Merowinger entgegengestanden, wie es von anderen Quellen durchaus belegt ist,126 so wäre ein Auslassen des Verweises auf Chlodwig im Rahmen einer bloßen Auflistung von Bischofsnamen für Paulus wohl ein Leichtes gewesen. Der anschließende ausführliche Bericht, der den größten Teil des ‚Liber‘ einnimmt, behandelt das Leben des karolingischen Spitzenahns Arnulf. Die Absicht, die Nähe der Metzer civitas und Kirche zur regierenden Dynastie besonders herauszustellen, welche Paulus mit der Beschreibung des königlichen Vorfahren vor allem verfolgte, ist so offensichtlich und so häufig behandelt worden, daß sie hier nicht näher erläutert werden muß.127 Paulus beginnt seine Ausführungen mit einem Verweis auf die Vita Arnulfs, welche für eine ausführliche Lebensbeschreibung heranzuziehen sei, und erklärt, angesichts ihres Vorhandenseins lediglich besonders denkwürdige bzw. dort nicht erwähnte Begebenheiten zu berichten.128 Dieser Hinweis auf die gegenwärtige Existenz einer Lebensbeschreibung des heiligen Arnulf, mithin auf den Abfassungszeitpunkt des ‚Liber‘, bewirkt natürlich einen Bruch in der sonst chronologisch vorgehenden Erzählung, der deutlich werden läßt, daß das Geschilderte der Vergangenheit angehört. Doch scheint die Differenzierung in diesem Fall tatsächlich der Apologie für die Kürze der Darstellung geschuldet zu sein. Im Hinblick auf die Vergangenheitswahrnehmung bietet der Bericht sonst nur wenig Spektakuläres. Zu sehr ist der Inhalt kompositorisch chronologisch durchstrukturiert. Weitere zeitliche Brüche sind zunächst nicht zu erkennen. Lediglich dort, wo eine noch fernere Vergangenheit als das eigentlich Berichtete in den Blick gerät, wird eine explizite temporale Differenzierung notwendig. So wenn in Analogie zur ‚Ringgeschichte‘ Arnulfs, der einen in die Mosel ge125 Vgl. Rosamond MCKITTERICK, History and Memory in the Carolingian World, Cambridge 2004, S. 60-83, hier S. 76f.: „Paul omitted all reference to the Merovingian kings and church. His text, as Goffart has argued, serves to reinforce the legitimacy of the Carolingians’ succession and claim to rule.“ Exakt dieselbe These noch einmal ebd., S. 124. Ähnlich bereits Goffart (wie Anm. 20), S. 86, der sich allerdings offenbar (und damit korrekt) nur auf die unmittelbare Aufzählung der Söhne Karls des Großen durch Paulus (Liber de episcopis Mettensibus [wie Anm. 1], S. 265, Z. 22-28) bezieht. 126 Vgl. MCKITTERICK (wie Anm. 125), S. 123-126; Janet L. NELSON, The Merovingian Church in Carolingian Perspective, in: The World of Gregory of Tours, hg. v. Kathleen MITCHELL u. Ian WOOD (Cultures, Beliefs and Traditions 8), Leiden u.a. 2002, S. 241259; OEXLE (wie Anm. 38), S. 270f. 127 Vgl. exemplarisch SOT (wie Anm. 55), S. 440f., sowie nicht zuletzt die Betonung der Abstammung Karls des Großen von Arnulf und der von ihm selbst über diesen berichteten Anekdote in Analogie zum biblischen Gideon (unten S. 228 mit Anm. 132). 128 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 264, Z. 13ff.
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worfenen Ring als Zeichen der Vergebung seiner Sünden später in einem ihm als Speise gereichten Fisch wiederfand,129 das biblische Vorbild Gideons bemüht wird,130 der olim [...] signum a domino poposcit.131 Der Rückgriff auf die Heilige Schrift erfolgt dabei, ganz im Sinne der bekannten mittelalterlichen Vorstellungen zu ihrer Autorität, zweifelsohne zur besonderen Aufwertung und Würdigung des Metzer Prälaten, wobei Arnulf sogar als Gideon überlegen dargestellt, mithin das vergangene Vorbild von der Gegenwart der Erzählung übertroffen wird.132 Dabei kann das Wiederauffinden des Ringes durch Arnulf auch als eine Art göttlicher Investitur gedeutet werden.133 Zugleich bietet diese Stelle einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart des Verfassers selbst, der zudem zeitlich näher definiert wird, wenn Paulus anmerkt, daß nicht irgendwer ihm diese Anekdote nahegebracht habe, sondern ipse totius veritatis assertor, praecelsus rex Karolus [...]; qui de eiusdem beati Arnulfi descendens prosapia, ei in generationis linea trinepos extabat.134 Die unterliegende Absicht ist offensichtlich: Karl der Große, der primäre Adressat des ‚Liber‘, wird zum Kronzeugen der Erzählung gemacht, ja nachgerade selbst zum ‚Geschichtsberichterstatter‘ stilisiert, der aus der Perspektive des Beobachters als gegenwärtiger Zeuge den Inhalten eine über jeden Zweifel erhabene Autorität verleiht. Auf diese Weise wird nicht nur die Glaubwürdigkeit der Geschichte erhöht, sondern der König zugleich auf die Anliegen der Metzer Bistumsgeschichte verpflichtet. Ähnlich verhält es sich bei jenem Rückblick auf die angeblich trojanische Herkunft der Franken, sicut a veteribus est traditum,135 die Paulus über den Namen des jüngeren Arnulfsohnes Anschisus, den dieser nach dem Vater des Aeneas erhalten habe, qui a Troia in Italiam olim venerat,136 implizit auf die karolingische Familie ausweitet.137 Diese „Ansippung“ war eine im mittelalterlichen Verständnis nicht unübliche Verfahrensweise, die nach Hans-Werner Goetz „das lebendige Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart zum Ausdruck“ brachte 129 Vgl. ebd., Z. 15-28. 130 Vgl. Idc 6,36-40. 131 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 264, Z. 29. 132 Arnulf sei Gideon darin gleich, von Gott ein Zeichen des Sieges über seine Feinde erbeten zu haben. Allerdings seien die Feinde Arnulfs die stärkeren gewesen. Vgl. ebd. Der Vergleich mit Gideon ist zudem gerade im Hinblick auf dessen Wertung im Neuen Testament interessant, werden ihm doch hier Qualitäten zugeschrieben, die Paulus wohl auch mit den Karolingern verbunden wissen wollte. Vgl. Hbr. 11,32ff.: Et quid adhuc dicam deficiet enim me tempus enarrantem de Gedeon Barac Samson Iepthae David et Samuhel et prophetis qui per fidem devicerunt regna operati sunt iustitiam adepti sunt repromissiones obtuaverant ora leonum extinxerunt impetum ignis effugerunt aciem gladii convaluerunt de infirmitate fortes facti sunt in bello castra verterunt exterorum. 133 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 286. 134 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 264, Z. 34ff. 135 Ebd., Z. 39f. 136 Ebd. Zum Italienbezug vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 46ff. 137 Vgl. dazu ebd., S. 47f.; zur Umdeutung des Namens auch REIMITZ (wie Anm. 42), S. 207f.
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und nicht als Vergleich, sondern durchaus als qualitative „Personifikation historischer Gestalten“ verstanden wurde.138 Entsprechend hat Aline Poensgen zu Recht darauf hingewiesen, daß der seinem Bruder Chlodulf in allen Belangen überlegene Anschisus, als unmittelbarer Vorfahre der karolingischen Könige, hier deutlich in den Vordergrund gerückt wird, obwohl es Chlodulf war, der schließlich Bischof von Metz wurde.139 Und Walter Goffart hat für diesen Umstand sogar das biblische Vorbild Jakobs und seiner Söhne verantwortlich gemacht,140 eine These, die angesichts des Troja-Kontextes nicht zwingend erscheint,141 aber (wenn ein solcher Zusammenhang vom mittelalterlichen Adressaten mitgedacht wurde) doch den Reiz einer doppelten – heidnischen wie biblischen – Auserwähltheitslegitimation der karolingischen Sippe birgt. Es ist daher offensichtlich, daß gerade an dieser Stelle das Interesse, die Geschichte des Bistums darzustellen, besonders massiv mit dem Versuch verbunden wurde, die karolingische Dynastie in den Rahmen traditioneller Herkunftssagen einzubeziehen, die eine autoritative historische Herrschaftslegitimation – diesmal unter absichtlicher Umgehung der Merowinger142 – verhießen und gleichsam einen neuen Stammbaum des Herrscherhauses nahelegten.143 Deutlich ist auch hier die Qualifizierung der geschilderten Sachverhalte als vergangen der Darstellungsabsicht des Werkes geschuldet, denn naturgemäß ließ sich gerade im Rahmen der Schilderung des karolingischen Spitzenahns eine Interessenidentität von fränkischem Bistum und karolingischem Herrscherhaus besonders deutlich suggerieren. Die trojanische Vergangenheit, die die Karolinger für sich in Anspruch nahmen, die Ansippung, so das Argument, lag – wie der gesamte Aufstieg der Dynastie – in Metz begründet. Ein persönliches Motiv des langobardischen Verfassers hingegen scheint als Ursache dieser Konstruktion eher un-
138 Vgl. GOETZ (wie Anm. 90), S. 219 (ND. S. 519). 139 POENSGEN (wie Anm. 21), S. 55f. Vgl. auch KEMPF (wie Anm. 21), S. 287f. 140 Vgl. GOFFART (wie Anm. 20), S. 69 u. S. 74-87; DERS. (wie Anm. 27), S. 375. Ferner oben Anm. 89. 141 Vgl. auch PATZOLD (wie Anm. 67), S. 116, Anm. 81. 142 An dieser Stelle, die unmittelbar Bezug auf die zur gleichen Zeit massiv propagierte ‚offizielle‘ Sicht der karolingischen Abstammung und Legitimation nimmt, wäre eine Nennung der Merowinger zweifelsohne kontraproduktiv gewesen. Vgl. oben S. 226f. mit Anm. 123-126. 143 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 287f.; ähnlich bereits REIMITZ (wie Anm. 42), S. 208. SOT (wie Anm. 55), S. 440f., hat zudem auf den Umstand der zusätzlichen Legitimation der Karolinger durch die Vereinigung von Bischofslinie und Herrscherhaus in der Person Arnulfs hingewiesen: „La sainteté du pseudo-lignage épiscopal a été transmise au lignage carolingien : elle contribue à légitimer son ascension à la royauté, et son sacre.“ (ebd., S. 440). Auch hierfür könnte allerdings das Kalkül, das Herrscherhaus an die Diözese zu binden, ausschlaggebendes Motiv gewesen sein.
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wahrscheinlich, auch wenn erneut auf (das antike) Italien angespielt wird.144 Doch gerade Paulus’ häufig mit Verwunderung aufgenommene, angeblich einer ‚nationalen Selbstleugnung‘ nahe kommende Darstellung der Langobarden im Verhältnis zu den siegreichen Franken bestätigt, wie sehr der ‚Liber‘ ein Auftragswerk war und wie sehr der Verfasser – der wohlgemerkt ohnehin als Bittsteller am Hofe weilte!145 – seine persönlichen Ansichten zurückzustellen willens und in der Lage war.146 Besonders deutlich wird dies wenig später im Zuge des vom ‚Liber‘ gebotenen kurzen Aufrisses des Aufstiegs der Nachkommen Arnulfs bis zu Karl dem Großen mitsamt ihren (militärischen) Großtaten, der durchaus die offizielle Sichtweise des Hofes widerspiegeln könnte, ohne daß deren Propagierung das oberste Ziel war, und kaum andere Ziele verfolgt haben dürfte, als der karolingischen Dynastie zu schmeicheln. Dort heißt es anläßlich der Ausführungen zum Sieg Karls des Großen über die Langobarden, also Paulus’ eigenes ‚Volk‘, zur Situation Roms, quae aliquando mundi totius domina fuerat, et tunc a Langobardis depressa gemebat, daß der fränkische König die Stadt und ganz Italien – als rechtmäßiger Herrscher, so wird impliziert – von der Bedrängung durch die Langobarden befreit habe.147 Erneut wird, wie bereits zu Beginn des ‚Liber‘, in einem weiten Rückgriff in die Vergangenheit (aliquando) die antike Weltherrschaft Roms bemüht, in diesem Fall jedoch nicht, um die Stadt Metz hervorzuheben, sondern um die fränkische, durch trojanische Herkunft legitimierte Hegemonie nebst dem sie verkörpernden Monarchen in die Nachfolge der klassischen Weltmacht zu stellen.148 Dabei wird durch das Generieren einer weiteren Vergangenheitsebene (tunc) unterstrichen, wie vollständig und endgültig der Erfolg Karls des Großen gewesen sei, der das Königtum der Langobarden – im unmittelbaren Wortsinn – zur Vergangenheit machte, jedoch ohne seine Gegner vollständig zu vernichten. Ein entsprechendes Lob der Kampfkraft der Langobarden zur Aufwertung der Leistung Karls des Großen, wie es Aline Poensgen vermißte,149 war daher an dieser Stelle gar nicht mehr vonnöten (bzw. hätte sich hinsichtlich der persönlichen Ziele des Paulus als kontraproduktiv erweisen können). Vielmehr erscheint Karl hier im Lichte einer klassischen (antiken) Herrschertugend, die auszuüben ihm die Situation erlaubte: der clementia (caesaris), die auch der bi144 Zum Problem des Verhältnisses Karls des Großen zu Rom und Italien in der Darstellung des Paulus vgl. auch im Folgenden POENSGEN (wie Anm. 21), S. 51-57; zu den Franken und Rom vgl. MCKITTERICK (wie Anm. 90), S. 35-61, ferner auch oben Anm. 92. 145 Vgl. oben nach Anm. 32. 146 Vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 50f., die sich wundert, daß Paulus die Übernahme des Langobardenreiches als „mehr oder weniger kampflos“ schilderte, da starke Gegner Karls Leistung doch aufgewertet hätten. Eine gewisse Neutralität bei der Darstellung von Franken und Langobarden als siegreiche und unterlegene gentes hat MCKITTERICK (wie Anm. 125), S. 60-83, auch für die ‚Historia Langobardorum‘ festgestellt. 147 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 265, Z. 17f. 148 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 288. 149 Vgl. oben Anm. 146.
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blischen Überlieferung nach der Herrschaft (die Karl im Langobardenreich gerade erst antrat) besondere Stärke verlieh.150 Die temporalen Zuschreibungen erfolgen auch in dieser Episode definitiv zielgerichtet im Hinblick auf die Absicht der Metzer Bistumsgeschichte, die Bedeutung der Bischofsstadt hervorzuheben. Denn auch wenn die Schilderung sich kurzfristig zugunsten der politisch-militärischen Erfolge der Karolinger von Angilramns Bischofssitz abwendet, so geschieht dies doch stets unter dem deutlichen Hinweis auf den Metzer Ursprung der erfolgreichen Dynastie in Form der – erneut biblischen wie heidnischen Vorbildern ähnelnden151 – dauernden und bewußt eine direkte Sukzession suggerierenden152 Angabe der Filiation (x genuit y), an deren Spitze Paulus nicht umsonst Anschisus setzt, jenen Arnulfsohn, der gleichsam die säkulare Laufbahn einschlug und hier als Bindeglied zwischen Bistum und Königshaus
150 Ähnlich bereits KEMPF (wie Anm. 21), S. 288: Karl als „a conqueror of great clemency“. Zur Tradition der clementia als Herrschertugend seit der Antike vgl. Sen. clem.; zur Aktualität der Milde auch zur Zeit Karls des Großen vgl. etwa die die clementia betreffenden Ausführungen bei Smaragd von St. Mihiel, Via regia XIX, ed. Jacques-Paul Migne (PL 102), Paris 1851 (ND. Turnhout 1976), Sp. 931-970, hier Sp. 958f., die das Ideal in der alttestamentlichen Überlieferung verankern: Misericordia et veritas custodiunt regem, et roboratur clementia thronus ejus (Prov. 20,28; bei Migne fälschlich 20,18); dasselbe Bibelzitat bemüht wenig später auch Jonas von Orléans, De institutione regia III,1, ed. Alain DUBREUCQ (Sources chrétiennes 407), Paris 1995, S. 186, Z. 46f., unter der Überschrift: Quid sit rex, quid esse quidue debeat cauere (ebd. III,1, Z. 1, S. 184); ähnlich auch ebd. III,1, Z. 111ff., S. 192, unter Bezugnahme auf Fulgentius’ von Ruspe ‚De veritate praedestinationis et gratiae Dei‘, ed. Jean FRAIPONT (CCL 91 A), Turnhout 1968, II,39, S. 517): Clementissimus quoque imperator non ideo est uas misericordiae praeparatum in gloriam quia apicem terreni principatus accepit. Vgl. ferner – zur Bewertung der clementia in Hofkreisen – auch die Anrede Karls des Großen im Begleitschreiben aus dem Jahre 800 zur Stellungnahme gegen Felix von Urgel durch Alcuin, Ep. 202, ed. Ernst DÜMMLER (MGH Epp. 4), Berlin 1895 (ND. 1974), S. 335f., hier S. 335: clementissimo regnorum rectori Carolo regi Francorum et Langobardorum ac patricio Romanorum; zudem – auch wenn die clementia dort nicht als eigenständige Tugend geführt wird – die Ausführungen bei Dems., De virtutibus et vitiis VIII (de indulgentia), ed. Jacques-Paul Migne (PL 101), Paris 1851 (ND. Turnhout 1966), Sp. 613-638, hier Sp. 618: Qui clementer peccantibus ignoscere novit, clementiam divinae pietatis certissime accipiet. Vgl. ferner Ernst TREMP, Die Überlieferung der Vita Hludowici imperatoris des Astronomus (MGH Studien u. Texte 1), Hannover 1991, S. 2f.; DERS., Einleitung, in: Thegan, Die Taten Kaiser Ludwigs u. Astronomus, Das Leben Kaiser Ludwigs, MGH SS rer. Germ. 64, Hannover 1995, S. 101 mit Anm. 324. 151 Vgl. etwa die Analogie zum ‚Liber generationis Iesu Christi‘ bei Mt 1,1-16, und zur AmalerGenealogie bei Jordanes, Getica XIV, ed. Theodor MOMMSEN, MGH AA 5,1, Berlin 1882, S. 76f., die Paulus bekannt war. Der legitimierende Charakter derartiger Genealogien dürfte offensichtlich sein. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die Verbindung der karolingischen Dynastie mit Metz in „der ersten Herrschergenealogie des christlichen Mittelalters“ vom Anfang des 9. Jahrhunderts. Vgl. OEXLE, Die Karolinger (wie Anm. 38), S. 252-256. 152 Vgl. GOFFART (wie Anm. 20), S. 64 mit Anm. 23.
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dient.153 Beide Institutionen erscheinen in der Folge als Teile eines Ganzen. Noch unmittelbarer konnte man den Herrscher kaum auf das Wohlergehen der ihm ‚verwandten‘ Metzer Diözese zu verpflichten suchen. Das ‚langobardische Ich‘ des Historiographen hingegen tritt während des gesamten ‚KarolingerKapitels‘ erneut völlig in den Hintergrund, wie gerade die Schilderung der ‚rechtmäßigen‘ Eroberung des Langobardenreiches durch Karl den Großen deutlich macht. Dieselben Schlüsse wie für Karls des Großen Erfolge in Italien gelten auch für die Erwähnungen der Sarazenen und Basken, die bereits vor den Langobarden für die Zeit Karl Martells in den Fokus von Paulus’ Zusammenschau karolingischer Großtaten geraten waren. Erstere seien von dem Karolinger – in der Schlacht bei Tours und Poitiers – so gründlich besiegt worden, ut usque hodie gens illa truculenta et perfida Francorum arma formidet.154 Letztere, die schon lange (iamdudum) gegen die Franken rebelliert hatten, fielen wiederum dem Durchgreifen Pippins des Jüngeren zum Opfer.155 Der Hinweis auf das ‚Heute‘ des Verfassers und die historischen Auseinandersetzungen mit den Basken offenbaren hier dieselben Merkmale zeitlicher Differenzierung zum Zwecke der Betonung einer intendierten panegyrischen Aussage zugunsten des karolingischen Herrscherhauses, die wir oben bereits gesehen haben. Nach einem ausführlichen Inserat der von Paulus selbst verfaßten Epitaphien für die in Metz bestatteten Frauen der karolingischen Familie, darunter Karls des Großen Gattin Hildegard, die die große Königsnähe der Stadt nochmals deutlich vor Augen führen sollten,156 sowie weiteren Bischofsviten im Telegrammstil (u.a. von Arnulfs ‚bösem‘ Sohn Chlodulf) endet der ‚Liber‘ mit der einzigen ausführlichen Vita, die in ihrer Form tatsächlich weitgehend das Vorbild des ‚Liber pontificalis‘ aufnimmt – der Beschreibung des Wirkens des großen Metzer Kirchenreformers Chrodegang, des unmittelbaren Vorgängers von Paulus’ Auftraggeber Angilramn.157 Diese starke Stilisierung nach der römischen Vorlage schlägt sich wohl auch auf die zeitlichen Zuschreibungen innerhalb des Chrodegang-Kapitels nieder. So dienen nähere temporale Bestimmungen dort vor allem der Verknüpfung mit der Förderung des Bischofs durch König Pippin. So habe Chrodegang zunächst am Hofe Karl Martells eine prominente Stellung eingenommen, ac demum Pippini regis temporibus pontificale decus promeruit.158 153 Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 265, Z. 4f., 8 u. 10f.: Anschisus genuit Pippinum [...] Pippinus genuit Karolum [...] Hic itaque genuit Pippinum [...] Huius item filius magnus rex Karolus extitit. Zur Funktion des Arnulf-Kapitels als Bindeglied zwischen Diözese und Dynastie vgl. auch oben Anm. 143. 154 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 265, Z. 7f. 155 Ebd., Z. 8ff.: Hic [Karl Martell] genuit Pippinum [...] qui inter reliqua quae patravit, Wascones iamdudum Francorum ditioni rebelles cum Waifaro suo principe felicitate mira debellavit et subdidit. 156 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 289; SOT (wie Anm. 55), S. 441. 157 Zu den Übereinstimmungen der Chrodegangvita mit den Viten im ‚Liber pontificalis‘ bzw. zu ihren Abweichungen vgl. POENSGEN (wie Anm. 21), S. 67ff. 158 Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 267, Z. 46f.
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Auch sei der Bischof in diebus Pippini regis159 verstorben. Die geschilderten großartigen Leistungen des Prälaten werden durch diese ‚Datierung‘ nach dem König unmittelbar an die karolingische Dynastie gebunden, die Metzer Errungenschaften – wie die Liturgiereform nach römischem Vorbild oder die Restaurierung zentraler Sakralbauten – dadurch auch zu guten Werken der unmittelbaren Vorgänger Karls stilisiert. Die Betonung ist mithin zugleich als Ermahnung gegenüber dem König zu sehen, die lohnende Förderung der Metzer Kirche durch seinen Vater nicht – etwa zugunsten Triers – zu gefährden. Wie durchgreifend, heilsam und effektiv das Wirken Chrodegangs in der austrischen ‚Metropole‘ war, wird zudem im Falle der Kirchenreformen nach römischem Vorbild ebenfalls unter Zuhilfenahme eines Hinweises auf die schlechten Zustände der Vergangenheit betont. Denn der Bischof morem atque ordinem Romanae ecclesiae servare praecepit, quod usque ad id tempus in Mettensi ecclesia factum minime fuit.160 In der Darstellung des ‚Liber‘ hat Chrodegang also einen seit der Gründung des Bistums andauernden Mißstand durch die Einführung des römischen – und damit autoritativen – Ritus dauerhaft behoben und auf diese Weise Metz (endgültig) zu einem vorbildhaften Bistum gemacht. Kurz: Der Anspruch, Metropole zu sein, rechtfertigte sich nicht nur aus der Tradition, sondern auch aus der Qualität der dortigen Kirche. Allein, an dieser Stelle könnte auch Paulus’ persönliche Wahrnehmung ausschlaggebend gewesen sein, denn er stand wohl, trotz aller sonstigen Zurückhaltung in theologischen Belangen, in der seinerzeit virulenten Frage kirchlicher Führungsansprüche auf Seiten des Bischofs von Rom und war zweifelsohne mit dem römischen Ritus gut vertraut.161 Allerdings hätte seine ‚private‘ Sicht sich in diesem Fall wohl durchaus mit den Absichten der Großen des Metzer Bistums gedeckt, die offenbar bestrebt waren, sich durch eine „imitatio Romanae ecclesiae“162 zu profilieren – ein Konzept, dem auch die postulierte Gründung des Bistums durch einen Petrusschüler entspricht163 und in dem Aline Poensgen sogar ein zentrales Motiv des ‚Liber‘ hat sehen wollen: „die römische Kirche ist [...] Ursprung [der Metzer Kirche], ihr gleich zu werden, das Ziel.“164 Ein Konflikt zwischen Darstellungsabsicht und eigener Weltsicht bestand für Paulus also in der Frage des römischen Vorbilds sicher nicht. Mit Chrodegang endet der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘, nicht jedoch ohne die Perspektive einer weiteren Perpetuierung der Bischofsfolge (bis zum Jüngsten Tage) anzudeuten, denn so ist gewiß der Hinweis auf den Auftraggeber 159 Ebd., S. 268, Z. 31. 160 Ebd., Z. 9f. Zur Liturgiereform Chrodegangs bei Paulus vgl. auch Yitzhak HEN, Paul the Deacon and the Frankish Liturgy, in: Paolo Diacono (wie Anm. 20), S. 205-221, der sich gegen die von Cyrille Vogel genannten Indizien einer geplanten Kirchen- bzw. Liturgiereform bereits Pippins III. in der Beschreibung Bischof Chrodegangs ausspricht. 161 Vgl. hierzu HERREN (wie Anm. 105), bes. S. 227 u. S. 234. 162 POENSGEN (wie Anm. 21), S. 69. 163 Vgl. oben Anm. 92. 164 POENSGEN (wie Anm. 21), S. 69.
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und aktuellen Metzer Prälaten Angilramn auch zu verstehen,165 über dessen lobenswerten Lebenswandel zu berichten, Paulus – ganz im Zuge mittelalterlicher Topik – Besseren überlassen will.166 Es lag mithin bei Karl dem Großen, den doppelt, apostolisch wie durch den Spitzenahn Arnulf167 legitimierten Metropolitananspruch der civitas in der Gegenwart zu bestätigen und für die Zukunft zu bewahren. Daß der fromme Wunsch Angilramns, seine Bischofsstadt, die ohnehin durch seinen Einfluß am Hofe besonders in den Blick des großen Karolingers gerückt wurde, derart aufzuwerten, trotz der Hilfe eines großen langobardischen Gelehrten letztlich jedoch scheiterte, ist bekannt.168 In der Zusammenschau der – auch mit Rücksicht auf die Kürze der Quelle – wenigen Fälle expliziter temporaler Differenzierung im ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ läßt sich zunächst konstatieren, daß die Zuschreibungen von Vergangenheit Resultat der generellen Intention des Werkes sind, die Metzer Interessen im Hinblick auf die Ende des 8. Jahrhunderts zur Disposition stehende Machtverteilung innerhalb der fränkischen Kirche zu fördern. Sämtliche oben angeführten Belege erfüllen – sei es nun unbewußt oder als absichtlich verwendetes Stilmittel – den Zweck, die Rolle der ‚karolingischen‘ Bischofsstadt als rechtmäßige Metropole ihrer Region zu unterstreichen. Diese nahezu vollständige Deckungsgleichheit der in der Vergangenheitswahrnehmung offenbar wirksamen Deutungsmuster mit der beschriebenen Darstellungsabsicht ist, obwohl sie auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen mag, durchaus bemerkenswert. Sie spricht für eine weitgehende emotionale Distanz des Verfassers gegenüber den von ihm berichteten Sachverhalten. Denn häufig sind in historiographischen Quellen neben den durch die Intention des Werkes bewirkten temporalen Zuschreibungen auch durch davon abweichende, ‚persönliche‘, auf die Person des Autors bezogene Ansichten definierte Wahrnehmungsmuster zu erkennen, mit denen sich der Verfasser auch außerhalb seiner engeren Aussageabsicht bzw. seines Auftrags selbst identifizierte.169 Aus dem Bereich der frühmittelalterlichen Bischofsgesten sei hier diesbezüglich neben Beispielen aus den ‚Gesta pontificum Autissiodorensium‘170 be165 Vgl. GOFFART (wie Anm. 27), S. 377. 166 Vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus (wie Anm. 1), S. 268, Z. 34f. 167 Vgl. dazu auch GOETZ (wie Anm. 90), S. 211f. 168 Vgl. KEMPF (wie Anm. 21), S. 291, dessen Vermutung hinsichtlich des Strebens Karls des Großen nach einem permanenten Sitz des Hofes – wie es später Aachen wurde – für diesen frühen Zeitpunkt jedoch letztlich noch nicht belegbar ist. 169 Vgl. exemplarisch für eine ausführliche Analyse, wenn auch für eine andere Gattung und Epoche ELLING (wie Anm. 8), S. 41-53. 170 Vgl. exemplarisch einige von zahlreichen Passagen in den Gesta pontificum Autissiodorensium, ed. Michel SOT, Guy LOBRICHON u.a., Les gestes des évêques d’Auxerre, Bd. 1 (Les classiques de l'histoire de France au Moyen Âge 42), Paris 2002, die nach den Ergebnissen einer ersten Durchsicht – neben anderen Indizien – ausgesprochen häufig die Gegenwart ihres Entstehungsprozesses im Kontrast zum Berichtshorizont aus Sicht der
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sonders auf Berthars ‚Gesta episcoporum Virdunensium‘ verwiesen, die – bei ähnlicher Darstellungsabsicht – in Form und Inhalt eine Identifikation des Autors mit seinem Bistum erkennen lassen, die der offensichtlichen Distanziertheit des Paulus Diaconus diametral entgegensteht.171 Welche Schlüsse lassen sich nun aus den gewonnenen Erkenntnissen ziehen? 1) Zunächst ist festzuhalten, daß es im ‚Liber‘ keine stets gültige, in sich kohärente Vorstellung davon gibt, welche Sachverhalte der Vergangenheit zuzurechnen sind, die als Maßstab entsprechender temporaler Abgrenzungen dienen würde. Statt dessen entscheiden von Fall zu Fall der Kontext und die Aussageabsicht über die zeitliche Differenzierung. Allgemeine Zeitvorstellungen spielen dabei offenbar keine größere Rolle. Allenfalls ist eine durchgehende Tendenz erkennbar, die (christlich-)römische Antike stets der Vergangenheit zuzuschreiben. Entsprechend liegen temporale Wahrnehmungsmuster des ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ eher im Bereich der Aussageabsicht des Werkes bzw. bestimmter Quellenpassagen als in den Geschichts- und Zeitvorstellungen des Verfassers begründet. 2) Ferner ist in bezug auf die eingangs gestellte Frage nach dem Spannungsfeld zwischen der Identität des Autors und der (vom Auftraggeber gewünsch1. Person reflektieren und so auf einen starken persönlichen Bezug der Verfasser zu den Inhalten hindeuten: [...] ut in gestis eiusdem sancti Amatoris legimus [...] (ebd. 5, S. 23, zu Bischof Eladius); [...] ut in gestis pontificalis legimus [...] (ebd. 7, S. 29, zu Bischof Germanus); Hec ideo premisimus, ut quo tempore beatus Germanus floruerit cercius demonstraremus. (ebd., S. 31); Fecit enim duas cruces [...], que ad nostram usque etatem in thesauris eiusdem æcclesiæ seruata permanserunt (ebd. 21, S. 113, zu Bischof Palladius); und passim. Zu den ‚Gesta pontificum Autissiodorensium‘ vgl. neuerdings Constance B. BOUCHARD, Episcopal Gesta and the Creation of a Useful Past in Ninth-Century Auxerre, in: Speculum 84, 2009, S. 1-35. 171 Vgl. Berthar, Gesta episcoporum Virdunensium, ed. Georg WAITZ (MGH SS IV), Hannover 1841, S. 36-45 passim, der ebenfalls einen ausgeprägten Stil aus Sicht der 1. Person pflegte und an seiner Hingabe an die Kirche von Verdun, deren Verluste durch den Brand der Bibliothek sein Werk (zumindest in Teilen) substituieren sollte, keinen Zweifel ließ, gerade in Verbindung mit temporalen Differenzierungen. Auch wenn ein ausführlicher Vergleich wünschenswert wäre, muß hier aus Raumgründen auf eine entsprechende Behandlung verzichtet werden, so daß an dieser Stelle einige Beispiele zur Veranschaulichung genügen sollen: De istis enim quae nostris oculis vidimus, quam plurima referre possumus. Tempore etenim Lotharii iunioris regis et domni Hattonis nostrae civitatis episcopi de istis sanctissimis viris reliquiae sunt sumptae et ad Theolegium monasterium [...] nostris temporibus sunt delatae (ebd. 2, S. 40, Z. 19-22, zu mehreren heiligen Bischöfen); Privilegium etenim nostris canonicis de antiquioribus villis fecit, et suis manibus aliorumque episcoporum ipsum sub divina attestatione roboravit. De virtutibus autem sancti patris nostri istud mirabile audivimus (ebd. 8, S. 43, Z. 20ff., zu Bischof Paulus); [Bischof Madelveus] Iherosolimam pervenit, et a patriarcha ipsius loci multorum sanctorum reliquias obtinuit, et eas [...] Virdunum apportavit, et in principali aecclesia nostra venerabiliter eas collocavit. Reliquias vero, quae fuerunt in antiquiori aecclesia [...] in cripta subterranea reposuit. Fuit enim tempore Pipini regis [...] (ebd. 12, S. 44, Z. 3-8). Zur Quelle vgl. Michel SOT, Art. Berthar, in: LexMA I, Sp. 2023f., der gerade darauf hinweist, daß Berthar schrieb, ohne „eigene Beobachtungen zu vernachlässigen“ (ebd. Sp. 2024).
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ten) ‚corporate identity‘ der Metzer Diözese, zumindest für den Bereich der Vergangenheitswahrnehmung, ein ganz eindeutiges Fazit zu ziehen: Paulus Diaconus gelingt es, seine eigenen Ansichten vollkommen hinter dem Versuch der Aufwertung des Metzer Bistums zurücktreten zu lassen. Das Individuum bleibt zugunsten der Institution im Hintergrund. Sogar in den wenigen Fällen, in denen dennoch ein individuelles Interesse hinter der betreffenden Vergangenheitszuschreibung vermutet werden könnte, ist wegen der Übereinstimmung mit der allgemeinen Aussageabsicht keine eindeutige Bestimmung möglich. Ob das Ausbleiben persönlicher Einflüsse der starren, nach Pontifikaten geordneten Struktur des Werkes geschuldet ist oder ob es sich um eine weitere singuläre Eigenschaft des ‚untypischen Prototypen‘ der fränkischen Bischofsgesten handelt, kann noch nicht endgültig entschieden werden. Letzteres scheint jedoch, angesichts des Ausnahmefalls eines institutionsfremden Autors, nicht unwahrscheinlich. Denn gerade weil der ‚Liber‘ sich eigentlich nicht an eine durchgehend gleiche Form hält, sondern die einzelnen Bischofsviten unterschiedlich gestaltet sind, steht zu vermuten, daß durchaus Raum für entsprechende Textgestaltungen des Paulus gewesen wäre. Ein Vergleich mit weiteren Bistumsgesten zur Klärung dieser Frage wäre wünschenswert, könnte aber dahingehend Probleme aufwerfen, daß bei der in den meisten Fällen gegebenen Zugehörigkeit des Verfassers zum Klerus der betreffenden Institution eine Interessenidentität beider Pole nicht auszuschließen ist,172 die für die Metzer Bischofsgesten angesichts der Vita ihres Verfassers definitiv nicht gegeben war. 3) Der obige Befund zeigt recht deutlich, daß der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ den Geist einer Auftragsarbeit atmet, die eine weitgehende Stärkung der Metzer Diözese in Zeiten möglicher kirchenpolitischer Umstrukturierungen zum Ziel hatte. Entsprechend ist Poensgen und Kempf Recht zu geben: „That Paul should have been sufficiently interested in the bishopric of Metz to write its early history can only be explained by virtue of its association with Angilramn“.173 Neben den Wünschen seines bischöflichen Freundes verfolgte der ‚fremde‘ Langobarde mit der Metzer Bistumsgeschichte – wenn überhaupt – eigene Interessen allenfalls indirekt und nicht eindeutig nachweisbar. (Angesichts seiner Bemühungen um die Freilassung seines Bruders muß eine solche, Konfliktpunkte meidende Zurückhaltung durchaus zielführend erschienen sein.) Keineswegs jedoch scheint sein Werk als Hofpropaganda zur Legitimation der karolingischen Herrschaft und zur Legitimierung einer Nachfolgeregelung ausgelegt zu sein, wie Goffart u.a. gemeint haben.174 Vielmehr bestätigt die Analyse der Vergangenheitswahrnehmung die These, daß das Werk zuallererst auf die Legitimation der Metzer Ansprüche am Hofe Karls des Großen abstellte und sich zu diesem Zweck mehrfach ‚offizielle‘ Geschichtsdeutungen zu eigen machte. Die von Sot betonte „glorification of the Carolingian familiy“ scheint 172 Vgl. oben Anm. 23. 173 KEMPF (wie Anm. 21), S. 280. Vgl. auch oben Anm. 52. 174 Vgl. oben Anm. 20 und 56.
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daher lediglich das Beiprodukt der zielgerichteten „glorification of the bishops of the time, who were chaplains for Charlemagne and promoted the Roman liturgy“, zu sein.175 Paulus Diaconus war mit seinen Bischofsgesten zuvorderst der Diözese, und nicht so sehr der regierenden Dynastie verpflichtet. Allerdings mußte für ihn zwischen diesen beiden Polen auch nicht notwendigerweise ein Interessenkonflikt bestehen, geschah die Propagierung der Metzer Interessen doch zu einem erheblichen Teil über das Lob der Karolinger. 4) Angesichts der gewonnenen Einsichten hinsichtlich der persönlichen Zurückhaltung des langobardischen Historiographen im ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ sollte zudem in jedem Fall geprüft werden, inwieweit diese Quelle – trotz einiger stilistisch-erzähltechnischer Parallelen mit seinen übrigen Werken176 – ohne nähere Differenzierung als Grundlage zur Erforschung allgemeiner Vorstellungen, Ansichten und Emotionen ihres Verfassers177 oder übergreifender Intentionen seines Gesamtwerkes geeignet ist. Auch ist durchaus fraglich, ob der ‚Liber‘ sich inhaltlich tatsächlich so nahtlos wie bisher häufig angenommen in die Reihe jener Quellen fügt, die primär der Propagierung übergreifender karolingischer Geschichtsdeutungen verpflichtet waren,178 da er aus diesen offenbar eher nach Bedarf einzelne Aspekte auswählte als selbst an ihrer Entwicklung mitzuwirken.179 5) Insgesamt ist der ‚Liber de episcopis Mettensibus‘ somit als ein Auftragswerk zu sehen, in dessen Erstellung sein Verfasser, der als Fremder am Hofe Karls des Großen weilte und wohl aus Gefälligkeit dem Wunsch Angilramns folgte, die Geschichte seines Bistums zu verfassen, wenig eigenes Herzblut legte. Als solches ist die Quelle aber ein besonderer Fall, der gerade für weiterführende wahrnehmungsgeschichtliche Untersuchungen frühmittelalterlicher Institutionsgeschichten eine wertvolle Vergleichsmöglichkeit bietet. 6) Über diese, eine bestimmte Quelle betreffenden Erkenntnisse hinaus konnte zudem praktisch aufgezeigt werden, in welcher Form die Analyse der Wahrnehmung von Vergangenheit, als eines zentralen Bereiches menschlicher Identitätsbildung, über den engeren Bereich der Fragestellung hinaus Licht auf das Verhältnis von Quellenautoren zu ihren Werken bzw. auf ihre möglichen Aussageabsichten zu werfen in der Lage ist. Gerade auch in dieser metho175 SOT (wie Anm. 17), S. 102. 176 Vgl. oben Anm. 107, und GANDINO (wie Anm. 33), S. 84-89, die vor allem Ähnlichkeiten zur ‚Historia Langobardorum‘ aufzeigt. 177 Vgl. etwa ebd., S. 89, den Versuch, die Parallelen zur ‚Historia Langobardorum‘ zu erklären: „Dunque, nei Gesta episcoporum Mettensium Paolo Diacono consegna anche parti originali della memoria storica e individuale del suo popolo, per costruire e legittimare il ruolo nella storia di chi il suo popolo ha sconfitto. Non si tratta tuttavia di un paradosso: si tratta piuttosto di una sorta di dono che la vicinanza fisica e affettiva a Carlo Magno aveva reso possibile.“ 178 Vgl. exemplarisch MCKITTERICK (wie Anm. 125), S. 76f. 179 Vgl. oben S. 226f. mit Anm. 123-126 sowie S. 229 mit Anm. 142f.
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dischen Funktionalisierung als ein Kontroll- und Differenzierungsinstrument im Hinblick auf (mittelalterliche) Quellen ist das Potential eines wahrnehmungsgeschichtlichen Ansatzes zu sehen.
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Exul, Paganus, Ignotus Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremden und Anderen in Brunos ‚Sachsenkrieg‘
Sein ‚Buch vom Sachsenkrieg‘ schrieb Bruno, ein nicht näher bekannter Geistlicher aus der Umgebung des Erzbischofs Werner von Magdeburg und später des Bischofs Werner von Merseburg, dem er sein opus widmete,1 in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, vermutlich kurz nach 1082.2 Er schilderte darin den Ausbruch und Verlauf des Sachsenaufstandes gegen König Heinrich IV., wobei seine Darstellung der Ereignisse stark subjektiv zugunsten der Sachsen und zuungunsten Heinrichs ausfiel. Als glühender Vertreter seines Volkes (gens Saxonum) zielte Bruno in seinem Werk vornehmlich darauf, die Sache der Sachsen, die Richtigkeit ihrer Auflehnung gegen den König und gleichzeitig die Schlechtigkeit, Ungerechtigkeit und Tyrannei Heinrichs IV. zu dokumentieren.3 Wegen 1 2
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Vgl. Brunos Buch vom Sachsenkrieg, neu bearb. v. Hans-Eberhard LOHMANN, MGH Dt. MA 2, Leipzig 1937, S. 12 (weiter aufgeführt als ‚Saxonicum bellum‘). Zu Autor und Werk vgl. Wilhelm WATTENBACH u. Robert HOLTZMANN, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Die Zeit der Sachsen und Salier, 2. Tl., 3. u. 4. Heft: Die Zeit des Investiturstreits (1050-1125), Neuausgabe, besorgt v. Franz-Josef SCHMALE, Darmstadt 1967, S. 592-594, sowie ebd. Tl. 3, Nachtrag zu Tl. 2, Darmstadt 1971, S. 168*; vgl. auch Franz-Josef SCHMALE, Art. Bruno von Magdeburg, in: LMA 2, Sp. 791; DERS., Art. Bruno von Magdeburg, in: Verfasserlexikon 1, Spp. 1071-1073; DERS., Zu Brunos Buch vom Sachsenkrieg, in: DA 18, 1962, S. 236-244; zur Datierung des Werkes vgl. zusätzlich auch Wolfgang EGGERT, Das Wir-Gefühl bei fränkischen und deutschen Geschichtsschreibern bis zum Investiturstreit, in: DERS. u. Barbara PÄTZOLD, WirGefühl und Regnum Saxonum bei frühmittelalterlichen Geschichtsschreibern (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 21), Wien-Köln-Graz 1984, S. 13-179, hier S. 154, der sich dabei gegen Schmale, welcher die Niederschrift des Werkes zwischen 1082 und 1093 ansetzt, und für Klaus SPRIGADE, Über die Datierung von Brunos Buch vom Sachsenkrieg, in: DA 23, 1967, S. 544-548, hier S. 548, nach dem Bruno das Werk in den ersten Monaten des Jahres 1082 geschrieben haben muß, ausspricht. Vgl. dazu Gerd ALTHOFF, Pragmatische Geschichtsschreibung und Krisen. Zur Funktion von Brunos Buch vom Sachsenkrieg, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. v. Hagen KELLER, Klaus GRUBMÜLLER u. Nikolaus STAUBACH (Münstersche Mittelalter-Schrr. 65), München 1992, S. 95-107, bes. S. 100ff. – Kontrovers dazu Wolfgang EGGERT, Wie „pragmatisch“ ist Brunos Buch vom Sachsenkrieg?, in: DA 51, 1995, S. 543-553; Gerd ALTHOFF, Heinrich IV. (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2006, S. 86ff. Ähnlich auch Eberhard KESSEL, Die Magdeburger Geschichtsschreibung im Mittelalter bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für die
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seiner einseitigen und subjektiven Sicht auf die Ereignisse und die handelnden Personen galt Brunos Saxonicum bellum zeitweise als ein Schriftstück, dem „jegliche[r] Quellenwert abgesprochen“ wurde.4 Folgt man hingegen einem mentalitäts- und vorstellungsgeschichtlichen Ansatz, der nicht in erster Linie auf die historische Glaubwürdigkeit eines Tatsachenberichts Wert legt, sondern vornehmlich auf die vom Autor geäußerten Anschauungen, Bewertungen und Überzeugungen, so wird die längst obsolet gewordene, im Historismus des 19. Jahrhunderts wurzelnde Frage nach der möglichst wirklichkeitsgetreuen und objektiven Wiedergabe der Geschehnisse durch einen Quellentext irrelevant. Als ein eindeutiges und leidenschaftlich verfaßtes Zeugnis von Ab- und Ausgrenzung von Anderen oder Fremden eignet sich Brunos ‚Sachsenkrieg‘ mit seinen subjektiven Stellungnahmen daher besonders gut, um an seinem Beispiel mittelalterliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremdheit und Alterität aufzuzeigen und zu analysieren.
1. Forschungs- und begriffliche Problematik von ‚Fremdheit‘ Um sich an die mittelalterlichen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Fremdheit herantasten zu können, ist es notwendig, sich zunächst mit den Begriffen ‚Fremde‘, ‚Fremdheit‘ oder ‚fremd‘ zu befassen. Doch die Begriffe, obwohl sie „eine Grundkategorie unserer Lebenserfahrung“5 zur Sprache bringen sollten, bereiten nicht nur einer Mittelalterhistorikerin Probleme; auch in der übrigen Wissenschaftswelt ist eine genaue Definition der Begriffe sowie eine
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Provinz Sachsen und Anhalt 7, 1931, S. 109-184, hier S. 144. Vgl. außerdem Otto-Hubert KOST, Das östliche Niedersachsen im Investiturstreit. Studien zu Brunos Buch vom Sachsenkrieg (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 13), Göttingen 1962, der seine Untersuchung vor allem auf die in Brunos Werk eingefügten Briefe stützt. So faßt Franz-Josef SCHMALE, Einleitung, in: Quellen zur Geschichte Kaiser Heinrichs IV., hg. v. DEMS. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. FSGA 12), 4., erweiterte Aufl., Darmstadt 2000, S. 1-49, hier S. 29, die ältere Forschung zusammen. Ein ähnliches Urteil über die Unbrauchbarkeit des Werkes äußerte auch Gerd TELLENBACH, Der Charakter Heinrichs IV. Zugleich ein Versuch über die Erkennbarkeit menschlicher Individualität im hohen Mittelalter, in: Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum 65. Geburtstag, hg. v. Gerd ALTHOFF, Dieter GEUENICH, Otto Gerhard OEXLE u. Joachim WOLLASCH, Sigmaringen 1988, S. 345-367, hier S. 348. Einen hohen mentalitätsgeschichtlichen Wert des ‚Sachsenkrieges‘ hingegen stellt Ernst SCHUBERT, Geschichte Niedersachsens vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, in: Geschichte Niedersachsens, begr. v. Hans PATZE, Bd. 2,1: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, hg. v. Ernst SCHUBERT (Veröffentlichungen der hist. Komm. für Niedersachsen und Bremen 36), Hannover 1997, S. 1-904, hier S. 269-271, fest. Meinhard SCHUSTER, Ethnische Fremdheit, ethnische Identität, in: Die Begegnung mit dem Fremden. Wertungen und Wirkungen in Hochkulturen vom Altertum bis zur Gegenwart, hg. v. DEMS. (Colloquium Rauricum 4), Stuttgart-Leipzig 1996, S. 207-221, hier S. 207.
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eindeutige Beschreibung der dahinter liegenden Phänomene schwierig. Das Ausmaß des Problems wird schon allein an der Tatsache deutlich, daß es in der klassischen Wissenschaft von kultureller Fremdheit wie der Ethnologie bislang keine erschöpfende Begriffsklärung gibt – „der Fremdheitsbegriff ist kein Grundbegriff der Ethnologie, der sich einen festen Platz in einschlägigen Lehrbüchern und Lexika erobert hat“, beklagt Bargatzky.6 Richtungweisende Impulse auf dem Gebiet der Fremdheitsforschung verdanken wir statt dessen Forschern anderer Wissenschaftszweige, allen voran Klassikern der Soziologie wie Georg Simmel, Max Weber oder Alfred Schütz.7
1.1. ‚Fremdheit‘ als modernes Phänomen in den Sozialwissenschaften und in der Philosophie Laut Simmels berühmt gewordener Definition ist der Fremde „der, der heute kommt und morgen bleibt.“ Außerdem ist er, so Simmel weiter, „innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises […] fixiert, aber seine Position in diesem ist dadurch wesentlich bestimmt, daß er nicht von vornherein in ihn gehört, daß er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt“.8 Der Soziologe Zygmunt Bauman brachte die Überlegungen Simmels auf den Punkt, indem er das Wesen des Fremden als desjenigen umschrieb, der „socially distant yet physically close“ ist.9 Das Wort „physisch“ ist hier nicht wörtlich zu verstehen; es bedeutet vielmehr jede Art von materieller und/oder geistiger Anwesenheit, die von anderen Menschen wahrgenommen und registriert wird. Denn Fremde können nur dann als Fremde wahrgenommen und klassifi6
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Thomas BARGATZKY, Die Ethnologie und das Problem der kulturellen Fremdheit, in: Den Fremden wahrnehmen. Bausteine für eine Xenologie, hg. v. Theo SUNDERMEIER (Studien zum Verstehen fremder Religionen 5), Gütersloh 1992, S. 13-29, hier S. 15. BARGATZKY selbst definiert den Fremden auf folgende Weise: „es handelt sich dabei um eine Person, die in einer bestimmten Gesellschaft nicht primär sozialisiert wurde“ (ebd. S. 19, Anm. 16). Vgl. exemplarisch Georg SIMMEL, Exkurs über den Fremden, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 685-691; Max WEBER, Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen, in: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51985, S. 234-244; Alfred SCHÜTZ, Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch, in: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie, hg. v. Arvid BRODERSEN, Den Haag 1972, S. 53-69 u. DERS., Der Heimkehrer, ebd., S. 70-84. Gleichzeitig ist zu beobachten, daß das Thema Fremdheit neben dem rein akademischen Bereich u.a. auch in der Schuldidaktik reges Interesse und Anwendung findet: Vgl. exemplarisch Arnold BÜHLER, Zwischen Europa und Orient. Der Kreuzzug Barbarossas – ein Lernfeld für das Fremdverstehen?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 57, 2006, S. 412-426; Herbert PROKASKY, Das Eigene und das Fremde. Ansatz zu einem Geschichtsunterricht in weltbürgerlicher Absicht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58, 2007, S. 76-89. SIMMEL (wie Anm. 7), S. 685. Zygmunt BAUMAN, Postmodern Ethics, Oxford-Cambridge, MA 1993, S. 153.
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ziert werden, wenn sie sich, wie Bauman es ausdrückt, „in Reichweite“10 befinden. Diese Inkongruenz zwischen den sozialen und physischen Koordinaten, die einen Fremden ausmachen und in der modernen Welt als normal und allgemein verbreitet gelten, gab es in vormodernen Gesellschaften wie der mittelalterlichen viel seltener. Zu dieser Zeit waren soziale und physische Nähe in den meisten Fällen identisch11 – für gewöhnlich war der mittelalterliche Mensch von Familienangehörigen, Freunden, Bekannten und Nachbarn umgeben, und kannte verhältnismäßig wenige Menschen, auf die die erwähnte Inkongruenz zutraf, und die demzufolge als Fremde eingestuft wurden. In der modernen urbanen Welt hingegen ist die fehlende Überlappung der beiden Koordinaten fast allgegenwärtig, weshalb wir heutzutage nicht nur daran gewöhnt sind, Fremde wahrzunehmen, um sie gleichzeitig zu ignorieren, sondern auch mit der Tatsache umzugehen, daß wir im Alltag viel häufiger auf Fremde als auf Angehörige unseres Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreises treffen.12 Einschränkend muß hier allerdings eingeräumt werden, daß es auch in der modernen Welt durchaus (ländliche) Gegenden gibt, in denen keine (groß)städtische Anonymität herrscht, und wo demzufolge Fremde selten sind und in den meist kleinen Gemeinschaften auffallen. In seinem Versuch, die „Vieldeutigkeit des Fremden“ zu benennen, unterscheidet der Philosoph Bernhard Waldenfels drei Bedeutungsnuancen und -kontraste des Begriffes: „Fremd ist erstens, was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt als Äußeres, das einem Inneren entgegensteht […]. Fremd ist zweitens, was Anderen gehört […], im Gegensatz zum Eigenen. […] Fremd ist drittens, was von anderer Art, was fremdartig, unheimlich, seltsam ist […], im Gegensatz zum Vertrauten. Der Gegensatz Äußeres/Inneres verweist auf einen Ort des Fremden, der Gegensatz Fremdes/Eigenes auf den Besitz, der Gegensatz Fremdartiges/Vertrautes auf eine Art des Verständnisses. Daß es sich hierbei um verschiedene Bedeutungen handelt, zeigt sich darin, daß ein und derselbe Sachverhalt in einem Sinne fremd sein kann, im anderen nicht, so 10 Ebd., S. 159. 11 Ebd., S. 150. 12 Vgl. dazu auch Rudolf STICHWEH, Der Fremde – zur Soziologie der Indifferenz, in: Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, hg. v. Herfried MÜNKLER unter Mitarbeit v. Bernd LADWIG (Studien und Materialien der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Die Herausforderung durch das Fremde der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften), Berlin 1997, S. 45-64, hier S. 55f. sowie Kai-Uwe HELLMANN, Fremdheit als soziale Konstruktion. Eine Studie zur Systemtheorie des Fremden, in: Die Herausforderung durch das Fremde. Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Die Herausforderung durch das Fremde, hg. v. Herfried MÜNKLER unter Mitarbeit v. Karin MESSLINGER u. Bernd LADWIG (Interdisziplinäre Arbeitsgruppen Forschungsberichte 5), Berlin 1998, S. 401459, hier S. 405. Ähnlich auch Jerzy STRZELCZYK, Die Wahrnehmung des Fremden im mittelalterlichen Polen, in: Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposions des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlaß des 1000. Todestages der Kaiserin Theophanu, hg. v. Odilo ENGELS u. Peter SCHREINER, Sigmaringen 1993, S. 203-220, hier S. 203.
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das Haus des Nachbarn, das mir nicht gehört, aber wohlvertraut ist, oder ein ausländischer Kollege, mit dem ich eng zusammenarbeite.“13
So klar die dreifache Kategorisierung des Begriffes ‚fremd‘ also erscheint, so vielschichtig und ambivalent zeigt sich ihre Anwendung in der Wirklichkeit. Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Die Herausforderung durch das Fremde“, geleitet vom Politikwissenschaftler Herfried Münkler, erarbeitete u.a. in Anlehnung an das Konzept Waldenfels’ als eins ihrer Ergebnisse drei „Leitvorstellungen“ von Fremdheit, die den Untersuchungen der Arbeitsgruppe zugrunde lagen. Dabei handelt es sich zum einen um die sogenannte ‚soziale Fremdheit‘, die sich auf Nichtzugehörigkeit anderer Personen oder auch deren Besitzes bezieht, zum anderen um die ‚kulturelle, lebensweltliche Fremdheit‘, die sich auf die Tatsache bezieht, daß einem etwas unvertraut ist oder merkwürdig, ‚befremdlich‘ vorkommt, und schließlich um die Vorstellung, daß Fremdheit „gradualisierbar“ ist. Dahinter steckt die Idee, daß definitive, strikt von dem Eigenen getrennte Fremdheit, sei sie sozial oder kulturell, nur selten vorkommt, und sie statt dessen eher in „Grenz- und Übergangsbereichen“ zwischen dem Eigenen und Fremden ausfindig zu machen ist.14 Auch hier also fehlt es an einer eindeutigen und klar umrissenen Definition von ‚Fremdheit‘; vielmehr weist Münkler ähnlich wie Waldenfels auf die Mehrdeutigkeit oder schwierige Faßbarkeit des Begriffes hin. Auch in der Sozialpsychologie wird ‚Fremdheit‘ thematisiert, allerdings wird dabei der Schwerpunkt auf die Analyse von ‚Fremdheit‘ als der Kehrseite von ‚Normalität‘ gelegt: „Der Durchschnitt markiert das Übliche, Berechenbare, und was stark davon abweicht, ist nicht einzuordnen, ist fremd. [...] Die Bestimmung einer sozialen Gruppe als ‚nicht normal‘ kann alle genannten Facetten des Normalitätsbegriffes gleichzeitig einschließen: Die Anderen sind uns fremd, sie sind uns unterlegen und sie sind eine Bedrohung für uns.“15 In der Psychologie wird demnach das Fremde erstens, zumindest bei Schmid, mit dem Anderen gleichgesetzt, was erneut ein Beispiel dafür ist, wie ungenau die Fremdheitsbegrifflichkeit benutzt wird, und zweitens als das nicht Normale vor allem negativ konnotiert und als verwirrend, minderwertig oder bedrohlich ausgelegt. Hier wird also ‚fremd‘ mit ‚feindlich‘ gleichgestellt, das es zu bekämpfen gilt, damit es 13 Bernhard WALDENFELS, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt/M. 2006, S. 111f. 14 Vgl. dazu den Band Die Herausforderung durch das Fremde (wie Anm. 12), und insbesondere Herfried MÜNKLER u. Bernd LADWIG, Einleitung: Das Verschwinden des Fremden und die Pluralisierung der Fremdheit, in: ebd., S. 11-25, bes. S. 23. 15 Jeannette SCHMID, Die Wahrnehmung des Anderen. Sozialpsychologische Anmerkungen zu Ethnozentrismus und Marginalisierung, in: Fremde der Gesellschaft. Historische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur Differenzierung von Normalität und Fremdheit, hg. v. Marie Theres FÖGEN (Ius Commune. Veröffentlichungen des MPI f. Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt/M. Sonderhefte Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 56), Frankfurt/M. 1991, S. 147-167, hier S. 148.
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die Kohärenz des eigenen Weltbildes und damit der eigenen Identität nicht ins Wanken bringt.
1.2. ‚Fremdheit‘ als Forschungsgegenstand in der Mediävistik Vergleichen wir den gerade skizzierten modernen Wissensstand mit der mittelalterlichen Überlieferung, so müssen wir feststellen, daß wir über keine theoretischen Texte mittelalterlicher Gelehrter verfügen, die sich mit dem Phänomen ‚Fremdheit‘ in ähnlichem Ausmaß befaßt hätten. Dieser Umstand macht die Untersuchung von mittelalterlichen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von Fremdheit und Alterität umso diffiziler, bedeutet er doch, daß wir den hier zu untersuchenden Mustern nicht mit Hilfe von Aussagen und Überlegungen der Zeitgenossen entgegenkommen können. Daß Fremde in der mittelalterlichen Gesellschaft – verglichen mit der Moderne – verhältnismäßig selten auftraten und als halbwegs ungewöhnlich galten, blieb nicht ohne Folgen. Menschen, die sich als Fremde, Nichtzugehörige einer Gruppe näherten, strebten meist danach, in die Gruppe aufgenommen zu werden, dazuzugehören, auch wenn sie mit Einschränkungen, Vorbehalt oder Argwohn zu rechnen hatten, die einem „nicht von Anfang an“16 Dagewesenen entgegengehalten werden: „The unattached person during the Middle Ages was one either condemned to exile or doomed to death: if alive, he immediately sought to attach himself, at least to a band of robbers. To exist, one had to belong to an association: a household, a manor, a monastery, a guild; there was no security except in association, and no freedom that did not recognize the obligations of a corporate life. One lived and died in the style of one’s class and corporation.“17
Dieser spezifische Drang zur Gruppenzugehörigkeit, die Lewis Mumford für die mittelalterliche Gesellschaft als von konstitutivem Rang ausmachte, müßte auch, so wird zumindest in der Forschung behauptet, für die (doch so heterogene) Gruppe der mittelalterlichen Fremden auszumachen sein. Mit anderen Worten, auch unter Fremden müßte es zu spezifischen Gruppenbildungen gekommen sein, sei es von innen, in einem Akt von „Selbstzuordnung“, oder von außen, d.h. als Gruppenzuordnung durch andere. Diesen Überlegungen entsprechend, postuliert Jerzy Strzelczyk die Möglichkeit einer klaren Kategorisierung von Fremden im Mittelalter, und zählt dabei vier verschiedene Ebenen von 16 Vgl. dazu Zygmunt BAUMAN, Moderne und Ambivalenz, in: Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt?, hg. v. Ulrich BIELEFELD, Hamburg 1998, S. 23-49, hier S. 29. 17 Lewis MUMFORD, The culture of cities, New York 1938, S. 29. Zu dem Konzept von Abweisung (Tod, Exil) und Aneignung (Eingliederung in die eigene Gemeinschaft) von Fremden vgl. auch Justin STAGL, Grade der Fremdheit, in: Furcht und Faszination (wie Anm. 12), S. 85-114, hier S. 102-105.
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Fremdheit auf: die regionale, die ethnisch/politische, die religiöse und die gesellschaftliche (soziale) Fremdheit.18 Gleichzeitig räumt Strzelczyk jedoch ein, daß die von ihm aufgestellten Kategorien, wollte man sie genau so in mittelalterlichen Texten wiederfinden, nicht gerade leicht herauslesbar oder greifbar sind.19 Fremdheitskategorien wie die von Strzelczyk, aber auch grundsätzlichere Überlegungen zum Thema Fremdheit, die von Soziologen, Philosophen oder Psychologen angestellt werden, tragen deshalb häufig, wollte man mit ihnen möglichst exakt an Texten arbeiten, die einer Mittelalterhistorikerin zur Verfügung stehen, bei konkreter Quellenanalyse eher zu weiteren Problemen bei, als daß sie hilfreich sind. Dies ist wohl einer der Gründe dafür, daß es in der Mediävistik lange Zeit in bezug auf die Thematik ‚Fremdheit‘ und ‚Fremde‘ vorwiegend Studien über (spätmittelalterliche) Reise- und Gesandtenberichte oder Berichte über exotische, weit entfernt lebende Völker gab20 – dort konnten Fremdgruppen nämlich verhältnismäßig leicht von den Eigenen allein schon geographisch getrennt und so auch mental unterschieden und eindeutig identifiziert werden. Anders verhält es sich mit Quellentexten wie historiographischen Werken, in denen sich die Verfasser nicht explizit mit der Problematik der Fremden und Fremdheit befassen, sondern diese in größeren Erzählzusammenhängen entweder nur indirekt oder gar nicht erst erwähnen bzw. benennen. In solchen Fällen ist es erwiesenermaßen unergiebig, Kategorien anwenden zu wollen, die aus der Perspektive eines modernen Geschichtswissenschaftlers modellhaft konstruiert wurden, wie die von Strzelczyk vorausgesetzten. Nicht nur gestaltet es sich schwierig, diese analog in den zu untersuchenden Texten wiederzufinden, sondern dadurch, daß sie bereits vorgefertigt und verfestigt den mittelalterlichen Texten gewissermaßen übergestülpt werden, lassen sie nicht mehr 18 STRZELCZYK (wie Anm. 12), S. 204. 19 Ebd. Strzelczyk spricht den Kategorien ‚ethnisch-politisch‘ und ‚religiös‘ durchaus Chancen zu, sie in den Quellen relativ leicht in Analogie wiederzufinden, wohingegen ‚soziale‘ und ‚regionale‘ Fremdheit seiner Auffassung nach nur schwer aus den Quellen „extrahiert“ werden können. 20 Vgl. exemplarisch Ines HENSLER, Ritter und Sarrazin. Zur Beziehung von Fremd und Eigen in der hochmittelalterlichen Tradition der „Chansons de geste“ (Beihefte zum AKG 62), Köln-Weimar-Wien 2006; John V. TOLAN, Saracens. Islam in the Medieval European Imagination, New York 2002; Marina MÜNKLER, Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts, Berlin 2000; Fremdheit und Reisen im Mittelalter, hg. v. Irene ERFEN u. Karl-Heinz SPIEß, Stuttgart 1997; Felicitas SCHMIEDER, Europa und die Fremden. Die Mongolen im Urteil des Abendlandes vom 13. bis in das 15. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 16), Sigmaringen 1994; Arnold ESCH, Anschauung und Begriff. Die Bewältigung fremder Wirklichkeit durch den Vergleich in Reiseberichten des späten Mittelalters, in: HZ 253, 1991, S. 281-312; Johannes KODER, Die Sicht des „Anderen“ in Gesandtenberichten, in: Begegnung (wie Anm. 12), S. 113-129; FOLKER Reichert, Begegnungen mit China. Die Entdeckung Ostasiens im Mittelalter (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 15), Sigmaringen 1992; DERS., Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter, Stuttgart 2001.
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zu, sich den Texten und ihren impliziten Besonderheiten ohne zusätzliche Einschränkungen, welche die „doppelte Theoriebindung“ nach Johannes Fried einem Mittelalterhistoriker ohnehin abfordert,21 zu nähern. Erschwerend kommt noch hinzu, daß die meisten theoretischen Überlegungen zur Fremdheit, und seien sie auch von Mediävisten angestellt, von modernen Gesellschaften, ihren spezifischen, nicht selten urbanen Modalitäten ausgehen und vergessen, daß mittelalterliche Gesellschaften weder mit solchen noch mit den ‚face-to-face‘ Stammesgesellschaften in der Gegenwart, die lange Zeit vor allem von Ethnologen als Modelle von „Urgesellschaften“ betrachtet und untersucht wurden, viel gemeinsam haben.22 Das Problem einer geeigneten Definition von Fremden im Mittelalter spricht u.a. Christian Lübke an und versucht, einer Lösung des Problems näherzukommen, indem er für eine Kombination von mehreren Ebenen von Fremdheit plädiert, die die Realien und Mechanismen mittelalterlicher Gesellschaften geeigneter abzubilden vermag: Es handelt sich dabei um eine „Erweiterung der Kategorie der ethnisch und anthropo-morphologisch Fremden durch den (sozialen) Aspekt der Externität, die geographisch [...] oder rechtlich begründet sein kann.“23 Gleichwohl räumt Lübke vernünftigerweise ein, damit nicht „die Fremdheit an sich“ umschreiben zu können, sondern lediglich eine Arbeitsgrundlage für seine Untersuchungen geschaffen zu haben. Mit anderen Worten, dem mittelalterlichen Fremdheitsphänomen kann man nicht mit fertigen, modernen Theorien oder Modellen beikommen, sondern man sollte sich erstens auf die Daten einlassen, die uns die mittelalterlichen Autoren in ihren Texten liefern, und zweitens daraus eine geeignete Arbeitsmethode und -definition zusammenstellen, die der jeweiligen Fragestellung und den zur Verfügung stehenden Quellen gerecht wird.24 21 Johannes FRIED, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im frühen Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. v. Jürgen MIETHKE u. Klaus SCHREINER, Sigmaringen 1994, S. 73-104. 22 Zusammenfassend dazu vgl. Hans-Werner GOETZ, „Fremdheit“ im früheren Mittelalter, in: Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken, hg. v. Peter AUFGEBAUER u. Christine VAN DEN HEUVEL (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 232), Hannover 2006, S. 245-265, bes. S. 245-250. 23 Christian LÜBKE, Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten Gesellschaften (9.-11. Jahrhundert) (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart 23), Köln-Weimar-Wien 2001, S. 110. 24 Vgl. z.B. The Stranger in Medieval Society, hg. v. Frank Ronald P. AKEHURST u. Stephanie CAIN VAN D’ELDEN (Medieval Cultures 12), Minneapolis, MN-London 1998; Volker SCIOR, Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 4), Berlin 2002; Meeting the Foreign in the Middle Ages, hg. v. Albrecht CLASSEN, New York-London 2002; David FRAESDORFF, Der barbarische
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2. Methodische Vorgehensweise – Fremde und Andere in mittelalterlicher Historiographie Die dargestellten methodischen Schwierigkeiten, aber auch die Polysemie25 des Fremdheitsbegriffes machen es so schwierig, aus schriftlichen Zeugnissen, die bei der Erforschung der Vergangenheit in erster Linie zur Verfügung stehen, auf diejenige Ebene der Texte zu schließen, in der die Denk-, Verständnis- und Mentalitätsstrukturen sichtbar werden, die den Autoren jener Texte eigen waren. Hier begriffsgeschichtliche Methoden anzuwenden gestaltet sich deshalb in vielen Fällen als nützlich, aber nicht ausreichend. Es finden sich nur wenige Textstellen, zumal in Chroniken des Hochmittelalters, in denen ‚fremd‘, ‚Fremde‘ oder ‚Fremdheit‘ als Begriffe thematisiert, geschweige denn ihre Bedeutung erklärt wird. Um dieser Unzulänglichkeit zu entgehen, müssen wir unser methodisches Suchinstrumentarium modifizieren. In der vorliegenden Studie soll daher der Versuch unternommen werden, eine taugliche Untersuchungsmethode zu finden und sie an Brunos von Merseburg Saxonicum Bellum zu erproben. Der Ausgangspunkt wird dabei sein, mittelalterliche Texte nicht auf moderne Theorien hin zu untersuchen, oder in ihnen unsere fertigen Fremdheitskonzepte wiederfinden zu wollen, sondern, umgekehrt, nach gegebenenfalls vorhandenen Fremdheitskategorien eines mittelalterlichen Autors zu suchen und diese zu bestimmen, um daraus die mittelalterlichen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremdheit herausarbeiten zu können.26 Um sich also den mittelalterli-
Norden. Vorstellungen und Fremdheitskategorien bei Rimbert, Thietmar von Merseburg, Adam von Bremen und Helmold von Bosau (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 5), Berlin 2005. Einen komparatistischen Ansatz versuchte in seiner Dissertation auch Andreas MOHR, Das Wissen über die Anderen. Zur Darstellung fremder Völker in den fränkischen Quellen der Karolingerzeit (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 7), Münster-New York-München-Berlin 2005, ohne jedoch eine Definition für bzw. Reflexion über die von ihm durchgehend synonym verwendeten Begriffe „Fremde“ und „Andere“ zu liefern. 25 WALDENFELS (wie Anm. 13), S. 112; so auch MÜNKLER u. LADWIG (wie Anm. 14), S. 22. Daß die Bezeichnung ‚Polysemie‘ in vielen Fällen eher ein Euphemismus ist, zeigt die weitverbreitete Tatsache, daß eine genauere Definition des zu untersuchenden Phänomens ‚Fremdheit‘ in der Forschung (zumal in der Geschichtswissenschaft) nicht einmal versucht wird. In den meisten Fällen wird das Verständnis davon, was der jeweilige Autor mit Fremdheit meint, wortlos vorausgesetzt, was beim Leser nicht selten den Eindruck von einem nicht nur vieldeutigen, sondern gar schwammigen Begriff hinterläßt. 26 Dabei beziehe ich mich auf die theoretischen Überlegungen zu mittelalterlichen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von Hans-Werner GOETZ, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: Wahrnehmungsund Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut BLEUMER u. Steffen PATZOLD (Das Mittelalter. Perspektiven interdisziplinärer Mittelalterforschung 8), Berlin 2003, S. 23-33, sowie von Hartmut BLEUMER u. Steffen PATZOLD, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittelalters, in: ebd., S. 4-20, bes. S. 6f.,
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chen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern in bezug auf Fremde nähern zu können, gilt es zum einen, begriffsgeschichtlich vorzugehen. Dabei werden diejenigen Wörter in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt, die von den mittelalterlichen Autoren in ihren Texten für die Bezeichnung von Fremden benutzt wurden. Doch bereits diese Herangehensweise birgt Probleme in sich. Die Wörter nämlich, die von den Autoren in ihrer Schriftsprache Latein benutzt wurden, sind genauso wenig eindeutig wie ihre Übersetzungen in moderne Sprachen. Anders ausgedrückt, die lateinischen Autoren kannten mehrere, sprachgeschichtlich in ihren Bedeutungen unterschiedliche Wörter, die heute vereinfachend als lateinische Entsprechungen für ‚fremd‘ oder ‚Fremder‘ betrachtet werden, jedoch jeweils eine bestimmte Facette des zu bezeichnenden Zustands unterstrichen. Auch wenn Wörter wie alienigena, advenus, peregrinus, extraneus etc. heute meist vereinfachend mit ‚Fremder‘ übersetzt werden, können ihnen ihre unterschiedlichen Bedeutungen nicht abgesprochen werden.27 Da wir den mittelalterlichen Autoren nicht unterstellen können, jenen Wörtern genau den gleichen Abstraktionsgrad zukommen zu lassen, wie wir es in modernen Sprachen, beeinflußt von modernen Theorien, tun, dürfen wir die Vieldeutigkeiten der in ihren Texten nachgewiesenen Wörter nicht unbeachtet lassen. Doch damit sind die Schwierigkeiten, die eine Untersuchung von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von Fremden in mittelalterlichen Texten mit sich bringt, noch lange nicht ausgeräumt: Andere Gruppen, die in den Texten als von den Autoren wahrgenommen entweder erwähnt oder ausführlich beschrieben wurden, sind nicht automatisch Fremde – sie so zu kategorisieren hieße erneut, moderne Maßstäbe an mittelalterliche Überlieferung zu legen, ohne klären zu können, ob diese Kategorien tatsächlich auch so von den Verfassern des schriftlichen Untersuchungsmaterials beabsichtigt und stillschweigend angewendet wurden. Auch auf die Gefahr hin, eine Selbstverständlichkeit feststellen zu müssen, kann hier nicht anders als angemerkt werden, daß die Urheber der Texte zu ihren Absichten oder Hintergedanken, also dem, was nicht vordergründig in ihren Werken dokumentiert ist, nicht mehr befragt werden können. Um dieses unlösbare Problem zu umgehen, werden im folgenden alle Gruppen, die als zusammenhängende und zusammengehörende Einheiten von Bruno in seinem ‚Sachsenkrieg‘ wahrgenommen und als mit der Eigengruppe nicht identisch gedeutet wurden, als ‚Andere‘ bezeichnet. Damit werden die Eigenschaften von Nicht-Zugehörigkeit und Verschiedenheit anderer Gruppen von der eigenen (welche das ist/sind, wird noch zu klären sein) beschrieben, ohne ihnen zwangsläufig das doch so schwer definierbare Prädikat von Fremdheit aufzustempeln, wenn es ihnen nicht von Bruno selbst explizit verliehen wurde. Im folgenden gilt es also zunächst festzustellen, ob Wörter für ‚Fremde‘ als solche von Bruno von Merseburg benutzt und thematisiert werden und, wenn 14f., und Steffen PATZOLD, Wahrnehmen und Wissen. Christen und „Heiden“ an den Grenzen des Frankenreichs im 8. und 9. Jahrhundert, in: ebd., S. 83-106, bes. S. 85. 27 Vgl. dazu GOETZ (wie Anm. 22), S. 253ff.
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dies der Fall ist, genauer zu untersuchen, um welche Wörter mit welchen Bedeutungsnuancen es sich dabei vornehmlich handelt. Als nächstes werden Nennungen von Individuen oder Gruppen in Brunos Text unter die Lupe genommen, die als von dem Kleriker als Andere einstuft gelten können, da sie in seinen Ausführungen mehr oder weniger klar als nicht zu seiner Eigengruppe zugehörig gekennzeichnet wurden. Daß es sich bei der Eigengruppe nicht nur um die Sachsen handeln muß, soll ebenfalls diskutiert werden.
3. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremden und Anderen in Brunos ‚Sachsenkrieg‘ 3.1. Explizite Nennungen von Fremden Wenden wir uns also zunächst Passagen im Saxonicum Bellum zu, in denen ausdrücklich von Fremden die Rede ist. Um wen handelt es sich dabei? Unterscheiden sich diese Fremden stark voneinander, oder teilen sie eher Gemeinsamkeiten? Bietet uns Bruno detaillierte Beschreibungen dieser Fremden, oder handelt es sich bei ihnen eher um schemenhafte, nicht weiter spezifizierte „Skizzen“? Wie werden sie vom Autor dargestellt und charakterisiert, mit welcher/n Wertung(en) versehen? Schon in der ersten Erwähnung von „fremden (bzw. auswärtigen) Völkern“ (nationes exterae)28 begegnen wir einer ablehnenden Grundhaltung des Verfassers Fremden gegenüber: Als der junge König Heinrich IV. seine Burgenbautätigkeit auf Sachsen ausweitete und der zuerst erbauten Harzburg zahlreiche weitere Befestigungsanlagen hinzufügte, ahnten die sächsischen Landsleute Brunos (nostrates)29 noch nicht, daß dies in erster Linie Gefahr für sie selbst bedeutete, und unterstützten Heinrich sogar bei seinem Vorhaben. Doch statt die Burgen als Stützpunkte gegen „Heiden“30 (contra paganos)31 zu nutzen, was in Brunos Augen aus Heinrich einen wahrhaft Heiligen gemacht hätte, und sie, wie die Sachsen zunächst erhofften, gegen besagte nationes exterae kriegerisch zu verwenden, gingen die landfremden,32 da meist schwäbischen Burgbesatzungen sodann auf 28 ‚Saxonicum bellum‘ 16, S. 23, Z. 13. 29 Ebd., Z. 10. 30 Da das Wort „Heide“ als Übersetzung für den Quellenbegriff paganus kein wertfreier, sondern ein abwertender Ausdruck von Ausgrenzung ist, der der jüdisch-christlichen religiösen Polemik entstammt, wird er hier in Anführungszeichen verwendet. Vgl. dazu Hubert CANCIK, Art. Heidentum, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 3, S. 64-66 sowie Hubert MOHR, Art. Heiden, in: Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien 2, S. 10f. Zum Gegensatzpaar „Heiden“-Christen als asymmetrische Gegenbegriffe vgl. Reinhart KOSELLECK, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 757), Frankfurt/M. 1989, S. 229-241. 31 ‚Saxonicum bellum‘ 16, S. 23, Z. 8. 32 Als solche (landfremd) werden sie an dieser Stelle von Bruno jedoch nicht bezeichnet, sondern nur als Burgbesatzungen Heinrichs. Es lag Bruno also nichts daran, sie hier (aus-
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Raubzüge in die umliegenden sächsischen Siedlungen.33 „Fremde Völker“ werden hier im weitesten Sinne und negativ konnotiert mit „Heiden“ gleichgesetzt, jedoch nicht ausschließlich. Zu ihren Hauptmerkmalen rechnen zum einen ihre geographische Lage außerhalb (exter) des „Zentrums“, das hier mit dem (ost)sächsischen Gebiet gleichzustellen ist, und zum anderen ihre feindliche Einstellung dem gesamten Reich gegenüber, da sie zu bekämpfen sowohl den Sachsen als auch König Heinrich laut Bruno zugute käme. Gleichwohl impliziert der Begriff auch eine starke soziale Komponente, indem er durch räumliche Entfernung und feindselige Grundeinstellung den ‚Unsrigen‘ gegenüber auf soziale Nicht-Zugehörigkeit und Ausgeschlossenheit hinweist. Darüber hinaus ist an dem Beispiel das von Fremdheitsforschern wie Simmel oder Bauman hervorgehobene Verhältnis zwischen Nähe und Ferne zu erkennen,34 das die Wahrnehmung und anschließend die Deutung von Fremden erst möglich macht: Die Sachsen wissen von der Existenz fremder, nichtchristlicher Völker in ihrer weiteren Umgebung, weil sie mit diesen Völkern immer wieder in (größtenteils kriegerische) Kontakte und Auseinandersetzungen geraten. Anzumerken ist noch, daß die räumliche Entfernung allein, die der Begriff exter zunächst suggerieren könnte, nicht zwangsläufig dem Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremdheit entspricht. Natürlich gab es auch in mittelalterlichen Gesellschaften Menschen, die zwar von der eigenen Gruppe geographisch entfernt waren, ihr jedoch gleichzeitig als zugehörig galten. Solche Personen wurden jedoch in den meisten Fällen nicht mit dem Attribut exter versehen. Das lateinische Wort war allein zur Umschreibung derjenigen Menschen vorgesehen, mit deren räumlicher Entfernung auch eine fehlende mentale, da auf Zuschreibungen beruhende Zugehörigkeit zu der eigenen Gruppe eng zusammenhing35. drücklich) als Fremde zu etikettieren. Der Begriff „land- bzw. stammesfremd“ wurde erst in der modernen Forschung geprägt. 33 Zur landfremden Burgbesatzung in Ostsachsen vgl. u.a. Gerold MEYER VON KNONAU, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V., Bd. 2: 1070-1077, Leipzig 1894, S. 229; Lutz FENSKE, Adelsopposition und kirchliche Reformbewegung im östlichen Sachsen. Entstehung und Wirkung des sächsischen Widerstandes gegen das salische Königtum während des Investiturstreits (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 47), Göttingen 1977, S. 17, 32f.; Wolfgang GIESE, Reichsstrukturprobleme unter den Saliern – der Adel in Ostsachsen, in: Die Salier und das Reich, Bd. 1: Salier, Adel und Reichsverfassung, hg. v. Stefan WEINFURTER unter Mitarb. v. Helmuth KLUGER, Sigmaringen 1991, S. 273-308, hier S. 288; Karl LEYSER, Von sächsischen Freiheiten zur Freiheit Sachsens. Die Krise des 11. Jahrhunderts, in: Die abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich, hg. v. Johannes FRIED (Vorträge und Forschungen 39), Sigmaringen 1991, S. 67-83, hier S. 76; Sabine BORCHERT, Herzog Otto von Northeim (um 1025-1083). Reichspolitik und personelles Umfeld (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 227), Hannover 2005, S. 107f.; ALTHOFF, Heinrich IV. (wie Anm. 3), S. 92. 34 Vgl. o. Kap. I.1. 35 So SCIOR (wie Anm. 24), S. 18f.
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Doch es gibt weitere Facetten in den hier zu erforschenden Wahrnehmungsund Deutungsmustern von Fremden. Diese können nämlich auch als reale Gefährdung für die Existenz eines Individuums oder einer Gruppe angesehen werden, wie es uns Bruno in der Ansprache Ottos von Northeim auf dem Stammestag der Sachsen in Hoetensleben klarzumachen versucht. In seinem Appell warnte Otto die sächsischen Krieger davor, dem unrechtmäßigen Handeln Heinrichs und seiner Burgbesatzungen widerstandslos nachzugeben, weil dieser sich dann nicht davor scheuen würde, ihnen ihren ganzen Besitz wegzunehmen und ihn an Fremde (hominibus advenis)36 abzugeben. Doch die Schreckensvision Ottos sieht noch Schlimmeres vor: König Heinrich wäre demzufolge auch dazu fähig, sächsische Männer, die bisher adlig und frei waren, an fremde, unbekannte Menschen (ignoti homines)37 abzugeben, um sie dort als Knechte dienen zu lassen. Die Sachsen sollten, ermahnte Otto, ihre Trägheit ablegen, damit weder sie noch ihre Kinder zu Knechten Fremder (exuli homines)38 werden. Auch hier ist der Grundton, in dem von Fremden die Rede ist, eindeutig negativ. Doch in dem Schreckensszenario, das Bruno uns in Ottos Rede unterbreitet, ist der Kontext, in dem von Fremden die Rede ist, nicht zufällig gewählt. Betrachten wir daher die von Bruno verwendeten Wörter etwas genauer. Bei Fremden, die unberechtigt von den Reichtümern der Sachsen profitieren könnten, handelt es sich, ähnlich wie in dem vorherigen Beispiel, unter anderem um Menschen, die sich von den ‚Unsrigen‘ in erster Linie durch ihren abweichenden Herkunftsort (advena) unterscheiden. Mit anderen Worten, es werden fremde Menschen nach Sachsen kommen, so Otto, die nicht in Sachsen geboren und beheimatet sind, und werden den nach sächsischem Verständnis rechtmäßigen Besitzern und Erben der dortigen Güter eben diese entreißen.39 Damit wird nicht nur die Befürchtung ausgesprochen, daß die Sachsen ihres gesamten Guts beraubt werden sollten, sondern diese Ungerechtigkeit wird noch zusätzlich dadurch gesteigert, daß es an dubiose „Dahergelaufene“ verschleudert wird, die, könnte man hinzufügen, dies nicht im geringsten verdient, geschweige denn rechtmäßig zuerkannt bekommen haben. Brunos Wortwahl in diesem Abschnitt des ‚Sachsenkrieges‘ ist alles andere als zufällig. Die sächsischen Großen sollten beim Anhören der Rede Ottos aufhorchen und sich das Ausmaß der Gefahren und Erniedrigungen, die ihnen von Heinrichs Seite drohten, klar vor Augen führen. Es wäre sicherlich ein schwerer Schlag für die sächsischen Adligen gewesen, wenn sie ihre Besitztümer und Ländereien ausgerechnet an Auswärtige, an Angehörige anderer Stämme verlören, die von draußen daherkommen und die Sachsen ihrer Erbgüter berauben würden. Um das bittere Maß voll zu machen, könnten dar36 37 38 39
‚Saxonicum bellum‘ 25, S. 29, Z. 18f. Ebd., Z. 19f. Ebd., Z. 34. Zur Problematik der Besitzrechte in Ostsachsen, die infolge der Regentschaft von Kaiserin Agnes (1056-1062) besonders prekär wurde, vgl. zuletzt BORCHERT (wie Anm. 33), S. 108f. und ALTHOFF, Heinrich IV. (wie Anm. 3), S. 92f.
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über hinaus, sollte Heinrichs Strategie erfolgreich sein, stolze sächsische Krieger und ihre Kinder in die Knechtschaft gegeben werden, was, wie bereits die Wortwahl nahelegt, eine generationenwährende, die sächsischen Geschlechter zugrunderichtende und in weite Zukunft reichende Schreckensvorstellung bedeute. Doch damit nicht genug: Zu ihren baldigen Herren würden nämlich laut Otto/Bruno keine anderen werden als unbekannte und zudem gemeine Menschen, da vom niederen Stand (ignotus) oder auch von ihrem Grund und Boden Losgelöste (exul = ex u. solum). Gemeint sind hier die bei den Sachsen verhaßten (meist schwäbischen) Ministerialen, eine in der salischen Zeit zunehmend wichtiger werdende Schicht der Unfreien, die dem König direkt unterstellt und mit administrativen und militärischen Aufgaben betraut war.40 Ihren Aufstieg verdankten die Ministerialen also nicht einer vornehmen Abstammung, sondern in erster Linie ihrer bedingungslosen Loyalität gegenüber dem König. Sie wurden somit, aus der Perspektive der sächsischen Großen betrachtet, aus zwei Gründen zu einer Gefahr für die Sachsen – sie waren nicht an die lokalen Herrschaftsstrukturen gebunden und hatten als unfreie Dienstleute des Königs keine Scheu davor, seine Befehle skrupellos umzusetzen. Sollte also ausgerechnet den Ministerialen des Königs die Oberhoheit über die Sachsen übertragen werden, würden die Sachsen nicht nur ihre Freiheit(en) verlieren,41 sondern, schlimmer noch, sie würden dadurch bestraft werden, daß sie von ehrlosen Unfreien unterjocht würden. Schon allein die Androhung einer solchen düsteren Zukunft sollte den Waffentragenden unter den Sachsen als Ansporn dienen, um sich mit aller Kraft vor Heinrich IV. und seinen Eingriffen auf dem sächsischen Gebiet zur Wehr zu setzen. Die beiden Unglücksfälle verstärken sich gegenseitig und tragen so rhetorisch zu einem Höhepunkt in der überlieferten Ansprache bei: Ist die Knechtschaft als solche für einen freien adligen Sachsen geradezu einem Todesurteil gleich,42 wird hier diese Strafe durch den Umstand verschärft, daß ein unbekannter, des Landes verwiesener und somit aus der Gemeinschaft ausgestoßener oder niederer Fremder zu seinem und seiner Kinder Herren werden und zugleich seine und seiner Nachkommen Freiheit und damit Adelszugehörigkeit auslöschen soll.43 Daß Fremde anscheinend mit Mißtrauen betrachtet und grundsätzlich als illoyal eingestuft wurden, illustriert eine weitere Textpassage aus Brunos ‚Sachsenkrieg‘. Darin stellten die Sachsen mehrere Bedingungen an Heinrich, die er erfüllen mußte, damit die Sachsen seine königliche Würde und Oberhoheit wie40 Ian S. ROBINSON, Henry IV of Germany 1056-1106, Cambridge 1999, S. 357. 41 Dazu vgl. v.a. LEYSER (wie Anm. 33), passim. 42 ‚Saxonicum bellum‘ 25, S. 29, Z. 28-31: Itaque non contra regem, sed contra iniustum meae libertatis ereptorem, non contra patriam, sed pro patria et pro libertate mea, quam nemo bonus nisi cum anima simul amittit, arma capio […]. 43 Bezeichnend ist, daß es sich bei der hier geschilderten Bedrohung von Fremden um Heinrich IV. und seine süddeutschen Parteigänger handelt und nicht, wie der unheilschwangere Ton der Darstellung nahelegen könnte, um ‚irgendwelche wilden Barbarenhorden‘.
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der anerkannten. Eine der Bedingungen sah vor, daß Heinrich keinen Fremden (homo extraneae gentis)44 als Berater bei sächsischen Angelegenheiten heranziehen durfte. Auch hier spielt der geographisch/räumliche Aspekt (extraneus) des Fremdseins eine bedeutende Rolle und bildet gleichzeitig den Gegensatz zu den betroffenen Sachsen: Menschen auswärtiger, fremder Völker können keine guten Berater im sächsischen Sinne sein, sobald es um sächsische Angelegenheiten geht; als Alternative für den königlichen Beraterposten würden die Sachsen wohl nur einen Angehörigen des eigenen Volkes gutheißen. Gleichzeitig deutet die Formulierung homo extraneae gentis deutlich auf den hier entscheidenden politischen Aspekt des Fremdseins, da es den Sachsen offenkundig besonders wichtig war, daß keine Angehörigen anderer politischer Verbände (gentes) über die sächsischen Geschicke mitentscheiden sollten.45 Ganz deutlich wird an dieser Stelle außerdem erkennbar, daß die Sachsen den Angehörigen anderer innerdeutscher Stämme kein ausreichendes Vertrauen aussprachen, zumindest in bezug auf politische Entscheidungen, die die Sachsen betreffen sollten. Die sächsischen Fürsten, die seit der Mitte des 11. Jahrhunderts verstärkt auf größere Unabhängigkeit vom König drangen, pochten nun auf ihre angestammten Herrschafts- und Mitspracherechte:46 Sie duldeten daher keine Einmischung von außen in die innersächsischen Angelegenheiten, was Bruno von Merseburg in seinem Werk mehr als deutlich macht. In Anbetracht der vorangegangenen Beispiele wirkt es alles andere als überraschend, daß Fremde bei Bruno zudem auch als Eindringlinge, ungebetene Gäste dargestellt werden, zumal wenn aus sächsischer Perspektive betrachtet. In dem hier zu schildernden Fall handelt es sich zwar oberflächlich um eine positive und konstruktive Beurteilung von Fremden, die der Kleriker König Heinrich in den Mund legte: Danach sei Sachsen nach der verheerenden Schlacht bei Mellrichstadt so verwüstet und entvölkert worden, daß die sächsische Erde zur Wüste und den wilden Tieren des Waldes zur Wohnung würde, wenn nicht fremde Völker (gentes exterae)47 kämen, um den Acker zu bebauen. Doch diese zunächst wohlwollend anmutende Einstellung des Königs gegenüber dem geschundenen Land war, so Brunos Interpretation, nur Schein. Heinrichs hinterhältiger Plan sah nämlich vor, auf diese Weise sächsische Gebiete mit Hilfe dem Salier ergebener Fürsten einzunehmen, indem er vorgab, ihnen das Land zur 44 ‚Saxonicum bellum‘ 31, S. 34, Z. 15. 45 Zu gentes als politischen und ethnischen Gemeinschaften vgl. vor allem Reinhard WENSKUS, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln-Wien 21977 sowie Hans-Werner GOETZ, Gentes. Zur zeitgenössischen Terminologie und Wahrnehmung ostfränkischer Ethnogenese im 9. Jahrhundert, in: MIÖG 108, 2000, S. 85-116. 46 Vgl. dazu FENSKE (wie Anm. 33), S. 34; GIESE (wie Anm. 33), S. 292f.; BORCHERT (wie Anm. 33), S. 104f.; ALTHOFF, Heinrich IV. (wie Anm. 3), S. 92-95; SCHUBERT (wie Anm. 4), S. 283; Stefan WEINFURTER, Das Jahrhundert der Salier (1024-1125), Ostfildern 2004, S. 139. 47 ‚Saxonicum bellum‘ 103, S. 92, Z. 8.
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Besiedlung freizugeben. Aus Brunos Sicht war dies ein erneuter Gewaltakt gegen die sächsische Freiheit, wobei die fremden Siedler aus sächsischer Perspektive nicht als „Aufbauhelfer“, sondern als ungewollte Fremdlinge gesehen wurden, die die rechtmäßigen Bewohner Sachsens, seien es Fürsten, Edle oder freie Bauern, aus ihren angestammten Gebieten vertreiben, damit anschließend Heinrich IV. seine wahren Pläne verwirklichen und ganz Ostsachsen in das übrige Reichsgebiet eingliedern kann. Versucht man nun die unterschiedlichen expliziten Nennungen von Fremden bei Bruno zusammenzufassen, kommt man zu folgenden Ergebnissen: Fremde leben außerhalb eigener bekannter Gebiete (exter = außen, jenseits) oder kommen daher (advenus von advenire = ankommen), um den ‚Unsrigen‘ mit feindlichen Absichten gegenüberzutreten. Sie können mit „Heiden“ identisch sein, doch auch andere Christen können als fremd betrachtet werden. Selbst andere Bewohner des Reiches, mit denen die Sachsen nicht nur die deutsche Sprache teilen, können in bestimmten Situationen als fremd eingestuft werden, sobald sie zur Bedrohung werden (homo extraneae gentis, gentes exterae). In solchen Fällen wird gerade ihre Nichtzugehörigkeit zum eigenen Gebiet, da von außen herstammend, hervorgehoben (extraneus, exter). Entscheidend dabei ist ihre politische Verankerung bzw. ihre (fehlende) Loyalität gegenüber dem Stamm der Sachsen (gens). Trachten sie zudem nach dem Besitz und dem Gebiet der Sachsen, werden sie von Bruno mit diffamierenden Attributen „ausgeschmückt“: Denn bei denjenigen, die die Freiheiten der Sachsen ausrotten wollen, kann es sich nur um Ausgestoßene, Vertriebene (exul von solum = Boden) oder Niedrige (ignotus) handeln, die den Sachsen weder rechtlich noch moralisch gewachsen sind.
3.2. Nennungen von Anderen Wenden wir uns nun denjenigen Textstellen in Brunos ‚Sachsenkrieg‘ zu, in denen Andere nicht ausschließlich als ‚Fremde‘ klassifiziert, nichtsdestoweniger von Eigenen (indirekt) abgegrenzt werden. Um aber Andere zu identifizieren, die Bruno in seinem Werk behandelt, muß zuerst festgestellt werden, was ‚das Eigene‘, wer die ‚Unsrigen‘ bei Bruno sind.48 Erst in Abgrenzung zu den WirGruppen in Brunos Text können die Nichtzugehörigen, Unbekannten oder Feindlichen definiert werden. Zunächst gilt es also zu fragen, zu welchen Gemeinschaften oder Gruppen sich der Kleriker Bruno selbst rechnete. Freilich muß an dieser Stelle angemerkt werden, daß die folgende Aufzählung von Brunos unterschiedlichen Gruppenzugehörigkeiten weitestgehend auf Ableitungen basieren kann, die aus der Analyse des ‚Sachsenkriegs‘ selbst resultieren. Zuallererst war Bruno ein Geistlicher. Für diese Annahme spricht zum einen die allgemein bekannte Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit mittelalterli48 Zum Wir-Gefühl in Brunos ‚Sachsenkrieg‘ vgl. vor allem EGGERT (wie Anm. 2), S. 154ff.
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cher Autoren aufgrund der auf Kloster- und Domschulen beschränkten Bildungs- und Studiumsmöglichkeiten dem geistlichen ordo angehörten,49 und zum anderen die Hinweise, die uns Bruno in seinem Werk vielfach gibt, indem er sich als treuen Diener zunächst des Erzbischofs Werner von Magdeburg und später des Bischofs Werner von Merseburg darstellt.50 Daraus ist mit einiger Sicherheit zu folgern, daß diese soziale Schicht Bruno wohl bekannt war und daß er sich mit dem geistlichen Stand stark identifizieren konnte. Doch nicht nur das: natürlich war Bruno ein christlicher Geistlicher, was ihn zum Angehörigen der universitas christiana machte. Unzählige Belege gibt es in seinem Werk, die diese Annahme zu einer handfesten Tatsache machen; hier zu erwähnen wäre als ein Beispiel das von Bruno bereits in seinem Prolog angesprochene Vertrauen auf göttliche Barmherzigkeit, das mit entsprechenden Bibelzitaten untermauert wird.51 Nicht zuletzt zählte Bruno zu der geistigen und sozialen Elite seiner Zeit, was auch aus seiner freien Abkunft resultierte, und ihm eine weitere Identifikationsmöglichkeit bereitete. Auch hierfür spricht seine Nähe zu den führenden Klerikern Sachsens. Ferner ist Brunos eindeutige und wie selbstverständliche Identifikation mit der (sächsischen) Oberschicht in seiner Darstellung des Sachsenkrieges nicht anders zu deuten.52 Doch zugleich war Bruno selbstverständlich auch ein Sachse, wie bereits mehrfach angesprochen. Gut erkennbar wird dies an Textstellen, die das sächsische Gebiet als „unser“ Gebiet53 bzw. dessen Bewohner als „wir“ apostrophieren.54 Auch diese Gruppen49 Dazu z.B. Franz-Josef SCHMALE, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Eine Einführung. Mit einem Beitr. v. Hans-Werner GOETZ, Darmstadt 21993, S. 90f.; Herbert ZIELINSKI, Domschulen und Klosterschulen als Stätten der Bildung und Ausbildung, in: Canossa 1077 – Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik. Katalog in 2 Teilbdn. zur Ausstellung in Paderborn, Bd. 1: Essays, hg. v. Christoph STIEGEMANN u. Matthias WEMHOFF, München 2006, S. 175-181, hier S. 175. 50 Siehe beispielsweise ‚Saxonicum bellum‘ 38, S. 39, Z. 22-25: Cuius partem crustae panis insertam catulo dari praecepit; eumque sine mora mori vidimus et, quia episcopus talem medicinam non gustaverat, laetati sumus; ebd. prol., S. 12, Z. 2-5: Domino suo dilectissimo, numquam sine pia veneratione nominando, Werinhero sanctae Merseburgensis ecclesiae praesuli venerando Bruno, licet perexigua suae tamen familiae portio, quicquid valet hominis utriusque devotio. 51 Ebd. S. 13, Z. 3-9: Quod cum sui magnitudine, tum misericordia Dei, quam in ipso bello experti sumus, est memorabile, sicut in sequentibus, si quis legere dignabitur, poterit agnoscere. Sic enim in flagello vino severitatis oleum pietatis admiscuit, ut et prophetam vera locutum esse gaudentes agnosceremus: Cum iratus fueris, misericordiae recordaberis, et apostolum: Fidelis Deus, qui non permittet vos temptari super id, quod potestis. 52 Vgl. dazu u. Anm. 76. 53 ‚Saxonicum bellum‘ 34, S. 36, Z. 26-29: Fertur vero a finibus nostris discedens cum iuramento dixisse, quod numquam vellet amplius in Saxoniam redire, nisi prius eam virtutem contraxisset, qua posset in Saxonia facere, quicquid sibi libuisset. 54 Ebd. 32, S. 34, Z. 27-33: Eodem tamen tempore maximam circa nos clementiam Dei cognovimus, quam numquam tradere oblivioni debemus. Nam cum tanta esset hiemis asperitas, ut omnes fluvii vel paludes transire volentibus iter terrestre praeberent et cum, viris omnibus contra regem congregatis, solae
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zugehörigkeit stellte eine klare Identifikationsebene für ihn dar. Daneben gehörte Bruno der Partei der Antiheinricianer an, und er war ein glühender Befürworter der Sachsenaufstände gegen den Salier.55 In seinem Werk unterschied er ausdrücklich zwischen sächsischen Gesinnungsgenossen des Saliers und dessen entschiedenen Gegnern, wobei die Grenze nicht selten, so Bruno, innerhalb von Familien verlief. Folglich rechnete Bruno diejenigen der sächsischen Großen, die für König Heinrich waren, nicht zu den Seinen.56 Wollten wir unsere Überlegungen über die vielfältigen Gruppenzugehörigkeiten Brunos weiterspinnen, könnten wir zudem annehmen, daß Bruno trotz der Konflikte mit dem salischen König darüber hinaus auch ein Reichsangehöriger war, weshalb er diejenigen, die nicht zum Reich gehörten, als Andere wahrnehmen müßte. Damit würden wir jedoch Gefahr laufen, unsere (modernen) Vorstellungen auf den Autor zu projizieren, die so nicht zu beweisen sind, da für diese Annahme eindeutige Belege in seinem Werk fehlen. Aus dieser kurzen Zusammenstellung kann bereits auf Andere geschlossen werden, von denen Bruno in seinem Werk berichtet und deren Alterität ihm durchaus bewußt sein mußte. In seinem Text stoßen wir sogleich auf eine Stelle, in der von einem „gewissen Slawen“ (Sclavus quidam)57 berichtet wird. Dieser soll einen in Ungnade gefallenen Vertrauten des jungen Königs Heinrich nach Rußland begleitet und einen Brief an den russischen König mitgeführt haben, in dem Heinrichs Anweisung an den dortigen Herrscher dokumentiert war, den Gesandten entweder gefangenzunehmen oder zu töten, um so seine Rückkehr ins Reich zu vereiteln. Der namenlose Slawe, eine laut Bruno vilis persona, ließ mulieres cum parvulis domi relictae fuissent, pagani nobis semper infesti totam Saxoniam mulieribus et parvulis abductis poterant in cinerem convertere […]. 55 Zu den Sachsenaufständen vgl. exemplarisch KOST (wie Anm. 3), passim; FENSKE (wie Anm. 33), passim; Wolfgang GIESE, Der Stamm der Sachsen und das Reich in ottonischer und salischer Zeit. Studien zum Einfluß des Sachsenstammes auf die politische Geschichte des deutschen Reiches im 10. und 11. Jahrhundert und zu ihrer Stellung im Reichsgefüge mit einem Ausblick auf das 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1979, S. 148ff.; Karl LEYSER, Gregory VII and the Saxons, in: DERS., Communications and Power in Medieval Europe, Bd. 2: The Gregorian Revolution and beyond, hg. v. Timothy REUTER, London 1994, S. 69-75; Monika SUCHAN, Königsherrschaft im Streit. Konfliktaustragung in der Regierungszeit Heinrichs IV. zwischen Gewalt, Gespräch und Schriftlichkeit (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 42), Stuttgart 1997, S. 61ff.; SCHUBERT (wie Anm. 4), S. 263-304; ALTHOFF, Heinrich IV. (wie Anm. 3), S. 86ff.; Matthias BECHER, Die Auseinandersetzung Heinrichs IV. mit den Sachsen. Freiheitskampf oder Adelsrevolte?, in: Vom Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert – Positionen der Forschung, hg. v. Jörg JARNUT u. Matthias WEMHOFF (MittelalterStudien 13), München 2006, S. 357-378. 56 ‚Saxonicum bellum‘ 37, S. 39, Z. 5-11: Inde factum est, ut in nostra parte pater, in adversa filius esset, hinc frater unus, illinc staret alius. Multi etiam de maioribus, qui bona in utrisque regionibus habebant, ut utraque servarent, sponte sua hic relicto filio sive fratre ad regem transibant, vel ipsi hic remanentes fratres vel filios ad regem transmittebant. Plerosque militaris ordinis ad se eodem modo vocabat, et prout cuiusque animum cognoscebat, minis sive promissionibus ad bellum civile sollicitabat. 57 Ebd. 13, S. 21, Z. 3.
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sich dazu überreden, den Brief an den früheren Vertrauten Heinrichs zu übergeben, und so scheiterte der üble Plan des jungen Königs. Bezeichnend ist in dieser Episode, daß zwar der größte Schurke, der die Fäden des hier beschriebenen Komplotts im Hintergrund zog, eigentlich Brunos Hauptantagonist Heinrich war, doch auch seine wertlosen und niederen (vilis) Helfer sind offenbar aus dem gleichen Holz geschnitzt: Nicht nur, daß der Slawe in Diensten des niederträchtigen Königs stand, er war auch so nichtswürdig, seine angebliche Loyalität gegenüber seinem Herren auf der Stelle zu vergessen, sobald ein anderer ihn dazu aufforderte. Dies machte in Brunos Augen aus dem slawischen einen doppelten (moralischen) Halunken. Ob sich hiervon ein bestimmtes negatives Slawenbild Brunos ableiten läßt, ist nicht ohne weiteres zu erkennen. Festzustellen ist aber, daß Bruno die Bezeichnung Sclavus quidam sicherlich nicht grundlos benutzte; zumindest kann angemerkt werden, daß die (gentes-) Bezeichnung Sclavus Bruno durchaus geläufig war und also auch die Slawen als eine Gemeinschaft von Anderen im Sinne von „nicht zu uns gehörig“ von ihm wahrgenommen wurden. Daß es in Brunos Wahrnehmungshorizont auch andere Völker (gentes) gab, zeigt eine Textstelle in seinem Buch, in der die vergeblichen Versuche Heinrichs geschildert werden, die umliegenden Völker (omnes circumquaque gentes)58 seines Reiches gegen die Sachsen zu mobilisieren. Dabei werden sowohl die (christlichen) Herrscher der anderen Reiche aufgelistet wie der Böhmenherzog Vratislav, der von Bruno nicht namentlich genannte Dänenkönig Sven Estridsen, Philipp, der (geschwächte) König des Lateinischen Frankens, Wilhelm, König des englischen Volkes oder Wilhelm von Poitou, Heinrichs Onkel. Mit ihnen in einem Atemzug werden die „heidnischen“ Liutizen genannt, die, aus moderner Perspektive betrachtet, auf den ersten Blick in diese Auflistung nicht hineinpassen, da sie als polytheistische, also nichtchristliche und allein dadurch verdammenswerte „Heiden“ kaum den zeitgenössischen christlichen, zumeist gottesfürchtigen Herrschern gleichgestellt werden dürften. Doch für Bruno ging es hier um mindestens zwei Sachverhalte: Erstens zählte er die umliegenden Völker des Reiches auf, die als militärische Macht für Heinrich von Gewicht sein könnten, also auch die Liutizen; zweitens, wenn auch indirekt, konnte Bruno dadurch Heinrich erneut desavouieren, indem er ihn mit potentiellen Verbündeten in Verbindung brachte, die keine Christen waren. Es kann nicht deutlich genug unterstrichen werden, daß der Gegensatz „Heiden“-Christen für Bruno eine zentrale Rolle spielte. Der Begriff pagani (und dessen gemeingermanische Entsprechung Heiden) wurde im Mittelalter zum „Ausgrenzungsschlagwort des christlichen Europas schlechthin.“59 Auch im Werk Brunos können wir diese abwertende Funktion der Bezeichnung beobachten. „Heiden“ als nicht näher identifizierte Horden von Nicht-Christen werden von ihm hin und wieder in den Erzählstrang eingewoben, in den meisten Fällen 58 Ebd. 36, S. 37, Z. 34. 59 So MOHR (wie Anm. 30), S. 11.
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jedoch nur, um das Grauen der geschilderten Begebenheiten noch stärker herauszustreichen. So hätten pagani, die alten Feinde der Sachsen (nobis semper infesti)60, im kalten Winter 1074 es leicht gehabt, sächsische Siedlungen über betretbare Flüsse und Sümpfe anzugreifen und in Asche zu legen, doch Gott bewahrte die Sachsen vor einer sicheren Katastrophe, indem er die „Heiden“ ihre angeborene Grausamkeit (genuina crudelitas)61 vergessen und innerhalb ihrer Grenzen in Ruhe ausharren ließ. Die feindliche Einstellung der „Heiden“ gegenüber Christen und Sachsen zugleich, was auf eine doppelte Abgrenzung hinweist, scheint eine Grundkonstante in der Vorstellung Brunos zu sein. Aus der oben angesprochenen Rede Ottos von Northeim gegen die „Burgenbauwut“ Heinrichs, der zufolge die Befestigungen nicht gegen Sachsen, sondern gegen „Heiden“ oder fremde Völker errichtet werden sollten, geht eindeutig hervor, daß es in Brunos Augen die Notwendigkeit der Verteidigung gegen die „Heiden“ gab. Das Verhältnis zu den pagani war demnach kaum differenziert, sondern vornehmlich durch Ablehnung, Feindseligkeit und Abwehr geprägt. Das ausgesprochen negative Wahrnehmungsmuster in bezug auf die „Heiden“ wird auch an jenen Stellen des ‚Sachsenkriegs‘ erkennbar, in denen nicht von leibhaftigen polytheistischen Nichtchristen die Rede ist, sondern in denen es ausreicht, seine Gegner als „Heiden“ zu bezeichnen, um sie auf diese Weise zu diffamieren. Bezeichnenderweise bedienen sich beide gegnerischen Seiten dieser Methode, sowohl die Sachsen in bezug auf Heinrich als auch der König im Hinblick auf seine sächsischen Widersacher. So beklagte sich Heinrich laut Bruno vor der Versammlung rheinfränkischer Fürsten über die Sachsen, sie hätten nicht nur die von Heinrich freigegebenen Burgen zerstört, sondern darüber hinaus ein geweihtes Stift verwüstet, ausgeplündert und entweiht, weswegen sie schlimmer seien als die „Heiden“ (paganis omnibus crudeliores)62. Überdies könne man die Sachsen nicht als Christen bezeichnen, weil sie mit ihren Verbrechen zeigten, daß sie Christus weder achteten noch fürchteten.63 Doch aus der Sicht des sächsischen Autors stand das Heer Heinrichs in Hinblick auf wildes, unzivilisiertes Wüten den Sachsen in nichts nach, im Gegenteil, ihre Gewalttätigkeiten und Greuel überstiegen geradezu alle christlichen Vorstellungen. Nach der Schlacht bei Behringen, die Heinrich für sich entscheiden konnte, rückte er nämlich zum großen Leidwesen der Sachsen mit seinem Heer ins sächsische Gebiet ein, wo Heinrichs Krieger grausamer wüteten, so Bruno, als pagani. Sie hätten, berichtet der Autor, sächsische Frauen bis in die Kirchen verfolgt, wohin sie vor ihnen zu flüchten versuchten, um sie dort wie die Barbaren (barbaro more)64 zu schänden, und anschließend zusammen mit den Kirchen zu verbren60 61 62 63
‚Saxonicum bellum‘ 32, S. 34, Z. 32. Ebd., S. 35, Z. 1. Ebd. 35, S. 37, Z. 9. Ebd., Z. 18-20: Ait Saxones non dicendos esse christianos, qui, cum supradicta scelera in domo Christi facerent, se Christum nec amare nec timere monstrarent. 64 Ebd. 47, S. 46, Z. 3.
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nen.65 Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung Heinrichs kam Erzbischof Werner in seinem Brief an die Bischöfe Siegfried von Mainz und Adalbero von Würzburg, in dem er die gewaltsame und gleichzeitig unnötige Vorgehensweise des Königs gegen die Sachsen scharf verurteilte. „Nicht einmal ein Heide war je so grausam,“ zitiert Bruno seinen Erzbischof, „diejenigen, die er ohne jede Mühsal und Gefahr seiner Herrschaft unterwerfen konnte, sich nur mit Gefahr für sich und die Seinen unterwerfen zu wollen.“66 Auch hier wird also das „Heidentum“ als ein negatives Sinnbild in der Argumentation benutzt, um die auf diese Weise Attributierten durch den Vergleich zu diskreditieren. Das „Heiden“-Bild, das hinter der Rhetorik steckt, zeichnet sich nicht dadurch aus, daß es ausdifferenzierten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern des Verfassers zugrunde liegen würde. Im Gegenteil, das hier bemühte Muster ist so negativ wie einfach, so daß die Anwendung des Begriffs einer Beschimpfung der gegnerischen Seite gleich kommt. Nicht nur mit „Heiden“, auch mit Exkommunizierten setzt sich der Kleriker Bruno in seinem Werk auseinander. Wie Individuen, die mit kirchlichem Bann belegt wurden, im späten 11. Jahrhundert wahrgenommen, behandelt und in die gesellschaftliche und kirchliche Ordnung ein- bzw. aus ihr ausgegliedert wurden, können wir in Brunos ‚Buch vom Sachsenkrieg‘ ausführlich am Beispiel des exkommunizierten Königs Heinrich und seiner Anhänger nachlesen. Nachdem Papst Gregor VII. Heinrich im Jahre 1076 mit dem kirchlichen Bann belegt und ihm kurz darauf auch die Königsherrschaft über das Reich abgesprochen hatte,67 galten der Herrscher und seine Getreuen als aus der Kirchengemeinschaft (ex communione) verbannt und ausgeschlossen. Ab diesem Zeitpunkt sollten sie von der übrigen christlichen Gemeinschaft als „Gebannte und Kirchenschänder“68 erachtet werden, mit denen man keine Gemeinschaft und keinen Verkehr haben durfte.69 Da der Papst sich jedoch aus der Sicht der sächsischen Antiheinricianer inkonsequenterweise immer wieder auf Verhandlungen mit Heinrich eingelassen hatte, beschwerten sie sich darüber in mehreren Briefen an den Papst und die römische Synode.70 In einem Antwortbrief ging Gregor VII. verbal scharf gegen die Partei Heinrichs vor, auch wenn der Brief sonst keine kon65 Ebd., S. 45, Z. 28-30, u. S. 46, Z. 1-3: Si pagani nos ita vicissent, non maiorem in victos crudelitatem exercerent. Feminis nil profuit in ecclesias fugisse vel illuc suas res comportasse. Nam viri per silvas diffugerant vel ubicumque spem salutis invenire latendo potuerant. Feminas in ipsis ecclesiis, etiam si fugissent ad altare, corrumpebant, suaque libidine barbaro more completa, feminas cum ecclesiis comburebant. 66 Ebd. 48, S. 47, Z. 21-24: Nulla fuit umquam in quolibet pagano tanta crudelitas, ut, quos sine omni periculo vel labore suae dominationi subdere potuisset, non sine suo suorumque periculo sibi subicere vellet. 67 Vgl. dazu ALTHOFF, Heinrich IV. (wie Anm. 3), S. 139ff. 68 ‚Saxonicum bellum‘ 112, S. 104, Z. 2-4: utrum hi, qui ista faciunt vel consentiunt facientibus, pro excommunicatis et sacrilegis habendi sint et si vel ipsis vel ipsorum fautoribus communicandum sit. 69 Ebd., Z. 7f.: Cumque in concilio huius sanctae ecclesiae, quae semper ab excommunicatis abstinere docuit [...]. 70 Ebd. 108-112, S. 97-105.
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kreten Anhaltspunkte für die weitere Vorgehensweise der Kurie gegen den exkommunizierten König zu bieten hatte. Für uns ist jedoch in diesem Zusammenhang interessant, mit welchen Begriffen die Gebannten in Detail bezeichnet wurden: Als Feinde Gottes und Söhne des Teufels bezeichnete der Papst laut Brunos Überlieferung die Widersacher der Sachsen,71 die nichts anderes als ihre Begierden zu befriedigen und den christlichen Glauben zu vernichten suchten, indem sie das ganze Reich verwüsteten. Sie wurden daher, so der Papst bei Bruno, mit der Fessel der Exkommunikation und des Fluches gebunden, weshalb ihnen keine Hilfe zu gewähren und mit ihnen keine Gemeinschaft zu halten sei.72 Wenden wir uns einer weiteren gesellschaftlichen Gruppe des Mittelalters zu, die Bruno in seinem ‚Sachsenkrieg‘ als eine eigenständige Gruppe identifiziert, nämlich den Bauern, so stellen wir fest, daß sie von dem Autor als eine geschlossene Gruppe wahrgenommen wurden, die sich von anderen Gesellschaftsschichten durch ihre Besonderheiten und charakterlosen Eigenschaften, ja Fehler, unterschieden. Der Forschung ist die Problematik der Wahrnehmung von Bauern bzw. „Unterschichten“ aus der Sicht der schreibenden Elite nicht unbekannt: „Medieval Europeans of the upper classes, like their modern descendants, regarded rural life as appealingly simple and admirably productive, but above all as strange, a tableau populated with alien beings of a lower order“73, konstatiert Paul Freedman, und stellt zudem einen Vergleich zwischen Bauern und anderen Gruppen her in der Wahrnehmung der christlichen Elite des Mittelalters: „Some of the opprobrious language used for peasants spilled over into hostile characterizations of Jews, Muslims, heretics, lepers, and strange foreign peoples, including the fantastic ‚monstrous‘ or ‚Plinian‘ races thought to inhabit the East. All these could be regarded as unclean, dishonest, savage, or cursed, and their religious, physical, or geographic differences viewed as fearsome“.74
71 Ebd. 113, S. 105, Z. 26: inimici Dei et filii diaboli. 72 Ebd., Z. 25-32: Sed quia pervenit ad nos, quod inimici Dei et filii diaboli quidam apud vos contra interdictum apostolicae sedis praedictum conventum procurent in irritum ducere et non iustitia, sed superbia ac totius regni desolatione suas cupiditates anhelent implere et christianam religionem destruere, monemus vos et ex parte beati Petri praecipimus, ut talibus nullum auxilium praebeatis neque illis communicetis. In praedicta enim synodo iam omnes excommunicationis et anathematis sunt vinculo innodati […]. 73 Paul FREEDMAN, Images of the Medieval Peasant (Figurae: Reading Medieval Culture), Stanford, CA 1999, S. 1. Vgl. dazu auch Hans-Werner GOETZ, „Unterschichten“ im Gesellschaftsbild karolingischer Geschichtsschreiber und Hagiographen, in: Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung, hg. v. Hans MOMMSEN u. Winfried SCHULZE (Geschichte und Gesellschaft. Bochumer Historische Studien 24), Stuttgart 1981, S. 108-130. 74 FREEDMAN (wie Anm. 73), S. 2.
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In dieses Wahrnehmungsmuster paßt auch eine beiläufige Charakterisierung der Bauern, die in einem von Bruno zitierten Brief des Erzbischofs Werner von Magdeburg an den Erzbischof Siegfried von Mainz aus dem Jahr 1075 zu finden ist. Darin nennt der sächsische Prälat einen aus seiner Sicht einleuchtenden Grund für die von Heinrich scharf verurteilte Schändung der salischen Gräber in Sachsen. Diese befanden sich in einem von dem König errichteten Stift auf der Harzburg, dem in den Augen der Sachsen „Werk des Teufels“,75 und wurden im Zuge der angeordneten Schleifung der Burg von den Sachsen zerstört; der Inhalt wurde in der Gegend verstreut. Laut Erzbischof Werner handelte es sich bei den Übeltätern nicht um die Oberschicht der sächsischen Gesellschaft,76 in deren Namen der erzbischöfliche Brief verfaßt wurde, sondern um Bauern aus der Umgebung, die zu der Schleifarbeit von Heinrichs Dienstleuten angehalten wurden. Die Bauern jedoch, dumm und ungeschickt (imperiti) wie Bauern nun einmal sind, zerstörten nicht nur das Stift und seine Gräber, sondern wollten auch von den übrigen salischen Bauten nichts übrig lassen vor Furcht, die Burg Heinrichs, von der sie viel Arges erfahren hatten, könnte wiedererrichtet werden.77 Hier ist ein eindeutiges Wahrnehmungs- und Deutungsmuster bezüglich der (sächsischen) Bauern besonders gut zu erkennen: Zwar leben die Bauern in der Umgebung (vicinia), könnten demnach durchaus als Mitglieder der sächsischen Gesellschaft betrachtet werden, jedoch nicht so in der Wahrnehmung von Erzbischof Werner und damit auch des Klerikers Bruno: Sie gehören eben nicht zu den nostrates, die der Erzbischof in seinem Brief aufzählt, in anderen Worten zu der sächsischen Oberschicht. Diese will für ihre Untaten zudem nicht verantwortlich gemacht werden – die Abgrenzung und Distanzierung von der Unterschicht ist auffallend. Bauern werden außerdem wie selbstverständlich als töricht und unvernünftig charakterisiert, wodurch sie nicht nur von der Oberschicht abgegrenzt, sondern gleichzeitig auch für minderwertig erklärt werden. Es ist jedoch anzunehmen, daß die bedingungslose Aburteilung der bäuerlichen Schichten durch Bruno in seinem ‚Sachsenkrieg‘ sich nicht aus 75 So Stefan WEINFURTER, Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2006, S. 56. 76 Dieser Textstelle können wir entnehmen, welche gesellschaftlichen Gruppen Erzbischof Werner von Magdeburg und damit indirekt auch unser Autor Bruno als die ‚Unsrigen‘ betrachtete: es handelte sich dabei neben dem Erzbischof selbst um „alle sächsischen Bischöfe, Herzöge, Grafen und alle Kleriker und Laien, bedeutende und unbedeutende“ (‚Saxonicum bellum‘ 42, S. 41, Z. 14-16: et cum eo omnes Saxoniae praesules, duces, comites et universi simul clerici vel laici, magni vel parvi). Vgl. dazu auch KOST (wie Anm. 3), S. 15. Daß das Verhältnis der sächsischen Bauern zu dem Sachsenaufstand alles andere als unkompliziert war, unterstrich bereits FENSKE (wie Anm. 33), S. 51-61. 77 ‚Saxonicum bellum‘ 42, S. 42, Z. 10-19: De monasterio suo destructo vel de sepulcris filii vel fratris sui violatis et ossibus eorum disiectis cum, qualiter factum sit, audieritis, quia nos sumus innocentes, agnoscetis. Ipsius castelli, ubi haec acta sunt, destructionem nulli nostrum credere voluit, sed hanc operam suis famulis et familiaribus iniunxit; qui negligentes et pigri, quo citius, quod erant iussi, peragerent, omnes rusticos, qui in illa vicinia erant, convenire fecerunt et eis demoliendi castelli potestatem dederunt. Rustici vero, sicut rustici imperiti et ab eodem castello multa mala perpessi, cum nullus adesset, qui castigaret, nichil in ipso voluere relinqui, quo iterum deberet renovari.
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einer von ihm absolut und unveränderlich vertretenen Verdammung speist,78 sondern einem ganz bestimmten Zweck dient: Die sächsischen Adligen bemühen das primitive und einseitige Bauernbild, um Heinrichs Vorwürfe weit von sich weisen und den König erneut zu Verhandlungen anstatt militärischer Intervention in Ostsachsen überreden zu können.79 Wie besonders tragische Ironie des Schicksals mutet daher die Art an, auf die eben jener Erzbischof Werner drei Jahre später in der Schlacht von Mellrichstadt sein gewaltsames Ende fand: Er wurde, berichtet Bruno persönlich sichtlich berührt, „von den Bauern jener Gegend“ (ab incolis illius patriae) aufgegriffen und auf erbärmliche Weise getötet.80 Noch eindringlicher konnte der Antagonismus zwischen dem Kirchenfürsten und der bäuerlichen Schicht kaum illustriert werden.
4. Schlußbetrachtung Versuchen wir nun die obigen Ausführungen zusammenzufassen, so ergibt sich in bezug auf Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Fremden und Anderen ein aufschlußreiches Bild. 1. Fremdheit ist ein Abstraktum der Moderne, das mittelalterlichen Menschen nicht geläufig war. Von „Fremdheit an sich“81 und von entsprechend modernen Fremdheitskategorien im Mittelalter auszugehen ist daher ein Irrweg, über den die Vorstellungs-, Denk- und Urteilsweisen mittelalterlicher Zeitgenossen in keiner Weise erschlossen werden können. An Brunos Saxonicum bellum konnte dementsprechend aufgezeigt werden, daß es in seiner Vorstellungswelt zwar ein Konzept des Fremden gegeben hat, das in erster Linie mit Hilfe von Wörtern wie extraneus oder advenus an die Oberfläche trat, gleichwohl konnte in seinem Werk keine theoretische, abstrakte Definition von dem, was nun ‚fremd an sich‘ sein sollte, und die dem Konzept des Fremden zugrunde läge, gefunden werden. Es ist denkbar, daß sie nicht gefunden werden konnte, weil Bruno eine solche 78 Daß das Bauernbild des hohen Mittelalters durchaus differenziert und vielschichtig war, und erst nach den traumatischen Erfahrungen der großen Pestepidemien in der Mitte des 14. Jh. einem Wandel hin zur Vereinfachung mit negativem Vorzeichen unterlag, führt FREEDMAN (wie Anm. 73), S. 289ff. überzeugend aus. 79 Laut SCHUBERT (wie Anm. 4), S. 274f. wurde die bäuerliche Auflehnung gegen die königlichen Ministerialen und insbesondere die Grabschändung auf der Harzburg von den Großen beider Parteien als eine ernstzunehmende Bedrohung und Eskalation des Konfliktes aufgefaßt. Schubert selbst scheut sich nicht davor, in diesem Zusammenhang von einer Revolution des gemeinen Volkes, „welche die Herrschaft selbst in Frage stellt“ (S. 275), zu sprechen. 80 ‚Saxonicum bellum‘ 96, S. 89, Z. 11-16: Ex nostris itaque primi fecerunt fugam, qui numquam venire debuissent ad pugnam, episcopi scilicet unius nominis, sed, ut ita dicam, non unius ominis: uterque enim Werinherus vocatur. Sed Magedaburgensis ab incolis illius patriae interceptus, miserabiliter occiditur; Merseburgensis vero despoliatus, in patriam nudus revertitur. 81 Vgl. oben LÜBKE (wie Anm. 23).
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Definition für selbstverständlich hielt. Natürlich wurden auch im Mittelalter bestimmte Individuen oder Menschengruppen als fremd wahrgenommen und entsprechend an das eigene Welt- und Gesellschaftsbild angepaßt und gedeutet – auf eine ähnliche Weise werden auch heute Typologisierungen als Hilfskonstrukte angewendet, die den Umgang mit Fremden leichter machen sollen –,82 doch gestaltet es sich als ausgesprochen schwierig, an die darunter liegenden Mechanismen im Denken mittelalterlicher Autoren über das dem Historiker häufig als einziges zugängliche Medium, den (lateinischen) Text, zu gelangen. Methodisch sinnvoll, jedoch bei weitem nicht ausreichend, erscheint daher bei der Untersuchung von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von Fremden und Anderen als erster Schritt der begriffsgeschichtliche Ansatz zu sein. 2. So können wir in Brunos ‚Sachsenkrieg‘ Textstellen finden, in denen ‚Fremde‘ explizit genannt werden. Der Autor benutzt dafür Wörter wie nationes oder gentes exterae, homines ignoti, adveni, exuli oder homines extraneae gentis. Bereits die Tatsache, daß es sich bei den lateinischen Entsprechungen für den modernen Begriff ‚Fremde(r)‘ um attributive Nominalphrasen und gleich mehrere Wörter handelt, zeigt, daß wesentliche Unterschiede zwischen den mittelalterlichen und modernen Bezeichnungen bestehen, und sie daher nicht, wie es in den meisten (wissenschaftlichen) Übersetzungen der Fall ist, gleichgestellt werden dürfen. Erst durch eine genauere Begriffsanalyse kann man die eigentliche Semantik der lateinischen Termini erfassen und damit die ihnen zugrundeliegenden Denkmuster erkennen. Gemeinsam ist den hier verwendeten lateinischen Bezeichnungen vor allem, daß sie Menschengruppen kennzeichnen, die sich außerhalb des eigenen Umkreises befinden (exter), von außerhalb kommen (advenus), bzw. von ihrem Grund und Boden vertrieben wurden (exul). In das gleiche semantische Feld gehört auch das Attribut unbekannt (ignotus). Der Kleriker Bruno konnotiert die verwendeten Bezeichnungen ausnahmslos negativ: Die potentielle Nähe der ‚Fremden‘ ist grundsätzlich bedrohlich und deshalb nach Möglichkeit – meist mit militärischen Mitteln – abzuwehren. Gleichzeitig werden ‚Fremde‘ im Vergleich zu den eigenen gens-Angehörigen (d.h. Sachsen) abgewertet und als der Sachsen – wobei Bruno darunter die sächsische Oberschicht versteht – unwürdig dargestellt. Doch warum ist es für den Verfasser des ‚Sachsenkrieges‘ so wichtig, an ausgesuchten Stellen explizit von Fremden zu sprechen, an anderen aber, wie im folgenden Punkt 3. resümiert wird, nicht? Anzunehmen ist, daß Fremde, sonst in den Vorstellungen Brunos als selbstverständlich vorhanden, von ihm nur dann ausdrücklich genannt wurden, wenn er sie zur bestimmten Deutung und seinen Zwecken dienenden Stellungnahme gegen Heinrich IV. benutzen wollte.
82 Vgl. Herfried MÜNKLER u. Bernd LADWIG, Dimensionen der Fremdheit, in: Furcht und Faszination (wie Anm. 12), S. 11-44, hier S. 29f.
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3. Neben den expliziten Nennungen von ‚Fremden‘ begegnen wir in Brunos ‚Sachsenkrieg‘ weiteren Gruppen von Nicht-Zugehörigen, die in den obigen Überlegungen als ‚Andere‘ klassifiziert wurden. Da aus dem Text nicht klar hervorgeht, ob jene Gruppen von Bruno als Fremdgruppen wahrgenommen wurden – eine ausdrückliche Deutung der behandelten Gruppen als ‚Fremde‘ ist in dem Werk des Klerikers nicht zu entdecken – , wurden sie der allgemeineren Kategorie der ‚Anderen‘ zugeordnet, um auf diese Weise der Gefahr zu entgehen, moderne, vorgeformte Fremdkategorien dem mittelalterlichen Text aufzuzwingen, die so in dem Text gar nicht zu finden sind. Es ist daher müßig, von verschiedenen ‚Arten‘ von ‚Fremden‘ in mittelalterlichen Texten zu sprechen, da sie von den Autoren als solche weder wahrgenommen noch verstanden wurden. Gleichwohl können wir bei Bruno deutliche Ab- und Ausgrenzungsbemühungen beobachten, um die Grenzen zwischen der (den) eigenen Gemeinschaft(en) und den Fremden respektive den Anderen je nach Bedarf und zu erfüllenden Zwecken abzustecken. 4. Gleichzeitig wird am Beispiel der ‚Anderen‘ die Funktion der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster bei Bruno gut sichtbar, um zum Beispiel die Rangunterschiede zwischen den Gruppen zu begründen und die bestehenden Verhältnisse zu legitimieren. So werden ‚Heiden‘ als Gegensatz zu der eigenen christlichen Gemeinschaft angeführt, wobei sich die Polarisierung auch dann als nützlich erweist, wenn es darum geht, andere Christen und ihre Taten zu diskreditieren. Auf eine ähnliche Weise wird das negativ konnotierte Bild von den Bauern, die von der sächsischen Oberschicht als eine eigene gesellschaftliche Gruppe betrachtet wird, die zudem typischerweise dumm, verbohrt und von niederer gesellschaftlicher und moralischer Rangstufe ist, von Bruno benutzt, um den Edelmut und die moralische Überlegenheit der sächsischen Oberschicht im Gegensatz zu Heinrich IV. und seinen Anhängern herauszustreichen. 5. Entgegen der ursprünglichen Annahme, die den Initialüberlegungen des Projekts „Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter“, in dessen Rahmen der vorliegende Beitrag erarbeitet wurde, innewohnte, zeigt sich am Beispiel des ‚Sachsenkrieges‘ Brunos von Merseburg, daß die Wertungen, die aus den hier untersuchten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von ‚Fremden‘ und ‚Anderen‘ herausgearbeitet werden konnten, überwiegend negativer Natur sind. Sowohl explizit genannte ‚Fremde‘ als auch ‚Andere‘ werden von Bruno ausschließlich als bedrohlich, feindlich, barbarisch oder als minderwertig und verstockt charakterisiert. Bruno verzichtet in seinem Werk ganz und gar auf eine zumindest in bezug auf die Wertung differenzierte Darstellung jener Gruppen, die nicht zu den Seinen gehören. Ein wesentlicher Grund dieser einseitigen Darstellung liegt mit Sicherheit in der Funktion seines Werkes: Als eine Streitschrift gegen König Heinrich IV. und seine Parteigänger sollte es vor allem den Zweck erfüllen, die Auflehnung der nostrates, also der Opponenten Heinrichs aus
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der sächsischen Oberschicht, gegen den bis dahin rechtmäßigen Herrscher zu rechtfertigen und ihre Taten ins rechte Licht zu rücken. Da dies Brunos vornehmliche Schreibabsicht war, lag ihm kaum etwas daran, eine ausgewogene, differenzierte und, nach modernen Maßstäben, objektive Beschreibung der gegnerischen Parteien zu liefern. Gleichwohl läßt sich nicht leugnen, daß der sächsische Kleriker durchaus bemüht war, den von ihm wahrgenommenen und in seiner Schrift gedeuteten Fremden unterschiedliche, wenn auch vorherrschend negative, Qualitäten zuzusprechen. So verglich er beispielsweise den Salier und seine Krieger nicht ohne Grund mit „Heiden“, sondern um Heinrich und seinen Mannen eben jene Qualitäten zuzuschreiben, die allgemein als „heidnisch“ galten: Roheit, Gewalttätigkeit und Gnadenlosigkeit. Bezeichnend ist auch, daß der namenlose slawische Komplize des jungen Königs in Brunos Augen erst durch seine Beteiligung an Heinrichs verderblichem Plan eindeutig verurteilt wird, und nicht durch seine fremde Stammesangehörigkeit. Zwar bilden die hier aufgeführten Ergebnisse nicht mehr als eine erste Skizze der Fremdheitsproblematik, nichtsdestotrotz liefern sie Ansatzpunkte, die durch eine breiter angelegte Vergleichstudie mit anderen historiographischen Quellen jener Zeit zu aussagekräftigen und fruchtbaren Erkenntnissen zu Wahrnehmungs- und Deutungsmustern von Fremden und Anderen im hohen Mittelalter führen können.
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STEFFEN PATZOLD
Zusammenfassung und Ausblick In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind ‚Wahrnehmung‘ und ‚Deutung‘ in verschiedenen Kulturwissenschaften zu viel gebrauchten Schlüsselwörtern avanciert. Sie haben sich aber noch nicht zu klar umrissenen oder gar allgemein akzeptierten Forschungsbegriffen verfestigt. Wer von ‚Wahrnehmung‘ und ‚Deutung‘ spricht, steht zur Zeit daher noch in der Pflicht, zu erklären, was er damit meint. Die sieben Beiträge, die im vorliegenden Band versammelt sind, haben diese Herausforderung angenommen. Ihr Ziel war es nicht, eine einzige, für künftige Studien verbindliche Definition zu etablieren. Angesichts des Forschungsstands mußte es vielmehr um anderes gehen: Es galt, das Spektrum möglicher Forschungsbegriffe in den drei beteiligten Disziplinen auszuloten und zugleich an fachspezifischen Beispielen die Erkenntnischancen, aber auch die methodischen Probleme anschaulich zu machen, die verschiedene Definitionen für die weitere Forschung in der Kunstgeschichte, der Germanistik und der Geschichtswissenschaft mit sich bringen, vor allem aber, die Erarbeitung mittelalterliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster methodisch zu reflektieren und exemplarisch an verschiedenen Inhalten vorzuführen. Die Ergebnisse dieser Beispielstudien vergleichend zueinander in Beziehung zu setzen, Fragen der Methodologie zu systematisieren und daraus einige Perspektiven künftiger Forschung abzuleiten, das ist die Aufgabe dieser Zusammenfassung.
1. Methodische Zugriffe Schon die ältere Forschung in den historisch ausgerichteten Disziplinen ist davon ausgegangen, daß Menschen nicht auf der Basis „objektiver Tatsachen“ handeln, sondern ihre Intentionen an dem Bild ausrichten, das sie sich von ihrer Welt machen. Wie komplex und vielstufig aber der mentale Prozeß ist, in dessen Verlauf diese Bilder entstehen, ist der Forschung erst in den letzten Jahren stärker bewußt geworden. Fächerübergreifender Konsens dürfte mittlerweile darüber bestehen, daß kein Mensch jemals ohne Voraussetzungen ein Bild von seiner Welt zu entwerfen vermag: Wie jemand die Welt sieht, ist vielmehr immer auch von Begriffen, von sozial vermitteltem Wissen, von den im Laufe der Sozialisation und der eigenen Erfahrungen angeeigneten Vorstellungen, ja sogar von vorübergehenden Stimmungen und Emotionen abhängig. Diese sozialen, „strukturellen“ Rahmenbedingungen einerseits und das immer wieder neue, individuelle, „ereignishafte“ Entwerfen von Bildern von der Welt andererseits stehen jedoch nicht in einem einfachen, einseitigen Kausalverhältnis zueinander.
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Sie bilden eine Art Regelkreis: Zwar vollzieht sich jeder einzelne Entwurf innerhalb solcher Rahmenbedingungen; er wirkt aber auch seinerseits wieder auf Begriffe, Wissen, Vorstellungen, Emotionen zurück – und kann damit seinerseits den strukturellen Rahmen verschieben. Zwei weitere Aspekte sind zu bedenken: Zum einen können Menschen in bestimmten Situationen feststellen, daß ihr Wissen, ihre Vorstellungen von der Welt falsch sind – etwa dann, wenn sie aufgrund solcher Vorannahmen in der Praxis scheitern. Und zum anderen können sich Menschen darüber bewußt werden, daß sie jeweils (nur) Bilder von ihrer Welt entwerfen; in diesem Falle können sie Theorien darüber bilden, wie dieses Entwerfen funktioniert und welche Faktoren es beeinflussen. Mit anderen Worten: Menschen fungieren nicht nur als ‚Durchlauferhitzer‘ von Diskursen und sozialem Wissen. Sie können über ihre Welt und ihr Handeln nachdenken, und sie sind (manchmal) lernfähig. Bisweilen nehmen sie solche Überlegungen bewußt vor, in reflektierter Deutung; oft genug werden die Unterscheidungen aber auch im Zuge der Wahrnehmung wirksam, ohne daß die Akteure sich dies eigens ins Bewußtsein riefen. Der vorliegende Band hat zeigen wollen, daß die Begriffe ‚Wahrnehmung‘ und ‚Deutung‘ hilfreich sind, um derartige mentale Prozesse zu beschreiben. In diesem Sinne bezieht sich ‚Wahrnehmung‘ vorzugsweise auf die Bereiche, in denen Bilder von der Welt unreflektiert entworfen werden; ‚Deutung‘ bezeichnet dagegen mehr die Entwürfe, an denen bewußte Reflexion der Akteure Anteil hat, wenngleich beides sich nicht immer klar trennen läßt. Die Begriffe ‚Wahrnehmungs-‘ und ‚Deutungsmuster‘ sind auf jene Strukturierungen gemünzt, die in einem Regelkreis einerseits aus zahllosen einzelnen Akten der Wahrnehmung bzw. Deutung hervorgebracht werden, andererseits aber auf diese Akte auch wieder zurückwirken. So definiert, sind Wahrnehmung und Deutung historisch wirksam. Sie bringen nämlich Unterscheidungen hervor, die handlungsleitend werden können. Für die drei in diesem Band gewählten Untersuchungsfelder ist das unmittelbar einsichtig: Die Grenze zwischen Fremdem und Eigenem ist ebenso wenig scharf und allgemeingültig bestimmbar wie diejenige zwischen Vergangenheit und Gegenwart oder zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Eine junge Frau, die fastet, kann als heilige Asketin verehrt, aber auch als anorektisches Mädchen therapiert werden. Ein Reisender kann als Fremder Mißtrauen wecken oder als Pilger freundliche Aufnahme finden. Was als fremd, was als eigen, was als (noch) gegenwärtig und was als (schon) vergangen empfunden wird, das beruht auf Zuschreibungen, die von Fall zu Fall je unterschiedlich ausfallen können. Was die Beiträge in diesem Band zusammenschließt, ist nun dreierlei: Erstens stellen sie alle die Frage nach derartigen unterscheidenden Zuschreibungen im Prozeß der Wahrnehmung und Deutung mittelalterlicher Zeitgenossen. Zwei-
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tens gehen alle Beiträge davon aus, daß diese Zuschreibungen historische Wirkung entfalteten: Sie setzten dem Handlungsspielraum von Menschen eine Grenze, prägten die Gestalt literarischer Texte mit und beeinflußten die Formen von Werken der bildenden Kunst. Drittens schließlich beruhen die Aufsätze in diesem Band allesamt auf der Überzeugung, daß sich Wahrnehmung und Deutung nur interdisziplinär erforschen lassen: Zum einen nämlich haben sich die mentalen Bilder, die aus den Prozessen der Wahrnehmung und Deutung hervorgegangen sind, in den unterschiedlichsten Überlieferungsträgern niedergeschlagen: in Geschichtsschreibung ebenso wie in theologischen Traktaten, in Reliquiaren ebenso wie in volkssprachiger Literatur. Schon diese unterschiedlichen Materialien machen fachspezifische Zugriffe erforderlich. Zum anderen sind der Prozeß des Entwerfens mentaler Bilder und deren Auswirkungen auf das Handeln, auf die Herstellung von Texten und die Gestaltung von (Kunst)Gegenständen so komplex, daß sie sich erst in der Kooperation mehrerer Disziplinen angemessen analysieren lassen. In diesem Sinne wollten die Beiträge in diesem Band bewußt ein Spektrum von Herangehensweisen aufzeigen, mit denen die verschiedenen historisch arbeitenden Disziplinen gemeinsam die Frage nach Wahrnehmung und Deutung in ihren verschiedenen Facetten fruchtbar machen können. Dabei sollen die Schwierigkeiten einer interdisziplinären Zusammenführung keineswegs verschwiegen werden. Bruno Reudenbach und Gia Toussaint haben Objekte untersucht, die dem Reliquienkult dienten. Reudenbach konzentriert sich dabei auf so genannte Körperteilreliquiare, Toussaint auf solche Behältnisse, die Christusreliquien bargen. Die Kernfrage ihrer beiden Aufsätze lautet: Wieso veränderten sich im Laufe des Mittelalters die Formen solcher Reliquiare? Die ältere Forschung hat diese Frage vor allem stilgeschichtlich beantwortet. Reudenbach und Toussaint gehen bei ihren Überlegungen dagegen von der didaktischen und medialen Funktion der Reliquiare aus. Eines der Grundprobleme, das Reliquienbehälter zu meistern hatten, lautete nämlich: Wie erreicht man es, daß recht unscheinbare (und oft auch unansehnliche) Leichenreste oder Holzstücke als heilig wahrgenommen werden? Wie vermittelt man den Gläubigen, daß in einem einzigen kleinen Partikel, der übriggeblieben ist, der ganze Leib des Heiligen und seine vollständige virtus wahrhaftig präsent sind? Wie kann die Gestaltung eines Reliquienbehältnisses dazu beitragen, dem Betrachter glaubhaft zu machen, daß die enthaltenen Reliquien auch wirklich das sind, was sie zu sein vorgeben? Und wie verhindert man bei alledem, daß figurale Reliquiare in eine gefährliche Nähe zu jenen Götzenbildern geraten, die von ‚Heiden‘ angebetet wurden? Antworten auf diese Fragen – das zeigen Reudenbach und Toussaint – können die Entwicklung von Körperteilreliquiaren und von jenen Behältnissen, die Christusreliquien enthielten, besser erklären als Vorannahmen über den Gang der Stilgeschichte oder gar über die menschliche Fähigkeit, die Natur in bildender Kunst nachzuahmen. Reliquiare wurden geschaffen, um wahrgenommen zu werden; und die Schöpfer der Reliquiare (jedenfalls aber die Konzepteure dieser
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Objekte) waren bemüht, die Wahrnehmung der Betrachter zu steuern. Die Gläubigen sollten in den wenig spektakulären Überresten den Heiligen und dessen virtus erkennen. Mit Blick auf die Methode könnte man also abstrahierend formulieren: Hier ist der Gegenstand der Untersuchung (die Form von Reliquiaren) aufgefaßt als das Ergebnis von Überzeugungen, die der Schöpfer des Werks für den Rezipienten wahrnehmbar machen wollte. Diese Überzeugungen wiederum sind aber nicht allein aus den Reliquiaren selbst zu eruieren; sie haben sich in Texten niedergeschlagen, die folglich bei der Analyse mitberücksichtigt werden müssen und auf deren geschichtswissenschaftliche Auswertung die Kunstgeschichte letztlich angewiesen bleibt. Denselben Weg, nur gewissermaßen in umgekehrter Richtung, ist Hans-Werner Goetz in seiner geschichtswissenschaftlichen Untersuchung gegangen. Sein Gegenstand sind historiographische Werke des Früh- und Hochmittelalters, die er als Zugang zur damaligen Wahrnehmung der Vergangenheit (als Zeitbegriff) nutzt. Er faßt diese Texte als Produkte der Wahrnehmung ihrer Autoren auf, geht also davon aus, daß die heute überlieferten Darstellungen stets auch durch Prozesse der Wahrnehmung seitens der Autoren mitgeprägt sind. Des Weiteren nimmt er an, daß diese zeitgenössische Wahrnehmung durch die Historiographen vor allem in deren Sprache Spuren hinterlassen habe. Deshalb stellt er eine detaillierte Analyse einzelner Begriffe und Wendungen in den Mittelpunkt seines Beitrags, die Zeitverhältnisse zum Ausdruck bringen, und untersucht deren Semantik, Funktion und Bedeutungsgehalt. Im zeitlich wie räumlich weiten Vergleich vieler Einzelbelege zeigen sich dann Gemeinsamkeiten im Wortgebrauch, die auf längerfristig wirksame und weit verbreitete Wahrnehmungsmuster hindeuten. Während Reudenbach und Toussaint nach den Mitteln fragen, mit denen die Schöpfer von Reliquiaren die Wahrnehmung von anderen Menschen anzuleiten suchten, geht es Goetz demnach um die Frage, wie sich die Wahrnehmung (und die Vorstellungen) der Schöpfer von Texten selbst in den von ihnen geschaffenen Werken niedergeschlagen haben. Denselben Ansatz haben auch Simon Elling und Anna Aurast gewählt, die daher in ihren Beiträgen ebenfalls wort- und begriffsgeschichtlich argumentiert haben. Sie fragen jedoch jeweils nach der Wahrnehmung nur eines Autors und konzentrieren sich dabei sogar auf eine Detailanalyse eines einzelnen Werks: Simon Elling auf die Geschichte der Metzer Bischöfe, die Paulus Diaconus in den 780er Jahren im Auftrag Angilrams von Metz schrieb; Anna Aurast auf das „Buch vom Sachsenkrieg“, das der Merseburger Geistliche Bruno wahrscheinlich im Jahr 1082 verfaßt hat. Die Konzentration auf Einzelwerke erlaubt es beiden, bei ihren Untersuchungen sowohl den ‚Sitz im Leben‘, den Schreibanlaß und die Darstellungsabsicht ihres Quellentextes als auch dessen narrative Struktur mitzuberücksichtigen. Eines der Ergebnisse der Studie von Hans-Werner Goetz lautet: Die Autoren hatten zwar klare Vorstellungen von dem, was „vergangen“ bedeutet, konn-
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ten das aber nur indirekt (über Zeitbezüge, Alter, Wandel) ausdrücken. Wie heute, so gab es auch im Früh- und Hochmittelalter keine scharfe Grenze zwischen den Zuschreibungen zur Vergangenheit und zur Gegenwart; vielmehr konnte auch schon damals diese Einordnung nicht nur von Autor zur Autor, sondern sogar innerhalb eines einzelnen Werks stark variieren. Simon Elling hat dieses Ergebnis als Ausgangspunkt genommen, um die Spuren der Vergangenheitswahrnehmung, die er im überlieferten Text ermittelt hat, für Grundfragen der Quellenkritik fruchtbar zu machen. Sein Argument lautet etwas zugespitzt: Paulus Diaconus verrät mit seinen in der Darstellung greifbaren Wahrnehmungsmustern seine persönliche Distanz zu dem Gegenstand, über den er handelt. Die bisherige Forschung hatte vorausgesetzt, daß der Langobarde sein Werk in Metz verfaßt und aus den ihm dort zur Verfügung stehenden Informationen bewußt einige wenige ausgewählt habe. Ellings Analyse deutet dagegen eher darauf hin, daß Paulus ein Auftragswerk verfaßte, für das er nicht eigens nach Metz reiste und sich auch sonst kaum persönlich engagierte. Das hat Folgen für den geschichtswissenschaftlichen Quellenwert, die historische Interpretation und die gattungsgeschichtliche Einordnung des Textes. Anna Aurast hat sich der Semantik der Fremdheit in Brunos Darstellung des Sachsenkriegs zugewendet. Sie hat dazu zunächst eine Gruppe lateinischer Wörter festgelegt, die den Begriff der Fremdheit bezeichnen können, und den Gebrauch dieser Wörter durch Bruno untersucht. Darüber hinaus hat sie eine Gruppe der „Anderen“ gebildet, die der Autor nicht ausdrücklich als Mitglieder seiner eigenen sozialen Gruppe gekennzeichnet hat. Anschließend hat sie vergleichend untersucht, welche Eigenschaften Bruno den „Fremden“ und den „Anderen“ zuschrieb. Während Goetz, Elling und Aurast die Frage nach Wahrnehmung und Deutung als eine Problemstellung heutiger Wissenschaft begreifen, um dem mittelalterlichen Denken näher zu kommen, bildet dieselbe Frage bei Reudenbach und Toussaint zugleich eine der Grundbedingungen, aus der heraus die Form von Reliquiaren erklärlich wird: Die Konzepteure von Reliquiaren nutzen die Wahrnehmung ihrer zeitgenössischen Betrachter, um sie zugleich anzuleiten und zu steuern. Der literaturwissenschaftliche Beitrag von Hartmut Bleumer knüpft hier an. Man könnte sagen: Bleumer interessiert sich dafür, wie Wahrnehmung im Mittelalter selbst reflektiert und gedeutet werden konnte. Dazu hat er nachgezeichnet, wie in einem literarischen Text des Hochmittelalters – dem „Trojanischen Krieg“ des Konrad von Würzburg – die Steuerung menschlicher Wahrnehmung nicht nur praktiziert, sondern auch reflektiert, zum ästhetischen Kernproblem erhoben und dem Rezipienten sichtbar gemacht wurde. Konrads Text, so Bleumers These, mache seinen Rezipienten deutlich, daß der Krieg um Troja wegen seiner Komplexität gar nicht erzählbar sei. Dieses Ziel erreiche der Text, indem er die je eigenen Leistungen von visueller Imagination und textueller Narration vorführe: Der Verfasser argumentiert mit der Figur des Augenzeugen,
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beschreibt immer wieder die Wahrnehmung seiner Figuren und regt zugleich in hohem Maße die visuelle Imagination seiner Rezipienten an. Gleichzeitig aber führt er vor, wie angesichts der Überfülle des Darzustellenden diese literarische Strategie versagt, ja versagen muß. Dadurch werden die Rezipienten letztlich doch wieder darauf zurückverwiesen, daß sie es mit narrativer Textualität zu tun haben. Von dieser Beobachtung ausgehend hat Bleumer dann Stellung bezogen zu drei Kernbegriffen der aktuellen germanistischen Debatte über literarische Wahrnehmung: zum Bild, zur Bilderzählung und zur Metapher. Dem Problem, wie Menschen im Mittelalter Wahrnehmung deuteten, ist schließlich auch der Beitrag von Steffen Patzold gewidmet. Er betrachtet die lebhafte und vielstimmige Debatte über die Eucharistie, die im 9. Jahrhundert im Frankenreich geführt wurde. An diesem Beispiel zeichnet er nach, wie differenziert zumindest einige der damaligen Zeitgenossen diskutieren konnten über das Verhältnis von dem, was sie sinnlich wahrnahmen, einerseits und der Wirklichkeit, dem wahren Geschehen andererseits. Im Eucharistiestreit der Karolingerzeit wird deutlich, daß die Akteure selbst mit einem gravierenden Unterschied zwischen ihrer Wahrnehmung und der Wirklichkeit rechneten, die der Mensch erst durch die weitere – mentale – Verarbeitung von Informationen erkennen konnte. Davon ausgehend hat Patzold argumentiert, daß die jüngeren mediävistischen Forschungen zu Ritualen und deren sozialer Funktion das Problem der Wahrnehmung und dessen komplexe mittelalterliche Deutung mitberücksichtigen sollten. Insgesamt hat der Band mithin drei Zugriffe auf mittelalterliche Wahrnehmungen und Deutungen zusammengeführt, die in den verschiedenen fachspezifischen Forschungszusammenhängen bisher meist getrennt voneinander diskutiert und angewendet werden: Die überlieferten Materialien lassen sich erstens daraufhin befragen, inwieweit und auf welche Weise sie die Wahrnehmungen ihrer Rezipienten anzuleiten und zu steuern versuchten (Reudenbach, Toussaint, Bleumer). Die überlieferten Werke lassen sich zweitens als ein Reservoir von in Texten und Bildern ‚sedimentierten‘ Wahrnehmungen ihrer Schöpfer begreifen (Goetz, Aurast, Elling). Und drittens läßt sich fragen, inwieweit die Zeitgenossen selbst über den Prozeß der Wahrnehmung nachdachten, sich in ihren Werken dazu äußerten oder sogar ihre Zeitgenossen darüber zu belehren suchten (Bleumer, Patzold). Die Zusammenschau unterschiedlicher methodischer Zugriffe hat zugleich bereits auf einige aktuelle Forschungsfelder aufmerksam gemacht, in denen der Frage nach Wahrnehmungen und Deutungen grundsätzliche Bedeutung zukommen dürfte: das Verhältnis von Stil, Form und Kultpraxis, die Diskussion über Bild und Erzählung, die Debatte über die Funktionalität von Ritualen, die Frage nach der Bedeutung des Autors für den Text. Zu all diesen Fragen hält die Forschung zu Wahrnehmungen und Deutungen Nuancierungen und Weiterungen bereit.
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2. Wahrnehmungs- und Deutungsmuster Das Projekt, aus dem der vorliegende Band erwachsen ist, konnte von vornherein nicht darauf angelegt sein, ein Repertorium der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des europäischen Mittelalters zu erarbeiten. Gleichwohl ergeben sich aus den einzelnen Beiträgen auch Beobachtungen zu jenen Mustern, die die Wahrnehmung und Deutung des Verhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit, Eigenem und Fremden und Heiligem und Profanen prägten. Sie lassen die Vielfalt der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster ebenso erkennen wie ihre gezielte Bündelung auf bestimmte Aspekte. Darüber hinaus erlaubt es die Zusammenschau der Beiträge, weitere, grundlegende Dichotomien zu beschreiben, die sich in den verschiedenen Materialien finden lassen. Und schließlich geben die Beiträge zumindest auch erste Hinweise auf den Charakter solcher Wahrnehmungsmuster und auf dessen Reflexion durch die Zeitgenossen. Mit Blick auf die Wahrnehmung von Vergangenheit hat Hans-Werner Goetz in seinem Beitrag für die früh- und hochmittelalterliche Historiographie einerseits gewisse Parallelen zum aktuellen Vergangenheitsbegriff in der westlichen Welt nachweisen können. Zwar fehlte den mittelalterlichen Zeitgenossen ein vergleichbares Wort, wie es in der deutschen Sprache mit dem Substantiv „Vergangenheit“ vorhanden ist. Gleichwohl, so Goetz, hatten die Historiographen eine Vorstellung von Vergangenheit, die – wie der heutige Begriff auch – stets eine Relation bezeichnete: Vergangenheit wurde nur in der Abgrenzung zur jeweiligen Gegenwart manifest. Sie umfaßte dabei zwar nicht eine genau datierbare oder zeitlich fixierbare Spanne, wohl aber eine inhaltlich definierte Differenz, so daß den Abgrenzungskriterien (als wichtigem Untersuchungsgegenstand des Projekts) eine hohe Bedeutung zukommt. Die Historiographen rechneten sowohl mit Brüchen und Wandlungen in der Geschichte als auch mit Kontinuitäten. Anders als heutige Historiker legten ihre mittelalterlichen Vorläufer allerdings an die Vergangenheit durchweg dieselben Maßstäbe wie an die Gegenwart an: Eine Alterität der Vergangenheit nahmen sie nicht wahr. Deshalb zeichnete sich ihr Vergangenheitsbegriff durch eine starke Bezugnahme auf und Anknüpfung an die Gegenwart aus: Die Vergangenheit mochte dem Jetzigen nicht mehr entsprechen; doch sie blieb in den Augen der Historiographen aktuell. Nicht selten wurde die Vergangenheit daher auch der – als schlechter empfundenen – Gegenwart als Vorbild gegenübergestellt. Allerdings galt selten die Vergangenheit an sich als besser; meist bezog sich das Lob der Historiographen nur auf benennbare Sachverhalte aus der Vergangenheit. Ähnlich wie es Goetz für das Problem der Alterität im Laufe der Geschichte beobachtet hat, kommt Anna Aurast am Beispiel der Darstellung des Sachsenkriegs bei Bruno von Merseburg auch für die synchrone Perspektive zu dem Ergebnis: Ein Begriff von „Fremdheit an sich“ läßt sich nicht feststellen – und das, obwohl Bruno von seiner Darstellungsabsicht her ein hohes Interesse daran hatte, fremde Leute in Sachsen als bedrohlich, feindlich, verstockt oder in ande-
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rer Weise minderwertig abzuqualifizieren. Die Semantik des Heidnischen hat Bruno dabei nach Aurast sogar sehr bewußt für seine Zwecke instrumentalisiert: Sie war ihm ein wohlfeiles literarisches Mittel, um die Rohheit, Gewalttätigkeit und Gnadenlosigkeit Heinrichs IV. und seiner Anhänger dem Leser des „Buches vom Sachsenkrieg“ unmittelbar augenfällig zu machen. Gia Toussaint hat nachgezeichnet, welche Darstellungsmuster nach 1100 in westlichen Reliquiaren etabliert wurden, um Holzsplitter als authentische Überreste vom Kreuz Christi wahrnehmbar zu machen. Nach dem ersten Kreuzzug und der Einnahme Jerusalems 1099 vermehrte sich die Zahl der Splitter vom Kreuz Christi in Mittel- und Westeuropa dramatisch; zugleich kamen diese Partikel nun – anders als zuvor – in aller Regel nicht mehr als diplomatische Gastgeschenke oder auf anderen gut nachvollziehbaren Wegen in den Westen. Angesichts der Vielzahl von Splittern und aus Furcht vor Betrug hatten schon die Zeitgenossen ein hohes Bedürfnis, mit Hilfe der Reliquiare die Echtheit der Partikel anschaulich zu machen. Nach Toussaint war es viererlei, was diese Aufgabe erfüllte: Zum einen griffen die Auftraggeber oder Schöpfer von Reliquiaren nun auf die Form des Doppelkreuzes zurück; sie galt als byzantinisch und konnte daher als Verweis auf die Authentizität der Reliquie interpretiert werden. Zweitens wurden die Kreuzessplitter eingebettet in eine Bilderzählung, die auf die Vergangenheit zurückgriff: nicht auf die Bibel, sondern auf jene Legende, der zufolge Helena das wahre Kreuz aufgefunden hatte. Dieser Text eignete sich insofern, als er seinerseits bereits um Authentifizierung des entdeckten Holzes bemüht gewesen war. Drittens wurden Kreuzessplitter oft in einem kostbaren Materialkontext zur Schau gestellt, besonders häufig an Gemmenkreuzen. Und schließlich plazierte man die Kreuzesreliquie eben an diejenige Stelle, an der auch historisch das Corpus Christi gehangen hatte: unmittelbar auf die Kreuzesvierung. Damit diese Strategien der Authentifizierung den Zeitgenossen aber überhaupt wirksam und überzeugend erscheinen konnten, mußten tiefer liegende Wahrnehmungsmuster bereits etabliert sein: Das Doppelkreuz mußten die Betrachter ohne weiteres als christliches, aber dennoch fremdartiges Symbol begreifen können; ein hohes Alter und eine Einbettung in die Geschichte mußten sie als Echtheitsbeweis verstehen, funkelnde Edelsteine und Gold als Verweis auf Heiligkeit einordnen und das Holz vom „wahren“ Kreuz schließlich – trotz seiner veritas – doch zugleich auch als Zeichen interpretieren können, das seinerseits auf den wahren Leib des Herrn verwies, der an eben diesem Kreuz gestorben war. In einem vergleichbar komplexen Gemenge mehrerer Deutungsmuster hat Bruno Reudenbach den mentalen Rahmen für die Entstehung von Körperteilreliquiaren gesehen: Ihr glänzendes Material verwies die Betrachter auf den transzendenten Auferstehungsleib des Heiligen, der an der claritas Gottes teilhatte. Die Betonung des Körperteils schon in der äußeren Form des Reliquiars war ein Verweis auf die Vorstellung, daß in jedem einzelnen Fragment des Heiligen der
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gesamte Leib und seine ganze virtus präsent waren. Zugleich steht hinter den Objekten aber auch die Idee, daß die Heiligen ihrerseits Teile jenes Leibes Christi waren, der die Gemeinschaft der Christen bildete, die ecclesia. Zu diesen kunsthistorischen Beobachtungen fügt sich nahtlos die Debatte um die Eucharistie, die Steffen Patzold in seinem Beitrag nachgezeichnet hat. Zugespitzt ließe sich formulieren: Am Beispiel des Corpus Christi erörterten Zeitgenossen eben jene Dichotomien in expliziter Form, die für die Wahrnehmung der Heiligenleiber, die in Reliquiare eingeschlossen waren, zwar auch von Bedeutung gewesen sein müssen, für die Heiligen jedoch selten ausdrücklich in Texten diskutiert wurden. So finden sich in den karolingerzeitlichen Schriften zur Eucharistie dieselben Muster wieder: Auch hier geht es um das Problem von Einheit und Fragmentierung eines unteilbaren Leibes, um die Frage von der Gegenwart der ganzen Heilskraft in jedem einzelnen Fragment, um die Gleichzeitigkeit der Präsenz des Herrenleibes im Himmel und bei jeder Eucharistiefeier auf Erden, um das Verhältnis von vorgängigem Bibeltext und Nachvollzug in der Messe, schließlich um die Beziehung von figura und veritas. Vielleicht ist es kein Zufall, daß sich die frühesten Hinweise auf Körperteil-Reliquiare gerade für die Karolingerzeit finden? Vergangenheit ohne Alterität; Einheit bei Fragmentierung; Präsenz bei Absenz; Wirklichkeit im Abbild; Visualisierung in einem literarischen Text, der zugleich doch wieder selbst auf die Grenzen der Visualisierung verweist – in den Beiträgen des vorliegenden Bandes wird immer wieder greifbar, wie sehr die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster darauf ausgerichtet waren, Gegensätze miteinander auszusöhnen. Möglicherweise wäre gerade hier ein Grundzug solcher mentaler Muster in der Vormoderne zu suchen. Daß sich Ähnliches jedenfalls auch noch in anderen Bereichen beobachten ließe, kann hier nur stichwortartig angedeutet werden: In der Politik etwa bildete die gedachte Einheit des Reiches trotz seiner realpolitischen Fraktionierung bis weit in die Frühe Neuzeit hinein eine Determinante. Im kanonischen Recht stellte die Concordantia Discordantium Canonum eine wesentliche Herausforderung dar. Im Urkundenwesen konnte ein Diplom des Königs zwar ewige Gültigkeit beanspruchen; gleichwohl schien den Empfängern mit jedem Herrscherwechsel eine Bestätigung angeraten. Zwei weitere fächerübergreifende Ergebnisse des Bandes schließlich seien hervorgehoben: In den Reliquiaren, in der Geschichtsschreibung, in den theologischen Traktaten und in der Literatur wird deutlich, daß schon die mittelalterlichen Zeitgenossen in bestimmten Situationen selbst über das Phänomen der Wahrnehmung nachdenken konnten und die Wahrnehmung ihrer Zeitgenossen bewußt zu lenken versuchten. Darüber hinaus hat sich gezeigt: Die Autoren von Texten wie auch die Schöpfer von Reliquiaren gingen davon aus, daß das vom Menschen sinnlich Wahrgenommene weder die Wirklichkeit selbst noch einfach ein getreues Abbild dieser Wirklichkeit war: Ein Reliquiar in Form eines Fußes war eben nicht einfach ein Abbild des Fußes eines Heiligen; das Brot der Eu-
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charistie war weder einfach der Leib des Herrn selbst noch ein einfaches Abbild dieses Leibes. Die Produzenten und Rezipienten mittelalterlicher Texte und Artefakte rechneten offenbar fest damit, daß solche Werke einer komplexen Interpretation bedurften. Für die mediävistische Quellenkritik stellt dies eine methodische Herausforderung dar, auf die noch keineswegs in allen Bereichen eine adäquate Antwort gefunden ist.
3. Fragen und Perspektiven Aus der gemeinsamen Arbeit im Projekt, aus dem auch dieser Band hervorgegangen ist, haben sich schließlich weitere Fragen ergeben, die in der Forschung noch nicht befriedigend beantwortet sind. Fünf dieser Problembereiche seien zum Schluß dieser Zusammenfassung zumindest noch knapp angesprochen. 1) Wahrnehmungs- und Deutungsmuster werden allein im Vergleich als solche erkennbar. Im Projekt hat ein solcher Vergleich zum einen über die verschiedenen Perspektiven der beteiligten Disziplinen stattgefunden, zum anderen über die Alterität der vormodernen Welt, zum dritten über den Vergleich verschieden(st)er Quellen und Quellenarten. Wünschenswert und weiterführend für eine Geschichte der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster wäre aber zweifellos auch ein interkultureller Vergleich – sei es mit nicht-christlichen Lebenswelten in Europa selbst, sei es mit außereuropäischen Kulturen. Ein solcher Kontrast würde es erlauben, die Spezifika jener lateinischen-christlichen Wahrnehmung, der das Projekt galt, noch genauer zu beschreiben. 2) Hinzu kommt die Frage nach der Geschichtlichkeit von Wahrnehmungsund Deutungsmustern: Wie entstanden sie? Wie entwickelten, wie wandelten sich solche Muster im Laufe des Mittelalters? Die Beiträge in diesem Band haben zwar versucht, diese Frage mitzubedenken; befriedigend beantwortet ist sie jedoch noch nicht. Hans-Werner Goetz hat für die Vergangenheitswahrnehmung an sich – im Gegensatz zum konkreten Geschichtsbild – eher lang dauernde Kontinuitäten vom 6. bis ins 12. Jahrhundert beobachtet. In der Tat wird man von einer Grundschicht langfristig wirksamer Muster ausgehen müssen, die etwa in der lateinischen Sprache ‚sedimentiert‘ waren und möglicherweise sogar bis weit in die Frühe Neuzeit hinein wirksam blieben. Daneben dürften bestimmte historische Momente oder Ereigniszusammenhänge aber auch zu einem Wandel von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern geführt haben. Gia Toussaint hat in ihrem Beitrag einen solchen Moment beschrieben: Die Einnahme Jerusalems im Jahr 1099 bedingte eine Flut von Kreuzesreliquien im Westen und zog, ohne daß dies von den Beteiligten geplant und intendiert gewesen wäre, auch einen Wandel in der Wahrnehmung dieser Reliquien nach sich. Auch die Körperteilreliquiare wurden, soweit erkennbar, erst in einer bestimmten historischen Phase entwickelt: Lag dieser Neuerung möglicherweise ein Wandel in der Wahrnehmung von Heiligkeit zugrunde? Der Streit um die Eucharistie, in dem zugleich das Verhältnis von dem sinnlich Wahrgenommenen zur Wirklich-
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keit verhandelt wurde, entbrannte nicht im 6. oder 7. Jahrhundert, sondern wurde in wenigen Jahrzehnten um die Mitte des 9. Jahrhunderts ausgetragen, um dann erst wieder in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts aufgegriffen und weitergeführt zu werden. Trug diese Debatte über Wahrnehmung und Wirklichkeit zu einem Wandel von Wahrnehmungsmustern auch in anderen Bereichen bei? Bruno von Merseburg hat sein „Buch vom Sachsenkrieg“ wohl 1082 verfaßt – also eben zu der Zeit, als tief greifende und grundsätzliche Konflikte das Reich spalteten. Inwieweit lassen sich seine Wahrnehmung und seine Darstellung von Anderen und Fremden als ein Überrest eines epochalen Wandels von Wahrnehmungsmustern verstehen, der durch die großen politischen Auseinandersetzungen im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts angestoßen wurde? 3) Eng verbunden mit diesen Fragen nach der Entstehung und dem Wandel von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern ist ein dritter Problemkomplex: die Rolle des Subjekts in einer Geschichte von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern. Solche Muster existieren nicht unabhängig vom Menschen; aber sie sind ein kollektives Phänomen, ein einzelner Akteur kann sie nur in begrenztem Maße individuell und intentional manipulieren. Welche Wirksamkeit die Versuche einzelner Menschen dabei erreichen, dürfte nicht zuletzt von deren sozialer Stellung abhängen: Ein Ratgeber des Königs hatte hier weit bessere Aussichten als ein unfreier Höriger. Zugleich hängt jeder einzelne Wahrnehmungsakt aber auch in hohem Maße von den Rahmenbedingungen ab, unter denen er sich ereignet. Daraus ergeben sich zwei Untersuchungsfelder, die bisher noch kaum von der Forschung beackert worden sind: Erstens ist zu fragen, ob sich in einzelnen Werken eine individuelle Auseinandersetzung des Autors mit etablierten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern beobachten läßt. Hartmut Bleumer hat dies für den „Trojanischen Krieg“ des Konrad von Würzburg nachgezeichnet: Der Verfasser rang mit der Darstellbarkeit eines überkomplexen Geschehens – und reflektierte dabei in neuer, individueller Weise das Verhältnis von Textualität, Bildlichkeit und Visualität. Inwieweit diese individuelle Lösung Schule machte und sich selbst wieder zu einem Wahrnehmungsmuster entwickelte, wäre noch zu untersuchen. Zweitens aber wäre die je individuelle ‚Bandbreite‘ möglicher Wahrnehmungen exakter zu erforschen. Simon Elling ist dieser Frage in seiner Analyse der Geschichte der Metzer Bischöfe aus der Feder des Paulus Diaconus nachgegangen. Methodisch wichtig wäre dabei, die klassischen Fragen der Quellenkritik in neuer Weise fruchtbar zu machen: Der Kontext der Entstehung des einzelnen Werkes und die Nähe und persönliche Einstellung des Autors zu seinem Gegenstand wären dann nämlich nicht mehr nur Kriterien für die Glaubwürdigkeit des Dargestellten, sondern zugleich auch Voraussetzungen, um die individuellen Abweichungen von etablierten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern historisch zu erklären. Nimmt man die beiden Fragebereiche zusammen, so könnte die Erforschung von Wahrnehmung und Deutung einen wichtigen Beitrag leisten zu einer Geschichte der Subjektivität.
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Steffen Patzold
4) In jüngerer Zeit in den Blick der Forschung geraten, aber noch nicht befriedigend geklärt ist der Zusammenhang zwischen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern einerseits und Routinen und Handlungsmustern andererseits. Die Frage nach der Wahrnehmung und Deutung ist nicht zuletzt deshalb in den historischen Disziplinen wichtig, weil diese mentalen Prozesse Grundlagen für Handlungen darstellten, die ihrerseits historisch wirksam wurden. Die Frage nach „Spielregeln“, Konventionen und Handlungsmustern war sowohl für die geschichtswissenschaftliche als auch für die literaturwissenschaftliche Forschung der letzten zwei Jahrzehnte in hohem Maße fruchtbar. Die Beiträge in diesem Band sind für diesen Forschungszweig zumindest in einer Hinsicht von Interesse: Wenn den Zeitgenossen des Mittelalters bewußt war, daß das, was sie sinnlich wahrnahmen, unter Umständen kein einfaches Abbild der Wirklichkeit war, dann war die „symbolische Kommunikation“ ein erheblich komplexeres Phänomen, als es bisweilen vorausgesetzt wird. Um diese Kommunikation nachzuvollziehen und ihre Leistungsfähigkeit zu verstehen, wäre jedenfalls nicht nur eine Archäologie der zeichenhaften Handlungen notwendig (die sich gewissermaßen auf den „Sender“ konzentriert), sondern auch eine Kenntnis der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowie der zeitgenössischen Theorien der Wahrnehmung und Deutung (weil erst dadurch auch die Seite des „Empfängers“ mitberücksichtigt würde). 5) Im vorliegenden Band ist schließlich das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Ästhetik nur am Rande behandelt worden: Die Beiträge beschreiben mittelalterliche Muster der Wahrnehmung und Deutung und fragen nach deren Funktionalität und Wirkung. Um die Frage, was als schön, was als häßlich empfunden wurde und welche Rolle dies wiederum für die Gestaltung von Texten und Kunstgegenständen hatte – um diese Frage geht es in den Aufsätzen im Kern nicht. Immerhin verweist aber Hartmut Bleumers Analyse des „Trojanischen Krieg“ des Konrad von Würzburg auf das Problem der Visualisierung von Schönheit. Es entstand für den Verfasser des mittelalterlichen Textes dort, wo er die Gestalt der Helena zu schildern hatte. Inwieweit aber die literarischen, historiographischen oder gelehrten Texte oder auch die kunstvoll gestalteten Reliquiare selbst am Maßstab der Ästhetik gemessen wurden und wie die Rezipienten des Mittelalters in solchen Werken das Schöne wahrnahmen und deuteten, das wäre ein eigenes Forschungsthema. Das Projekt, aus dem dieser Sammelband erwachsen ist, hatte das Ziel, die methodischen Annäherungen an Wahrnehmung und Deutung in der Geschichtswissenschaft, der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft deutlicher zu profilieren, die verschiedenen Ansätze zu bündeln und sie miteinander in Beziehung zu setzen, ohne deshalb aber die historisch gewachsenen disziplinären Unterschiede und die je eigenen Erkenntnischancen zu nivellieren. Erst auf dieser Grundlage wird es möglich sein, die offenen Fragen zur Wahrnehmung und Deutung im Mittelalter einer Antwort näher zu bringen. Es ist noch viel zu tun.
Verzeichnis der aus dem Projekt erwachsenen Veröffentlichungen Anna Aurast, „Nachbarn“ als Fremde? „Nationale“ Abgrenzung in der Vorstellungswelt ausgewählter Chronisten des frühen 12. Jahrhunderts. Gallus Anonymus und Cosmas von Prag im Vergleich, Ungedruckte Magisterarbeit, Hamburg 2003. Dies., Wir und die Anderen. Identität im Widerspruch bei Cosmas von Prag, in: Produktive Kulturkonflikte, hg. v. Felicitas Schmieder (Das Mittelalter 10), Berlin 2005, S. 28-37. Dies., „Nachbarn“ als „Fremde“? Nationale Abgrenzung in der Vorstellungswelt von Gallus Anonymus und Cosmas von Prag, in: Bilder – Wahrnehmungen – Vorstellungen. Neue Forschungen zur Historiographie des hohen und späten Mittelalters, hg. v. Jürgen Sarnowsky (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter 3), Göttingen 2007, S. 55-75. Dies., Emotionen und ihre Funktionen vor dem Hintergrund des Ersten Kreuzzuges: Christliche und jüdische Texte im Vergleich, in: Meetings with Emotions. Human Past between Anthropology and History (Historiography and Society from the 10th to the 20th century), hg. v. Przemys!aw Wiszewski (Disputationes 2), Wroc!aw 2008, S. 21-40. Hartmut Bleumer, Die narrative Interferenz. Schritte einer historischen Narrativistik im literarischen Feld um Dietrich von Bern, Habil. masch., Hamburg 2002. Ders., Rez. zu Das Straßburger Heldenbuch. Rekonstruktion der Textfassung des Diepold von Hanowe, hg. v. Walter Kofler (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 667), 2 Bde., Göppingen 1999, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 121, 2002, S. 449-452. Ders., Motivation im ‚Wolfdietrich’ (B), in: 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mittelhochdeutsche Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietriche), hg. v. Klaus Zatloukal (Philologica Germanica 25), Wien 2003, S. 37-55. Ders., Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen zwischen Sangspruch und Minnesang, in: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla-Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich), hg. v. Helmut Birkhan (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Sitzungsberichte 721), Wien 2005, S. 83-102. Ders., Schemaspiele – ‚Biterolf und Dietleib‘ zwischen Roman und Epos, in: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, hg. v. Jan-Dirk Müller (Schriftenreihe des Historischen Kollegs. Kolloquien 64), München 2007, S. 191-217. Ders., Rez. zu Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter, hg. v. Fritz Peter Knapp u. Manuela Niesner (Schriften zur Literaturwissenschaft 19), Berlin 2002, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 35, 2003, S. 187-190. Ders., Das ‚Annolied’ als ästhetisches Objekt, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, hg. v. Manuel Braun u. Christopher Young (Trends in Medieval Philology 12), Berlin-New York 2007, S. 255-278. Ders., Wert, Variation, Interferenz. Zum Erzählphänomen der strukturellen Offenheit am Beispiel des Laurin, in: Dietrichepik. Beiträge der Tagung des Arbeitsgebiets „Literatur des Mittelalters und des Humanismus“ an der Universität Bremen veranstaltet in Zusammenarbeit mit der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft vom 6.-8. September 2001
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an der Universität Bremen, hg. v. Elisabeth Lienert (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 14), Frankfurt am Main 2003/04, S. 109-127. Ders., Wahrnehmung literarisch. Ein Versuch über ‚Parzival’ und ‚Tristan’, in: ebd. S. 137155. Ders., Rez. zu Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft (Allgemeine Literaturwissenschaft - Wuppertaler Schriften 2), Berlin 2001, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 120, 2004, S. 107-111. Ders., Rez. zu Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters, hg. v. Ulrich Ernst u. Klaus Ridder (Ordo 8), Köln-Weimar-Wien 2003, in: Das Mittelalter 9, 2004, S. 185f. Ders., Rez. zu Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe, hg. v. Elisabeth Lienert u. Gertrud Beck (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 1), Tübingen 2003, in: Arbitrium 22/4, 2004, S. 287-293. Ders. u. Steffen Patzold, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in der Kultur des europäischen Mittelalters, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Dens. (Das Mittelalter 8), Berlin 2004, S. 4-22. Simon Elling, Konstruktion, Konzeption und Wahrnehmung von Vergangenheit in historiographischen Quellen des frühen 11. Jahrhunderts, Ungedruckte Magisterarbeit, Hamburg 2004. Ders., Konstruktion, Konzeption und Wahrnehmung von Vergangenheit. Das Beispiel der Vita Heinrici II imperatoris Adalbolds von Utrecht, in: Bilder – Wahrnehmungen – Vorstellungen. Neue Forschungen zur Historiographie des hohen und späten Mittelalters, hg. v. Jürgen Sarnowsky (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter 3) Göttingen 2007, S. 33-53. David Fraesdorff, Der barbarische Norden. Vorstellungen und Fremdheitskategorien bei Rimbert, Thietmar von Merseburg, Adam von Bremen und Helmold von Bosau (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 7), Berlin 2005. Bele Freudenberg, Gefühlswelten im 10. Jahrhundert: das Beispiel Liudprands von Cremona und Rathers von Verona. Ungedruckte Magisterarbeit, Hamburg 2003. Hans-Werner Goetz, „Konstruktion der Vergangenheit“. Geschichtsbewußtsein und „Fiktionalität“ in der hochmittelalterlichen Chronistik, dargestellt am Beispiel der Annales Palidenses, in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hg. v. Johannes Laudage, Köln-Weimar-Wien 2003, S. 225-257. Ders., Vorstellungen und Wahrnehmungen mittelalterlicher Zeitzeugen. Neue Fragen an die mittelalterliche Historiografie, in: Mittelalter zwischen Politik und Kultur. Kulturwissenschaftliche Erweiterung der Mittelalter-Didaktik, hg. v. Wolfgang Hasberg u. Manfred Seidenfuß (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik 6), Neuried 2003, S. 45-57. Ders., Wahrnehmungs- und Deutungsmuster als methodisches Problem der Geschichtswissenschaft, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut Bleumer u. Steffen Patzold (Das Mittelalter 8), Berlin 2004, S. 23-33. Ders., Vergangenheitsbegriff, Vergangenheitskonzepte und Vergangenheitswahrnehmung in der früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, hg. v. Christina Jostkleigrewe, Christian Klein, Kathrin Prietzel, Peter F. Saeverin und Holger Südkamp (Europäische Geschichtsdarstellungen 7), Köln-Weimar-Wien 2005, S. 171-202. Ders., Constructing the Past. Religious Dimensions and Historical Consciousness in Adam of Bremen’s Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, in: The Making of Christian Myths in the Periphery of Latin Christendom (c. 1000-1300), hg. v. Lars Boje Mortensen, Kopenhagen 2006, S. 17-51.
Verzeichnis der aus dem Projekt erwachsenen Veröffentlichungen
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Ders., „Fremdheit“ im frühen Mittelalter, in: Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst Schubert zum Gedenken, hg. v. Peter Aufgebauer u. Christine van den Heuvel, unter Mitarbeit von Brage Bei der Wieden, Sabine Graf und Gerhard Streich, Hannover 2006, S. 245-265. Ders., The perception of “power” and “state” in the Early Middle Ages, in: Representations of Power in Medieval Germany, 500-1500, hg. v. Simon McLean u. Björn Weiler (International Medieval Research 16), Turnhout 2006, S. 15-36. Ders., Textualität, Fiktionalität, Konzeptionalität. Zur Vorstellungswelt mittelalterlicher Geschichtsschreiber und zur Konstruktion ihrer Texte, in: Mittellateinisches Jahrbuch 41, 2006, S. 1-21. Ders., „Wahrnehmung“ der Arbeit als Erkenntnisobjekt der Geschichtswissenschaft, in: Arbeit im Mittelalter, hg. v. Verena Postel, Berlin 2006, S. 21-33. Ders., Die Wahrnehmung von ‚Staat‘ und ‚Herrschaft‘ im frühen Mittelalter, in: Staat im frühen Mittelalter, hg. v. Stuart Airlie, Walter Pohl u. Helmut Reimitz (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Denkschriften 334 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006, S. 39-58. Ders., Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter, hg. v. Anna Aurast, Simon Elling, Bele Freudenberg, Anja Lutz u. Steffen Patzold, Bochum 2007. Ders., Alt sein und alt werden in der Vorstellungswelt des frühen und hohen Mittelalters, in: Alterskulturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.. Internationaler Kongreß Krems an der Donau 16. bis 18. Oktober 2006, hg. v. Gerhard Jaritz u. Elisabeth Vavra (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. SB 780 = Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 21), Wien 2008, S. 17-58. Ders., „Debilis“. Vorstellungen von menschlicher Gebrechlichkeit im frühen Mittelalter, in: Homo Debilis. Behinderte – Kranke – Versehrte in der Gesellschaft des Mittelalters (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte 3), hg. v. Cordula Nolte, Korb 2009, S. 21-55. Ders., Sarazenen als „Fremde“? Anmerkungen zum Islambild in der abendländischen Geschichtsschreibung des frühen Mittelalters, in: Fremde, Feinde und Kurioses. Innen- und Außenansichten unseres muslimischen Nachbarn (Festschrift Gernot Rotter) (Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients. Beihefte zur Zeitschrift „Der Islam“, n.F. 24), Berlin-New York 2009, S. 39-66. Ders., Erwartungen an den „Staat“: die Perspektive der Historiographie in spätkarolingischer Zeit, in: Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven, hg. v. Walter Pohl u. Veronika Wieser (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Denkschriften 16 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009, S. 471485. Steffen Patzold (Hg.), Bischofsstädte als Kultur- und Innovationszentren (Das Mittelalter 7), Berlin 2003. Ders., Wahrnehmen und Wissen. Christen und ‚Heiden’ an den Grenzen des Frankenreichs im 8. und 9. Jahrhundert, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut Bleumer u. Dems. (Das Mittelalter 8), Berlin 2004, S. 83-106. Ders., L’épiscopat du haut moyen âge en vue de la médiévistique allemande, in: Cahiers de Civilisation Médiévale 48, 2005, S. 341-358. Ders., Redéfinir l’office épiscopal: les évêques francs face à la crise des années 820/30, in: Les élites au Haut Moyen Âge, Crises et renouvellements, hg. v. François Bougard, Laurent Feller u. Régine Le Jan (Collection Haut Moyen Âge 1) Turnhout 2006, S. 337-359. Ders., Die Bischöfe im karolingischen Staat. Praktisches Wissen über die politische Ordnung im Frankenreich des 9. Jahrhunderts, in: Staat im frühen Mittelalter, hg. v. Stuart Airlie,
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Anhang
Walter Pohl u. Helmut Reimitz (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Denkschriften 334 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 11), Wien 2006, S. 133-162. Ders. u. Andreas Schorr, Personennamen in drei hagiographischen Quellen des Frühmittelalters. Die Viten des Austregisel von Bourges, des Ansbert von Rouen und des Einsiedlers Goar, in: Name und Gesellschaft im Frühmittelalter. Personennamen als Indikatoren für sprachliche, ethnische und kulturelle Gruppenzugehörigkeiten ihrer Träger, hg. v. Dieter Geuenich u. Ingo Runde (Deutsche Namenforschung auf sprachgeschichtlicher Grundlage 2), Hildesheim-Zürich-New York 2006, S. 73-99. Ders., Den Raum der Diözese modellieren? Zum Eigenkirchen-Konzept und zu den Grenzen der potestas episcopalis im Karolingerreich, in: Les élites et leurs espaces. Mobilité, rayonnement, domination (du VIe au XIe siècle), hg. v. Philippe Depreux, François Bougard u. Régine Le Jan (Collection Haut Moyen Âge 5), Turnhout 2007, S. 225-245. Ders., L’archidiocèse de Magdebourg. Perception de l’espace et identité (Xe-XIe siècle), in: L’espace du diocèse. Genèse d’un territoire dans l’Occident médiéval (Ve-XIIIe siècle), hg. v. Florian Mazel, Rennes 2008, S. 167-193. Ders., Eine Hierarchie im Wandel: Die Ausbildung einer Metropolitanordnung im Frankenreich des 8. und 9. Jahrhunderts, in: Hiérarchie et stratification sociale dans l’Occident médiéval (400-1100), hg. v. Dominique Iogna-Prat, François Bougard u. Régine Le Jan (Collection Haut Moyen Âge 6), Turnhout 2008, S. 161-184. Ders., Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts (Mittelalter-Forschungen 25), Ostfildern 2008. Ders., Bischöfe als Träger der politischen Ordnung des Frankenreichs im 8./9. Jahrhundert, in: Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven, hg. v. Walter Pohl u. Veronika Wieser (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Denkschriften 386 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16), Wien 2009, S. 255-268. Bruno Reudenbach, „Gold ist Schlamm“. Anmerkungen zur Materialbewertung im Mittelalter, in: Material in Kunst und Alltag, hg. v. Monika Wagner u. Dietmar Rübel (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 1), Berlin 2002, S. 1-12. Ders., Reliquien von Orten. Ein frühchristliches Reliquiar als Gedächtnisort, in: Reliquiare im Mittelalter., hg. v. Dems. u. Gia Toussaint (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 5), Berlin 2005, S. 21-41. Ders., Visualizing Holy Bodies: Observations on Body Part Reliquaries, in: Romanesque Art and Thought in the twelfth Century: Essays in Honor of Walter Cahn, hg. v. Colum Hourihane (The Index of Christian Art Occasional Papers 10), Princeton 2008, S. 95-106. Ders., Kopf, Arm und Leib. Reliquien und Reliquiare der heiligen Elisabeth, in: Elisabeth von Thüringen, eine europäische Heilige. Aufsätze, hg. v. Dieter Blume u. Matthias Werner, Petersberg 2007, S. 193-202. Ders., Loca sancta. Zur materiellen Übertragung der heiligen Stätten, in: Jerusalem, du Schöne. Vorstellungen und Bilder einer heiligen Stadt, hg. v. Dems. (Vestigia Bibliae 28), Bern 2008, S. 9-32. Ders. u. Gia Toussaint, Die Wahrnehmung und Deutung von Heiligen. Anmerkungen zur Medialität von Reliquiaren, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut Bleumer und Steffen Patzold (Das Mittelalter 8, 2003), Berlin 2004, S. 34-40. Ders. u. Gia Toussaint (Hg.), Reliquiare im Mittelalter (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 5), Berlin 2005. Fabian Schwarzbauer, Geschichtszeit. Über Zeitvorstellungen in den Universalchroniken Frutolfs von Michelsberg, Honorius Augustodunensis’ und Ottos von Freising (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 5), Berlin 2005.
Verzeichnis der aus dem Projekt erwachsenen Veröffentlichungen
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Volker Scior, Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 4), Berlin 2002. Markus Späth, Das ‚Regestum‘ von Sant’Angelo in Formis. Zur Medialität der Bilder in einem klösterlichen Kopialbuch des 12. Jahrhunderts, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 31, 2004, S. 41-59. Ders., Sehen und Deuten. Zur Bedeutung von Visualität in der Vergangenheitswahrnehmung klösterlicher Chronistik des 11. und 12. Jahrhunderts, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut Bleumer u. Steffen Patzold (Das Mittelalter 8), Berlin 2004, S. 67-82. Ders., Kopieren und Erinnern. Rezeption von Urkundenschriftbildern in klösterlichen Kopialbüchern des Hochmittelalters, in: ‚Übertragungen‘: Formen und Konzepte von Reproduktionen in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Albrecht Hausmann u.a. (Trends in Medieval Philology 5), Berlin-New York 2005, S. 121-128. Ders., Verflechtung von Erinnerung. Bildproduktion und Geschichtsschreibung im Kloster San Clemente a Casauria während des 12. Jahrhunderts (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 8), Berlin 2007. Gia Toussaint, Heiliges Gebein und edler Stein. Der Edelsteinschmuck von Reliquiaren im Spiegel mittelalterlicher Wahrnehmung, in: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter, hg. v. Hartmut Bleumer u. Steffen Patzold (Das Mittelalter 8), Berlin 2004, S. 41-66. Dies., Die Sichtbarkeit der Reliquie im Reliquiar – eine Folge der Plünderung Konstantinopels?, in: Reliquiare im Mittelalter, hg. v. Bruno Reudenbach u. Ders. (Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte 5), Berlin 2005, S. 89-106. Dies., Konstantinopel in Halberstadt. Alte Reliquien in neuem Gewand, in: Produktive Kulturkräfte, hg. v. Felicitas Schmieder (Das Mittelalter 10), Berlin 2005, S. 38-62. Dies., Jerusalem – Imagination und Transfer eines Ortes, in: Jerusalem, du Schöne. Vorstellungen und Bilder einer heiligen Stadt, hg. v. Bruno Reudenbach (Vestigia Bibliae 28), Bern 2008, S. 33-60. Dies., Imagination von Architektur. Das Halberstädter Tafelreliquiar als Bild des himmlischen Jerusalem, in: Mikroarchitektur im Mittelalter. Ein gattungsübergreifendes Phänomen zwischen Realität und Imagination, hg. v. Uwe Albrecht u. Christine Kratzke, Leipzig 2008, S. 213-223. Dies., Die Halberstädter Staurothek. Tradition und Innovation, in: Kunst, Kultur und Geschichte im Harz und Harzvorland um 1200, hg. v. Ulrike Wendland, Halle 2008, S. 304313. Dies., Die Kreuzzüge und die Erfindung des Wahren Kreuzes, in: Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa. Vorträge und Workshops einer internationalen Frühlingsschule, hg. v. Michael Borgolte u. Bernd Schneidmüller, Berlin 2010, S. 151-169. Dies., Die Hände der Heiligen zwischen Magie und Anatomie, in: Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte, hg. v. Mariacarla Gadebusch Bondio, Berlin 2010, S. 4362. Dies., Großer Schatz auf kleinem Raum. Die Kreuzvierung als Reliquienbühne, in: Le trésor au Moyen Age / Schatzkulturen im Mittelalter, hg. v. Lucas Burkart u. Pierre-Alain Mariaux (Micrologus Library), Florenz (im Druck).
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Register 1. Personen Achilles, lit. Fig. 132, 138, 140 Adalbero, Bf. v. Würzburg 259 Adalbert, Ebf. v. Hamburg-Bremen 184 Adam v. Bremen, Autor 165,175f., 177f., 180, 182f., 184, 190 Adamnanus, Abt v. Iona 39 Adelperga, Tochter d. lang. Kgs. Desiderius 211 Adrevald v. Fleury 91 Aegidius, röm. Militärführer 191 Aeneas, lit. Fig. 228 Agobard, Ebf. v. Lyon 89 Albert v. Aachen, Kleriker 56f. Albrecht v. Brandenburg 23 Alexander I., Papst 11, 22, 30, 63 Alexios I. Komnenos, byz. Ks. 40 Alkuin v. York, Autor 80 Amalar, Bf. v. Trier 80, 89f., 102104 Amalrich, Prior v. Hl. Grab 49 Ambrosius, Bf. v. Mailand 20, 36f., 92 Angilramn, Bf. v. Metz 209, 212, 214-216, 218, 231f., 234, 236f., 270 Ansegisel, Sohn Arnulfs v. Metz 228f., 231 Ansellus, Kantor v. Hl. Grab 47f., 56f. Apollonius, Hl. 21 Arichis, Br. d. Paulus Diaconus 211 Arkulf, Bf. v. Périgueux 39 Arnold v. Lübeck, Autor 178, 186 Arnulf v. Chocques, Patriarch v. Jerusalem 42 Arnulf v. Mailand, Autor 170, 176, 180, 201
Arnulf, Bf. v. Metz 213, 218, 227f., 230-232, 234 Attila, Kg. d. Hunnen 170 Auctor, Bf. v. Metz 203, 213, 224226 Augustinus, Bf. v. Hippo Regius 44, 92, 94, 162, 164, 166 Balduin I., Kg. v. Jerusalem 57 Basilius, Hl. 28 Benedikt v. Nursia, Hl. 98 Bernhard v. Angers 23, 29 Bernhard, Hz. v. Sachsen 182 Bernhardin v. Siena, Franziskaner 59 Bernward, Bf. v. Hildesheim 21, 74f. Berta, Äbtissin 71 Berthar, Domkanoniker in Verdun 235 Berthold v. Sperberseck 52 Berthold, Abt v. Zwiefalten 52, 185 Berthold, Stifter d. Klosters in Denkendorf 61 Blasius, Hl. 19, 21 Bodicus, comes 191 Bonifatius, Ebf. v. Mainz 172 Bruno v. Merseburg, Autor 239f., 247-265, 270f., 273f., 277 Caesar 190, 198 Caesarius v. Prüm 184 Chilperich, frk. Kg. 190 Chindaswinth, westgot. Kg. 192 Chlodulf, Bf. v. Metz 229, 232 Chlodwig I., frk. Kg. 190, 226f. Chlothar I., frk. Kg. 190 Chramn, Sohn Chlothars I. 190
286 Chrodegang, Bf. v. Metz 212f., 226, 232f. Clemens, Bf. v. Metz 212f. 221, 223f. Cosmas v. Prag, Autor 181 Cyrill, Bf. v. Jerusalem 36 Cyrus, Perserkg. 170 Daimbert, Patriarch v. Jerusalem 57 Dares, lit. Fig. 111 David, Kg. v. Georgien 47 Deianira, lit. Fig. 140 Demetrius, Hl. 64 Desiderius, langob. Kg. 211 Dionysius, Hl. 14 Discordia, lit. Fig. 119, 121, 123f., 126, 136 Egbert, Bf. v. Trier 14 Egeria, Pilgerin 37f. Einhard, Autor 180, 185, 187 Ekkehard IV., Mönch in St. Gallen 201 Erich v. Friaul, Hz. 171 Eugen III., Papst 45 Eusebius, Bf. v. Caesarea 36, 165, 220 Eutrop, Autor 211 Eventius, Hl. 22 Fardulf, Abt v. St-Denis 14 Fides, Hl. 24 Florus, Diakon in Lyon 89f., 102f., 105f. Fredegar, Autorname 191, 192, 212, 224 Fredugard, Mönch in St-Riquier 89, 104 Friedrich I. Barbarossa, Ks. 66, 175, 187 Frutolf v. Michelsberg, Autor 165 Fulcher v. Chartres, Autor 42 Fulcher, Patriarch v. Jerusalem 49
Anhang
Gabriel, Erzengel 64 Galon, Bf. v. Paris 47 Gebhard, Abt v. Schaffhausen 52 Gelasius, Bf. v. Caesarea 37 Georg, Hl. 64 Gerald v. Aurillac 29 Gérard Ithier, Prior v. Grandmont 45 Gerbert, Dieb 24 Gereon, Hl. 182 Germanus, Bf. v. Paris, Hl. 174 Gero, Ebf. v. Köln 54 Gertrud, Gf.in 19 Giotto, Maler 13 Gottfried v. Bouillon, Hz. v. Niederlothringen 41 Gottfried v. Straßburg, Autor 119 Gottfried, dän. K.gssohn 172 Gottschalk, Mönch in Orbais 90f., 104-106 Gregor VII., Papst 197, 259 Gregor, Bf. v. Tours 25, 169, 172, 174, 182, 190-192, 201, 212, 224 Guibert v. Nogent, Autor 185, 192 Guntard, Briefpartner Amalars v. Trier 102 Gunther v. Pairis, Autor 170 Haito, Bf. v. Basel 79, 81, 93 Hatto, Ebf. v. Mainz 200 Hector, lit. Fig. 128-130, 133, 138, 140 Hecuba, lit. Fig. 115, 139 Heinrich d. Löwe, Hz. v. Sachsen u. Bayern 73, 75 Heinrich II., Ks. 193 Heinrich III., Kg. v. England 48 Heinrich III., Ks. 71 Heinrich IV., Ks. 197, 239, 249253, 256-259, 261-264, 274 Helena, lit. Fig. 115, 117-119, 129, 132, 136f., 139f., 278
Register
Helena, Mutter Konstantins 35-39, 41f., 50, 64, 67f., 274 Helmold v. Bosau, Autor 175, 177f., 189 Herakleios, byz. Ks. 36, 40f. Herbord, Mönch in Michelsberg 175, 181 Hercules, lit. Fig. 140 Heribald, Bf. v. Auxerre 91 Heriold, dän. Kg. 172 Hieronymus, Kirchenvater 165 Hildegard, Gem. Karls d. Gr. 232 Hildibert, Ebf. v. Mainz 183 Hinkmar, Ebf. v. Reims 91, 188, 189 Honorius Augustodunensis, Mönch 53, 55f. Hrabanus Maurus, Ebf. v. Mainz 28, 91 Hugo v. St. Viktor, Autor 26 Isidor, Bf. v. Sevilla 166, 183 Jacobus de Voragine 37, 44 Jason, lit. Fig. 139 Johannes Chrysostomos 36, Johannes II. Komnenos, byz. Ks. 46 Johannes Kinnamos, Autor 46 Johannes Scotus Eriugena 91 Johannes v. Würzburg, Kleriker 49f. Jordanes, Autor 224 Juno, lit. Fig. 121, 128 Jupiter, lit. Fig. 116, 124f., 128 Karl d. Große, Ks. 171, 175f., 185, 187f., 190f., 200 Karl d. Kahle, Ks. 87f., 99f., 105f., 185, 211, 214f., 217f., 223, 226, 228, 230-234, 236f. Karl III., Ks. 172 Karl d. Einfältige, Kg. 193
287 Karl Martell, Hausmeier 232 Konrad II., Hz. v. DachauMeranien 60 Konrad II., Ks. 174, 177, 189, 193 Konrad III., Hz. v. DachauMeranien 60 Konrad v. Würzburg, Autor 109, 111f., 114, 117, 119, 122, 124f., 128, 131-135, 139f., 143, 154, 271, 277f. Konrad, Abt v. Petershausen 182 Konrad d. Jüngere, Hz. v. Kärnten 174 Konrad, Regularkanoniker 49 Konstantin, Ks. 35f., 38f., 41, 64, 67f., 190 Laktanz, Autor 24 Liudger, Bf. v. Münster 168 Liutward, Bf. v. Vercelli 172 Lothar I., Ks. 89, 97 Ludwig d. Bayer, Ks. 49 Ludwig d. Deutsche, Kg. 182 Ludwig d. Fromme, Ks. 86, 89, 97, 172, 181, 185 Ludwig VII., Kg. v. Frankreich 46 Macliavus, Bf. v. Vannes 191 Mamas, Hl. 21 Manuel I. Komnenos, byz. Ks. 46 Martialis, Hl. 23 Martin, Ebf. v. Tours 201 Mathilde, Mgf.in v. Canossa 21 Mathilde, Äbtissin 75 Matthew Paris, Autor 48 Maurus, Schüler d. hl. Benedikt 98 Maxentius, Ks. 67 Maximianus, Ebf. v. Ravenna 69 Minucius Felix, altkirchl. Apologet 37, 44 Mistui, Abodritenfürst 175 Nero, Ks. 170, 190 Nessus, lit. Fig. 140
288 Ninus, legend. Assyrerkg. 187 Nithard, Autor 185, 200 Norbert v. Xanten 171 Notger Balbulus, Autor 171 Odo, westfrk. Kg. 193 Omar I., Kalif 41 Orosius, Autor 189 Ortlieb v. Zwiefalten, Autor 52, 62 Otto I., Ks. 49, 183, 188f., 191 Otto II., Ks. 176 Otto III., Ks. 188, 193 Otto v. Northeim 251f., 258 Otto, Bf. v. Freising 165, 168, 171, 175, 183f., 186f., 191f., 195, 197, 200f. Ovid, Autor 109 Pallas, lit. Fig. 121f., 128 Paris, lit. Fig. 114-119, 121-126, 128, 132, 136f. Paschasius Radbertus, Abt v. Corbie 86-106 Paulinus v. Nola, Mönch u. Bf. 50 Paulus Diaconus 203, 209-212, 214-228, 230-237, 270f., 277 Peleus, lit. Fig. 116, 128, 130, 133 Petrus Venerabilis, Abt v. Cluny 17, 24, 62 Pharamund, angebl. Merowingerkg. 191 Philipp I., Kg. v. Frankreich 257 Pippin I., Kg. 232f. Pippin, Kg., Sohn Ludwigs d. Fr. 97 Polyxena, lit. Fig. 140 Pontius Pilatus 47, 193 Priamus, lit. Fig. 116, 128, 134 Proculus, Priester 172 Prokopius, Hl. 64 Quintianus, Bf. v. Rodez u. Clermont 172
Anhang
Radbertus ! Paschasius Radbertus Rahewin, Autor 187 Ratchis, langob. Kg. 210 Ratramnus v. Corbie 87f., 99-106 Regino, Abt v. Prüm 200 Roger v. Helmarshausen, Goldschmied 72f. Rothad, Bf. v. Soissons 188f. Rufinus, Bf. v. Aquileia 37 Salagast, legend. Schöpfer d. Lex Salica 191 Servatius, Bf. v. Tongeren 224 Siegfried, Ebf. v. Mainz 259, 261 Sigebert v. Gembloux, Autor 165 Silvester I., Papst 23 Sozomenos, Autor 38 Stephan v. Muret, Ordensgründer 45 Suger, Abt v. Saint-Denis 45 Sulpicius Severus, Autor 50 Sven Estridsen, dän. Kg. 257 Syagrius, röm. Militärführer 191 Thegan, Chorbf. v. Trier 181 Theoderich, ostgot. Kg. 193 Theodor, Hl. 64 Theodosius I., Ks. 36, 98, 192 Theodulf, Bf. v. Orléans 80 Theodulus, Hl. 22 Theophanu, Gattin Ottos II. 75 Thetis, lit. Fig. 116 Theudegisel, westgot. Kg. 191 Theudemar, Abt v. Montecassino 216 Theudis, westgot. Kg. 191 Thiadrich, frk. König 185 Thietmar, Bf. v. Merseburg 54, 175, 188, 200 Thiofrid v. Echternach 17-19, 23, 25, 30 Tiberius, Ks. 193 Titus, Ks. 189
Register
Trebetas, leg. Gründer Triers 187, 191 Tulga, westgot. Kg. 192 Unwan, Ebf. v. Hamburg-Bremen 182 Urban II., Papst 40 Venus, lit. Fig. 117f., 121-125, 128f., 136 Vespasian, Ks. 173, 189 Victricius, Bf. v. Rouen 21 Vratislav, böhm. Hz. 257 Vulcanus, lit. Fig. 130 Wala, Abt v. Corbie 86, 97f. Walahfrid Strabo 80 Walpert, Hl. 15 Waltcaud, Bf. v. Lüttich 80 Walter Suffield, Bf. v. Norwich 48
289 Wandalbert v. Prüm, Autor 181 Warin, Abt v. Corvey 87, 97f. Warmund, Patriarch v. Jerusalem 61 Werner, Bf. v. Merseburg 190, 239, 255 Werner, Ebf. v. Magdeburg 239, 255, 259, 261f. Wibald, Abt v. Stavelot 11, 66 Widukind v. Corvey, Autor 173, 178, 180f., 183-185, 188, 190f., 193 Wilhelm II., Kg. v. England 257 Wilhelm v. Malmesbury, Autor 177 Wilhelm v. Poitou 257 Willibald, Biograph d. Bonifatius 172 Wipo, Autor 172, 174, 177, 180, 189
2. Orte Aachen 69, 183, 191 Alexandria 223 Antiochia 40, 42, 223 Aquileia 225 Askalon 42 Aubazine 61 Aurillac 29 Auxerre 91
Byzanz 36, 40f. 43, 57, 65, 71, 89, 223
Babylon 170 Basel 15 Behringen 258 Benevent 211 Berlin 71f. Berry 61 Bosporus 33 Bourges 61 Braunschweig 15, 19 Brüssel 76
Denkendorf 58f., 61 Diedenhofen 217f.
Classe 69 Clermont 40 Cluny 62f. Corbie 86f., 89-92, 94, 97, 101, 104 Corvey 91, 98
Edessa 40 Enger 72f. Erligheim 61 Essen 28, 69, 75 Flamersheim 181 Friaul 210f.
Anhang
290 Fritzlar 71, 73f. Fulda 91 Golgatha 40, 54 Grandmont 45 Halberstadt 70 Hamburg 175, 182 Harzburg 249, 261 Helmarshausen 72 Hildesheim 74 Hoetensleben 251 Ingelheim 187 Jerusalem 34, 36, 38-43, 47, 49-58, 60f., 64, 66, 69f., 77, 274, 276 Köln 23, 28f. Konstantinopel 33f., 38-41, 43, 46, 50, 64, 66, 70 Kythera 136 Langres 21 Limoges 23, 61 Lübeck 175 Lyon 89, 91, 102 Magdeburg 189-191, 239 Mailand 181 Mainz 23, 91 Mellrichstadt 262 Merseburg 190, 197, 239, 270 Metz 203, 209, 211, 214-216, 218234, 236f., 270f., 277 Monastir 66 Monopoli 65 Montecassino 211 Monza 69 München 60, 68 New York 61, 63 Nimwegen 187
Noirmoutier 86 Norwich 48 Novalesa 182, 187, 191 Nürnberg 75 Oldenburg 175 Orbais 91, 105 Palästina 36, 40, 49, 54, 69 Paris 47, 182 Pavia 193, 211 Petershausen 182 Poitiers 218, 232 Quierzy 90f. Ravenna 69 Reims 91 Rom 36, 41, 51, 175, 210, 215, 221, 223, 230, 233, 259 Saint-Denis 14 Saint-Riquier 89, 91 Sankt Gallen 201 Scheyern 60 Schwerin 178 Soissons 191 Stavelot 11, 12, 22, 63, 65f., 68 Steinfurt-Borghorst 71 Theben 190 Thionville ! Diedenhofen Tongeren 67 Tours 201, 232 Trier 14, 89, 187, 214f., 222, 233 Troja 109, 111, 115-117, 128, 132, 134-136, 138-140, 170, 173, 192, 228-230, 271 Weißenburg 80 Westminster 48 Zwiefalten 27, 51-53, 61f.
Anhang
291
Abbildungsnachweise: Zum Beitrag Reudenbach: Abb. 1: Catalogues des collections. Musées Royaux d'Art et d'Histoire, Bruxelles, hg. von Francis Van Noten, Bd. 1: La Salle aux Trésors, Turnhout 1999, Nr. 1. Abb. 2: Egbert, Erzbischof von Trier 977 - 993. Gedenkschrift der Diözese Trier zum 1000. Todestag. Bd. 1: Katalog- und Tafelband, hg. v. Franz J. Ronig, Trier 1993. Abb. 3: Der Basler Münsterschatz (Katalog der Ausstellungen New York-BaselMünchen), hg. v. Historischen Museum Basel, Basel 2001, S. 77. Abb. 4, 5: Heinrich der Löwe und seine Zeit: Herrschaft und Repräsentation der Welfen (1125-1235) (Katalog der Ausstellung im Herzog Anton UlrichMuseum, Braunschweig 1995), hg. v. Jochen Luckhardt u. Franz Niehoff, München-Braunschweig 1995, Bd. 1, S. 246, 100. Zum Beitrag Toussaint: Abb. 1: Monumenta Boica 10 (1768). Abb. 2: Angelo Lipinsky, La stauroteca minore con perle nel tesoro di San Pietro in Vaticano, in: Bollettino della Badia Greca di Grottaferrata N.S. 12, 1958, S. 19-39. Abb. 3: Heinrich der Löwe und seine Zeit: Herrschaft und Repräsentation der Welfen (1125-1235) (Katalog der Ausstellung im Herzog Anton UlrichMuseum, Braunschweig 1995), hg. v. Jochen Luckhardt u. Franz Niehoff, München-Braunschweig 1995, Bd. 1. Abb. 4: Die Kreuzzüge. Kein Krieg ist heilig, hg. v. Hans-Jürgen Kotzur, Mainz 2004. Abb. 5: Barbara Drake-Boehm, Une croix-reliquaire limousine au musée du Berry, in: La Revue des Musées de France. Revue du Louvre 56, 2006, S. 28-37. Abb. 6, 7: William Voelkle, The Stavelot Triptych, New York 1980. Abb. 8: The Glory of Byzantium: art and culture of the Middle Byzantine era, A.D. 843-1261, hg. v. Helen C. Evans und Dems., New York 1997. Abb. 9: Henk van Os, Der Weg zum Himmel, Amsterdam 2000. Abb. 10: Canossa 1077. Erschütterung der Welt, hg. v. Christoph Stiegemann u. Matthias Wemhoff, München 2006, Bd. 2. Abb. 11: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik, hg. v. Anton Legner, Bd. 3, Köln 1985. Abb. 12: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen, hg. v. Michael Brandt, Hildesheim 1993, Bd. 2.