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German Pages 258 Year 2021
Klaus Hock, Thomas Klie (Hg.) Bachzitate: Widerhall und Spiegelung
rerum religionum. Arbeiten zur Religionskultur | Band 9
Editorial Religion ist ein Kulturphänomen. Sie zeigt sich in Kunst und Gesellschaft, in Ethos und Recht, in Sprache, Konsumkultur, Musik und Architektur. Eine Deutung spätmoderner Religion wird sich darum immer auch auf weitere Segmente der Gegenwartskultur einlassen müssen. Dies gilt auch und gerade aus der Perspektive der Religionsforschung innerhalb und außerhalb von Theologie. Jenseits der überkommenen polarisierenden Orientierungen am isolierten Subjekt oder am dogmatischen Normenkanon rückt Religion als dynamische Ausdrucksform performativer Praxis ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Religionswissenschaft, Praktische Theologie und Kulturwissenschaft stellen sich dieser Aufgabe in je spezifischen Theoriezugriffen. Dabei werden Differenzen und Deutungskonflikte, Geltungsansprüche und Übergänge kenntlich gemacht und aufgeklärt. Denn die Frage nach religionskulturellen Formaten korreliert mit der nach religiösen Traditionen, theologischen Normierungen und sozialen Zuschreibungen. Diskurse zu Religion werden so in Bezugnahme auf religionstheoretische Fragehorizonte zum Gegenstand interdisziplinären Austauschs – empirisch, philologisch und historisch vergleichend. Die Bände dieser neuen Reihe widmen sich in unterschiedlicher Weise kulturellen Phänomenen und deuten sie semiotisch und ästhetisch in ihrer geschichtlich gewordenen Gestalt. Im Horizont fachlich gebundener Herangehensweisen wissen sich die Herausgeberin und die Herausgeber in besonderer Weise der Frage nach der Relevanz ihres Gegenstands verpflichtet. Die Reihe wird herausgegeben von Klaus Hock, Anne Koch und Thomas Klie.
Klaus Hock (Prof. Dr. theol.) ist Professor für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Islam und christlich-islamische Beziehungen (insb. in Afrika südlich der Sahara), Afrikanische Religionen und Religionen in Afrika (insb. afrikanisches Christentum), Religionshybride, Transkulturation und Divination. Thomas Klie (Prof. Dr. theol.) ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind Pastoral- und Religionsästhetik, spätmoderne Religionskultur und Religionshybride, Performanztheorie und Sepulkralkultur.
Klaus Hock, Thomas Klie (Hg.)
Bachzitate: Widerhall und Spiegelung Übergänge zwischen Klang und Bild im Anschluss an Bach
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagcredit: August Macke, Farbige Kompositionen I (Hommage à Johann Sebastian Bach), 1912, Öl auf Karton, 101 x 82 cm, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen Satz: Frank Hamburger, Rostock Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5639-8 PDF-ISBN 978-3-8394-5639-2 https://doi.org/10.14361/9783839456392 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt Einleitung
Klaus Hock/Thomas Klie | 7 Biblisch-poetische Bilder, musikalisch inszeniert – ein theologisch-musikologischer Blick auf Bachs geistliche Kantaten
Jochen Arnold | 19
Synästhesien in der konzertanten Aufführungspraxis
Christian Domke | 75
Lambarena. Imaginäre Interferenzen oder: Die agency von Klangräumen
Klaus Hock | 81
Bach oder die Kunst, Andacht zu inszenieren Ein Werkstattbericht
Arend Hoyer | 113 „Lachen und Weinen wird gesegnet sein“ – (Sichtbare) Emotionen beim Singen von religiösen Liedern
Jochen Kaiser | 129
Musik erzählt eine eigene Geschichte Werke von Johann Sebastian Bach als Filmmusik zwischen Blockbuster und Arthauskino
Klaus-Dieter Kaiser | 141
Museumspädagogik am Bach-Museum Leipzig
Claudia Marks | 169
„Es ist genug“: Interferenzen von Klang und Bild
Hartmut Möller | 185
Bach als Therapeut
Isgard Ohls | 201
Synästhetische Wahrnehmung und das Visuelle in der Musik des Barock
Dr. Michael Haverkamp | 217
Autorinnen und Autoren | 255
Einleitung Klaus Hock/Thomas Klie
Spricht man von der „Klangfarbe“ eines Musikstückes, dann verbirgt sich dahinter ein Oxymoron, das sprachlich kaum noch als solches wahrgenommen wird. Klang ist ein Schallereignis, das primär das Gehör anspricht, und Farbe ist ein über die Augen vermittelter Sinneseindruck. Das Kompositum aus den normalerweise distinkten Wahrnehmungskanälen sehen und hören setzt voraus, dass es Übergänge und Interferenzen zwischen diesen beiden elementaren Modalitäten menschlicher Weltzugänge gibt. Wie ein Klang ein visuelles Empfinden und ikonische Vorstellungen hervorrufen kann, so kann Farbe auch auf akustischen und musikalischen Phänomenen abgebildet werden. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Ausdruck der „Tonmalerei“, einer Kompositionstechnik, die vor allem im Barock Einzug in das Musikschaffen hielt. Emotionale Regungen sollten durch multisensorische Formgestaltung angeregt werden. Helligkeit, Farbgebungen und Bewegungen werden zu in dieser Zeit wichtigen virtuellen Korrelaten zur Musik. Auch und gerade Johann Sebastian Bach bediente sich dieser Kompositionstechniken, um bestimmte Aussagen eines Textes (in der Vokalmusik) lautmalerisch zu unterstreichen bzw. bestimmte Semantiken (in der Instrumentalmusik) bei den Hörenden anzuregen. Das Bild findet seinen Widerhall im Klang, und Musik wird auf sublime Weise in der Spiegelung sichtbar. Künstlerische Stilmittel wie diese können Synästhesien erzeugen. Als Formalbegriff meint „Synästhesie“ zunächst einmal das „Zusammenempfinden“ von Sinneseindrücken, die im Prinzip getrennt voneinander wahrgenommen werden. Bei manchen Menschen geht diese Besonderheit in der Wahrnehmung auf eine genetische oder erworbene Disposition zurück, bei der innerpsychisch vordergründig nicht beteiligte Gehirnareale miterregt werden – ein Phänomen, das die Synästhesieforschung als „genuine Synästhesie“ kategorisiert.1 Abgesehen von diesem Sonderfall sind grundsätzlich 1 „Synästhesie, genuine“: https://www.synaesthesie.org/de/synaesthesie/synaesthesielexikon vom 14.10.2020.
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alle Menschen in der Lage, intuitiv Verbindungen zwischen den Sinnen herzustellen und damit das zu erfahren, was als „metaphorische Synästhesie“ bezeichnet wird.2 Dies umso mehr, wenn Synästhesien programmatisch provoziert werden, z.B. in der bildenden Kunst oder wie hier in der Tonkunst. Neben den Überblendungen in der menschlichen Wahrnehmung durch gezielt eingesetzte Kopplungen künstlerischer Effekte liefert die moderne Synästhesieforschung auch neue Impulse zur Analyse von Verbindungen zwischen den Sinnen. Sie erlaubt z.B. die multisensorische Analyse verschiedener Musikstile und Epochen.3 Wie sich dieses durchaus anspruchsvolle interdisziplinäre Programm in der künstlerischen Praxis abbildet, spiegelt sich im Jubiläumsjahr von Ludwig van Beethoven in Form eines ungewöhnlichen Kunstprojekts. Unter der Überschrift „Augen auf! Beethoven“ schaffen Medien-Künstlerinnen und -Künstler mit Beethovens Musik beeindruckende Videoart. „Farbenfroh und verspielt, düster und hintergründig oder aufschlussreich beim genauen Blick hinter die Partitur: Hier wird Musik zu Licht, Farbe und Bewegung.“4 Auf die Frage, wie die Musik Beethovens eigentlich aussieht, finden die Videokünstler ganz unterschiedliche Antworten. So verlegt der Videokünstler Robert Seidel z.B. das Allegretto aus dem zweiten Satz von Beethovens Symphonie Nr. 7 in eine fantastische Wüstenebene. „Ruhig und beständig fließt die Musik dahin und eröffnet immer größere Räume. Genau wie die Musik gibt Robert Seidels Wüstenlandschaft den Blick frei für neue Perspektiven und Details – konkrete und abstrakte. Die Realität vermischt sich mit surrealen Elementen. Und manchmal wartet hinter einer Biegung eine echte Überraschung.“5 Die Beiträge in diesem Band widmen sich ebenfalls verschiedenen Aspekten synästhetischer Musikwahrnehmung. Es wird danach gefragt, welche Wirkungen die Musik Johann Sebastian Bachs im Interferenzfeld von Bild und Klang hervorgerufen hat. Die Spurensuche, die über die verschiedenen disziplinären Perspektiven Gestalt annimmt, gilt der Frage, wie sich innovative, kreative, phantasievolle,
2 Von diesem noch kaum erforschten Phänomen ist weiterhin die literarische Synästhesie zu unterscheiden: „Hier sind keine erlebten Wahrnehmungsphänomene gemeint, sondern vielmehr synästhetische Metaphern oder Analogien.“ (Ebd.) 3 Bartelmes, Barbara: Vom Rand ins Zentrum. Zum Stellenwert der Synästhesieforschung in der Musikwissenschaft, in: Musik befragt – Musik vermittelt, Augsburg: Wißner, 1996, S. 40–51; Haverkamp, Michael: Handbook for a Multi-Sensory Approach, Basel: De Gruyter 2012. 4 https://www.ndr.de/ndrkultur/Medienkuenstler-visualisieren-Beethovens-Musik, augenaufbeethoven100.html vom 11.10.2020. 5 Ebd.
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gelegentlich auch irritierende und verstörende klangfarbliche oder farbklangliche Neukompositionen von dem großen Kirchenmusiker inspirieren ließen. Jochen Arnold untersucht in seinem Beitrag die Kantaten Johann Sebastian Bachs. Er deutet sie als „Wort- und Affektmusik“. Die musikalischen Mittel, darunter vor allem Melodiefiguren, sollen – angelehnt an die musikalische Rhetorik der Zeit – Emotionen auslösen und konkrete Botschaften vermitteln. Die mehr als 100 überlieferten Figuren setzt Bach gezielt als Bedeutungsträger ein. Exemplarisch betrachtet Arnold folgende musikalische Bilder: Naturbilder (in den Kirchenkantaten „Brich dem Hungrigen dein Brot“, BWV 39 und „Der Himmel lacht! Die Erde jubilieret“, BWV 31 sowie in der Kreuzstabkantate, BWV 56); Bilder von Teufel, Tod und Sünde (in der Choralkantate „Nimm von uns, Herr, du treuer Gott“, BWV 101 bzw. in „O Ewigkeit, du Donnerwort“, BWV 20 und in „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“, BWV 25); Christus- und Erlösungsbilder (in „Was Gott tut, das ist wohlgetan“, BWV 99; in „Ich bin der gute Hirt“, BWV 85 und in „Du Hirte, Israel, höre“, BWV 104) und Liebesbilder (in der Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“, BWV 21; in „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, BWV 140; in „Ach! Ich sehe, itzt, da ich zur Hochzeit gehe“, BWV 162 sowie in der Kantate „Ich geh und suche mit Verlangen“, BWV 49). Bach zeigt sich hier nicht nur als grandioser Komponist, sondern auch als Bildkünstler, der Formen und Farben einsetzt, die „so vielfältig wie die Farbpalette eines Rembrandt oder Michelangelo“ sind. Mit Christian Domke kommt dann ein Kirchenmusiker zu Wort, der in seiner konzertanten Arbeit an der St. Paulskirche in Schwerin stark auf das synästhetische Erleben setzt. Der sakrale Raum als architektonischer Resonanzkörper soll „ein Echo produzier[en], welches lang nachklingt und zur weiteren Beschäftigung einlädt“. Das „mehrdimensionale Hören“, das hier programmatisch im Hintergrund steht, wird über die „Verknüpfung verschiedener sensitiver Rezeptionsmechanismen, insbesondere über den Diskurs mit Raum, Kunstwerk, Instrument und Publikum“ in Szene gesetzt. Verschiedene „Medien, wie Bild- oder Videoprojektionen, Tanz oder Lesung“ dienen dabei als Werkzeuge, „die den Detailreichtum zu ergründen helfen“. Dieses Konzept wird anhand von drei Beispielen ausgeführt: Zur Kantate „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir“ (BWV 131) lässt Domke ein Ballettensemble tanzen. In einem nächtlichen Orgelkonzert wurde die Projektion des Paulskirchenturms als Landmarke und Identifikationsmerkmal in einer Zeitrafferaufnahme zur Grundlage einer zeitgenössischen Improvisation für Orgel und Violoncello. Und im Abschlusskonzert der „Tage Alter Musik“ wurde der Hochaltar mit Folie abgehängt und entsprechend illuminiert. Ziel war es, die „Ästhetik des Vertrauten“ zu blockieren oder zu forcieren. Klaus Hock widmet seinen Beitrag einem interkulturellen Projekt. In der musikalischen Hommage an Albert Schweitzer „Lambarena – Bach to Africa“ (1993)
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bringen der französische Komponist Hughes de Courson und der gabunische Musiker, Schriftsteller und Philosoph Pierre Claver Akendengué das Schaffen Johann Sebastian Bachs mit afrikanischer Rhythmik und Melodik von Gabun zusammen. Albert Schweitzer hatte 1913 in Lambarene eine Krankenstation eröffnet, doch er war nicht nur Mediziner, sondern auch Bach-Kenner und Interpret. „Lambarena“ besteht aus insgesamt 15 Musikstücken, von denen 14 aus einer Bach-Komposition und einem gabunischen Musikstück collagiert sind. In religionswissenschaftlicher Perspektive sollen an diesem Beispiel, inspiriert von den „Postcolonial Studies“ und entlang der Kategorien „Soundscapes“ bzw. „Imagination“ Impulse unter anderem für den interkulturell-theologischen Wissenschaftsdiskurs gesetzt werden. So löst die Produktion musikalischer ‚Hybride‘ durchaus ambivalente Reaktionen aus, die in diesem Fall von einer touristischen „Zurichtung des Fremden“ als eurozentrisches Crossover bis hin zu der Stellungnahme reichen, dass Europa längst schon das Recht auf die exklusive Deutung seiner eigenen Tradition verwirkt habe. Aber, fragt Hock, thematisiert dieses Projekt postkolonialer Musik über die intendierte Hybriditätsproduktion auch Religion auf eine andere, neue Weise? Nicht erst die getanzte Version von Lambarena verknüpft musikalische und visuelle Bilder und performiert imaginierte und imaginäre Räume, so die These; bereits der Klang kreiert ein handlungsmächtiges Medium, in dem und durch das sich das Inéffable – das „Unsagbare“ – konstituiert und kommuniziert. Raumbezogene agency gerät als eigenständige Größe in den Blick, zumal die hier generierten Klangräume Potenziale enthalten, die über das bloß Klangliche hinausweisen. Arend Hoyer wendet sich dem Frömmigkeitsaspekt des Bachschen Musikschaffens zu, indem er der Frage nachgeht, was seine Kompositionen zu einer „andächtig Musig“ machen. Dazu bezieht er sich zunächst auf die Eintragungen Bachs in seiner Calov-Bibel von 1681, die die These nahelegen, dass für Bach die Musik keine kultirrelevante Nebensache darstellt, sondern zum Kernbestand kirchlicher Heilsvermittlung zählt – eine Einsicht, die sich nicht zuletzt seinem persönlichen Bibelstudium verdankt. Die „Klangrede“, die Bach in seiner Musik inszeniert, folgt den klassischen rhetorischen Gliederungsprinzipien: inventio, dispositio, elocutio und actio. „Was die Priester auf der Kanzel und am Altar in Bezug auf den äußeren Gottesdienst vollziehen, spiegelt sich an Bachs Pult in Bezug auf den inneren Gottesdienst wider.“ Was aber geschieht genau beim Singen von religiöser Musik im Gottesdienst? Jochen Kaiser zeichnet in seinem Gedankengang die Emotionen beim Singen nach, die er auf empirischem Wege durch Videoanalysen rekonstruiert hat. Die kulturelle Aktivität des Singens beeinflusst auf ästhetische und emotionale Weise die Hörer, aber das körpereigene Organ der Stimme bindet nicht nur Körper und Geist, sondern wirkt auch auf die Singenden zurück. Darüber hinaus hat das
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Singen im Gottesdienst eine kaum zu überschätzende Funktion, wird doch durch diese bedeutungsvolle Aktivität die Anbetung und Anrufung Gottes wirksam und gültig vollzogen. Gegenstand von Kaisers Analyse sind der Kirchentag in Hamburg (2013), das evangelische Chorfest in Leipzig (2014) und der Gospelkirchentag in Kassel (2014). Deutlich werden die Diskrepanzen des leiblichen Involvements vor allem hinsichtlich des Dirigats sowie der jeweiligen Liedgattung. Die regungslose Haltung als typische Haltung evangelischer Rezeption in klassischen Konzerten und Gottesdiensten wurde über Jahrhunderte eingeübt, um die körperliche Aktivität zu reduzieren. Offenbar braucht es heute in der gottesdienstlichen Praxis „eine Schule des körperlichen Ausdrucks“. Klaus-Dieter Kaiser wechselt das Genre, indem er auf Bachs Werke als Filmmusik reflektiert. In den verschiedenen Filmanalysen dominiert eine eher rezeptionsästhetische Perspektive. Im Film Se7en von David Fincher (1995) begegnen sich Thriller-Motive des Genrekinos mit namhaften Schauspielern und ethisch-religiöse Diskurse über das Böse. Die Musik von Bach unterstreicht hier an den entscheidenden Stellen des Films das Erhabene. Es zeigen sich dabei die drei Grundspannungen, die die Theorie der Filmmusik bestimmen: die jeweilige Eigenständigkeit von Bild und Ton, die Wirkung der eingesetzten Musik auf den gesamten Film bzw. die einzelne Szene und schließlich die Affinität zwischen bestimmten Filmgenres und spezifischen Musikstilen. In allen diesen Spannungen, so die These, ist die Filmmusik immer mehr als eine bloße Illustration des Gesehenen auf der Ebene der Tonspur. Filmmusik ist sowohl Abbildung als auch Deutung; zu unterscheiden sind dabei für die Wirkung eine persuasive Funktion, eine syntaktische, eine hermeneutische und eine Rezeptionsfunktion. Bachs Musik spiegelt sich in mehreren Filmgattungen: zunächst natürlich in Filmen über das Leben von Johann Sebastian Bach und in filmischen Interpretationen vor allem der großen Passionen bzw. Oratorien. In vielen Filmen werden aber auch Werke von Bach durch die Filmfiguren bewusst abgespielt. Das Gros der Filme mit Bach-Motiven ist allerdings ganz verschiedenen Genres mit je sehr unterschiedlichen Motiven und Wirkungen zuzurechnen. Hier legt sich die Musik von Johann Sebastian Bach „aufgrund ihrer kulturübergreifenden Bekanntheit nahe. Sie kann so als Zitat für breite Kreise (unabhängig von kultureller Herkunft und Bildungsgrad) genutzt werden, da sie – besonders in ihrer Emotionalität – entsprechende Erinnerungen beim Sehen und Hören wachrufen kann.“ Claudia Marks gibt einen Einblick in die museumspädagogische Arbeit des Bach-Archivs in Leipzig, das jährlich von 50.000 Gästen besucht wird. Die „Bach-Pilger“ unterscheiden sich von den beiläufigen Besuchern durch die Art und Weise, wie sie die verschiedenen Autographe in diesem „Musentempel“ betrachten: „Man kann sehen, wen die Autographe so tief berühren, dass er oder sie regelrecht in ihrem Anblick versinken.“ Für viele hat das originale Noten-Bild
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sogar den Wert einer Reliquie. Für Kinder- und Schüler-Gruppen dagegen greifen die musemspädagogischen Methoden, um das Interferenzfeld von Bild und Klang zu bespielen. Didaktische Zugänge wie etwa „kleine Komponisten“ (Vertonungen mit Orff-Instrumenten), „klingende Bilder“ (graphische Notation) oder „Musik in Farben“ (Umsetzung von Musik in farbige Formen) regen diese kreativen Transformationen an. Hartmut Möller geht der Frage nach, was Bachs Musik so ergiebig für klangfarbliche und farbklangliche Neukompositionen macht. Seine These: In Bachs Musik selber liegen in eigentümlicher Weise Überschneidungen von Bild und Klang vor, deren Interferenzen von zeitgenössischer Auseinandersetzung bis heute thematisiert werden. Als Exempel dient Möller der Abschlusschoral „Es ist genug“ aus der Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ (BWV 60), wo die Vielschichtigkeit musikalischer Figuren in besonderer Weise hervortritt: durch Koppelungen von abbildender Klangwirklichkeit und außermusikalischer Bedeutung im Text, die durch die barocke Figurenlehre ergänzt wird. „Alle Figur- und Affektdarstellungen und auch die musikalischen Klangsymbole wie das musikalische Kreuzeszeichen haben in erster Linie nicht symbolische, sondern ikonische, bildhafte Funktion.“ Isgard Ohls zeichnet im Rahmen ihrer „fragmentarischen Spurensuche“ die Relevanz der Bach-Interpretation Albert Schweitzers für therapeutisches Handeln im klinischen Alltag nach. Der Tropenarzt von Lambarene fand in Bachs Musik immer auch einen Ausgleich vom anstrengenden klinischen Alltag eines komplexen Spitalorganismus. Und so heben auch aktuelle musiktherapeutische Studien hervor, dass sich die Musik Bachs u.a. positiv auf das autonome Nervensystem und das kardiovaskuläre System auswirkt. Die zum Teil verblüffenden Effekte beim Einsatz bestimmter Stücke Bachs sprechen für sich; die methodischen Verwendungszusammenhänge reichen hier von der Gruppendynamik über musikmedizinische Interventionen bis hin zur Selbsterfahrung. Es besteht jedoch weiterhin „ein ausgeprägtes Forschungsdesiderat zum systematischen Einsatz Bachscher Musik“. Michael Haverkamp diskutiert die Frage, aufgrund welcher Wahrnehmungsprozesse eine unmittelbare Kommunikation visueller Gegebenheiten jenseits des Notenbildes durch musikalische Mittel möglich ist. Beruhen diese Prozesse auf den Kompositionstechniken einer eher visuell ausgelegten „Musikmalerei“ oder auf den rhetorischen Stilfiguren einer „Klangrede“? Und wird dabei auf onomatopoietische Effekte gesetzt oder werden andere Sinneseindrücke in Gehörtes übersetzt? Haverkamp wendet sich in diesem Zusammenhang auch der Gegenrichtung zu: der visuell-künstlerischen Annäherung an musikalische Werke, z.B. an das Formkonzept der Bachschen Fuge. Für die Analyse solcher Übergänge kommt der Kategorie der Synästhesie eine zentrale Rolle zu. So „sehen“ synästhetisch
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begabte Menschen beim Hören von Musik ganz spontan Konfigurationen aus farbigen Formen. Die Vielfalt synästhetischer Phänomene weist darauf hin, dass beim Menschen zwischen nahezu allen Hirnarealen direkte Verbindungen möglich sind. In der musikwissenschaftlichen Literatur steht vor allem die visuelle Wahrnehmung im Vordergrund der Betrachtung; viele Ansätze beschäftigen sich mit intermodalen Analogien, also mit Korrelationen visueller und auditiver Eigenschaften (z.B. die Verknüpfung von räumlicher Höhe und Tonfrequenz, bis hin zur Kopplung von Farbe und Tonhöhe über die Frequenzen von Licht und Schall). Dies kommt auch in der Musik Johann Sebastian Bachs zum Ausdruck, wenn er z.B. Jesus in den Rezitativen der Matthäuspassion mit einem Heiligenschein ausstattet, indem Jesu Worte im Sinne eines Accompagnato-Rezitativs mit Violinen über einem Bassfundament begleitet werden. Ein Band wie dieser, der aus einer Tagung hervorgegangen ist, muss sich stets darauf befragen lassen, was die einzelnen in ihm versammelten Beiträge zusammenhält, zumal wenn diese ein breites Spektrum von Fachdisziplinen und damit eine Vielfalt von Perspektiven zur Sprache bringen – in diesem Fall: von musikwissenschaftlichen über religionswissenschaftliche bis hin zu medizinischen und ingenieurswissenschaftlichen. Lässt sich also ein „roter Faden“ erkennen, gibt es etwas, das die verschiedenen Darstellungen durchzieht – als wiederkehrendes Thema oder als weiterführender Impuls?6 Diesbezüglich lässt sich konstatieren: Es gibt vielleicht nicht ‚einen‘ oder gar ‚den‘ roten Faden, aber doch ein paar ‚rote Fasern‘ in Gestalt einer Reihe von durchaus ähnlichen Trajektorien, die es erlauben, gemeinsame Akzentuierungen und daraus erwachsende Diskursstränge zu markieren. Der erste Aspekt ist so banal wie offensichtlich: Mit der Referenz auf Johann Sebastian Bach selbst drängt es sich geradezu auf, den Aspekt des Auratischen seiner Musik hervorzuheben,7 auch und gerade jenseits des musikwissenschaft6 Das Englische unterscheidet hier sehr differenziert zwischen motif als reason for doing something und motive als pattern oder als subject, an idea or a phrase that is repeated and developed (siehe etwa https://www.oxfordlearnersdictionaries.com/definition/ english/motif?q=motif bzw. https://www.oxfordlearnersdictionaries.com/definition/ english/motive_1?q=motive vom 20.10.2020. 7 Über den Begriff der Aura, des Auratischen wäre viel zu sagen, nicht nur mit Blick auf die Kategorie der Aura im Bereich des Musikalischen – vgl. etwa den breiten Verwendungszusammenhang in der Applikation auf so unterschiedliche Musikformen wie die von Richard Wagner (Friedrich, Sven, Das auratische Kunstwerk. Zur Ästhetik von Richard Wagners Musiktheaterutopie, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2015; grundlegend zum Aura-Begriff darin Kap. 1: Theoretische Grundlegund des Aura-Begriffes, ebd., S. 14–41) oder auch in der Popmusik (Finke, Thomas David, Über das Aurati-
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lich Beschreibbaren und Analysierbaren. Das Geniale, Genialische des Bachschen Œuvres ist eben nicht nur Ausdruck exzeptioneller schöpferischer Schaffenskraft eines individuellen „Genies“. Vielmehr erweist sich das Werk dieser einen Person, brennpunktartig konzentriert und damit epochal und epochenübergreifend, als Repräsentanz eines „Genius“ – eines Genius nicht im konkret-partikularen,8 sondern im generischen Sinne konventioneller Semantik: eines Geistes, der vor Unheil schützt. Bachs auratische Genialität wirkt eine Aura des Genius und schafft damit die Bedingung der Möglichkeit, in unterschiedlichen Modi der Rezeption diesen Geist zu aktualisieren und damit auf neue Weise zu inszenieren, zu konkretisieren und zu realisieren, also wortwörtlich: Wirklichkeit werden zu lassen; und das eben nicht nur in musikalischer Gestalt, in der Dimension des Klanglichen, sondern in der Fülle des Sinnlichen sowie daraus erwachsender, performativ induzierter Formen der Verkörperlichung und Materialisierung – inklusive ‚heil(s)wirkender‘ Impulse bis hin zur manifesten Effekt des Therapeutischen (vgl. unter anderem insbesondere die Beiträge von Jochen Kaiser oder Isgard Ohls). Wie Claudia Marks ausführt, ist die Aura des Bachschen Werkes jedoch auch in visueller Form und bereits in den originalen Notationen des Komponisten verankert. Selbst in digitalisierter Gestalt bleibt das Auratische erhalten; beim Betrachten von Quellen-Scans autographer Partituren vermittelt sich den Betrachtenden „nicht allein das Faktum von Bachs Musik, sondern auch die auratische Dimension seiner Handschriften in einer Art Augenmusik, die in vielen Fällen zu einem bereicherten theologischmusikalischen Verständnis, wenn nicht gar zu neuer musikalischer Interpretation anregen kann.“9 sche in der Popmusik und seine kompositorischen Implikationen, unv. Diplomarbeit, Folkwang Universität der Künste 2008, siehe https://www.folkwang-uni.de/home/gestaltung/designstadt-essen/verteilerebene-folkwang-galerie/vollanzeige/projects-detail/ ueber-das-auratische-in-der-popmusik-und-seine-kompositorischen-implikationen/ vom 20.10.020) –, sondern beispielsweise auch im Bereich der Architektur (siehe beispielsweise Buchner, Maximiliane/Minta, Anna (Hg.), Raumkult – Kultraum. Zum Verhältnis von Architektur, Ausstattung und Gemeinschaft, Bielefeld: transcript 2019, darin insbesondere den Beitrag von Georg Maria Roers, SJ, Aurora – Aurum – Aura). Selbstverständlich ist Walter Benjamins Verwendung der Metapher der Referenzpunkt für alle Annäherungen (Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Berlin: Suhrkamp, 6. Aufl. 2019 [1939; frz. 1936]). 8 Siehe etwa Maharam, Wolfram-Aslan, Art. Genius, in: Hubert Cancik/Helmuth Schneider/Manfred Landfester (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015, Bd. 4, S. 915–918. 9 Hausmann, Christiane, „Bach digital: Ein ‚work in progress‘ der digitalen Musikwissenschaft“, in: Bibliothek – Forschung und Praxis 42/2 (2018), S. 247–254, hier S. 254.
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Damit ist unmittelbar der zweite Aspekt verknüpft, der bereits eingangs prominent hervorgehoben wurde: die im Werk Bachs angelegte Dimension des Synästhetischen. Dieses Potenzial wiederum kann sich durchaus in unterschiedlichen Gestalten manifester Synästhesie niederschlagen, wie der Beitrag von Michael Haverkamp zeigt, aber auch in metaphorischen Synästhesien, die durch künstlerische Interpretationen und Neuinszenierungen stimuliert bzw. evoziert werden, allerdings schon in der Ikonizität der Bachschen Musik10 angelegt sind (Hartmut Möller). Als produktiv-rezeptives Integral medialisiert die Klangbildkunst Bachs Botschaften und bewirkt emotionale Öffnung (Jochen Arnold); und durch das Einspielen Bachscher Musik in das Medium bewegter Bilder etwa werden multifunktional – und somit zumindest indirekt auch durch synästhetisierende Aufreizungen – nicht nur Markierungen gesetzt, sondern in kreativer Weise neue Perspektiven und Deutungen durchgesetzt (Klaus-Dieter Kaiser). Ein dritter Aspekt betrifft die Dimension des Räumlichen: Das Bachsche Werk animiert qua Aura und Synästhesie nicht nur Bild und Klang, wirkt nicht nur Verkörperlichung und Materialisierung, sondern inszeniert „Andacht“ – als besonderen Modus des Gottesbezugs – und performiert Räume (Arend Hoyer, Klaus Hock, Christian Domke). In diesem Zusammenspiel entstehen Machtsphären, oder vielleicht besser: Ermächtigungssphären, als Ausdruck und Produkt des in der Musik Bachs angelegten Potenzials, das in Rezeption und Re-produktion (Interpretation, Umformung, Neukreation etc.) Räume für wirkmächtiges Handeln schafft. Ob und inwieweit deshalb dem Raum selbst Handlungsmacht, agency, zuzuschreiben ist, dürfte zwar strittig bleiben, ohne Zweifel aber ist die Wirkmacht Weiter stellt die Autorin fest: „So gibt es bereits Musiker, die das Digitalisat der Originalhandschrift jeder modernen Ausgabe vorziehen und direkt aus der bei Bach digital herunterladbaren PDF-Kopie des Originals spielen.“ (ebd.) 10 Im hier referenzierten Kontext der Bachschen Musik steht die Ikonizität im Mittelpunkt, der nach Charles S. Pierce vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Symbol, Index und Ikon insofern besondere Qualität eignet, als sie durch ein starkes Abbild- und Ähnlichkeits-Verhältnis charakterisiert ist und insofern über das traditionelle Verständnis des Symbolischen hinausgeht – siehe etwa die zusammenfassenden Darstellungen im Tübinger „Glossar der Bildphilosophie“: Symbol, Index, Ikon (http://www.gib.unituebingen.de/netzwerk/glossar/index.php/Symbol,_Index,_Ikon vom 20.10.2020) oder bei Pusch, Claus D., Ikonizität, in: Haspelmath, M. et al. (Hg.), Language Typology and Language Universals. Sprachtypologie und sprachliche Universalien. La typologie des langues et les universaux linguistiques. Ein internationales Handbuch, Berlin und New York: De Gruyter 2001, S. 369–384. Folgerichtig hebt Hartmut Möller in seinem Beitrag hervor, dass alle Klangfiguren bei Bach „nicht symbolische, sondern ikonische, bildhafte Funktion“ haben, wie bereits oben zitiert.
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der Bachschen Musik mittels ihrer Ikonizität jenseits des Musikalischen, also jenseits des Klangs, und aufgrund ihres Auratischen und Synästhetisierenden auch jenseits des Visuellen, also jenseits des Bildlichen, real – und in der Verbindung von Performation und Raum auch jenseits einer im architektonischen Sinne verstandenen Raumperformance präsent, indem Sie Performanzraum schafft.11 Die Faszination der Musik Johann Sebastians Bach verdankt sich also offensichtlich nicht dem Klanglichen allein, sondern der in ihr angelegten Potenzialität, dieses mittels Auratisierung und Synästhetisierung zu überschreiten. So entstehen in der Aufführung multimediale Räume, in denen die in der Musik angelegte Macht als modal verstandene potentia aktualisiert wird. Die hier auf der Suche nach dem ‚roten Faden‘ dieses Tagungsbandes aufgespürten ‚Fasern‘ bilden selbstverständlich nur ausgewählte Beispiele für übergreifende Aspekte; jeder einzelne wäre es wert, detailliert beleuchtet und weiter entfaltet zu werden. Daneben ließen sich in den einzelnen Beiträgen noch andere, womöglich nicht weniger gewichtige und ebenfalls gemeinsame thematische Stränge finden, die – wenngleich bisweilen nur implizit angesprochen oder bloß indirekt in den Blick genommen – es verdient hätten, herausgearbeitet und traktiert zu werden. Der Aspekt der Resonanz etwa,12 obgleich in den Beiträgen nicht ausdrücklich als eigenständige Kategorie thematisiert, würde vor dem Hintergrund der prominenten Debatte um dieses Konzept,13 und zwar auch jenseits seines kulturanthropologisch-sozialphilosophischen Verwendungszusammenhangs,14 11 Allgemein-einführend wie grundlegend mit Blick auf die architektonische Dimension vgl. unter anderem Metzger, Christoph (Hg. im Auftrag des Internationalen Musikinstituts Darmstadt), Musik und Architektur, Saarbrücken: Pfau 2003 oder weiterführend Ders., Architektur und Resonanz, Berlin: Jovis 2015. Eine Form dieser Performanzräume wäre beispielsweise ein durch Film und Musik konstituierter (multi)medialer Raum, siehe hierzu etwa Krohn, Tarek, Film und Musik als multimedialer Raum, Marburg: Schüren 2012. 12 Rosa, Hartmut, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp Verlag 2016. 13 Siehe etwa Wils, Jean-Pierre (Hg.), Resonanz – im interdisziplinären Gespräch mit Hartmut Rosa, Baden-Baden: Nomos 2019 oder – besonders nahe zur Musikthematik – etwa die vor gut zwei Jahren vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Kooperation mit der Fachgruppe Musiksoziologie der Gesellschaft für Musikforschung durchgeführte Tagung „Resonanzen. Zwischen Begriff und Idee, Metapher und Phänomen“ (https://www.aesthetics.mpg.de/institut/veranstaltungen/vergangene-veranstaltungen/tagung-resonanzen.html vom 20.10.2020) 14 Zur „Einfühlungstheorie“ siehe etwa Mainberger, Sabine, „Vom Bilderdienst zur Kunstwissenschaft? Zu Proust und Warburg. Mit einem Umweg über die Einfüh-
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anregende, weiterführende Diskussionen eröffnen. Ein anderer Aspekt betrifft die Frage des Zugangs zur Musik Bachs, der in historischer Perspektive eben nicht unmittelbar oder direkt möglich ist, sondern hermeneutische Operationen und Aktionen verlangt. Das Membranventil der Geschichte erlaubt keinen Rückgriff darauf, wie „es“ – in unserem Fall: die Bach Musik Johann Sebastian Bachs – in actu, ‚wirklich‘ war, es bleiben nur Rekonstruktionen und Aufführungen, Darbietungen, Interpretationen als Re-inszenierungen, bestenfalls Re-sonanzen. Gibt es ein auratisches Fluidum, das die Musik Bachs ‚authentisch‘ über oder durch jenes Membranventil der Geschichte transportieren könnte? Wenn, dann müsste es dieses umfassen und zugleich transzendieren, was bestenfalls metaphorisch sowie jenseits der Kontur des Bachschen Werkes und seines genialen Schöpfers zu beschreiben wäre. Vielleicht mit einem dem bereits oben erwähnten Jubilar, Ludwig van Beethoven (1770–1827) zugeschriebenen Aphorismus: „[N]icht Bach, sondern Meer sollte er heißen, wegen seines unendlichen unausschöpfbaren Reichthums von Toncombinationen und Harmonien.“15
lungstheorie“, in: Aurenhammer, Hans/Prange, Regine (Hg.), Das Problem der Form. Interferenzen zwischen moderner Kunst und Kunstwissenschaft (= Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst, herausgegeben vom Kunstgeschichtlichen Institut der GoetheUniversität Frankfurt am Main, Band 18), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2016, S. 207–226 – und für die Frage nach dem materiellen „harten Kern“ von Resonanz wäre die Philosophie der Physik eine ebenso interessante Gesprächspartnerin wie die Akustik. 15 Freudenberg, Karl Gottlieb, Erinnerungen aus dem Leben eines alten Organisten, Breslau: Leuckart 1870, S. 39–44, zitiert nach https://www.beethoven.de/de/g/Komponisten vom 20.10.2020.
Biblisch-poetische Bilder, musikalisch inszeniert – ein theologisch-musikologischer Blick auf Bachs geistliche Kantaten Jochen Arnold
1. HINFÜHRUNG Die Welt des Barockmenschen ist eine Welt der Sinne. Wer in Rom einmal in Sant‘ Ignazio auf das berühmte Deckenfresko geschaut hat, der weiß, was es heißt, dass die Maler der Zeit den Himmel auf die Erde geholt haben oder besser: Mit ihrer Kunst ein Fenster zum Himmel geöffnet haben. Lucia Haselböck schreibt treffend: „Man lebt und träumt in einer religiösen Bilderwelt, die zudem in ihrer Prachtentfaltung die eigene Armseligkeit vergessen macht. […] Nur zu gern folgten die Schreiber der geistlichen Dichtungen im Hochbarock dieser Entwicklung.“1 Schauen wir dieser Spur folgend also darauf, wie Bach zusammen mit seinen Dichtern Bilder gemalt hat. Bilder, die das Wesentliche des christlichen Glaubens vor Augen und Ohren stellen. Meine grundsätzliche These lautet: Bachs Kantaten sind Wort- und Affektmusik. Die einzelnen Sätze, manchmal auch einzelne Abschnitte oder Formteile darin, zielen darauf, Emotionen im Hörer auszulösen und eine konkrete Botschaft zu vermitteln. Durch den Einsatz zahlreicher musikalischer Mittel, wozu auch konkrete musikalische Figuren – angelehnt an die musikalische Rhetorik der Zeit – gehören, legt Bach die Bibel bzw. die von ihm vertonte Dichtung mit ihren
1 Haselböck, Lucia: Bach-Textlexikon. Ein Wörterbuch der religiösen Sprachbilder im Vokalwerk von Johann Sebastian Bach, Kassel: Bärenreiter 2004, S. 9.
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Bildern aus. Er wird dabei selbst zu einem deutenden Künder und Bekenner des christlichen Glaubens.2 Seit Beginn des 17. Jahrhunderts, erstmals in der 1606 in Rostock erschienenen Musica poetica3 von Joachim Burmeister, wurde der Versuch unternommen, über eine eher allgemeine Parallelisierung von Rede und Musik hinaus, einzelne Figuren aus der barocken rhetorica sacra auch in die Musik zu übertragen. Burmeister ging dabei nicht, wie wir heute sagen würden, normativ oder deduktiv, sondern eher deskriptiv oder induktiv vor, indem er anhand einer Motette Orlando di Lassos zeigte, wie der Komponist sprachliche Wendungen musikalisierte, um damit ihre Wirkung oder Wirkmöglichkeit beim Hörer zu beschreiben. Die musikalischen Mittel wurden von ihm und etlichen anderen analog zur Rhetorik in einem Akt schöpferischer Kreativität benannt, ohne dass damit ein „Copyright“ beansprucht wurde. Dies ist u.a. daran zu erkennen, dass zahlreiche Theoretiker der Zeit ähnliche oder gleiche Begriffe für unterschiedliche musikalische Mittel verwendeten bzw. dieselben musikalische Erscheinungen mit verschiedenen Begriffen bezeichneten.4 In Bachs Kantaten finden sich sowohl Melodiefiguren5 wie etwa
2 In der Tradition der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universitäten hat die Rhetorik zusammen mit der Grammatik und der Dialektik ihren Ort im Trivium der sieben artes liberales. Für die reformatorische Theologie gewann die Rhetorik, besonders in der auf die antiken Rhetoriker Quintilian und Cicero zurückgehenden Gestalt, zentrale Bedeutung. Dazu trug insbesondere die Predigtlehre Philipp Melanchthons bei. Die Musik dagegen gehörte ursprünglich zum Quadrivium (neben Geometrie, Arithmetik und Astronomie), also gleichsam zu den Naturwissenschaften. 3 Vgl. Krones, Hartmut: Art. Musik und Rhetorik in MGG³, Kassel: Bärenreiter 1997, S. 814–851, hier: S. 836: „Der in einigen Titeln enthaltene Terminus musica poetica ist Ausdruck der erkannten Verwandtschaft von Musik und Sprache; er bedeutet soviel wie Kompositionslehre und dokumentiert die Ansicht von der Lehr- und Erlernbarkeit der Poetik wie der Musik.“ Vgl. grundsätzlich auch Arnold, Jochen: Von Gott poetisch-musikalisch reden. Gottes verborgenes und offenbares Handeln in Bachs Kantaten, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2009. 4 Vgl. dazu exemplarisch Bartel, Dietrich: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber: Laaber-Verlag 1985. 5 Die Unterscheidung von figurae harmoniae und figurae melodiae bzw. figurae tam harmoniae quam melodiae findet sich in den beiden jüngeren Arbeiten J. Burmeisters (1601 und 1606), vgl. D.Bartel: Handbuch, S. 24 und S. 290. Zu den figurae harmoniae zählt Burmeister auch Wiederholungs- und Pausenfiguren (vgl. aposiopesis).
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die Anabasis (=Ascensus)6 oder Catabasis (=Descensus)7, sie zeichnen gleichsam einen Aufstieg oder Abstieg (vgl. z.B. bei den Worten „et resurrexit“ oder „et ascendit in coelum“ bzw. „descendit de coelo“ oder „et incarnatus est“ usw.) als Bewegung nach. Die Hyper- oder Hypobole (wörtlich: Übertreibung oder Untertreibung) meint die symbolische Über- oder Unterschreitung der Grenzen einer Melodie, d.h. in der Regel des Notensystems8. Passus duriusculus (=etwas harter Gang)9, Saltus duriusculus (=etwas harter Sprung)10 und Parrhesia (=Redefreiheit)11 illustrieren oft drastische Ereignisse wie Anfechtung, Sünde und Tod. 6 Walther, Johann Gottfried: Musicalisches Lexicon, Leipzig: Deer 1732, S. 173: Art. Ascensus schreibt: „Anabasis (lat.) von αναβαίνω [gr], ascendo, ich steige in die Höhe; ist ein solcher Satz, wodurch etwas in die Höhe steigendes exprimiret wird. Z.E. über die Worte: Er ist auferstanden, Gott fähret auf, u.d.g.“ D. Bartel, S.85, meint dazu, die Anabasis fungiere „textverdeutlichend (‚Abbild’)“, sei „aber auch durch ihre musikalische Wirklichkeit ein unmittelbarer Ausdruck des darzustellenden Affekts (‚Urbild’).“ 7 Vgl. dazu Spieß, Meinhard: Tractatus musicus compositorio-practicus, Augsburg: Lotter 1745, S. 155: „Cantabasis [sic] Descensus, Abfahrt. Heißt in der Music, wann die Noten oder Sing-Stimmen, laut des Texts, mit den Worten absteigen, v.g. Descendit ad inferos.“ Vgl. ähnlich J. Walther: Lexicon, Art. Catabasis; Kircher, VIII, S. 145 hebt stärker auf den Affektbezug ab: „Catabasis oder der Abstieg ist eine musikalische Periode, durch die wir die [der anabasis] entgegengesetzten Affekte ausdrücken wie die Affekte der Unterwürfigkeit, der Niedrigkeit und der Trauer.“ 8 Vgl. Burmeister, Joachim: Musica Poetica, Faks.-Nachdr. d. Ausgab. Rostock 1606, Kassel u.a.: Bärenreiter 1955, S. 64. D. Bartel: Handbuch, S. 196 kommentiert: „Die musikalische hyperbole bezeichnet eine Überschreitung der Grenzen des ambitus, die rhetorische dagegen eine Überschreitung der Grenzen der Wahrheit.“ 9 Die Figur eines chromatischen Quartgangs erscheint mit dieser Bezeichnung nur bei Chr. Bernhard, als Phänomen allerdings sehr häufig bei vielen Komponisten. Das bekannteste Beispiel bei Bach dürfte der Chor „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12/2) sein, der später im Crucifixus der h-Moll-Messe nochmals verwendet wurde. 10 Ähnlich wie den Passus duriusculus finden wir diese Figur eines unerlaubten „harten Sprungs“ nur bei Bernhard, Christoph: „Tractatus compositionis augmentatus“, in: Joseph Müller-Blattau (Hg.), Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard, Kassel: Bärenreiter 1963, Cap. 30. Ein schönes Beispiel ist z.B. die fallende verminderte Septime in der Fuge „Der saure Weg“ in Bachs Motette Komm Jesu komm (BWV 229). 11 D. Bartel: Handbuch, S. 233 schreibt dazu: „Mit parrhesia wird der chromatische Querstand bezeichnet. Hierunter ist jedoch nicht die Einführung dem modus fremder chromatischer Töne zu verstehen. Dies wird von Burmeister nämlich als pathopoeia bezeichnet. Das Mi contra Fa, der ‚diabolus in musica’, kann nur unter Verwendung
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Auch die Climax oder Gradatio (= „Steigerung“ durch eine „treppenartige“ Sequenz)12, die Exclamatio (=großer Sprung bei einem Ausruf)13 weisen auf einen Inhalt mit besonderem Nachdruck hin. Davon können wir harmonische Figuren oder Satzfiguren wie etwa Anaphora14, Epizeuxis15, Noema,16, Mimesis, Anadiplosis,17 Catachresis,18, Pathopo-
von zum modus gehörigen Noten verursacht werden.“ Damit sind zwei (bei Burmeister) zentrale musikalische Figuren einigermaßen deutlich unterschieden. 12 Vgl. Vogt, Mauritius Johann: Conclave thesauri magnae artis musicae, Prag 1719, S. 151: „Climax. Ein stufenweiser Aufstieg. Diese Figur wird häufig gebraucht.“ Synonym zu Climax wird auch Gradatio (stufenweiser Gang) verwendet. 13 Vgl. J. Walther: Lexicon, Art. Exclamatio, der einen rhetorischen Ausruf am ehesten durch eine aufwärts springende kleine Sext ausgedrückt sehen will. Bereits bei Praetorius, Syntagma findet sich (vgl. D. Bartel: Handbuch, S. 170) eine explizite Verknüpfung mit dem Affekt: „Exclamatio ist das rechte Mittel die affectus zu motiviren, so mit erhebung der Stimm geschehen muß: Und kann in allem Minimis und Semiminimis mit dem Punct descendendo angebracht und gebraucht werden.“ (zit. nach D. Bartel, dort ohne Angabe der Stelle). 14 Anaphora kann „die mehrfache Wiederholung einer Bassstimme“ (vgl. Thuringus, Joachim: Opusculum bipartitum, Berlin: Kallius 1624, S. 126) meinen, eine einfache Wiederholung oder eine variierte melodische Weiterführung (vgl. Mattheson, Johann: Der vollkommene Capellmeister, Faks.-Nachdr. der Ausg. Hamburg: Herold 1739. in: Margarete Reimann (Hg.), Kassel u.a.: Bärenreiter, 1995 Cap. 14, §46) bedeuten. 15 Vgl. J. Walther: Lexicon: Art. Epizeuxis: Walther fasst den Begriff nur rhetorisch auf und erklärt damit „eine rhetorische Figur, nach welcher ein oder mehr Worte sofort hintereinander emphatisch wiederholt werden. Z. E. Jauchzet, jauchzet, jauchzet dem Herrn alle Welt …“ Mattheson, VC II, Cap. 14, § 45, dagegen schreibt: „Denn was ist z.E. gewöhnlicher, als die musikalische Epizeuxis oder Subjunctio, da einerley Klang mit Hefftigkeit in eben demselbem Theil der Melodie wiederholt wird?“ 16 Vgl. J. Thuringus: Opusculum, S. 126 (an J. Burmeister: Musica Poetica, 59 anknüpfend): „Quid est Noema? Est collectio nudarum concordantiarum una vice suavissime in Motetis prolata.“ [Was ist ein Noema? Es ist eine Häufung reiner concordantiae (Konsonanzen) in einer Stelle und wird in Motetten am lieblichsten angebracht.“ 17 Zahlreiche dieser Figuren wären im Grunde als Wiederholungsfiguren noch einmal separat aufzuführen. Oft sind sie innerhalb eines „Figurensystems“ aufeinander bezogen. 18 Vgl. J. Walther: Lexicon, Art. Catachresis.
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eia19 und Pausenfiguren wie Aposiopesis,20 Pausa,21 Abruptio22 und Suspiratio23 unterscheiden. Der tiefere Sinn solcher rhetorischer Figuren besteht im Wesentlichen in drei Funktionen, nämlich der Textauslegung (Hypotyposis)24 und der Affekterzeugung25 sowie der des Schmuckes. Krones schreibt: „Daß viele Figuren sowohl den Aspekt des Satz-Schmucks als auch einer inhaltlichen Verdeutlichung besaßen und daher
19 Diese Figur ist von besonderem Interesse für den Zusammenhang von Affekt und Figur, da sie, wie der Name sagt, als „Affektmacherin“ gilt. Vgl. dazu J. Burmeister: Musica Poetica, S. 61 [Übers. JA]: Pathopoeia ist eine Figur, die geeignet ist, Affekte zu schaffen, was geschieht, wenn Halbtöne in die Komposition eingefügt werden, die weder zum Modus noch zum Genus der Komposition gehören“. Vgl. Bartel, Handbuch, S. 236. 20 Vgl. die klassische Definition einer „Generalpause“ bei J. Burmeister: Musica Poetica, S. 62: „Aposiopesis est quae silentium totale omnibus vocibus signo certo posito confert.“ Aposiopesis ist demnach eine Figur, „die ein absolutes Schweigen aller Stimmen verursacht“ (vgl. ähnlich J. Thuringus, S. 126; J. Walther: Art. Aposiopesis). 21 Vgl. D. Bartel, Handbuch, S. 238: „Zusätzlich zur aposiopesis […] führt Thuringus auch die pausa als musikalische Figur an.“ 22 Vgl. J. Walther: Art. Abruptio: „Abruptio (lat.); eine Abreißung; ist eine musicalische Figur, da gemeinglich am Ende eines Periodi die Harmonie plötzlich (wenn es nemlich der Text, oder in Instrumental-Sachen andere Umstände also erfordern) abgebrochen oder abgeschnappt wird. Vgl. M. Spieß: Tractatus, S. 155. 23 Vgl. dazu die schöne Definition bei Kircher, Athanasius: Musurgia universalis, Hildesheim u.a.: Olms 2006 [Original 1650], S. 144f, der die Suspiratio mit dem Affekt des Stöhnens und Seufzens beschreibt: „Ad hanc revocari potest στενασμός sive suspiratio, dum per pausas fusas, aut semifusas, quae ideo suspiria vocantur, gementis & suspirantis animae affectus exprimimus.“ 24 An dieser Stelle ist besonders auf den Begriff der Hypotyposis hinzuweisen, mit der Burmeister (vgl. Musica Poetica, S. 62) in einem übergeordneten Sinne die Verdeutlichung eines Textes beschreibt. Vgl. ähnlich D. Bartel: Handbuch, S. 198: „Im weitesten Sinne kann die Absicht einer musica poetica überhaupt als hypotyposis beschrieben werden, da ja die Kompositionslehre des Barock eben das movere wie auch das delectare zum Ziel hat.“ 25 Vgl. dazu exemplarisch die Erklärung zur Pathopoeia von J. Thuringus, 126: „Quid es Pathopoeia? Est, quae dictiones affectuum, doloris, gaudii, timoris, risus, luctus, misericordiae […] ita ornat, ut tam Cantores quam auditores moveat.“
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gleichermaßen das ‚delectare‘ wie das ‚movere‘ zur Aufgabe hatten, geht […] bereits aus Burmeisters Äußerungen unmißverständlich hervor.”26 Zusammenfassend lässt sich mit Hartmut Krones sagen: „Bei näherer Beschäftigung mit den mehr als 100 überlieferten Figuren zeigt sich aber, daß diese in ihrer Gesamtheit tatsächlich alle bedeutungsgenerierenden Bausteine in sich trugen und sowohl emotional als auch rational zu erfassende sowie bildlich ‚nachahmende‘ Konnotationen bzw. zum Teil sogar Denotationen darstellen. De facto umfaßten sie nahezu sämtliche Möglichkeiten der Explicatio textus, wenn man von speziellen zahlen- oder notationssemantischen Kunstgriffen einerseits, von Zitat- und Verweistechniken andererseits einmal absieht.”27 Im Folgenden soll versucht werden, unter dem Aspekt des Bildes eine hypothetische Schneise durch Bachs geistliches Kantatenwerk zu schlagen. Ich unterscheide dabei in vier Teilen ohne den Anspruch auf Vollständigkeit: Naturbilder, Sünden- und Höllenbilder, Christus- und Erlösungsbilder sowie Liebesbilder. Fokussiert werden dabei besonders die Natur-, Christus, und Liebesbilder.
2. NATURBILDER 2.1 Brot – Haus – Kleider – Licht (BWV 39) Beginnen wir exemplarisch mit einem biblischen Zitat: „Brich dem Hungrigen dein Brot und die, so im Elend sind, führe ins Haus! So du einen nacket siehest, so kleide ihn. […] Alsdenn wird dein Licht herfürbrechen wie die Morgenröte […].“
26 H. Krones: Musik und Rhetorik, Sp. 827. Vgl. Eggebrecht, Hans-Heinrich: Musik im Abendland, München: Piper 1991, S. 372: „Sie [sc. die Figur] schmückt und würzt die Musik, sie ergötzt den Hörer und reizt ihn zum Hinhören. Aber Figura heißt im älteren Sprachgebrauch auch Abbild. […] Der Musicus poeticus verwendet und erfindet die Figuren insonderheit ‚propter verba‘ (‚pro ratione textus‘, in Elaborierung des Textes‘), das heißt, um den Textgehalt sinn- und affektgemäß abzubilden. Die Doppelfunktion der Figur als Schmuck der Komposition und Abbild des Textes begründet auch ihre Verwendung in der Instrumentalmusik. […] In der Vokalmusik ist es immer wieder der Text, der die Figuren als Abbild des Sinngehalts fordert und rechtfertigt, so daß zahlreiche Figuren zunächst in ihrem Bereich entwickelt wurden, bevor sie dann auch in der reinen Instrumentalmusik Anwendung fanden.” 27 H. Krones: Musik und Rhetorik, Sp. 820.
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Dieses bekannte Bibelwort aus Jesaja 58, das in der neuen Perikopenordnung der EKD mit dem Erntedankfest in Verbindung steht,28 enthält eine Fülle von Bildern. Im ersten Teil geht es um handfeste Dinge wie Brot, Haus und Kleider, die wir zum täglichen Leben brauchen. Es erinnert an Luthers Erklärung zum ersten Artikel im Kleinen Katechismus.29 Das alles kommt von Gott: „Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof …“ Die elementare lebensnahe Bildwelt ist hier im Gegensatz zum Katechismus mit einem klaren Imperativ verbunden. Es geht um das gerechte Handeln, um ein Teilen eigener Güter im Hier und Jetzt: „Brich dem Hungrigen dein Brot“. Dieses Teilen ist Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber Gott. Doch damit nicht genug. Im zweiten Teil leuchtet eine mit dem Gebot verbundene Verheißung auf (ab T. 106). Sie beschreibt den göttlichen Segen, der über solchem Handeln steht und wählt dafür das Bild der aufgehenden Sonne. Wie setzt Bach diese „Wort-Bilder“ in Musik um? In der gleichnamigen Kantate (BWV 39) zum 1. Sonntag nach Trinitatis, einer sog. Spruchkantate (mit biblischem Diktum vorab) von 1726, wird das Brechen des Brotes durch eine Pausenfigur (abruptio) mit zwei unmittelbar nachschlagenden Achteln in Holzbläsern und Streichern (vgl. T. 11–16 vorab und dann mit Chor, T. 23–34) fast tonmalerisch abgebildet: Im Ohr der Hörenden prägt sich ein andauerndes „Klack-Klack“ ein, das beim ersten Choreinsatz dann auch durch die Singstimmen im Viertelmetrum (T. 23) unterstrichen wird (vgl. Abb. 3; Notenbeispiel a). Wie es sich anfühlt, Brot zu entbehren und Hunger zu leiden, zeigt Bach durch die Chromatik im Sopran und Alt (T. 30–34) und im instrumentalen Bass (vgl. T. 35–37). Ein charakteristischer Tritonussprung auf E-lend im vokalen Bass (vgl. T. 30f; T. 33f) unterstreicht dies (sog. Saltus duriusculus). Unterstützt wird dieser Affekt durch einzelne Seufzer in Sing- und Instrumentalstimmen sowie eine geschärfte Harmonik (zahlreiche verminderte Septakkorde, vgl. Abb. 3; Notenbeispiel b). Insgesamt sind im Satz zwei verschiedene Tempi angelegt. Das langsamere (3/4-Takt) steht für den Imperativ „Brich“ und das schnellere (3/8-Takt) für die Verheißung „Alsdenn wird dein Licht“. Hier bricht der üppig besetzte Orchestersatz ab: Es entsteht etwas völlig Neues, gleichsam eine „Neuschöpfung“. Beteiligt sind zunächst nur (Chor)-Tenor und Basso continuo in schlichter Zweistimmigkeit. Die schier endlose (11 Takte währende) Koloratur der Singstimmen auf das Wort „Morgen-röte“ malt die Freude an einem Sonnenaufgang aus. Die gegen28 Vgl. Liturgische Konferenz für die EKD (Hg.): Perikopenbuch nach der Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder. Mit Einführungstexten zu den Sonn- und Feiertagen, Hannover/Leipzig: 2018, S. 641. 29 Vgl. Luther, Martin: Kleiner Katechismus, zit. nach Bekenntnisschriften der ev.-lutherischen Kirche, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1930, S. 510.
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sätzlichen Aussagen (Imperativ und Indikativ) und Affekte, die im Text schon angelegt sind, werden von Bach also mit verschiedenen musikalischen Mitteln aufgenommen: Tempo, Tonalität, Besetzung, musikalische Form (Satz). Für den raschen Teil wählt Bach die Form der Fuge, die das sukzessive Anbrechen der Morgenröte illustriert. Jede Stimme bildet gleichsam einen Sonnenstrahl oder ein Stück Hellerwerden des Tages ab. Weitere musikalische Bilder gelten dem Haus bzw. Hausbau: Bei diesem Stichwort wird eine stabile Harmonik auf der Dominante D-Dur etabliert, über der sich der instrumentale Bass zwar noch bewegt (T. 41–44), aber dennoch die Idee eines Orgelpunkts (Fundament) entstehen lässt. Ungewöhnlich ist auch Bachs Schilderung des menschlichen Nacktseins bzw. der anschließenden „Bekleidung“: An der Textstelle „So du Einen nackend siehest“ (T. 94) bricht die Begleitung des Continuo ab, der ruhig schreitende Dreiertakt wird zu einem 4/4 Takt, der Chorbass ist plötzlich ganz auf sich allein gestellt, also ganz „nackt“ (ohne Bekleidung und Begleitung). Bach schildert in diesem kleinen Detail musikalisch eine Art „Lebenskrise“, die sich anfühlt, als würde einem der sichere Boden entzogen werden. Dann folgt freilich auch eine positive Auflösung. Das Verbum „kleiden“ kommt musikalisch mit einer sog. Circulatio daher. Schon die Partitur macht dies sinnenfällig, sie zeigt eine Art sanften Umwickelns, zunächst in einer Achtelbewegung im Bass (vgl. T. 95), dann aber auch mit einer sequenzartigen Sechzehntel-Koloratur (mit sequenzartiger Gradatio) im Sopran (T. 96) und Alt (T. 98, vgl. Abb. 3; Notenbeispiel c). Die theologische Gesamtaussage ist unmissverständlich: Auf dieser Welt leben alle Menschen immer wieder in Not und Bedürftigkeit. Wer sein Brot und seine Kleider mit Bedürftigen teilt, wird eine wunderbare Erfahrung machen. Gottes Licht leuchtet ihm/ihr in allem, was er/sie tut. Im abschließenden tänzerischleichten 3/8-Takt ereignet sich eine Art Vorschein des ewigen Lichtes im Hier und Jetzt. „Das Gegenüber von ethischer Mahnung jetzt und Versprechen auf der Sprachebene ist transformiert in musikalische Stringenz.“30 2.2 Himmel und Erde (BWV 31) Der Himmel lacht, die Erde jubilieret. Und was sie trägt in ihrem Schoß. Der Schöpfer lebt,
30 Klek, Konrad: Dein ist allein die Ehre, Johann Sebastian Bachs geistliche Kantaten erklärt, Band III, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017, S. 173.
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der Höchste triumphieret und ist von Todes Banden los.
Mit diesen Worten schildert Bachs Dichter – wahrscheinlich ist es Salomon Franck – die Wirkung der Auferstehung Christi auf den Kosmos. Was in zahlreichen Hymnen und Bekenntnissen im Neuen Testament (vgl. Phil 2,9–11; Röm 4,25 usw.) anklingt, kommt zur kräftigen „Aufführung“ in Bachs Musik: Himmlische und irdische Welt berühren sich. Und dann bleibt nichts, wie es war. Betrachten wir zunächst die Dichtung: Die österliche Stimmung wird mit Verben der Freude ausgemalt: Lachen, jubilieren (Kosmos), leben und triumphieren (Christus). Dadurch entstehen positive (fröhliche) Bilder in unserem Kopf. In Bachs Musik jedoch geschieht noch mehr: Das österliche Lachen wird zum sinnlichen Ereignis. Das Gelächter der Himmlischen schwebt angesichts der Auferstehung des Gottessohnes in einer langen Koloratur gleichsam auf die Erde herab und verschränkt so Transzendenz und Immanenz (T. 2–7). Die jubelnde Musik zeigt, dass hier etwas Unerhörtes, etwas ganz Neues zwischen Himmel und Erde passiert (ist) (vgl. 2 Kor 5,17). Der Schöpfer war tot und lebt jetzt wieder.31 Musikalisch beginnt die Kantate übrigens mit einer instrumentalen Ouvertüre, bevor der Chorsatz nach einem „Tusch-Takt“ des ganzen Orchesters gleichsam mit der Tür ins Haus fällt. (Auch dies lässt sich als ein kraftvolles Osterbild verstehen). Die einzelnen Chorstimmen schweben dann mit herzhaftem Koloratur-Gelächter („lahahaha“) vom Himmel herab auf die Erde und feiern damit ein unmittelbares Fest der Sinne. Dies lässt sich nicht nur akustisch, sondern auch visuell mit Blick auf die Partitur (S1 – S2 – A; T. 4–7 ) erkennen (vgl. Abb. 4; Notenbeispiel 2). Bachs Musik ist also nicht nur Ohren-, sondern auch schon Augenmusik. Nach etlichen Takten dreht sich das Szenario und das Gelächter geht vom Bass nach oben bis in den ersten Sopran (vgl. T. 10–12). Wenn man bedenkt, dass die Kantate bei ihrer Uraufführung in der hochgelegenen Empore in der Weimarer Schlosskirche, der sog. Himmelsburg, 1715 musiziert wurde, kann man sich die theatralische Wirkung dieser Musik lebhaft vorstellen: Der Himmel kommt auf die Erde und erlöst sie. Menschlicher Jubel steigt himmelwärts.
31 Während die Aussage, dass Christus Schöpfer ist, biblisch gut belegt ist (vgl. Kol 1,16; Joh 1,1–3), ist die kühne Vorstellung, dass Gott tot (gewesen) sein könne, von unerhörter Sprengkraft. Dazu sei hier an das berühmte Passionslied O Traurigkeit, o Herzeleid (EG 80, Johann Rist) erinnert, das zu einer großen christologischen Kontroverse geführt hat. Ursprünglich lautete der Text: O große Not / Gott selbst ist tot / am Kreuz ist er gestorben […]. Er wurde später trinitätstheologisch korrigiert: „O große Not, Gotts Sohn ist tot.“
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2.3 Schifffahrt, Meer und Sturm Die berühmte Kreuzstabkantate32 für Solo-Bass und Instrumente (Ich will den Kreuzstab gerne tragen, BWV 56) gehört zu den beliebtesten Werken ihres Genres und illustriert das Christenleben am Bild einer Schifffahrt. Der Text von Satz 2 lautet: Mein Wandel auf der Welt ist einer Schifffahrt gleich: Betrübnis, Kreuz und Not sind Wellen, welche mich bedecken und auf den Tod mich täglich schrecken. Mein Anker aber, der mich hält, ist die Barmherzigkeit, womit mein Gott mich oft erfreut.
Das Violoncello wird hier zusätzlich zum Continuo als Solo-Instrument behandelt und illustriert die Bewegung der Wasserwellen als Augen- und Ohrenmusik über dem Untergrund eines „Walking-Basses“ im 16ʹ-Violone bzw. Continuo. Dazu hören wir die Singstimme des Basses, die hier nicht als Vox Christi oder Vox Dei, sondern als Stimme des Glaubens in Ich-Form spricht und sich zum barmherzigen Gott bekennt. Dann ist fast jeder Takt ein Ereignis. Beim Stichwort Kreuz (T. 4) erreicht der Sänger den Hochton es‘ unter gleichzeitiger Spannung eines verminderten Septakkordes. Mit dem Stichwort Tod (T. 6; tiefes des) erklingt auf Zählzeit 4 ein Neapolitanischer Sextakkord, der eine Verschiebung in eine andere Welt oder Sphäre signalisiert. Eine kadenzierende Wendung nach Es-Dur (T.10–11) beleuchtet im Kontrast dazu Gottes Barmherzigkeit, die den Menschen erfreut. Mit der Wendung „das wütenvolle Schäumen sein Ende hat“ endet auch die Wellenbewegung im Cello. Die Singstimme kommt in einer anderen Welt an: „So tret ich aus dem Schiff in meine Stadt“. Im Continuo-Bass liegen nun lange „Pfundsnoten“. Beim Stichwort „Himmelreich“ erreicht der Sänger ein zweites Mal die Spitzennote es‘ 32 Der Kreuzstab selbst lässt unter Umständen an Psalm 23,4 (Dein Stecken und Stab) denken, kann aber auch als ein am Kreuz Christi orientierter Gerichtsstab gemeint sein, vgl. K. Klek: Dein ist allein, S. 246 mit Hinweis auf Heinrich Müller. L. Haselböck, S. 126, verweist neben dem Hirtenstab auf den Moses-Stab (vgl. Ex 4,2–5) und bewertet ihn insgesamt als Symbol der „Leidensnachfolge Christi“. Ikonographisch ist auch der Bildtypus des siegreichen Lammes (agnus victor) nach Apk 5,6 mitzubedenken.
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und schwingt sich mit einer Sechzehntelbewegung (Anabasis) förmlich gen Himmel (T. 20). Allerdings erfährt sie dabei: Es geht durch „Trübsal“. Die Harmonik trübt sich wieder ein, ein abermaliger Neapolitaner (T. 20: Ces-Dur) zeigt die Spannung und lässt den Sänger erst im letzten Moment wieder die ursprüngliche Tonalität von B-Dur erreichen. Jetzt ist er in der himmlischen Stadt wirklich angekommen. Etwas diesseitiger und plakativer erscheint das Bild der Schifffahrt in Jesus schläft, was soll ich hoffen (BWV 81) zum 4. Sonntag nach Trinitatis. Hier sind Elemente der Erzählung aus den synoptischen Evangelien (Mt 8 bzw. heute Mk 4) in Teilen bibelwörtlich vorhanden. 1. Aria (Alt)
3. Aria (Tenor)
Jesus schläft, was soll ich hoffen?
Die schäumenden Wellen von Belials Bächen
Seh ich nicht
verdoppeln die Wut.
mit erblasstem Angesicht
Ein Christ soll zwar wie Wellen stehn,
schon des Todes Abgrund offen?
wenn Trübsalswinde um ihn gehn,
2. Rezitativ (Tenor)
doch suchet die stürmende Flut,
Herr! Warum trittest du so ferne?
die Kräfte des Glaubens zu schwächen.
Warum verbirgst du dich zur Zeit der Not,
6. Rezitativ (Alt)
da alles mir ein kläglich Ende droht?
Wohl mir, mein Jesus spricht ein Wort,
[…]
Mein Helfer ist erwacht, so muss der Wellen Sturm,
4.Arioso (Bass)
des Unglücks Nacht
Ihr Kleingläubigen, warum seid
und aller Kummer fort.
ihr so furchtsam? 7.Choral 5.Aria (Bass)
Unter deinen Schirmen
Schweig aufgetürmtes Meer!
bin ich vor den Stürmen
Verstumme, Sturm und Wind!
aller Feinde frei. […]
Dir sei dein Ziel gesetzet, damit mein auserwähltes Kind kein Unfall je verletzet.
In Satz 3 stellt Bach uns einen Christen im Sturm vor Augen. Er setzt klangmalerische Elemente ein, wie sie in den fast zeitgleich entstandenen Vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi für eine Naturbeschreibung entwickelt und eingesetzt werden. Besonders die erste Geige malt mit rasanten 32tel-Läufen das Unwetter bzw. die emporgehenden und herabstürzenden Wogen des Sees Genezareth aus. Die Tenorstimme wird mit ihren ebenfalls „waghalsigen“ Sechzehntel-Dreiklangsbre-
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chungen (vgl. T. 17f; 25f und 32tel-Koloraturen und vgl. T. 29 und 39) gleichsam angesteckt und in große Furcht gestürzt (vgl. Abb. 6; Notenbeispiel 4 a). „Das Verdoppeln der Wut“ geschieht auch musikalisch, indem Bach das Verbum jeweils zweimal (als Gradatio: Vl. 1, T. 29f)) und auf verschiedene Weise von der Singstimme ausführen lässt. Mit dem Begriff „Belials Bäche“ wird ein dämonisches Bild ins Spiel gebracht, so dass gleichsam eine spirituelle Deutung entsteht, die nicht bei der bloßen Sturmschilderung (vgl. Matthäus 8) bleibt. Ein weiteres musikalisches Mittel ist der Tempowechsel. Bach hält die Musik bei den Worten „So soll ein Christ wie Wellen stehen“ mehrmals im Tempo an, der Continuo-Bass „vibriert“ noch auf einer Art bewegtem Orgelpunkt. Der Komponist beleuchtet also das „Stehenbleiben“ oder „Standhalten“ gegenüber den Stürmen auf höchst ungewöhnliche Weise. Wieder ist das musikalische Mittel des Tempos (vgl. oben 1.1.) ein inszenatorisches Medium. Zweimal schreibt Bach nur einen einzigen Adagio-Takt, in T. 55f sind es dann zwei eindrucksvolle ganze Takte mit Saltus duriusculus (Tritonus) im instrumentalen Bass und der ersten Violine (vgl. Abb. 6; Notenbeispiel 4 b). Das biblische Jesuswort „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?“ bringt die Wende in der Kantate, die im ersten Teil ganz von einer eindringlichen Klage gezeichnet ist. Nach dem eindrucksvollen fünften Satz („Schweig, aufgetürmtes Meer!“), in welcher Jesus (Bass) ein schöpferisches Machtwort spricht, fasst eine Strophe des Chorals Jesu meine Freude von Johann Franck das Ganze summarisch als Bekenntnis zusammen: Ob es itzt gleich kracht und blitzt, Ob gleich Sünd und Hölle schrecken, Jesus will mich decken.
Aufs Ganze gesehen finden wir in Bachs Kantaten eindrückliche Schilderungen der natürlichen Welt mit den essentiellen Dingen des Alltags (z.B. Brot, Kleider und Haus). Besonders drastisch sind die Bilder von der Schifffahrt und den Stürmen des Lebens (vgl. auch BWV 21/5), gleichsam als große Metapher für die conditio humana zum einen oder die Nachfolge Christi zum anderen. Aber auch der ganze Kosmos mit Himmel und Erde kommt in den Blick. Da gibt es ein klares Oben und Unten, aber auch überraschende Wechsel, mit denen – zumal an Ostern – zu rechnen ist.
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3. TEUFEL, TOD UND SÜNDE Damit sind wir bei den dunklen Bildern angelangt, die in den Dichtungen der Kantaten und in Bachs Musik entwickelt werden. „Dem Menschen der Barockzeit sind Sünde, Tod und Hölle beängstigende, bedrohende Realität. […] Sein Lebensgefühl, das zwischen höchster Sinnenfreude und Todessehnsucht schwankt, führt ihn auch zu einem gesteigerten Sündenbewusstsein.“33 Bachs Dichter und seine Musik beleuchten in diesem Zusammenhang sowohl die Herkunft der Sünde als auch ihre tödlichen Folgen. 3.1 Die teuflische Verführung Die Choralkantate Nimm von uns, Herr, du treuer Gott (BWV 101) wurde für den 10. Sonntag n. Trinitatis, den heutigen Israelsonntag, geschrieben und beschäftigt sich mit den zerstörerischen Auswirkungen der Sünde. Der biblische Bezug ist die Ankündigung der Zerstörung Jerusalems nach Lukas 19. In Bachs Kantate tritt auch der Teufel auf den Plan, der als böser Geist, Mörder und Löwe (vgl. 1 Petr 5,8) umherschleicht, um die Christen zu verschlingen. Die ursprünglich dorische Melodie auf Luthers Vater unser im Himmelreich passt zu der herben Strenge des Textes. Der rezitativische Choraltropus (Satz 5) ist eine Art „kollektives Sündenbekenntnis“, das mit der Bitte um Gottes Schutz und Hilfe schließt. Die Sünd hat uns verderbet sehr, so müssen auch die Frömmsten sagen und mit betränten Augen klagen: der Teufel plagt uns noch vielmehr, Ja, dieser böse Geist, der schon von Anbeginn ein Mörder heißt, sucht uns um unser Heil zu bringen und als ein Löwe zu verschlingen. die Welt, auch unser Fleisch und Blut uns allezeit verführen tut. Wir treffen hier auf dieser schmalen Bahn Sehr viele Hindernis im Guten an. Solch Elend kennst, du Herr allein, ach, lass uns dir befohlen sein.
33 L. Haselböck: Text-Lexikon, S. 33.
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Zur Begleitung des Tenors dient ein vorwärtsdrängendes, häufig sequenziertes Bassmotiv, das aus dem Kopf der ersten Choralzeile entwickelt ist (vgl. T. 1). Insgesamt ist das Stück in zwei Abschnitte zu gliedern: Der erste beschreibt das bedrohliche Werk des Teufels (T. 1–14), der zweite die Verführungen der Welt (T. 15–31).34 Schon zu Beginn (T. 4) kommt mit der ersten Kadenz eine harmonische Überraschung: Statt mit der Tonika (d-Moll) zu schließen, weicht Bach in einen Sekundakkord (über c) aus und beleuchtet so das Stichwort „verderben“ (vgl. Abb. 7; Notenbeispiel 5 a). Die rezitativischen Einschübe sparen nicht mit drastischen musikalischen Bildern. So fehlt beim „bösen Geist“ (T. 10) ein harter Septimsprung in der Singstimme ebenso wenig wie ein schroffer verminderter Septakkord beim Ausdruck „Mörder“ (T. 11 ganzer Takt, vgl. Abb. 7; Notenbeispiel 5 b). Die harmonische Vielseitigkeit des ostinaten Bassmotivs setzt Bach bei „verführen“ (T. 18f) besonders in Szene: Hier wird über zwei Takte die Kadenz immer weiter hinausgezögert und so die harmonische Situation immer wieder „verdunkelt“. Es folgt dann wieder ein Trugschluss (vgl. T. 4), der passend zum Text „in die Irre“ führt. Ähnlich verlaufen T. 23–25 („Solch Elend kennst du, Herr, allein“), die wieder mit einem Trugschluss (Sekundakkord F-Dur) enden, der im Anschluss (T. 25 mit Saltus duriusculus: es-Fis) einen „heftigen Absturz ins Elend“ musikalisiert und damit die große Not der Gläubigen zeigt. Die eindringliche figura etymologica „hilf, Helfer, hilf“ ist an eben dieser Stelle mit einer ausdrucksstarken Exclamatio (große Sext) verbunden (vgl. Abb. 7; Notenbeispiel 5 c). Im Umgang mit dem Thema Sünde und Teufel bleibt es nicht aus, dass auch das Gericht bzw. die Schrecken der Hölle als Folge menschlicher Verfehlung zur Sprache kommen.
34 Vgl. die treffende Darstellung bei Petzoldt, Martin: Bach-Kommentar, Band I (= Schriftenreihe der Internationalen Bachakademie Stuttgart), Kassel: Bärenreiter 2005, S. 234: „Ein erster Abschnitt […] bekennt die Verderbnis durch die Sünde und die Klage der ‚Frömmsten’ […], den Teufel auch bei ihnen am Werk zu sehen; auf engstem Raum sind hier mehrere Vorstellungen vom Teufel zusammengebracht, die seine symbiotische Wirksamkeit mit der Sünde vorführen: Plagen, Bosheit als geistige Wirklichkeit, Mord, Verhinderung des göttlichen Heils, parasitäres Verschlungenwerden. Der zweite Abschnitt […] nennt die Welt, die im Schlepptau des Teufels durch Verführung beteiligt ist an dessen Werk.“
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3.2 Die Schrecken des (ewigen) Todes In der Kantate O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 20)35 zum 1. Sonntag n. Trinitatis wird den zuhörenden Christen die Mahnung vor Sünde angesichts der Schrecken des ewigen Gerichtes vor Augen gestellt. Dies geschieht am Beispiel des reichen Mannes, der den armen Lazarus links liegen lässt (Evangelium aus Lukas 16). Der Reiche erkennt die Fehler seines Lebens erst in der Hölle (gr. Djehenna), während Lazarus in den Schoß Abrahams aufgenommen wird. Diese Situation ist die Hintergrundfolie des folgenden Textes: O Mensch, errette deine Seele, entfliehe Satans Sklaverei und mache dich von Sünden frei, damit in jener Schwefelhöhle der Tod, so die Verdammten plagt, nicht deine Seele ewig nagt. O Mensch, errette deine Seele!
Die Altarie ist zwar im Metrum des 3/4-Taktes komponiert, im Grunde aber ein viel langsamerer „latenter“36 3/2-Takt, sodass die eigentlich flüssige Bewegung immer gebremst, ja festgehalten wirkt (vgl. den Effekt bei der Sarabande) und der Charakter „des Vagen, Verschleierten“37 entsteht. Das Kleben an der Sünde ist hier musikalisch umgesetzt und wird schon im Vorspiel (Vgl. 1, T. 4f) durch einen chromatischen Gang (nach oben!) illustriert. Diese Passage wird dann weiter unten durch die Singstimme als „Satans Sklaverei“ identifiziert. Kunstvoll ist auch die Katabasisfigur (Sechzehntel-Lauf) auf dem Verb „entfliehen“ (T. 13), ein typisches Fluchtmotiv, das auch insofern herausfällt, als im ganzen Stück sonst keine Sechzehntel vorkommen (vgl. Abb. 8; Notenbeispiel 6 a).
35 Man beachte, dass Bach zu diesem Choral von Johann Rist mit BWV 60 noch eine weitere Kantate (für Alt-, Tenor- und Bass-Solo) geschrieben hat. Sie schließt mit dem berühmten Schlusschoral „Es ist genug“ und hat eine ganz andere Dramaturgie als BWV 20, vgl. J. Arnold: Von Gott reden, S. 242–252. 36 Vgl. Dürr, Alfred: Die Kantaten Johann Sebastian Bachs, Kassel: Bärenreiter 9. Aufl. 2001, S. 442. 37 Vgl. Steiger, Lothar/ Steiger, Renate: „Zeit ohne Zeit, Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 20 ‚O Ewigkeit, du Donnerwort‘ I“, in: Alfred Dürr (Hg.), Das protestantische Kirchenlied im 16. und 17. Jahrhundert (= Wolfenbüttler Forschungen, Band 31), Wiesbaden: Harrassowitz 1997, S. 165–233, hier: S. 210.
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Plakativ gestaltet Bach die quälend lange melismatische Entfaltung der Plage (T. 24–28) über einem abermaligen Passus duriusculus (d-cis-c-H-B-A). Hier verlässt die Singstimme die sonst eher syllabische Diktion und mündet in ein langes Melisma („plagt“). Dieses führt nach einer Katabasis (T. 27) als Bild des Hinabsteigens in die Verdammnis über eine neapolitanische Wendung in einen Trugschluss (T.29). Der Tod (oder die Ahnung des Todes) bringt eine neue unerwartete Situation herbei, die alles im Leben auf den Kopf stellt (vgl. Abb. 7; Notenbeispiel 6 b). 3.3 Die sündige Welt als Hospital In Kantate Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe (BWV 25) zum 14. Sonntag nach Trinitatis ist bezogen auf das Evangelium von der Heilung der 10 Aussätzigen (Lukas 17). Hier wird zunächst die Dekadenz und Todesverfallenheit des menschlichen Lebens diagnostiziert (vgl. Eingangschor nach Ps 38,4). Es geht dabei freilich nicht um besonders schlimme Laster, sondern um eine Schilderung der Schuld aller Menschen (vgl. Römer 3,23). In diesem Zusammenhang vergleicht der Dichter, der sich an Jacob Rambach (1720) anlehnt,38 unsere Welt drastisch mit einem Spital. In Satz 2 (Rezitativ, Tenor) heißt es pointiert: Die ganze Welt ist nur ein Hospital, wo Menschen von unzählbar großer Zahl und auch die Kinder in der Wiegen an Krankheit hart darnieder liegen. Den einen quälet in der Brust ein hitzges Fieber böser Lust. Der andre lieget krank an eigner Ehre häßlichem Gestank; den dritten zehrt die Geldsucht ab und stürzt ihn vor der Zeit ins Grab. Der erste Fall hat jedermann beflecket Und mit dem Sündenaussatz angestecket. Ach! Dieses Gift durchwühlt auch meine Glieder. Wo find ich Armer Arzenei? Wer stehet mir in meinem Elend bei? Wer ist mein Arzt, wer hilft mir wieder?
38 Vgl. M. Petzoldt: Bach-Kommentar I, S.398.
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Zahlreiche Laster des menschlichen Lebens (vgl. die sieben Todsünden) werden hier aufgezählt: Wollust, Hochmut (Eitelkeit) und Habgier stehen pars pro toto für die Verfehlungen der Menschen. Die naiv biologistische Sicht, dass die Erbsünde durch den Zeugungsakt in die Welt gekommen oder zumindest weitergegeben worden sei, ist allerdings nicht ausgesagt. Dennoch ein wunderbares Aktionsfeld für den Komponisten: In T. 8 setzt Bach zur Illustration der durch heiße Lust geweckten fiebrigen Sünden-Krankheit, gleich zwei Tritonussprünge (Salti duriusculi) hintereinander. Das Stichwort „krank“ wird harmonisch durch einen verminderten Septakkord dargestellt, die Wendung zum „häßlichen Gestank“ dagegen durch eine besonders gespreizte Exclamatio (kleiner Notensprung in Singstimme) angezeigt. Der darauffolgende Sturz ins Grab verläuft über einen Tritonussprung insgesamt vom hohen g‘ bis zum (für den Tenor) tiefen d. Am Ende steht, eingeleitet durch ein hohes „Ach“ (gis‘) des Solisten (Exclamatio), gleichsam ein Psychogramm der Sünden-Verzweiflung. Vier W-Fragen39 bilden die poetische Struktur, die sich inhaltlich auf Heilmittel (Medizin), Beistand (Pflege) und den Arzt beziehen. Musikalisch zeichnen sie sich durch zahlreiche schwer singbare Sprünge (Salti duriusculi) aus, deren Höhepunkt das hohe a‘ bei „meinem Elend bei“ ist (vgl. Abb. 9; Notenbeispiel 7 a). Bach versetzt den Hörer (und den Sänger selbst) auf diese Weise gleichsam in suchende Bewegung nach Rettung und schiebt die Harmonik zunehmend in den Bereich der Kreuztonarten. Zwischensumme Die finstere Welt von Teufel, Tod und Sünde ist für Bach ein „dankbares Aktionsfeld“. Der „fünfte Evangelist“ kann auch Gericht predigen, wie an dieser Stelle unschwer zu erkennen ist.40 Besonders eindrucksvoll sind dabei Melodieverlauf in den Singstimmen und eine bisweilen kühne Harmonik, aber auch der Vorgang mit rhythmischen Strukturen und deren Durchbrechung (vgl. 3/2- im 3 /4-Takt usw).
39 Vgl. Klek, Konrad: Dein ist allein die Ehre, Band II, Leipzig: Ev. Verlagsanstalt 2016, S. 136. 40 Vgl. dazu J. Arnold: Von Gott reden, S. 189–228.
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4. CHRISTUS- UND ERLÖSUNGSBILDER Die Christusbilder aus der Geschichte der Kunst sind vielfältig. Bestens vertraut ist uns das Kind in der Krippe41 mit der Anbetung der Hirten oder der Weisen.42 Der leidende Christus ist (erst) seit dem 12. Jahrhundert auf großen Kreuzesdarstellungen (wie z.B. den Holzkreuzen von Cimabue in Mittelitalien) ein Thema.43 Selbstverständlich gibt es auch eindrucksvolle Auferstehungsdarstellungen wie etwa am Isenheimer Altar oder – besonders stark in der Ostkirche – das Motiv des Christus Pantokrator. In zahlreichen romanischen und gotischen Tympana ist der Topos des Weltenrichters (vgl. Matthäus 25,31–46) ausgeprägt (vgl. BWV 70). All diese Bilder kommen in zahlreichen Vertonungen Bachs vor und verdichten sich in seinem Credo der h-Moll-Messe (Symbolum Nicaenum 1748/49). Anknüpfend an das eben Gesagte suchen wir im Folgenden eher nach seltenen Christusbildern, die biblisch bezeugt und doch nicht so „selbstverständlich“ erscheinen wie etwa Krippe oder Kreuz. 4.1 Jesus als Arzt Schon im Buch Exodus, unmittelbar nach der Errettung des Volkes Israel am Schilfmeer (vgl. Ex 14/15) und den anschließenden Liedern des Mose und der Miriam, findet sich der Satz „Ich bin der Herr, dein Arzt“ (Ex 15,26).44 Diese Zusage des rettenden und heilenden Gottes erfreut sich in der lutherischen Theologie und Predigt einer durchaus reichen Rezeption. So beschreibt der Reformator Martin Luther selbst in seiner Betrachtung der drei Hauptstücke des Katechismus (Dekalog, Credo und Vaterunser) folgenden Zusammenhang:
41 Vgl. Weihnachtsoratorium I-III (BWV 248) oder auf Krippe und Licht fokussiert die Kantate Gelobet seist du, Jesu Christ (BWV 91), Satz 3 (Arie Tenor): „Gott, dem der Erden Kreis zu klein, /den weder Welt noch Himmel fassen, / will in der engen Krippen sein. Erscheinet uns dies ewge Licht/, so wird hinfüro Gott uns nicht/ als dieses Lichtes Kinder hassen.“ 42 Vgl. Weihnachtsoratorium, Teil V und VI sowie die Kantate Es werden aus Saba alle kommen (BWV 65) mit einer besonderen Entfaltung der Gaben von Gold, Weihrauch und Myrrhe. 43 Eine frühe Ausnahme ist die Holztür von St. Sabina in Rom (4–5.Jh). Der gekreuzigte Christus steht mit seinem Leiden für die Menschen ganz im Mittelpunkt der großen Passionen Bachs. 44 Der Satz erinnert an die johanneischen Ich-bin-Worte (vgl. Joh 6,35, 8,12; 10,9.11; 11,25; 14,6; 15,5).
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„Denn drei Dinge sind einem Menschen not zu wissen, dass er selig werden möge. Das erste, dass er wisse, was er tun und lassen soll. Zum andern, wenn er nun sieht, dass er es nicht tun noch lassen kann aus seinen Kräften, dass er wisse, woher er’s nehmen und suchen und finden soll, damit er dasselbe tun und lassen möge. Zum dritten, dass er wisse, wie er es suchen und holen soll. [Hvh. JA]“45
Zur Illustration wird das Beispiel eines Kranken ausgeführt, der seine Krankheit zunächst erkennen muss. Dazu dienen ihm die 10 Gebote. Dann muss er erfahren, wo die Arznei zu bekommen ist. Dazu hilft ihm der Glaube (Credo). Schließlich muss er auch den Weg, zu ihr zu kommen, kennenlernen. Das Vaterunser lehrt es ihn „zu begehren und zu sich zu bringen“ 46. Die zentrale Frage lautet daher: Wo und wie findet ein kranker Mensch Heilung? Der lutherisch-orthodoxe Theologe, Superintendent Heinrich Müller aus Rostock, fokussiert auf den Arzt als Schlüsselfigur: „Wo findest du solch einen Arzt, der die Weh-Tage und Schmerzen der Kranken kann an sich nehmen?“47 In Kantate Was Gott tut, das ist wohlgetan (BWV 99), bezogen auf das Evangelium Matthäus 6,24–34 zum 15. Sonntag n. Trinitatis, findet diese Frage (ohne einen expliziten Hinweis auf Christus) folgende theo-logische Antwort: Gott ist dein Arzt und Wundermann, so dir kein tödlich Gift einschenken kann […]
Dieser Gedanke stand auch für die bereits angeführte Dichtung Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe (BWV 25/2) Pate. Er wird im Verlauf der Kantate, die auf die Heilungsgeschichte aus Lukas 17 als Sonntagsevangelium bezogen ist, dezidiert christologisch interpretiert. Aus der Ich-Perspektive des Kranken formuliert, kommen die beiden Mittelsätze als Sündenbekenntnis bzw. Kyriegesang daher: Arie (Bass) Ach, wo hol ich Armer Rat? Meinen Aussatz, meine Beulen kann kein Kraut noch Pflaster heilen als die Salb aus Gilead.48
45 Luther, Martin: Weimarer Ausgabe 7, vgl. S. 204f. 46 Ebd. 47 Müller, Heinrich: Himmlischer Liebes=Kuß, Frankfurt u.a.: Wilde ³1669, S. 45. 48 Vgl. A. Dürr: Kantaten, S. 580: „Gilead, das Kernstück des Ostjordanlandes, war reich an Balsam.“ Der Dichter spielt damit auf Jer 8,22 an.
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Du mein Arzt, Herr Jesu, nur, weißt die beste Seelenkur. Rezitativ (Sopran): […] Erbarme dich, du Arzt und Helfer aller Kranken, verstoß mich nicht … Mein Heiland mache mich vom Sündenaussatz rein, so will ich dir mein ganzes Herz dafür zum steten Opfer weihn und lebenslang vor deine Hülfe danken.
Sprachlich vergleichbar mit den Bußpsalmen (vgl. Psalm 6; 32; 51 u.a.) sucht der Sünder Zuflucht beim rettenden und heilenden Jesus. Obwohl die schlichte Arie (nur Solo-Bass mit Continuo) eigentlich in d-Moll steht, etabliert sich beim Hören kaum ein Gefühl für eine Tonalität, das „viertaktige Ostinato wird zunehmend aufgelöst“49. Der Sänger geht musikalisch also gleichsam in die Irre. Erst im zweiten Teil sortieren sich die Dinge. Dabei fallen durch melismatische Ausführung besonders das Adjektiv „beste“ (T. 31) und das zentrale Attribut „Arzt“ (T. 33–35) heraus (vgl. Abb. 9; Notenbeispiel 7). Die Sechzehntel-Koloratur enthält exakt 41 Töne und etabliert mit einer dreifachen Gradatio (Sequenzbildung) so etwas wie Stabilität, die man als Heilungsaussicht bei Jesus deuten könnte. Das folgende Rezitativ des Sopran – Symbol für die glaubende Seele – ist schon inniger und enthält in T. 4f ein explizites „Erbarme dich“ (Kyrie), das fast choralartig klingt. Theologisch enthält der Satz neben der Bitte um Reinigung (vgl. Psalm 51,9) ein Dankgelübde, wie es aus den Klagepsalmen bekannt ist (vgl. Psalm 22,23–26). Auffällig ist hier, dass eine narrative Aufnahme des biblischen Heilungsberichtes hier ebenso fehlt (vgl. etwa die Parallele in der für denselben Sonntag komponierten Kantate BWV 17, Satz 4) wie eine spezifisch kreuzes- bzw. sühnetheologische Entfaltung. Was mit dem/der Kranken zwischenzeitlich, also zwischen Satz 4 und 5, passiert, muss man sich gleichsam denken. Man fühlt sich dazu an biblische Erzählungen erinnert (vgl. etwa die Heilung des Sohnes eines römischen Beamten, Joh 4,46–54), wo Ähnliches geschieht. Umso eindrucksvoller ist dann jedoch der Zustand, in dem er/sie sich danach befindet. Der Dichter bietet dafür ein vorsichtig-tastendes, beinahe demütiges Gloria: 49 Vgl. Ares, Rolf: „Der erste Leipziger Jahrgang“, in: Reinmar Emans (Hg.), Bachs Kantaten: das Handbuch (= Das Bach-Handbuch, Band 1), Laaber: Laaber-Verlag 2012, S. 261.
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Öffne meinen schlechten Liedern, Jesu dein Genadenohr! Wenn ich dort im höhern Chor Werde mit den Engeln singen Soll mein Danklied besser klingen.
Betrachtet man Bachs Musik, ist dieser Text eine Untertreibung, klingt das Gesungene doch ausgesprochen schön und heiter: „Die tänzerische, menuetthafte Melodik des Satzes eröffnet nach aller quälenden Ratlosigkeit […] nun eine neue Perspektive: Die Musik klingt zart, liedhaft, ätherisch; man wird an barocke Darstellungen musizierender Engel erinnert – nicht zuletzt durch die Erwähnung im Text.“50 Bach hebt also das „Understatement“ des Dichters51 durch seine Musik gleichsam in die Höhe. Mit großer Wahrscheinlichkeit möchte der Komponist durch die doppelchörig angelegte Besetzung von Flöten auf der einen und Oboen/ Streichern mit Sopran auf der anderen Seite ein mehrchöriges Musizieren abbilden, wie es Michael Praetorius in seinem Syntagma Musicum darstellt.52 Expliziten Bezug dazu bildet die Wendung: „Wenn ich dort im höhern Chor, werde mit den Engeln singen“ (vgl. Abb. 10; Notenbeispiel 8 b). Damit geht gleichsam ein neues, musikalisch-himmlisches Bild auf, das durch die Begegnung mit dem Arzt Jesus geöffnet wird. Zugleich wird deutlich: Das Ziel göttlicher Heilung ist der Dank des Menschen. 4.2 Der göttliche Hirte Noch stärker biblisch und kunstgeschichtlich belegt ist ein weiteres Bild. Es beschreibt Gott bzw. Jesus als guten Hirten (vgl. Psalm 23 und 100; Ez 34; vgl. auch Lukas 15), der das Verlorene sucht und zurückbringt bzw. die bedrohten Schafe schützt und beieinander hält. Die christliche Bildsymbolik ist durch dieses Motiv seit den Tagen der Alten Kirche (vgl. das Buon-Pastore-Motiv in Rom und Ravenna) 53 bis in die Gegenwart intensiv geprägt worden. In der berühmten Hirtenrede (Joh 10) sagt der johanneische Jesus: „Ich bin der gute Hirte, der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ Dies ist bis heute der Leitvers zum Sonntag vom Misericordias Domini. 50 A. Dürr: Die Kantaten, S. 582. 51 Vgl. K. Klek: Dein ist allein II, S. 137. 52 Praetorius, Michael: Syntagma Musicum, Band II, Wolfenbüttel: Holwein 1619, vgl. ähnlich M. Petzoldt: Bach-Kommentar, S. 403. 53 Vgl. die frühchristlichen Mosaiken in St. Costanza, Rom und im Mausoleum Galla Placidia, Ravenna sowie die Skulptur in der Domitilla Katakombe (um 300).
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Betrachten wir dazu im Vergleich zwei verschiedene Kantaten für eben diesen Sonntag. 4.2.1 Der kämpfende und sich hingebende Hirte In der Kantate Jesus ist ein guter Hirt (BWV 85) von 1725, Satz 2 (Alt und Vc piccolo) bekennt die Singstimme: Jesus ist ein guter Hirt; denn er hat bereits sein Leben für die Schafe hingegeben, die ihm niemand rauben wird. Jesus ist ein guter Hirt.
Die literarische Inclusio des rahmenden Bekenntnissatzes in der Poesie zeigt: Die Schafe sind bei ihrem Hirten bestens aufgehoben. Er legt sich gleichsam um sie wie zwei schützende Arme, einer von oben und einer von unten. Musikalisch wird dies durch die niemals aufhörende Bewegung des Violoncello piccolo ausgedrückt, das wie ein perpetuum mobile die Singstimme umschließt. Bach akzentuiert allerdings in der Singstimme durch lange Koloraturen besonders das Verbum „rauben“. Die Singstimme bricht damit gleichsam aus der „Harmonie der Bewegung“ aus. Das begleitende Violoncello hört gar auf zu spielen (vgl. T. 21; 36; 51f). Am Ende siegt aber das Vertrauen mit dem Tenor: „Jesus ist ein guter Hirt“ (vgl. T. 52). Trotz Bedrohungen böser Feinde kann uns nichts aus „seiner Hand“ reißen (vgl. Abb. 11; Notenbeispiel 9 a). Diese angedeutete Dramatik steigert sich sprachlich und musikalisch noch in Satz 4: Denn sucht der Höllenwolf gleich einzudringen, die Schafe zu verschlingen. So hält ihm dieser Hirt doch seinen Rachen zu.
Das Accompagnato-Rezitativ inszeniert zunächst die nächtliche Ruhe der schlafenden Schafe. Allerdings sind nur Mietlinge (angeheuerte Hirten) bei ihnen. Nach kurzer Zeit (vgl. T. 3) naht mit Sechzehnteltriolen der böse Wolf heran. Äußerst subtil, nämlich nur auf der harmonischen Ebene (verminderter Septakkord und dunkles f-Moll T. 9) hält Bach die Gefahr des satanischen Wolfes präsent, ohne jedoch in eine offene Kampfesschilderung einzutreten. Am Ende reißt aber dann doch die Begleitung der Streicher (Abruptio) an der Stelle: „[D]och seinen
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Rachen zu“ (T. 11f) ab (vgl. Abb. 12; Notenbeispiel 10 a). Einen Moment ist der Hirt allein mit dem Bösen … und siegt. Dann setzt die 9/8-Arie des Tenors ein. Sie fasst alles Bisherige unter dem großen Vorzeichen „Seht, was die Liebe tut“ kündend zusammen. Damit wird eine theologische Deutung in wohlklingendem Es-Dur präsentiert, die wieder mit dem musikalischen Topos Pastorale agiert. Allerdings wird auf der Textebene unmissverständlich deutlich: Es geht hier, wie in den vorigen Sätzen geschildert, nicht um ein bukolisches Idyll. Die Tat Christi am Kreuz und sein (österlicher) Sieg über den Tod halten (man beachte die langen „Haltetöne“, vgl. T. 18f, vgl. Abb. 12; Notenbeispiel 10 b) die Schafe zusammen. Seine Lebenshingabe in den Tod ist die Existenzgrundlage für das Leben der Schafe: Seht, was die Liebe tut: Mein Jesus hält in guter Hut Die Seinen feste eingeschlossen Und hat am Kreuzesstamm vergossen Für sie sein teures Blut. Seht, was die Liebe tut.
4.2.2 Der verborgene und wieder offenbare Hirte Musikalisch ähnlich kommt der Kopfsatz aus Du Hirte, Israel, höre (BWV 104) daher, einer Kantate, die ein Jahr vorher für Misericordias Domini geschrieben wurde. Der majestätische Eingangschor in G-Dur lässt zwar mit seinem 3/4- bzw. 9/8-Metrum pastorale Töne (vgl. die Sinfonia aus dem Weihnachtsoratorium) ahnen, ist aber doch von großer Wucht. Eindringlich ruft der Chor Gott an: „Höre!“; „Erscheine!“ Dieses Motto ist gleichsam das Leitmotiv auch für die folgenden Sätze (vgl. Abb. 13; Notenbeispiel 11 a). Denn in der Arie des Tenors (Satz 3) lässt Bach die dunkle Erfahrung der zeitweiligen Verborgenheit des göttlichen Hirten anklingen: Verbirgt mein Hirte sich zu lange,macht mir die Wüste bange, mein schwacher Schritt eilt dennoch fort. Mein Mund schreit nach dir und du, mein Hirte wirkst in mir, ein gläubig Abba durch dein Wort.
Die musikalische Klangwelt des Pastorale (9/8-Takt bzw. 12/8-Takt, vgl. Satz 1 und 5) ist in diesem Quartettsatz völlig ausgeblendet, die beiden Liebesoboen stel-
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len ein klagendes Thema mit Lamento-Achteln vor, das über eineinhalb Oktaven flehend (Anabasis) nach oben steigt. Bach konzentriert sich in seiner musikalischen Exegese besonders auf das Reimpaar „lange“ und „bange“. Das erste wird durch eine die Achtel-Zweierbindungen aufbrechende melismatische Wendung bzw. durch lange Haltenoten abgebildet, die immer wieder in einen spannungsreichen Nonenvorhalt (T. 13; 14; 40f) münden. Das Adjektiv „bange“ wird ebenfalls durch lange, kaum singbare Melismen illustriert, die u.a. aus einer chromatisch absteigenden Figur (Passus duriusculus, T. 19, vgl. T. 50f) zusammengesetzt sind (vgl. Abb. 13; Notenbeispiel 11 b). Im B-Teil der Arie schenkt Bach dem Verb „schreien“ besondere Aufmerksamkeit, indem er durch aufsteigende Skalen (Anabasis) und Sprünge (vgl. T. 26–29) das Flehen des Beters sinnenfällig macht, das im einmaligen „Abba“ (vgl. Röm 8,15; Mt 6,9), auf dem Spitzenton a‘ kulminiert (vgl. Abb. 14; Notenbeispiel 12 a). Das folgende Rezitativ (Satz 4) des Basses drückt bereits stärkeres Vertrauen auf Gottes Handeln aus. Die Zeit des göttlichen Schweigens ist zu Ende. Mit den Begriffen „Hirte“ und „Schafstall“ ist die Semantik des Hirtenbildes (vgl. Joh 10 bzw. auch Joh 14) deutlich aufgenommen. Über die Fürsorge Gottes in diesem Leben hinaus klingen auch Töne der ewigen Rettung (jenseits der Todesgrenze) an: Ach54 sammle nur, du guter Hirte, uns Arme und Verirrte; ach, lass den Weg nur bald geendet sein, und führe uns in deinen Schafstall ein!
Dann verkündigt der Solo-Bass eindringlich die Güte des guten Hirten und beglückwünscht dazu die Herde. Mit dem 12/8-Takt ist in nunmehr vertiefter Symbolkraft wieder der pastorale Topos aufgerufen. Allerdings geht es auch hier nicht um eine schöne Idylle, sondern um nichts weniger als den (geistlichen) Himmel auf Erden,55 das Paradies schon hier und jetzt. Beglückte Herde, Jesu Schafe. Die Welt ist euch ein Himmelreich. Hier schmeckt ihr Jesu Güte schon 54 Der verminderte Septakkord im Continuo unterstreicht diese exclamatio (vgl. noch stärker zuvor die Interjektion „Ja“ mit Spitzenton e‘, T.5) 55 Vgl. Schulze, Hans-Joachim: Die Bach-Kantaten, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006, S. 206: „Das in sich ruhende, gleichsam vollkommene 12/8-Taktmaß hat mit dem Hirtenmilieu allerdings nur mittelbar zu tun; es ist hier symbolisch gemeint und verkörpert das im Text apostrophierte ‚Himmelreich’.“
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und hoffet noch des Glaubens Lohn in einem sanften Todesschlafe.
Was im Eingangschor noch „offen“ blieb und lediglich als Bitte („Höre“ – „Erscheine“) formuliert wurde, findet hier die Vergewisserung durch die Anrede des Evangeliums. Dies geschieht einmal mehr durch die Bassstimme.56 Psalm 23, insbesondere V1–2 und V6, wird von Joh 10 her christologisch – nur hier taucht in der ganzen Kantate der Name Jesu auf – verstanden und eschatologisch expliziert (vgl. Abb. 14; Notenbeispiel 12 b). Die Botschaft lautet: Schon hier ist Jesu Güte zu schmecken, schon jetzt ist uns die Welt ein Himmelreich, weil/wenn Jesus sich zeigt und uns sinnlich anredet. Diese Aussagen unterscheiden sich von einer holzschnittartigen „Diesseits-Jenseits-Dialektik“, wie man sie sonst oft wahrnehmen kann. Vielmehr bringt Bachs Musik treffsicher die eschatologische Spannung von „Schon jetzt“ und „Noch nicht“ zur Geltung. Bachs größtes Interesse scheint dabei in der Darstellung des Todesschlafes zu liegen, der gleichsam den Schnittpunkt von Diesseits und Jenseits, „Schon jetzt“ und „Noch nicht“ markiert: Durch das explizite pianissimo und einen „entrückt“ klingenden neapolitanischen Sextakkord (T. 38: C-Dur in hMoll) „inszeniert“ Bach den Todesschlaf als spirituelles Mysterium und macht ihn durch lange, tiefe Liegetöne sinnenfällig (T. 38–40; 46–49, vgl. auch den Schlusston des B-Teils auf Fis, T. 50). Ihm korrespondieren hohe Liegetöne auf dem Verb „hoffen“, womit gleichsam eine musikalisch-spirituelle Antithese geschaffen ist. Damit ist die Dialektik von Todesrealität und Auferstehungshoffnung geschildert: Der Tod wird mit dem Bild des Todesschlafs gleichsam „entmythologisiert“, ja „entmachtet“. Fazit: Bachs Hirtenbilder sind weit weg von einem bukolischen Idyll. Das „wahre“ Leben ereignet sich darin in doppelter Weise. Die tödliche Gefahr für die Menschheit ist ebenso präsent wie ihre Überwindung durch Christus, der Schatten göttlicher Verborgenheit ebenso ehrlich ausgesprochen wie sein neuerliches Offenbarwerden.
5. LIEBESBILDER Die schönsten Bilder in Bachs Musik sind freilich die Liebesbilder. Lucia Haselböck schreibt zu ihrer Herkunft treffend: „Wie der mittelalterliche Mystiker die geistliche Ehe in all ihren beglückenden Phasen erlebt, sucht auch der durch Religionswirren im höchsten Maß erschütterte Mensch des Barockzeitalters nach dem 56 Vgl. die zentralen Sätze BWV 81,4; 154,5; 2,4; 21,7f und 60,4.
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tiefsten Ausdruck der Liebes-Vereinigung von Gott und Mensch. Für diese Bildvorstellungen wesentlich ist die typische Verbindung der aus dem Hohenlied entlehnten Brautmystik und der aszetischen Passionsauffassung, wie sie von dem mittelalterlichen Mystiker Bernhard von Clairvaux in den Sermones dargelegt wurde“57. Zahlreiche Vokalwerke J.S. Bachs nehmen in diesem Sinne die Mystik des biblischen Hoheliedes oder besser: dessen mystische Rezeption durch die Poesie der lutherischen Orthodoxie auf. Dieser Aspekt in Bachs Werk wurde lange Zeit unterschätzt, belächelt oder peinlich ausgeklammert, ist aber in etlichen Kantaten leuchtend aufbewahrt.58 Um den geistlich-theologischen Nährboden zu beschreiben, seien hier die Strophen 4 und 5 von Nicolais Morgenstern-Lied (vgl. EG 70) angeführt. Sie sind nach dem Prinzip des Gestaltgedichts angelegt und ergeben mit ihren 12 Versen einen Abendmahlskelch: Von Gott kommt mir ein Freudenschein, wenn du mit deinen Äugelein, mich freundlich tust anblicken. Herr Jesu, du mein trautes Gut, dein Wort, dein Geist, dein Leib, dein Blut mich innerlich erquicken. Nimm mich freundlich in dein Arme, daß ich warme werd’ von Gnaden; auf dein Wort komm ich geladen. Herr Gott Vater, mein starker Held, du hast mich ewig vor der Welt in deinem Sohn geliebet. Dein Sohn hat mich ihm selbst vertraut, 57 L. Haselböck: Text-Lexikon, S. 104. Vgl. M. Petzoldt: Bach-Kommentar I, S. 581. Es geht um die 86 Sermones zum Hohenlied: „Bernhard verschlüsselt und entschlüsselt zugleich die beiden liebenden Gestalten von Freund und Freundin, Braut und Bräutigam, durch das Verhältnis von Jesus und Maria.“ 58 Herausragend sind die beiden auf Philipp Nicolais Lieder zurückgehenden Kantaten Wie schön leuchtet der Morgenstern (BWV 1) und Wachet auf, ruft uns die Stimme (BWV 140, vgl. unten). Aber auch die Kantaten Ich geh und suche mit Verlangen (BWV 49) und Erschallet ihr Lieder (BWV 172) sind reich an Material.
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er ist mein Schatz, ich seine Braut, drum mich auch nichts betrübet. Eia, eia, himmlisch Leben wird er geben, mir dort oben; ewig soll mein Herz ihn loben.59
Im Zentrum der Dichtung (insgesamt sieben Strophen) steht die Umarmung mit Christus im Glauben, die uns warm werden lässt durch seine „Gnade“ (Nähe). Als Beispiel aus dem Werk Bachs sei hier die Mitte der Kantate Ich hatte viel Bekümmernis (BWV 21) benannt, wo es nach den Schilderungen der Stürme (vgl. oben 1.4) des Lebens (Satz 5) und einer ersten Ermutigung der angefochtenen Seele durch den Chor („Was betrübst du dich, meine Seele? […] Harre auf Gott!“) zu einer innigen Christusbegegnung (Duett Sopran/Bass) kommt. Hier findet der Umschwung von Trauer zur Freude, von Sehnsucht zur Erfüllung statt, wir hören Herzen in Liebe schlagen. Seele (Sopran)
Jesus (Bass)
Ach Jesu, meine Ruh,
O Seele, sieh! Ich bin bei dir
Mein Licht, wo bleibest du?
Ich bin dein treuer Freund
Bei mir, hier ist ja lauter Nacht.
der auch im Dunklen wacht, wo lauter Schalken seind. […]-
Komm, mein Jesu, und erquicke
Ja, ich komme und erquicke!
Und erfreu mit deinem Blicke
Dich mit meinem Gnadenblicke […]
Diese Seele, die soll sterben und
Deine Seele, die soll leben und
nicht leben
nicht sterben
Und in ihrer Unglückshöhle
hier aus dieser wunden Höhle
Ganz verderben?
Sollt du erben! […]
Ach Jesu, durchsüße mir Seele
Entweichet ihr Sorgen, verschwinde
und Herze!
du Schmerze!
59 Vgl. zur Analyse: Arnold, Jochen: Theologie des Gottesdienstes, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt ³2020, 505–514. Das Morgensternlied findet sich in zahlreichen Vertonungen Bachs, u.a. in der gleichnamigen Kantate (BWV 1), desweitern in Ich geh und suche mit Verlangen (BWV 49/6, s.u.); Nun komm, der Heiden Heiland (BWV 61/6); Wer da gläubet und getauft wird (BWV 37/3) u.ö.
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Daraus wird deutlich: Bevor es zur „Vereinigung“ (unio) kommt, gibt es Berührungen, Umarmungen des Glaubens. Der Gnadenblick Jesu ist es hier (BWV 21), der Hoffnung und neues Leben bewirkt. Als zweites Beispiel soll liebende Zuwendung von Menschen benannt werden. Sie kann dem Jesus-Kind gelten, wie sie der alten Simeon (vgl. Lukas 2,28–30) ausdrückt (vgl. BWV 82/1): Ich habe genung. Ich habe den Heiland, das Hoffen der Frommen, auf meine begierigen Arme genommen […] Mein Glaube hat Jesum ans Herze gedrückt; Nun wünsch ich, noch heute mit Freuden von hinnen zu scheiden. Ich habe genung.
Explizites, d.h. auf das Hohelied bezogenes, Bildmaterial findet sich auch in zeitgenössischer Emblematik. Luthers Haus-Postille in der Lüneburger Ausgabe von 1638, die J.S. Bach nachweislich in seiner Bibliothek hatte, bezieht sich sogar im Titelkupfer darauf (vgl. Abb. 2): „Gehet heraus und schawet an ihr Töchter Zion, den König Salomo, in der Krone, damit ihn seine Mutter gekronet hat, am tage seiner Hochzeit, vnd am tage der frewden seines Hertzens. Cant. Cap. 3“
Die Pointe ist allerdings, dass hier nicht ein strahlender Bräutigam, sondern der mit Dornen bekrönte, gebundene Christus betrachtet werden soll. Drei Engelsfiguren präsentieren ihn. Auch auf der anderen Bildtafel ist keine Liebesszene zu sehen. Man sieht vielmehr einen Abendmahlstisch, Christus mit den 12 Aposteln im Gebet. Zwei Engel bringen Milch und Honig (anstelle von Brot und Wein?) mit dem Hinweis auf Canticum 4,10f: Honig und Milch ist von deiner Zunge.60 60 Im Zusammenhang lesen wir folgende Sätze des Bräutigams an die Braut: Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut, mit deinen Augen einem und mit deiner Halsketten einer. Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, liebe Braut! Deine Liebe ist lieblicher denn Wein, und der Geruch deiner Salben übertrifft alle Würze. Deine Lippen, meine Braut, sind wie triefender Honigseim; Honig und Milch ist unter deiner Zunge, und deiner Kleider Geruch ist wie der Geruch des Libanon. Bei der Betrachtung des Textes zeigt sich: Es geht hier nicht etwa um die Zunge Jesu, sondern um
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Das poetisch-musikalisch bekannteste Beispiel zum Thema dürfte das Duett von Sopran (Seele) und Bass (Christus) aus der Kantate Wachet auf, ruft uns die Stimme sein, die mit der berühmten „Gloria-Strophe“ von Nicolai (vgl. EG 147.3 bzw. 535) schließt. Der Text ist ein wörtliches Zitat aus Hohelied 2,16 / 6,3 und lautet: Sopran
Bass
Mein Freund ist mein
Und ich bin sein …
Ich will Du sollst
Mit mir/dir auf Himmelsrosen weiden.
Da Freude die Fülle, da Wonne wird sein.
Die Musik ist von berückender Leichtigkeit und Schönheit, himmlische Seligkeit wird im Vorgeschmack der Liebe zwischen zwei Menschen (Seele mit dem GottMenschen Christus) erlebt. Bach macht die „Vereinigung“ beim Stichwort Liebe (T. 11) durch die rhythmisch synchrone Terzbewegung der beiden Singstimmen sinnenfällig. Eine ähnliche musikalische Faktur findet sich sonst nur bei der Wendung „da Freude die Fülle, da Wonne wird sein“ (vgl. T. 62f und T.66f). 5.1 Gnaden-Kuss und unio Der Theologe Heinrich Müller, dessen Evangelisches Präservativ bereits im Titel bei heutigen Zeitgenossen allerhand Phantasien befeuert, beschreibt das Ereignis des Glaubens als Beseitigung höllischen Gestanks: „Doch leidet es der Herr, daß er uns vom Anhauchen des Teufels erlöset und uns darfür mit seinem heiligen Munde küsset.“61 Salopp gesagt: Der Kuss Christi bewirkt das Ende des teuflischen Mundgeruchs der Sünde. Deutlich positiver formuliert ist die Dichtung von Salomon Franck, der überhaupt als der entscheidende Poet lutherischer Mystik im Umfeld Bachs gilt. In der Weimarer Pfingstkantate Erschallet ihr Lieder (BWV 172) inszeniert er die Einwohnung Gottes im Herzen des Menschen. Das Stichwort Liebe fällt bereits im Bibelwort-Rezitativ nach dem Eingangschor (Satz 2) mit der vox Christi (Zitat aus Joh 14):
die Zunge der Braut! Offenbar denkt sich der Maler und Interpret die Kirche (die Seele) als eine Figur, die, durch Jesus selbst wachgeküsst, nun auch selbst süße Speise und Milch weitergeben kann. 61 H. Müller: Liebes-Kuß, S. 51.
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Rezitativ (Bass) Wer mich liebet, wird mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden kommen und Wohnung bei ihm machen.
Musikalisch bemerkenswert ist allerdings, dass Bach nicht etwa das Verbum „lieben“, sondern das Verb „machen“ durch eine lange Koloratur beleuchtet, die als kunstvolle zweifache Gradatio mit zwei langen Liegetönen daherkommt und auch zweimal im Continuo imitiert wird. Am Ende singt der Bass das seltene tiefe C, was zeigen mag: So tief kommt Gott herab zu uns (vgl. Abb. 15; Notenbeispiel). Man achte hier außerdem bereits auf das „Wir“ der biblischen Verheißung. Gott kommt zu dritt (vgl. Gen 18), weshalb sich auch die folgende schmetternde BassArie (mit Trompete) bittend an die Dreieinigkeit wendet, im Herzen einzukehren. Dann kommt es zu der eigentlich pfingstlichen Begegnung mit dem Geist als Spiritus Creator in der Tenorarie. Er wird zunächst kündend verheißen und mit dem Attribut „Seelenparadies“ prädiziert. In einem Triosatz (3/4 Takt; Streicher/Tenor/ Continuo), bildet die durchgehende Achtelbewegung in den Streichern die über den Wassern schwebende Geistmacht ab (vgl. Gen 1,2): O Seelenparadies, das Gottes Geist durchwehet, der bei der Schöpfung blies, der Geist, der nie vergehet. Auf, auf, bereite dich, der Tröster nahet sich.
Dann erst ist es soweit. In einem zärtlichen Duett von Sopran und Alt kommt es zur intimen Begegnung der Seele mit dem Heiligen Geist, eine in dieser Art einzigartige Konstellation bei Bach. Anima: Komm lass mich nicht länger warten, kommt du sanfter Himmelswind, wehe durch den Herzensgarten! Spiritus Sanctus: Ich erquicke dich, mein Kind. Anima: Liebste Liebe, die so süße, aller Wollust Überfluss! Ich vergeh, wenn ich dich misse. Spiritus Sanctus: Nimm von mir den Gnadenkuss. Anima: Sei im Glauben mir willkommen, Höchste Liebe, komm herein!
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Du hast mir das Herz genommen. Spiritus Sanctus: Ich bin dein, und du bist mein!
Typisch für den Poeten Franck sind die Doppelworte wie „Herzensgarten“, „Himmelswind“ (vgl. Satz 3: „Herzenshütte“). Dabei geht es nicht nur um Sprachspiel oder Wortwitz; die Alliterationen sind meist Neudeutungen eines theologischen Sachverhalts oder beschreiben treffend Gegensätze in einem Begriff (vgl. BWV 162). Bach schreibt das Duett der beiden Singstimmen für Weimar noch mit Cello und Liebesoboe, in Leipzig dann mit einer obligaten Orgel (vgl. BWV 49), in deren rechter Hand die kolorierte Melodie des Pfingstliedes Komm, heiliger Geist, Herr Gott (EG 125) eingeschrieben ist.62 Worum geht es in diesem Satz? Aus der Sehnsucht wird Erfüllung, aus der Verheißung, an die sich der Glaube hängt, erlebte Liebe. Doch nicht nur die theologische Poesie ist aufregend, auch die Musik ist in dieser Art singulär. Bereits die instrumentale Bass-Bewegung zu Beginn, die im Verlauf als Ostinato mehrfach wiederkehrt (vgl. T.4–6; 7–9; 14–16; 45–48), ist ein Ereignis: Immer wieder unterbricht Bach die Bewegung durch kleine Sechzehntelpausen, sog. Suspirationes („Schnaufer“), die innige Sehnsucht ausdrücken. Die Bewegung mit Gradatio nach unten reicht bis zum tiefen c (vgl. Satz 2), außerdem klingt hier – wie A. Dürr entdeckt hat63 – in den Spitzentönen (c-d-c-a-c-g) bereits der Cantus firmus des Pfingstliedes an. Die filigrane Polyphonie und Innigkeit der hohen Stimmen ist es, die diesem Satz etwas Schwebendes, Himmlisches verleihen (vgl. Abb. 15; Notenbeispiel 13 b). Die Metaphorik des Seelenparadieses aus dem vorigen Satz wird mit dem Motiv des Herzensgartens (Sopran) weitergeführt. Hier ist der Ort für die Liebe, für den Kuss, für die Unio. Der sonst meist negativ besetzte Begriff der Wollust wird unter diesen Vorzeichen gleichsam „getauft“. Musikalisch ereignet sich der Gnadenkuss in einer rhythmisch synchronen Sext-Bewegung (T. 20f), bei der dann auch das Stichwort Gnadenkuss dreimal vorkommt (das freilich dem Heiligen Geist vorbehalten bleibt!). Darauf antwortet die Seele: „Ich vergeh, wenn ich dich misse!“. Im zweiten Teil des Duetts kommt es dann zur eigentlich Unio. Insgesamt wird die sog. Verlöbnisformel zwölfmal ganz ausgesprochen, davon siebenmal in der klassischen Reihenfolge („Ich bin dein und du bist mein“) und fünfmal umgekehrt („du bist mein und ich bin dein“), was auf den fröhlichen Wechsel im Glauben schließen lässt. Bisweilen fügt Bach noch eine emphatische Wiederho-
62 K. Klek: Dein ist allein II, S. 372 weißt darauf hin, dass es in der vorreformatorischen Strophe 1 passend zum Thema heißt: „dein brennend Lieb entzünd in ihn‘“. 63 Vgl. A. Dürr: Kantaten, S. 395.
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lung dazu: „du bist mein und ich bin dein und ich bin dein.“ (vgl. Abb. 15; Notenbeispiel 13 c und Abb. 16; Notenbeispiel 14 a) Kein Wunder, dass der Dichter und Bach nun noch gerne zu Nicolais Morgensternlied greifen und dessen zentrale vierte Strophe an den Schluss der Kantate stellen. Dazu erklingt (vgl. ähnlich BWV 61/6 und BWV 1/6) eine konzertierende Überstimme, die himmlische Freude, ja gleichsam überirdischen Jubel ausdrückt. Die Unio klingt mit Beginn des Abgesangs (T. 13f) nochmals an, wenn in den Chorstimmen und im Continuo die Bewegung kurz zur Ruhe kommt („nimm mich, freundlich“). Es handelt sich um die Form des Noema64. Anschließend kommt es zu einer fulminanten Anabasis und Katabasis im Bass vom tiefen F zum hohen c‘: Himmel und Erde berühren sich bei der Umarmung mit Christus. So wird es „warm“ in den Herzen und in der Welt. (vgl. Abb. 16; Notenbeispiel 14 b) 5.2 Himmlische Kleider und hochzeitliches Mahl Während der Gnadenkuss sich schon hier im Glauben ereignet und somit ein persönliches Pfingstereignis darstellt, stellen uns einige Kantaten auch die Hochzeit mit dem himmlischen Bräutigam Jesus vor Augen und Ohren. Dabei geht es ganz offensichtlich nicht nur um den spirituellen Genuss der gläubigen Liebe. Die Bildwelt des Gnadenkusses wird durch das Motiv der hochzeitlichen Kleider und des festlichen Mahls erweitert. Für die Betrachtung dieses Themas eignen sich besonders die Kantaten für den 20. Sonntag n. Trinitatis mit dem Gleichnis von der königlichen Hochzeit, das in seiner lukanischen Parallele (Lukas 14) auch am 2. Sonntag n. Trinitatis bereits als Evangelium vorkam.65 Schon die frühe Weimarer Kantate Ach! Ich sehe, itzt, da ich zur Hochzeit gehe (BWV 162) auf ein Libretto von Salomon Franck thematisiert das himmlische Hochzeitsfest. Dies geschieht, den Evangelisten Matthäus mit seiner Gerichtsdrohung aufnehmend, in einer heftigen Ambivalenz von „Himmelsglanz und Höllenflammen“ (vgl. Satz 1). Erstaunlich ist dabei: In Satz 2 ist es nicht die Seele oder die Kirche, sondern die Welt die geküsst wird: O großes Hochzeitsfest, wie ist das Fleisch zu solcher Ehre kommen, dass Gottes Sohn 64 Vgl. ähnlich BWV 1/6, T.13/14 auf Amen bzw. noch deutlicher Lobe den Herren (BWV 137,1): Kommet zuhauf. 65 Kantate Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (BWV 76) ist auf dieses Proprium bezogen, beschäftigt sich aber mehr mit dem Abendmahl der Kirche hier und jetzt (vgl. Satz 2; 6; 9), vgl. J. Arnold: Von Gott reden, S. 385–395.
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es hat auf ewig angenommen? Der Himmel ist sein Thron, die Erde dient zum Schemel seiner Füßen, noch will er diese Welt als Braut und Liebste küssen!
Höhepunkt der Kantate ist dann das Liebesduett von Alt und Tenor (Satz 5) „In meinem Gott bin ich erfreut“. Hier wird die Metaphorik der Hochzeitskleider offenbar auf die Taufe bezogen, wenn es weiter unten heißt: Die Liebesmacht hat ihn bewogen, dass er mir in der Gnadenzeit aus lauter Huld hat angezogen die Kleider der Gerechtigkeit.
Aus dem Satz heraus ragen Koloraturen, welche das Stichwort Freude festlich schmücken. Das schönste und vollständigste Beispiel einer Liebeskantate ist jedoch die Kantate Ich geh und suche mit Verlangen (BWV 49) zum 20. Sonntag n. Trinitatis (3.11.1726). Bach bezeichnet sie selbst als Dialogus, eine Form, die auf geistlich konzertante Dichtungen des 17. Jahrhunderts (z.B. von Johann Krieger und Johann Rosenmüller) zurückgeht. Das Libretto stammt wahrscheinlich von Christoph Birkmann66. Hier sind alle erzählerischen Details des Evangeliums, d.h. auch seine drohenden Gerichtsaussagen, ins Positive gewendet.67 Festlich konzertierend beginnt das Stück mit einer Sinfonia, in der die obligate Orgel eine zentrale Rolle spielt. Sie ist die Urform für das spätere Cembalokonzert (BWV 1053). Konrad Klek meint, die Gemeinde Bachs müsste die 395 Takte als „himmlische Hochzeitsmusik gehört haben“68. Dann erklingt mit dem Solo-Bass die Stimme des Bräutigams, der nach seiner Braut sucht. Im rondoartigen Konzertsatz (mit hochvirtuosem Orgelpart) sind Inhalte aus dem Hohelied Salomos (vgl. Hhld 3) aufgenommen. Ich geh und suche mit Verlangen dich, meine Taube, schönste Braut. Sag an, wo bist du hingegangen, dass dich mein Auge nicht mehr schaut? 66 Vgl. K. Klek: Dein ist allein die Ehre III, S. 252. 67 Vgl. A. Dürr: Kantaten, S. 660. 68 K. Klek: Dein ist allein die Ehre III, S. 253.
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Bach fokussiert u.a. das Wort Verlangen, indem er (vgl. T. 47–49 bzw. 159–161) eine Sehnsucht ausdrückenden, den chromatischen Gang nach oben (Passus duriusculus) komponiert und der geliebten Taube eine lange Koloratur mit zweifacher Gradatio (T. 53–58, vgl. T. 165–170) widmet (vgl. Abb. 17; Notenbeispiel 15 a). Der Bräutigam (Jesus) sucht seine Braut. Das liebende Suchen geht also von Gott aus, was durch die auf Schritt und Tritt wiederkehrenden Triolen besonders intensiviert wird. Mit dem folgenden Satz 3 (Rezitativ) wechselt die Bildwelt der Liebessehnsucht in Richtung Hochzeit. Christus tritt als Gastgeber auf (mit dem Heiligenschein des Accompagnato-Rezitativs) und redet in Ich-Form die Braut an: Jesus (Bass) Mein Mahl ist zubereit Und meine Hochzeitstafel fertig, nur meine Braut ist noch nicht gegenwärtig. Braut (Sopran) Mein Jesus redt von mir O Stimme, welche mich erfreut. Jesus Ich geh und suche mit Verlangen Dich, meine Taube, schönste Braut. Braut Mein Bräutigam, ich falle dir zu Füßen.
Beide
Komm, Schönste/r, komm und lass dich küssen.
Braut Jesus Lass mich dein fettes Mahl genießen.
Du sollst mein fettes Mahl genießen.
Mein Bräutigam, ich eile nun;
komm, liebe Braut und eile nun,
die Hochzeitskleider anzutun.
Das Accompagnato wendet sich nach der Liebeserklärung der Braut „Mein Bräutigam, ich falle dir zu Füßen“ mit der Wendung „Komm, Schönste/Schönster, komm“ in ein beschwingtes Liebesduett (3/8-Takt in E-Dur), wobei das Stichwort „Lass dich küssen“ eine Parallelbewegung in Terzen provoziert (vgl. Abb. 17; Notenbeispiel 15 b und Abb. 18; Notenbeispiel 16 a). Das „Eilen“ (T. 35–45) der beiden wird durch virtuose Sechzehnte-Koloraturen illustriert. Am Ende steht die Erwartung, bald die Hochzeitskleider anzulegen (auch hier parallele Terzen, vgl. T. 51–58, vgl. Abb. 18; Notenbeispiel 16 b).
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Die folgende Sopranarie erklingt in einer aparten Triobesetzung: Liebesoboe, Violoncello piccolo und Continuo. Die Braut strahlt selbstbewusst in vollem Glanz, sprachlich und musikalisch. Ein Widerspruch zu aller Leibfeindlichkeit christlicher Tradition: Ich bin herrlich, ich bin schön, meinen Heiland zu entzünden. Seines Heils Gerechtigkeit ist mein Schmuck und Ehrenkleid und damit will ich bestehn, wenn ich werd in Himmel gehen.
Der Text nimmt Bezug auf das hochzeitliche Kleid in Mt 22,11f bzw. die Kleider des Glaubens nach Jes 61,10 – ein Topos, der sich auch in Spirituals des 19. Jahrhunderts wiederfindet (I’ve got a robe). Die Thematik „Ich bin herrlich, ich bin schön“ wird in den beiden Soloinstrumenten vorab präsentiert und erweist sich dann als wirksamer „Ohrwurm“ (vgl. T. 1f; 5f; 13–16 u.ö.). Schon zu Beginn eine kleine, aber feine Überraschung: Das Thema beginnt nicht auf der Zählzeit eins des Taktes, sondern synkopisch ein Achtel später, was den Affekt der Koketterie bzw. des Selbstbewusstseins einer flirtenden Braut ausdrückt (vgl. Abb. 18; Notenbeispiel 16 c). Dieses Hauptthema wird unzählige Male vokal und instrumental wiederholt. Als musikalischer Nucleus erweist sich ferner ein kleines kontrapunktisches Motiv mit zwei Sechzehnteln und zwei Achtelnoten, das sich jubelnd durch das ganze Stück (vgl. T. 8; 10f; 14 u.ö.) zieht und die Liebesfreude der Braut gleichsam kommentiert. Hauptaugenmerk Bachs ist allerdings das Verbum „entzünden“, das sich zweimal in schier endlosen Koloraturen entfaltet (T. 25–27; vgl. T. 70–73). Damit ist klar: Auch die Garderobe der Braut stimmt. Das Fest kann beginnen. Davon erzählt das folgende Rezitativ, das beide Solisten vortragen. Spätestens hier wird klar: Was da erzählt wird, gibt es noch nicht hier, es ist uns für den Himmel vorbehalten. Braut Jesus Mein Glaube hat mich selber angezogen.
So bleibt mein Herze dir gewogen.
So will ich mich mit dir
In Ewigkeit vertrauen und verloben.
Interessant für die theologische Deutung ist die lutherische Akzentuierung. Jesus spricht das Treuegelübde, die Braut empfängt das Versprechen im Glauben, promissio und fides sind aufeinander bezogen. Im Folgenden wird nochmals die es-
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chatologische Dimension deutlich. Wir dürfen für einen Moment „Himmel jetzt“ erleben, geistlich und sinnlich. Das artikuliert die Braut so: Braut Wie wohl ist mit! Der Himmel ist mir aufgehoben … Im Himmelsaal zu dem Erlösungsmahl zu Gaste möge sein.
Hinreißend, ja beinahe himmlisch schön ist der Schlusssatz. Hier verknüpft Bach Dichtung und Morgenstern-Choral (letzte Strophe) zu einem „Fest der Sinne“. Das Streichquartett ist nunmehr komplett, die Orgel konzertiert höchst virtuos mit beiden Solostimmen. Der Bass (Jesus) singt im Anklang an die 5. Strophe von Nicolais Lied und akzentuiert damit das Thema Erwählung. Dich hab ich je und je geliebet und darum zieh ich dich zu mir. Ich komme bald, ich stehe vor der Tür. Mach auf, mein Aufenthalt! Dich hab ich je und geliebet Darum zieh ich dich zu mir.
Die Melodie des Chorals und der Orgel „zieht“ dabei kräftig nach oben, die Anabasis geht, analog zum cantus firmus im Sopran, vom tiefen h über zwei Oktaven zum hohen ais‘‘ (T. 89–93, vgl. Abb. 19; Notenbeispiel 17 a). Die Seele besingt dabei mit der letzten Strophe des Morgensternliedes treffend die Aufnahme ins Paradies. Besonders schön ist die „simultane Doppeltextigkeit“69 im sog. Abgesang (BTeil von Choral und Kantatensatz), wenn das Versprechen des Bräutigams, bald zu kommen, mit einem „Amen“ der Braut beantwortet wird. Hier ereignet sich, ohne dass die Unio-Formel (Ich bin dein und du bist mein) explizit gebraucht wäre, etwas Ähnliches: Es ist musikalische Vereinigung des glaubenden Menschen mit Christus im Hier und Jetzt. Ekstase wird schon jetzt möglich, wenn er sie zu sich zieht.70
69 Vgl. A. Dürr: Kantaten, S. 662 (bzw. T. 117–119). 70 Vgl. ähnlich K. Klek: Dir ist allein III, S. 256.
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6. ZUSAMMENFASSUNG In Bachs Kantaten bündeln sich biblische Bilder und theologische Aussagen aus verschiedenen Traditionen und Jahrhunderten. Die durch die Bildwelt der Dichter evozierten musikalischen Figuren und Motive, die Bach zum Einsatz bringt, sind so vielfältig wie die Farbpalette eines Rembrandt oder Michelangelo und lassen sich nicht in wenigen Worten aufzählen. Bachs musikalische Bilder illustrieren das Leben, stören auf durch tödliche Bedrohung und schroffe Gegenwelten, vertiefen das Verständnis des Heilshandelns Gottes in Christus und eröffnen neue Horizonte des Glaubens und der Liebe. Stets sind Emotionen mit im Spiel, die Affekte bewegen sich zwischen Trauer und Freude, Furcht und Hoffnung, Wut und Liebe. Genau das macht sie so faszinierend bis heute. Bach zeigt in all dem nicht nur große handwerkliche Kunst, er strotzt geradezu vor Einfallsreichtum und lässt, ohne die Abgründe des menschlichen Lebens, ja sogar die dunkle Seite Gottes zu verschweigen, zugleich eine Begeisterung für Christus, für den dreieinigen zugewandten Gott erkennen. Aufs Ganze gesehen künden Bachs poetisch-musikalische Bilder immer wieder neu und anders von Gottes Liebe. Ja mehr noch: Sie machen Lust auf den Himmel, der sich zumindest musikalisch schon ahnen lässt.
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7. ABBILDUNGEN
Abb. 1: Herman Hugo/Pia Desideria: Abdrucke, Abbildung aus: Lucia Haselböck: Bach-Textlexikon, Kassel: Bärenreiter 2004, S. 137.
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Abb. 2: Martin Luther: Hauspostille, Lüneburg (1638), Abbildung aus: Renate Steiger, Gnadengegenwart, Stuttgart – Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2002, S. 136.
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Abb. 3: „Brich dem Hungrigen dein Brot“, BWV 39 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zum Trinitatisfest und zum 1. Sonntag nach Trinitatis, herausgegeben von Alfred Dürr/ Robert Freeman/James Webster, BA 5029-01, Seite 184–185 (Takt 23–25 /Takt 33–35) und Seite 197–198 (Takt 93–97), © 1967 by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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Abb. 4: „Der Himmel lacht! Die Erde jubilieret“, BWV 31 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zum 1. Ostertag, herausgegeben von Alfred Dürr, BA 5064-01, Takt 1–6, © 1985 by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
a)
b)
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Abb. 5: Ich will den Kreuzstab gerne tragen, BWV 56, Kantate zum 19. Sonntag n. Trinitatis, herausgegeben by Bärenreiter Verlag Kassel etc. herausgegeben von Matthias Wendt.
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Abb. 6: „Jesus schläft, was soll ich hoffen“, BWV 81 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zum 3. und 4. Sonntag nach Epiphanias, herausgegeben von Ulrich Leisinger/Peter Wollny, BA 5087-01, Takt 1–6 und Takt 15–21, © by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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Notenbeispiel 5a–c:
Abb. 7: „Nimm von uns, Herr, du treuer Gott“, BWV 101 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zum 9. und 10. Sonntag nach Trinitatis, herausgegeben von Robert L. Marshall, BA 5060-01, Takt 1–4 / Takt 7–13 / Takt 23–25, © by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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Abb. 8: „O Ewigkeit, du Donnerwort“, BWV 20 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zum Trinitatisfest und zum 1. Sonntag nach Trinitatis, herausgegeben von Alfred Dürr / Robert Freeman / James Webster, BA 5029-01, Takt 9–15 / Takt 24–28, © 1967 by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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a)
b)
Abb. 9: „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“, BWV 25 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zum 13. und 14. Sonntag nach Trinitatis, herausgegeben von Werner Neumann, BA 2013-01, Satz 2 / Satz 2, Takt 28–36, © 1958 by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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a)
b)
Abb. 10: „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“, BWV 25 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zum 13. und 14. Sonntag nach Trinitatis, herausgegeben von Werner Neumann, BA 2013-01, Satz 4 / Satz 5 Takt 75–78, © 1958 by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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a)
b)
Abb. 11: „Jesus ist ein guter Hirt“, BWV 85 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zu den Sonntagen Quasimodogeniti und Misericordias Domini, herausgegeben von: Reinmar Emans, BA 5071-01, Takt 26–40 / Satz 4, © by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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a)
b)
Abb. 12: „Jesus ist ein guter Hirt“, BWV 85 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zu den Sonntagen Quasimodogeniti und Misericordias Domini, herausgegeben von: Reinmar Emans, BA 5071-01, Takt 1–3 / Takt 9–12, © by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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a)
b)
Abb. 13: „Du Hirte, Israel, höre“, BWV 104 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zu den Sonntagen Quasimodogeniti und Misericordias Domini, herausgegeben von: Reinmar Emans, BA 5071-01, Takt 107–114 / Takt 17–21, © by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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a)
b)
Abb. 14: „Du Hirte, Israel, höre“, BWV 104 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zu den Sonntagen Quasimodogeniti und Misericordias Domini, herausgegeben von: Reinmar Emans, BA 5071-01, Takt 28–30 / Takt 6–9, © by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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a)
b)
c)
Abb. 15: „Weimarer Pfingstkantate: Erschallet, ihr Lieder“, BWV 172 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zum 1. Pfingsttag, herausgegeben von Dietrich Kilian, BA 5015-01, Satz 2 / Takt 1–5 /Takt 27–29, © by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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a)
b)
Abb. 16: „Weimarer Pfingstkantate: Erschallet, ihr Lieder“ ,BWV 172 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zum 1. Pfingsttag, herausgegeben von Dietrich Kilian, BA 5015-01, Takt 44–45 / Takt 10–20, © by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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a)
b)
Abb. 17: „Ich geh und suche mit Verlangen“, BWV 49 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zum 20. und 21. Sonntag nach Trinitatis, herausgegeben von Ulrich Bartels, BA 5089-01, Takt 149–170 / Takt 14–24,© by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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a)
b)
c)
Abb. 18: „Ich geh und suche mit Verlangen“, BWV 49 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zum 20. und 21. Sonntag nach Trinitatis, herausgegeben von Ulrich Bartels, BA 5089-01, Takt 56–62 / Takt 13–15, © by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
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a)
b)
Abb. 19: „Ich geh und suche mit Verlangen“, BWV 49 aus: Johann Sebastian Bach: Kantaten zum 20. und 21. Sonntag nach Trinitatis, herausgegeben von Ulrich Bartels, BA 508901, Satz 5 / Takt 114–118, © by Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel.
Synästhesien in der konzertanten Aufführungspraxis Christian Domke
1. A US DER PRAXIS EINER GROSSEN KIRCHENMUSIKALISCHEN STELLE Ich bin Organist und Kantor und leite seit 2011 den Arbeitsbereich Kirchenmusik an der traditionsreichen St. Paulskirche Schwerin. Hier bin ich verantwortlich für vier Vokalchöre, einen Posaunenchor, die Reihe „Internationaler Orgelsommer“, sowie die Organisation des kirchenmusikalischen Lebens. Diese Arbeit steht im Spannungsfeld von kirchlicher Verkündigungskultur einerseits, und Kulturmanagement andererseits mit allen Facetten des Wettbewerbs. Dies verdeutlicht sich in der basisorientierten Arbeit im Gottesdienst bis hin zu musikalischer Hochkultur in der Aufführung von zentralen, großen Werken der Orgel- und Chorliteratur. Zentrales, wenn auch hehres Ziel meiner Arbeit ist dabei, Gottesbegegnung zu ermöglichen und Musik durch Aufführung und Rezeption einen Sinn zu geben, einen Widerhall auszulösen. Ich würde gar noch die Behauptung wagen, dass mein Anspruch an meine Arbeit, die zugleich auch Berufung ist, sich darin manifestiert, Kirche zu bauen mithilfe der Musik, die immer ein Spiegel ihrer Zeit und der Zeit ihrer Aufführung ist. Dabei beschreite ich auch außergewöhnlichere Wege.
2. WARUM SYNÄSTHESIEN Ich möchte mit meinem Wirken mehr erreichen, als dass die Zuhörer, um mit Nikolaus Harnoncourt zu sprechen, eine Stunde lang Schönheit trinken. Vielmehr liegt mir daran, dass Musik im sakralen Raum ein Auslöser ist, dass sie ein Echo produziert, welches lang nachklingt und zur weiteren Beschäftigung einlädt. In meiner praktischen Arbeit im Bereich Orgelkonzert mache ich seit langer Zeit die
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Erfahrung, dass mehrdimensionales Hören, sprich die Verknüpfung verschiedener sensitiver Rezeptionsmechanismen, insbesondere über den Diskurs mit Raum, Kunstwerk, Instrument und Publikum gelingt. So bin ich über die freie, am Objekt orientierte Orgelimprovisation zu ersten synästhetischen Zusammenklängen gekommen. Es sei mir hier der Hinweis gestattet, dass ich eine wichtige Unterscheidung für unabdingbar und für das Verständnis als notwendig erachte. Die kirchenmusikalische Ausbildung unterscheidet im praktischen Unterrichtsfach Improvisation zwischen liturgischem Orgelspiel und freier Improvisation. Erstes meint die liturgie- und choralbezogene Beschäftigung der Organisten im gottesdienstlichen Rahmen, also beispielsweise Vor- und Nachspiele zu Kirchenliedern, liturgischen Gesängen, Untermalung von Gebeten und dem Spiel sub communione. Zweites bezeichnet das freie, dem Ursprung des Wortes zugetane Orgelspiel anhand eines Textes, eines Kunstwerks, einer musikalischen Satzbezeichnung [z. B. Toccata] gemäß und erfordert eine über das Maß der beruflichen Notwendigkeit hinausgehende Begabung; freie Improvisation ist nur zu einem gewissen Grad lern- und vermittelbar. In meinem Fall funktioniert der Brückenschlag von Inspiration hin zur Aufführung bei konzertgeeigneter Improvisation [Spiel aus dem Stegreif] über die direkte Wiedergabe; das Nichtvorbereitetsein führt hier zu einer Überlistung der Situation der Nacktheit, die durch hochkonzentrierte Aktion kompensiert wird. Bessere Improvisationen ergeben sich bei Anwesenheit von Publikum durch die größere Herausforderung, welche ein ehrlicheres und klarer definiertes, weil unmittelbar bewertetes Spiel generiert. Dies erscheint wichtig in Bezug auf die Verknüpfung von Musik und einem weiteren Medium: je deutlicher die Aktion, desto besser die improvisierte oder geprobt und damit auch installierte Reaktion in der Kombination der Aufführung. Diese sophistische Herangehensweise überfährt keinesfalls die einfachen Bilder; im Gegenteil: sie eröffnet philosophische und plakative Antworten aus dem Publikum. Die Betrachtung von Raum und Instrument als Einheit führt zu klarer Koexistenz und konvergentem Kontextbezug: klingende Kunst umschließt und erklärt stehende Kunst und umgekehrt, wobei die Flüchtigkeit und Unwiederbringlichkeit der Musik und damit die Unverfügbarkeit des eben Vollbrachten, in den zugrundeliegenden, haptisch oder visuell nach wie vor vorhandenen Kunstwerken hörbar und erlebbar bleibt. Entscheidend ist, dass Bild- und Klangästhetik für den Rezipienten korrelieren, oder einander zu neuem Verständnis hin verändern: ein strahlendes Fenster, das himmlische Pracht darstellt, muss mit existenzieller Klangentfaltung beschrieben werden, damit Bild und Klang einen Sinn ergeben. Im prozesshaften Vollzug konstituiert sich der ästhetische Sinn, so nennt es die Hamburger Philosophin Alice Lagaay. Als wirkmächtiges Beispiel für gelungenen Widerhall sei ein Konzertbesucher zitiert, den ich einige Jahre nach einem Konzert in der Abteikirche Altenberg wiedertraf.
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Im Rahmen des Konzerts improvisierte ich über das dortige Westfenster, in dem das himmlische Jerusalem dargestellt wird. Im Gespräch sagte er mir, er „weiß noch immer, wie Jerusalem klingt, seit Sie darüber improvisiert haben“. Hier vollzieht sich das eingangs von mir erwähnte Prinzip des synästhetischen Zusammenklangs: in Gegenüberstellung von Werk und daraus resultierendem Spiel werden die Mit-hörenden zu Mit-fühlenden gemacht, indem man eine Implementierung eines Bildes vornimmt, das zum Träger oder Verstärker des Inhalts wird, und, im Sinne der Performanz, einen Auslöser schafft, der die Unverfügbarkeit von Musik über diese Bildhaftigkeit in ein Gefühl beziehungsweise einen Innenklang transformiert, der immer wieder reproduziert werden kann, und dessen Emotionen somit remedialisiert werden. Ich möchte an dieser Stelle nicht außer Acht lassen, dass die Spiegelung des Selbst in der Aufführung den glaubwürdigsten Anteil ausmachen muss, um die größtmögliche Verständlichkeit zu erlangen.
3. DARUM SYNÄSTHESIEN Synästhesien als Komplement der Vermittlung nutze ich auch als Chordidakt und Dirigent. Vergleichende Bilder oder Texte erklären Sachverhalte, unterstützen ihre Aussage, und tragen sich dementsprechend fort bis in die Aufführung: dabei geht es im Wesentlichen um die Zentrierung und Verstärkung des musikalischen Ergebnisses, um Ausführende und Zuhörer zusammenzubringen, sie gewissermaßen zu Komplizen des Sachverhalts zu machen. Als Beispiel sei das qui tollis aus dem Gloria der Messe in h-Moll von Johann Sebastian Bach genannt. Die Expressivität der Intervalle, hier der zweimalig fallenden Terz bei qui tollis und der unmittelbar folgend aufsteigenden, kleinen Sexte im Wort peccata, wurde von mir als „Seelenspiegel“ bezeichnet: der Blick wendet sich nach innen, der Kopf senkt sich, bevor wir Gott die Sünde der Welt hinhalten, sie hochheben über unser Dasein hinaus und sie an Schwere verliert. Gewiss sind solche Bilder nicht immer nur konvergent, lösen vielleicht eine Diskussion aus; jedoch zeigt die Praxis, dass im Ergebnis die Bildsprache mit der Sprache der Musik eine fruchtbare Einheit eingeht. Hier erlebe ich kombinierte Medien, wie Bild- oder Videoprojektionen, Tanz oder Lesung, als adäquate Werkzeuge, die den Detailreichtum zu ergründen helfen, und einen verständlichen, interpretatorisch sicheren Fokus zumindest ermöglichen. Synästhesien sind insofern also auch Rückbesinnungen weg von vordergründiger, wissenschaftlicher Erkenntnis hin zu einer inneren, persönlichen MetaEbene, sie sind zugleich ein Mittel der Analyse und Frage- und Antwortstellung. Sie vermögen hinter jeder Musik eine weitere Wahrheit aufzudecken, die es mit
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verständlichen und zuvor zu findenden Bildern anzustoßen gilt. Sie sind symbiotische Auseinandersetzungen mit Wort und Ton. Ich möchte dies anhand von drei Beispielen thematisch bündeln. In der Kantate Aus der Tiefe rufe ich von Johann Sebastian Bach findet sich im Wort Tiefe als rhythmische Besonderheit ein Stolperstein, der den melodischen Fluss straucheln lässt; dies wurde in Zusammenarbeit mit einem meiner Chöre von einer Tanzcompagnie als sprichwörtlicher Stein des Anstoßes genommen, um Wort und Ton zu visualisieren: ein Stolpern im Tanzschritt, das in ein Auffangen mündet. Es ist dies eine weiterführende Ästhetik der ohnehin klaren Psalmtexte durch zeitgenössisches Ballett, eine Verstärkung der Melodie-Metaphorik hin zu einer Kombination von Musik und Bewegung. In ihr erlangt die Motivik Zeugniskraft durch aus dem Moment erwachsende, motorische Umsetzung des Gehörten der Motivmotorik, und dem Gesungenen der Verbalmotorik. Im Rahmen eines nächtlichen Orgelkonzerts wurde der Turm der St. Paulskirche als Landmarke und Identifikationsmerkmal in einer Zeitrafferaufnahme eines 24stündigen Bildlaufs Grundlage einer zeitgenössischen Improvisation für Orgel und Violoncello. Musik der Gegenwart, Neue Musik, die das Unveränderliche sichtbar macht und kongenial in ein kontinuierliches Spiel einbettet, um die Ästhetik des Bekannten auszuhebeln durch unvertraute Klänge, die in Wirklichkeit das bewegte Bild mitzeichnen, war der gelungene Versuch, Berührungsängste mit Unvertrautem zu überwinden. Auch die Gestaltung von Musik im Raum vermag die Architektur der Binnengestalt der Musik, und ihre innewohnende Wirkung nachdrücklich zu kolorieren und ihr das vom Komponisten mitgegebene Verständnis zu beleuchten. Dies war der thematische Bezug beim Abschlusskonzert der 23. Tage Alter Musik Schwerin „farbenreich“ unter dem Titel Coloratura. Programmatisch standen sich die Mass von Igor Strawinsky und die Geistliche Chormusik von Heinrich Schütz gegenüber. Farben wurden hier als Temperaturfühler generiert: die nach eigenem Bekunden kalte Musik von Strawinsky wurde vor dem mit Klarsichtfolie verhangenen, unbeleuchteten Hochaltar musiziert. Der Blick aufs Wesentliche wurde verwehrt, so wie die Mass nicht per se zum Glauben animieren will. Demgegenüber standen warme, glaubenslineare Klänge von Schütz, die in ihrer Klarheit und Intention Religiosität hörbar machen will. Der Hochaltar wurde jetzt beleuchtet und um ein Vielfaches deutlicher sichtbar. Durch den ermöglichten Durchblick wurde der Blick auf das Wesentliche freigelegt. Die Ästhetik des Vertrauten blockieren oder forcieren und zweierlei Arten von Bekenntnis-Musik in einen Kontext des Sichtbaren zu stellen, nahm großen Einfluss auf die Rezeption der Zuhörenden.
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4. SCHLUSSBETRACHTUNG Ich glaube nicht, dass man die der Musik innewohnende, natürliche Kraft, die wirkmächtig ist, sobald man als Zuhörer dazu bereit ist, sich ihr zu öffnen und hinzugeben, infrage stellen sollte. Ich bin der festen Überzeugung dass es nichts vergleichbar Berührendes und Tragendes gibt, wie Musik. Ich bin gewiss, dass wir alle Musik verstehen und sie unsere tiefsten Emotionen zu wecken vermag. Ich glaube, um Erika Fischer-Lichte zu zitieren, dass in gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit von Darstellern, hier also Musikern und Zuschauern, hier Zuhörern, die Aufführung beiderseits gleichberechtigt entsteht, was performativ kulturwissenschaftlich erklärt, wie besonders Aufführungen sind. Darum bin ich gewiss, dass Musik es verträgt und an gewissen Stellen zwecks tiefergehenden Verständnisses auch unbedingt möglich ist, diese Kraft zu verstärken, sie zu zeigen. Sicherlich ist überdies eine Entwicklung in Gang gesetzt, welche die Selbstverständlichkeit der Rhetorik einer Musik nicht mehr zwangsläufig als gegeben voraussetzen kann, obschon sie in Emotionen Spiegelung und Widerhall findet. Ohne durch eine allzu große Uniformität der Bilder das Verstehen der Ausführenden und Zuhörenden zu beschneiden und die Auseinandersetzung mit dem Gehörten zu unterbinden, erscheinen mir vermehrt Wege zu einem anderen Hören und gleichzeitigem Verstehen von Musik im Sinne ihrer bildlichen Spiegelung als unumgänglich, da sich das kultivierte Zuhören der letzten Jahrzehnte ändert. Im Sinne der Verkündigung ist mein Anliegen die Kreation von Verbindungen zwischen Künstler und seinem Medium und Adressat, es geht darum, eine Rückbindung (re-ligio) zu schaffen durch die geistliche Musik, deren Ursprung und Adressat in einem Gott ist. Gottesbegegnungen sind also nicht ausgeschlossen. Es bleibt jedoch die, wenn auch poetische und philosophische, spannende Frage, ob, wiederum im Sinne der Performanz, im medialen Wechselspiel zwischen Ausführenden und Zuhörern und deren gleichberechtigter, gegenseitiger Beeinflussung Gott entstehen kann, indem die einen von Gott singen und spielen und die anderen Gott mitfühlen.
Lambarena. Imaginäre Interferenzen oder: Die agency von Klangräumen Klaus Hock
Gegenstand dieses Beitrags ist das Projekt, genauer: das als CD vorliegende musikalische Ergebnis des Projekts „Lambarena – Bach to Africa“, das der französische Komponist und Produzent Hughes de Courson gemeinsam mit dem gabunischen Musiker, Schriftsteller und Philosophen Pierre Claver Akendengué 1993 realisiert hat. Das Vorhaben war als Hommage an Albert Schweitzer gedacht und brachte, wie es im Booklet der CD heißt, „zwei musikalische Strömungen zusammen, die als integrale Bestandteile von SCHWEITZERs ‚akustischem Universum‘ gelten dürfen: das Schaffen BACHs auf der einen Seite, auf der anderen die ursprüngliche Rhythmik und Melodik seiner Wahlheimat Gabun“.1
Zur Realisierung wird weiterhin angemerkt: „Die beiden Musiker begannen ihre Arbeit an dem Projekt damit, dass sie die traditionelle Harmonik Bachs mit verschiedenen gabunischen Harmonie-Systemen verknüpften. […] So entstand ein faszinierendes Klanggewebe, in dem sich die Vokalmusik Gabuns mit den Melodien BACHs aus der völlig anderen europäischen Tradition verschränkt. Zusätzlich wird das Ganze von Rhythmen untermalt, die die Vision des afrikanischen Buschs heraufbeschwören.“2
1 De Courson, Hughes/Akendengué, Pierre: Lambarena – Bach to Africa, Sony Classical SK 64542, LC 7873; Booklet S. 07 (im Original in Großbuchstaben). 2 Ebd., S. 07 (im Original in Großbuchstaben).
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Zunächst drängt sich allerdings die Frage auf, weshalb ausgerechnet jemand aus Religionswissenschaft und Interkultureller Theologie, wie der Verfasser dieser Zeilen, sich mit einem solchen Thema befasst, was seine Disziplin, wenn überhaupt, zum Verständnis des Projekts beitragen kann – und umgekehrt: welchen Mehrwert an Erkenntnis er aus der Beschäftigung mit einem solchen Werk für seine Disziplin zu gewinnen erhofft. Dabei ist es so, dass die Beziehung zwischen Religion und Musik, wie auch immer diese beiden Größen im Einzelnen zu bestimmen sind, sicherlich in das Portfolio religionswissenschaftlicher Forschungsthemen gehört, wenngleich diese Thematik bislang keine prominente Rolle gespielt hat.3 Hinsichtlich des spezielleren Gegenstandes ist an dieser Stelle zunächst nur Folgendes festzustellen: Selbstverständlich bestehen vielerlei Bezüge zwischen Religion und der Musik von Johann Sebastian Bach, und Albert Schweitzer gehört nicht nur aus missions- und religionsgeschichtlicher Perspektive fraglos in den Gegenstandsbereich der Religionsforschung. Aber ausgerechnet auf diesen beiden Gebieten sind meine Kenntnisse begrenzt, jedenfalls gehören weder Bach noch Schweitzer zu meinen Spezialgebieten. Aus dem Kreis der Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes könnten etwa zu Bach beispielsweise Jochen Arnold oder zu Schweitzer Isgard Ohls kompetent Auskunft geben. Vielleicht ziehe ich mich deshalb erst einmal mit dem vagen Hinweis aus der Affäre, dass ich glaube, im Kontext des Lambarena-Projekts eine ganze Menge implizit religiöser Aspekte identifiziert zu haben, die es wert sind, jenseits oder im Windschatten des thematischen Großgeflechts ‚Bach – Schweitzer – Musik – Religion‘ 3 Bislang wurde diese Frage vornehmlich aus (praktisch-) theologischer Perspektive traktiert, vgl. beispielsweise Bubmann, Peter/Weyel, Birgit (Hg.): Praktische Theologie und Musik (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, VWGTh 34), Gütersloh: Gütersloher Verlags-Haus 2012. Im engeren Sinne religionswissenschaftlich wurde das Thema z.B. verhandelt in Lidia, Guzy (Hg.): Religion and music. Proceedings of the interdisciplinary workshop at the Institute for Scientific Studies of Religions, Freie Universität Berlin (= Religionen in Kultur und Gesellschaft, Bd. 1), Berlin: Weißensee-Verlag 2008. Stärker musikwissenschaftlich perspektiviert ist etwa: de La Motte-Haber, Helga/Barthelmes, Barbara (Hg.): Musik und Religion, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 22003 (1995); aus interdisziplinärer Perspektive vgl. beispielsweise jüngst Höink, Dominik/Bauer, Thomas/Leonhard, Clemens (Hg.): Musik und Religion, Baden-Baden: Ergon-Verlag 2019. Das Thema interessiert mich selbst persönlich ganz grundsätzlich und ich habe mich immer wieder einmal damit befasst; vgl. etwa Hock, Klaus: „Imaginierte Synästhesien. Die Klangfarben Afrikas und der ‚Drumbeat of Life‘“, in: Marco Gutjahr (Hg.), Die Ambivalenz von Bild und Klang. Ästhetische Relationen in der Moderne, Bielefeld: transcript 2020 (im Druck).
Lambarena. Imaginäre Interferenzen oder: Die agency von Klangräumen | 83
aus religionswissenschaftlicher und interkulturell-theologischer Perspektive thematisiert zu werden. Religion, so meine zunächst wenig konkrete Vermutung, ist in vielfältigen Bezügen und Gestalten in Lambarena verborgen. Der im Folgenden skizzierte Zugang zur Thematik ist – neben persönlichem Interesse an verschiedenen musikalischen Experimenten, die in ähnliche Richtung gehen – vornehmlich abstrakt-theoretischer Art. Dies rührt daher, dass ich in den letzten Jahren immer wieder – wenngleich nur sporadisch – auf raumtheoretische Aspekte religionsbezogener Phänomene gestoßen bin, namentlich mit Blick auf imaginäre und imaginierte Räume sowie Klangräume. In diesem Zusammenhang beschäftigt mich insbesondere die von den Postcolonial Studies inspirierte Frage nach der ‚Macht‘ dieser Räume,4 und dabei nicht nur hinsichtlich ihrer Wirkmacht, sondern auch bezüglich ihrer agency – was üblicherweise nicht oder, wenn doch, gegebenenfalls als „Handlungsmacht“ übersetzt wird.5 Ob und inwieweit diese Kategorie auf Räume (inklusive ‚Klangräume‘) überhaupt angewandt werden kann und darf, ist allerdings höchst umstritten. Lambarena bietet insofern die Möglichkeit, diese Frage an einem ausgewählten Beispiel erneut aufzugreifen und darauf zu beziehen. Weitergehende und damit zum Teil ohnehin verknüpfte Aspekte sind darin gleichsam zwangsläufig impliziert: die konzeptuelle Bedeutung der Kategorien „Soundscapes“ oder „Imagination“, um nur zwei Stichworte herauszugreifen, aber auch aus den Postcolonial Studies erwachsende Problemstellungen sowie, last but not least, die Frage nach Anregungen und Impulsen für den religionswissenschaftlichen und interkulturell-theologischen Wissenschaftsdiskurs.
4 Vgl. Hock, Klaus: „Manifestation – Repräsentation – Imagination. Macht-Räume und Raum-Mächte islamischer Präsenzen in (West)-Afrika“, in: Daniel Cyranka/Henning Wrogemann (Hg.), Religion – Macht – Raum. Religiöse Machtansprüche und ihre medialen Repräsentationen (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, VWGTh 56), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019, S. 37–54. 5 Nicht „erfunden“, aber prominent zum Einsatz gebracht und als wichtige Kategorie für postkoloniale Theoriebildung aufbereitet hat den Begriff der agency, der bis in die Aufklärungszeit zurückreicht, insbesondere Bhabha, Homi: The Location of Culture, London: Routledge 1993, insbesondere Kapitel 9 „The postcolonial and the postmodern: The question of agency“, S. 245–282 und passim (deutsch: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg-Verlag 2000, Kapitel 9 „Das Postkoloniale und das Postmoderne: Die Frage der Handlungsmacht, S. 255–294 und passim).
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1. LAMBARENA – DAS PROJEKT Zum Einstieg soll zunächst ein Titel exemplarisch herausgegriffen werden, um einen ersten Eindruck vom musikalischen Design des Projekts zu vermitteln: Sankanda.6 Dem eigentlichen Stück Sankanda geht ein Auszug aus der Kantate Jesus bleibet meine Freude voraus – ein dreizehn Sekunden langes Fragment, gesungen von einem Kind, dem kleinen Aurélien, wie die Begleitnotizen uns wissen lassen. Sankanda selbst wird musikalisch Bachs Lasset uns den nicht zerteilen – je nach Sichtweise: kontrastiert oder beigestellt. Über das traditionelle Musikstück erfahren wir aus dem Booklet, dass es sich um einen Gesang aus Ober-Ogoué handelt, vorgetragen in der Obamba-Sprache. Weiter heißt es: „Wie die Bachsche Musik die Auferstehung Christi preist, dient dieser Lenguélé genannte Tanz der Feier freudiger Ereignisse wie Hochzeiten, dem Ende von Trauerzeiten usw.“7
Abgeschlossen wird die Aufnahme durch die nochmalige Reprise von Jesus bleibet meine Freude, diesmal noch kürzer, mit einer Länge von fünf Sekunden. In etwas längerer und eher traditionell arrangierter Version taucht das Stück nochmals gegen Ende des gesamten Albums auf (Nr. 14). Offensichtlich hat es die Funktion, das Gesamtprojekt quasi musikalisch und damit konzeptuell ‚zusammenzuhalten‘, bevor in der letzten Aufnahme (Nr. 15) zum Abschluss nochmals Sankanda wieder aufgenommen wird.
2. ZUM HINTERGRUND 2.1 Grundinformationen Lambarena besteht aus insgesamt 15 Musikstücken. 14 davon sind eine Collage aus einer Bach-Komposition und einem afrikanischen Musikstück aus der Region des heutigen Gabun. Aus Bachs Œuvre finden sich (in Ausschnitten und teilweise weiter bearbeitet durch P. Akendengué und – oder – H. de Courson) mehrere Auszüge aus der Johannespassion; die Gigue aus der vierten Suite für Violoncello in Es-Dur (BWV 1010); das Präludium der Partita für Violine Nr. 3 (BWV 1006); 6 H. de Courson/P. Akendengué: Lambarena, Aufnahme 02 „Sankanda“ (traditionell, bearb. von P. Akendengué) | Lasset uns den nicht zerteilen (Johannespassion BWV 245 Nr. 278B – J. S. Bach, bearb. von H. de Courson). 7 H. de Courson/P. Akendengué: Lambarena, Booklet, S. 10 (im Original in Großbuchstaben).
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das Präludium Nr. 14 (BWV 883 aus dem Wohltemperierten Klavier Teil 2); das Agnus Dei aus der H-Moll-Messe (BWV 232); die dreistimmige Invention Nr. 3 in D-Dur (BWV 789) und die Kantate Jesus bleibet meine Freude (BWV 147); dazu kommt eine Fuge „in der Art von Bach“, wie es heißt. Auf der anderen Seite finden wir Lieder, die in verschiedenen lokalen Sprachen gesungen werden (Obamba, Myènè u.a.); rituelle Tanzmusik, die zu verschiedenen zeremoniellen Anlässen wie Hochzeiten oder Beerdigungen gespielt wird; traditionelle Instrumentalstücke, z.B. unter Verwendung von diversen Perkussionsinstrumenten; Volkslieder (so etwa eine Melodie aus dem Norden Gabuns, von den Fang) und für die Region typische Rhythmen (beispielsweise aus Süd-Gabun, von den Pounou).8 Lambarene, wo Albert Schweitzer (1875–1965) 1913 eine Krankenstation eröffnet hatte, bildet den geographisch-historischen Referenzpunkt des Projekts.9 Lambarene lag damals im Territorium Französisch-Äquatorialafrika und ist heute die Hauptstadt der Region Moyen-Ogoué in Gabun, dessen Gesamtbevölkerung von ca. 1,3 Mio. Einwohnern sich auf etwa 40 Ethnien verteilt.10 Der Bezug zu Bach wiederum ergibt sich vornehmlich aus Schweitzers musikalischer Expertise als Bach-Kenner und -Interpret. Obwohl Lambarene in den 1920er Jahren sein Lebensmittelpunkt geworden war, hatte er sich immer wieder nach Europa und Amerika auf die Reise gemacht und dort insgesamt 142 Orgelkonzerte gegeben – als, neudeutsch gesprochen, Fundraising-Aktionen –, um seinem humanitären Projekt die wirtschaftliche Grundlage zu sichern. Bei aller Zuwendung zu Afrika, insbesondere im medizinischen Bereich, hat Schweitzer sich jedoch nach allem, was wir wissen, nie mit der Musik seines afrikanischen, genauer: gabunischen Umfeldes befasst.11 Insofern ist es auch nie zu einer Interaktion zwischen den
8 Siehe hierzu Paris, Sylvain: Mémoire pédagogique (IUFM 1999/2000), S. 19 (siehe https://www.symphozik.info/multi/histoire/collage-en-musique.pdf vom 13.04.2020). 9 Ebd., S. 18. Aus dem Gros der biographischen Darstellungen Albert Schweitzers sei herausgegriffen Oermann, Nils Ole: Albert Schweitzer 1875–1965; eine Biographie, München: Beck 2013; interdisziplinär mit missionstheologischer Schwerpunktsetzung siehe Ohls, Isgard: Improvisationen der Ehrfurcht vor allem Lebendigen: Albert Schweitzers Ästhetik der Mission. Mit zeitgeschichtlichem Dokumentenanhang, Göttingen: V & R Unipress 2008. 10 Siehe etwa https://www.citypopulation.de/de/gabon/admin/3__moyen_ogooué/ vom 04.04.2020. 11 Haig, Christine: Our music, their music; identifying meaning in musical experiences. Dissertation, Universität Otago/Neuseeland 2004, S. 6, online abrufbar unter https:// ourarchive.otago.ac.nz/handle/10523/9132
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beiden Musiken gekommen. Sie haben bestenfalls nebeneinander existiert.12 Dies steht in Widerspruch zu den auf der französischen Ausgabe des CD-Covers abgedruckten Angaben. Dort heißt es: „Durch Überschwang gewinnt das Gleichmaß den Rhythmus zurück. Durch Überschwang gewinnt der Rhythmus das Geichmaß zurück. In Lambarene hat Albert Schweitzer die Begegnung von Europa und Afrika durch die Musik verwirklicht.”13
Ausgangspunkt und konkreter Anlass für das Projekt Lambarena war das 80jährige Jubiläum der Hospitalgründung. In einer Beschreibung des Vorhabens heißt es recht begeistert, das Projekt bringe „die Stimmen und Volkslieder der Mbenga bzw. Ba-Mbenga mit den Kantaten des deutschen Komponisten Johann Sebastian Bach in einen produktiven Dialog. […] Der Fokus wird vor allem auf die in der Komposition inszenierte Begegnung zwischen westeuropäischen Musikinstrumenten und dem musikalisch polyphonischen Urwaldraum gelenkt. Diese polyphonische Begegnung steht paradigmatisch für eine produktive interkulturelle Begegnung. Es geht darum, die interkulturelle musikalische Begegnung, die in dieser Komposition vorkommt, sichtbar und spürbar zu machen sowie kontrapunktisch zu reflektieren und vor allem ein Nachdenken über ein friedliches Zusammenleben im 21. Jahrhundert sowohl im binnen- als auch im außereuropäischen Kontext anzuregen.“14
Die Initiative geht auf die renommierte Kulturmanagerin Mariella Bertheas (*1947) zurück, die zunächst Hughes de Courson15 damit beauftragte, das Vorha12 Siehe hierzu insbesondere Klein, Tobias Robert: „Bach in Afrika – Eine Rezeptionsskizze“, in: Michael Heinemann/Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Johann Sebastian Bach und die Gegenwart. Beiträge zur Bach-Rezeption 1945–2005, Köln: Dohr 2007, S. 19–34, S. 30f.; Riva, Nepomuk: „Ein musikalisch-dichtender Urwaldarzt – Albert Schweitzers Wahrnehmung afrikanischer Musik“, in: Die Musikforschung 2 (2018), S. 113–131. 13 (Übersetzung aus dem Französischen von mir, K.H.). Diese Aussage geht wohl auf eine Äußerung von Marielle Bertheas zurück – zu ihr im Folgenden gleich mehr. Siehe auch https://www.silvaricardballet.net/1996---lambarena.html vom 03.02.2020. 14 Projekt Lambarena: musikalische Konvergenzen und Divergenzen, http://www.afrieurotext.at/?page_id=66 vom 03.04.2020. 15 Hughes de Courson (*1946) hat sich als Komponist, insbesondere aber als Produzent einen Namen gemacht. Das Projekt Lambarena fällt in eine Schaffensphase, in der er auch weitere musikalische Crossover-Vorhaben realisierte, namentlich Mozart in Ägypten (Mozart l'Égyptien, 1997; 2005 folgte eine Wiederaufnahme des Themas mit
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ben voranzutreiben. Dieser hatte bereits ein Album mit Pierre Akendengué16 produziert (Mando)17 und machte sich gemeinsam mit ihm nun, nach eigener Aussage, „an diese verrückte Sache, ein Zusammentreffen zwischen sakraler Musik aus Gabun und Bachs Passionen zu kreieren.“18 Die Idee: „Bach besucht Schweitzer und sie entdecken gemeinsam die gabunische Musik“, unterstützt und gefördert u.a. auch durch gabunische Mäzene, traf bei Akendengué anfangs überhaupt nicht auf Begeisterung. Seine erste Reaktion war: „Ich habe mich zunächst geweigert, in das Projekt einzusteigen. Ich habe mich einfach davor gescheut. Der Respekt, der Bach und der traditionellen gabunischen Musik gebührt, hat mich zurückgehalten. Es schien mir respektlos zu sein, diese zwei Formen des Heiligen vermischen zu wollen.“19
Für die Produktion wurden insgesamt etwa 300 Künstlerinnen und Künstler zusammengebracht: Klassische Choristen und Instrumentalisten, zehn gabunische Ensembles und mehrere Solisten – unter anderem die Perkussionisten Naná Vas concelos aus Brasilien und Sami Ateba aus Westafrika, der argentinische Organist Osvaldo Calo und der ebenfalls aus Argentinien stammende Dirigent Tomas Gubitsch.20 Mozart l'Égyptien Vol. 2). Darüber hinaus hat er die Musik für verschiedene Tanztheater-Stücke komponiert bzw. war selbst an choreographisch-musikalischen Projekten beteiligt. 16 Zu Akendengué (*1943) siehe Tindy-Poaty, Juste Joris: Pierre Claver Akendengué ou l'épreuve du miroir, Paris: Harmattan 2008. Ein ausführliches Interview mit Akendengué findet sich unter https://www.youtube.com/watch?v=UFrhaUCAAmU vom 04.04.2020 (L’Afrique Enchantée I (RFI) [INTERVIEW] Pierre Akendengué (05.12.2014); siehe auch https://www.youtube.com/watch?v=vFxvvnYLFuU vom 04.04.2020 mit Äußerungen von Akendengué über die Aufgaben des Künstlers. 17 Akendengué, Pierre, Mando (CBS 25355), 1983; komponiert von Pierre Akendengué und produziert durch Hughes de Courson. 18 Roden, Christina: Q&A between Hughes de Courson and RootsWorld's Christina (2000), http://www.rootsworld.com/interview/decourson.html vom 04.04.2020. 19 Zitiert nach Bensignor, François: „Quand Pierre Akendengué rencontre Jean-Sébastien Bach“, in: Hommes et Migrations 1195 (février 1996). Cités, diversité, disparités. Quelques mécanismes de segregation, S. 57–59, hier S. 59 (https://www.persee.fr/doc/ homig_1142–852x_1996_num_1195_1_2621 vom 04.04.2020). Übersetzung aus dem Französischen von mir, K.H.). 20 Zu Naná Vasconcelos (1944–2016) siehe beispielsweise den Nachruf von Grimes, William: „Naná Vasconcelos, Daring Brazilian Percussionist, Dies at 71“, in: New York
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Eines der Auswahlkriterien für die verwendeten Kompositionen, die dann jeweils in Beziehung gesetzt wurden, war die rhythmische Kompatibilität. Dabei wurde in der Regel von Akendengué ein afrikanisches, genauer: gabunisches Musikstück vorgeschlagen, für das de Courson und Gubitsch eine entsprechende Bach-Komposition auswählten. Über die Produktionsumstände sind keine detaillierten Informationen zu finden.21 Manche der Akteure mussten nach Gabun reisen, manche der gabunischen Musikerinnen und Musiker nach Europa. Dabei ist unklar, wie häufig die gabunischen und europäischen Ensembles in den Studios für gemeinsame Aufnahmen zusammenkamen. Es scheint jedoch, dass auch viele der Musikstücke getrennt aufgenommen und später zusammengemischt wurden.22 2.2 Rezeption und Kritik Der CD war entgegen den ersten Erwartungen wirtschaftlich durchaus ein gewisser Erfolg beschieden. Nachdem größere Firmen die Veröffentlichung abgelehnt hatten und das kleine französische Label Celluloid Melodie eingesprungen war, zeichnete sich bald ab, dass doch eine erkleckliche Anzahl der Tonträger verkauft würde, weshalb Sony, auf den wachsenden Erfolg aufmerksam geworden, schließlich die Rechte von Celluloid Melodie erwarb. Bereits nach kurzer Zeit überstieg die Verkaufszahl 70.000 Tonträger und wuchs nach einiger Zeit auf über 150.000 an. Auch sonst fand das Projekt, insgesamt betrachtet, recht positive Resonanz. In der Reaktion der Kritiker wurden einige Stücke ausdrücklich als Höhepunkte markiert, namentlich Sankanda mit der Gegenüberstellung von weiblicher Solostimme im afrikanischen Chorus und Bachs Kantate. Auch andere Passagen, bei denen immer wieder diese mal mehr, mal weniger akzentuierte Komplementarität Times vom 11.03.2016. Siehe auch Levens, Ulla: Berimbau. Der afro-brasilianische Musikbogen – Geschichte, Klangwelt und Spielweise. Mit Anleitung zum Selbstlernen, Klein Jasedow: Drachen Verlag 2012 (mit dem Interview „Der Berimbau hat mein Leben verändert und ich seines“ zwischen Margrit Klingler und Naná Vasconcelos); siehe auch http://www.nanavasconcelos.com.br vom 04.04.2020. Zu Thomas Gubitsch (*1975) siehe http://www.gubitsch.com vom 04.04.2020. 21 Das Internet-Magazin Rootsworlds gibt an: „The classical choristers and players were brought together with ten Gabonese ensembles of mixed voices plus soloists and virtuoso instrumentalists in Paris under conditions of absolute parity. During a recording session that lasted nearly one hundred days, de Courson and Akendengue explored the common ground and telling contrasts between the Gabonese and classical material.“ (http://www.rootsworld.com/reviews/lambarena.shtml vom 31.04.2020). 22 Siehe hierzu C. Haig: Our music, S. 7.
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beobachtbar ist, wurden lobend hervorgehoben. Mit Blick auf das Gesamtprojekt stellte ein Kritiker fest: „To call this a crossover album, though, would be to misrepresent it; this is no clever synthesis of two disparate traditions. It’s difficult to characterize the relationship between the two musical cultures. To say that the musics are ,coordinated‘ misses the surprising spontaneity of the juxtapositions, but to say that they are ,thrown together‘ suggests a randomness that underestimates the skill and art of arrangers Hughes de Courson and Pierre Akendengué. The music of Bach and the musical traditions of Gabon coexist without giving up their own integrity, and interact with varying degrees of obvious connection. […] The most successful tracks mysteriously capture the underlying musical impulse common to the two traditions, and the result opens up new meanings and sounds natural and organic.“ 23
Als Beispiel wird von dem Kritiker explizit Sankanda genannt, jene Aufnahme, in der sich ein traditionelles Lied aus Gabun seiner Meinung nach auf besonders schöne Weise mit der Bach-Kantate aus der Johannespassion überlappt und verschränkt, wodurch sich beide Stücke, wie er schreibt, wechselseitig in ihrer überschwänglichen Lebensbejahung komplementieren. Auch Aufnahme Nr. 6, Bombé, als simultan durchgeführte Performanz eines Rituals, das ein geklatschtes rhythmisches Muster und hohl klingende Ruftöne mit einer Kantate aus der Johannespassion zusammenbringt, wird besonders hervorgehoben.24 Andere Aufnahmen werden demgegenüber als weniger geglückt kritisiert: Der Gesang am Ende des Agnus Dei aus der B-Moll-Messe etwa klinge „drangeklebt“ (tacked on). Schließlich gerät der Kritiker geradezu ins Schwärmen, wenn er schreibt: „But when the mix works, as it usually does, the effect is revelatory, transformative. The sound is intensely clean, and beautifully differentiated, highlighting the wonderful strangeness of the mixing of traditions.“25
23 Eddins, Stephen: Lambarena – Bach to Africa. AllMusic Review (https://www.allmusic.com/album/lambarena-bach-to-africa-mw0001824270 vom 04.04.2020) 24 Über Bombé heißt es im Begleitheft: „Dieser geklatschte Rhythmus markiert den Beginn einer rituellen Bouiti Apindji Zeremonie. Mit seinem solistischen Tanz stimmt der Povi genannte Vorsänger Lobgesänge an die Lebenden und Toten an. Dabei wird er von Händeklatschen und hölzernen Schlaginstrumenten (Obaka) begleitet. Der Rhythmus fügt sich wundervoll in den des Bachschen Themas ein.“ (H. de Courson/P. Akendengué: Lambarena, Booklet S. 10; im Original in Großbuchstaben). 25 S. Eddins: Lambarena.
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Selbstverständlich fanden sich auch zurückhaltende oder explizit kritische Äußerungen. Von anderer Seite wurde etwa moniert: „Now, as then, the resulting melody is as united as water is to oil. In other words, the album juxtaposes two excellent musical traditions, but fails to unite them. For instance, there are many glorious patches of music from Gabon only to have the whole thing trampled upon by a Cello in E-Flat Major. And for what, really? Still, if you enjoy your Bach interspersed with some serious African drums, this is for you.“26
Die Kulturanthropologin Christine Haig hat in ihrer Forschung unter anderem zu Lambarena empirisch die Reaktionen von Hörerinnen und Hörern auf diese Art von Musik untersucht, zur Grundlage einer Studie gemacht und die Ergebnisse als Promotionsschrift an der University of Otago, Dunedin/Neuseeland eingereicht: Our music, their music: identifying meaning in musical experiences.27 Wichtig sind in diesem Zusammenhang für unsere Frage die von Haig im Rahmen ihrer Studie erhobenen Äußerungen, die religiöse Konnotationen herstellen, wie z.B. jene Würdigung einer Musikkritikerin: „Bach addresses his God by erecting measured Baroque exaltations to His glory while the Gabonese agitate the divine by performing rituals that celebrate passages on the human timeline. Lambarena is an appropriate memorial to a man whose desire for the sacred caused him to love and heal suffering flesh.“28
3. POSTKOLONIALE KONTEXTUALISIERUNGEN Wenn hier von postkolonialen Kontextualisierungen die Rede ist, betrifft dies unter anderem auch die Akteure des Projekts selbst, namentlich Akendengué, auf den ich mich im Folgenden exemplarisch konzentriere. Wie so viele Intellektuelle aus Gebieten des ehemaligen französischen Kolonialreichs hat auch er lange Zeit in Frankreich verbracht. In einer musikalischen Familie aufgewachsen, war er bereits in Gabun mit ‚westlicher‘ Musik in Kontakt gekommen. Er ging dann in Frankreich auf ein Gymnasium und studierte anschließend Psychologie; 1976 26 Oloya, Opiy: AfroDisc: December 1995 Review (http://www.rootsworld.com/rw/feature/afrodis2.html vom 04.04.2020). 27 Siehe oben, Fußnote 11. 28 Roden, Christina: Pierre Akendengue, Hughes de Courson and musicians from Africa and Europe, Lambarena: Bach To Africa. Originally published in 1994 – Sony Classics (http://www.rootsworld.com/reviews/lambarena.shtml vom 04.04.2020).
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wurde er in dem Fach promoviert. Seine musikalische Karriere begann bereits 1967. Er fand Aufnahme im Le Petit Conservatoire de la chanson, damals Petit Conservatoire de Mireille, einem Konservatorium, das seinen Auszubildenden u.a. Auftritte in der gleichnamigen Fernsehsendung ermöglichte. Mireille Hartuch (1906–1996),29 die Mitbegründerin des Konservatoriums, riet ihm und bestärkte ihn darin, Lieder in seiner Muttersprache, Myènè,30 zu komponieren, und 1974 veröffentlichte er dann sein erstes Album, Nandipo.31 1984 kam es zu einem Ereignis, das Akendengué zur Rückkehr nach Gabun bewegte. Während einer Radiosendung im RFI wurde er von einem afrikanischen Journalisten mit der Frage konfrontiert: „Akendengué, Du singst über Afrika. Aber über welches Afrika singst Du, wo du nun schon seit gut zwanzig Jahren in Europa lebst, während sich Afrika die ganze Zeit weiterentwickelt hat?“32
Dies war der entscheidende Punkt, an dem sich Akendengué entschloss, nach Afrika zurückzukehren. Die Rückkehr bedeutete für ihn einen Kulturschock und ein wirtschaftliches Desaster. Er war bald physisch und psychisch lädiert und es dauerte eine Weile, bis sich seine finanzielle Situation stabilisierte. Zum Lambarena-Projekt selbst befragt, stellte Akendengué fest, dass die gemeinsame Arbeit mit de Courson nach Auswahl der Musikstücke eine Zauberarbeit („travail d‘alchimiste“)33 gewesen sei – ein heikles, aber spannendes Unternehmen. In den Enthusiasmus der Erinnerung mischte sich allerdings Bitterkeit: Entgegen der Abmachung waren die Vergütungen nicht, wie vereinbart, in den Bau einer Musikschule geflossen. Mehr noch: „In Gabun habe ich nie etwas von Lambarena gehört. Übrigens hat man es nicht einmal für nötig befunden, mich über das Erscheinen der CD zu informieren. Ich musste sie über einen
29 Siehe etwa Méreuze, Didier: „MIREILLE HARTUCH, dite MIREILLE (1906–1996)“, in: Encyclopædia Universalis (https://www.universalis.fr/encyclopedie/mireille-mireille/ vom 04.04.2020). 30 Myènè, eine Bantusprache, wird von circa 50.000 Menschen in Gabun gesprochen und findet sich vornehmlich in den Provinzen Moyen-Ogooué, Ogooué-Maritime und Estuaire; siehe https://glottolog.org/resource/languoid/id/myen1241 vom 04.04.2020. 31 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=tSz6fRPPjsM vom 04.04.2020. 32 Zitiert nach F. Bensignor: Pierre Akendengué, S. 57 (Übersetzung aus dem Französischen von mir, K.H.). 33 Ebd., S. 57.
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Cousin kaufen lassen, der nach Paris gegangen war […] Im Grunde genommen bin ich ausgeschlossen, der Früchte des Erfolgs unserer Arbeit beraubt […]“34
Solche Erfahrungen können als symptomatisch für eine grundsätzliche Ausgeschlossenheit stehen, mit der viele Menschen im globalen Süden tagtäglich auf direkte oder indirekte Art konfrontiert sind. Akendengué hat dies gewissermaßen in einem Nachfolgeprojekt weiterverarbeitet, seinem Album Maladalité, und dabei insbesondere in dem Schlusstitel Ewulupupa. 35 Darin wird ein imaginäres afrikanisches Land südlich der Sahara besungen: „Es grenzt im Norden an Hilfe und Schulden, im Osten an umstrittene Wahlen, durchgeführt mit dem Geld anderer und unter dem Blick fremder Beobachter, alles im Namen der Demokratie und mit dem einzigen Ziel, eine Übergangsregierung zu installieren; im Süden an Hunger und Stammeskriege; im Westen an Ölfelder und Besatzungstruppen.“36
Auf dieses Musikstück wird hier vor allem deshalb so ausführlich verwiesen, weil Ewulupupa nochmals zwei Aspekte in den Vordergrund rückt, die im Zusammenhang mit unserem Thema von Bedeutung sind: die Imagination und den Raum – zusammengeführt und signifiziert im synthetisierenden Metonym Maladalité, bestehend aus malade (krank) und alité (bettlägerig), mit dem Akengendué auf seine Weise die situation coloniale (Balandier)37 beschreibt, die postkolonial kaum verändert fortdauert: „Der bettlägerige Kranke ist jemand, der Hilfe braucht. In der Regel bietet dann ein Arzt seine Hilfe an – aus Großzügigkeit oder aus Opportunismus. Seine Behandlung besteht aus Medikamenten, die an einem anderen Ort gefertigt sind, den der bettlägerige Kranke nicht kennt. Die Diagnose wird in einer Sprache geäußert, die der bettlägerige Kranke nicht versteht. Aber die Behandlung, mit der er nicht zurechtkommt, wird unter allen Umständen an ihm durchgeführt. Er lässt das geschehen in der Hoffnung, aus dieser Situation des bettlägerigen Kranken herauszukommen. Er überlebt, muss aber eine Rechnung begleichen: Schulden als Ausgleich für die Hilfe. Falls er dann doch stirbt, bleiben die Schulden zu 34 Zitiert nach ebd., S. 59 (Übersetzung aus dem Französischen von mir, K.H.). 35 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=MXfd2MHiDug vom 04.04.2020. 36 F. Bensignor: Pierre Akendengué, S. 59 (Übersetzung aus dem Französischen von mir, K.H.). 37 Balandier, Georger: „La situation coloniale : approche théorique“, in: Cahiers internationaux de sociologie 6 (1951), S. 44–79; deutsch: „Die koloniale Situation: ein theoretischer Ansatz“, in: Rudolf von Albertini (Hg.), Moderne Kolonialgeschichte (= Neue wissenschaftliche Bibliothek), Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 105–124.
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begleichen – entweder von der Familie oder von der Gesellschaft, wie es staatlicherseits vertraglich vereinbart worden war. Die künftigen Generationen müssen für diese Schulden aufkommen, obwohl sie dazu gar nicht in der Lage sind. Das ist die augenblickliche Vision, die ich von Afrika habe.“38
Was Akendengué hier metaphorisch beschreibt, bildet im Grunde den ‚harten Rahmen‘, freundlich ausgedrückt: den Kontext, in dem auch die Musik und ihre Produktion zu verorten sind. An dieser Stelle geht es jedoch nicht primär um die ökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Musikproduktion unter postkolonialen Bedingungen, sondern eher um die Frage nach den Charakteristika postkolonialer Musik. Dabei ist selbstverständlich zunächst festzuhalten, dass die Musikgeschichte schon immer generell von Akkulturations-, Assimilations- und Rezeptionspraktiken unterschiedlicher Art geprägt war. Diese konnten und können je nach Kontext repressive, kritische oder emanzipative Funktionen haben.39 Das gilt auch und vor allem für postkoloniale Kontexte. Auffällig ist dabei, dass die Anzahl der Produktionen musikalischer ‚Hybride‘, die explizit und geplant, gewissermaßen programmatisch kreiert werden – wie die meisten Werke von Akendengué, aber auch das Projekt Lambarena selbst –, gleichsam explosionsartig zugenommen und zwischen Mimikry, Ambivalenz und Mischung unterschiedliche Formen ausgebildet hat. Dabei gibt es ein breites Spektrum von Positionen hinsichtlich der Frage, was das für ‚europäische‘ und für ‚afrikanische‘ Musik bedeutet. In postkolonialen Diskursen finden sich in dieser Hinsicht auch durchaus radikale Stellungnahmen. So wird etwa der Vorwurf geäußert, bei der Referenz auf außereuropäische Musiktraditionen gehe es um eine „Zurichtung des Fremden“ als quasi touristische Attraktion,40 oder es wird sogar proklamiert, dass Europa das Recht auf exklusive Deutung und Nutzung seiner eigenen Tradition verwirkt habe.41 Beide Positionen mögen eher provokative Statements repräsentieren als eine generalisierende Feststellung bzw. eine konkrete Programmatik markieren; die Verschränkungen und Ver-Schichtungen unterschiedlicher Musiktraditionen können sehr vielfältige Formen annehmen. Akendengué etwa hat schon immer die 38 F. Bensignor: Pierre Akendengué, S. 59 (Übersetzung aus dem Französischen von mir, K.H.). 39 Imort, Peter: „‚Das Vertraute fremd erscheinen lassen‘. J. S. Bachs Musik – Mit musikalischen Zwischenstopps in Gabun, Hunan, New York“, in: Meinhard Ansohn/Jürgen Terhag (Hg.), Musikunterricht heute. 5. Musikkulturen – fremd und vertraut, Oldershausen: Lugert Verlag 2004, S. 331–345, hier S. 323. 40 Ebd., S. 323 (mit entsprechendem Verweis [auf Heinz Steinert]). 41 Ebd., S. 323 (mit entsprechendem Verweis [auf Sandeep Bhagwati]).
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Möglichkeiten und Techniken ‚westlicher Musikindustrie‘, um es etwas platt zu sagen, durchaus geschätzt und zum Einsatz für eine Art musikalisches Modernisierungsprojekt strategisch genutzt – in dem Sinne, dass sie ihm dazu dienten, den seiner Meinung nach vorfindlichen ‚Kern‘ traditioneller Werte nicht fundamental zu verändern oder gar zu eliminieren, sondern diese gerade in ihrer Inkompatibilität mit dem Westen zu traktieren. Dies entspräche dem dritten Muster einer möglichen ethnomusikologischen Typologie der Reaktion auf ‚westliche‘ Einflüsse kolonial induzierter musikalischer Hybridität, wie sie vor geraumer Zeit vorgeschlagen worden war, nämlich – neben Bewahrung ohne Wandel und vollkommener „Verwestlichung“ – eine „Modernisierung“ im Sinne einer „adoption and adaptation of Western technology and other products of Western culture, as needed, simultanously with an insistence that the core of cultural values will not change greatly and does not match those of the West“.42
Unter dieser Perspektive wäre Lambarena ein Paradebeispiel für diese seinerzeit (in den 1980er Jahren) als „Modernisierung“ kategorisierte Form der Interaktion, insbesondere hinsichtlich des oben vorgestellten Stücks Sankanda / Lasset uns den nicht zerteilen: Hier wird vor dem Hintergrund des Ndjobi-Tanz-Rhythmus‘ der Bach’sche Hornpart mit den Klängen eines Antilopenhorns gemischt, das sowohl zur Jagd als auch zur Anrufung der Geister während rituelleren Zeremonien verwendet wird, was sich als Aufeinandertreffen und Mischung von „sounds of consolidated cultures“ interpretieren ließe.43 Doch nicht nur der Wissenschaftsdiskurs und sein Kontext haben sich hier weiterentwickelt – ein Vergleich zwischen der ersten Auflage des Handbuchs (1983), aus dem gerade zitiert wurde, und der
42 Nettl, Bruno: The Study of Ethnomusicology. Twenty Nine Issues and Concepts, Urbana u.a.: University of Illinois Press 1983, S. 348. Dies trifft sich in gewisser Weise mit einer Feststellung von Hugh de Courson, der mit Blick auf das Lambarena-Projekt einmal eine etwas verquere metaphorische Metapher bemüht hat, als er meinte: „L'ancêtre du charity business (Albert Schweitzer; K.H.). De ville en ville, il jouait Bach sur son orgue, pour collecter les fonds de son hôpital à Lambaréné où les avancées occidentales s'accommodaient de médecines locales. Nous avons procédé de même en musique.“ (https://next.liberation.fr/culture/2000/03/06/world-des-comptines-mondialistes-reunies-par-hughes-de-courson-lambarena-et-tomas-gubitsch-le-myster_319176 vom 13.04.2020). 43 Postcolonial Studies @ Emory – Wong, Yim Tan Lisa: „Hybridity and Postcolonial Music“, posted Fall 1997, last edited October 2017, siehe https://scholarblogs.emory. edu/postcolonialstudies/2014/06/20/hybridity-postcolonial-music/ vom 04.04.2020.
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dritten Auflage (2015)44 wäre ein schlagender Beleg hierfür –, sondern auch die sich damit verändernden Kategorien, Wahrnehmungen und Interpretationen. Damit tritt die postkoloniale Perspektivierung prominent in den Vordergrund. Im kritischen, postkolonialen Wissenschaftsdiskurs muss Lambarena zunächst gleichsam zwangsläufig unter das Verdikt eines eurozentrischen Crossover-Projekts fallen. Dazu sprechen viele, zu viele eindeutige Indizien, die teilweise bereits erwähnt wurden – so etwa die historische Projektion, dass Schweitzer sich mit gabunischer Musik auseinandergesetzt habe – und hier nur noch um wenige weitere Beobachtungen zu ergänzen sind: Die Kontrastierung zwischen den beiden Musiken Bach‘scher vs. gabunischer Provenienz wird beispielsweise bereits in musikpädagogischer Aufbereitung geradezu herausgestrichen als Gegenüber von Konzertstimmen und unausgebildeten Stimmen oder von der Abwesenheit und der Präsenz von Schlaginstrumenten.45 Noch weitergehend werden in zeitgenössischen Kritiken hinsichtlich der Deutung der musikalischen Botschaften die Differenzen hervorgehoben.46 Vor diesem Hintergrund ist auch im Vergleich mit anderen Crossover-Produktionen deshalb das Urteil sicherlich zutreffend, dass Lambarena vornehmlich für europäische Ohren gedacht ist, die durch Stichwörter wie „Schweitzer“, „Bach“, „Afrika“ und „Lambarene“ angelockt werden oder dass die gabunische Musik als fremdartig, ‚natürlich‘ oder auch wenig elaboriert erscheint und dass von den durch die CD eingespielten Tantiemen wenig bei den afrikanischen Musikerinnen und Musikern ankam und deren Karriere auch nicht großartig beeinflusst hat.47 Zudem wird Lambarena durch den Modus seiner Produktion völlig „ent-ortet“, in einem radikalen Sinne so de-kontextualisiert, dass es als performatives Geschehen zur freischwebenden Klang-Ware wird, die dem Spiel der globalen und asymmetrischen Marktkräfte überlassen bleibt:
44 Nettl, Bruno: The Study of Ethnomusicology. Thirty Three Discussions, Urbana u.a.: University of Illinois Press 2015. 45 S. Paris: Mémoire, S. 21. 46 So Christina Roden in Rootsworld (http://www.rootsworld.com/reviews/lambarena.shtml vom 13.04.2020). 47 Riva, Nepomuk: „The Invention of African Art Music. Analyzing European-African Classical Cross-Over Projects“, in: Glaucia Peres da Silva/Konstantin Hondros (Hg.), Music Practices Across Borders. (E)Valuating Space, Diversity and Exchange (= Music and Sound Culture 35), Bielefeld: transcript 2019, S. 127–150, hier S. 139.
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„The production with 250 singers and 50 musicians is impossible to ever perform on stage. It portrays a soundscape that not only is imagined but also cannot be reproduced outside a recording studio.“48
Dennoch ist, und zwar ebenfalls unter explizit postkolonialer Perspektive, eine Lesart möglich, die danach fragt, ob und inwieweit nicht doch selbst dieses Crossover-Projekt aller Unbill zum Trotz Potenziale enthält, aus denen Handlungsmacht erwachsen kann – nämlich seitens der und für die Kolonisierten, die als eine Art ‚subalterne‘ Akteure eben nicht nur Objekte, sondern auch Subjekte der musikalischen Performanz und damit selbst handlungsmächtig sind. Denn Lambarena mag zwar nicht realiter reproduzierbar sein, konstituiert jedoch imaginierte und imaginäre Klangräume, die aus ihrer Imagination heraus agency freizusetzen vermögen. Aufgrund des europäischen Produktionsrahmens sind diese Imaginationen zwar zunächst koloniale Reproduktionen oder auch (Re)Konstruktionen „des Anderen“ qua othering der ‚westlicher‘ Musik gegenübergestellten ‚afrikanischen‘ Musik, die vornehmlich dazu dient, ein europäisches musikalisches Setting gewissermaßen durch exotische Einsprengsel zu bereichern.49 Doch gerade weil die Intention solcher Produktionen letztlich eigentlich unklar bleibt, entstehen in diesem ‚ungeklärten‘ Bereich aufgrund des hybriden Charakters Ambiguitäten und damit auch ambivalente Freiräume. Denn als postkoloniales Musikprojekt bleibt Lambarena mit Blick auf die Gegenüberstellung von Vertrautem und Fremdem in beide Richtungen mehrdeutig. Selbstverständlich geht es auch darum, Vertrautes fremd klingen zu lassen, also einen Verfremdungseffekt einzusetzen, der aber nicht unbedingt einem vordergründigen Exotismus dienen muss, sondern zunächst Irritationsräume schafft. Diese nötigen dazu, die je eigene Positionierung als Perspektivierung zu erkennen, aus der heraus die Musik als fremd oder als vertraut erscheint. Gegenüber hegemonialen Geltungsansprüchen einer bestimmten Musik – in unserem Fall der Musik Bachs – wird der Mythos von Bachs Musik als musikalischer Weltsprache destruiert, und zwar durch Prozesse einer radikalen Dekontextualisierung. Auch dies verstärkt Irritationsräume. Lambarena und vergleichbare Projekte wurden entsprechend beschrieben als „akustische Momentaufnahmen der Kontraste und Affinitäten, Divergenzen und Analogien. Sie geben Symptome kultureller Wirklichkeiten preis, es geht um Zugänge zu diesen Wirklichkeiten.“50
48 Ebd., S. 139. 49 Ebd., S. 146. 50 P. Imort, Das Vertraute, S. 336.
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Während aus musikalischer oder auch musikwissenschaftlicher Perspektive die weitergehende Frage vielleicht darin besteht, inwieweit Bachs Musik diese radikale Dekontextualisierung ‚aushält‘, oder, positiv gewendet, ob es vielleicht sogar „eine ihrer zentralen Eigenschaften (ist), unendliche Diskurse über sie zu eröffnen“,51 interessiert an dieser Stelle – anders, aber durchaus im Zusammenhang damit –, wie und inwieweit dieses Projekt postkolonialer Musik mit ihrer intendierten Hybriditätsproduktion noch einmal ‚Religion‘ auf andere, neue Weise thematisiert. Wir werden weiter unten nochmals auf diese Frage zurückkommen. Dabei ist einzuräumen, dass im Rahmen dieses Beitrags nur exemplarisch, ausschnittartig und in Kürze einige wenige Perspektiven auf die hier entfaltete Thematik skizziert werden können. So wäre eigentlich von der Intention der Komponisten über die Ausführenden bis hin zu den verschiedenen Rezeptionsvariationen ein breites Spektrum von Faktoren zu berücksichtigen, was in diesem Zusammenhang allerdings nicht geleistet werden kann.
4. AFRIKANISCHE IMAGINATION: KLANGRÄUME UND IHRE AGENCY Dass Lambarena bald auch in Gestalt eines Tanzprojekts umgesetzt wurde, mag nicht völlig überraschen, wenn wir bedenken, dass körperbezogene Signifikanten bei der Signifikation Afrikas stets von besonderer Bedeutung waren und wohl immer noch sind.52 Das erste Mal wurde meiner Kenntnis nach Lambarena 2001 von der San Francisco Ballet Company realisiert, nach einer Tanznotation des renommierten Balletttänzers und Choreographen Val Caniparoli.53 Später folgten dann Aufführungen auch an anderen Orten54 (und nach anderen Choreographien), auch in Deutschland.55 51 Ebd., S. 337. 52 Vgl. hierzu beispielsweise Jahnel, Claudia: „,This is my body broken for you.‘ Entangled discourse on the body in African theology“, in: Klaus Hock (Hg.), The power of Interpretation. Imagined Authenticity – Appropriated Identity. Conflicting Discourses on New Forms of African Christianity, Wiesbaden: Harrassowitz 2016, S. 215–233 oder Dies.: „Schwarze Haut“, in: Interkulturelle Theologie/ZMiss 45/1 (2019), S. 87–105. 53 Das Ballettstück war mehrfach ausgezeichnet bzw. nominiert worden; s. https://www. sfballet.org/artist/val-caniparoli/ vom 04.04.2020. 54 Beispielsweise durch das Milwaukee Ballet; siehe https://www.youtube.com/ watch?v=KX3mqpwCKhQ vom 04.04.2020. 55 So beispielsweise am Staatstheater Kassel, siehe http://www.brainstorms42.de/artikel/ lambarena.html vom 04.04.2020.
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Ein kleiner Ausschnitt aus dem Tanzprojekt ist als Video-Clip frei zugänglich und problemlos abrufbar.56 Dabei handelt es sich um eine kurze Szene zu dem Stück Nr. 07 auf der CD, in dem ein kleiner Ausschnitt aus dem Präludium der Partita für Violine Nr. 3 dem traditionellen, von Akendengué bearbeiteten und erweiterten afrikanischen Musikstück vorausgeht. Im Begleitheft heißt es dazu: „Dieser Fang-Tanz aus dem Norden Gabuns wird in seiner traditionellen Fassung (Elone) mit Trommeln gespielt. In seiner städtischen Form (Obisco) treten Balafons [eine Art Xylophone; KH] zu den Trommeln hinzu. Die Worte bedeuten ‚Papa, komm zu mir zurück!‘. Es ist der Gesang der Frauen, die zu ihren Familien zurückgekehrt sind, um ihr Kind zu stillen. Sie rufen ihren Gatten, den sie allein mit den Verlockungen der Leichtlebigkeit zurückgelassen haben, in den Schoß der Familie zurück. Der zweite Teil der Melodie wurde von Pierre Akendengué komponiert.“57
Das Diktum, dass Religion in Afrika „ausgetanzt“ wird,58 mag ja nicht völlig falsch sein. Wenn diese Aussage jedoch zur wesenhaften Bestimmung afrikanischer Religionen wird, ist eine solche Zuschreibung problematisch. Im Kontext unserer Diskussion ist der Aspekt der ‚Verkörperlichung‘ von Musik im Zusammenhang mit ihrer Visualisierung bedeutsamer: Bild und Klang gehen, neben Film, Musik und Literatur, im musikalisch unterlegten Tanztheater eine ganz spezifische Verbindung ein und bieten eine besondere Quelle der Repräsentation. Eine herausragende Bedeutung kommt dabei dem Film zu, in dem musikalische und nichtmusikalische Signifikanten auf besonders markante Weise aufeinander bezogen, miteinander in Beziehung gesetzt und ineinander verschränkt werden, wobei diese Zeichenbeziehungen sowohl von außerfilmischen Kontexten beeinflusst sind als auch diese beeinflussen.59 Filme werden in der bereits erwähnten Studie von Christine Haig als wichtigster Quellpool für das Dekodieren kultureller Signifikanten identifiziert: Es sind eher zufällige audio-visuelle Erfahrungen, die starke Verbindungen zwischen Musik und Bildern erzeugt haben und auf diese Weise Vorstellungen über Afrika prägen. Diese bildhaften Vorstellungen wurden in Haigs Forschungsprojekt aufgerufen, indem sie den an der Studie Teilnehmenden während der Interviews Musik vorspielte, die mit Afrika konnotiert war. Da die Quellen, auf die die Interviewten referierten, größtenteils im globalen Westen
56 https://www.youtube.com/watch?v=ljZsxP3U_UE vom 04.04.2020. 57 H. de Courson/P. Akendengué: Lambarena, Booklet, S. 10 (im Original in Großbuchstaben). 58 Marett, Robert R.: The Threshold of Religion, Oxford: Clarendon Press 1914, S. xxxi. 59 C. Haig: Our Music, S. 85.
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produziert worden waren, ähnelten ihre Annahmen, ihre beliefs60 über Afrika auch den vorherrschenden Repräsentationen afrikanischer Kulturen in Film, Fernsehen, Nachrichten und Literatur westlicher Prägung.61 Im Gegensatz zu dieser als ‚fremd‘ empfundenen Musik ist ‚klassische‘ Musik im breiteren, nicht im musikwissenschaftlich korrekten Sinne, Teil der von Haig als „Self Culture“62 bezeichneten und von den Interviewten so empfundenen zeitgenössischen ‚westlichen‘ Kultur. Diese Musik erscheint als vertraut, oft gibt es einen persönlichen Bezug dazu, und in der Regel findet sie sich auch im schulischen Curriculum. Afrikanische Musik gilt hingegen als ‚anders‘ und wird oftmals zum pars pro toto-Signifikanten für afrikanische Kulturen insgesamt.63 Wenn nun Musik – ‚fremde‘ Musik – ohne visuelle Eindrücke erscheint, speisen die Hörenden ihre eigenen Bilder ein, und zwar diejenigen, denen sie in der Vergangenheit begegnet sind. Auf diese Weise werden Verbindungen zu und Einstellungen gegenüber diesen Kulturen evoziert. So wirkt Musik als Verbindungsglied in einer Kette der Signifikation, die über die Verknüpfung musikalischer und visueller Bilder hinausreicht.64 Dieses ‚Jenseits der Verknüpfung musikalischer und visueller Bilder‘, das ist nun meine These, markiert Räume. Dabei handelt es sich zunächst um imaginierte und imaginäre Räume. Fassbar werden sie im Lambarena-Projekt zunächst als Klangräume, sie enthalten jedoch Potenzial, das über das bloß Klangliche hinausweist, da sie aufgeladen sind mit – in diesem Fall – Dimensionen des Visuellen, also mit Bildern und eben auch: Klangbildern. Damit konstituieren diese Klangräume eine Art Hybridbereich zwischen ‚Realem‘ und ‚Imaginärem‘. Genau hier kommen nun raumtheoretische Überlegungen zum Tragen, wie sie bereits vor vielen Jahren Henri Lefebvre skizziert hat. Er bezog sich dabei auf die Konstellation
60 Unter diesem Begriff werden „beliefs im Sinne von elementaren Formen des Glaubens oder Überzeugungen“ gefasst, wobei „nicht alle beliefs bzw. belief systems … religiös grundiert [sind], sondern sie finden sich in den unterschiedlichsten Überzeugungszusammenhängen“ (https://www.deutungsmacht.uni-rostock.de/storages/uni-rostock/ Alle_THF/Deutungsmacht/GRK_1887_Deutungsmacht_Fortsetzungsantrag_-_Antrag_-_Theorie.pdf, S.17 vom 02.08.2020). Selbstverständlich ist jede Religion ein belief system – aber dann doch auch „mehr als belief“ (vgl. Vásquez, Manuel A.: More than Belief. A Materialist Theory of Religion, Oxford: Oxford University Press 2011). 61 C. Haig: Our Music, S. 290. 62 Ebd., S. 11 und passim. 63 Ebd., S. 290f. 64 Ebd., S. 291f.
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imaginär/real als eine der grundlegenden doppelten Determinanten von „Raum“,65 wobei er jedoch „imaginär“ mehr oder weniger als austauschbar mit „symbolisch“ verwendete. In der Religionswissenschaft war es Kim Knott, die daran anknüpfte, indem sie sich auf Raum/Räume als sowohl „materiell als auch metaphorisch, als physikalisch und imaginiert“ bezog („both material and metaphorical, physical and imagined“).66 Es gibt aber Verknüpfungen zu Wissenschaftsdiskursen im Bereich weiterer Nachbardisziplinen. Edward Said, der, inspiriert von Michel Foucault, „Raum“ und „Macht“ miteinander in Beziehung setzte, entwarf das Konzept der „imaginierten Geographien“ (bisweilen auch: „imaginativen Geographien“), womit er auf eine Wahrnehmung von Raum verwies, der im Wesentlichen durch eine bestimmte Metaphorik und selbstverständlich durch Diskurse kreiert wird.67 Dieses Konzept dürfte wohl eher Lefebvres Kategorie der „Repräsentationen des Raums“ entsprechen als seiner Kategorie der „räumlichen Praxis“.68 Es lässt sich 65 „Lastly, space, with its double determinants: imaginary/real, produced/producing, material/social, immediate/mediated (milieu/transition), connection/separation, and so on“ (Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford: Blackwell 1991, S. 187; vgl. auch S. 33–36, 38–39 und passim). 66 Knott, Kim: The Location of Religion. A Spatial Analysis, London: Equinox Publications 2005, S. 13. 67 Siehe Said, Edward: Orientalism, London: Routledge & Kegan 1978, S. 49–73; Ders.: Culture and Imperialism, New York: Knopf 1993, S. 3–61. 68 Henri Lefebvre entwickelt hierzu eine konzeptuelle Triade, wobei er unterschiedliche Dimensionen des Raums durchaus als verschiedene Formen sozialer Praxis versteht: Räumliche Praxis (als ‚materieller‘ Raum, der jedoch zugleich gesetzt und vorausgesetzt wird), Raumrepräsentation (als ‚mentaler‘ Raum) und Repräsentationsraum (als ‚gelebter‘ Raum). Ihnen entsprechen als Modalitäten der wahrgenommene, der konzipierte und der gelebte Raum. Vgl. hierzu Lefebvre, Henri: „Die Produktion des Raums“, in: Jörg Dünne (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 330–342, insbesondere S. 336; ausführlicher in: Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford und Cambridge/ Mass.: Blackwell 1991 (franz. 1974), S. 33–36 sowie S. 38f. und passim. Zur Übersicht siehe etwa auch Günzel, Stephan: Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung, Bielefeld: transcript 2017, insbesondere S. 78. Vgl. insbesondere folgende Ausführungen Lefebvres: „1 Spatial practice, which embraces production and reproduction, and the particular locations and spatial sets characteristic of each social formation. Spatial practice ensures continuity and some degree of cohesion. In terms of social space, and of each member of a given society's relationship to that space, this cohesion implies a guaranteed level of competence and a specific level of performance. 2 Representations of space, which are tied to the relations of production and to the 'order' which those
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aber auch als eine Art Vorspiel zu postkolonialen Interpretationen von „Raum“ verstehen, wie sie dann beispielsweise von Derek Gregory entwickelt worden sind, der, im Anschluss an Said, imaginative Geographien als „Performationen des Raums“ 69 spezifiziert. In ähnliche Richtung hatte Edward Soja in Rückgriff auf Lefebvres triadisches Raum-Modell unter postkolonialer Perspektivierung die Debatte radikalisiert und mit seinem Konzept des „Thirdspace“ ein Raumverständnis projektiert, in dem, neben Subjektivität und Objektivität, Abstraktem und Konkretem etc., insbesondere auch das Reale und das Imaginierte, das, was gewusst werden kann und das Unvorstellbare („unimaginable“) sich überlappen, wodurch die Kategorie der Imagination in spezifischer Weise Aufnahme findet.70 Ähnlich hatte David Harvey in Explikation des Lefebvre’schen „gelebten Raums“ für diesen „räumlichen Hybridbereich“, wie er auch bezeichnet werden könnte – mit beinahe exklusiver Fokussierung auf die Dimension der Raumpraxis – außer geistigen Inventionen, Codes, Symbolen, räumlichen ‚Diskursen‘ etc. ausdrücklich die Kategorie der imaginären Landschaften („imaginary landscapes“) aufgegriffen.71 Mit Blick auf seine konstruktivistischen Aspekte könnte die imaginative Dimension des Raums mit Benedict Andersons Konzept der „imagined communities“ in Beziehung gesetzt werden.72 Auch wäre es möglich, räumliche Imagination73 als eine besondere Art von soziologischer Imagination zu verstehen: Als relations impose, and hence to knowledge, to signs, to codes, and to 'frontal' relations. 3 Representational spaces, embodying complex symbolisms, sometimes coded, sometimes not, linked to the clandestine or underground side of social life, as also to art (which may come eventually to be defined less as a code of space than as a code of representational spaces).“ (H. Lefebvre: Production, S. 187). 69 Gregory, Derek: The Colonial Present; Afghanistan, Palestine, Iraq, Malden, MA: Blackwell 2004, S. 19. 70 Soja, Edward W.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other RealandImagined Places, Malden/Mass.: Blackwell 1996, S. 57. Soja definiert „Thirdspace“ dabei als „an-Other way of understanding and acting to change the spatiality of human life, a distinct mode of critical spatial awareness that is appropriate to the new scope and significance being brought about in the rebalanced trialectics of spatiality–historicality–sociality.“ (Ebd., S. 57). 71 Harvey, Graham: The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Malden/Mass: Blackwell 2006, S. 218–219. 72 Anderson, Benedict: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 1983. 73 Vgl. die Einführung der Herausgeberinnen und Herausgeber und ihre Vorschläge zur weiterführenden Lektüre, inklusive einer Sammlung von Quellenmaterial von Edward
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ein Instrument zur Unterscheidung des Wirklichen und des Imaginierten bei der Analyse sozialer und räumlicher Realitäten, um unterschiedliche Räumlichkeiten anzuzeigen.74 In Hinblick auf die imaginierten bzw. imaginativen und die imaginären Dimensionen besteht vielleicht eine besser fassbare Verbindung zwischen dem Konzept des sozialen Imaginären und den „Räumen der Imagination“, seien diese nun imaginiert oder imaginär. Für das soziale Imaginäre gibt es eine breite Vielfalt von Definitionen.75 Nach Charles Taylor etwa bezieht sich das soziale Said bis Bernard Tschumi in Section 11: „The Spatial Imagination“, in: Jen Jack Gieseking/William Mangold u.a. (Hg.), The People, Place, and Space Reader, New York: Routledge 2014, S. 355–390. Siehe auch https://peopleplacespace.org/category/openaccess/ vom 15. März 2019. 74 Siehe Mills, Charles Wright: The Sociological Imagination, London: Oxford University Press 1959. 75 Beispielsweise Thompson, John B.: Studies in the Theory of Ideology, Cambridge: Polity Press 1984, S. 6 verweist auf das soziale Imaginäre als „the creative and symbolic dimension of the social world, the dimension through which human beings create their ways of living together and their ways of representing their collective life“. Cornelius Castoriadis hatte den Begriff des Imaginären dezidiert als „gesellschaftliches Imaginäres“ ausgearbeitet (Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp-Verlag 1984 [franz. 1975]) und damit insbesondere die sozialwissenschaftliche Debatte im französischsprachigen Bereich inspiriert, Habermas wiederum – in kritischer Auseinandersetzung mit Castoriadis (vgl. etwa Elliott, Antony: „The Social Imaginary. A Critical Assessment of Castoriadis's Psychoanalytic Social Theory“, in: American Imago 59/2 (2002), S. 141–170, insbesondere S. 144–151) bezieht das soziale Imaginäre auf eine intersubjektiv geteilte Lebenswelt (so etwa in Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp-Verlag 1985). Diese komplexen Zusammenhänge können hier nicht weiter verfolgt werden. Zur augenblicklichen Diskussion innerhalb der sozialwissenschaftlichen Debatte siehe Herbrik, Regine/Schlechtriemen, Tobias (Hg.): Einsatzpunkte und Spielräume des sozialen Imaginären in der Soziologie (= Sonderheft der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie 18), Wiesbaden: Springer VS 2020. Jacques Lacan wiederum differenziert bei seiner Bestimmung des Imaginären – anders als Lefebvre – zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen. In seiner Theorie bezieht sich das Imaginäre auf eine der drei triadischen Größen (das Reale; das Imaginäre; das Symbolische), die menschliche Existenz konstituieren (Lacan, Jacques: „Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale“, in: Ders. (Hg.), Namen-des-Vaters, Wien: Turia + Kant 2006, S. 11–62 [französich ursprünglich: 1953]; vgl. auch Wörler, Frank: Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale. Lacans drei Ordnungen als erkenntnistheoretisches Modell, Bielefeld: transcript 2015).
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Imaginäre 1. auf die Art und Weise, wie sich die Menschen üblicherweise ihre soziale Umgebung „vorstellen“ (imagine), 2. auf das, was von den meisten Menschen, wenn nicht gar der gesamten Gesellschaft, als „üblich“ anerkannt ist, und 3. jenes verbreitete Verständnis, das gemeinsame Praktiken und einen weit verbreitetes Gefühl der Legitimität ermöglicht.76 Der kleinste gemeinsame Nenner für das soziale Imaginäre dürfte darin bestehen, dass der Begriff nicht einfach etwas ‚Fiktionales‘ beschreibt. Vielmehr kann das Imaginäre selbst sehr konkrete und reale Wirkungen zeitigen. Allerdings bleibt dann noch strittig, ob das Imaginäre selbst lediglich ein imaginiertes Konzept ist – quasi ein Derivat bloß vorgestellter, imaginierter Wirklichkeit –, oder ob es ‚irgendwie‘ „real“ ist in der Hinsicht, dass es im Sinne einer Repräsentation von Bedeutungen, die aus einer konkreten gesellschaftlichen Ordnung abgeleitet sind, betrachtet werden kann als „Institution“. Unabhängig von der Antwort auf diese Frage können wir, wenn wir Raum und Imaginäres aufeinander beziehen, eine generative Dimension beobachten, die aus der Schnittstelle von Imaginärem und Raum herrührt, und dies gilt ausdrücklich und insbesondere auch für die Schnittstelle von Imaginärem und Klangraum. Bereits vor einem Vierteljahrhundert hatte Hans-Günter Heimbrock darauf verwiesen, dass sich aus psychoanalytischer Perspektive eine besondere „Bedeutung imaginativer Akte für Klangerleben“ und damit „die konstitutive Bedeutung der Imagination“ feststellen lässt.77 Entsprechend „beruht Wirkung von Klängen wesentlich nicht nur auf rezeptiven, sondern immer auch produktiven Akten, nämlich auf Einbildungsakten (scil. „Akten der Imagination“; K.H.), in welchen sinnstiftender Umgang mit inneren Bildern von Tönen geschieht.“78 Aus religionswissenschaftlicher bzw. im engeren Sinne religionsästhetischer Perspektive wiederum ist etwa seit einem Jahrzehnt die Kategorie der Imagination zu einem bedeutsamen „critical term“ avanciert79 und wurde unter anderem auch mit Blick auf „Imaginationsräume“ weitergehend expliziert.80 Isabel Laack hatte in diesem Zusam76 Taylor, Charles: Modern Social Imaginaries, Durham, NC: Duke University Press 2004, S. 23. 77 Heimbrock, Hans-Günter: „Über die religiöse Wirkung von Klängen. Phänomenologische und psychoanalytische Zugänge“, in: Archive for the Psychology of Religion 2/1 (1997), S. 100–115, hier S. 110. 78 Ebd., S. 108. 79 Siehe hierzu Traut, Lucia/Wilke, Annette (Hg.): Religion – Imagination – Ästhetik. Vorstellungs- und Sinneswelten in Religion und Kultur (= Critical Studies in Religion/ Religionswissenschaft, Bd. 7), Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, hierbei vor allem Vorwort und Einleitung sowie insbesondere S. 20–23. 80 Ebd., S. 193–270.
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menhang „das theoretische Konzept der Imagination für eine Analyse der Interaktion lokaler Akteure mit der religiösen Topographie … fruchtbar gemacht.“81 In einem anderen Zusammenhang wiederum war gegenüber der weithin üblichen „Bevorzugung des Sehsinns“82 seitens der vorfindlichen Imaginationstheorien der in anderen kulturellen Kontexten prominenteren Rolle des Hörsinns besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden, nämlich in Bezug auf die zentrale Bedeutung von Klang und Oralität im sanskritischen Hinduismus.83 Darüber hinausgehend möchte ich an dieser Stelle vorschlagen, raumbezogene agency als eigenständige Größe in den Blick zu nehmen84 und dann auch auf den Klangraum zu applizieren. Insofern gehe ich über ein erweitertes agency-Verständnis, das nach der Handlungsmacht auch nicht-menschlicher Akteurinnen und Akteure fragt,85 nochmals einen weiteren Schritt hinaus. Zudem knüpfe ich dabei an Beobachtungen an, dass Klänge per se einen Raum ganz eigener Art erschaffen – unabhängig von ihren qualitativen Eigenschaften, die diesen jedoch noch weiter modulieren und spezifizieren.86 Wenn Foucaults Feststellung zutrifft, dass „die gegenwärtige Epoche vor allem eine Epoche des Raums“87 und nicht der Zeit sein wird – komplementiert durch 81 Laack, Isabel: „Glastonbury als spirituelles Zentrum. Imagination einer religiösen Topographie zwischen sinnlicher Wahrnehmung und religionsgeschichtlicher Deutung“, in: Traut/Wilke, Religion – Imagination – Ästhetik (2015), S. 193–212, hier S. 193. 82 Traut, Lucia/Wilke, Annette: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Religion – Imagination – Ästhetik (2015), S. 17–69, hier S. 49. 83 Wilke, Annette/Moebus, Oliver: Sound and communication. An aesthetic cultural history of Sanskrit Hinduism, Berlin u.a.: de Gruyter 2011. Allerdings wird hier die Kategorie der Imagination nicht auf einen Zusammenhang von Klang und Raum hin ausgelegt. 84 Im Grunde ist dies bereits präfiguriert bei de Certeau, Michel: The Practice of Everyday Life, Berkeley/Calif.: The University of Californias Press 1983. 85 So etwa Winter, Martin/Brabec de Mori, Bernd: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Auditive Wissenskulturen. Das Wissen klanglicher Praxis, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 1–28, hier S. 18. 86 Vgl. die diesbezügliche Diskussion bei Davies, Stephen: Musical Meaning and Expression, Ithaca: Cornell University Press 1994, insb. S. 228–266, der eine relative Autonomie des Klangraums – oder, mit Davies, ebd., S. 235: des „Hörraums“ (aural space) – gegenüber dem „realen Raum“ annimmt. Vgl. hierzu auch die Diskussion bei Sharif, Malik/Brabec de Mori, Bernd: „Auditives Wissen und ontologisch- epistemologischer Pluralismus. Ein Dialog für zwei Ethnomusikologen“, in: Winter/Brabec de Mori, Auditive Wissenskulturen (2018), S. 93–114. 87 Foucault, Michel: „Of Other Spaces: Utopias and Heterotopias“, in: Diacritics 16 (1986), S. 22–27, hier S. 22.
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die Genealogie als alternative Geschichtsschreibung –, müssen wir „Raum“ neu in den Blick nehmen.88 Raum ist dann zu betrachten als „ein Medium, eine Methodologie, und eine Folge“, wie Kim Knott formuliert hat: „a medium, a methodology, and an outcome [Hervorhebung im Original, KH]“.89 Dadurch wird Raum sowohl als Instrument als auch als Ziel, als ein Mittel und als ein Zweck charakterisiert – „both as instrument and as goal, as means and as end“,90 und sogar als Ursache, Zweckbestimmung und Wirkung – „cause, conduit and effect“.91 Raum erweist sich somit als dynamischer Akteur, der synchrone und diachrone Dimensionen umfasst. Selbst wenn er an einem bestimmten Platz ‚verortet‘ ist, wird er zum vielfältigen, komplexen und mehrdeutigen Faktor des Wandels und transformiert sich selbst auch dann, wenn er an derselben Stelle verbleibt – ein Phänomen, das metaphorisch durch den Begriff der „Zeitlandschaft“92 aufgewiesen ist. Der Bezug zur Religion wiederum ergibt sich daraus, dass diese mit Manuel Vásquez im Anschluss an Foucault als „heterotopisches“ Phänomen zu bestimmen ist, das Räume erzeugt, die sich vielfach wechselseitig überlappen.93 Raum als Akteur zu begreifen bzw. ihm agency, Handlungsmacht, zuzuschreiben, war und ist allerdings heftig umstritten. Als Hauptargument wird dabei 88 Zum Folgenden vgl. auch K. Hock: Manifestation, S. 38, S. 53f. 89 K. Knott, Location, S. 3. 90 H. Lefebvre, Production of Space, S. 411. 91 Kong, Lily/Woods, Orlando: Religion and Space. Competition, Conflict and Violence in the Contemporary World, London: Bloomsbury Academic, 2016, S. 2. 92 Dieser Terminus ist von Appadurais fünf Kategorien der ethnoscapes, technoscapes, financescapes, mediascapes und ideoscapes abgeleitet: „These terms with the common suffix – scapes also indicate that these are not objectively given relations that look the same from every angle of vision but, rather, that they are deeply perspectival constructs, inflected by the historical, linguistic, and political situatedness of different sorts of actors“ (Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis, MN: University of Minnesota Press 1996, S. 7). Dies wurde aufgegriffen von Adams, Barbara: Timescapes of Modernity. The Environment and Invisible Hazards, London: Routledge 1998 und später von anderen, wie zum Beispiel Halbmayer, Ernst, „Timescapes and the Meaning of Landscape: Examples from the Yukpa“, in: Ernst Halbmayer/Elke Mader (Hg.), Kultur, Raum, Landschaft. Zur Bedeutung des Raumes in Zeiten der Globalität, Frankfurt am Main: Brandes und Apsel 2004, S. 136–154, und weiter ausgearbeitet von Loimeier, Roman: Eine Zeitlandschaft in der Globalisierung. Das islamische Sansibar im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2012. 93 Vásquez, Manuel A.: „Studying Religion in Motion. A Networks Approach“, in: Method and Theory in the Study of Religion 20 (2008), S. 151–184, hier S. 163.
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angeführt, dass Raum keine agency haben könne, weil ihm keine Intentionalität im Sinne einer unabdingbaren Voraussetzung für bewusstes Handeln zukomme. Dagegen lässt sich zunächst anführen, dass agency nicht auf Personen zu beschränken ist, und zwar unter Verweis auf Bruno Latours Akteur-NetzwerkTheorie, die überhaupt nicht die Kategorie der Intentionalität vorsieht, weder für (personhafte) Akteure, noch für nicht-lebendige, dingliche Akteure, die Latour „Aktanten“ nennt, und auch nicht für agency. Weiterhin wird gegen die Annahme einer Handlungsmacht des Raumes eingewandt, dass die Gleichsetzung von Raum und „Ding“ oder „Dingen“, also Aktanten, fragwürdig sei. Demgegenüber ist allerdings festzuhalten, dass es dabei gar nicht darum geht, unterschiedliche oder unterscheidbare Größen wie Personen oder „Objekte“ oder auch „Raum“ als wesenhaft in eins zu setzen. Vielmehr ist agency im Zusammenwirken unterschiedlicher Wesenheiten verortet, das heißt in Netzwerken, die aus vielgestaltigen und facettenreichen Handlungszusammenhängen zwischen Personen, Dingen und Konzepten bestehen. In diesen Netzwerken sind – das ist m.E. der Clou der Akteur-Netzwerk-Theorie – materielle und semiotische Dimensionen theoretisch inkludiert und methodologisch miteinander verknüpft. Entsprechend sind auch Raum und agency engstens aufeinander bezogen. Aufgrund seiner agentialen, handlungsmächtigen Dimension und als Ressource des Wandels bewirkt Raum im Lauf seiner eigenen Transformationen Wandlungen und Änderungen in den Gemeinschaften, die ihrerseits mit dem Raum interagieren und ihn rekonfigurieren, während sie umgekehrt wiederum von den Transformationen des Raumes geprägt werden. In dieser Konstellation stellt Räumlichkeit als Verortung des Wandels eine Sphäre der Resonanz94 bereit, in der die Menschen ihr soziales und kulturelles ‚Ganzes‘ imaginieren. Die Schnittstelle von Räumlichkeit und Imaginärem bildet den Nährboden für Wandlungs- und Transformationsprozesse. Was für den Raum gilt, sollte eigentlich auch für den Klangraum und dann entsprechend für den Klang selbst zutreffen, also: Auch Klangräume und selbst Klänge müssten ebenfalls über agency verfügen. Im Februar 2019 hat in Bern eine internationale Konferenz zum Thema „Tracing the Agency of Sound“ stattgefunden, die unter anderem mit dieser Frage befasst war.95 Dabei schälte sich als Konsens 94 Die Assoziation zu der von Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp Verlag 2019 ausgearbeiteten Resonanztheorie legt sich durchaus nahe – nicht nur, weil der Begriff „Resonanz“ selbst metaphorische Beziehungen anklingen lässt. Zwar geht es hier wie dort nicht „um eine grundsätzliche Transformation der Weltbeziehung“ (Ebd., S. 326), wohl aber um Transformationspotenzial. 95 „Tagungsbericht: Tracing the Agency of Sound, 08.02.2019–09.02.2019 Bern“, in: H-Soz-Kult, 07.05.2019, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8256 vom 01.08.2020.
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heraus, dass agency nicht als Intentionalität zu verstehen sei, allerdings zwischen einer primären und sekundären agency unterschieden werden müsse. Der Kompromiss bestand darin, Objekten lediglich eine sekundäre agency zuzuschreiben, die als Instrument oder als „Mittel“ für die primäre agency der mit diesen Objekten agierenden und diese „verzweckenden“ Akteure zur Verfügung steht. In Bezug auf den Klang blieb jedoch strittig, inwieweit diesem dann eine primäre oder eine bloß sekundäre agency zugeschrieben werden kann. Eine hilfreiche Differenzierung leistet diesbezüglich die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten des Hörens, wie der rumänische Kunsthistoriker Victor Stoichita gemeinsam mit dem österreichischen Musikwissenschaftler Bernd Brabec de Mori vorgeschlagen hat: Das indexikalische Hören (indexical listening) konzentriert sich auf den Bezug zwischen dem Klang und seinen (physischen) Quellen.96 Dem Klang käme dabei nur sekundäre agency zu, da er auf anderes verweist. Demgegenüber wäre beim sog. „verzauberten“ Hören (enchanted listening) dem Klang eine primäre agency zuzuschreiben, da sich diese Art des Hörens auf den Klang selbst bzw. die Klangzusammenhänge konzentriert, ohne nach den (physischen) Quellen zu fragen. Klang – oder Klangereignisse oder Klangzusammenhänge – bilden beim enchanted listening eine autonome Domäne, die unabhängig von den üblichen Zusammenhängen von Ursache und Wirkung besteht und nicht aus irgendeiner physischen Gestaltung abgeleitet wird. Zugleich eignet dieser autonomen Domäne eine faktische Kausalität aus sich selbst heraus und um ihrer selbst willen, wodurch die Elemente, die sie miteinander in Verbindung bringt, animiert, quasi „zum Leben erweckt“ werden. Auf der Tagung in Bern scheint sich eine recht deutliche Tendenz herausgebildet zu haben, wie der Konferenzbericht resümiert: „Bezogen auf die […] vorgestellten Forschungsprojekte scheint sekundäre Agency, welche auch damit umschrieben werden könnte, dass etwas für etwas steht – also etwa die Sirene des Polizeiautos für das rasche Vorankommen der Polizei – in Bezug auf historische SoundscapeStudien zumeist völlig ausreichend zu sein. Es ist historisch gerade von Bedeutung, welche Attribute einem Klang zugeschrieben wurden, und nicht unbedingt, was der Klang an sich durch sich selbst zu bewirken vermochte. Kirchenglocken etwa könnten allein durch die Lautstärke und Intensität des Klangs über eine Art primäre Agency verfügen, zumindest eine affektive Kraft, welche unabhängig von deren situativen Bedeutungszusammenhang ist. Dennoch ist es aus historischer Sicht viel entscheidender, wie der Klang der Glocken innerhalb einer Gemeinschaft wahrgenommen wird, d. h. welche Metaphern dem Klang 96 Stoichita, Victor A./Brabec de Mori, Bernd: „Postures of listening. An ontology of sonic percepts from an anthropological perspective“, in: Terrain. Lectures et débats (2017), http://journals.openedition.org/terrain/16418
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zugeschrieben werden, welche Signale damit gegeben sind […] (wie z.B. die Ankündigung der Messe, des Abendgebets, der Taufe […]).“97
Für die Religionsforschung eröffnet die in Bern vorgeschlagene Differenzierung zwischen sekundärer und primärer agency nochmals weiterführende Perspektiven. Auf abstrakter Ebene steht das Konzept der primären agency für ein theologisches Modell: Dem aus sich selbst heraus wirkungsmächtigen Klang kommt offenbarungsanaloge Qualität zu, da er unableitbar ist, für sich selbst steht und aus seinem inneren Zusammenhang heraus verstanden wird. Das verlangt ein Hören, das vielleicht nicht von Ungefähr als „enchanted listening“ zu kategorisieren ist. Demgegenüber stünde das Konzept der sekundären agency eher für ein religionswissenschaftliches Modell, das auf das „indexikalische Hören“ fokussiert sowie darauf, welche Attribute dem Klang zugeschrieben werden, also auf Klang-Zuschreibungen, die nicht von ihren kulturellen und historischen Kontexten abstrahiert werden können. Damit kommen wir zu einigen abschließenden Überlegungen, mit denen nochmals die Frage nach dem Religionsbezug des Lambarena-Projekts aufgegriffen werden soll.
5. WIE RELIGIÖS IST LAMBARENA? Oben wurde bereits die Vermutung geäußert, dass in Projekten postkolonialer Musik im Allgemeinen und im Lambarena-Projekt im Besonderen mit der je intendierten Hybriditätsproduktion Religion noch einmal auf andere, neue Weise thematisiert wird. Die Konnotation Bach‘scher Musik zur Religion liegt auf der Hand und braucht wohl an dieser Stelle nicht weiter expliziert zu werden. Dabei ist jedoch festzustellen, dass das Œuvre Bachs von der durchschnittlichen Hörerschaft heute vermutlich vornehmlich als kulturelles Kunstprodukt, ohne Explikation der religiösen Referenzen und Intentionen im Musikalischen, wahrgenommen wird. Die Kommentare zu Lambarena heben jedoch interessanterweise häufig die religiösen Dimensionen der Bach’schen Musik hervor, wie bereits in einigen zuvor zitierten Äußerungen angeklungen ist. Mehrfach wurden diese Dimensionen als Verbindendes zwischen den afrikanischen und den Bach’schen Musikstücken genannt und auch mit dem Lambarena-Projekt in Zusammenhang gebracht: Da ist die Rede vom „alchemistischen Projekt“98 – der gabunische Philosoph Bonaven97 Tagungsbericht: Tracing. 98 Wie wir gesehen haben, sprach Akendengué von Zauberarbeit („travail d'alchimiste“); siehe oben, Fußnote 33.
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ture Mwe-Ondo etwa spricht von der „transmutation alchimique“ –,99 de Courson selbst identifiziert starke rhythmische und spirituelle Verbindungen zwischen den beiden Musiktraditionen,100 und mit Blick auf die afrikanischen Musikstücke stellte Akendengué fest: „Die traditionelle Musik bei uns ist eine religiöse Musik. Es ist eine Kunstmusik, die besonderen Wert auf Besinnung in heiligen Bezirken legt.“101
Der postkoloniale Produktionskontext hat offensichtlich „Religion“ auf unterschiedlichen Ebenen und aus verschiedenen Perspektiven thematisiert. Das Inéffable – das „Unsagbare“, „Unbeschreibliche“, „Unaussprechbare“102 wird zum Rationale des Gesamtvorhabens, findet sich aber vornehmlich in jenen Klangräumen, die bei Lambarena häufig im Interferenzbereichen beider Musiken entstehen. Diesen Klangräumen, so die These hier, eignet besondere agency; und dort werden qua Imagination Soundscapes kreiert, die gerade aufgrund ihres Hybridcharakters den Klang selbst mit agency aufladen. Was aber bewirkt nun die agency des Klangs oder des Klangraums mit Blick auf Religion? Setzt sie „Religionsproduktivität“ frei oder ist sie gar selbst religionsproduktiv? Bei Lambarena handelt es sich, wie bereits mehrfach erwähnt, um postkoloniale Musik, die auch postkolonial zu lesen (bzw. zu hören) ist. Besonderes Kennzeichen ist diesbezüglich ihre zwischen Mimikry, Ambiguität und Mischung changierende „Hybridität“, die einen transkulturellen Klangraum erzeugt. Sowohl für Religionswissenschaft als auch für Interkulturelle Theologie ist dieser von besonderem Interesse, weil sich darin Prozesse interreligiöser Interaktion, aber auch wechselseitiger Beziehungen zwischen Hörenden und Gehörtem hinsichtlich der Frage nach „dem Religiösen“ des jeweiligen Projekts zeigen. Dabei ist selbstverständlich vorausgesetzt,
99 Mve-Ondo, Bonaventura: „En écoutant ‚Lambarena‘ de Pierre-Claver Akendengué : une étude sur notre temps; sur la musique et la musicologie“, https://www.facebook. com/mapuafrica/posts/743423832453909/ vom 01.08.2020. 100 C. Haig: Our Music, S. 8 und 282f. 101 De la Croix, Yves: „L'autre musique de Pierre-Claver Akendengué“, in: Littérature gabonaise 105 (1991), S. 84–87, hier S. 87 (Übersetzung aus dem Französischen von mir, K.H.). 102 Ostrem, Eyolf: „Music and the Ineffable“, in: Bruhn, Siglind (Hg.), Voicing the Ineffable: Musical Representations of Religious Experience, Hillsday/NY: Pendagron Press 2002, S. 287–313.
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„dass Schallwellen selbst nichts Sakrales innewohnt, sondern dass allein die Arbeit der Bedeutungszuweisung des Individuums oder Kollektivs ausschlaggebend dafür ist, ob mehr oder minder organisierte Schallwellen als ‚sakral‘, ‚spirituell‘ oder ‚heilig‘ wahrgenommen werden oder nicht.“103
Lambarena eröffnet – vielleicht zunächst nur spielerisch und virtuell – qua Imagination Klangräume, die wohl schon aufgrund der kulturell unterschiedlich verorteten Akteure tatsächlich transkulturell formatiert sind. Als mehr oder weniger „isoliertes“ Projekt, das meines Wissens bislang nur im Tanztheater re-inszeniert worden ist, kann es durchaus generativ wirken, bleibt jedoch in Hinblick auf sein religionsproduktives Potential hinter diesbezüglich „manifesteren“ Impulsen anderer Projekte zurück – wie etwa des von Isabel Laack untersuchten Glastonbury Festival of Contemporary Performing Arts104 oder des von Verena Grüter unter die Lupe genommenen Festivals Musica Sacra International.105 Als demgegenüber, wie gesagt, mehr oder weniger „isoliertes“ Projekt abstrahiert Lambarena von dem, was sich an den grassroots abspielt, auch wenn es darauf Bezug nimmt. Damit ähnelt es religionswissenschaftlichen oder theologischen Theorieentwürfen, die sich ebenfalls auf konkret Vorfindliches beziehen und bisweilen sogar davon ihren Ausgang nehmen können (wie übrigens auch das Lambarena-Projekt!), aber dann doch letztlich ein Modell von diesem oder gegebenenfalls für dieses bilden und explizieren.106 Trotzdem sind beide, auch als Kunst-Projekte (im doppelten Sinn von künstlich und künstlerisch) hilfreich, weil 103 Claus-Bachmann, Martina: „Vorwort“, in: Dies. (Hg.), Sacred Sound – Spirituelle Bedeutungszuweisungen sonischer Ausdrucksformen, Gießen: ulme-mini-Verlag 2020, S. 5–8, hier S. 8. 104 Laack, Isabel: Religion und Musik in Glastonbury. Eine Fallstudie zu gegenwärtigen Formen religiöser Identitätsdiskurse (= Critical Studies in Religion/Religionswissenschaft, Bd. 1), Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 105 Grüter, Verena: Klang – Raum – Religion. Ästhetischer Dimensionen interreligiöser Begegnung am Beispiel des Festivals Musica Sacra International (= Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Bd. 13), Zürich: Theologischer Verlag 2017. Zu weiterführenden Reflexionen, durchaus auch unter Berücksichtigung „raum-klanglicher“ Verschränkungen, insbesondere mit Blick auf die interreligiöse Dimension von Klangräumen, siehe Bernhard, Reinhold/Grüter, Verena (Hg.): Musik in interreligiösen Begegnungen (= Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Bd. 14), Zürich: Theologischer Verlag 2019. 106 Geertz, Clifford: „Religion als kulturelles System“, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 4. Aufl. 1992, S. 44–95, hier S. 52–54 (engl. 1966).
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sie, zumal in postkolonialen interkulturellen Kontexten, je auf ihre Art „konzeptualisieren“ und gegebenenfalls annoncieren bzw. inszenieren, wie Differenz und Identität, Anderes und Eigenes, Universalität und Pluralität, Einheit und Vielfalt miteinander in Beziehung gesetzt werden können im Gesamtspektrum zwischen isolationistischen, universalistischen und pluralistischen Optionen. Dabei kann das „Kunstprojekt“ zu dem an den grassroots Vorfindlichen durchaus in Spannung stehen. Die Studie von Christine Haig, auf die hier mehrfach Bezug genommen wurde, hat zumindest hinsichtlich der Rezipientinnen und Rezipienten gezeigt, dass deren Differenzierungsbedürfnis in Richtung auf ein pluralistisches Modell viel stärker ausgeprägt ist als namentlich bei dem Produzenten, Hugh de Courson, der ausdrücklich für ein universalistisches Modell eingetreten war und unter dieser Perspektive auch das Lambarena-Projekt konzipiert hatte. Zum Abschluss noch zwei Bemerkungen, obgleich – selbstverständlich – die Thematik mitnichten und auch nicht einmal ansatzweise abschließend traktiert ist. Zunächst ist in Bezug auf die Frage nach der agency von Klangräumen Folgendes festzuhalten: Aus religionswissenschaftlicher Perspektive wäre im Zweifelsfall stets der Akzent zunächst auf die sekundäre agency zu legen, da entscheidend ist, wie, wann und in welchen Kontexten der Klang wirkt und dann rezipiert wird, also die Interaktion zwischen Klang und Hörenden bzw. der jeweiligen ‚Hörgemeinschaft‘ sich gestaltet. Da diese ‚Gemeinschaft der Hörenden‘ jedoch selbst zunehmend hybrid differenziert ist, mehr noch: als ‚Hörgemeinschaft‘ geradezu disparat sein kann – sowohl in global-räumlicher Hinsicht als auch innerhalb eines begrenzten Kultur-,Raums‘ wie etwa Gabun –, gewinnt der Klangraum an primärer agency. Das Klangereignis selbst ist jedoch nicht mehr zweifelsfrei zuordenbar, da es in postkolonialer Perspektive seinerseits bereits Hybridcharakter angenommen hat; der Klang von Kirchenglocken beispielsweise ist eben nicht mehr ‚eindeutig‘ – weder mit Blick auf die Hörenden, noch hinsichtlich seiner selbst.107 Weiterhin wäre bezüglich der Frage nach der aus der agency von Klangräumen erwachsenden „Religionsproduktivität“ Folgendes anzumerken: Auffällig ist, 107 Ein schönes Beispiel aus popkulturellen Kontexten ist in diesem Zusammenhang das Album The Division Bell der britischen Rockband Pink Floyd (EMI Records 1994, B000025G7A), dessen Name sich von der Glocke ableitet, die im britischen Parlament geläutet wird, wenn die Abgeordneten ihre Stimme abgeben sollen – eben der division bell. Von einer mit der Kirche assoziierten Glocke ist wenig geblieben, und wenn auch der symbolische Bezug zwischen Albumtitel und der Glocke im Westminsterpalast im tertium comparationis bestehen soll, dass die Menschen eine Wahl zu treffen haben und eine Entscheidung fällen müssen, handelt es sich beim Glockengeläut auf dem Album nicht um den Klang der Westminster-Glocke – alle diese möglichen Zusammenhänge sind recht brüchig geworden.
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dass in den Reaktionen auf das Lambarena-Projekt immer wieder religiöse Bezüge des Vorhabens selbst sowie seiner Zielsetzung benannt wurden. Damit scheint aus postkolonialer Perspektive ein Stückweit das „säkulare Verdikt“ aufgehoben und die Religionsreferenz des Projekts wie auch die potentielle Religionsproduktivität des Klangraums qua Imagination in einem hybriden Feld ratifiziert. War die Dichotomie Religion – Nichtreligion (im Sinne von religiös – „säkular“) unbestrittener und integraler Bestandteil des kolonialen hegemonialen Diskurses, ist diese essentialisierende Festschreibung in postkolonialer Perspektive aufgehoben. Das bedeutet jedoch keine undifferenzierte Aufhebung im Sinne einer Annullierung. Vielmehr besitzen Klangräume gerade aufgrund ihrer agency, ihrer Handlungsmacht, Neues auch jenseits der Religion zu generieren, zugleich die Fähigkeit, die Erinnerung an koloniale Repräsentationen zu bewahren. Das koloniale Archiv wird postkolonial neu geordnet, Religion und Nichtreligion, Tradition und Moderne, Afrika, Europa und „die Welt“ treten in veränderte Bezüge zueinander. Lambarena wird so am Ende nicht nur zum Beispiel eines transkulturellen, sondern auch transreligiösen und säkular-religiösen Crossover.
Bach oder die Kunst, Andacht zu inszenieren Ein Werkstattbericht Arend Hoyer
1. EINLEITUNG Auf Johann Sebastian Bach geht die Formulierung „andächtig Musig“ zurück. Als Theologe hat mich die Frage gereizt, was der Komponist selber darunter wohl verstanden haben mochte. In meiner Forschung habe ich entsprechend versucht, Bach unter diesem Gesichtspunkt bei der Arbeit an seinen Kantaten für den Leipziger Gottesdienst gewissermaßen über die Schultern zu schauen.1 Da Andacht keine typisch musikalische Kategorie darstellt, und Theologinnen und Theologen von Hause aus nicht zwangsläufig viel über Musik Bescheid wissen, habe ich diese Fragestellung zum Anlass genommen, an diesem Grenzgebiet zwischen zwei Disziplinen eine Werkstatt einzurichten, die zu besichtigen ich Sie in diesem Vortrag einlade. Im Folgenden lege ich Ihnen das Instrumentarium vor, mit welchem ich Bachs Begriff einer „andächtig Musig“ aufzuschlüsseln versucht habe.
2. EINBLICK IN BACHS BIBELEXEGESE Es sind einige wenige Zeugnisse von Bachs Reflexion über seine Musik, insbesondere im Zusammenhang mit Glauben, Kirche und Gottesdienst überliefert worden. Hierzu gehören zweifellos Bachs Einträge in seiner Studienbibel, Die „gro-
1 Hoyer, Arend: Was Musik andächtig macht. Drei Leipziger Kirchenkantaten Johann Sebastian Bachs, liturgiewissenschaftlich unter die Lupe genommen, Zürich: TVZ 2018.
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ße Teütsche Bibel“,2 wie er sie selber einmal genannt hat, der Bach-Welt besser als Calov-Bibel, in der Fachwelt auch als „Deutsche Bibel“3 bekannt. Es handelt sich um eine Bibelausgabe, die Abraham Calov 1681 mit Luthers Kommentaren anreicherte und mit eigenen Anmerkungen ergänzte.4 Diese Erklärungsbibel versah Bach um 1733 mit seinem Exlibris. Sie wurde nach dessen Tod definitiv erst wieder in den 1960er Jahren im US-amerikanischen St. Louis anlässlich eines Bibliotheksumzugs innerhalb des Concordia Seminary als eine in Bachs Besitz befindliche Bibelausgabe identifiziert, gewürdigt und der Öffentlichkeit vorgestellt. Allen Publikationen zum Trotz fehlte mir zum Zeitpunkt meiner eigenen Untersuchung eine schlüssige Erklärung für die Methode, nach welcher Bach Eintragungen unterschiedlicher Art vornahm: Anführungsstriche an Zeilenrändern, Unterstreichungen, Bezifferungen und vor allem Korrekturen, Ergänzungen und insbesondere seine Randnotizen lassen sich nicht einfach romantisierend als „Ergebnis des einsamen Austausches Bachs mit seiner Bibel“ klassifizieren, wie Martin Petzoldt es versucht hat. Dieser schreibt: „Meines Erachtens sind die Eintragungen – vor allem diejenigen mit Bezug zur Musik und Musikausübung – zum größten Teil Ergebnis des einsamen Austausches Bachs mit seiner Bibel; sie spiegeln in ihrem Musikbezug wohl auch die Situation des alternden Bachs wider, der seiner Bibel anvertraut, was er seiner Umwelt nicht bzw. nicht mehr anvertrauen mag. Man sollte es nicht Resignation nennen. Es sind Reflexionen, resümeeartige Sätze, die selbstvergewissernden Charakter tragen.“5
Bachs Einträge folgen meinen Beobachtungen nach vielmehr einer exegetischen Methode, wie sie beispielsweise in Abraham Calovs „Paedia Theologica“ von
2 Siehe Neumann, Werner/Schulze Hans-Joachim (Hg.): Schriftstücke von der Hand Johann Sebastian Bachs (= Bach-Dokumente, Band 1), Leipzig: Dt. Verlag für Musik 1963, S. 199. 3 Siehe Jung, Volker: Das Ganze der Heiligen Schrift. Hermeneutik und Schriftauslegung bei Abraham Calov, Stuttgart: Calwer Verlag 1999, S. 13. 4 Calov, Abraham (Hg.): Die heilige Bibel nach S. Herrn D. Martini Lutheri Deutscher Dolmetschung und Erklärung, Franeker: Verlag Van Wijnen 2017 (Original Wittenberg: 1682). 5 Petzoldt, Martin: „Beobachtungen zur Spezifik der theologischen Bibliothek Johann Sebastian Bachs“, in: Bericht über die Wissenschaftliche Konferenz zum V. Internationalen Bachfest der DDR in Verbindung mit dem 60. Bachfest der Neuen Bachgesellschaft (1985), S. 70.
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1652 beschrieben steht.6 Diese „Anleitungen zum Theologiestudium“7 zielen auf Vertrautheit mit dem biblischen Stoff und Sichtung der einzelnen Bibelstellen als ebenso viele Verweisquellen innerhalb der Heiligen Schrift. Vermutete theologisch relevante Sachverhalte müssen sich nämlich durch mindestens eine Schriftstelle klar und deutlich formuliert belegt finden und mit weiteren auf ihre Widerspruchslosigkeit hin überprüfen lassen. Das ist das hermeneutische Grundprinzip der „Selbstauslegung der Heiligen Schrift“,8 das für die Interpretation theologischer Inhalte in der gesamten lutherischen Orthodoxie verbindlich war. 2.1 R andnotizen zur theologischen Verankerung der Musik im Gottesdienst Für unser Thema von Interesse sind die Anhaltspunkte, die Bach zur theologischen Verankerung der Musik im Gottesdienst zu suchen scheint. Dieser Suche widmet Bach Randreflexionen an vier von ihm bearbeiteten Bibelstellen. Im von Mirjam durch Gesang und Trommelschlag angeführten Reigen (Exodus 15,20) erblickt Bach die älteste Überlieferung antiphonalen und instrumental begleiteten kultischen Singens im Alten Israel und fasst seine Beobachtungen konzis zusammen: „Erstes Vorspiel,9 | auf 2 Chören | zur Ehre Gottes | zu musiciren“.10 Weiter findet Bach in den Büchern der Chronik den frühesten biblischen Beleg für eine institutionalisierte Kirchenmusik: In 1 Chr 25,1 ortet Bach „das wahre Funda- | ment aller Gott- | fälliger Kirchen Music“.11 1 Chr 28,21 dient ihm hierfür als „herr-| licher [(das heißt im göttlichen Wort der Bibel verankerter)] Beweiß, | daß neben anderen | Anstalten [(Einrichtungen)] des Gottes- | dienstes, be- | sonders auch | die Musica von | Gottes Geist durch | David mit an- | geordnet worden“.12 6 Calov, Abraham: Paedia thelogica, de methodo studii theologici pie, dextre, feliciter tractandi, Wittenberg: Hartmann 1652. 7 V. Jung: Das Ganze der Heiligen Schrift, S. 12. 8 Ebd., S. 118. 9 Vor-spiel steht hier für Anti-phon. Siehe Trautmann, Christoph: „,Calovii Schrifften. 3 Bände‘ aus J. S. Bachs Nachlaß und ihre Bedeutung für das Bild des lutherischen Kantors Bach“, in: Musik und Kirche (1969), S. 150. 10 Deutsche Bibel, Bd.1, Spalte 483 im Faksimile bei Leaver, Robin A.: J. S. Bach and Scripture. Glosses from the Calov Bible Commentary, St. Louis: Concordia Publ. House 1985, S. 72. 11 Deutsche Bibel, Bd.1, Spalte 2048 im Faksimile bei R. A. Leaver: J. S. Bach and Scripture, S. 93f. 12 Deutsche Bibel, Bd.1, Spalte 2064 im Faksimile bei R. A. Leaver: J. S. Bach and Scripture, S. 95f.
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Dies, obwohl an dieser Stelle die Musik nicht explizit erwähnt wird, dafür aber die Ordnungen, in die auch die Musiker nach 1 Chr 25 eingegliedert worden waren. Die in Bezug auf die kanonische Abfolge der biblischen Bücher letzte kirchenmusikalisch orientierte Reflexion Bachs kommentiert den liturgischen Einzug im Rahmen des Einweihungsgottesdienstes des salomonischen Tempels. 2 Chr 5,13f. liefert hierzu eine detailreiche Beschreibung der zum Dienst zugelassenen Musiker, der zur Anwendung kommenden Instrumente, des inhaltlichen Fokus der musizierten Stücke sowie die Schilderung der von der Musik ausgelösten Epiphanie mitsamt wiederum deren unmittelbaren Auswirkung auf den Kultbetrieb: „v.13. Und es war / als wäre es | einer / der drommetet / und singe / als | höret man eine Stimme zu loben und | zu danken dem HErrn. Und da die | Stimme sich erhub von den Dromme= | ten / Cymbaln und anderen Seitenspie= | len / und von dem (würklichen) loben des | HErrn / daß er gütig ist / und seine | Barmherzigkeit ewig wäret / da ward das Hauß | des HErrn erfüllet mit einem Nebel v, 14. Dass die Priester nicht | stehen kundten zu dienen für dem Nebel / | denn die Herrligkeit des HErrn erfüllet | das Hauß Gottes“.13
Hierzu Bachs Notabene am Rande von V. 13: „Beÿ einer | andächtig Musig | ist allezeit Gott | mit seiner Gnaden- | Gegenwart“. Leider ist Bach mit der Niederschrift seiner Reflexionen zu Musik und Gottesdienst nicht bis in die Welt der Psalmen oder gar des Neuen Testamentes vorgedrungen. Es geht Bach hier um theologische Erkenntnis, nicht um „resümeeartige Sätze, die selbstvergewissernden Charakter tragen“ (Petzoldt). Es geht um die Frage, ob Gott der Musik im Rahmen seines Heilswirkens eine spezifische Funktion zuschreibt und, wenn ja, welche. Die christliche Lehre – insbesondere die lutherisch-orthodoxe – hält dem Komponisten hierfür keinen Paragrafen bereit.14 Bach 13 Deutsche Bibel, Bd.1, Spalte 2088 im Faksimile bei R. A. Leaver: J. S. Bach and Scripture, S. 97. 14 Ein besonders sprechendes Beispiel hierfür ist die pastoraltheologische Schrift von Bachs Vorgesetzten in liturgischen Fragen, Salomon Deyling. In dieser Schrift nähert sich Deyling der Musik einzig aus dem Blickwinkel der Abgrenzung und gewissermaßen der Schadensbegrenzung für den Gottesdienst, gehört doch für den Theologen Musik eben nicht wie für den Komponisten zu den von Gott angeordneten „Anstalten des Gottesdienstes“, die es etwa theologisch zu untermauern gälte. Der Autor widmet der Kirchenmusik insgesamt entsprechend einen sich auf zwei kleine Seiten beschränkenden Artikel (Deyling, Salomon: Institutiones prudentiae pastoralis, Leipzig: Haeredum Lanckisianorum 1734, S. 595f.). Zu den Adiaphora in der lutherischen Orthodoxie siehe Arnold, Jochen: Theologie des Gottesdienstes. Eine Verhältnisbestimmung von Liturgie und Dogmatik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 151.
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beschreitet daher eigene exegetische Wege in der Suche nach dem biblischen „Fundament“ und „Beweiß“ einer Theorie, nach welcher die Musik keine kultirrelevante Nebensache darstellt, sondern zum Kernbestand der kirchlichen Heilsvermittlung gehört. Die Randreflexionen bilden somit hierzu eine erste Summe theologisch gewonnener und gesicherter Erkenntnisse. 2.2 Andächtig Musig – Begriffsklärung Als Kind der lutherischen Orthodoxie versteht sich Bach als ein Lernender und als ein fundamental vom göttlichen Wort betroffener Christ. Die Bibel lesen und sich mit ihr auseinandersetzen heißt, wie Volker Jung in seiner Dissertation über Hermeneutik und Schriftauslegung bei Calov zusammenfasst, „die Schrift über sich verfügen und an sich wirken […] lassen“.15 Der Mensch wird in der Auseinandersetzung mit dem göttlichen Wort transformiert bzw. um in der Sprache der Zeit zu sprechen, erleuchtet. Hierzu Calov: „Die Erleuchtung ist eine göttliche Handlung [(actio divina)], die uns von den Dunkelheiten zum Licht umwendet [(convertit)], erleuchtet [(illuminat)] und zu Teilhabern des Lichtes der Gnade und des Heils macht und schließlich zum ewigen Licht [(ad aeternam lucem)] führt“.16 Nach diesem Konzept erfahren sich die Lesenden als zunehmend an der inneren Logik der Heiligen Schrift teilhabend und in ihr geborgen. Fluchtpunkt dieser spirituellen Entwicklung ist die Verschmelzung der Unterschiede zwischen Gott und seinen Geschöpfen, die Vereinigung der Seelen mit Gott, die Unio mystica, die sich Bach zusammen mit der lutherischen Orthodoxie erst für die Zeit nach dem irdischen Ableben des Menschen als erfüllt vorstellt.17 Bachs Auslegung des biblisch begründeten Verhältnisses von Musik und Gottesdienst legt somit eine Dynamik frei, nach welcher „andächtig Musig“ ihre Hörerinnen und Hörer auf dem Weg von der „Umwendung“ über die „Erleuchtung“ zum „ewigen Licht“ kompetent zu führen versteht. Hiermit erschließt sich der Sinn der in Bachs Marginalie verwendeten Begriffe. „Beÿ“ und „ist“: Gott bindet sich an „andächtig Musig“, wie er sich an den Gottesdienst seiner Gemeinde auf dem Weg von der „Umwendung“ 15 V. Jung: Das Ganze, S. 100. 16 Calov, Abraham: Systema Locorum Theologicorum, Wittenberg: Röhner 1655–77, X, S. 5 zit. bei und übers. von V. Jung: Das Ganze, S. 90. 17 Im Zusammenhang mit Bachs Musik siehe Jost Caspers Analyse des dritten Satzes der Kantaten BWV 140 (Casper, Jost: „Die Auslegungstradition im Text der Kantate BWV 140“, in: Martin Petzoldt (Hg.), Bach als Ausleger der Bibel, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985, S. 62–64: „Die unio mystica in der religiösen Literatur der Bachzeit“).
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über die „Erleuchtung“ zum „ewigen Licht“ bindet. Ja, „andächtig Musig“ ist Gottesdienst in oder außerhalb des öffentlich verantworteten Kultbetriebs. „[A]ndächtig“: In ihrer Grundbedeutung beschreibt das Grimmsche Wörterbuch Andacht neutral als „samlung der gedanken auf einen gegenstand, inniges andenken“.18 In religiöser Perspektive denkt der reformatorisch geprägte Mensch bei Andacht anders als zu vorreformatorischen Zeiten nicht an eine „ekstatische Schau Gottes oder Christi“ in der hochgehaltenen Hostie oder angesichts des Leidenden am Kreuz. „Andacht ist“ nach Ulrich Meyer nunmehr „die Haltung dessen, der auf das Wort Gottes hört und ihm antwortet“.19 Unter solchen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen lässt sich die Intensität des Verhältnisses erahnen, das „andächtig Musig“ mit dem Bibeltext als an den Menschen gerichtetes Wort Gottes unterhält. Ich komme zum Begriff „Gnadengegenwart“. Bach versteht darunter die Art und Weise, wie sich Gott den Menschen unter neutestamentlichem Vorzeichen zuwendet: Sie sind aus Gnade durch Christi Heilstat am Kreuz aus der Macht der Sünde herausgerissen, bleiben gleichwohl auf ihrem Weg zur Seligkeit dieser Sündenmacht stets ausgesetzt. „Gnadengegenwart“ verweist somit auf die liebevolle göttliche Begleitung und Unterstützung des Christenmenschen durch alle Widrigkeiten, die ihn auf seinem Weg durchs irdische Leben erwarten und eine stetige Herausforderung für seinen Glauben darstellen. Das Ziel, die Wiedervereinigung mit Christus bzw. Gott, wird erst auf der Stufe der Vollendung im Status gloriae,20 sprich nach dem eigenen Ableben erreicht. „Gnadengegenwart“ bezieht sich also auf die Zeit davor, in welcher der Mensch auf Gottes Gnade bleibend angewiesen ist. Dieser Zeitraum in der lutherischen Heilsordnung, wird denn auch als Status gratiae bezeichnet. Auch über diese Begriffsbildung lässt sich die Präzision herausspüren, mit welcher Bach den Kompetenzbereich von Musik biblischtheologisch festschreibt. Schließlich hält die Aussage „allezeit“ die formelhafte Gültigkeit seiner Definition fest. Nichts daran ist zufällig, ungenau oder auch nur der Subjektivität des Geschmacks überlassen.
18 Grimm, Jakob und Wilhelm (Hg.): Deutsches Wörterbuch (Band 1), Leipzig: Hirzel 1854, S. 302f. 19 Meyer, Ulrich: „Johann Sebastian Bachs theologische Äußerungen“, in: Musik und Kirche (1977), S. 116f. 20 Zur heilsgeschichtlichen Statuslehre bei Luther siehe Ebeling, Gerhard: Lutherstudien dritter Teil. Disputatio de homine. Die theologische Definition des Menschen. Kommentar zu These 20–40, Tübingen: Mohr 1989, S. 85.
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3. BACH UND DER GOTTESDIENST Zwischen dem Tempelgottesdienst aus salomonischer Zeit und dem Sonn- und Feiertagsgottesdienst aus Bachs Leipziger Zeit liegen also Welten. Wie andächtig zum „würcklichen“ Loben des Herrn zu musizieren sei, wie Abraham Calov dem biblischen Wortlaut von 2 Chr 5,13 hinzufügt, dafür kennt Bachs eigene Zeit zwei Formen: Den inneren und den äußeren Gottesdienst. Der innere Gottesdienst wird individuell und privat vollzogen und kann sowohl während als auch außerhalb des öffentlichen und kollektiv begangenen Kultes stattfinden. So meditiert z.B. das Duett F-Dur (BWV 804) das Verhältnis zwischen den zwei Naturen Christi – die göttliche und die menschliche – und setzt tänzerisch die Heilsdynamik in Szene, in die Gott uns Menschen durch seine Offenbarung in Christus mitnimmt.21 Dieses Duett bedient somit den inneren Gottesdienst eines Christenmenschen, doch nicht im Rahmen des äußeren Gottesdienstes in der Kirche, sondern in der Schule, zu Hause oder sonst wo – zur privaten Erbauung, Einübung oder eben Andacht. Anders als die pietistische Bewegung seiner Zeit, zu welcher Bach keine dokumentiert greifbare Nähe unterhält, schließen sich im lutherisch-orthodoxen Kontext, in welchem sich Bach professionell bewegt, innerer und äußerer Gottesdienst nicht aus, sondern beziehen sich vielmehr aufeinander.22 Hierfür stehen Gottesdienstmusiken wie Motetten, Messen, Kantaten, Passionen und Oratorien geradezu Pate, gehören sie doch einerseits gesellschaftlich betrachtet mit großer Selbstverständlichkeit zum Kultbetrieb, während sie andererseits als Andachtsliteratur den inneren Gottesdienst der Gemeinde bedienen. Die Beziehung, die eine solche Musik nun mit dem äußeren öffentlich zelebrierten Gottesdienst unterhält, wird zur Zeit Bachs aber kaum reflektiert. Wenn überhaupt, geschieht dies mit großer Zurückhaltung, weil Musik generell der weltlichen Oper als gefährlich nahe stehend taxiert wird. So kann Professor Salomon Deyling, der über die ganze Leipziger Zeit Bachs hinweg als Superintendent und Prediger an der Nicolaikirche waltet, in seiner pastoraltheologischen Schrift von 1734 der Musik im Gegensatz zu Luther im Gottesdienst theologisch nur wenig abgewinnen. Einzig Andachtsrelevanz wird der Musik zugestanden, einzig darauf wird sie verpflichtet: „Auch gilt es, Instrumental- wie Vokalmusik zu keinem anderen Zweck zu verwenden, als um die Seelen der Hörerschaft zu Frömmigkeit, Liebe und Gotteslob anzuregen“.23 21 Siehe Siegele, Ulrich: Bachs theologischer Formbegriff und das Duett F-Dur, in: Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft Band 6, Neuhausen-Stuttgart: Hännsler 1978. 22 Siehe Reichert, Detlev: Der Weg protestantischer Liturgik zwischen Orthodoxie und Aufklärung. Univ. Diss., Münster 1975, S. 217–266: „Die liturgische Literatur“. 23 S. Deyling: Institutiones, S. 595.
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Gegen eine solche Einschätzung ist natürlich auch von Bachs Seite her nichts einzuwenden. Genügt diese aber, wenn es darum geht, eine „regulirte“24 bzw. „wohlbestallte[…] Kirchen Music zu Gottes Ehren“25 in Leipzig einzurichten und deren Fortbestand zu garantieren wie dies Bach seit jeher von seiner Obrigkeit verlangt? Wie wir soeben sahen, sucht Bach seine Vorstellungen durch ein eigenes Bibelstudium gottesdiensttheologisch besser begründet zu finden, als dies seine Vorgesetzten für nötig halten. 3.1 Der äußere Gottesdienst als Inszenierung Es gibt keinen Königsweg, über den Bachs Musik als Teilinszenierung innerhalb des Gesamtereignisses Gottesdienst beschrieben werden kann. Es fehlen uns hierzu Bemühungen zu Bachs eigener Zeit, den Gottesdienst phänomenologisch und ideologisch neutral als öffentlich inszenierte Begehung verstehen zu wollen. Die offizielle Kirche dieser Zeit zeigt sich viel eher darum bemüht, den agendarisch geregelten Kultbetrieb dogmatisch gegen Angriffe von Pietismus und Aufklärung zu verteidigen, die letztlich auf dessen Abschaffung hinauslaufen.26 In meiner Studie habe ich daher auf Modelle der Gegenwart zurückgreifen müssen, die den Gottesdienst in den Fussspuren Friedrich Schleiermachers als „darstellendes Handeln“27 bzw. als Inszenierung oder Performance fassen und systematisieren helfen. Es kann sich dabei natürlich nur um eine heuristische Annäherung an einen historisch nicht näher zu erschließenden Gegenstand handeln. In meiner Werkstatt darf also auch mit Gedanken gespielt werden. Stellvertretend für viele Gottesdiensttheorien der Gegenwart mag Michael Meyer-Blancks Auffassung des Gottesdienstes als „Ineinander von Gottes Werk und der entsprechenden menschlichen Kunst“28 die Verzahnung von Kunst und 24 Siehe Bach-Dokumente Bd. I., S. 19. 25 Siehe ebd., S. 60. 26 „Die faktische Situation des Diskussionsstandes [in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts] ist dadurch gekennzeichnet, daß nicht nur die Notwendigkeit des äußeren Gottesdienstes selbst zur Debatte steht, sondern er von seinen Gegnern darüber hinaus in die Nähe der Absurdität oder zumindest gänzlicher Überflüssigkeit gerückt wird“ (D. Reichert: Der Weg protestantischer Liturgik, S. 254). 27 Siehe Bogun, Ulrich: Darstellendes und wirksames Handeln bei Schleiermacher. Zur Rezeption seines Predigtverständnisses bei F. Niebergall und W. Jetter, Tübingen-Basel: 1998. 28 Meyer-Blank, Michael: „Liturgische Rollen“, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber/Michael Meyer-Blanck/Karl-Heinrich Bierits (Hg.), Handbuch der Liturgie, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2003, S. 780.
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Agende auch zur Bachs Zeit zu systematisieren helfen. David Plüss bringt diesen Zusammenhang mit der Formel auf den Punkt: „Gottes Handeln wird nicht durch das liturgische Geschehen begründet, wohl aber kommuniziert […] Gottes Handeln zeigt sich als menschliches Handeln und an diesem. Die Gottesdienst feiernden Menschen erhalten Anteil am göttlichen Heilshandeln in, mit und unter den liturgischen Vollzügen“.29
Der Rekurs auf Gottesdiensttheorien der Gegenwart wie die von Meyer-Blanck ist nicht einfach nur willkürlich, sondern hilft, experimentell Licht in das seit jeher liturgiehistorisch schwer beschreibbare Feld des eigentlichen Gottesdienstvollzugs zu bringen. Plüss hält hierzu auch fest: „Die konkrete liturgische Praxis wich schon immer von den Vorlagen ab und stiess in Bereiche vor, die liturgietheoretisch noch nicht bearbeitet waren und nur mit zeitlicher Verzögerung oder gar nicht als theoriewürdige liturgische Themen Beachtung fanden“.30
Mit einer solch offen gesteckten Annäherung an die Phänomene Liturgie, Predigt und Kantate, lässt sich erahnen, wie komplementär Bach selbst bereits deren Bezüge untereinander bis hin zur Verschmelzung der Ebenen verstanden und ausgestaltet haben mag, eine Verschmelzung der Ebenen, die sich im berühmtesten seiner Notabenes widerspiegelt: „Beÿ einer andächtig Musig ist allezeit Gott mit seiner Gnadengegenwart“.
4. ZWISCHEN MUSIK UND PREDIGT: DIE KLANGREDE Die Oper, also szenische Musik, ist die Geburtsstunde des Barocks überhaupt.31 Im Kontext des deutschen Barocks hat sich die Anlehnung an die klassische Rhetorik als Modell musikalischer Interaktion zwischen Musiker und Hörerschaft durchgesetzt.32 Die klassischen rhetorischen Aufbauprinzipien gehören denn auch 29 Plüss, David: Gottesdienst als Textinszenierung. Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes, Zürich: TVZ 2007, S. 67. Vgl. auch Josuttis, Manfred: Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1993, S. 149 u.151. 30 D. Plüss: Gottesdienst, S. 302f. 31 Dammann, Rolf: Der Musikbegriff im deutschen Barock, Laaber: Laaber-Verlag 1984, S. 193. 32 Ebd., S. 156ff.
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zum Pensum jedes Lateinschülers, wie Bach selber einer gewesen ist, und können in seinen Werken als strukturgebend vorausgesetzt werden.33 Hier die einzelnen Schritte: 4.1 Inventio Zu Beginn einer Rede steht die Inventio „Erfindung“ oder „zielgruppenorientierte[…] Ermittlung und Sammlung der zugrunde liegenden Aspekte und Fragestellungen“.34 Es geht um die Frage: Was wird z.B. in Bachs Kirchenkantaten durch Librettist und Komponist zum Thema gemacht? Bach kann in dieser Frage nicht einfach frei erfinden. Lehre und Predigt bilden den institutionell vorgeschriebenen „Fundort“ seiner Kantatenmusik. Hierfür kann sich Bach auf seinen Hutter abstützen, den er – wieder als Lateinschüler – auswendig kann. Die Rede ist vom „Compendium Locorum Theologicum“ Leonhard Hutters,35 ein Standardwerk der offiziellen lutherischen Lehre, das von 1610 bis 1855 neu aufgelegt und ergänzt wurde.36 4.2 Dispositio Zur Bestimmung der Dispositio, der Abfolge der einzelnen Schritte, in die eine Rede eingeteilt ist, dienen in den Kantaten die einzelnen Sätze. Das erleichtert in unserem Fall die Bestimmung der einzelnen Redeabschnitte ungemein. In der Mitte der 1980er Jahre haben Ursula Kirkendale37 und Walter F. Hindermann38 33 Lundgreen, Peter: „Schulhumanismus, pädagogischer Realismus und Neuhumanismus. Die Gelehrtenschule zur Zeit J. S. Bachs“, in: Ulrich Leisinger/Christoph Wolff (Hg.), Musik, Kunst und Wissenschaft im Zeitalter J. S. Bachs, Hildesheim /Zürich: Olms 2005, S. 25–38. 34 Neuburger, Rahild: Rhetorik, München: Compact-Verlag 2011, S.15. 35 Hutter, Leonhard: „Compendium locorum theologicorum“, in: Wolfgang Trillhaas (Hg.), Berlin: de Gruyter 1961. 36 Vgl. Hutter, Leonhard: Hutterus Redivivus oder Dogmatik der Evangelisch-lutherischen Kirche. Ein dogmatisches Repertorium für Studierende, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1833. 37 Kirkendale, Ursula: „Bach und Quintilian – Die Institutio Oratoria als Modell des Musikalisches Opfers“, in: Günther Wagner (Hg.), Bachtage Berlin, Vorträge 1970 bis 1981, Neuhausen-Stuttgart: Hänssler-Verlag 1985, S. 249–262. 38 Hindermann, Walter F.: „,Seine Einsicht in die Dichtkunst …‘. Bachs Rhetorik-Verständnis im Spiegel von Quintilians ‛Institutio Oratoria’“, in: Musik und Kirche (1987), S. 284–297.
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in leider wenig beachteten Beiträgen wertvolle Hinweise auf die Dispositio in Bachs Musik geliefert und sich diesbezüglich besonders auf Quintilians „Institutio Oratoria“ abstützen können, die gegen Ende des ersten Jahrhunderts verfasst wurde.39 Während im Proömium, dem Kopfsatz einer Kantate, der behandelte Stoff verhältnismäßig frei und offen dargelegt wird, verdichten sich die folgenden Sätze zur eigentlichen Narratio, die, wie sich die Analyse zu den Kantaten zum 14. Sonntag nach Trinitatis zeigt, in der Form eines Egressus, also in einer Art Abschweifung die Aufmerksamkeit auf fiktive Randfiguren des Geschehens lenkt. Es handelt sich um Ich-Stimmen, mit denen sich die einzelnen Gottesdienstbesuchenden identifizieren können. Dieses Vorgehen für sich genommen ist bereits Andacht: Aneignung biblischer und dogmatischer Inhalte zur Gestaltung des inneren während der Begehung des äußeren Gottesdienstes. Für Verwirrung sorgen immer wieder die Gestaltung der Schlusssätze, in denen Bach oftmals schwere Inhalte musikalisch auf die leichte Schulter zu nehmen scheint. Auch an dieser Stelle hilft die Anlehnung an die klassische Rhetorik: In der Peroratio werden die zuvor behandelten Inhalte rekapitulierend und abschließend, einmal in der Auflistung von Fakten (peroratio in rebus), ein weiteres Mal emotional (peroratio in adfectibus) vor Augen geführt bzw. zu Herzen genommen. Es gilt, das zuvor emotional Durchlebte an dieser Stelle in Erinnerung zu behalten und sich als Teil eines Erkenntnisprozesses anzueignen, nicht aber davon erneut mitgerissen zu werden. Spannend erweist sich die Bestimmung der für Bachs Kantaten typischen Schlusschoräle als die Stimme der Gemeinde aufgreifende Conclusio, dem Redeschluss, in welchem offensichtlich gleichzeitig der liturgische Anschluss an den öffentlichen Gottesdienst gesucht wird: Innerer und äußerer Gottesdienst beziehen sich in Bachs Augen aufeinander, ja, laufen aufeinander zu! 4.3 Elocutio Elocutio. Damit ist die Stufe der Stilhöhen angesprochen: Bleibe ich auf einer schlichten, sachlichen Ebene (docere) oder will ich gleichzeitig mein Gegenüber emotional auf meine Seite ziehen (movere) oder ist es mir darüber hinaus noch darum zu tun, meine eigene Kompetenz herauszustreichen und über den Genuss, den meine Rede hervorruft (delectare), zu überzeugen? – Nach Aristoteles das Stilmittel mit dem stärksten Überzeugungspotenzial. Die Stilhöhen in Bachs Musik unterscheiden zu wollen, ist kein einfaches Unterfangen. Nach welchen Kriterien 39 Quintilianus, Marcus Fabius: „Institutionis Oratoriae libri XII“ in : Ludwig Rademacher (Hg.), (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana, Band 1 und 2), Leipzig: Teubner 1971.
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ist bei der Analyse vorzugehen? Wie sind die Übergänge vom einen zum nächsten Stil zu bestimmen und wie steht es um die Wahrscheinlichkeit eines permanenten Stilhöhenmixes? Wie in der Frage nach der Inventio hilft der homiletische Kontext, in welchem sie aufgeführt wurden. Keine der Sonn- und Festtagspredigten ist erhalten geblieben, die während Bachs Aufenthalt in Leipzig gehalten wurden. Einzig eine Broschüre erbauungsorientierter Zusammenfassungen von Predigtinhalten ist überliefert worden. Sie stammt wieder aus Salomon Deylings Feder und wurde vermutlich Ende 1734 in Leipzig gedruckt und der Gottesdienstgemeinde zum Kauf angeboten. Darin formuliert der Superintendent rückblickend den Inhalt sämtlicher des zu Ende gehenden Jahres gehaltenen Sonn- und Feiertagspredigten in je drei Zweizeilern andachtsbezogen um, die je mit einer Überschrift versehen werden: „I. Eine herrliche Glaubens-Lehre, II. Eine nöthige Lebens-Pflicht, III. Ein süsser Glaubens-Trost“.40 Die Aufteilung der Predigtinhalte in Lehre, Pflicht und Trost, lässt die Anlehnung an die klassischen Stilhöhen docere, movere und delectare annehmen. Vollends unterstreichen die Adjektive diesen Sachverhalt: „Herrlich“ weist auf das göttliche Wort der Heiligen Schrift hin, an das sich der Prediger zu halten hatte. „[N]öthig“ weist auf die bezwingende, moralische Dimension jeder Predigt hin (für movere trifft man in der Literatur auch flectere, bezwingen an). Förmlich verweist das Adjektiv „süss“ auf die letzte Stilhöhe delectare. In meiner Studie habe ich mich an diesen rhetorisch-poetisch-homiletischen Leitfaden Deylings gehalten und dabei viele Übereinstimmungen bis in den Wortlaut hinein zwischen seinen Zweizeilern und den Bachschen Libretti gefunden. Sind die Deylingschen Zweizeiler von diesen Libretti etwa literarisch abhängig? In meinen Augen zeigt der Befund viel eher, dass die Argumentation in Kantate, Predigt und Andachtsliteratur zu dieser Zeit auch über Jahrzehnte hinweg noch dieselben Muster aufweisen und entsprechend als aufeinander verweisend interpretiert werden können. 4.4 Actio Actio. Hier bewegen wir uns u.a. auf dem Terrain der konkreten Affektgestaltung von Text und Musik. Und auch hier stellt sich die Frage nach den Kriterien, nach dem eine solche sich zu richten hat. An dieser Stelle ist es Thomas von Aquins
40 Deyling, Salomon: Herrliche Dinge wurden in der Stadt Gottes geprediget, und in einem Jahr-Gange 1734 der Gemeine zu St. Nicolai in Leipzig auf jedem Sonn- und Fest-Tag I. Eine herrliche Glaubens-Lehre, II Eine nöthige Lebens-Pflicht, III. Ein süsser Glaubens-Trost, Leipzig: Langenheim 1734.
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Modell der „passiones animae“,41 das Abhilfe schafft, wurde es doch von Musiktheoretikern bis ins 18. Jahrhundert hinein rezipiert und somit auch als adaptionsfähig beurteilt.42 Thomas unterscheidet – die antike Affektenlehre aufgreifend und systematisierend – insgesamt elf Affekte bzw. Leidenschaften. Sechs davon bezeichnet er als Grundaffekte. Diese reagieren entweder auf ein positiv wahrgenommenes Objekt (summum bonum) wie dies Liebe, Freude und Sehnsucht tun, oder auf einen negativ konnotierten Gegenstand (summum malum) wie dies Hass, Trauer und Flucht (fuga) voraussetzen. Während sich Liebe und Hass grundsätzlich auf ein Bonum bzw. Malum beziehen, geben Freude und Trauer zu erkennen, dass das geliebte Bonum oder verhasste Malum bereits erreicht wurde. Sehnsucht und Flucht wiederum zeigen an, dass noch ein Abstand zu Bonum bzw. Malum besteht. Bereits diese Unterteilung hilft, begründet zwischen dem Ausdruck von Liebe, Freude und Sehnsucht bzw. Hass, Trauer und Flucht zu unterscheiden und den Übergang von einem Gefühl zum nächsten markieren zu können. Die übrigen fünf Affekte helfen, diese bestimmungsrelevante Unterteilung noch zu verfeinern: Bei der Hoffnung ist der Abstand zum ersehnten Bonum gering, bei der Verzweiflung verständlicherweise eher groß. Umgekehrt lässt sich mit Kühnheit einem Malum begegnen, wenn dieses in weiter Ferne liegt. Hingegen schleicht sich die Empfindung der Furcht ein, wenn sich das Malum in unmittelbarer Nähe befindet. Interessanterweise kennt Thomas einen weiteren letzten Affekt: Den Affekt des Zorns. Dieser legt sich nah, wenn das Malum eingetroffen ist, und man sich damit nicht abfinden kann. Affekte lassen sich nach Thomas also äußeren Gegebenheiten zuordnen, die sie beinahe zwangsläufig auslösen. Diese objektivistische Sicht teilt die Zeit des Barocks noch mit dem Mittelalter und legt uns Heutigen ein verlässliches, wenn auch nicht immer einfach zu handhabendes Interpretationsinstrument in die Hand. In meinen Augen wird der Affektgehalt eines Kantatensatzes heute recht frei und somit unsystematisch interpretiert. Nimmt man sich aber z.B. BWV 11,3 vor, eine Bass-Arie, die Jesu Himmelfahrt aus der Perspektive der Jüngerschaft thematisiert, hilft Thomas von Aquins Modell den Prozess der Affektentwicklung bereits im Libretto recht präzise nachzuzeichnen: Zeile 1: „Ach, Jesu, ist dein Abschied schon so nah?“ Der Affektgehalt ist die Furcht. Der Blick ist auf die drohende „Stunde … da wir dich … lassen sollen“ (Zeile 2 und 3) gerichtet. Zeile 4f: „Ach, 41 Thomas von Aquin: Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica, Graz: 1955, S. 15ff. 42 Siehe Eicken, Alexa: „Der Affektbegriff in der Musik des Barock“ (2000), URL: https:// www.yumpu.com/de/document/view/51809317/der-affektbegriff-in-der-musik-des-barock-les-joyeuxde/5 vom 23.09.2019.
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siehe, wie die heißen Tränen / von unsern … Wangen rollen“. Der Affekt ist die Trauer, mit dem das Malum als eingetroffen erfahrbar gemacht werden soll. Zeile 6 führt in den Affekt der Sehnsucht: „Wie wir uns nach dir sehnen … “. Der Blick löst sich vom Malum Abschied und richtet sich nach einem Bonum, in diesem Fall nach der der Jüngerschaft vertrauten Person Jesu selbst. Doch führt diese affektive Hinwendung zum Bonum in den Einflussbereich der (beinahe vollständigen) Verzweiflung: „Wie uns fast aller Trost gebricht“ (Zeile 7). Hier ist es die schier unüberwindliche Entfernung zum Bonum, die affektiv bearbeitet wird. Die affektive Gestaltung von Zeile 1 zu 7 führt somit durch unterschiedliche Phasen der Trauer, in welcher das Verhältnis der Jüngerschaft zum Malum der Trennung wie zum Bonum Jesus von Zeile zu Zeile poetisch fortschreitend inszeniert und von Bach insbesondere im Accompagnato durch die Traversflöten in unterschiedliche Richtungen hin – mal auf das Malum, mal auf das Bonum gerichtet – vertont werden. Geschickt leitet das „fast“ der Zeile 7 zum hilflosen aber verständlichen Versuch der Verneinung des Unvermeidlichen: Für die Affektgestaltung von Zeile 8: „Ach, weiche doch noch nicht!“ müsste sich deshalb eigentlich der Affekt des Zorns oder, an die Situation angepasst, der Zerknirschung eignen: Wird hier nicht der definitive Abschied beklagt und verneint? Nur richtet die Jüngerschaft ihr Augenmerk an dieser Stelle aber nicht gegen die Trennung, sondern – christlich geschult, das heißt im Glauben – weiterhin auf Jesus, von dem sie sich auf unbestimmte Weise dem offensichtlich unabwendbaren Abschied zum Trotz Hilfe erwartet. Nicht dem Malum wird hier etwa mit Zorn oder mit depressiver Gleichgültigkeit, sondern weiterhin dem Bonum mit (schier) verzweifelter Liebe begegnet, eine Dynamik, die sich vollends in die darauffolgende Alt-Arie entlädt und dazu einlädt, sich mit Salomon Deylings affektgesteuerten „Lebens-Pflicht“ zum „Himmelfahrt-Feste“ auseinanderzusetzen: „Gen Himmel fährt der HErr, klebt ja nicht an der Erden! | Auf! Laßt uns mit ihm ziehn, und Himmels-Bürger werden“.43 Die affektive Bindung an den irdischen Jesus wird vom Satz 7 an definitiv zugunsten einer überhöhten Präsenz Christi unter den Gläubigen transformiert: „Jesu, deine Gnadenblicke | kann ich doch beständig sehn …“ (Satz 8). Anhand eines solchermaßen auf einander abgestuften Gefühlsebenen basierenden Modells lässt sich die Affektgestaltung eines Satzes bzw. einer ganzen Kantate unmittelbar aufführungsbezogen einschätzen und nach homiletischen Kriterien systematisieren.
43 S. Deyling: Herrliche Dinge, S. 19.
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5. ERTRAG „[S]amlung der gedanken auf einen gegenstand, inniges andenken“ (Grimms Lexikon)
Andacht bezieht sich reformatorisch auf eine Begegnung mit Gott im Wort der Heiligen Schrift. Ein Blick in Bachs Studienbibel legt die Methode frei, nach welcher der Komponist diese Begegnung gestaltet, welche Akzente er dabei setzt und wie genau er es mit seiner Wortwahl nimmt. Bereits dies ist Andacht. Über seine Kantatenaufführungen lenkt Bach Gedanken und Emotionen der Gottesdienstgemeinde rhetorisch kompetent und der Lehre seiner Kirche konform auf den die Gemeinde hauptsächlich in der Predigt begegnenden Gott. Diese Begegnung gestaltet er auf der Ebene des individuell zelebrierten inneren Gottesdienstes, indem er seinen Hörerinnen und Hörern Erlebnisräume szenisch erschließt und sie somit in den Modus reflektierter Unmittelbarkeit mit der in der Perikope verhandelten Heilsdynamik versetzt: Idealerweise im erbauungskompetenten Vortrag eines typisierten Ich bzw. Wir partizipiert die Gemeinde an Gottes „Gnadengengenwart“ (vgl. die „Gnadenblicke“ in BWV 11, 8), indem sie dem Pfad einer rhetorischen Abschweifung von der in der Predigt vorgetragenen Auslegung folgt. Und dieser Pfad lässt sich bis in die Actio, das heißt bis in die Dimension der künstlerischen Umsetzung von Text und Vertonung hinein weiterverfolgen, deren Systematik sich bis heute mit Thomas von Aquins psychologischem Modell erschließen lässt. Damit ist meine Werkstattbesichtigung abgeschlossen: Was die Priester auf der Kanzel und am Altar in Bezug auf den äußeren Gottesdienst vollziehen, spiegelt sich an Bachs Pult in Bezug auf den inneren Gottesdienst wider. Die mannigfaltig inszenierten Verweise auf Kanzel und Altar – der jeweils zweite Teil einer Kantate gestaltete sich als Begleitmusik zum Gang der Gemeinde zum Abendmahl – sichert dem Künstler die Augenhöhe mit dem Priesterpersonal, gestaltet er doch über die erbauliche Durchdringung von Auslegung und sakramentaler Begehung gleichzeitig den äußeren Gottesdienst selbstbewusst mit. In der Gestalt seiner Schlusschoräle aber auch über die Einspielung von Choralzitaten, wenn es sich nicht gar um Choralkantaten handelt, „vereindringlicht“ (ein Begriff von Hindermann)44 Bach den subjektiven Nachvollzug dogmatischer und liturgisch normierter Sachverhalte, indem er die zunächst individuell angesprochene Hörerschaft als die ihren Gottesdienst selbst feiernde Gemeinde in Szene setzt. Die Unterschiede zwischen innen und außen, zwischen Priester und Laie verfließen somit unter dem Eindruck einer Kantatenaufführung und das reformatorische Prinzip 44 W. F. Hindermann: Seine Einsicht, S. 287.
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des Priestertums der Gläubigen entwickelt sich für die Hörerschaft zur szenisch greifbaren Wirklichkeit. Andacht erfasst den inneren wie äußeren Menschen ganz und lässt erst recht im Gottesdienst der Gemeinde gesellschaftliche wie liturgiepragmatische Unterscheidungen hinter sich. Kein Wunder, dass unter solchen Voraussetzungen ein ausgesprochener Priester und Gemeindehirt wie Salomon Deyling45 mit Bachs Musik seine liebe Mühe hatte.
45 Vgl. Deylings biblisches Begleitwort zu seiner Sammlung erbaulicher Predigtinhalte: „Mal[e]ach[i]: II, V.7. Des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren, daß man aus seinem Munde das Gesetz suche, denn er ist ein Engel des Herrn Zebaoth.“ (S. Deyling, Herrliche Dinge, S. 3).
„Lachen und Weinen wird gesegnet sein“ – (Sichtbare) Emotionen beim Singen von religiösen Liedern Jochen Kaiser
Mit dem vorliegenden Beitrag wenden wir uns singenden Sängerinnen und Sängern in religiösen Kontexten zu, die Kirchenlieder singen. Die bildliche Ebene erscheint in Videos von Singenden und es geht um die Analyse von sichtbaren Emotionen während des Singens. Es werden keine Musiknoten und ihre rhetorische Interpretation betrachtet, oder Bilder bzw. Filme mit spezieller Musik beispielsweise von Bach analysiert, sondern wir tauchen ein in die pulsierende Lebenswelt gottesdienstlichen Singens. Im Hintergrund steht eine ethnografische Studie, die das Singen in gottesdienstlichen Kontexten untersuchte.1 Ein Schwerpunkt lag bei dieser Studie auf dem emotionalen Erleben. Ethnografisch meint dabei, dass ich mit vier Zugängen, Daten gesammelt habe: a. Ich habe am Singen in den Gottesdiensten und Singveranstaltungen teilgenommen. Ich habe also mit Haut und Haaren die Atmosphären gespürt und war emotional beteiligt. Damit habe ich sehr subjektive Daten gewonnen. b. Direkt nach dem Singen habe ich Interviews oder Gruppengespräche mit Mitsingenden geführt und dadurch mein subjektives Erleben durch die Erzählungen der anderen ergänzt. c. In der zweiten Feldphase hatte ich Fragebögen zu den gesungenen Liedern, die mit einem Polaritätsprofil konstruiert waren. Somit liegen mir entsprechende Daten für 27 der 41 untersuchten Lieder vor. 1 Vgl. Kaiser, Jochen: Singen in Gemeinschaft als ästhetische Kommunikation. Eine ethnographische Studie, Wiesbaden: Springer 2017.
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d. Schließlich habe ich die Singenden auf Video aufgezeichnet, um so die körperlichen, gestischen und mimischen Bewegungen analysieren zu können. Diese Ebene steht bei der Relecture der Studie in diesem Artikel im Zentrum. Gleichzeitig konnte durch die Videoaufnahmen der Sound untersucht werden. Komplexe Geschehnisse können heutzutage kaum noch in umfassende Definitionen verpackt werden. Singen und auch das Singen in gottesdienstlichen Kontexten ist komplex, sodass hier nur eine Eingrenzung vorgenommen wird, die verschiedene zentrale Aspekte des Singens benennt. Singen ist eine kulturelle Aktivität, die auf ästhetische und emotionale Weise Empfindungen und Bedürfnisse durch melodische Klänge beeinflusst und kommuniziert. Singen nutzt die Stimme als körpereigenes Organ, bindet Körper und Geist, Leib und Seele, also den ganzen Menschen, in den Singprozess ein. Singen wirkt auf die Singenden zurück und ebenso auf die Hörenden, die angeregt werden können, einzustimmen. Singen als ästhetisches Erleben kann ein starkes und beglückendes Gefühl der Zusammengehörigkeit hervorrufen. Singen kann positive und negative Gefühle wie Freude und Trauer ausdrücken und diese Gefühle gleichzeitig innerlich bearbeiten. Die Einflussnahme auf den Menschen beim Singen kann fast unbemerkt für negative Ziele missbraucht werden. Singen ist eine wirkungsstarke Macht, die sich einer ethischen Beobachtung nicht entziehen darf. Das Singen im Gottesdienst ist darüber hinaus eine «religiös-bedeutungsvolle Aktivität», denn die Anbetung und Anrufung Gottes wird wirksam und gültig vollzogen. Mit Emotion wird ein psycho-physischer Zustand des Menschen, also ein ganzheitlicher Zustand bezeichnet, der, obwohl er an den Körper des Menschen gebunden ist, ihn auch von außen ergreifen kann, wie in dem Sprichwort „da packt mich die Wut“ noch erkennbar ist. Emotionen sind im vorliegenden Verständnis nicht ohne körperliche Auswirkungen denkbar, weil Emotionen durch Hormone und Botenstoffe im Körper ausgelöst werden. Auffallend ist, dass es in der Geschichte der Zivilisation ein Ziel war, die Emotionen zu beherrschen, um nicht von ihnen beherrscht zu werden. Deshalb ist es üblich, regungslos lauschend in einem klassischen Konzert zu sitzen. Dies gilt auch für viele Gottesdienste. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass in unserer Gesellschaft Emotionen wieder stärker zugelassen und als positiv empfunden werden. So feiern viele Menschen bei der Fussballweltmeisterschaft, beim sog. Public Viewing, körperlich, ausgelassen und begeistert. Dies gilt auch für Pop-Konzerte und sogar für Gospelkonzerte. Deshalb sollte das emotionale Erleben auch bei Gottesdiensten wieder stärker beachtet und zugelassen werden. Bei Kindern sind die Emotionen relativ ungefiltert – jenseits einer sozialen Normierung – zu erkennen, sie drücken diese auch körperlich aus: Schon an der
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Haltung ist zu sehen, ob sie traurig oder fröhlich sind. Wenn sie von Begeisterung gepackt werden, ist kein Halten möglich und auch die Wut schüttelt an ihrem Körper. Ganz anders sieht das beim Singen im Gottesdienst aus. Die Forschungsvideos der Singstudie sind auf dem YouTube-Kanal „Singen im Gottesdienst“ zu finden.2 Wenn diese angeschaut werden und versucht wird, die Emotionen an Mimik, Gestik und Körperhaltung zu erkennen, wird erst deutlich, wie sozial genormt und für mich auch emotionslos in der Kirche gesungen wird. Denn wirkliche Freude und gedrückte Trauer drücken sich auch bei Erwachsenen körperlich aus, so meine Überzeugung. Deshalb kann quasi im umgekehrten Weg durch körperliche Aktivität emotionales Erleben angeregt und unterstützt werden.
1. GESUNGENE LIEDER UND SICHTBARE EMOTIONEN Aus der Singstudie werden drei Beispiele ausgewählt, die zeigen, wie Emotionen und das Singen von gottesdienstlichen Liedern zusammenspielen können. Keines dieser Beispiele stammt aus einem gefeierten Gottesdienst. In der Studie wurden 41 gesungene Lieder untersucht, die in neun Gottesdiensten bzw. Singveranstaltungen gesungen wurden. Davon wurden neun Lieder und ein Psalm mit Kehrvers in vier Gottesdiensten gesungen. Sie wurden eher wenig emotional gesungen. Kirchenlieder, ob alt oder neu, können, so die Ergebnisse, emotional und körperlich gesungen werden, doch in vielen Gottesdiensten geschieht dies (noch) nicht. Die drei ausgewählten Beispiellieder nehmen verschiedene Aspekte auf: Auf dem Kirchentag in Hamburg (2013) wird der Wandel von angeregt zu beruhigend mit zwei aufeinander folgenden Liedern gezeigt. Die Singveranstaltung dort hatte den Titel «Summen – Singen – Shouten» und wollte Lieder aus unterschiedlichen Epochen und Stilarten jeweils musikalisch adäquat begleiten. Deshalb wurde das Singen von einer Band, einem Streicherensemble, einem Chor, einer Bläsergruppe und/oder einer Orgel begleitet. Es gab auch noch einen Ansingechor und teilweise wurde a cappella gesungen. Diese Demonstration gottesdienstlichen Singens passte ideal zu meiner Fragestellung. Es wurden gottesdienstliche Lieder gesungen, aber in einem speziellen Setting, das weniger rituell gefasst war als ein Sonntagmorgengottesdienst. Deshalb war es wahrscheinlich, dass Emotionalität einfacher erlebbar sein würde.
2 Es wird empfohlen, die im Folgenden analysierten Lieder dort anzuschauen. Es könnte das Verstehen fördern.
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Auf dem „Deutschen Evangelischen Chorfest“ (2014) in Leipzig, gab es einen Workshop «Kreatives Gemeindesingen mit Gesangbuchliedern». Auch dieses Setting entsprach geradezu idealtypisch meinem Forschungsansatz, denn es handelte sich um traditionelle Kirchenlieder, die durch die Singweise mit ungewohnten musikalischen Ideen neu und überraschend klangen. Aus dieser Singveranstaltung wird ein klassischer Choral untersucht, der von den Singenden sehr fröhlich erlebt wurde. Schliesslich wird ein Song vom Gospelkirchentag in Kassel (2014) analysiert, der mit Klatschen und modernem Sound gesungen wurde. Gospel ist eine Form der Kirchenmusik, die aus anderen Kulturen (amerikanischen oder auch afrikanischen) in Europa und Deutschland angekommen ist. In den letzten 20 Jahren sind viele Gospelchöre entstanden, die andere Qualitätskriterien haben als Kirchenchöre und Kantoreien. Beim Gospelsingen sind körperliche Bewegungen selbstverständlich. Die sog. MassChoir sind eine Institution auf den Gospelkirchentagen und begeistern die Gospelfans, weil fast 5.000 Singende eine unglaubliche Klanggewalt entfalten. Das hat natürlich auch mit Massenwirkung zu tun.
2. EMOTIONALER WANDEL BEIM SINGEN Auf dem Kirchentag in Hamburg im Jahr 2013 beobachtete ich neben «Summen – Singen – Shouten» auch noch ein Offenes Singen und sprach anschliessend mit Singenden. Eine Frau erzählte mir spontan und unreflektiert, wie sie das Singen erlebt hatte: „Ich bin ganz fröhlich geworden“. Auf der Videoaufzeichnung fand ich sie und konnte über die knapp 90 Minuten ihre körperliche, mimische und gestische Veränderung mitvollziehen: Beim ersten Lied – es war auch eher ruhig vom Charakter – flossen wohl sogar einige Tränen, doch dann trug das Singen sie heraus aus der betrübten Stimmung und am Ende ist nicht nur der Kopf gehoben, die Augen offen, sondern sie lacht und nimmt Kontakt zu ihren Mitsingenden auf. Deshalb: Singen regt Emotionen an, bearbeitet sie und verhilft zu frohen Momenten. Die Musikpsychologie unterscheidet zwei Einstellungen, die hier anknüpfen: Die betrachtende und die aufnehmende Einstellung. In dieser Unterscheidung leuchtet eine Idee von Moritz Geiger auf. Die betrachtende Einstellung ist distanzierter: Man erkennt, dass eine Melodie heiter ist, aber diese Melodie bleibt dem Ich ein Fremdes. Aufnehmende Einstellung meint, dass das wahrnehmende Subjekt sich in den Gegenstand versenkt. Das Geschehen (Singen) „reicht irgendwie hinein in unser subjektives Erleben.“3 Geiger gebraucht unterscheidend auch Gefühlscharakter für die betrachtende Einstellung und Erleben für die aufneh3 Vgl. Geiger, Moritz: „Zum Problem der Stimmungseinfühlung“, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 6 (1911), S. 1–42, 27.
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mende Einstellung.4 Das gottesdienstliche Singen sollte von der betrachtenden zur aufnehmenden Einstellung entwickelt werden. Die betrachtende Haltung hat auch immer etwas Beurteilendes, denn wir hören die Musik, spüren die Atmosphäre und beurteilen ob sie fröhlich oder traurig ist, ohne dass wir uns davon beeinflussen lassen. Wenn wir uns mehr auf das Erleben einlassen, dann werden wir lachen mit den Fröhlichen und weinen mit den Traurigen. Gerade Musik hat das Potenzial, emotionale Stimmungen erfahrbar werden zu lassen. Beim Kirchentag in Hamburg sangen wir bei der Singveranstaltung «Summen – Singen – Shouten» im Stehen und mit viel Schwung „Die güldne Sonne“. Es war ein sonniger Tag und es waren viele Singbegeisterte versammelt. Die Anleitung des Singens war vielfältig – Posaunenchor, Band, Orchester, Chor, Orgel und a cappella – und wir hatten Freude an diesem beschwingten Dreiertakt. Dies ist im Video zu sehen und zu hören. Danach setzten wir uns wieder auf die Papphocker und der Singleiter führte zum nächsten Lied. Er sagte: „Das folgende Lied ist ein wirklicher Kontrast. Es ist ruhig, leise, etwas dunkel und es hat einen norddeutschen Geschmack. Die Melodie ist von einem schwedischen Volkslied.“ Dann lernten und sangen wir „Der Lärm verebbt“. Zum Lernen auf die Tonsilbe „du“. Die Atmosphäre änderte sich unmittelbar. Die gerade noch fröhlich schwingend Singenden saßen still und regungslos. Der gerade noch anregende Klang war nun dunkel leuchtend und beruhigend. Dies war besonders bei der letzten Version – wir sangen beide Strophen und zum Abschluss eine a cappella-Strophe auf „du“ – zu spüren. Es sangen 1800 Sängerinnen und Sänger, die sich vorher noch nie zum gemeinsamen Singen getroffen hatten, doch es klang einheitlich, beruhigend und zuversichtlich. An einer Person ist der Wandel der Stimmung besonders gut zu beschreiben. Ein Mann saß neben seiner Frau und sang eigentlich nicht mit. Vielleicht war er nur mitgekommen, weil er gerne mit seiner Frau etwas machen wollte, doch das bleibt Spekulation. Bei „Die güldne Sonne“ war er mit aufgestanden, hielt die Hände wie ein Fussballer vor dem Körper verschränkt, auch wenn die Finger einige Mal den Dreierrhythmus klopften und er sogar den Mund bewegte, wahrscheinlich bei einigen Worten, die er auswendig kannte bzw. die ihn mitrissen, sodass er einstimmte. Er ist offen und steht gelöst da und ist durch kleine körperliche Bewegungen beteiligt. Bei zwei anderen Songs, die einen deutlichen Beat hatten, klopfte er diesen mit. Als dann das Lied „Der Lärm verebbt“ anfängt, dauert es nur einige Momente und er sitzt entspannt auf dem Hocker. Dieser hat keine Lehne, sodass er sich behilft, indem er die Hände um ein Knie herum faltet und sich dadurch entspannt zurücklehnen kann. Körperlich wird der Wandel in Stimmung und Klang bei ihm sehr gut erkennbar: Angeregt stehend und etwas mitschwingend, doch dann ruhig und entspannt sitzend. Daran wird 4 Vgl. ebd., S. 33.
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deutlich, dass auch hörend die musikalische Stimmung Wirkung auf die Anwesenden haben kann. Wenn die Stimmung beim Singen in einer größeren Gruppe fröhlich und ausgelassen ist, dann könnte es sogar sein, dass man mitgerissen wird und einstimmt. Bei den Singenden ist zu sehen, wie sie offen und heiter „Die güldne Sonne“ singen und dann deutlich beruhigt werden durch „Der Lärm verebbt“. Ein sichtbares Merkmal dafür ist beispielsweise, dass zwei der Singenden – für die Auswertung wurden ungefähr sechs Singende intensiv über die ganze Singveranstaltung beobachtet, um eine zuverlässige Interpretation der körperlichen Aktivitäten analysieren zu können – gegen Ende des Liedes gähnten. Dieses Gähnen bedeutete nicht Langeweile, sondern zeigte die entspannende Atmosphäre an. Ebenso ist die Gesamtbewegung der Singenden zwischen „Die güldne Sonne“ und „Der Lärm verebbt“ deutlich beruhigt. Das Video wirkt beim letzteren fast wie ein Standbild.
3. KLANGLICHE FRÖHLICHKEIT Ein weiteres Lied soll vorgestellt werden: „Gen Himmel aufgefahren ist“, das in Leipzig bei einem Singworkshop im Rahmen des Deutschen Evangelischen Chorfestes gesungen wurde. Es erklangen in den zwei Stunden des Workshops viele klassische Kirchenlieder mit neuen experimentellen musikalischen Ideen. Es hatten sich fast 300 Singende eingefunden, die diesen Workshop ausgewählt hatten. Es fanden viele weitere Workshops mit unterschiedlichen Themen zeitgleich statt. Das nächste Lied ist (Evangelisches Gesangbuch 119) „Gen Himmel aufgefahren ist“. Wir singen eine Strophe, da es nicht sehr bekannt ist; es ist ein Himmelfahrtslied und wird ausschließlich an diesem Tag gesungen und auch da nicht jedes Jahr. So war dieses vorsichtige Kennenlernen oder Wiedererinnern sinnvoll. Von den 14, die dieses Lied auf dem Fragebogen bewerteten, kannten es fünf nicht, vier kannten es und fünf machten keine Angaben bei dieser Frage. Die Melodie wurde von Melchior Franck komponiert. Sie zeigt bildlich und bildet klanglich die Himmelfahrt nach. Das Allumfassende der Oktave wird durch das erste Halleluja noch überschritten und darin kommt große Freude zum Ausdruck. Dann stehen wir auf und singen alle Strophen des Liedes im Stehen. Dieses Stehen, bei dem wir auch noch darauf achten sollen, dass wir genügend Platz haben – einige treten aus der Bank – ist angenehm, nachdem wir schon fast eine Stunde in den Kirchenbänken gesessen haben und nur bei einem vorherigen Lied kurz aufgestanden sind. Wir stehen relativ ruhig. Einige halten das Gesangbuch weiter in der Hand und schauen beim Singen hinein, sodass sie nach unten blicken, andere halten sich an der Vorderbank fest, einige halten das Buch hoch und bei einigen steht das Evangelische Gesangbuch auf der Gesangbuchablage.
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Das Tempo ist unglaublich langsam – auf Viertel! Ich möchte viel schneller singen und es stört mich diese Gemächlichkeit. Lauscht man dem Sound, fällt einem das ruhige Tempo nicht so auf, aber der schwungvolle Dreiertakt ist nicht zu hören oder fühlen. Der Rhythmus der Melodie wechselt zwischen 6/4 und 3/2, doch in dieser Version merkt man dies überhaupt nicht. Dieser Wechsel ist schon in der Dichtung angelegt, denn diese wechselt zwischen Daktylus und Trochäus. Die Melodie erklingt im Legato, fast kein Absetzen ist zu hören, selbst bei der Punktierten nicht. Nun folgen einige Erklärungen, etwas langwierig, aber sie geben eine Deutung der Melodie vor, die die Himmelfahrt Christi nachzeichnet, wobei das Halleluja am höchsten ist, fast schon im Himmel. Bei diesem hohen Halleluja sollen wir die Augenbrauen hochziehen und lächeln, damit wir den Ton gut bekommen und er möglichst hell klingt. Einige bemühen sich nun sehr, das Halleluja mit hochgezogenen Augenbrauen zu singen. Sie sind sehr motiviert. Einige versuchen es etwas, andere singen weiter wie vorher, vielleicht mit etwas offenerem Mund. Manche spüren, dass sie dem Anspruch der Leiterin nicht gerecht werden, und reagieren darauf z. B. mit Kopfschütteln. Die ungewöhnliche Mimik verschwindet bei den folgenden Strophen zusehends. Wir singen die erste Strophe mit hellem und weichem Klang, der sich trotz der Anregungen der Leiterin nicht deutlich verändert. Allerdings tönt das hohe Halleluja nun sehr gut zusammen und klingt sehr einheitlich. Dieses Halleluja bildet einen Schwerpunkt für die Aufführung, denn es soll entsprechend der Strophennummer, bei der zweiten zweimal, bei der dritten dreimal etc., wiederholt werden. Es soll improvisiert werden. Das gefällt mir, allerdings löst es auch Heiterkeit aus, wenn ich zu verrückte Töne singe. Doch bei diesem Halleluja sind wir alle begeistert, das langsame Tempo ist vergessen. Zum ersten Mal spüre ich ein „Gruppen-Feeling“. In vielen Liedern gibt es für die einzelnen Stimmen unterschiedliche Einsätze und das erfordert Konzentration. Hier kann man einfach lossingen und spürt deshalb das Gemeinsame und Fröhliche. Es ist sehr anregend, so zu singen. Bei den Strophen bewegen wir uns etwas im ruhigen, wiegenden Rhythmus, aber bei den improvisierten Hallelujas verschwindet die Bewegung und wir sind ganz ruhig und konzentriert und lauschen auf den Klang. Dafür löst sich der Blick von vielen vom Buch und wir schauen zur Leiterin; das hilft auch, um zu wissen, wie oft wir das Halleluja wiederholen. In der Kirche nehme ich viele spannungsvolle Töne wahr, aber auf dem Video ist ein Schwarm von Tönen zu hören, in der Art eines Klangteppichs; daraus treten die Harmonietöne von F-Dur deutlich erkennbar hervor. Der Klang ist laut, aber doch eher weich. Die Harmonik ist modern und in den improvisierten Hallelujas komplex. Obwohl der Rhythmus so wenig beachtet wird, ist das Singen anregend und fröhlich und die Singenden sind sehr aktiv (fast 2/3 auf der höchsten Stufe). Störend sind die langwierigen Erklärungen vor der 5. Strophe, sodass es nun schwierig wird zu wissen, wie viele Hallelujas man hat; dass man die Finger hinter dem Buch oder am Bein verstecken kann. Es hätte gereicht zu sagen: Nehmen Sie die Finger zu Hilfe. Andere finden die Anregungen lustig, lachen, vielleicht auch aus Verlegenheit, drehen sich nach hinten um und schauen zu den Nachbarn. Doch dann, im Singen, ist die Kirche vom Klang
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erfüllt und ich mache fröhlich mit. Einige zählen tatsächlich die Hallelujas gut sichtbar an den Fingern ab. Allerdings verändert sich der Klang ab der zweiten Improvisation kaum noch. Er wird vielleicht etwas einheitlicher und harmonischer. Die Singenden haben einen hellen, weichen und fröhlichen Stimmklang und der Sound ist kraftvoll. Kaum ist der letzte Ton verklungen, klatschen einige Beifall – es hat also auch anderen gefallen! Viele lächeln und sind begeistert, was sich im Klatschen ausdrückt. Das Klatschen fällt auf, weil sonst nicht geklatscht wurde. So werden Zufriedenheit und Gefallen bekundet.5
Für unser Thema der sichtbaren Emotionen ist die Körperlichkeit zentral. Körperliche Bewegung unterstützt emotionales Erleben. Deshalb ist das Ergebnis des Singens „Gen Himmel aufgefahren ist“ überzeugend: Es wurde als sehr fröhlich erlebt, 64,3% gaben an, dieses Lied als sehr fröhlich und 21,4% als fröhlich erlebt zu haben. Es ist das einzige Lied (von 27), das als sehr fröhlich erlebt wurde (MW 4,43 auf einer Fünfer-Ratingskala), obwohl es keinen deutlich spürbaren oder gar durch die Singenden produzierten Beat hatte. Es arbeitete mit dem Klang und der kreativen Improvisation der Singenden. Die Fröhlichkeit wurde unterstützt durch körperliche Aktivität, die von der Singleiterin angeregt wurde: Wir standen auf, jede und jeder sollte etwas Platz für sich haben, die Melodie zeichnete das Thema, die Himmelfahrt Jesu nach, dafür wurde eine ganze Oktave als Tonleiter aufwärts gesungen. Die Oktave umfasst alle möglichen Töne (im abendländischem Musiksystem) und danach folgen nur Wiederholungen der gleichen Töne. Das „Halleluja“ dieses Liedes überschreitet die Oktave, es erklingt noch eine Stufe höher, also „fast schon im Himmel“, wie die Singleiterin interpretierte. Wir sollten bei den hohen Tönen die Augenbrauen hochziehen und Lächeln, damit ein heller Klang entstand. Am Ende – dies war einzigartig in den zwei Stunden des kreativen Gemeindesingworkshops – brauste spontanes Klatschen als Ausdruck der Begeisterung auf. Dieser Beifall könnte irritieren, weil wir ja alle zum Gelingen des Singens beitrugen. Es drückte für mich die Freude des Singens aus, die Freude über den gelungenen Mut, zu improvisieren, darin kam auch das Gefühl der Spannungslösung nach diesem gewagten Experiment zum Ausdruck oder einfach: Wir waren begeistert vom Singen und der Performance und wollten dies nonverbal mitteilen.
5 J. Kaiser: Singen in Gemeinschaft, S. 312–314.
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4. BEGEISTERTES SINGEN, KÖRPERLICH UND RHYTHMISCH Auf dem Gospelkirchentag in Kassel gab es an zwei Vormittagen einen sogenannten „MassChoir“, bei dem zwischen vier- und fünftausend Gospelfans unter Leitung von namhaften Gospelchorleitern sangen. Das waren Stunden voll Energie, Freude und Gemeinschaft. Der Song heisst „Now is a good time to praise the lord“ und analysiert wird das Singen während des zweiten MassChoir. Die zweite Strophe wird mit dem schon bekannten Klatschrhythmus begleitet. Wir sollen „stop on how, start on now“ anwenden. Der Singleiter fordert unsere Antwort „now“ heraus und als sie zu leise ist, müssen wir sie lauter wiederholen. Das ist eine bekannte Taktik, aber für mich doch gewöhnungsbedürftig. Das Klatschen bringt sound- und aktivitätsmäßig eine große Veränderung, denn nun sind wir bewegt und bewegen uns auch selbst. Auffallend ist, dass die Masse sich sehr einheitlich bewegt, geradezu synchron. Nur bei der verordneten Pause gerät die Gleichmäßigkeit durcheinander, z. B. klatschen einige einfach weiter, auch wenn die Pausenklatscher sehr inaktiv und leise aussehen. Der Neueinsatz ist wiederum nicht einheitlich, einige setzen einen Schlag zu spät ein. Hier zeigt sich, dass auch das lautstarke Einfordern des „stop on how, start on now“ nicht wirklich funktioniert. Das Singen ist einfach toll, weil man so die Gemeinschaft spürt. Klanglich ist die Unterbrechung des geklatschten Rhythmus‘ sehr effektvoll, denn nun steht der Klang im Vordergrund und der Rhythmus wirkt wie angehalten. Die Frauen sind viel beweglicher als die Männer, sie klatschen mehr aus dem ganzen Körper, während die Männer nur die Arme bewegen. Der Sound verändert sich, er ist nun sehr energiegeladen und anregend. Trotz etwas weichem und mittel lautem Klang sind wir etwas überwältigt und sehr aktiviert. Es macht auch richtig Spaß zu singen, vor allem, weil wir endlich mal alle gleich von Anfang an zusammen singen können. Zu Beginn der dritten Strophe sagt der Singleiter etwas ins Mikrofon und sofort stoppt das Klatschen, welches er aber gleich wieder in Gang setzt. Bei der vierten Strophe singen wir leiser und auf dem „how“ hält der Singleiter wieder lange den Ton aus. Der Chor klingt hell und strahlend. In der Pause hört man einen Juchzer. Danach geht die Post noch einmal ab, weil wir häufiger „the time to praise is now“ wiederholen, mit fröhlichem Klatschen und ich habe das Gefühl, etwas entfesselter als vorher zu sein. Das ist auch zu sehen, denn nun werden die Bewegungen, besonders von den Frauen, fast tänzerisch. Dieser Song ist total anregend und man hat ein fröhliches Empfinden. Dann drei langsame Akkorde und kraftvoll wird der letzte Ton ausgehalten. Ein herrlicher und kraftvoller Klang. Klang und Bewegungen passen gut zusammen. Immer wenn es fröhlich rhythmisch klang, bewegen sich die Singenden und in den langen klangvollen Akkorden stehen sie ruhig. Klang und Bild wirken synchron. Gospel drückt genau meine Gefühle und
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mein Leben aus, weil es mal fröhlich und schnell und dann wieder gehalten und langsam ist, diese Mischung macht es aus. Das Singen dieses Songs war total angenehm, hat mir sehr gefallen und ich bin zufrieden, weil man auch die Gemeinschaft spüren konnte.
Faszinierend an dieser Erlebniserzählung ist die Einheit von Klang und Bewegung, denn bei anderen Kirchenliedern, z.B. in Gottesdiensten ist der Klang auch kräftig, aber er passt nicht zu den gekrümmten und bewegungslosen Körperhaltungen der Singenden. Der begeisternde Ausdruck bei den MassChoirs hatte auch mit den vielen Singenden zu tun. Es sangen viele Gleichgesinnte, sie waren geborgen in der Masse. Das beflügelte den emotionalen Glaubensausdruck. Traurigkeit war hier kaum zu spüren, denn diese Klanggewalt, dieser packende Rhythmus und der gemeinsame Tanz verscheuchte alle Melancholie, sodass Juchzer zu hören waren.
5. FAZIT Eine Emotionalität, die die Körperlichkeit ausschließt, ist nicht echt. Die evangelischen Gottesdienste betonen das Hören und Verstehen der Glaubensbotschaft in Lesung und Predigt. Die körperlich-emotionale Ebene wurde (bzw. wird) über lange Zeit vernachlässigt. Die Anregung von Emotionen beim Singen im Gottesdienst ist von mir nicht nur wissenschaftlich untersucht worden, sondern in der Praxis vieler Gottesdienste erprobt und in dem Buch „Frisch gesungen“ mit SingIdeen auf viele Lieder übertragen worden.6 Deutlich wurde bei meinen praktischen Singanleitungen, dass die regungslose Haltung als typische Haltung der Rezeption in klassischen Konzerten und Gottesdiensten über Jahrhunderte eingeübt wurde. Körperliche Aktivität soll reduziert werden, deshalb sitzen wir in Gottesdiensten und die Kirchenbänke sind häufig noch zusätzlich einengend. Um diese Haltung aufzubrechen, bedarf es langmütiger Geduld. Es bedarf der Einübung und des Mutes, um von einer beurteilenden zu einer erlebenden Haltung zu wechseln. Die Musik soll nicht nur rational betrachtet werden, sondern sie soll auf uns Wirken und unsere Stimmung beeinflussen. Das braucht wirklich Mut, denn die Wirkung ist weder herstellbar noch kontrollierbar, doch unsere Gottesdienste würden dadurch vielleicht etwas lebendiger werden. Dann, wenn wir die Emotionen zulassen, können wir herzhaft und fröhlich Lachen und auch mitleidsvoll – nicht im Sinne der Ungeduld des Herzens (Stefan
6 Vgl. Kaiser, Jochen: Frisch gesungen. Sing-Ideen für die Gemeinde zu allen Wochenliedern der neuen evangelischen Leseordnung, Mainz: Schott 2018.
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Zweig) – traurig sein. Emotionalität und kognitives Verstehen ist dabei auch kein Entweder-Oder, denn beide Zugänge sind schön und wichtig. Für unsere Gottesdienste brauchen wir eine Schule des körperlichen Ausdrucks, womit nicht die Agierenden, sondern die Gottesdienstteilnehmenden gemeint sind. Bei meinen Singexperimenten fiel auf, dass die Singenden dann Bewegungen und sogar Tanz mitmachen, wenn es inhaltlich begründet ist. Wenn das Thema in einem Gottesdienst der Auszug Abrams aus seiner Heimat (Genesis 12) ist, dann leuchtet es ein, das beim folgenden Lied der erste Schritt mit Abram gemeinsam gemacht wird. Es ist dann halb (Schau-)Spiel und halb Ernst, ich gehe halb als Abram und halb selbst den ersten Schritt. Doch ich bewege mich und dadurch wird es echt. Ich spüre die Spannung des ersten Schrittes, der für jeden Aufbruch, auch in meinem Leben notwendig ist. Abschließend soll noch ein Ergebnis der Sing-Studie erklärt werden. Die Emotionalität einer Gesellschaft verändert sich im Laufe von Jahrhunderten. Die Emotionalität ist nicht wie die Kleidermode, die von Jahr zu Jahr wechselt, aber über Jahrhunderte gibt es Veränderungen. So können wir die Emotionen des Gregorianischen Chorals nicht mehr einfach verstehen – vielleicht auch, weil er heute anders gesungen wird, als vor 800 Jahren. Um das Erleben von Emotionalität zu fördern, kommt es auf die Art und Weise des Singens an. Ein altes Kirchenlied ist nicht einfach fröhlich, sondern wie es musiziert wird – Tempo, Klangfarbe, Rhythmus etc. – entscheidet über den emotionalen Ausdruck. Beispielhaft wird dies am Lied „Jesu, meine Freude“ demonstriert. Das Lied spricht von Freude und von bangem Herzen. Es ist das Hauptlied des Sonntages Lätare, also mitten in der Passionszeit. Nun könnte für die erste Strophe die Zeile „ach, wie lang, ach lang ist dem Herzen bange und verlangt nach dir“ als Stimmungsvorgabe genutzt werden. Dieser Text seufzt, er benennt das bange Herz, das sehnsüchtig nach Jesus verlangt. Um dies musikalisch zu unterstützen, wird vielleicht etwas tiefer, in H-Moll (also A dorisch) gesungen, langsam, leise und bei jedem Atemzeichen, wird die Schlussnote lange ausgehalten. Es entsteht eine große Ruhe. Spannungsvoller wäre es, wenn die Gemeinde in zwei Gruppen singt: Die erste beginnt und hält den letzten Ton der ersten Zeile (vielleicht braucht es dann längere Zusammenhänge) als Bordun so lange aus, bis die zweite Gruppe die erste Zeile gesungen hat. Dann beginnt sie mit dem zweiten Abschnitt, während die zweite Gruppe den Bordun hält. Wieder den letzten Ton aushaltend und die zweite stimmt die Melodie an und singt etc. Hier würde durch die spannungsvollen Klänge zwischen Bordun und Melodie die Sehnsucht stärker ausgedrückt werden, allerdings ist diese Zweistimmigkeit für manche Gottesdienstgemeinden eine hohe Anforderung. Sobald die Konzentration auf das richtige Singen ausgerichtet ist, wird die Sehnsucht und Spannung, also die Atmosphäre von den Singenden nicht mehr wahrgenommen.
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Ganz anders erklingt dann die 6. Strophe: „Weicht, ihr Trauergeister“. Es wird einen (halben) Ton höher gesungen, das Tempo ist deutlich schneller, es wird auf 2 und 4 geklatscht, also Offbeat geklatscht, was vorwärtsdrängend wirkt – während auf 1 und 3 eher statisch ist – und es könnte sogar noch der Gospelschritt getanzt werden. Nach der bangen Sehnsucht, erklingt nun der Freudenmeister, der mitten unter uns im Gottesdienst ist. Das Singen in dieser emotional anregenden bzw. beruhigenden Weise, zeigt sichtbare Veränderungen bei den Singenden, was auf unterschiedliches emotionales Erleben schließen lässt und dem Singen als religiöse Praxis eine emotionale Dimension hinzufügt.
Musik erzählt eine eigene Geschichte Werke von Johann Sebastian Bach als Filmmusik zwischen Blockbuster und Arthauskino Klaus-Dieter Kaiser
Drei Hinweise sind vorab nötig. Erstens ist der Verfasser dieses Textes weder Musikwissenschaftler, geschweige denn Bachexperte, noch Filmwissenschaftler. Die folgenden Ausführungen sind die eines Theologen und eines Cineasten. Es dominiert also eine rezeptionsästhetische Perspektive. Zweitens kann der folgende Text nur bedingt die Erkenntnisse des Vortrages auf der wissenschaftlichen Tagung der Universität Rostock „Bachzitate: Widerhall und Spiegelung [Bild & Klang3]“ vom Mai 2019 wiedergeben, da gleich zwei wichtige Medien nicht zum Tragen kommen: Die Leserin und der Leser müssen sich mit dem geschriebenen Wort zufrieden geben, aber es ist keine Musik zu hören und es sind keine bewegten Bilder (Filmausschnitte) zu sehen. Erst recht fehlt so das Wahrnehmen der Korrespondenzen zwischen Bildmotiven und Musikmotiven. Deshalb werden einerseits der Schwerpunkt der Ausführungen stärker auf den theoretischen (musikwissenschaftlichen, filmwissenschaftlichen und ästhetischen) Prämissen liegen und andererseits die geschilderten Film-Musik-Beispiele mit der Erinnerung an früher Gesehenes und Gehörtes bzw. der Fantasie rechnen müssen. Drittens einige Hinweise zur Gliederung des Vortrages, die auch die des Aufsatzes ist. Dabei werden musikalische Begrifflichkeiten genutzt, die auch in den Werken von Johann Sebastian Bach eine große Rolle spielen. In einem einleitenden Kapitel (1), „Präludium“1 genannt, werden anhand eines Filmbeispiels 1 Also eine Einstimmung und Orientierung im Sinne des lateinischen „paeludere“ (zur Probe spielen): es soll die Aufmerksamkeit wecken und auf das Folgende vorbereiten.
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grundlegende Fragen zum Verhältnis zwischen Musik und Film als zwei zu unterscheidende Kunstgattungen mit einer je eigenen Ästhetik benannt und die jeweils dienende Funktion der einen über die andere thematisiert. Im Film Se7en von David Fincher aus dem Jahr 1995 begegnen sich Thriller-Motive des Genrekinos mit namhaften Schauspielern und ethische Diskurse über das Böse mit religiösen anklängen. Dazu der Einsatz der Musik von Johann Sebastian Bach an entscheidenden Stellen des Films. Es geht um das Erhabene. Der Hauptteil, „Toccata & Fuge“ genannt, besteht dann aus zwei Teilen. In einem Kapitel, „Toccata“2 genannt, wird (2) eine Theorie der Filmmusik entfaltet. Es geht um das Verhältnis der Bild- und Tonspuren, um die Frage nach der Eigenständigkeit von Musik und bewegten Bildern sowie um die verschiedenen Funktionen der Musik im Film. In einem weiteren Kapitel, „Fuge“3 genannt, werden (3) anhand von Filmbeispielen die Vielfalt der Bezüge zwischen unterschiedlichen Werken von Johann Sebastian Bach und Filmen unterschiedlicher Genres aufgezeigt. Zuletzt (4), „Coda“4 genannt, folgt ein Fazit.
1. PRÄLUDIUM: DAS ERHABENE SEHEN UND HÖREN In einer verregneten amerikanischen Großstadt jagen zwei Polizisten einen Serienmörder. Die beiden Figuren werden als gegensätzliches Paar konstruiert; eine gängige Konstellation in Polizeifilmen und Thrillern. Der eine ist der ältere, ruhige, erfahrene und zugleich vom Leben gezeichnete Polizist William Somerset (gespielt vom amerikanischen Schauspieler Morgan Freeman). Ein Schöngeist, ein Vertreter der sogenannten Hochkultur und zugleich desillusioniert angesichts der dunklen Seiten der Welt. Einsamkeit zeichnet sein Leben aus, der gleichförmige Rhythmus eines Metronoms gibt den Takt vor. Erlösung kann es nicht geben, nur das Bemühen, die Welt etwas erträglicher zu machen. Daneben die Figur von David Mills (gespielt von Brad Pitt). Er verkörpert den jungen, draufgängerischen Polizisten; ist verheiratet und seine Frau ist schwanger. Ihn drängt es, Gerechtigkeit herzustellen. Beide jagen sie den einen Serienmörder namens Vgl. Dahlhaus, Carl/Eggebrecht, Hans Heinrich (Hg.): Musiklexikon (=Brockhaus Riemann, Band 3), München: Piper 1989, S. 322f. 2 Es geht um das Zusammenspiel von Ordnung und Freiheit, um Unterscheidungsleistungen mit Blick auf das Thema zu erbringen. Vgl. ebd., Band 4, S. 245. 3 „Die Bauweise der Fuge entzieht sich jedem Versuch einer allgemeingültigen Bestimmung.“ (ebd., Band 2, S. 86) Es geht hier um die Vielfalt der Beispiele. 4 Ein Anhang, italienisch für „Schwanz“, also ein „Satzteil, der an die obligatorischen Formteile angefügt ist.“ (ebd., Band 1, S. 261).
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John Doe5 (gespielt von Kevin Spacey), der aber eigentlich sie jagt. Sie kommen ihm über sein Ausleihverhalten in der öffentlichen Bibliothek der Stadt auf die Spur. Zentral sind bei seinen Verbrechen die sieben Todsünden, die Doe mittels seiner Opfer inszeniert: Völlerei, Habgier, Trägheit, Wollust, Hochmut, Neid und Zorn6. Er hatte sich vor allem entsprechende Bücher der abendländischen Kultur ausgeliehen, die sich mit den Todsünden befassten. Wie die Figur von Somerset leidet er an der gefallenen Welt und dem maßlosen Begehren der Menschen. Doe selbst steht für den Neid; Mills aber, wie sich am tragischen Schluss des Films zeigt, für den Zorn. David Mills erschießt John Doe, weil dieser Mills schwangere Frau getötet hat. Somerset versucht dies in einer längeren Gesprächssequenz mit einer Kameraführung der Szene, die die Zerrissenheit unterstreicht, zu verhindert, scheitert aber.7 Der Film endet mit einem Satz Somersets: „Ernest Hemingway hat mal geschrieben: ‚Die Welt ist so schön und wert, dass man um sie kämpft.‘ Dem zweiten Teil stimme ich zu.“ David Fincher8 hat Se7en9, diesen US-amerikanischen Film, 1995 realisiert. Die Musik hat Howard Shore, ein mehrfach ausgezeichneter Komponist der Filmmusik, komponiert. Im ersten Teil des Films spielt die bereits erwähnte Szene in der Bibliothek eine wichtige Rolle. Zum einem kommen die Ermittler, vor allem Somerset, so dem namenlosen Täter auf die Spur. Zum anderen vollzieht sich in Bild und Ton ein radikaler Bruch zum bisherigen Geschehen. So waren ständiger Regen und die dunklen Seiten der Stadt bisher bestimmend. Am Ende des Films wird es dann eine weite Landschaft sein, die sich öffnet; durchzogen aber von unzähligen Strommasten als Zeichen der Zivilisation. Beide Bereiche, die der Stadt und die des Landes, sind als von Menschen geprägte Orte zugleich Orte der Schuld und des Verbrechens. Was sich also auf den ersten Blick als Reise der beiden Polizisten und des gefassten Serientäters, der die beiden zu einem weiteren Opfer 5 John Doe ist im Englischen und Amerikanischen eine Platzhalterfunktion, vergleichbar im Deutschen mit Max Mustermann. So ist die Figur von John Doe nicht nur der Mörder, der keine Fingerabdrücke hinterlässt, weil er die Fingerkuppen weggeätzt hat, sondern auch der Mann ohne Identität und Geschichte. 6 Die Reihenfolge der Todsünden ist bewusst eine andere als in der christlichen Tradition. Das ist aber für unsere Frage nicht von Belang. 7 Die religiöse Dimension des Films von David Fincher über die nicht erlöste Welt und den immer mit Schuld beladenen Menschen ist nicht Thema dieser Ausführungen und bleibt deshalb unberücksichtigt. 8 Zu David Fincher vgl. Schnelle, Frank (Hg.): David Fincher, Berlin: Bertz 2002 (Film: 11); „David Fincher. Kino der Finsternis“, in: DU 889 (Februar 2019). 9 Se7en (USA 1995, R. David Fincher); vgl.: Sannwald, Daniela: „Im Herzen der Finsternis: Se7en“, in: Schnelle, David Fincher, hier S. 131–150.
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führen will, in das Offene darstellt, scheitert. Alle drei bleiben in ihrer Welt gefangen. Der einzige Ausbruch dagegen, der im Film gezeigt wird und so zu sehen und zu hören ist, vollzieht sich in der Bibliothek als Ort des tradierten Wissens. Hier taucht der Film in eine andere Welt ein. Das Tempo der Bildschnitte sowie die Kameraführung und die Musik sind im Einklang: Ein Raum der Besinnung und der Ruhe; ein letzter Zufluchtsort. „In warmes Licht getaucht ist außerdem die Bibliothek, die mit ihren grünen Glaslampenschirmen auf schweren, alten Holzlesetischen den letzten Rest eines verlorenen Paradieses zu bewahren scheint.“10 Zu hören ist in dieser Szene Musik von Johann Sebastian Bach: „Air“11, der 2. Satz der Orchestersuite Nr. 3 D-Dur (BWV 1068). Es ist eines der bekanntesten Stücke des Komponisten und Fincher bzw. Shore setzten also bewusst auf einen Wiedererkennungseffekt. Bachs vier Orchestersuiten stammen vermutlich aus seiner Zeit am Hof in Köthen (1717–1723)12, die genaue Datierung der Suite Nr. 3 ist nicht möglich. Vorformen können schon aus der Zeit Bachs in Weimar stammen. In dieser Schlüsselszene des Films ist ein Zusammenspiel von Thriller und Hochkultur zu erleben. Europa trifft auf Amerika, Hollywood auf höfische Musik, Massenkultur auf Elite. Dies wird auch auf der Sprachebene des Films noch weiter verdeutlicht, indem sich Somerset über die Sicherheitsleute der Bibliothek mokiert, die statt in den unerschöpflichen Tiefen der vorhandenen Bücher sich zu vertiefen ihre Zeit lieber mit Kartenspielen totschlagen. Zugleich unterläuft diese Filmszene eine radikale Trennung zwischen Hochkultur und Massenkultur. Zu hören und zu sehen ist ein Innehalten und somit ein Augenblick der Erhabenheit. In diesem Kontext stellt sich dann die Frage nach dem Charakter der Filmmusik innerhalb des kompositorischen Schaffens. Zwei Positionen, einmal aus der Sicht des Musikers und einmal aus der Sicht des Filmschaffenden, mögen diesen Gegensatz illustrieren. So äußerte sich Igor Strawinsky 1947 in einem Interview mit L’Ecran français: „Mir ist die übliche Vorstellung von Musik und Film völlig fremd. Welche Ausdrucksformen könnte ich wohl mit dem Film auch gemein haben? Die Filmleute bedienen sich der Musik, um Gefühlsregungen zu erzeugen und verwenden sie wie ein Parfüm, das gewisse Erinnerungen hervorrufen soll. […] Was soll zum
10 Ebd., S. 132. 11 “Lied oder Melodie; im engeren Sinne vom späten 16. bis ins 18. Jh. ein metrisch klares, periodisch einfaches Lied oder Instrumentalstück.“ (Dahlhaus, Carl/Eggebrecht, Hans Heinrich (Hg.): Musiklexikon (=Brockhaus Riemann, Band 1), München: Piper 1989, S. 19). 12 Vgl. Gardiner, John Eliot: Bach. Musik für die Himmelsburg, München: Hanser 2016, S. 252.
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Beispiel traurige Musik sein? Es gibt gar keine traurige Musik.“13 Der Filmwissenschaftler und selbst auch als Filmkomponist tätige Peter Rabenalt nimmt diese Äußerung Strawinskys als Beleg für die Position, die behauptet, dass „die Filmmusik […] der Ehe einer tausend Jahre alten Adligen aus der europäischen Hochkultur mit einem ungleich jüngeren Bräutigam aus dem anrüchigen Milieu der Massenunterhaltung im Industriezeitalter [entstammt]. Aus dieser Verbindung ist, wie es scheint, ein Bastard hervorgegangen – die Filmmusik, die bei ‚seriösen‘ Komponisten oft keinen guten Ruf hat.“14Andrej Tarkowski beschreibt 1984 in seinen filmtheoretischen und poetologischen Schriften sein Verhältnis zur Musik so: „Mir schwebt am ehesten eine Methode vor, bei der die Musik gleichsam als poetischer Refrain aufkommt. Begegnen wir einem Gedicht oder einem poetischen Refrain, so kehren wir, bereichert durch die Information des gerade Gelesenen wieder zurück zu jenem Ausgangspunkt, der den Autor beim ersten Mal zum Niederschreiben der Verszeile inspirierte. Der Refrain lässt in uns jenen ursprünglichen Zustand wiedererstehen, mit dem wir in diese für uns neue poetische Welt eintraten. Gleichzeitig lässt er sie uns nunmehr unmittelbar und von neuem erfahren. Wir kehren sozusagen zu den Quellen zurück.“15 In der Bibliotheksszene von Finchers Film wird dies Realität. Und weiter Tarkowski: „In einem Fall verstärkt und illustriert die Musik nicht etwa nur einen parallelen Bildinhalt, sondern eröffnet die Möglichkeit eines neuen, qualitativ veränderten Eindrucks von ein und demselben Material. […] In einem solchen Falle verändert die Einführung eines musikalischen Elements das Kolorit, ja zuweilen sogar das Wesen des in der Einstellung fixierten Lebens.“16
2. T OCCATA: VOM SEHEN UND HÖREN. EINE THEORIE DER FILMMUSIK Die Thematisierung der Filmmusik trifft seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf ein zunehmendes Interesse. Dies betrifft zunächst die populär-
13 Deutsche Übersetzung in: Kino 6 (1967); zitiert aus: Rabenaalt, Peter: Der Klang des Films. Dramaturgie und Geschichte des Filmtons, Berlin: Alexander Verlag 2014, S. 194. 14 Ebd., S. 194. 15 Tarkowski, Andrej: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Leipzig /Weimar: Gustav Kiepenheuer 1989, S. 179. 16 Ebd., S. 179.
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wissenschaftliche Literatur, die sich vor allem an Filmbegeisterte wendet.17 Mit den Editionen von Filmmusiken (Soundtracks) gibt es einen eigenen, zunehmenden, musikalischen Markt. Im wissenschaftlichen Bereich gehen beide Seiten, Musikwissenschaft und Film, aufeinander zu. Gerade Aspekte der Forschung zur „Neuen Musik“ spielen zunehmend eine Rolle.18 Teilweise wird das Thema auf den gesamten Audiobereich (Tonspur) ausgeweitet, also nicht nur Fragen der Filmmusik, sondern generell Fragen des Tons19 im Film behandelt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zwei von renommiertenForschern herausgegebene Standardwerke zur Filmmusik: Das Handbuch der Filmmusik20 und das Lexikon der Filmmusik21. In beiden werden neben Filmbeispielen vor allen theoretische Fragestellungen behandelt. Hinzu kommt eine Reihe von Einzelstudien, sowohl zu Künstlerinnen und Künstlern (Komponisten wie auch Regisseure) und zu Themen (z.B. Musik im Vorspann eines Films). Zugleich entstehen eigene, dem Thema gewidmete Publikationsreihen (z.B. „FilmMusik“ im Verlag „edition text+kritik“).22 2.1 Spannungen zwischen Film und Musik Ausgehend von dem in der Einleitung beschriebenen Gegeneinander in der Einschätzung der Würdigung der Filmmusik werden im Folgenden drei Spannungen beschrieben. Es geht erstens um die Eigenständigkeit von Bild und Ton (Musik, Geräusche, Sprache), speziell aber der Filmmusik. Zweitens wird der Einsatz der Filmmusik im Spannungsfeld der Wirkung der eingesetzten Musik auf den gesam-
17 So z.B. durch das Nachschlagwerk von Moormann, Peter (Hg.): Klassiker der Filmmusik, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2009 oder der Ausgabe der Schweizer Kulturzeitschrift Du vom März 2005 (von Camille Schlosser und Jacqueline Schärli zusammengestellt): „Augen zu, Film ab. Ein Handbuch zum Soundtrack“, in: „Du“ 754 (Februar /2005). 18 So das Darmstädter Institut für Neue Musik und Musikerziehungen mit Kongressen und Publikationen. Z.B. de la Motte-Haber, Helga (Hg.): Film und Musik. Fünf Kongreßbeiträge und zwei Seminarberichte, Mainz: Schott 1993. 19 Vgl. P. Rabenalt: Der Klang des Films. 20 Kloppenburg, Josef (Hg.): Das Handbuch der Filmmusik. Geschichte- Ästhetik – Funktionalität, Laaber: Laaber-Verlag 2012 (2017 in 2. Auflage erschienen). 21 Gervik, Manuel/Bückle, Matthias (Hg.): Lexikon der Filmmusik. Personen – Sachbegriffe zu Theorie und Praxis – Genres, Laaber: Laaber-Verlag 2012. 22 Vgl. Heldt, Guido/Krohn, Tarek/Moormann, Peter/Strank Willem (Hg.): Martin Scorsese. Die Musikalität der Bilder, München: edition text+kritik im Boorberg Verlag, 2015; G. Heldt/T. Krohn/P. Moormann/W. Strank: Musik im Vorspann (2020).
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ten Film bzw. der einzelnen Szene thematisiert und drittens die Frage gestellt, ob bestimmte Genres des Films spezifische Musikstile bevorzugen. 2.1.1 Das Problem der Eigenständigkeit von Film und Musik Betrachtet man das Problem der Eigenständigkeit von Bild und Ton, ergeben sich die folgenden Spannungsbögen mit den entsprechenden Extremen. Auf der einen Seite steht die geteilte Aufmerksamkeit. Peter Rabenalt fragt deshalb zu Recht: „Muss Filmmusik überhaupt gehört werden? Oder ist nicht sogar die beste Filmmusik diejenige, die der Zuschauer nicht hört?“23 Oder er sich eher unbewusst an die Musik erinnert, weil er sie kennt. So schreibt der amerikanische Filmkomponist, Orchestrator und Dirigent Fred Steiner: „In gewissen Fällen ist das Vorhandensein eines identifizierbaren musikalischen Themas [im Film] ein definitives Plus. […] Das hat mehr mit der Platzierung der Musik zu tun als mit der Qualität der Partitur.“24 Dabei spielt der kulturelle Code eine große Rolle. Christopher Metzger beschreibt dies so: „Die Herstellung und die Rezeption von Filmen resultiert aus dem Zusammenspiel einer Fülle kultureller Codes, die in ihrer Wirkungsweise so selbständig sind, dass sie meist nicht einmal bemerkt werden. Eine Verbindung der Codes, die sich in der Ausstattung, der Besetzung, den Drehorten, der Musik und der Sprache finden lassen, macht den Film zu einem unverwechselbaren Produkt. So hat jeder Film eine ästhetische Identität, die sich in diesem Zusammenspiel begründet. […] Ähnlich wie bei der Montage der Bilder lenkt der dynamische Verlauf der Tonspur die Aufmerksamkeit.“25 Filmmusik hat jedenfalls, so auch Adorno und Eisler in ihren Überlegungen zu Filmmusik und Massenkultur, immer „das Problem der geteilten Aufmerksamkeit des Filmzuschauers.“26 Andererseits entsteht gerade durch das Zusammenspiel von Bild und Ton ein Gesamteindruck. Filmmusik schafft eine Aufmerksamkeit, ja konstruiert eine Botschaft, die eben mehr ist als bloße Emotion. Eine weitere Spannung entsteht durch den Einsatz der Musik im Kontext der Bilder. Hier gibt es zwei gegensätzliche Möglichkeiten und viel Spielraum dazwischen. Zum einen kann der Rhythmus der Musik den durch Schnitt und Tempo der Bilder vorgegebenen Rhythmus unterstützen. Zum anderen kann die Musik
23 P. Rabenalt: Der Klang des Films (2014), S. 204. 24 Zitiert nach Rabenalt, ebd., S. 204f. 25 Metzger, Christopher: „Genre und kulturelle Codes im Film“, in: J. Kloppenburg, Das Handbuch der Filmmusik (2017), S. 447. 26 P. Rabenalt: Der Klang des Films (2014), S. 205.
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kontrapunktisch zum Einsatz kommen. In beiden Fällen hat sie aber eine dienende Funktion. Deshalb gilt: Spannungsvoll ist die Funktion der Filmmusik innerhalb des Gesamtkunstwerkes Film. Die Musik kann eine rein dienende Funktion innehaben. Die Komposition stellt sich dann klar unter die Vorgaben des Filmes. „Musik wird in Filmen als Rezeptionshilfe beigegeben. […] Als funktionale Musik entfaltet Musik im Film ihren Sinn und vermittelt Bedeutung nicht in frei gestalteter Zeit und formal nicht in musikimmanenten Kriterien, sondern sie ist bedingt durch filmische Vorgaben und durch die Absichten, die mit dem Erklingen verfolgt werden.“27 Es bilden sich, mit Metzger gesprochen, aber wiederum eigene kulturelle Codes aus. Im Zusammenspiel von Bild und Musik entsteht so ein eigener wirkmächtiger kultureller Code. Bild und Musik bilden ein Gesamtkunstwerk mit unterschiedlichen Balancen von Unter- und Überordnung. Zugleich kann, vor allem in der Rezeption, sich die Filmmusik auch völlig verselbstständigen, sich vom Film lösen und eine eigene Tradition bzw. Wirkungsgeschichte begründen. Man denke nur an die Filmmusik von Casablanca28 (insbesondere As Time Goes By, ein Musicalsong des Komponisten Herman Hupfeld aus dem Jahr 1931, später von unterschiedlichen Interpreten wie Frank Sinatra immer wieder gesungen), an das musikalische Leitmotiv (Lara’s Theme des weit über die Filmmusik hinaus bekannten Komponisten Maurice Jarre) in Doktor Schiwago29 oder an die Musik aus dem Film Pate I. Letztere Melodie wurde sogar im Jahr 2016 zu einem Lied mit eigenem Text bei Udo Lindenbergs Stärker als die Zeit, der Song über die Familie. So gehört auch die Erkennungsmelodie der James-Bond-Reihe in diese Aufzählung, obwohl hier die Verbindung zum Film (bzw. der Reihe) sehr eng bleibt. Die Produzentin Barbara Broccoli bezeichnete dann auch John Barry, der die von Monty Norman komponierte Musik arrangiert hat, als „Teil der DNA der Bond-Welt.“30 Eine letzte Spannung war schon angedeutet und betrifft das Image von Filmkompositionen und vor allem von Filmkomponistinnen und -komponisten. Oft werden diese abgewertet, weil zur sogenannten Massenkultur zählend. Zugleich gibt es durchaus berühmte Komponisten, die ihren Ruhm und Erfolg gerade der 27 Kloppenburg, Josef: „Musik im Tonfilm“, in: J. Kloppenburg, Das Handbuch der Filmmusik (2017), S. 91. 28 Vgl. Niedermüller, Peter: „Casablanca“, in: P. Moormann, Klassiker der Filmmusik (2009), S. 81–83. 29 Vgl. Kreuzer, Anselm C.: „Doktor Schiwago“, in: P. Moormann, Klassiker der Filmmusik (2009), S. 162–164. 30 Greve, Werner: James Bond 007. Agent des Zeitgeistes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S.43.
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Qualität ihrer Filmmusik und Wirkmächtigkeit im kulturellen zeitgenössischen Gedächtnis verdanken, wie Ennio Morricone (Leones Spiel mir das Lied vom Tod31 und Es war einmal in Amerika, um nur zwei Beispiel zu nennen) oder Nino Rota (mit der Coppolas Pate I und Pate II oder Fellinis La Strada32, La dolce vita und 81/2 oder Viscontis Der Leopard). Angesichts dieser analysierten Spannungen haben wir es bei der Filmmusik immer mit Paradoxien zu tun. „Zusammenfassend ist die eigentlich paradoxe Bedingtheit des Komponierens für den Film hervorzuheben. Filmmusik ist innerhalb des Paradigmas, unauffällig zu sein, mit äußerst auffälligen (melodischen) Merkmalen zu gestalten und dabei Aufmerksamkeit nicht auf sich selbst sondern auf Elemente des Films zu lenken. […] Filmmusik wirkt innerhalb des filmästhetischen Konzepts des unsichtbaren Schnitts, indem sie Schnitte und Ortswechsel betont; sie hat expressiv eindeutig zu sein unter Zugrundelegung äußerst stilistischer Vielfältigkeit und sie hat Bedeutungen zu suggerieren, ohne dass sie selbst in ihrer stilistischen Vielfalt und oftmaligen Konturlosigkeit eine solche durch sich allein vermitteln könnte. Und im Idealfall ist die Handschrift des Komponisten deutlich erkennbar.“33 2.1.2 D ie einzelne Szene und der gesamte Film: Musik – Bilder – Narration Mit der jeweiligen Filmmusik werden die Figuren (Charaktere), die Orte und die Handlungssituationen im Film charakterisiert. Filmmusik ist deshalb sowohl auf die einzelne Szene fokussiert, zugleich aber auch auf den gesamten Film. Auf der Ebene des Films mit seiner Bildsprache hat die Filmmusik somit zwei Bezugspunkte: die einzelne Szene, den konkreten Moment im Ablauf des Films einerseits, und andererseits die gesamte Narration. Allein schon deshalb ist Filmmusik immer mehr als bloße Illustration des Gesehenen auf der Ebene der Tonspur. Zugleich ist festzuhalten: Wie die Sprache der Bildwelt ist die Filmmusik sowohl Abbildung als auch Deutung. Der Filmmusik liegt also eine Distanz zum Geschehen inne. Filmmusik bewegt sich dabei zwischen Partikularität und Universalität. Filme werden international vermarktet. Deshalb müssen nicht nur die Sehgewohnheit, sondern auch die musikalische Tradition der unterschiedlichen 31 Moormann, Peter: „Spiel mir das Lied vom Tod“, in: P. Moormann, Klassiker der Filmmusik (2009), S. 181–183. 32 Koebner, Thomas: „Das Lied der Straße“, in: P. Moormann, Klassiker der Filmmusik (2009), S. 120–122. 33 Kloppenburg, Josef: „Musik im Tonfilm“, in: J. Kloppenburg, Das Handbuch der Filmmusik (2017), S. 114f.
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Länder, präziser gesagt: die unterschiedlichen Kulturen und kulturellen Codes, berücksichtigt werden. Dies schließt das Beachten nationaler Besonderheiten und Hervorhebungen nicht aus, sondern ein. Filmmusik hat aus diesen Gründen immer zwei Referenzebenen: den Film und die Zuschauenden (bzw. Zuhörenden). Filmästhetischen Entscheidungen und rezeptionsästhetische Bezüge sind sowohl je für sich selbst als auch in ihren Korrespondenzen zu beachten. Filmmusik steht dabei der Tradition der Oper nahe, besonders was die Rolle von Affekten und Emotionen betrifft.34 Diese Verwandtschaftsbeziehung ist aber keine der Genealogie. Die Filmmusik ist weder aus der Oper entstanden noch lässt sich ihre Ästhetik aus der der Oper herleiten, obwohl es zwischen „Oper und Film […] hinsichtlich der synchronen Koppelung von szenischen und musikalischen Bestandteilen Gemeinsamkeiten [gibt].“35 2.1.3 Musik-Stil und Film-Genre Obwohl sich bestimmte Musikwerke in Filmen als kulturelle Codes etabliert haben (z.B. im Western), gibt es keine unmittelbare Kausalitätsbeziehung zwischen Filmgenres und Musikstilen, wohl aber besondere Vorlieben von Filmemacherinnen und Filmemachern für bestimmte Musikstile. Ingmar Bergman und seine Filme wären z.B. ohne den Bezug zu den großen Oratorien von Johann Sebastian Bach nicht denkbar. „Alles sollte sich so rein und vollendet gestalten wie ein Choral von Bach.“36 Andere Filmemacher, so z.B. die Brüder Ethan und Joel Coen, arbeiten einerseits sehr eng mit Musikern, wie T-Bone Burnett (so in Inside Llewyn Davis und anderen ihrer Filme), kommen aber auch ganz ohne Musik aus (so in No Country for Old Man). Immer gibt es dabei ein Spiel mit kulturellen Bezügen. Es geht vor allem um die Emotionalisierung (mit allen damit verbundenen Ambivalenzen). In der Geschichte der Filmmusik dominieren dabei Stile des Expressionismus und später der Spätromantik und des Jazz. Es geht um Expressivität. Dem kann auch ein Zeitbezug, also die zeitgenössische Musik dienen.
34 Vgl. Ebd., S. 95f. 35 Bandur, Markus: „Oper/Opernfilm“, in: M. Gervik/M. Bückle: Lexikon der Filmmusik (2012), S. 375. 36 Bergman, Ingmar: Laterna Magica. Autobiographie, Berlin: Alexander Verlag 2003, S. 386.
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2.2 Funktionen der Musik im Film Will man die unterschiedlichen Funktionen der Musik im Film unterscheiden, gibt es in der Forschung eine Vielzahl von möglichen Einteilungen und Untergliederungen.37 Sie unterscheiden sich zum einen in Hinsicht auf die Kriterien, die zum Ausgangspunkt der Analyse gemacht werden. Zum anderen unterscheiden sie sich in der Trennschärfe, dem Differenzierungsgrad und Anzahl von Untergliederungen. Teilweise sind es dann weniger generelle Funktionen der Filmmusik als eine Auflistung ihrer Wirkung im Film.38 Claudia Bullerjahn unterscheidet zwei generelle Typen von Einteilungen der Funktionen, die noch einmal untergliedert werden.39 Es sind zum einen zwei Metafunktionen, die mit den Rezeptionsmöglichkeiten bzw. der Vermarktung des Films zusammenhängen (Internationalität, Wiedererkennbarkeit bestimmter musikalischer Motive, Zeitgeist der (Pop‑)Musik). Sie nennt sie „rezeptionspsychologische“ bzw. „ökonomische“ Metafunktionen. Zum anderen gibt es Funktionen im engeren Sinn. Diese sind dramaturgische, epische, strukturelle und persuative Funktionen der Filmmusik.40 Eine andere, aber ähnlich strukturierte Einteilung der Funktionen der Filmmusik findet sich bei Hansjörg Pauli:41 1. Persuasive Funktion: Hier geht es um die emotionale Steuerung eines (Massen-)Publikums durch die Musik. 2. Syntaktische Funktion: Die Musik strukturiert das Filmgeschehen in seiner Gänze (durch klare Gliederung, aber auch durch Vereinheitlichung). 3. Hermeneutische Funktion: Hierbei handelt es sich um eine Verstehenshilfe für den Film. Es geht um die Verständlichkeit der Handlung bzw. die Botschaft des Films.
37 Vgl. Kloppenburg, Josef: „Funktionen im Film“, in: M. Gervik/M. Bückle: Lexikon der Filmmusik (2012), S. 179–183. 38 So in den alphabetischen Auflistungen von N. J. Schneider in seinem Handbuch der Filmmusik mit 20 (1. Auflage) bzw. 25 (2. Auflage) von „ Atmosphäre herstellen“ bis „Zeitempfinden relativieren“. Zitiert nach: Kloppenburg, Josef: „Musik im Tonfilm“, in: Kloppenburg, Das Handbuch der Filmmusik (2017), S. 148f. 39 Vgl. ebd., S. 148. 40 Ebd. 41 Pauli, Hansjörg: „Funktionen der Filmmusik“, in: H. de la Motte-Haber, Film und Musik (1993), S. 8–17; Vgl. auch Kloppenburg, Josef: „Musik im Tonfilm“, in: Kloppenburg, Das Handbuch der Filmmusik (2017), S. 143ff.
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4. Rezeptionsfunktion: Die Vermarktung des Films (Ökonomische Dimension) und dramaturgische/psychologische/politische Botschaft des Films stehen hier im Fokus. Für unsere Fragestellung der Musik von Johann Sebastian Bach im Film sind die folgenden Einteilungen von Interesse. 2.2.1 Dramaturgische Funktionen der Filmmusik So kann man mit Wolfgang Thiel eine Einteilung nach der dramaturgischen Funktion der Musik im Film vornehmen. In diesem Fall werden drei Aspekte bzw. Alternativen wichtig: 1. Struktureller Aspekt: Ist die Musik eher autonom oder funktional? 2. Modaler Aspekt: Kommt die Musik „von außen“ oder ist sie Teil (Diegetik) der Filmhandlung selbst (ein Instrument wird gespielt, Menschen singen, ein Radio spielt Musik …)? 3. Dramatischer Aspekt: Wird durch die Musik die visuelle Ebene verstärkt oder konterkariert?42 2.2.2 Kompositionstechnische Funktionalität der Filmmusik Wichtig ist, die eingesetzten filmmusikalischen Mittel (Kompositionstechniken) zu unterscheiden: 1. Underscoring: Die Synchronität der Musik mit der Bildebene. Musik ordnet sich unter und hat so eine klar dienende Funktion. Es geht um die „Erinnerbarkeit und Transportfähigkeit einer Idee“43 durch die Musik. 2. Mood-Technique44: Hier geht es um einen eigenen expressiven Stimmungsgehalt pro Szene. Die klassische Affektenlehre des Barock und der Oper kommen hier zum Tragen. Diverse Instrumente und Tonhöhen werden genutzt und auf Charaktere (expressiv) oder auf Atmosphäre (sensorisch) im Film bezogen. 3. (Leit-)Motivtechnik: Personen und Begebenheiten werden mit wiedererkennbaren markanten musikalischen Figuren versehen.
42 Ebd., S. 142. 43 Ebd., S. 202. 44 Ebd. S. 229ff.
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2.3 Einsatz von Musik im Film Den genannten Funktionen der Musik im Film kann auf verschiedene Weise entsprochen werden. So spielen „Songs“45 als Teil der Filmmusik eine nicht zu unterschätzende Rolle – ob in High Noon46, Casablanca oder Titanic47, um nur drei bekannte Beispiele aus unterschiedlichen Epochen der Filmgeschichte und unterschiedlichen Genres zu nennen. Erst recht gilt dies für die Titelsongs der „James Bond“Reihe, für die jeweils berühmte zeitgenössische Kompositionen sowie Interpretinnen und Interpreten gewonnen wurden.48 Spezifische Musikinstrumente können ebenfalls den Stil eines ganzen Films prägen. Die Zither, gespielt von Anton Karas, in Der dritte Mann oder die Mundharmonika in den Filmkompositionen von Ennio Morricone im Film Spiel mir das Lied vom Tod sind wohl die bekanntesten Beispiele. „Bevor noch die Bilder von Wien auftauchen, sieht man eine Zither und eine Hand, und es beginnt eine Melodie, die man nicht mehr aus dem Ohr bekommt.“49 Es ist die melancholische Melodie einer zerrissenen, einer vom Krieg gezeichneten Stadt, nicht das Wien der Strauß-Walzer. „Der Einsatz der Mundharmonika ist eine der von Morricone gerne betriebenen Umwertungen eines folkloristischen Musikinstruments, welches im klassischen Western die Konnotation des freien Cowboy-Lebens trug und für die Gemeinschaft der Männer in der Wildnis stand. Sein Einsatz über den Film hinweg als akustische Signatur des ominösen Helden macht es zugleich selbst dubios.“50
45 Vgl. ebd., S. 229–247. 46 Gerle, Jörg: „Zwölf Uhr mittags“, in: P. Moormann, Klassiker der Filmmusik (2009), S. 112–115. 47 Bullerjahn, Claudia: „Titanic“, in: P. Moormann, Klassiker der Filmmusik (2009), S. 285–288. 48 Vgl. Rauscher, Andreas: „Sounds of 007. Scores und Songs der James-Bond-Filme“, in: Andreas Rauscher/Bernd Zywitz/Georg Mannsperger/Cord Krüger (Hg.), Mythos 007. Die James-Bond-Filme im Fokus der Popkultur, Mainz: Bender 2007. 49 Rebhandl, Bert: Der dritte Mann. Die Neuentdeckung eines Filmklassikers, Wien: Czernin Verlag 2019, S. 45. 50 Steinweder, Harald: Sergio Leone. Es war einmal in Europa, Berlin: Bertz und Fischer 2009, S. 280.
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Musik in Filmen kann auch musikalisch-kultureller Ausdruckeiner ganzen Ära sein, so in der Musik von Simon & Garfunkel in Die Reifeprüfung51 oder die Musik in Easy Rider52 und Blues Brothers. Außerdem gibt es musikalische Motive, die einen ganzen Film prägen können, so z.B. der Strauß-Walzer in Stanley Kubricks Film 2001 Odyssee im Weltraum.53 „Das Raumschiff drehte sich, und wir hörten den Johann Strauß-Walzer ‚An der schönen blauen Donau‘“54, schreibt Georg Seeßlen über den Film und den Zeitgeist von 1968. 2.4 U mgang mit „präexistenten Kompositionen“ bzw. dem „vorbestehenden Werk“ im Film Im Zusammenhang unserer Fragestellung nach der Musik von Johann Sebastian Bach im Film geht es um die sogenannten „präexistenten Kompositionen“ bzw. um das „vorbestehende Werk“. Dies meint Kompositionen aus der musikalischen Tradition und Gegenwart, die unabhängig vom Film entstanden sind, also bereits existieren und ein vom Film eigenständiges „Leben“ haben. Solche Kompositionen können aus unterschiedlichen Gründen in Filmen eingesetzt werden. Claudia Bullerjahn nennt sechs solcher Funktionen55: 1. Musikfilm: bestimmte Musiker, bestimmte musikalische Werke sind der Gegenstand des Films. 2. Das Musikstück wird mit Bildern interpretiert. 3. Die Musikaufführungen sind Teil der Handlung, das heißt es gibt ein Kontinuum zwischen dem Gezeigten und dem Ton. Die Ursache des Schalls der zu
51 Gerdes, Julia: „Die Reifeprüfung“, in: P. Moormann, Klassiker der Filmmusik (2009), S. 170–172. 52 Niedermüller, Peter: „Easy Rider“, in: P. Moormann, Klassiker der Filmmusik (2009), S. 187–189. 53 Koebner, Sascha: „2001 – Odyssee im Weltraum“, in: P. Moormann, Klassiker der Filmmusik (2009), S. 183–186. 54 Seeßlen, Georg/Jung, Ferdinand: Stanley Kubrick und seine Filme, Marburg: Schüren 199, S. 185. 55 Vgl. Bullerjahn, Claudia: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, Augsburg WißnerVerlag: 2001; vgl. auch Vgl. Kloppenburg, Josef: „Musik im Tonfilm“, in: Kloppenburg, Das Handbuch der Filmmusik. (2017).
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hörenden Musik ist erkennbar (diegetische Funktion56). Zugleich gehört diese Filmmusik zur Narration des Films. 4. Sowohl diegetische wie nichtdiegetische Filmmusik, die von den Filmemachern ausgesucht wurde, aber nicht zwingend zur Filmhandlung gehört (zwischendienender Funktion und sinnlichem Eigenwert). Hier geht es vor allem um Stimmungen und Deutungen der Charaktere und Szenen. 5. Kompositionen, die je einen Zeit- und/oder Milieucharakter betonen. 6. Vorhandene Musikwerke werden allein aus äußeren (nicht aus ästhetischen) Gründen benutzt. Meist hat dies Ursachen in den Produktionsbedingungen, wie Effektivität (zeitlich oder finanziell). In den beiden ersten Fällen hat der Film eher eine dienende (so bei 2) oder illustrierende (so bei 1) Funktion gegenüber der Musik. In den Fällen 3 – 5 steht der Film als Gesamtkunstwerk im Mittelpunkt. Es geht also um ästhetische Entscheidungen. Fall Nr. 6 gehört in den Bereich der Ökonomie. Als musikalisches Zitat (vgl. 4.) setzt es beim Zuschauenden und Zuhörenden ein (Wieder-)Erkennen voraus. Das Einbeziehen von Kompositionen von Johann Sebastian Bach gibt es (zumindest was Nummer 1–5 betrifft) in allen genannten Fällen: 1. Filme über das Leben von Johann Sebastian Bach. Hierzu zählen Dokumentarfilme wie auch Spielfilme, die sich dem Leben, dem musikalischen Schaffen oder auch Einzelaspekten des Wirkens des Komponisten widmen. Aus Anlass des 300. Geburtstages von Bach gab es gleich mehrere Produktionen in den beiden deutschen Staaten und im Ausland.57 2. Filmische Interpretationen vor allem der großen Passionen bzw. Oratorien. So zum Beispiel der Film des durch seine Ballettfilme bekannten Regisseurs Hugo Niebeling Johannes-Passion unter dem Titel „Es wäre nicht gut, daß ein Mensch würde umgebracht für das Volk“, im Dom zu Speyer 1990 (nach den Original-Tonaufnahmen der Aufführung von Karl Richter aus dem Jahr 1964) gedreht. 3. Nutzung von Tonträgern und das (bewusste) Abspielen von Werken von Bach durch die Filmfiguren. Hierfür zwei gegensätzliche Beispiele des Einspielens der Goldberg-Variationen (BWV 988) in Ten Munites older: Innen 56 Vgl. Mücke, Panja: „Diegetic Music“, in: M. Gervik/M.Mückle, Lexikon der Filmmusik (2012), S. 123f. 57 Eine aktuelle Liste vgl. https://www.bachueberbach.de/100-bach-faq-und-bald -sind-es500-bach-faq/faq-109-bach-filme-gibt-es-denn-auch-filme-über-johann-sebstian-bach/ vom 15. April 2020.
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Wohnwagen. Nacht von Jim Jarmusch und in Das Schweigen der Lämmer von Jonathan Demme. 4. Hier gibt es eine Vielzahl von Filmen ganz verschiedener Genres mit je sehr unterschiedliche Motive und Wirkungen. Dies wird noch exemplarisch zu zeigen sein. 5. Im quantitativen Vergleich zu den beiden vorherigen Kategorien (also 3. und 4.) gibt es dafür weniger Filmbeispiele, zumeist dann auch mit Überschneidungen zur Kategorie Nummer 1. Im folgenden dritten Kapitel („Fuge“) konzentrieren sich die Beispiele auf den fiktionalen und nichtbiografischen Film, also auf die Kategorie Nummer 4 (bei Überschneidungen zu 3.) Noch ein letzter Hinweis zum Umgang mit „präexistenten Kompositionen“ im Film. Die Filmmusik kann in unterschiedlicher Weise benutzt werden: 1. Als direktes Zitat: Einspielung – wichtig ist die jeweilige Interpretation des musikalischen Werkes und das bildliche wie musikalische Umfeld im Film (vollständig/unvollständig). 2. Mittels einer stärkeren Bearbeitung des ursprünglichen Materials durch den Filmkomponisten, wobei die Erkennbarkeit gewahrt werden muss. 3. Es gibt auch die Möglichkeit von nur sehr kurzen Andeutungen auf der Tonspur. Dies funktioniert vor allem bei sehr bekannten Motiven, wo einige wenige Klänge genügen, um das Werk im inneren Ohr zu haben. 4. Nicht zuletzt kann es bewusst eingesetzte Unterbrechungen des Zitats durch andere Musik und/oder weitere Geräusche auf der Tonspur geben.
3. F UGE: DIE VIELFALT DER BEZÜGE ZWISCHEN BILD UND KLANG IM FILM BEIM NUTZEN DER WERKE VON JOHANN SEBASTIAN BACH Im Folgenden werden anhand einiger Filmbeispiele das bisher Dargelegte illustriert, soweit dies in einem Buch (ohne Musik und ohne bewegte Bilder) möglich ist. Es sind Filme, die sehr verschiedenen Genres entstammen und in denen die eingesetzten Kompositionen von Bach unterschiedliche Interessen der Filmschaffenden bedienen und ebenso mannigfacheFunktionen im Film haben. Zugleich wird die Perspektive gewechselt. In den Beispielen wird nun vom einzelnen Werk des Komponisten Johann Sebastian Bach ausgegangen. Auf eine musikwissenschaftliche Analyse und Reflexion der hier vorgestellten Werke wird
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dennoch verzichtet. Dies wäre Einzeluntersuchungen vorbehalten. Es geht primär um die Stellung der jeweiligen Komposition im einzelnen Film. 3.1 M atthäus-Passion (BWV224): Die biblische Botschaft und der „ungläubige“ Filmemacher Pier Paolo Pasolini Für den italienischen Regisseur Pier Paolo Pasolini (1922–1975) spielt die Musik von Johann Sebastian Bach in zwei seiner wichtigsten Filme eine zentrale Rolle. Sowohl in seinem frühen Film Accattone58 wie auch in Das 1. Evangelium – Matthäus59. Anfang der 60er Jahre entdeckt er als Medium für seine sozialkritischen Werke zunehmend den Film60. Mit seiner Vorliebe für Laiendarsteller aus den ärmeren Milieus und seiner lyrischen Ästhetik (beides ist in den zwei genannten Filmen wahrzunehmen) entsteht ein eigenständiger Beitrag zum italienischen Neorealismus. Diese Filme sind, auch und gerade in ihrer Alltäglichkeit wie bei Accattone, Erlösergeschichten. „Welche Kraft liegt im Wunsche, / die Welt zu verwandeln, zu erlösen / aus Schwermut zu österlicher Freude …“61 heißt es in einem Gedicht des „atheistischen Marxisten“ Pasolini. In Accattone steht der prekäre Mensch im Mittelpunkt. Die Gestalt von Vittorio Cataldi (gespielt von Franco Citti) wird „Accattone“ („Bettler“ oder „Schmarotzer“) genannt und lebt in einer heruntergekommenen Vorstadt Roms. Nachdem er Frau und Sohn verlassen hat, verdient er als Zuhälter sein Geld. Tagsüber hängt er die meiste Zeit mit seinen Freunden herum, die dem gleichen Gewerbe nachgehen. Die Clique verbringt die Zeit mit Herumsitzen, Kartenspielen und sinnlosen Wetten. Die Frauengestalten im Film, Maddalena (seine Hure), Ascenza (seine Exfrau) und Stella (einer Arbeitskollegin von Ascenza und spätere Freundin von Accattone) sind demgegenüber als Menschen dargestellt, die versuchen, trotz aller widrigen Umstände, ihr Leben zu gestalten. Dennoch ist die Hauptfigur Accattone ein Sympathieträger im Film. Am Ende des Films stiehlt er in einer verzweifelten Situation ein Motorrad und flieht. Verfolgt von der Polizei, dem Besitzer des 58 Accattone (Italien 1961, R: Pier Paolo Pasolini); vgl. auch die Romanvorlage von 1955: Pasolini, Pier Paolo: Ragazzi di Vita, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1990. 59 Das 1. Evangelium – Matthäus (Italien, Frankreich 1964, R: Pier Paolo Pasolini). 60 Vgl. Gregor, Erika (Hg.): Pier Paolo Pasolini. Dokumente zur Rezeption seiner Filme in der deutschsprachigen Filmkritik 1963–85 (=Kinemathek, Heft 84), Berlin: Freunde der deutschen Kinemathek 1994. 61 Zitiert nach: Breidecker, Volker: „Der Kreuzweg des Poeten – Pier Paolo Pasolini in einer Ausstellung des Züricher Literaturmuseums Strauhof“, in: Süddeutsche Zeitung vom 9./10. Mai 2009.
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Motorrads und Passanten, stößt er mit einem Lastwagen zusammen. Während er sterbend mit blutenden Wunden am Straßenrand liegt, sind seine letzten Worte: „Jetzt geht’s mir gut“62 („Mo’ sto bene“). Als letzten Dienst schlägt sein Kumpan Balilla mit gefesselten Händen ein Kreuz für Accattone. Accattone, der Ausgestoßene, ist „rüdiger Dieb, aber auch heilige Figur“63, wie es Bernhard Groß in seinem Essay über den Film benennt. Und weiter: „Als Unschuldige bilden die Figuren aber zuerst das Potential einer neuen Gemeinschaft des anderen, der bürgerlichen Welt nicht vergleichbaren – und das vor jeder ideologischen Einordnung oder teleologischen Geschichtsidee.“64 Es geht um Menschen, nicht um Ideen. Es geht um neue, andere Arten von Kommunikation und Gemeinschaft. Der Einzelne ist so, obwohl er am Ende stirbt, kein Opfer ohne Selbstbewusstsein. Pasolini offenbart in seinem Film die harte Realität des Lebens der Ärmsten in der Großstadt Rom. Zugleich zeigt die Geschichte um Vittorio Cattaldi in seiner Schwarz-Weiß-Ästhetik, untermalt mit der Passionsmusik Johann Sebastian Bachs, die Sehnsucht der Menschen nach etwas Glück und Erlösung. In ihrer Gebrochenheit, in ihrer Not und in ihrer Einsamkeit sind sie dennoch in der Lage, anderen Menschen Empathie entgegenzubringen. Sie durchbrechen so ihre erfahrene Ausgrenzung, setzen zarte Zeichen der Hoffnung in einer dunklen Welt. Am 12. Januar 1966, bei einer Veranstaltung zum Film Accattone in Westberlin, antwortete Pasolini auf die Frage nach dem Sakralen in diesem Film: Es ist nicht der Inhalt der Geschichte sondern der Stil, in welchen sie so und nicht anders erzählt wird. Das Sakrale gelte der Formsprache, der Bildkomposition mit Bezügen auf die Maler Giotto und Masaccio.65 Und natürlich der Musik in diesem Film. Carlo Rustichelli (1916–2004), italienischer Filmkomponist, hat sie nach Werken von Johann Sebastian Bach arrangiert. Die Musik von Bach erfüllt hier parallel zwei Funktionen. Zum einen prägt bzw. illustriert sie die auf der Bildebene dargestellte Geschichte emotional. Zum zweiten gibt sie der Geschichte und damit dem gesamten Film eine Deutung, in diesem Fall eine sakrale. Die Deutungskraft der Musik ist in Accattone insgesamt stärker, weil einheitlicher als die Bilder (Wechsel von Straßenszenen und Standbildern) bzw. religiösen Gesten (wie am Schluss des Filmes durch das Schla62 Pasoloni, Pier Paolo: Accattone, München/Zürich: Piper 1994, S. 124. 63 Groß, Bernhard: „Figur und Wahrnehmung. Zur Genealogie des Bildraums bei Pier Paolo Pasolini“, in: Thomas Koebner/Irmbert Schenk (Hg.), Das goldene Zeitalter des italienischen Films, München: edition Text + kritik 2008, S. 232. 64 Ebd., S. 233. 65 Albath, Maike: Rom, Träume. Moravia, Pasolini, Gadda und die Zeit der Dolce Vita, Berlin: Berenberg 2013, S. 96.
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gen des Kreuzzeichens) bzw. die Worte Accattones, die an Jesu Worte am Kreuz erinnern. „Am unmittelbarsten sinnfällig wird die intendierte religiöse Valenz des Geschehens durch die Auszüge aus Johann Sebastian Bachs ‚Matthäuspassion‘, die als pointiert eingeschaltete musikalische Kommentare dem, äußerlich gesehen, sehr profanen Geschehen eine überzeitliche und übersituative existentiale Gültigkeit verleihen und es in die Sphäre des Sakralen hineinreichen lassen.“66 In Das 1. Evangelium – Matthäus nutzt Pasolini als „Drehbuch“ für seinen Film den Textbestand des Matthäusevangeliums, wobei er sich in Auswahl und auch Ergänzung Freiheiten nimmt. Aber an die „Höhe“ dieser Sätze, so Pasolini, kommt kein neues Drehbuch heran. Außer der Jesus-Gestalt lässt er alle Figuren durch Laiendarsteller spielen. Es ist ein poetischer Film, in manchen Einstellungen an Godard erinnernd. Pasolini spielt mit den differenzierten Sehweisen der Zuschauer, mit ihrem kulturellen Gedächtnis. Dies gelingt ihm, weil er selbst mit einem zweifachen Blick seinen Film realisiert: zum einen als Atheist und zum anderen aus der Perspektive eines imaginären Gläubigen – ein Spiel der Sichtweisen bereits beim Filmen. Einer falschen Authentizität, also auch einer falschen Sicherheit wird so vorgebeugt. Daran ändert auch die Erzählstimme des „Evangelisten“ aus dem Off nichts. Sie ist keine objektive Deutung, sondern Teil der Erzählgeschichte. Mit seiner Schwarz-Weiß-Ästhetik und den Gesichter und Augen, die Pasolini immer wieder in Schnitt und Gegenschnitt zeigt, gelingt es ihm, dass sich der Zuschauer mitten in dasGeschehen hineingezogen fühlt, obwohl die Jesus-Gestalt in einer Spannung von Distanziertheit und Zugewandtheit gezeigt wird. Das „Dazugehörigkeitsverlangen“67, wie Arnold Stadler es nennt, kommt so zum Zug. Dazu die Laiendarsteller und die Einbettung der Geschichte in eine italienische Landschaft im gleißenden Licht mit Menschen und Dörfern und kleinen Städten der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Eine historische Geschichte mitten in der Gegenwart. Es sind die kleinen und präzisen Gesten, von denen der Film lebt. Hier merkt man die Einflüsse von Carl Theodor Dreyer oder von Ingmar Bergman. Dazu die Augen der Menschen, die in langen Einstellungen immer wieder gezeigt werden. Sie kommunizieren und sagen mehr als Worte. In diesen Augenblicken entsteht eine ganz eigene Spannung. Es ist ein stiller Film, voller musikalischer Töne. Denn die Musik prägt diesen Film in außergewöhnlicher Weise. Komponiert und vor allem zusammengestellt ist sie von dem argentinischen Pianisten und
66 Zwick, Reinhold: Passion und Transformation. Biblische Resonanzen in Pier Paolo Pasolinis „mythischem Quartett“, Marburg: Schüren 2014. 67 Stadler, Arnold: Salvatore, Frankfurt am Main: S. Fischer 2008, S. 151.
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Filmkomponisten Luis Enriquez Bacalov68 (1933–2017). Ganze Szenen kommen ohne Worte aus. Es ist eine Entdeckung der Langsamkeit in dieser Welt. Die Spannung der äußeren Handlung und die epische Weite der Bilder kommen so zusammen. Strukturiert wird der Film sowohl durch die Bilder, vor allem aber durch die verwendeten Musikzitate.69 Diese stammen aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen, es sind einfache Volkslieder und große Kompositionen. So unter anderem die Feierlichkeit der Maurerischen Trauermusik von Amadeus Mozart in der Szene Jesus am Jordan, russische Volklieder in den Szenen der Bergpredigt, das von Odetta Holmes gesungene Spiritual Sometimes I feel like a Motherless Child bei der Schilderung der Flucht nach Ägypten und die kongolesischen Rhythmen der Missa Luba bei den Wunder-Szenen und des Kreuzwegs. Immer wieder wird neben der h-Moll-Messe Bachs die Matthäus-Passion eingesetzt. Emotional am wirkungsvollsten ist der Choral Wir setzen uns in Tränen nieder, so wie bereits in seinem Film Accattone. 3.2 S iciliana (BWV 1031): Klassische Musik und zeitgenössische Songs bei Lars von Trier Der Film Breaking the Waves70 (1996) des dänischen Regisseurs Lars von Trier71 (geboren 1956) gehört zur sogenannten Golden-Heart-Trilogie72 (als erster Film, danach der „Dogma-Film“ Idioten und später Dancer in the Dark). In diesem Film sind, ähnlich wie bei Pasolonis Accattone, Einflüsse von Carl Theodor Dreyer spürbar. Die Geschichte schildert einen Kreuzweg und thematisiert den Konflikt zwischen institutionalisierter tödlicher Religion und lebendiger persönlicher Frömmigkeit. „Der Film ist eine Hymne auf die individuelle Religion des reinen Herzens: eine Feier jenes Irrationalen, das in Triers Elternhaus so vehement
68 Bacalov hat vor allem an italienischen Filmproduktionen sehr verschiedenen Genres mitgewirkt. 69 A. Stadler: Salvatore, S. 92 -149; Stadler gliedert anhand der Musik den gesamten Film. 70 Breaking The Waves (Dänemark 1996, R: Lars von Trier). 71 Vgl. Forst, Achim: Breaking the Dreams. Das Kino des Lars von Trier, Marburg: Schüren 1998; Flemming, Antje: Lars von Trier. Goldene Herzen, geschundene Körper, Berlin: Bertz und Fischer 2010. 72 Darauf und insbesondere auf den Film Breaking The Waves mit seiner geschundenen Hauptfigur Bess McNeill nimmt der Buchtitel von Antje Flemming Bezug: „Goldene Herzen, geschundene Körper“.
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abgelehnt wurde.“73 Die erzählte Geschichte ist „ein Loblied auf die Liebe und den naiven Glauben daran“.74 Der Film spielt in einer tiefreligiösen calvinistischen Gemeinde an der nordschottischen Küste in den 70er-Jahren. Die Hauptfigur, die junge Bess McNeill (gespielt von der damals noch kaum bekannten Emily Watson), welche geistig zurückgeblieben erscheint, heiratet Jan Nyman (gespielt von Stellan Skarsgård, der oft mit Lars von Trier zusammenarbeitet), einen jungen Mann, der nicht aus dem Dorf stammt. Ein Bruch mit der festgefügten Tradition. Er arbeitet weit weg auf einer Bohrinsel. In ihrer Einsamkeit betet Bess zu Gott, dass Jan schnell wieder zurückkommt. Ihr Wunsch geht auf tragische Weise in Erfüllung: Jan wird bei einem Unfall schwer verletzt und körperlich gelähmt. Bess gibt sich die Schuld an seinem Unglück und sucht nach Wegen der Sühne, macht sich selbst zur Prostituierten und zur von der Gemeinde verstoßenen Außenseiterin (wie Accattone bei Pasolini). Lars von Trier benutzt triviale Handlungsmuster für ein mitreißendes reines Gefühlskino, das seine Unmittelbarkeit sowohl den überragenden Schauspielern als auch dem reportagehaften Kamerastil („Dogma-Stil“ der teilweise verwackelten Handkamera) verdankt. Außerdem reflektiert der Film theologisch differenziert die vielfältigen Aspekte der Trias Glaube, Liebe, Hoffnung: Eine Frau, die nur das Gute will, stößt in einer reglementierten Welt auf Misstrauen und Ablehnung, so dass ihr Lebensweg zu einer modernen Passionsgeschichte wird. Am Ende wird Bess von ihren Freiern tödlich verletzt. Sie wird daraufhin in ein Krankenhaus gebracht, wo sich Dr. Richardson vergeblich um ihr Leben bemüht. Der Pfarrer verflucht sie dennoch während der Bestattung am Grab. Während ihre Schwägerin Dodo den anwesenden Männern daraufhin die Meinung sagt, bemerkt sie, dass Sand aus dem Sarg rieselt. Jan, der wieder auf Krücken gehen kann, hat inzwischen zwei seiner Arbeitskollegen dazu überredet, die Leiche von Bess heimlich zu entwenden und für eine Seebestattung auf ein Schiff zu bringen. Nun erklingen – mitten auf See – himmlische Kirchenglocken, auf die während der Hochzeit verzichtet werden musste, da die Dorfkirche keine Glocken besitzt. Gegliedert wird der Film durch sieben einzelne Kapitel sowie einen Epilog (jeweils auch als solche durch Schrift bezeichnet und mit einem Titel versehen). Im Unterschied zum sonstigen Film dominiert hier einerseits Ruhe und Stabilität – ein deutlich markierter Bruch in der Ästhetik des Films. Es sind gemäldeartige Standbilder schottischer Landschaften. Das Dargestellte verändert sich nur gering 73 Forst, Achim: Breaking the Dreams. Das Kino des Lars von Trier, Marburg: Schüren 1998, S. 128. 74 Ebd., S. 130.
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und langsam. Dazu gibt es als Musik längere Titel zeitgenössischer Songs der 60er und 70er Jahre. Lars von Trier bezeichnet diese Bilder als „Blick Gottes auf die Landschaft, in der sich die Geschichte ereignet, so als würde er über die Figuren wachen.“75 Im Film gibt es keine eigenständigen Musikkompositionen, nur die Songs und ganz am Ende die Siciliana aus der Sonate BWV 1031 von Johann Sebastian Bach in der Einspielung des dänischen Komponisten Joachim Holbek (geboren 1957), der in den frühen Filmen von Lars von Trier die Musik geschrieben hat. Die Musikproduktion stammt von Ray Williams. Auf der Ebene des Tons wird dem Sprechen und den damit verbundenen Orten im Dorf und in der Kirche als Räume und Mittel der Macht der Männer die Offenheit der Musik entgegengesetzt.76 Eine ähnliche Gegenwelt eröffnet sich in den Gebeten von Bess.77 Musik, ob Jethro Tull, Procol Harum, Leonard Cohen, Elton John, Deep Purple oder David Bowie, hat immer einen inhaltlichen Bezug zur Geschichte, die in diesem Kapitel erzählt wird. Dabei bildet dann die Musik von Bach am Ende des Films einen klaren Kontrast. Zeitkolorit wird zur „zeitlosen“ Musik in ein Verhältnis gesetzt. Interessant ist dabei, dass Lars von Trier mit der ausgewählten Musik von Bach und den damit wachgerufenen Erinnerungen aus dem kulturellen Gedächtnis die Passionsgeschichte Jesu mit der von Bess in Beziehung setzt. Zugleich geschieht dies nicht zu simpel. Der Regisseur nimmt kein explizit geistliches Werk von Bach. Es ist das Erhabene dieser Musik generell und nicht das spezifische Werk, das seine Wirkung entfaltet. Und er nimmt ein Instrumentalstück, keinen Choral oder ähnliches. Damit wird auch auf der musikalischen Ebene eine Differenz zwischen den zeitgenössischen Songs und der Musik Bachs gezogen. Bachs Musik hat so eine ähnliche Anmutung wie das Läuten der Glocken kurz zuvor. 3.3 T occata & Fuge d-moll (BWV 565): Martin Scorsese liebt eigentlich Mozart Der Film Aviator78 zeigt den Aufstieg des amerikanischen Tycoons Howard Hughes (1905–1976) – gespielt von Leonardo Dicaprio79, der in den letzten Jahren neben Robert De Niro zu den Lieblingsschauspielern des Regisseurs gehört) 75 Zitiert nach: A. Flemming, Antje: Lars von Trier, S. 113. 76 Vgl. ebd., S. 62–68. 77 Vgl. ebd., S. 100–103. 78 Aviator (USA, Deutschland 2004, R: Martin Scorsese). 79 Vgl.: Hassenger, Jesse: „Die letzte Muse“, in: Du 880 (November/Dezember 2017), S. 48–53.
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sowohl zum Filmproduzenten als auch zum Flugzeugbauindustriellen und passionierten Flieger in einer virtuosen Verfilmung, die mit opulenter Ausstattung und inszenatorischer Bravour das Heldenbild einer typisch amerikanischen Karriere entwirft. Vom ersten Moment an entfalten Regisseur Martin Scorsese80 und sein Produktionsdesigner Dante Ferretti opulentes Kino. Es ist eine Heldengeschichte des Scheiterns, wie sie typisch ist für das Kino von Scorsese. „Vielleicht sind Scorseses überhaupt nicht; sie geschehen. […] Es ist der Held im Stadium der Dekonstruktion. […] Scorseses Held ist das Paradox eines freien Gefangenen, eines Menschen, der sich im Gefängnis, in dem er lebt, bis zu einem gewissen Grade selbst erfindet.“81 Genau dies trifft auch auf die Figur von Howard Hughes zu. Die Musik des Films stammt von Howard Shore (geboren 1948), der auch für den Sound von Finchers Se7en verantwortlich war. Er arbeitete mit vielen namhaften Regisseuren zusammen, in den letzten Jahren auch immer wieder mit Martin Scorsese. Die einzig wichtige vorhandene Komposition, die er in Aviator nutzte, war die berühmte und vor allem bekannte Toccata&Fuge in d-Moll von Johann Sebastian Bach. Was hier zählte, war nicht das Vorantreiben der Filmhandlung oder das Unterlegen einer Deutung der Szene bzw. des gesamten Films (wie bei den beiden Filmen von Pasolini), sondern eine rein ästhetische Funktion des Erhabenen. Scorsese bzw. Shore verwenden die Musik von Bach, um eine wichtige Flugszene innerhalb des Films zu illustrieren. In seiner Leidenschaft für Filme und Flugzeuge will der Held, Howard Hughes, die Geschwindigkeit seiner Flugzeuge bzw. die Fertigkeiten seiner Piloten filmen. Dazu braucht er aber Wolken, die im Gegensatz zum blauen Himmel einen Bezugspunkt ermöglichen, um die Bewegungen der Flugzeuge in Bilder zu übertragen. Die Musik setzt ein, als plötzlich Wolken erscheinen, die Flugzeuge aufsteigen und das Filmen beginnen kann. Jetzt, am Himmel, in aller Freiheit, ertönt die Musik von Bach. Es ist der Augenblick des Besonderen, des Einmaligen. Bachs Musik macht dies, und die Bewegungen in ihrer Schnelligkeit auch hörbar. Deshalb verwendet Martin Scorsese hier eine Komposition von Bach und nicht, wie sonst meist in seinen Filmen, von Wolfgang Amadeus Mozart. „Das Movens der Musik bei Bach ist das Göttliche, bei Mozart und nach ihm ist es Musik selbst (mag sie auch gerade darin ihre Schönheit finden, ihre verlorene Gött-
80 Zur Filmästhetik von Martin Scorsese vgl. Seeßlen, Georg: Martin Scorsese, Berlin: Bertz 2004 (auch wenn der Film Aviator natürlich dort noch nicht analysiert werden konnte). Vgl. auch Pranke, Oliver in: Du 880 (November /Dezember 2017). 81 G. Seeßlen: Martin Scorsese, S. 421.
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lichkeit suchen).“82 Die in der Szene erlebte Leichtigkeit des Himmels (zwischen Sky und Heaven angesiedelt) steht gegen die Gottverlassenheit des Menschen, die sonst von Scorsese thematisiert wird. oldberg-Variationen (BWV 988): 3.4 G Welche Gegensätze bei Jim Jarmusch und Jonathan Demme Zweimal das gleiche, bekannte Werk von Johann Sebastian Bach: die GoldbergVariationen. Eine Musik, die auf Menschen beruhigend wirkt, wird dieselbe der Variationen in zwei Filmen eingesetzt, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Da handelt es sich zum einen um einen minimalistischen Kurzfilm, zum anderen um einen mehrfach Oscar-prämierten Kassenschlager, zum einen um eine kleine Studie, zum anderen um einen Thriller mit Schockelementen. Beide sind in ihren Szenen durch Schnitt und Ton (einschließlich der Musik) extrem durchkomponiert. In beiden Filmen wird die Musik von Bach diegetisch eingesetzt. Sie ist Teil der erzählten Geschichte. Dabei handelt es sich sogar um eine jeweils bewusste Entscheidung der Hauptfigur bzw. einer der beiden Hauptfiguren. Keine Musik, die nur im Hintergrund seitens der Protagonisten im Film zu hören wäre, sondern die CD bzw. Musikkassette wird bewusst durch die die Szene bestimmende Figur in den Recorder eingelegt. Die Filmfigur hat sich diese Musik für das eigene nun folgende Handeln ausgewählt oder gar erwählt. Wir hören das, was die Person wollte und sehen ihr nun beim Agieren oder Reagieren zu. Jim Jarmusch83 (geboren 1953) zählt zu den Größen des US-amerikanischen Autorenkinos. Musik spielt in seinen Filmen eine herausgehobene Rolle.84 Mit Tom Waits verbindet ihn eine lange Zusammenarbeit. Im Jahr 2002 realisierte Jarmusch ein Projekt von Kurzfilmen, indem er unter dem Titel Ten Minutes Older befreundete Regisseure bat, einen zehnminütigen Kurzfilm zum Thema Zeit zu drehen. Er beteiligte sich selbst mit dem Film Innen Wohnwagen, Nacht85 daran. Es ist ein typischer Jarmusch-Film: lakonisch-ironische Dialoge, schwarzweiß-Ästhetik, scheinbar passiert kaum etwas. Eine Schauspielerin (gespielt von 82 Ebd. S. 391f. 83 Vgl. Aurich, Rolf/Reinecke, Stefan (Hg.): Jim Jarmusch, Berlin: Bertz 2001; Mauer, Roman: Jim Jarmusch. Filme zum anderen Amerika, Mainz: Bender 2006. 84 So sind auch gleich mehrere Monografien diesem Thema gewidmet: Glasl, Sofia: Mind the Map. Jim Jarmusch als Kartograph von Popkultur, Marburg: Schüren 2014; Feiten, Benedikt: Jim Jarmusch: Musik und Narration. Transnationalität und alternative filmische Erzählformen, Bielefeld: transcript Verlag 2017. 85 Ten Minutes Older: The Trumpet: Innen Wohnwagen, Nacht (USA 2002, R: Jim Jarmusch).
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Chloë Servigny) hat eine kurze Drehpause und zieht sich in ihren Wohnwagen zurück. Für die Länge einer Zigarette (ebenfalls ein oft wiederkehrendes Motiv bei Jarmusch) will sie abschalten und zur Ruhe kommen. Zur Unterstützung legt sie eine CD in den Payer ein, will eine von Johann Sebastian Bachs GoldbergVariationen hören. Entspannende Musik – und dennoch immer wieder Unterbrechungen: Filmleute wollen etwas von ihr, das Handy klingelt. Dann sind die zehn Minuten um und der Dreh geht draußen weiter. Die beruhigende Musik signalisiert, dass bestimmte Musikwerke auch je spezifische psychosomatische Wirkungen entfalten können. Musik hat hier die Funktion, eine Unterbrechung des Alltags zu unterstützen bzw. zu ermöglichen. Jarmusch sagt selbst dazu: „Ich will sehen, was jemand bei der Arbeit tut, wenn er gerade nicht arbeitet.“86 Zugleichmacht Jarmusch deutlich, dass das Leben nie geplant verläuft und der Mensch immer mit Variationen rechnen muss. Leben findet in Übergängen statt. „[D]ie Übergangsstimmung wird durch eine der Goldbergvariationen untermalt, welche einerseits auf Jarmuschs immer wieder neu interpretierte Variationen von Alltagssituationen hinweist und andererseits aufzeigt, dass es ebendiese Situationen sind, die in immer wieder neue Variationen einen Großteil des Lebens ausmachen.“87 Es geht somit um die Fragilität des Lebens und die Überwindung der Selbstentfremdung des Menschen. Die Schauspielerin im Film will wieder ein freies Subjekt sein. „Eine Goldberg-Variation und eine Zigarettenlänge dauert Jarmuschs Film und ihr Versuch, sich selbst wieder zu spüren.“88 Ähnlich, und doch ganz anders der Einsatz derselben Musik bei Jonathan Demme (1944–2017) in Das Schweigen der Lämmer.89 Es ist die Verfilmung eines Romans aus der Hannibal-Reihe von Thomas Harris (Drehbuch: Ted Tally). Im Zentrum der mehrfach verfilmten Romanreihe steht der Psychiater und psychopatische Serienmörder Dr. Hannibal Lecter. Ein gewalttätiger Kannibale und zugleich charmanter Kulturmensch.90 Für die Filmmusik war der bereits mehrfach erwähnte Komponist Howard Shore verantwortlich. Die angehende FBI-Agentin Claire Starling (gespielt von Judie Forster) soll helfen, einen Serienmörder zu jagen. Der verurteilte Serienmörder Dr. Hannibal Lecter (gespielt von Anthony Hopkins) ist Gefangener in einer psychiatrischen Gefängnisanstalt unter einem eher sadistisch veranlagten Leiter. Mittels Claire 86 Jarmusch in einem Interview von Rüdiger Sturm in der Süddeutschen Zeitung vom 19.12.2002; zitiert nach: R. Mauer: Jim Jarmusch, S. 284. 87 S. Glasl: Mind the Map, S. 276. 88 R. Mauer: Jim Jarmusch, S. 286. 89 DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER (USA 1991, R: Jonathan Demme). 90 Zur Filmfigur vgl.: Krützen, Michaela: Väter, Engel, Kannibalen. Figuren des Hollywoodkinos, Frankfurt am Main: S. Fischer 2007.
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Starling, die unter einem Trauma aus ihrer Kindheit leidet, will das FBI die Fähigkeit Lecters nutzen, sich in die Gedankenwelt eines Serienkillers zu versetzen und durch seine Informationen ihn aufzuspüren und so vielleicht das Leben der letzten entführen jungen Frau noch retten zu können. Zwischen Lector und Claire Starling beginnt nun, und das steht im Zentrum des Films, ein „quid pro quo“-Dialog. Claire gibt etwas von ihrem eigenen Leben preis und erhält so wichtige Puzzleteile von Informationen. Am Ende gelingt Dr. Lecter die Flucht und Starling kann den Täter überwältigen. Der Film ist eine doppelte Bildungsreise ins Innere des Menschen.91 Lecter, der seine Opfer bestialisch tötet und Teile ihrer Körper kulinarisch verfeinert verspeist („Hannibal der Kannibale“) wird zugleich als Vertreter der Hochkultur präsentiert. „Dieser Gentleman hat eine Fülle von Begabungen. Die Wände seiner Zelle hat Lecter mit Zeichnungen von Florenz geschmückt, die er aus dem Gedächtnis gezeichnet hat. Der Serienmörder ist belesen, weitgereist und musikalisch bewandert. Er liebt Italien, Bach – und gutes Essen.“92 Und so legt er im Hochsicherheitstrakt des Gerichts, wohin er überführt worden ist, eine Kassette mit den Goldbergvariationen von Johann Sebastian Bach in den Rekorder, hört zu. Sein Gesichtsausdruck spiegelt sein Eintauchen in die fremde und zugleich vertraute Welt dieser Musik. Bis er plötzlich die Wärter bestialisch tötet, um dann später fliehen zu können. Das Verbindende zwischen diesen scheinbar gegensätzlichen Gefühlslagen von Selbstversunkenheit und aggressiver Tat ist aber die eigene Ruhe, in der Kontemplation wie im Handeln. Und dazu bleibt die gesamte Zeit auf der Tonspur Bachs Werk zu hören. Zum einen ein klarer Gegensatz der Anmutungen zwischen den Bildern des Mordens und der Reinheit der Musik. Zum anderen begegnet uns hier wiederum doch ein ähnliches Motiv wie bei dem Kurzfilm von Jim Jarmusch. Ein Mensch entflieht seinen Zwängen und kommt – als Mörder und als Kulturmensch – zu sich selbst.
4. CODA: EIN FAZIT Die angedeuteten Filmbeispiele zeigen: Motive der Kompositionen von Johann Sebastian Bach gibt es in allen Film-Genres. Ebenso sind ihre Funktionen, wie sie unter (3.) entfaltet wurden, vielfältig. Ihr Einsatz dient unterschiedlichen Interessen:
91 Zur dramaturgischen Konzeption des Films vgl.: Krützen, Michaela: Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt, Frankfurt am Main: S. Fischer 2004. 92 M. Krützen: Väter, Engel, Kannibalen, S. 203.
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1. Betonung der Erhabenheit bis hin zur Sakralität (Pasolini, von Trier, Scorsese); 2. Kunst (wie auch Religion) als Unterbrechung (Jarmusch); 3. Thematische Zuspitzung insbesondere in Bezug auf Schuld, Opfer, Sühne und Vergebung (Pasolini, von Trier, Demme); 4. Hervorheben einer Szene in ihrer Bedeutsamkeit für den gesamten Film (von Trier, Scorsese, Demme); 5. Kontrapunktisch im Sinne einer Brechung bzw. Verfremdung (Demme). Die Musik von Johann Sebastian Bach legt sich aufgrund ihrer kulturübergreifenden Bekanntheit nahe. Sie kann so als Zitat für breite Kreise (unabhängig von kultureller Herkunft und Bildungsgrad) genutzt werden, da sie – besonders in ihrer Emotionalität – entsprechende Erinnerungen beim Sehen und Hören wachrufen kann. Dabei hat die Filmmusik, gerade auch wenn es sich um Werke von Bach handelt, vor allem eine poetische Funktion im Film. „Was vermag Musik im Film zu finden? Jenen Ausdruck, den die Worte nie hatten und den die Wirklichkeit, als sie zum bloßen Bild wurde, verlor.“93
93 Droschel, Andreas: „Was hat Musik im Film zu suchen“, in: Droschel, Andreas (Hg.), Tonspuren. Musik im Film: Fallstudien 1994–2001, Granz: universal edition 2005, S. 20.
Museumspädagogik am Bach-Museum Leipzig Claudia Marks
1. KURZER ABRISS ZUR GESCHICHTE UND DEN AUFGABEN DES BACH-ARCHIVS Das Bach-Archiv Leipzig wurde 1950 gegründet und versteht sich als musikalisches Kompetenzzentrum am Hauptwirkungsort Johann Sebastian Bachs. Sein Zweck ist, Leben, Werk und Wirkungsgeschichte des Komponisten und der weit verzweigten Musikerfamilie Bach zu erforschen, sein Erbe zu bewahren und als Bildungsgut zu vermitteln. Dazu vereinigt das Bach-Archiv Leipzig vielfältige Aufgaben unter einem Dach: Im Forschungsinstitut mit öffentlicher Präsenzbibliothek entstehen aus der Forschungsarbeit wissenschaftliche Publikationen und Beiträge zu Tagungen; darüber hinaus werden wissenschaftliche Konferenzen organisiert. Das Künstlerische Betriebsbüro ist für die Ausrichtung des ebenfalls 1950 etablierten Internationalen Bach-Wettbewerbs samt vorbereitender Meisterkurse zuständig, seit 1999 auch für die jährlichen Bachfeste der Stadt Leipzig sowie die Kammermusikreihe im Sommersaal des Bosehauses, in dem das BachArchiv seit 1985 untergebracht ist.1 Mit dem Einzug ins Bosehaus wurde im Bach-Jahr 1985 anlässlich Johann Sebastian Bachs 300. Geburtstag das erste Leipziger Bach-Museum eröffnet. Nach einer Erweiterung zum Bach-Jahr 2000, in dem weltweit des 250. Todestags Bachs gedacht wurde, und einer weiteren, noch umfassenderen Renovierung und Erweiterung des Bosehauses von 2008 bis 2010 wurde das Bach-Museum in seiner jetzigen Form an Bachs Geburtstag durch den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler wiedereröffnet. Es ist seitdem weitgehend barrierefrei und bietet auf 450 m² Ausstellungsfläche zwölf thematisch gegliederte, interaktive und klingende Ausstellungsräume. Das Bach-Museum hat den Anspruch an sich selbst, ein 1 Ausführliche Informationen unter www.bacharchivleipzig.de.
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Museum für viele Menschen mit unterschiedlichen Zugängen zu Johann Sebastian Bach und seiner Familie zu sein und bietet deshalb z. B. alle Texte konsequent in Deutsch und Englisch an. Die kostenlose Museums-App steht außerdem in deutscher Gebärdensprache, Chinesisch, Französisch, Italienisch, Japanisch, leichter Sprache, Niederländisch, Russisch, Spanisch und in einer deskriptiven deutschen Version für Blinde zur Verfügung. Für Gruppenangebote mit Praxisanteil oder Mitmach-Aktionen zu Tagen der offenen Tür gibt es seit 2010 auch eine museumspädagogische Werkstatt, die in unmittelbarer Nähe der Ausstellung vom Innenhof aus erreichbar ist. An jedem ersten Dienstag im Monat ist der Eintritt frei, denn auch fehlendes Geld kann eine Barriere sein. Pro Jahr werden in einem eigens dafür konzipierten Raum zwei Sonderausstellungen mit exklusiven, normalerweise der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Leihgaben zu Bach-Themen gezeigt. Beispielsweise von Februar bis Juni 2019 die Ausstellung „Hofcompositeur Bach“. Passend zum Bachfest-Motto 2019 wurden unter anderem originale Bach-Handschriften wie die Widmungspartitur der Brandenburgischen Konzerte, Stimmen aus der h-moll-Messe und der Widmungsarie „Alles mit Gott und nichts ohn’ ihn“ gezeigt. Das Herzstück der Dauerausstellung des Museums ist die Schatzkammer. Darin zeigt das Bach-Archiv Teile seiner eigenen Sammlung. An der Stirnseite des Raums zieht das Bach-Portrait des Leipziger Ratsmalers Elias Gottlob Haußmann (1695–1774) aus dem Jahr 1748 den Betrachter in seinen Bann.2 Die Seitenwände widmen sich der Rezeptionsgeschichte des Bach-Portraits mittels Druckgraphiken des 18. und in Öl gemalten Kopien des Haußmann-Portraits des 19. Jahrhunderts. In einem Vitrinenband an der Stirnseite des Raumes werden komplette Stimmensätze aus dem Choralkantaten-Jahrgang3 gezeigt, ein Vitrinenband an der rechten 2 Der amerikanischen Bach-Forscher und Sammler William H. Scheide trug die bedeutendste private Sammlung von Autographen, frühen Abschriften und Erstdrucken der Werke Johann Sebastian Bachs zusammen. Er vererbte dem Bach-Archiv die zweite Fassung des Bach-Porträts von Elias Gottlob Haußmann, das er 1953 auf einer Auktion erworben hatte. Siehe dazu Wollny, Peter: „In Oel gemahlt von Hausmann“, in: BachMagazin Heft 25 (Frühjahr 2015), S. 6–7. Die ältere Fassung aus dem Jahr 1746, die vielleicht anlässlich von Bachs Eintritt in die Mitzler’sche Sozietät der Wissenschaften entstand, befindet sich im Besitz der Stadt Leipzig und ist in der Dauerausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums zu sehen. 3 Der Choralkantaten-Jahrgang ist Johann Sebastian Bachs ambitioniertestes Kompositionsprojekt. Beginnend mit dem 1. Sonntag nach Trinitatis 1724 schrieb er für jeden Sonn- und Feiertag eine Kantate, deren textliche und musikalische Gestalt sich jeweils an einem zum Evangelium passenden Choral orientierte. Dessen Verse wurden entweder wörtlich übernommen oder poetisch umgearbeitet. Nach 40 Wochen und ebenso
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Seitenwand widmet sich Themen wie Bachs Familie, Bachs Stadt etc. In der zentralen Vitrine in der Raummitte liegen originale Schriftstücke von der Hand Johann Sebastian Bachs, die sogenannten Autographe. Seine Handschriften und auch viele der übrigen Dokumente, Notenhandschriften und Drucke sind sehr empfindlich, so dass Sie mehrmals im Jahr ausgetauscht werden müssen.4
Abb. 1: Elias Gottlob Haußmann, Porträt Johann Sebastian Bachs, 1748, Bach-Archiv Leipzig.
2. MEINE BEOBACHTUNGEN UND ERFAHRUNGEN MIT DEN MUSEUMSGÄSTEN Mehr als 50.000 Gäste aus aller Welt besuchen das Bach-Museum jährlich. Davon sind die meisten Gäste Individualreisende.5 Im Rahmen der Führungen, die ich im vielen Kantaten bricht der Zyklus unvermittelt ab, da vermutlich der Textdichter verstarb. Um das gewaltige Projekt doch noch zu vollenden, ergänzte Bach in späteren Jahren noch einige weitere Choralkantaten. https://www.bachfestleipzig.de/de/bachfest/ der-kantatenjahrgang-172425. 4
Ausführliche Informationen unter www.bachmuseumleipzig.de.
5
Das ist für ein kulturgeschichtliches Spezialmuseum eher untypisch. Siehe dazu: Institut für Museumsforschung: Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr, Heft 72 (2017), S. 30.
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Museum anbiete, bin ich seit 19 Jahren mit den daran teilnehmenden Gästen im Gespräch. Die folgenden Ausführungen beruhen auf diesen Gesprächen, meinen Beobachtungen und Erfahrungen mit den Museumsgästen. Es ist mir wichtig zu erfahren, was die Teilnehmer einer Führung an Bach und seinem Werk besonders interessiert, was sie mit ihm verbindet. Nicht, weil ich neugierig wäre, sondern weil ich dann die Exponate und Inhalte, die ich während der Führung anbiete, individuell auf die jeweilige Gruppe oder einzelne Teilnehmer abstimmen kann. Darüber freuen sich die Gäste meist sehr und für mich hält dieser Ansatz das Thema frisch, denn ich kann immer wieder andere Aspekte meines Wissens abrufen und neu kombinieren, in manchen Fällen auch Neues lernen. Ein Aspekt macht diese Vorgehensweise allerdings diffizil: Aus vielen Gesprächen mit Besuchern weiß ich, dass sie Johann Sebastian Bach und einem jeweils verschiedenen Teil seines Werks emotional tief verbunden sind. Er hat einen festen Platz in ihrem Leben, dient ihrer persönlichen Rekreation und manchen in Krisenzeiten als Anker, der sie hält. Albert Schweitzer soll das Wort von Bach als dem fünften Evangelisten geprägt haben und die Reise vieler Museumsgäste zu Bach ist tatsächlich mit einer Pilgerreise vergleichbar. Oftmals haben sie diese Reise über Jahre geplant und manchmal hart dafür gespart. Oft besuchen sie nicht nur das Bach-Museum in Leipzig, sondern nach Möglichkeit noch andere Stationen seiner Biographie wie z. B. das Bach-Haus in Bachs Geburtsort Eisenach. Ihre Reise zu Bach ist vielfach auch eine Reise zu sich selbst. Sie erinnern die Situationen, in denen ihnen ein bestimmtes Bach-Werk oder eine bestimmte Bach-Biographie6 einen Impuls für ihr Leben gab, manchmal schließen sie auf ihrer Reise zu Bach auch mit Themen, an denen sie schwer getragen haben, ab. So unterschiedlich die Menschen sind, die sich auf eine solche Reise machen, allen gemeinsam ist, dass sie eine feste, persönliche Vorstellung von Bach haben. Ich respektiere das in vollem Maße. Trotzdem ist es mir wichtig, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die quellengestützte Bach-Forschung der letzten siebzig Jahre zu Tage gebracht hat und für die das Bach-Museum als Teil des Bach-Archivs steht, in meinen Führungen weiter zu geben. 6 Die Bach-Biographien von Philipp Spitta (Bd. 1, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1873, Bd. 2, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1880; gekürzte Ausgabe in einem Band: Leipzig: Breitkopf und Härtel 1935, 41961) und Albert Schweitzer (Leipzig: Breitkopf und Härtel 1908, 122005) werden nach wie vor gelesen. Aus wissenschaftlicher Sicht stellt vor allem Spittas zweibändige Studie eine wertvolle Informationsquellen dar, weil einige der von ihm herangezogenen Quellen inzwischen verloren sind. Zugleich sind beide Biographien Teil der Bach-Rezeptionsgeschichte, weil sie in weiten Teilen den persönlichen Bach-Bildern von Philipp Spitta und Albert Schweitzer Ausdruck verleihen. Das ist den meisten Bach-Fans nicht klar.
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Abb. 2: Autographe Orgelstimme zur Kantate „Liebster Gott, wenn werd ich sterben“ (BWV 8), Bach-Archiv Leipzig, Leihgabe des Thomanerchors Leipzig
3. ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST! Wenn man erwachsene, individuell angereiste Besucher in der Schatzkammer beobachtet, wird auch ohne persönliches Gespräch ganz schnell klar, wer mit den Autographen wenig anfangen kann und flüchtig daran vorbei schlendert und wen sie ansprechen, so dass er sie eingehend betrachtet. Man kann auch sehen, wen die Autographe so tief berühren, dass er oder sie regelrecht in ihrem Anblick versinken. Letztere Gäste gehören für mich zu den oben schon beschriebenen BachPilgern. Das Dilemma, das ich mit solchen Museumsbesuchern in Führungen
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zu meiden versuche, liegt im unterschiedlichen Blick auf die Bach-Autographe begründet. Für Bach-Forscher ist ein im Bach-Museum gezeigtes Bach-Autograph Gegenstand eigener Forschung und zugleich ein Arbeitsmaterial aus Bachs Zeiten, mit dem die Thomaner 27 Jahre lang die Gottesdienste in den Leipziger Hauptkirchen musikalisch gestaltet haben und das Bach selbst immer wieder an seinen musikalischen Alltag als Thomaskantor und Director musices angepasst hat. So haben Forscher beispielsweise in den letzten sieben Jahrzehnten detailliert untersucht, auf welchem Papier Bach wann schrieb.7 Es ist bekannt, wer wann für ihn kopierte. Bachs Handschrift und die aller seiner Kopisten wird mittlerweile in Gebrauchs- und Schönschrift unterschieden.8 Meistens sind die Entstehungsanlässe der Werke und ihre Rezeptionsgeschichte bekannt.9 Forscher versuchen, aus den vorhandenen Quellen und ihrer Materialität das heraus zu lesen, was bislang nirgends in Worte gefasst ist. Sie entwickeln aus der Betrachtung der Handschriften vor allem Fragen: Wie war Bachs Arbeitsalltag? Wie hat er seine Musik aufgeführt? Warum gibt es fast keine Quellen aus den 1730er Jahren? Ab wann war Johann Sebastian Bach wie krank? Was hieß das für seinen Alltag und sein Schaffen? Die Antworten auf solche Fragen fallen in der Regel eher nüchtern aus, sind Grundlage für Thesen, über die diskutiert wird. Fakten zu Johann Sebastian Bachs Familienleben, seinem Alltag, seinem Charakter, seinen Idealen oder Intentionen liefern die bekannten Quellen in der Regel entweder gar nicht oder so punktuell, dass verbindliche Rückschlüsse unseriös wären. Bach-Fans, die „pilgern“, aber haben „ihren“ Bach schon gefunden. Beobachtet man solch einen Gast in der Schatzkammer des Bach-Museums, versunken in den Anblick eines Autographen, so kann man gut nachvollziehen, warum Museen im 19. Jahrhundert Musentempel10 genannt wurden. Die Betonung liegt im Fall eines in seine persönliche Bach-Schau versunkenen Museums7 Weiß, Wisso/Kobayashi, Yoshitake: Katalog der Wasserzeichen in Bachs Originalhandschriften (= Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie IX/Addenda 1), Kassel: Bärenreiter 1986. 8 Kobayashi, Yoshitake: Die Notenschrift Johann Sebastian Bachs. Dokumentation ihrer Entwicklung (= Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie IX/ Addenda 2), Kassel: Bärenreiter 1986 und Ders./Beißwenger, Kirsten: Die Kopisten Johann Sebastians Bachs. Katalog und Dokumentation. Text- und Abbildungsband (= Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie IX/Addenda 3), Kassel: Bärenreiter 2007. 9 Eine aktualisierte Neuausgabe des Bach-Werke-Verzeichnisses (BWV) wird derzeit im Bach-Archiv vorbereitet. 10 Hochreiter, Walter: Vom Musentempel zum Lernort. Zur Sozialgeschichte deutscher Museen 1800–1914, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994.
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gastes ganz offensichtlich auf dem Wortteil Tempel. Für Bach, seine Schüler, seine musizierenden Söhne und die Thomaner waren die Handschriften Aufführungsmaterial, einfache Gebrauchsgegenstände. Aber durch den Mangel an anderen Gegenständen aus Bachs Umfeld oder Besitz, die zeitliche Distanz zwischen Bach und uns und nicht zuletzt durch die Verehrung der Fans für ihr Idol, werden aus den Handschriften „Reliquien“11, die zu schauen eine Erfahrung ist, die ich nach ungezählten Gesprächen mit „pilgernden“ Museumsgästen als für diese durchaus spirituell einschätze. Für mich entspricht dieser Akt der Transformation eines Alltagsgegenstands zu einem quasi-religiösen Gegenstand durch ein Individuum dem ReadymadeKonzept von Marcel Duchamp (1887–1968), der bei seinen Readymades allein durch den Akt seiner persönlichen Wahl industriell gefertigte Alltagsgegenstände zu Kunstwerken erhob.12 1956 ging Duchamp in einem Brief noch weiter: „Und das bringt mich dazu zu sagen, daß ein Werk vollständig von denjenigen gemacht wird, die es betrachten oder die es lesen und die es, durch ihren Beifall oder sogar durch ihre Verwerfung überdauern lassen.“13 Seitdem kreist im Kunstbetrieb die bis heute unbeantwortete Frage darum, was ein Original ist und was es ausmacht. Auch die Multiples von Andy Warhol (1928–1987) sind ein prominentes und zugleich populäres Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem Thema, was ein Original ausmacht. Ich wähle Warhols Serien aus Siebdrucken als Beispiel, weil es insbesondere bei den Werken für Tasteninstrumente, die Johann Sebastian Bach zum Unterrichten benutzte, in zahlreichen Abschriften zum Teil sehr viele Varianten eines einzigen Werks gibt. Das macht es für den Forscher schwer, für eine wissenschaftliche Notenausgabe wie die Neue Bach-Ausgabe (NBA) den erwünschten Bach-Urtext herzustellen. Georg von Dadelsen hat diese Aufgabe bei den Inventionen und Sinfonien in der NBA mit dem vergleichenden Abdruck mehrerer Varianten gelöst. Der zum Notenband gehörende, sogenannte Kritische Bericht listet nicht weniger als 54 zum Teil voneinander abhängige Abschriften des Werks auf, dessen Reinschrift Johann Sebastian Bach in Köthen 1723 anfertigte.14 Welche davon ist das „originalste“ Original und warum? Könnte ein 11 W. Hochreiter: Musentempel, S.75. 12 Z. B. unter dem Namen Richard Mutt mit dem Titel „Fountain“ 1917 ein Pissoir. Heute ist das Werk weltberühmt, 1917 wurde es zur Ausstellung nicht zugelassen. Siehe dazu Cabanne, Pierre: Gespräche mit Marcel Duchamp (= Spiegelschrift 10), Köln: Verlag Galerie Der Spiegel 1972, S. 77. 13 Zit. nach Daniels, Dieter: Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte in der Moderne, Köln: DuMont Buchverlag 1992, S. 2. 14 Dadelsen, Georg von: Inventionen und Sinfonien (= Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie V/3), Kassel: Bärenreiter, 32013. Eine Übersicht der
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Bach-Pilger eine Version von Bach ohne Objektbeschilderung von einer Schülerhandschrift überhaupt unterscheiden? Nur die Antwort auf die letzte Frage ist einfach. Für den Philosophen Walter Benjamin ist es 1935 die Aura, die im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit das Kunstwerk von der Kopie unterscheidet und die durch die Reproduzierbarkeit verfällt. Benjamin verortet die nicht reproduzierbare Echtheit eines Kunstwerks, das seine Geschichte als Kulturerbe in sich trägt in seiner Einzigartigkeit, in der Gebundenheit an ein hier und jetzt.15 Diese Sicht scheinen Bach-Pilger zu teilen. Denn statt sich auf den Weg ins Bach-Museum nach Leipzig zu machen, könnten sie inzwischen ganz bequem daheim ihren persönlichen Lieblingsautographen unter www.bach-digital.de für private Zwecke kostenfrei in Farbe ausdrucken. Sie machen sich trotzdem auf den Weg. Und sie staunen nicht schlecht, wenn sie im Rahmen einer Führung erfahren, dass ihr Idol seine Werke immer wieder verändert und sie an sein jeweiliges Alltagsgeschäft angepasst hat.16
4. „ABER ER HAT JA NICHTS AN!“ Ungefähr 7000 der Besucher des Bach-Museums, die im Lauf eines Jahres kommen, sind Kinder und Jugendliche. Etwa ein Drittel davon kommt mit der Familie z. B. zu Tagen der offenen Tür, wie dem Familientag zum Bach-Geburtstag, zur Museumsnacht oder zum Sommerfest. Aus den Gesprächen mit ihnen während der Kreativ-Angebote in der museumspädagogischen Werkstatt weiß ich, dass viele von ihnen ein Instrument spielen oder in einem Chor singen. In der ReQuellen in: Dadelsen, Georg von/Hofmann, Klaus/Wollny, Peter/Lehmann, Karen: Inventionen und Sinfonien. Kritischer Bericht (= Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie V/3), Kassel: Bärenreiter 2007, S. 11–12 sowie zu deren Abhängigkeit das Stemma auf S. 68. 15 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie (= edition suhrkamp, Band 28), Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1. Aufl. 1963. 16 Ein prominentes Beispiel für diese Vorgehensweise ist das Weihnachtsoratorium (BWV 248). Bach hat darin z. B. die Huldigungsmusiken „Laßt uns sorgen, laßt uns wachen!“ (BWV 213) und „Tönet, ihr Pauken! Erschallet Trompeten!“ (BWV 214) für das kursächsisch-polnische Königshaus aus den Jahren 1733/34 verwendet. Siehe dazu Wolff, Christoph/Rebmann, Martina: Johann Sebastian Bach, Weihnachts-Oratorium BWV 248. Faksimile der autographen Partitur in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (=Documenta musicologica II/54 / Bärenreiter Facsimile), Kassel: Bärenreiter 2018.
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gel spiegeln sie in ihren Kommentaren zu Johann Sebastian Bach das Bach-Bild ihrer Eltern wieder. Der größere Teil von Kindern und Jugendlichen besucht das Bach-Museum mit ihren ErzieherInnen oder LehrerInnen. So unterschiedlich die KITA- oder Hort-Gruppen und Schulklassen, die ins Bach-Museum kommen auch sind, eines ist bei den meisten KITA-Kindern und Schülern gleich: Wenn sie die Schatzkammer betreten, sehen sie keine „Reliquien“, wie Bach-Pilger und auch keine Arbeitsmaterialien, wie Bach-Forscher. Es bestätigt sich, was Duchamp beschreibt, oder anders ausgedrückt, es ist wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen: Im Märchen sehen die Kinder als einzige, dass der Kaiser nackt ist und in der Schatzkammer des Bach-Museums sehen sie Glaskästen mit altem, beschriebenem Papier. Und nicht wenige davon wundern sich darüber lautstark. Unter einer Schatzkammer stellen sie sich einen Ort vor, an dem Gold oder wenigstens Silber verwahrt werden. Nach solch einer Enttäuschung ist für viele Kinder dann auch alles klar: Uninteressant! Als Museumspädagogin, die ihr Thema liebt, will ich das so nicht hinnehmen. Deshalb gibt es auf Basis einer an den Qualitätskriterien für Museen orientierten Bildungs- und Vermittlungsarbeit17 rund 30 am frühkindlichen Bildungsplan und dem sächsischen Lehrplan ausgerichtete, handlungsorientierte museumspädagogische Angebote für KITAKinder ab 5 Jahren und Schüler aller Altersstufen und Schularten.
5. MIT HERZ UND MUND UND TAT UND LEBEN Dieser Titel der Bach-Kantate BWV 147, die 1723 für das Fest Mariä Heimsuchung (2. Juli) entstand, ist exemplarisch für mein museumspädagogisches Konzept. Das Schreiben mit einer Gänsefeder z. B. trägt ungemein dazu bei, Respekt vor den Autographen zu entwickeln. Sobald Schüler selbst die Erfahrung machen, wie schwer es ist, mit ungeübter Hand auch nur eine lesbare Note auf Papier zu bringen, schauen sie die Bach-Handschriften mit anderen Augen an. Sie erfassen in der Regel von allein, dass Johann Sebastian Bach beim Schreiben der Noten die Musik, die er damit aufgeschrieben hat, auch noch in dem Moment erfand. Das beeindruckt sie durchaus. Für mich persönlich wichtiger als das Material, auf dem Johann Sebastian Bach seine Musik notiert hat, ist seine Musik an sich. Deshalb ist es mir nicht nur ein dienstliches, sondern auch ein persönliches Anliegen, diese 17 Deutscher Museumsbund e.V. und Bundesverband Museumspädagogik e.V. in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Verband der KulturvermittlerInnen im Museumsund Ausstellungswesen und Mediamus – Schweizerischer Verband der Fachleute für Bildung und Vermittlung im Museum: Qualitätskriterien für Museen: Bildungs- und Vermittlungsarbeit, Berlin: 2008.
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Musik Schülern nah zu bringen. Fakt ist aber: Die wenigsten Schulklassen der Primarstufe oder der Sekundarstufe I sind in der Lage, ein Bach-Werk auf einem Schulausflug ins Museum miteinander komplett anzuhören, auch, wenn dieser Schulausflug ein Unterrichtsbesuch ist. In der Schule mag das Hören klassischer Musik in gewohnter Umgebung mit eingeübten Ritualen funktionieren, am außerschulischen Lernort Museum ist es eine Herausforderung. Mit Herz und Mund und Tat und Leben heißt für mich in diesem Fall, die Schüler vor dem Hören eines Bach-Werks selbst Musik machen zu lassen, bzw. die Musik in eine Tätigkeit einzubinden, die sie mögen. Drei solche museumspädagogischen Programme aus dem Interferenzfeld von Bild und Klang möchte ich hier näher vorstellen. Sie nehmen Bezug auf folgende Punkte aus dem sächsischen Lehrplan für die Fächer Musik und Kunst in der Grundschule: Musik wahrnehmen, verstehen und deuten; Musik erfinden, wiedergeben und gestalten mit Instrumenten; Aktionsbetontes Gestalten; Klingende Kunst.18
6. KLEINE KOMPONISTEN UND KLINGENDE BILDER Im Programm „Kleine Komponisten“ kreieren Grundschüler in Kleingruppen und mit Orff-Instrumenten Musik zu Ereignissen wie „Geisterstunde“ oder „Badetag“. Dass Bachs Kompositionsanlässe andere waren, z. B. Weihnachten oder Ostern, das verstehen sie gut. Auch, dass sie Orff-Instrumente benutzen, weil man dafür nicht üben muss und wir nur wenig Zeit miteinander haben, während Bach für die Orchesterinstrumente seiner Zeit komponiert hat, bedarf nicht vieler Worte, es ist ihnen selbstverständlich. Bei dem Programm „Klingende Bilder“ vertonen Grundschüler wiederum in Kleingruppen und wiederum mit Orff-Instrumenten, Federzeichnungen von Johann Sebastian Bach dem Jüngeren (1748–1778). Dieser Enkel des Leipziger Thomaskantors war Schüler von Adam Friedrich Oeser (1717–1799), der später auch Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) unterrichtete. Bach der Jüngere hatte eine Vorliebe für Landschaften, die er reich mit Menschen, Tieren und stimmungsvollen Ruinen belebte.19 Die Schüler erfassen die Zeichnungen meist nicht auf den ersten Blick, entdecken aber nach und nach mehr Details. Das regt ihre Fantasie und den Austausch innerhalb der Kleingruppen enorm an, was ihrem Wohlbefinden und damit der Erledigung der gestellten Auf18 Die aktuellen Lehrpläne für Sachsen sind unter https://www.schule.sachsen.de/lpdb/ online verfügbar. 19 Kommentiertes Werkverzeichnis von Fröhlich, Anke: Zwischen Empfindsamkeit und Klassizismus. Der Zeichner und Landschaftsmaler Johann Sebastian Bach der Jüngere (1748–1778), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007.
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gabe, gemeinsam Klänge zu den Zeichnungen zu erfinden, enorm zuträglich ist. Beiden Programmen gemeinsam ist, dass die absolute Mehrheit der Schüler in der Grundschule Musik nicht in Noten notieren kann. Deshalb greifen sie intuitiv auf Ausdrucksformen zurück, die sie beherrschen: Sie entwickeln aus Zeichen, die sie untereinander absprechen, auf A3-Papier mit Ölpastellkreiden, die ich ihnen zur Verfügung stelle, eigene Partituren. Der Fachbegriff dafür lautet graphische Notation. In beiden Programmen führen die Schüler ihre Klangergebnisse vorund füreinander auf und hören sich dabei erfreulicherweise tatsächlich jedes Mal respektvoll zu. Danach sind sie gerne bereit, sich auch ein Bach-Werk anzuhören. Die Aria aus den Goldberg-Variationen (BWV 988) eignet sich für Schüler sehr gut, denn die Legende20 zu ihrer Entstehung fasziniert sie. Es hilft ihnen das Stück bis zum Ende auszuhalten, wenn ich eine Aufnahme wähle, die unter vier Minuten bleibt.
7. BACHS MUSIK IN FARBE Dieses Angebot basiert darauf, dass es Harmonien und Dissonanzen nicht nur in der Welt der Töne, sondern auch in der Welt der Farben gibt. Deshalb kann man Rhythmen und Klänge auch in Farben und Formen umsetzen und abstrakte Bilder entstehen lassen. Das ist für die meisten Schüler und auch für die sie begleitenden Lehrer oder Erzieher, ungewohntes Terrain, das sie verunsichert. Deshalb stimme ich sie auf ein Experiment ein, das da heißt, mit Farben auf Papier zu tanzen. Irgendjemand ruft dann jedes Mal, dass er oder sie nicht malen könne und die Standartantwort darauf lautet, dass es bei diesem Experiment nicht um „schöne“ Bilder geht, sondern um solche, wie er oder sie sie noch nie vorher gemalt hat. Bei 20 Auch hier zeigt sich das Dilemma der nicht ausreichend vorhandenen Quellen und die daraus resultierenden Schwierigkeiten bei der Interpretation: Johann Gottlieb Goldberg (1727–1756) war 14 Jahre alt, als Johann Sebastian Bach 1741 diesen Zyklus unter dem Titel „Aria mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen“ als vierten Teil seiner „Clavier Übung“ veröffentlichte. Lange Zeit wurde die von Bachs erstem Biographen Johann Nikolaus Forkel überlieferte Geschichte, dass Bach BWV 988 für den jungen Goldberg komponiert habe, damit er sie dem Grafen Hermann Carl von Keyserlingk in dessen schlaflosen Nächten vorspielen könne, damit dieser besser in den Schlaf finde, als posthume Erfindung eingeordnet. Michael Maul stellte 2016 dieser Lesart seine Ansicht entgegen, dass Goldberg ein Wunderkind und deshalb mit 14 Jahren durchaus in der Lage gewesen war, diese Musik zu spielen. Siehe Maul, Michael: „Sie nannten ihn ‚Notenfresser‘. Der Bach-Schüler Johann Gottlieb Goldberg“, in: Bach-Magazin Heft 28 (Herbst 2016), S. 36–37.
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diesem Experiment geschieht jedes Mal, wenn ich es mit einer Gruppe durchführe, etwas, wie ich finde, Bemerkenswertes. Deswegen beschreibe ich den Ablauf des Programms hier ausführlich: Die Schüler21 hören je einen kurzen Ausschnitt aus einem Tanzsatz aus einer der Bach’schen Orchestersuiten (BWV 1066–1069). Danach finden sie zunächst Worte, die ihrer Meinung nach den Charakter der Musik beschreiben. Oft kommen Adjektive wie z. B. fröhlich, festlich, königlich, wild oder langweilig, traurig zum Einsatz. Diese Kommentare sammle ich nur, werte sie nicht. Danach fordere ich die Schüler auf, sich ein Papier auszusuchen, das für sie zur Musik passt. Zur Auswahl stehen A3-Papiere in den Farben Weiß, Grau, Zartgelb, Sonnenblumengelb, Apricot, Rosa, Knallrot, Hellblau, Leuchtendblau, Zartgrün und Grasgrün. Sitzt jeder mit seinem Blatt wieder an seinem Platz, wird auf eine Seite der Name geschrieben und das Blatt mit der leeren Seite nach oben gedreht. Als nächstes sollen die Schüler zwei Farben aussuchen, die für sie zur wilden, fröhlichen, langweiligen etc. Musik passen. An dieser Stelle wiederhole ich die Zuschreibungen der Schüler, achte aber auch hierbei darauf, sie auf keinen Fall zu werten und benenne auch auf Nachfragen hin keine „richtigen“ Farben. Der Arbeitsauftrag für den nächsten Hördurchgang lautet, eine der beiden Farben in jede Hand zu nehmen und damit beim Hören über das Papier zu tanzen. Nach dem von erstaunten bis empörten Ausrufen begleiteten ersten Durchgang halten alle Teilnehmer auf meine Aufforderung hin ihre Bilder hoch, schauen sich um und sehen, dass die Bilder der anderen auch nicht anders aussehen als ihre eigenen. Das beruhigt die Stimmung ungemein. Ich sammle die Bilder ein und lege sie kommentarlos zur Seite. Es schließen sich drei genauso aufgebaute Hör- und Mal-Durchgänge an. Einziger Unterschied im Ablauf: Nur nach dem ersten Durchgang werden die Bilder hochgehalten. Bei den drei folgenden sammle ich sie einfach ein. Ich arbeite gerne mit der Badinerie (aus BWV 1067), der Air (aus BWV 1068) und der Réjouissance (aus BWV 1069), denn sie sind sehr unterschiedlich in ihren musikalischen Charakteren. Das macht das Experiment für die Teilnehmer, die es meist nicht gewohnt sind, abstrakt zu arbeiten, besser aushaltbar. Man kann aber natürlich auch andere Musikstücke verwenden. Die Titel der Stücke nenne ich während des Experiments nicht. Da die Badinerie der kürzeste der drei von mir verwendeten Tanzsätze ist, blende ich die beiden anderen Stücke musikalisch sinnvoll nach der Dauer der Badinerie aus. Zum Abschluss des Experiments legen wir die Stapel der Durchgänge zwei bis vier auf je einer der drei Tischgruppen in der museumspädagogischen Werkstatt zur Werkschau aus. Der erste Durchgang dient nur dem 21 Im Rahmen von Fortbildungen führe ich das Programm auch mit Studenten oder Lehrern oder Erziehern durch, das Ergebnis ist aber unabhängig vom Alter der Teilnehmer immer vergleichbar.
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Verständnis der Methode und bleibt bei der Werkschau unberücksichtigt, weil er erfahrungsgemäß durch die große Aufregung und Unsicherheit am Anfang des Experiments am wenigsten aussagekräftig ist. Bemerkenswert an den Ergebnissen dieses Experiments finde ich, was auch die Teilnehmer bei der Werkschau jedes Mal sehr schnell erfassen: Auf jedem der drei Tische gibt es auffallende Gemeinsamkeiten bei den darauf ausgelegten Bildern. Es ist offensichtlich, dass diese Gemeinsamkeiten etwas mit dem Musikstück zu tun haben, zu dem die Bilder entstanden sind. Auf dem Tisch, auf dem die Bilder zur Réjouissance ausgelegt sind, dominieren regelmäßig die starken Farben, bei der Air die zarten und bei der Badinerie häufen sich oft Gelbtöne. Hier eine Übersicht zur Farbverteilung bei den Arbeiten einer siebenköpfigen Studentengruppe im Mai 2019.22 Papierfarbe
Badinerie
Air
Zartgelb
1x
2x
Sonnengelb
3x
1x
Apricot
1x
Rejouissance
Weiß Grau
Rosa Knallrot
1x 1x
4x
Hellblau
1x
Leuchtendblau
1x
Zartgrün
1x
2x
2x
Grasgrün Die verwendeten Farben und Formen auf den Papieren waren auch in diesem Durchgang sehr unterschiedlich. Das ist jedes Mal so. Der Farbauftrag dagegen ist es nie. Auch das fällt den Teilnehmern des Musik-in-Farbe-Experiments stets auf den ersten Blick auf. Da die Länge der Hör- und dadurch der Maldauer von mir an das kürzeste Stück angepasst wird, kann die Intensität des Farbauftrags nicht an der Dauer des Malakts liegen, sondern muss von der Musik ausgelöst worden sein. Interessanterweise können jüngere Schüler, die die Orchestersuiten normalerweise vorher nicht kennen, ihr Erstaunen über das Beobachten der Gemeinsamkeiten 22 Mit Blick auf den anstehenden Vortrag habe ich zu diesem Termin die Verteilung der Farben notiert, um den Zuhörern zu verdeutlichen, was sich mir bei jedem KlangfarbenExperiment unabhängig vom Alter der Teilnehmer immer wieder ähnlich präsentiert. Das mache ich normalerweise nicht, daher sind diese Daten nur exemplarisch.
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in den entstandenen Bildern bei der Werkschau zwar oft nicht in Worten ausdrücken, aber durchaus in Bewegungen und sogar mit Melodiebausteinen. Obwohl sie sie nur zweimal gehört haben, finden sie den Teil der Musik, der in ihnen nachklingt, in den Bildern anderer Schüler wieder. Sie zeigen und summen dann, was sie wo in welchem Bild sehen.23 Entspannte und gut gelaunte Schüler führen dann ernsthafte und aufregende Gespräche über Kunst und Musik mit mir. Darüber freue ich mich jedes Mal! Was für ein Unterschied im Vergleich zum Anfang des Experiments: Meist sind die Schüler nach dem jedem Kreativteil voran gehenden Ausstellungsbesuch von der Aufregung des Schulausflugs und der vielen neuen Eindrücke wegen, ein bisschen erschöpft. Und die Aussicht auf ein musikalisches Kunst-Experiment mit ungewissem Ausgang zu Beginn des Musik-in-Farbe-Programms verbessert ihre Laune nicht. Nach dem Malen zu Bachs Musik dagegen sind sie heiter und kommunikativ.
8. SCHWINGT FREUDIG EUCH EMPOR! Gerade weil KITA-Kinder und Schüler – anders als pilgernde Bach-Fans – nicht freiwillig ins Bach-Museum gekommen sind, ist es mir ausgesprochen wichtig, dass sie sich, bei dem, was sie mit mir im Museum erleben, wohl fühlen. Natürlich sollen sie Erfahrungen machen, die ihrer frühkindlichen Bildung dienen, sollen über Bach lernen, was der Lehrplan verlangt. Diese Verantwortung habe ich gegenüber den Erziehern und Lehrern, die den organisatorischen Aufwand und den Weg auf sich nehmen, mit den ihnen anvertrauten Kindern beispielsweise den klassischen Lernort Schule zu verlassen und ins Bach-Museum zu kommen. Aber noch vor all diesen Dingen sollen Kinder und Jugendliche positiv gestimmt daheim vom Erlebten berichten, es so erinnernd vertiefen und am besten mit ihren Eltern oder Großeltern an einem eintrittsfreien Dienstag oder zu einem Tag der offenen Tür freiwillig wiederkommen, weil sie entdeckt haben, dass Johann Sebastian Bach und seine Musik sie interessieren. „Schwingt freudig euch empor!“ ist der Titel einer Bachschen Geburtstagskantate aus dem Jahr 1725 (BWV 36) und 23 Siehe dazu Gruhn, Wilfried: Wie Kinder Musik wahrnehmen und erleben. Kognitionspsychologische Grundlagen ästhetischer Wahrnehmung in einer an Kinder gerichteten Musikvermittlung. Erweiterte Fassung eines Vortrags vom 11.3.2017 in der Deutschen Oper Berlin anlässlich des FRATZ International Theaterfestival und Symposium in Berlin, 10. – 15. März 2017, online dokumentiert in den FRATZ Reflexionen „Musiktheater für die Jüngsten“. Und: Gruhn, Wilfried: „Durch Bewegung zum Musikverständnis. Was die Hirnforschung zum Musikverständnis beitragen kann“, in: Mip Journal 42 (2015), S. 6–10.
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nach einer Überarbeitung auch der Titel für die Kantate zum ersten Advent 1731. Er drückt aus, was ich mir als Ergebnis meiner museumspädagogischen Arbeit für erwachsene Bach-Fans genauso wie für Kinder und Jugendliche wünsche: Sie sollen lustvoll eintauchen in das Universum Bach und dabei aktiv musizierend und/ oder hörend, freudig motiviert lesend und fragend geistig in Bewegung kommen!
„Es ist genug“: Interferenzen von Klang und Bild Hartmut Möller
Von unterschiedlichen Widerhallen und Spiegelungen der Musik Bachs sei im folgenden Beitrag der Blick zurück zu deren Bezugsobjekt gelenkt: Was eigentlich ist an Bachs Musik so ergiebig für Widerhall und Spiegelungen, für klangfarbliche und farbklangliche Neukompositionen? Meine These ist, dass in Bachs Musik selber in eigentümlicher Weise Überschneidungen von Bild und Klang vorliegen, deren Interferenzen von zeitgenössischer Auseinandersetzung bis heute thematisiert werden.
1. Seit Beginn der wissenschaftlichen Bach-Forschung ist unter sehr verschiedenen Prämissen versucht worden, die Besonderheiten dieses gewaltigen Werks zu erfassen: Bach als musikalischer Maler, Bach als Wegbereiter der Aufklärung, Bach der Zahlensymboliker, Bach der Theologe, usw. Aus heutiger Sicht sind nach wie vor die Ergebnisse der älteren Forschung inspirierend für die Frage nach der Hermeneutik der Vokalmusik Bachs, angefangen bei den Ansätzen von Philipp Spitta und Albert Schweitzer und dann von Arnold Schering und Arnold Schmitz. • Für Spitta steht Stimmung, Gefühl und Affekt im Zentrum: Die Musik des Thomaskantors sei „im Einzelnen voll unbeschreiblichen und doch stets deutungsverlangenden Ausdrucks“1. 1 Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach, Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1873, 1921, S. 402.
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• Albert Schweitzers Bach-Buch gilt nach wie vor als „die weitaus verbreitetste und wohl einflussreichste jemals erschienene Schrift über den Komponisten“2. Schweitzer sieht in Bach den „musikalischer Maler“. Sein Ziel ist es, die Bach‘sche Tonmalerei intuitiv zu ergründen und davon ausgehend eine musikalische Sprache der Kantaten zu beschreiben (ohne Verwendung von Quellen zum Musikbegriff des Barock und zur musikalischen Rhetorik). Schweitzer arbeitet eine Vielzahl bildlicher und emotional bedingter Motive heraus, u.a. Schrittmotive, Tumultmotive, Schmerz- und Freudenmotive: „Bachs Musik ist also malerisch, insofern als seine Themen und Motive, wo irgend angängig, immer durch eine malerische Ideenassoziation mitbedingt sind, ob sie sich auffällig oder unauffällig geltend machen. […] Unter dem Eindruck der gesetzmäßigen Wiederkehr bestimmter ausgeprägter musikalischer Formeln in Bachs Werken kann man nicht umhin, ihm eine ausgebildete Tonsprache zuzuerkennen.“3 • Arnold Schering und Arnold Schmitz wenden sich gegen jede subjektive Bach-Hermeneutik und gehen auf historische Kompositionslehren zurück; insbesondere mit Hilfe der musikalischen Figurenlehre suchen sie zu gesicherter Hermeneutik zu kommen. Schering knüpfte an die Tatsache an, dass es im Barock eine ‚Erfindungslehre‘ (ars inveniendi) gab und sah sich zur Entschlüsselung der Werke Johann Sebastian Bachs „mit jeglichen zur Verfügung stehenden Mitteln der musikalischen Hermeneutik“ berechtigt.4 • Arnold Schmitz fokussierte die Erforschung des Affektausdrucks auf die Dimension der musikalischen Figuren, in klarer Abgrenzung von Schweitzers Ansatz historisch. Und so fragt er in seinem Buch Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik Johann Sebastian Bachs: „Wie und von welchem Standort aus wurde in den verschiedenen Epochen und Perioden der Musikgeschichte Bildlichkeit verstanden?“5
2 Wolff, Christoph: Johann Sebastian Bach, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2000, 22005, S. XVI. 3 Schweitzer, Albert: Johann Sebastian Bach, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1908, S. 419. 4 Schering, Arnold: „Geschichtliches zur ‚ars inveniendi‘ in der Musik“, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters Band 32 (1925), S. 25–34, hier S. 30. 5 Schmitz, Arnold: Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik Johann Sebastian Bachs, Laaber: Laaber Verlag 21980, S. 15.
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2. Als exemplarischen Untersuchungsgegenstand dieses Beitrags wähle ich einen einzigen Bach-Choral, „Es ist genug“.6 Berühmt wurde er im 20. Jahrhundert besonders auch durch Einarbeitung in Alban Bergs Violinkonzert. Am 7. November 1723 (= 24. Sonntag nach Trinitatis) erklang erstmals die Kantate BWV 60 O Ewigkeit Du Donnerwort . Diese Kantate ist im Wesentlichen ein Dialog zwischen Furcht vor dem Tod und Hoffnung auf Auferstehung, gerahmt von zwei Chorälen. Der Abschlusschoral ist eben der Choral »Es ist genug“. Entstanden ist diese Kantate, folgen wir Werner Breig, in einer betont experimentellen Phase von Bachs erstem Kantatenjahrgang 1723/24. In dieser kurzen Zeit entwickelte Bach den vierstimmigen Choralsatz als Standardtypus des Kantatenabschlusses. Dabei wurde der Choralsatz mit harmonischen und satztechnischen Kühnheiten, ja Extravaganzen musikalisch aufgeladen.7 Zum Jahreswechsel 1723/24 wurden, so Breig, diese Kühnheiten auffallend seltener. Hat Bach damals wie zuvor schon in Arnstadt, Vorwürfe bekommen, zu extravagant zu harmonisieren? In Arnstadt wurde ihm ja vorgeworfen, er habe „in dem Choral viele wunderliche variationens gemachet, viele frembde Thone mit eingemischet, daß die Gemeinde drüber confundiret worden.“8 Die Melodiegrundlage des Chorals bildet eine Liedstrophe aus dem 17. Jh. (Franz Joachim Burmeister 1662) mit einer Melodie von Johann Rudolf Ahle. Ahle war als Organist Amtsvorgänger von Bach in Mühlhausen.
6 Vgl. dazu auch den breit angelegten Beitrag von Heinrich Poos, dem es darum geht, in diesem Choral „in einzigartigem Ausdruck von Sprache und Musik“ eine ‚mystische Erfahrung‘ aufzuzeigen, die „das Ausbrechen aus der ‚Zwickmühle‘ der conditio humana, ihrem Teufelskreis aus Furcht und Hoffnung, ermöglicht, und einen neuen Spielraum, eine neue Welt sich erschafft.“ - Poos, Heinrich: „Der Choral BWV 60,5 Es ist genug“, in: ders., Johann Sebastian Bach, Der Choralsatz als musikalisches Kunstwerk, Musik-Konzepte Heft 87, München: edition text & kritik 1997, S. 53–82. Hier S. 55. – erweiterte Fassung in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung, Preußischer Kulturbesitz 1995, S. 134–184. 7 Breig, Werner: „Grundzüge einer Geschichte von Bachs vierstimmigem Choralsatz“, in: Archiv für Musikwissenschaft 45 (1981), S. 300–319. 8 Neumann, Werner/Schulze, Hans-Joachim (Hg.): Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs 1685–1750 (=Bach-Dokumente, Band 2), Leipzig: VEB /Kassel: Bärenreiter 1990, S. 20.
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Abb. 1: Der Beginn der Choralmelodie „Es ist genug“
Berühmt wurde die Melodie der Anfangszeile: Drei Ganztöne hintereinander, die einen Tritonus (Diabolus in musica) aufwärts durchschreiten – eine, wie Hans Joachim Schulze wertet, „exzessive Subjektivität“9. Vom Mittelalter bis zu Ahles Zeit und weit darüber hinaus, etwa auch in Benjamin Brittens War Requiem, galt der Tritonus als unerhört. An dieser Stelle war er nur dadurch gerechtfertigt, dass durch dieses Überschreiten des gebräuchlichen melodischen Rahmens das Überschreiten vom Leben zum Tode abgebildet wird.10 Zu dieser Grenzüberschreitung im Melodischen kommt in Bachs Satz noch eine völlig extravagante Harmonisierung hinzu, eine harmonische Systemüberschreitung: Der Choralsatz beginnt mit der Haupttonart A-Dur, es folgt ein E-dur-Sextakkord, und anschließend wird völlig unüblich über Fis-Dur nach Gis-Dur, also vier Quinten aufwärts (E-H-Fis-Cis-Gis) moduliert. Fis-Dur wird dabei nicht, wie zu erwarten wäre, Dominante von h-moll, sondern daran schließt sich Cis-Dur und Gis-dur Septakkord mit Terz im Baß an. Das außergewöhnlich Spannungsvolle dieses Beginns tritt noch mehr hervor, wenn der Schluss des Choralsatzes dagegengehalten wird: Derselbe Text, in der Melodie derselbe Tritonus-Gang, aber mit konventioneller tonaler Bestätigung:
9 Schulze, Hans-Joachim: Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006, S. 497. 10 Vgl. H. Poos: Der Choral BWV 60,5, S. 57 zu dieser ersten Melodiezeile: „Ahles Erfindung ist ein melodisches Paradoxon: der A-Dur-Tonleiter ist eine Tonfolge der quinthöheren Tonart okuliert. […] In der Euphorie der ersten Zeile schient ein frömmigkeitsgeschichtlicher Aspekt instrumentiert, die Ausdruckswelt pietistischer Himmelssehnsucht in schlichten musikalischen Äquivalenten zur Vorstellung gebracht.“
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Abb. 2: Anfangszeile des vierstimmigen Choralsatzes „Es ist genug“ (aus: Johann Sebastian Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie I: Kantaten, Band 27, Kassel etc.: Bärenreiter Verlag 1968, S. 28)
Abb. 3: Anfang und Schluss des vierstimmigen Choralsatzes „Es ist genug“ (aus: Johann Sebastian Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie I: Kantaten, Band 27, Kassel etc.: Bärenreiter Verlag 1968, S. 28)
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3. Wie wurde so eine musikalische Gestaltung im Barock aufgefasst? Und welche Relevanz hatten die zeitgenössischen Deutungsansätze zum einen in der Rezeption, zum anderen im Blick auf das hörende Verstehen? Einige grundsätzliche Bemerkungen vorweg: Wesentlich im barocken Musikverständnis war, dass Musik „Gemütsbewegungen“ (= synonym für Affekte) in den Menschen hervorrufen kann und soll. So formulierte Johann Adolph Scheibe 1745: „Man hat in der Musik am meisten mit Gemüthsbewegungen zu thun.“11 In vielen zeitgenössischen Schriften wurde die Malerei zur Legitimation einer gleichzeitig malerischen und affektuosen Musik herangezogen. So stellte der berühmte Musikschriftsteller Johann Mattheson einen Zusammenhang zwischen Malerei und der notwendigen Deutlichkeit einer Melodiebildung her: „Gleichwie ein gescheuter Maler allzeit nur die eine oder andre seienr Figuren mit besonders erhabenen Farben versiehet, also muß auch der Componist in seinem melodischen Sätzen unaussetzlich und vornemlich auf eine oder andre Leidenschaft seine Absicht richten […]. Eben so wenig muß sich denn auch ein melodischer Setzer damit begnügen, daß er nur feine bunte Noten hinmale, sondern er muß sich wirklich dahin bestreben, daß in seinem Machwerck eine ausnehmende Gemüths-Bewegung herrsche […]“.12
Mattheson legte viel Gewicht auf die Feststellung, dass Rhetorik und Musik dieselben Ziele haben und dass analoge Arbeitsweisen beim Komponieren bzw. Schreiben einer Rede vorlägen. Eine wichtige Rolle wurde der musikalischen Rhetorik eingeräumt, die sich in eine lange Tradition der Lehre von den rhetorischen Figuren stellte. Im 17./18. Jahrhundert publizierte eine Reihe von Musiktheoretikern des deutschsprachigen Raums zu musikalisch-rhetorischen Figuren. Der erste Musiktheoretiker, der sich mit einer Systematik musikalischer Figuren befasste, war Joachim Burmeister aus Rostock mit seinem Werk Musica poetica, Rostock 1606. In der Folgezeit haben sich zahlreiche Autoren, Mattheson, Walther, Kircher und zahlreiche andere, mit den Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik und mit der Lehre von den Figuren befasst.13 11 Scheibe, Johann Adolph: Critischer Musicus, Neue, vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig: Verlag Breitkopf 1745, S. 101 f. 12 Mattheson, Johann: Der Vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, Faks.-Nachdruck Kassel: Bärenreiter Verlag 1954, §75, 77, S. 145. 13 Bartels, Dietrich: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber: Laaber Verlag 1997. – Notwendige Ergänzung bietet die von Janina KIassen mehrfach geforderte
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konsequente Kontextualisierung der Figuren und ihres Gebrauchs in der Entstehungs-
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In der Bezeichnung des Komponisten als Melopoet und der Komposition als „singende Rede“ akzentuiert der Zeitgenosse Johann Georg Ahle in seinen Musikalischen Sommer-Gesprächen die enge Beziehung zwischen Musik und Rhetorik: „Gleich wie die Redner in freier / und die Poeten in gebundener Rede allerlei Rhetorische Figuren gebrauchen; also bedienen sich auch mancher die Melopoeten in singender Rede. [-.] Dän weil ihm [dem Melopoeten] bewust / daß die Rednerischen und Poetischen zierligkeiten nur als zukker und gewürze zu brauchen; so figuriret er immr einen ausspruch anderst als den andern / nach dem er es tuhnlich und dienlich zu sein befindet.“14
In der Systematik der musikalischen Figuren werden von den Autoren deutlich bildhafte Figuren, Figuren der nachdrücklichen Wiederholung und Hervorhebung sowie Pausenfiguren unterschieden.15 Die Figurenlehre stand seit Anfang des 20. Jahrhunderts im Fokus der Musikwissenschaft. Erwartet wurde zunächst, dass sie quasi Schlüssel zur semantischen Entzifferung der Barockmusik sei. In der zweiten Jahrhunderthälfte setzten sich dann allerdings allmählich ernüchternde Einsichten in Mängel und Widersprüche durch; die insgesamt ca. 150 Figuren wurden nicht von allen Autoren und teilweise widersprechend behandelt, nur wenige Autoren gingen auf Probleme der musikalischen Standardisierung von Wendungen ein. Genauso wenig, wie die Figurenlehre also eine einheitliche Tradition ist, genauso wenig kann sie sinnvoll als analytischer Zugriff vereinnahmt werden, wie er seit Arnold Schering im Kontext eines aus dem 19. Jahrhundert stammenden Formdenkens in der Musikwissenschaft propagiert wurde.16
zeit der Traktate; vgl. Klassen, Janina: Nur als Zukker und Gewürze zu brauchen: Musikalisch-rhetorische Figuren im Kontext von Musikschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts, (= Studien zur Geschichte der Musiktheorie, Band 4), Hildesheim u.a.: Olms 2007. 14 Ahle, Johann Georg: „Musikalische Sommer-Gespräche darinnen ferner vom Grundund Kunstmäsigen Komponieren gehandelt wird“, Mühlhausen 1697, in: Markus Rathey (Hg.), Schriften zur Musik, Zürich u.a.: Olms, 2008, S. 16f. 15 Vgl. den gelungenen Versuch einer Übersicht der musikalisch-rhetorischen Figuren im entsprechenden Artikel von Arnold Schmitz in Blume, Friederich (Hg.): Fede – Gesangspädagogik, (=Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Band 4), Kassel u.a.: Bärenreiter 1959, S. 176–183. 16 Vgl. kritisch dazu Klassen, Janina: „Figurenlehre und Analyse“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 3 (2006), S. 285–289.
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4. Aufschlussreich ist, auf welch abgehobener, von der kompositorischen Faktur entfernter Ebene eine Deutung unseres Choralsatzes durch die Brille der Figurenlehre vorgenommen wird: Der Anfang des Satzes kann aus dem Blick der Figurenlehre als Redefreiheit interpretiert werden: Die Freiheit, etwas eigentlich Unerlaubtes zu äußern, und zwar melodisch UND harmonisch. Die entsprechende Figur heißt „Parrhesia“ (Redefreiheit, Freimütigkeit) und wird von Joachim Burmeister in seiner Schrift Hypomnematum folgendermaßen beschrieben: „Eine parrhesia geschieht, wenn den zusammenklingenden Stimmen ein imperfekter, dissonanter Klang hinzugefügt wird. Dadurch wird die Konsonanz, die, wie etwa die Quinte, in allen Teilen vollkommen sein soll, imperfekt.“17
Hans Heinrich Eggebrecht fragte deshalb vor einiger Zeit völlig zu Recht: Kann eine musikalische Gestalt in der Weise Bedeutung haben, dass sie etwas Bestimmtes meint? Er demonstrierte an Beispielen von Heinrich Schütz, dass musikalische Figuren zwar als raum-zeitliche Gestalt eine gestische Kraft in sich tragen, aber nur in Zusammenhang mit einem Text begriffliche Bedeutung hinzubekommen können. Erst dadurch kommt es zu einer partiellen Übereinstimmung zwischen musikalischer Gestalt und Gegenstand/Begriff und vermittels teilweise übereinstimmender Merkmale wird die Gestalt zum Abbild.18 Eggebrecht bezieht sich hier auf Ernst Auerbachs berühmte Schrift Figura zur christlichen Figuraldeutung (1938), welche sich übers Mittelalter hinaus bis ins 18. Jahrhundert verfolgen lasse: „figura als etwas wirkliches, welches etwas anderes, ebenfalls wirkliches darstellt und ankündigt. Das gegenseitige Verhältnis der beiden Ereignisse wird durch eine Übereinstimmung oder Ähnlichkeit erkennbar“.19 Übertragen auf die musikalischen Figuren heißt das: Alle musikalischen Figuren haben zunächst musikalische Wirklichkeit für sich. Hinzu kommt die Dimension der Figura: Wirklichkeit kann als Abbild eines anderen begriffen werden. Im Fall des „Es ist genug“ greifen zwei musikalische Dimensionen ineinander: Die den tonalen Zusammenhang übergehende Geste des Tritonus in der Me17 Burmeister, Joachim, zitiert in: D. Bartels, Figurenlehre, S. 220. 18 Eggebrecht, Hans Heinrich: „Zum Figur-Begriff der Musica poetica“, in: Archiv für Musikwissenschaft Bd. XVI (1959), S. 66–69. 19 Vgl. die Ausgabe von Balke, Freidrich/Engelmeier, Hanna (Hg.): Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des „Figura“-Aufsatzes von Erich Auerbach, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2016.
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lodie UND die systemsprengende harmonische Verbindung Fis-Dur – Gis-Dur. Durch den Text kommt dann die inhaltliche Bedeutung hinzu: „Es ist genug“. Diese musikalische Formulierung ist in ihrer Drastik eine in jeder Hinsicht singuläre Erscheinung.
5. Eine weitere Figur, die auch im Choral „Es ist genug“ an prominenter Stelle vorkommt, ist der chromatische Quartgang. Auch hier tritt das charakteristisch Doppelte der Figuren sehr deutlich hervor: Einerseits eine charakteristische Tongestalt, andererseits die daran geknüpfte außermusikalische Bedeutung, vermittelt durch den Text. In der barocken Figurenlehre gilt der chromatische Quartabstieg als Sonderform der sog. Pathopoeia, der Affekt-Darstellung (pathos: Leid, Gemütsbewegung, Affekt, Gefühl / poieo: schaffen, dichten, bewirken): „Die pathopoeia ist eine geeignete Figur, um Affekte zu erregen.[…] sie entsteht auch dann, wenn häufig vorkommende Halbtöne dem modus der Komposition auf ungewöhnliche Weise hinzugefügt werden.“20
Als Sonderform dieser Pathopoeia galt, wie gesagt, der chromatische Quartgang. Der Figurenbegriff dafür kommt nur im Traktat des Schütz-Schülers Christoph Bernhard vor. In seinem Kompositionstraktat, der die Komponierweise von Schütz spiegelt, wird der Begriff Passus duriusculus eingeführt, mit Notenbeispielen von absteigendem und aufsteigendem chromatischen Quartgang:
Abb. 4: Zum Passus duriusculus (aus: Bartels, Dietrich: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber: Laaber Verlag 31997, S. 222)
20 Burmeister, Joachim: Musica poetica, Rostock: Mylander 1606. Reprint Laaber: Laaber Verlag 2004, S. 61.
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Johann Sebastian Bach hat nicht nur, wie Willibald Gurlitt vor einiger Zeit eindrucksvoll belegen konnte, beide Versionen des chromatischen Quartgangs, abund aufsteigend, in zahlreichen Sätzen aufgegriffen, sondern er hat auch einen ganzen Tonsatz über dieser Bassklausel in zwei prominenten Stücken verwendet. Zunächst 1714 in einer Weimarer Kantate, BWV 12. Dort thematisiert der Text die Kreuzesnachfolge: „Weinen, Klagen, Sorgen Zagen, Angst und Not sind der Christen Tränenbrot, die das Zeichen Jesu tragen.“ Diesen Satz hat Bach dann viel später in seiner h-moll-Messe (BWV 232) zum zentralen Satz des Credo umgearbeitet: „Crucifixux etiam pro nobis sub Pontio Pilato, passus et sepultus est.“ Es wäre ein eigenes Thema, in welcher Weise Bach den mehrstimmigen Satz bei dieser Parodie nicht wörtlich übernommen hat, sondern vielfältig bearbeitet, formal angepasst und mit verschärfter Chromatik versehen hat.21
Abb. 5: Bassklausel des „Crucifixus“ in Bachs h-moll-Messe (aus: Walter Blankenburg: Einführung in Bachs h-moll-Messe, Kassel, Bärenreiter 1974, S. 77)
Dieses Parodieverfahren Bachs auf der Grundlage des Passus duriusculus ist natürlich immer wieder als Steilvorlage für spätere Deutungsangebote genutzt worden. So war z.B. für Willibald Gurlitt der chromatische Quartgang eine „theologisch redende Figur“, ein Sinnbild „der Theologie des Kreuzes als des Inbegriffs des christlichen Glaubens, als Symbol des Christus crucifixus, der Passion Christi, damit ineins des Lebens des Christenmenschen unter dem Kreuz.“22 Im Choralsatz „Es ist genug“ kommt die chromatisch absteigende Basslinie in einer besonderen Konstellation vor: Zwei Textzeilen haben dieselbe Melodie: „Ich fahre sicher hin mit Frieden - mein großer Jammer bleibt danieden“. Bach vertont beide Zeilen extrem gegensätzlich, und zwar mit der Gegenüberstellung von diatonischer und chromatischer Harmonisierung: In der ersten Zeile stark gefestigte Akkorde, stabile Klangverbindungen und dagegen in der 21 Vgl. dazu einführend Wersin, Michael: Bach hören: Eine Anleitung, Leipzig: Reclam Verlag 2018. 22 Gurlitt, Willibald: „Zu Johann Sebastian Bachs Ostinato-Technik“, in: Walter Vetter/ Ernst Hermann Meyer (Hg.), Bericht über die wissenschaftliche Bachtagung der Gesellschaft für Musikforschung Leipzig, 23. Bis 26. Juli 1950, Leipzig: Peters 1951, S. 240–249, hier S. 244.
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Abb. 6: Zwei melodiegleiche Zeilen aus dem Choral „Es ist genug“ in unterschiedlicher Satzart (aus: Johann Sebastian Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie I: Kantaten, Band 27, Kassel etc.: Bärenreiter Verlag 1968, S. 28)
zweiten Zeile eine sehr freie Harmonik, die aus der Spannung von vorgegebener diatonischer Oberstimmenmelodie und chromatischem Bass resultiert. Es ist der längste chromatische Gang in einem Choralsatz überhaupt, noch über die Quarte hinaus, bis zur verminderten Quinte. Die affekthaltige Halbtonbewegung abwärts und die chromatische, labile Harmonik sind zentriert auf das Textwort „Jammer“ – auch hier wieder die beobachtete Doppelung von musikalisch-sinnlicher Gestaltung und Bedeutungsgebung durch den Text. Arnold Schmitz deutet diese Zeile folgendermaßen:
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„Das ist madrigaleske Oratorie. Sie beschreibt durch eine affekthaltige Figur den Jammer, auch wenn er nach dem Sinn des Satzes schon abgestreift ist. […] Wir erkennen […] wie unlösbar selbst im Cantionalsatz Bachs Figuren […] mit dem musikalischen Gefüge verbunden sind, und dass sie selbst hier keineswegs nur Details im Klanggetriebe des Tonsatzes bestimmen, sondern Einfluss auf die Grundkräfte nehmen.“23
Die von Schmitz angesprochenen „Figuren“ Bachs sind eben auch, wie sich an diesem Choral zeigen und erleben lässt, im Sinne von ikonischen Klanggesten bis heute nachvollziehbar. Welche Rolle dabei die musikalische Figurenlehre in ihrer Allgemeinheit und Abgehobenheit spielen kann, sei dahingestellt. Auf jeden Fall mag die Engführung von Musica poetica und musikalischer Figurenlehre in der musikbezogenen Barock- und Bachforschung des 20. Jahrhundert eher ein „produktives Mißverständnis“ gewesen sein.24 Jedenfalls gibt zu denken, dass es neuerdings zu interessanten Revivals einer „historisch fundierten Hermeneutik“ in der Nachfolge von Schering und Schweitzer kommt.25
6. William Mitchell machte in seinem grundlegenden Werk Bildtheorie (2008) den Vorschlag, sich Bilder als eine weitverzweigte Familie vorzustellen, die sich auf der Basis institutioneller Diskurse differenziert haben. Mitchell erläutert in einem Diagramm, welche Mitglieder der Familie der Bilder diesen Namen in einem strengen, wörtlichen Sinne tragen: Graphische und optische Darstellungen auf der linken Seite, auf der rechten Seite geistige und sprachliche Bilder. Dazwischen dann die „perzeptuellen Bilder“: „In diesem Gebiet hausen seltsame Geschöpfe, die die Grenze zwischen physischen und psychischen Darstellungsformen der Bildlichkeit heimsuchen. Und mit dem sich unterschiedlichste Disziplinen erfassen: Physiologen, Neurologen, Psychologen, Kunsthistoriker, Philosophen, Literaturwissenschaftler“ (und wir dürfen hinzufü23 A. Schmitz: Bildlichkeit, S. 52f. 24 So Janina Klassen: „Musica poetica und musikalische Figurenlehre – ein produktives Mißverständnis“, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preussischer Kulturbesitz (2001), S. 73–83. 25 Schubert, Benedikt: Bild, Affekt, Inventio. Zur Johannespassion Johann Sebastian Bachs, Dissertation Weimar 2016, Frankfurt a. Main: Peter Lang 2017. Darin werden ausdrücklich die Ansätze von Spitta und Schweitzer als „die zwei Seiten des Musikbegriffs des Barocks“ aufgegriffen (S. 188) und für die Analyse von Bachs Johannespassion produktiv gemacht.
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Abb. 7: Ausdifferenzierungen von „Bild“ (aus: Mitchell, W.J.T.: Bildtheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2018, S. 20)
gen: Musiktheoretiker und -wissenschaftler.) Mitchell nennt Sinnesdaten, wahrnehmbare Formen, Erscheinungen – und dazu ist natürlich auch der Bereich musikalischer Bildlichkeit zu rechnen.26 Als Ergebnis meiner stichprobenartigen Analyse möchte ich festhalten: Der Choral „Es ist genug“ lässt in außergewöhnlich verdichteter Weise die Vielschichtigkeit musikalischer Figuren erleben: In der Koppelung von abbildender Klangwirklichkeit und der Trägerschaft von außermusikalischer Bedeutung im Text plus den Zuschreibungen der barocken Figurenlehre. Das alles ist in der Bildhaftigkeit von Bachs Musik mit ihren Interferenzen von Bild und Klang enthalten. Alle Figur- und Affektdarstellungen und auch die musikalischen Klangsymbole wie das musikalische Kreuzeszeichen haben in erster Linie nicht symbolische, sondern ikonische, bildhafte Funktion. Wenig mehr als zwei Jahrhunderte später inspirierte Bachs Kantatensatz seinerseits eine Sternstunde der Musikgeschichte: Alban Bergs Bearbeitung dieses Chorals in seinem Violinkonzert (1935) zitiert Bachs Satz und webt ihn in einen zwölftönigen Begleitsatz ein. Auf Berg hat sicher die Ganztonfolge Faszination ausgeübt, aber auch die chromatische Harmonisierung. Und natürlich auch die Todesthematik – gewidmet ist sein Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“, der jung verstorbenen Manon Gropius.27
26 Mitchell, W.J.T.: Bildtheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2008, S. 20–22. 27 Vgl. dazu u.a. Lorkowić, Radovan: Das Violinkonzert von Alban Berg: Analysen – Textkorrekturen – Interpretationen. Winterthur: Amadeus Verlag 1991.
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Abb. 8: Der Bach-Choral „Es ist genug“ (aus: Johann Sebastian Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie I: Kantaten, Band 27, Kassel etc.: Bärenreiter Verlag 1968, S. 28)
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Abb. 9: Der Bach-Choral „Es ist genug“ im Violinkonzert von Alban Berg (analytische Darstellung aus: Pope, Anthony: The Cambridge Companion to Berg, Cambridge: University Press 2007, S. 226)
Bach als Therapeut Isgard Ohls
Gliederung: Eine Annäherung an Johann Sebastian Bachs Persönlichkeit und Lebenswerk unter therapeutischen Gesichtspunkten kann nur im Rahmen einer fragmentarischen Spurensuche und der Betrachtung einzelner Aspekte erfolgen. Der vorliegende Aufsatz möchte dieses in sieben Unterabschnitten versuchen. Zunächst geht es um einzelne Bereiche von Bachs Persönlichkeit anhand seiner Rezeptionsgeschichte in Fach- und Kollegenkreisen (1). In einem zweiten Kapitel soll Albert Schweitzers Bachverständnis, welches nicht nur zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts Aufsehen erregend erschien und vielfache Beachtung fand, in seiner gegenwärtigen Bedeutung für therapeutisches Handeln betrachtet werden (2). Dieses kann vor dem Hintergrund der aktuellen Studienlage aus den Bereichen Musikermedizin (3) und Musiktherapie (4) in Bezug auf J.S. Bach erfolgen. Klinische Erfahrungen werden in einem sich daran anschließenden Kapitel zur Sprache kommen (5), bevor abschließend nach der Verwendung Bachscher Musik im klinischen Alltag (6) und ihrer Relevanz für therapeutisches Handeln im 21. Jh. gefragt wird (7).
1. BACHS PERSÖNLICHKEIT: BLITZLICHTER Viele Zeitgenossen und nachfolgende Künstler haben sich zu Bachs musikalischem Lebenswerk geäußert und liefern Einblicke in ihre subjektive Rezeption als Teil der allgemeinen Bachschen Rezeptionsgeschichte1. Für Max Reger war Bach nicht nur „Anfang und Ende aller Musik“, sondern musikalisches Vorbild,
1 Vgl. Zitate zu Bach unter https://www.bachueberbach.de/66-bach-zitate/ vom 31.7.2019.
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welches v.a. seine Choralphantasien beeinflusste. Ludwig v. Beethoven bekannte: „Bach sollte nicht Bach, sondern Meer heißen. Bach, dieser Ozean, ist unendlich und unausschöpfbar in seinem Reichtum an Einfällen und Harmonien“. Der britische Dirigent Sir John Eliot Gardiner berichtet von einer sehr persönlichen Beziehung zu Bachs Werken: „Wenn Bach nicht im Himmel ist, dann möchte ich da gar nicht hin. Bach ist vermutlich der einzige Komponist, dessen Werk so grossartig, so anspruchsvoll für den Musiker und so reich an spiritueller Kraft für Zuhörer wie Interpreten ist, dass man gerne allein ein Jahr in seiner Gesellschaft verbringen möchte“.
In der letzten Würdigung wird bereits der Bezug zur Transzendenz erkennbar, welcher der Bachschen Musik auf besondere Weise immanent ist. Diesen Aspekt haben v.a. die folgenden vier Künstler herausgearbeitet. Der Dichter Johann Wolfgang v. Goethe beschreibt sein Erlebnis beim Hören Bachscher Musik: „Als ich diese Musik hörte, da vernahm ich etwas von dem, wie es sein müsste in Gott, gerade bevor Gott die Welt erschaffen hat. Und es war mir, als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen und weiter keine übrigen Sinne besäße noch brauchte“.
Der Schriftstellerkollege Emil Cioran beschreibt ähnliche Erfahrungen: „Für mich gibt es nur einen konkreten Beweis für die Existenz Gottes: die Musik von Johann Sebastian Bach“.
Die Wirkung Bachscher Musik hält also auch im 21. Jahrhundert mit unveränderter Strahlkraft an, wie auch aus den folgenden beiden Zitaten ersichtlich wird: „Es mag sein, dass ein Komponist nicht an Gott glaubt, an Bach glauben jedoch alle!“
bekennt der argentinisch-deutsche Komponist, Dirigent und Regisseur Mauricio Raúl Kagel. Der Schweizer Organist und Musikwissenschaftler Hans-Ruedi Schütz parallelisiert Bach mit der Ausstrahlungskraft biblischer Texte: „Bach ist der 5. Evangelist. Sein Evangelium predigt er mit seiner vollkommenen Musik“.
Dieser kleine Überblick zeigt die große, wertschätzende Rezeptionsgeschichte Bachscher Musik im künstlerischen Kollegenkreis, angefangen von musikalischen Weggefährten bis in die Gegenwart hinein.
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2. ALBERT SCHWEITZERS BACHVERSTÄNDNIS Auch Albert Schweitzer hat auf die Frage nach seinem Verhältnis zu Bach eine sehr persönliche Antwort gefunden: „Was mir Bach ist? Ein Tröster. Er gibt mir den Glauben, daß in der Kunst wie im Leben das wahrhaft Wahre nicht ignoriert und nicht unterdrückt werden kann, auch keiner Menschenhilfe bedarf, sondern sich durch seine eigene Kraft durchsetzt, wenn seine Zeit gekommen. Dieses Glaubens bedürfen wir, um zu leben. Er hatte ihn. So schuf er in kleinen engen Verhältnissen, ohne zu ermüden und zu verzagen, ohne die Welt zu rufen, daß sie von seinen Werken Kenntnis nähme, ohne etwas zu tun, sie der Zukunft zu erhalten, einzig bemüht, das Wahre zu schaffen. Darum sind seine Werke so groß, und er so groß als seine Werke. Sie predigen uns: stille sein, gesammelt sein. […] Das ist das gewaltig Ungerechte dieser einzig großen Geister, daß sie erbarmungslos, ohne es zu ahnen, das Kleine und das mittelmäßig Gute zertrümmern und nur das Große bestehen lassen. Aber das ist die Gerechtigkeit des Lebens, des erbarmungslos wahren Lebens.2“
Von Anbeginn seiner Tätigkeit in Afrika begleitete ihn im Alltag sein Tropenklavier, eine Spezialanfertigung und ein Geschenk der Pariser Bachgesellschaft für den nach Afrika auswandernden, gefeierten Konzertorganisten und Schüler Charles Marie Widors. Der Tropenarzt von Lambarene fand in Bachscher Musik nicht nur sein ganz persönliches Refugium, seinen Ruhepol und Ausgleich von dem anstrengenden klinischen Alltag eines komplexen Spitalorganismus, für den er alleine die Verantwortung trug, sondern auch einen Ausdruck gläubiger Transzendenz. Er empfand die Gewissheit, dass alle irdische Leistung in einer höheren Ordnung geborgen, wertgeschätzt und gewürdigt wird. Am Ende der Geschichte werden Wahrheit und Gerechtigkeit sich durchsetzen, so lautet das Diktum Schweitzers an dieser Stelle. Liest man diese Worte vor dem Hintergrund seines eigenen, nicht ohne massive Widerstände verlaufenen Lebensweges, so erscheint es, als wolle Schweitzer sich an dieser Stelle selbst Trost und Hoffnung zusprechen. Bach war für ihn ein „Tröster“, wie es bereits im oben genannten Zitat heißt. Zwischen seiner ersten Ausreise 1913 und dem Zeitpunkt, zu dem der Text verfasst wurde, 1935, hatte er das Spitaldorf bereits zum dritten Mal vollkommen neu aufgebaut. Den dritten Neubau errichtete er 1927 aufgrund der Erfahrungen der Vorjahre und Bauten in Andende erstmals auf eigenem Grund und Boden in Lambarene. So wie Schweitzer in dem Text dem Bachschen Schaffen unterstellt, 2 Schweitzer, Albert: „Was ist mir J.S. Bach und was bedeutet er für unsere Zeit?“, in: Evangelisches Gemeindeblatt für Brieg, Jg. 22., Nr. 11, Brief vom 1.3.1935; Deutsches Albert Schweitzer Zentrum Frankfurt, Archivmaterial; keine Seitenangabe.
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„das Wahre zu suchen“, so kann man sein eigenes Leben als Suche nach Bewahrung trotz der Schrecken seines Zeitalters interpretieren. Mit den hehrsten Absichten und dem Wunsch nach Sühne für geschehenes Unrecht in Übersee unter Opferung der bisherigen brillianten Karriere in Europa ausgereist, traf Schweitzer in den Folgejahren seines Wirkens auf eine Fülle von Widerständen: Er geriet in finanzielle Abhängigkeit von der Pariser Missionsgesellschaft, mit welcher zudem massive dogmatische Streitigkeiten bestanden, so dass er im dritten Lambareneaufenthalt ihren Grund und Boden verließ. Die damit verbundenen seelischen Krisen infolge der erlittenen eigenen Gefangenschaft in Afrika und Europa im Zuge des Ersten Weltkrieges erschwerten ihm bereits wenige Jahre nach seiner Ankunft den Alltag. Selbst während der Gefangenschaft in St. Remy und Garaison stellte Schweitzer nicht das Musizieren und Üben ein: Er zeichnete auf einem Holztisch eine Tastatur nach und konnte damit stumm üben. Diente die Musik Bachs hier als eigenes Therapeutikum, welches ihm ureigen verhalf, die Schrecken einer Kriegsgefangenschaft zu mindern? Nach Kriegsende war er gezwungen, auf den Trümmern seiner bisherigen Existenz einen Neustart in Zeiten des verwüsteten Europas zu wagen. Dieses gelang u.a. durch therapeutische Unterstützung, welche er bei dem Zürcher Psychoanalytiker und Theologen Oskar Pfister suchte und fand. Die autobiografische Schrift Aus meiner Kindheit und Jugend 3 ist ein Ergebnis der damaligen Erfahrungen. Ein weiteres ist die Suche nach einer neuen Weltanschauung: Entgegen dem Verfall des „fin de siecle“ verfasste er seine Kulturphilosophie der Ehrfurcht vor dem Leben4 und fand damit selber wieder zu neuer Hoffnung in Zeiten der äußeren Zerstörung. Die Folgejahre und der Neustart in Afrika brachten die schmerzhafte Trennung von seiner Frau und Tochter mit sich, welche ihn aufgrund gesundheitlicher Schwierigkeiten nicht mehr nach Afrika begleiten konnten. Mit steigender Popularität nahmen auch die Anfeindungen in der Presse und Öffentlichkeit an seiner medizinischen Tätigkeit in Übersee zu. Zudem begleitete ihn kontinuierlich die finanzielle Sorge um die Fortexistenz seines völlig unabhängigen Entwicklungshilfeprojektes. Nur mit Hilfe seiner regen Konzerttätigkeit und Vorträgen, welche er in Europa hielt, sicherte er die Fortexistenz seines Spitaldorfes. D.h. die Kunst, und insbesondere Bachs Musik, haben also nicht nur 3 Schweitzer, Albert: „Aus meiner Kindheit und Jugend“, Straßburg/Bern/München: 1924, in: Rudolf Grabs (Hg.), Ausgewählte Werke in 5 Bänden (Band I), München: Union 1973, S. 253–314. 4 Schweitzer, Albert: „Kulturphilosophie I. Verfall und Wiederaufbau der Kultur“, München/Bern: 1923, in: Rudolf Grabs (Hg.), Ausgewählte Werke in 5 Bänden (Band II), München: Union 1973, S. 17–94. Schweitzer, Albert: „Kulturphilosophie II. Kultur und Ethik“, München/Bern: 1923, in: Grabs, Ausgewählte Werke in 5 Bänden (Band II) (1973), S. 95–420.
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ideell (Nähe zum bescheidenen Menschen JS Bach), persönlich (Momente der Kontemplation und Ruhe im Klinikalltag durch tägliches Üben am Tropenklavier der Pariser Bachgesellschaft), sondern auch finanziell (privates, unabhängiges „Missionswerk“ in Übersee) zum Fortbestand Lambarenes beigetragen. Dieses ist der historische Hintergrund des Bachzitates. Bereits seit seiner Jugend befasste Schweitzer sich nicht nur praktisch als konzertierender Musiker, sondern auch wissenschaftlich als Musikschriftsteller mit der Musik J.S. Bachs. Beides, seine Konzerte wie Bücher, wurden von seinen Zeitgenossen umfangreich rezipiert. So existiert im Archiv des Deutschen Albert Schweitzer Zentrums in Frankfurt folgender früher Konzertbericht des Domkantors zu Roskilde über ein Konzert Schweitzers in Göteborg: „Nach seinen Schriften hatte ich mir eine Vorstellung von seinem Orgelspiel gemacht und diese stimmte in allen Einzelheiten, als ich ihn spielen hörte. Die Sache ist die, dass er in Schrift und Rede seinen Gedanken so klar Gestalt gibt, dass jedermann alle Nuancen seiner Gedanken vernimmt. Wenn er selbst an der Orgel sitzt, wird der Gedanke verwirklicht. – […] er war eben, was ich erwartet hatte: ein Prophet der Orgel. Was ist das Eigentümliche der Kunst Albert Schweitzers? Ihre Natürlichkeit und Einfachheit. Er will nur ausdrücken, was in dem Werke des Komponisten liegt, aber dies in grosser Lebendigkeit und Eindringlichkeit. Dadurch wurde er ein Neuerer in der heutigen Orgelkunst. Von der Wende des Jahrhunderts an war es nämlich aufgekommen, dass die Spieler die Werke der grossen Orgelkomponisten auf möglichst effektvolle Weise wiederzugeben suchten. Es ist Albert Schweitzers Verdienst als Musiker, dass er sein klares Denken und sein gesundes Gefühl dafür einsetzte, in der Orgelkunst wieder die wahre Einfachheit zur Geltung zu bringen. […] Schweitzer hat mit dem Vorurteil aufgeräumt, als ob Bachs Musik ein reines Spiel mit Tonlinien sei. Er hat als erster das tiefe Leben, das in dieser Musik pulsiert, erfasst, und analysiert. Er hat gezeigt, dass Bach dichterische und malerische Gedanken in Musik auszudrücken unternimmt. Heute sind seine, vor 25 Jahren als revolutionär empfundenen Ansichten allgemein anerkannt“5.
Der Bericht eines musikalischen Zeitzeugen belegt die enge Verwobenheit aus schriftstellerischem und musikalischem Ausdruck, wie sie in Schweitzers Person wurzeln. Zugleich wird eine innere Nähe zwischen Schweitzer und der Wiedergabe der Werke des Thomaskantors spürbar mit dem Hinweis auf die folgende
5 Bangert, Emilius: Albert Schweitzer, der Musiker, Roskilde Dänemark: 1920, Deutsches Albert Schweitzer Zentrum Frankfurt, Archivmaterial, S. 28f..
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Rezeptionsgeschichte dieser Auffassung von Kunst und Kunsthandwerk. Viele Schriften widmete Schweitzer musikalischen Werken.6 Schweitzers erste Veröffentlichung 1898 war eine anonym verfasste Gedenkschrift über seinen ersten Musiklehrer, den Straßburger Eugen Münch7. Die letzten Veröffentlichungen waren Briefe im Zusammenhang der Herausgabe einer kommentierten Urtextausgabe sämtlicher Bachscher Orgelwerke in den USA 19658. Die Musik bildete also gewissermaßen eine Klammer um sein Schaffen. Schweitzers zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertretenen Thesen waren revolutionär, provokant und medienwirksam. Dieses ging bereits aus dem Bericht des Roskilder Domkantors hervor. Als Schüler Eugen Münchs (Orgel), Gustav Jacobsthals (Musiktheorie) sowie Charles Marie Widors war Schweitzer ein sehr gut ausgebildeter Musiker, wenngleich er das Fach nie professionell an einer Musikhochschule studierte. Privat bildete er sich v.a. bei Widor fort und profitierte von der Zusammenarbeit, wie aus seinem Werk über J.S. Bach hervorgeht. Im Vorwort dieses 1905 zunächst auf Französisch, 1908 bereits erweitert auf Deutsch erschienen Werkes bekennt Schweitzer seine große Liebe zu Bachscher Musik: „Ich war zehn Jahre alt, als ich die Bachschen Choralvorspiele kennenlernte. Eugen Münch, der Organist der Stephanskirche zu Mühlhausen im Elsaß, nahm mich an den Samstag6 Schweitzer, Albert: „Aufsätze zur Musik“, in: Stefan Hahnheide (Hg.), Kassel: Bärenreiter 1988. Schweitzer, Albert: Die Orgelwerke Johann Sebastian Bachs. Vorworte zu den „Sämtlichen Orgelwerken, New York 1912–1914. 1954–1967, Hildesheim/Zürich/ New York: Olms 1995. Schweitzer, Albert: J.S. Bach. Le musicien-poete, Lausanne: Breitkopf & Härtel, Foetisch 1905; Paris: Kessinger 1967. Schweitzer, Albert: Johann Sebastian Bach. Mit einer Vorrede von Charles Marie Widor, Leipzig/Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1908/1936, 11. Aufl. 1990. Schweitzer, Albert/Widor, Charles Marie: Über die Wiedergabe der Präludien und Fugen für Orgel von J.S. Bach, Kirchenmusikalisches Archiv, Sammlung gemeinverständlicher Vorträge, H.7, Leipzig: Klinner 1910, Nachdruck Bremen: Lilienthal 1976. Jacobi, Erwin R. (Hg.): Albert Schweitzers nachgelassene Manuskripte über die Verzierungen bei J.S. Bach (=Bach-Studien 8), Leipzig: Breitkopf & Härtel 1984. Jacobi, Erwin R.: Musikwissenschaftliche Arbeiten. Im Anhang: Veröffentlichungen zur Biographie von Albert Schweitzer, Zürich: Atlantis Musikbuchverlag 1984. Schützeichel, Harald: Albert Schweitzer. Briefe und Erinnerungen an Musiker, Bern/Stuttgart: Paul Haupt 1989. Schützeichel, Harald: Die Orgel im Leben und Denken Albert Schweitzers, Kleinbitterdsorf: Musikwissenschaftliche Verlagsgesellschaft GmbH 1991. 7 A. Schweitzer: Aufsätze zur Musik. 8 Bähr, Hans Walter (Hg.): Albert Schweitzer. Leben, Werk und Denken 1905–1965, mitgeteilt in seinen Briefen, Heidelberg: Lambert Schneider 1987.
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abenden mit auf die Orgel. [….] Mit tiefer Ergriffenheit folgte ich den geheimnisvollen Tönen des herrlichen alten – jetzt leider renovierten – Walckerschen Instrumentes, die sich in der dunklen Kirche verloren. Die Erinnerung an diese ersten künstlerischen Eindrücke überkam mich, während ich an den Kapiteln über die Choralvorspiele schrieb. […] Ich bin mir bewußt, Erkenntnisse und Erfahrungen ausgesprochen zu haben, die wir uns in unvergeßlich schönen und weihevollen Stunden gemeinsamen Suchens und Arbeitens zusammen erworben haben, immer aufs neue ermutigt durch die Begeisterung und Hingebung des Chores und des Orchesters und die Andacht der lauschenden Gemeinde. Dieses Werk will keine historische, sondern eine ästhetisch-praktische Studie sein“9.
Dieser biografische Rückblick steht am Beginn des Bachbuchs und wird durch das sich anschließende Vorwort seines zweiten Orgellehrers, Charles Marie Widor, ergänzt. Widor, der über persönliche politische Verbindungen Albert Schweitzer und seine Frau Helene Schweitzer-Bresslau aus der Kriegsgefangenschaft in Afrika befreite, schreibt über seine Zusammenarbeit mit Schweitzer folgendes: „Im Herbst 1893 stellte sich mir ein junger Elsässer vor und bat mich, mir auf der Orgel vorspielen zu dürfen. ‚Was denn?‘ frage ich. ‚Bach, selbstverständlich!‘ antwortete er. […] Eines Tages – es war anno 1899 – als wir gerade bei den Choralvorspielen standen – gestand ich ihm, daß mir in diesen Kompositionen manches rätselhaft sei. […] ‚Natürlich‘, erwiderte der Schüler, ‚muß Ihnen in den Chorälen vieles dunkel bleiben, da sie sich nur aus den zugehörigen Texten erklären‘. […] Indem Schweitzer – er war der Schüler – mir eines nach dem andern erklärte, lernet ich einen Bach kennen, von dessen Vorhandensein ich vorher nur eine dunkle Ahnung gehabt hatte. [VII…] Wer Schweitzers Bach liest, lernt nicht nur den Thomaskantor und seine Werke kennen, sondern er dringt zugleich in das Wesen der Musik überhaupt, der ‚Kunst an sich‘ ein. Es ist ein Buch mit ‚Horizonten‘. [IX…], weil Bach überhaupt der universellste von allen Künstlern ist. Was er in seinen Werken ausspricht, ist das reine religiöse Gefühl. Und dieses ist bei allen Menschen trotz nationaler und konfessioneller Unterschiede, in denen wir hineingeboren und hineinerzogen werden, ein und dasselbe. Es ist das Gefühl des Erhabenen und Unendlichen, für das Worte immer ein inadäquater Ausdruck bleiben und das allein in der Kunst zu wahren Darstellung gelangt. Für mich ist Bach der größte Prediger. Seine Kantaten und Passionen wirken eine Ergriffenheit der Seele, in welcher der Mensch für alles Wahre und Einende empfänglich und über das Kleine und Trennende erhoben wird … Indem Bach sich die künstlerische und religiöse Menschheit erobert, erfüllt er eine Mission an unserer Zeit, die der Schranken, die die Vergangenheit aufgerichtet hat, nicht
9 A. Schweitzer: Johann Sebastian Bach, S. V.
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Herr wird, wenn die großen Geister der Vergangenheit ihr nicht zu Hilfe kommen. Was wir gemeinsam bewundern, gemeinsam verehren, gemeinsam verstehen, eint uns“10.
Auch für Widor scheint die Auseinandersetzung mit Bachscher Musik einen therapeutischen Effekt gehabt zu haben und ihm den Glauben an das Menschen Einende in der Musik geschenkt zu haben. Vom Selbstverständnis präsentierte Schweitzer sich –im Unterschied zu seinem Lehrer – zugleich als praktischer Musiker und Musikschriftsteller. Dass die daraus erwachsende Vortragstätigkeit und Konzertreisen in Europa erst die finanzielle Basis für sein Lebenswerk in Lambarene schuf, wurde bereits erwähnt. Die musikalischen Leistungen Schweitzers beziehen sich neben der beschriebenen Bachforschung v.a. auf sein konzertantes Orgelspiel, die Reform des Orgelbaus11 und seine umfangreiche Tätigkeit als Herausgeber und musikalischer Schriftsteller, auf die bereits hingewiesen wurde. 2.1 Orgel- und Vokalmusik Für Schweitzer setzen die Bachschen Orgelchoralvorspiele als Einleitungen zum gesungenen Choral nicht nur als Sitz im Leben die geistliche Andacht voraus, sondern erfordern, wie u.a. an der Aussage Widors erkennbar wird, eine fundierte Textkenntnis. In Schweitzers musikwissenschaftlichen Arbeiten erschienen inhaltlich bereits Begriffe wie Tonmalerei, Klangsprache und Synästhesie. Die Bachforschung, welche sich an Schweitzers Pionierarbeiten im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts anschloss, hat v.a. biografische Details und die Datierung insbesondere des Kantatenwerkes historisch korrigiert. Gleichwohl bleibt Schweitzers Monografie über Bach in musikästhetischer Hinsicht ein Standardwerk mit großer geistes- und wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung. Schweitzer arbeitete hierin heraus, dass im Werk Bachs ein konventionalisierter Gebrauch von Themen und Motiven, Tonarten und Instrumenten vorherrscht, welcher die rhetorische Qualität Alter Musik als „Klangrede“ und die Bedeutung der Affektenlehre früh beschrieb. Der Schlüssel zum Verständnis liegt dabei im Kantatenwerk: Hier fand Schweitzer immer wiederkehrende, sehr bildliche Motive, am auffälligsten bei der Beschreibung von Bewegungen wie etwa Gehen, Laufen, Fallen, Darniedersinken oder bewegungsintensiven Dingen wie Schlangen, Wogen, Schiffen, Flügeln, ebenso aber auch abstrakte Affekte wie Freude, Trauer, Schmerz oder Lachen, Seufzer, Ächzen, 10 A. Schweitzer: Johann Sebastian Bach, S. XI. 11 Schweitzer, Albert: „Deutsche und Französische Orgelbaukunst und Orgelkunst“, Leipzig 1927, in: Rudolf Grabs (Hg.), Ausgewählte Werke in 5 Bänden (Band V), München: Union 1973, S. 389–466. H. Schützeichel: Orgel.
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Weinen als beschreibende Motive. Schweitzer arbeitete eine systematische Darstellung mit interpretatorischen Hinweisen der musikalischen Sprache heraus: wie einzelne musikalische Motive zu artikulieren und gestalten seien, um die zugrundeliegenden Bilder im Geiste Bachs herauszuarbeiten. Diese Gedanken hat Meinrad Walter einige Jahrzehnte später mit der Rede von geistlicher Vokalmusik als „Sprache des Glaubens“ vertieft12. Bach realisiere nach seiner Auffassung mit seiner Musik den Anspruch von Musik als Theologie. Im Hören werde diese erkannt und vom Individuum angeeignet. Für Walter existiert eine Integration von biblischer und musikalischer Inspiration in Form einer „Mehrtextigkeit“: Bach predigt seiner Auffassung nach in Wort und Ton, was mit Hilfe einer strikten Wortgebundenheit der musikalischen Phrasen in einer satztechnischen Komplexität gelinge. Bach sei es zudem gelungen, eine Integration der Vergangenheit in die Gegenwart zu erreichen, indem er die Bibel musikalisch sprachkräftig in seiner Zeit auslege. Früh erkannte bereits Schweitzer in Bach eine besondere Künstlerpersönlichkeit, wie es in einem Vortrag „Von Bachs Persönlichkeit und Kunst“ in Barcelona aus dem Jahr 1908 heißt13: „Es stimmt jedoch nicht, daß nur Musikgelehrte Bach verstehen können. Großes und Vollkommenes, ob im Bereich des Denkens oder der Kunst, ist zugleich weder unnatürlich noch gesucht, sondern schlicht, denn es entstammt nicht der Berechnung, sondern der Eingebung. […] Wie ich beobachten konnte, genügt es, dem Liebhaber das aufmerksame Hören beizubringen, und schon ist ihm Bachs Musik kein Buch mit sieben Siegeln mehr, sondern er versteht sie gut“14.
Auf den Inhalt Bachscher Musik geht er im Folgenden näher ein: „Welche heilige Stimmung herrscht in diesen Werken! Sie wurden nur um des Schaffens willen geschaffen, als Gespräche der Seele mit sich selbst. […] Unsere Künstler können ja keine ewigen Werke schaffen, denn sie komponieren zu sehr für den Ruhm der Welt, so daß ihre Kunst nicht ihr Leben und ihre Religion widerspiegeln kann, wie es bei Bach der Fall ist“15.
Im weiteren Verlauf des Vortrags kommt Schweitzer auf aufführungspraktische Hinweise zu sprechen. Es heißt dort: 12 Walter, Meinrad: Musik-Sprache des Glaubens. Studien zum geistlichen Vokalwerk J.S. Bachs. Mit einem Vorwort von Helmuth Rilling, Frankfurt a. M.: Knecht 1994. 13 A. Schweitzer: Aufsätze zur Musik, S. 16–32. 14 Ebd., S. 22. 15 Ebd., S. 25.
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„Es kommt vor allem darauf an, in welchem Geist Bach wiedergegeben wird. Bei jeder Aufführung soll man dem Hörer etwas geben, ihm die Aussage der Musik mitteilen, ihn vom Weltlichen lösen. Die Töne sollen ihm vom Frieden und von der Heiterkeit und von jener Sanftheit erzählen, aus der wir Kräfte zum Weiterleben schöpfen. Versetzt Bachs Musik in diesen eigenartigen Zustand der Entrückung, kann man durch Aufführungen etwas davon den anderen mitteilen, dann hat man den Meister wirklich verstanden und darf sein wahrhaftiger Verkünder heißem. Man darf ja nicht vergessen, […] daß Bach nicht nur einer der größten Tonkünstler ist, sondern auch einer der größten Mystiker, die die Welt hervorgebracht hat“16.
Interessanterweise adelt Schweitzer mit dieser Aussage Bach zum Mystiker, wie er es ebenfalls in seinem theologischen Werk „Die Mystik des Apostels Paulus“ einige Jahre später tat17. Es entstehen damit Parallelen zwischen beiden Männern. Wie kann das musikalische Erbe Bachs theologisch verstanden werden? 2.2 Innovation: Bach als Therapeut Im Gesamtkunstwerk seiner Musik erscheint Bach nach Aussage Schweitzers nicht nur als Künstlerpersönlichkeit, wie bereits beschrieben, sondern vielmehr auch als Architekt, Dichter, Maler und Mystiker. All diesen Einzeldefinitionen kommt jeweils therapeutische Qualität zu. Als „Klang gewordene Gotik“ analogisiert Schweitzer Bachs Musik zunächst mit dem gotischen Baustil, in welchem die Hauptlinien eines Gesamtwerkes umso subtiler in Erscheinung treten, je filigraner und reicher die Detailarbeiten ausfallen. Die Gestaltungsprinzipien sind dabei neben architektonisch gesetzten und verstandenen Haupt- und Nebenabschnitten eine Terrassendynamik sowie Gegenüberstellung korrespondierender Klanggruppen. Dabei ist Bach zugleich „Maler und Dichter mit Tönen“, wie Schweitzer in Auseinandersetzung mit der musikästhetischen Kontroverse zwischen Vertretern der absoluten Musik und neudeutschen Schule herausarbeitete. Aufgrund der elementaren Wort-Ton-Musik in seinem Werk liefert Schweitzer damit einen Gegenentwurf zu Philipp Spitta, für welchen das Bachsche Werk unabhängig von bildhaft-textlichen Bezügen zu deuten sei. Schweitzer parallelisiert Bach vielmehr mit dem von ihm verehrten Richard Wagner und dessen Gesamtkunstwerkkonzept als Vereinigung aller Künste auf der Bühne. Als Malerei deutet Schweitzer Bachs Bestreben, textliche Inhalte musikalisch abzubilden: als Dichtkunst die Umsetzung durch musikalische Motive, denen eine satzbestimmende Bedeutung zukommt. 16 Ebd., S. 32. 17 Schweitzer, Albert: „Die Mystik des Apostels Paulus“, in: Rudolf Grabs (Hg.), Ausgewählte Werke in 5 Bänden (Band IV), München: Union 1973, S. 15–510.
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Zuletzt wird Bach mit seinen mystischen Qualitäten von Schweitzer als Erzieher der Menschheit beschrieben. Er trennt Bachs bürgerliche Existenz von seiner künstlerischen Persönlichkeit, welche dem Irdischen entrückt gewesen sei und daher auch der Psychologie nicht zugänglich sei. Bach wurde damit zum ganz persönlichen Tröster Schweitzers. Seine Musik gewann für ihn therapeutische Qualitäten. Nach Aussage Schweitzers war Bach zugleich für seine Mitmenschen ein „Prophet im Geiste“, wie bereits der Apostel Paulus vor ihm. Wie sieht es mit der gegenwärtigen Rezeption des Lebenswerkes Bachs im therapeutischen Kontext aus?
3. MUSIKERMEDIZIN UND BACH: STUDIENLAGE Bei der Suche in der internationalen Forschungsdatenbank „Pubmed“18, welche v.a. von den (medizinischen) Naturwissenschaften genutzt wird, unter den Stichworten „bach music medicine“ wie „bach music therapy“ erscheinen 2019 jeweils 13 Einträge. Die gelisteten Studien beschäftigen sich neben einer Auseinandersetzung mit Bachs Augenleiden und funktionellen Studien auch mit musikmedizinischen wie musiktherapeutischen Aspekten. Aus der klinischen Forschung erscheinen mir im Kontext dieser Arbeit v.a. zwei Studienkomplexe Relevanz zu haben. H. Trappe konnte in verschiedenen Studien19 sowie einem Review20 nicht nur nachweisen, dass sich die Musik Bachs, neben Amadeus Mozart und italienischen Barockkomponisten im Gegensatz zu Heavy Metal- oder TechnoKlängen u.a. positiv auf das autonome Nervensystem und das kardiovaskuläre System auswirkt. Der positive Einfluß konnte ganz konkret gemessen werden, bezogen auf die Lebensqualität, die Herzratenvariabilität, den Blutdruck und die Reduktion des Gebrauchs von Benzodiazepinen als anxiolytisch und sedativ wirkender Medikamentengruppe in einem präoperativen und intensivmedizinischen Behandlungssetting. In einem weiteren Studiendesign von Rosenfeld Keidar et
18 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/ vom 31.07.2019. 19 Trappe, Hans Joachim: „Role of music in intensive care medicine“, in: International journal of critical illness and injury science 2,1 (2012), S. 27–31. Trappe, Hans Joachim: „Musik und Gesundheit. Welche Musik hilft welchem Patienten – welche eher nicht?“, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift, 134, 51/52 (2009). Trappe, Hans Joachim: „Johann Sebastian Bach: Leben, Werke und seine Bedeutung für die Kardiologie“, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift, 139 (2014), 51–52. 20 Trappe, Hans Joachim: „Review. The effects of music on the cardiovascular system and cardiovascular health“, in: Heart 96 (2010), S. 1868–1871.
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al. wurde 201421 allerdings gezeigt, dass Mozarts Musik sich positiver auf Frühgeborene hinsichtlich ihres metabolischen Ruheenergieaufwands (resting energy expenditure = REE) auswirke als die Musik des Thomaskantors. Hier sind weitere Studien anzustreben, welche spezielle musikalische Punkte berücksichtigen, etwa den Einsatz ganz konkreter Werke in Bachs Oevre (z.B. Instrumental- versus Vokalmusik), sowie einzelner Interpretationsstile (z.B. Historische Aufführungspraxis) und Interpreten.
4. MUSIKTHERAPIE UND BACH Weiteren Studiendesigns zufolge kann der aktive Einsatz Bachscher Musik dem menschlichen Genesungsprozess zu Gute kommen. Bereits 2005 zeigten Eschrich et al.22, dass emotional verknüpfte und konnotierte Musik am besten im episodischen Langzeitgedächtnis gespeichert wird, wenn sie zudem eine gewisse Struktur, wie sie beispielsweise der Bachschen Musik inhärent ist, aufweist. Karmonik et al. konnten weiterführend 2016 nachweisen23, dass sowohl die Wahl beliebter, starke Emotionen hervorrufender Musik wie die als „ungewohnt“ bezeichnete Musik Bachs, beispielsweise der 1. Invention die funktionale Konnektivität von Patienten nach einem Schlaganfall wesentlich modulieren und damit verbessern konnte. In einer Folgestudie fragten Wu et al. 201924, inwiefern die Konnektivität und damit Funktionalität einzelner Gehirnareale durch den gezielten Einsatz von Musikwerken – im Sinne der passiven Musikrezeption, definiert unter dem Oberbegriff „Musikermedizin“ in Unterscheidung zur Beziehungsarbeit aktiv praktizierter Musiktherapie – mittels Bildgebung (funktionelles MRT) im einzelnen nachgewiesen werden kann. In diesem Studiendesign unterschieden die 21 Rosenfeld Keidar, H/ Mandel, D/ Mimouni, F. B./ Lubetzky, R: „Bach music in preterm infants: no ‚Mozart effect‘ on resting energy expenditure“, in: Journal Of Perinatology 34, 153 (2014). 22 Eschrich, Susann/Münte, Thomas F./Altenmüller, Eckart O.: „Remember Bach“, in: Annals of the New York Academy of Sciences, 1060 (2005), S. 438–442. 23 Karmonik, Christof/Brandt, Anthony/Anderson, Jeff R./Brooks, Forrest/ Lytle, Julie/ Silverman, Elliott/ Frazier, Jefferson Todd: „Music Listening Modulates Functional Connectivity and Information Flow in the Human Brain“, in: Brain Connectivity 6, 8 (2016), S. 632–641. 24 Wu, Katherine/Anderson, Jeff/ Townsend, Jennifer/Frazier, Todd/Brandt, Anthony/ Karmonik, Christof: „Characterization of functional brain connectivity towards optimization of music selection for therapy: a fMRI study“, in: International Journal of Neuroscience 129:9 (2019), S. 882–889.
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Forscher zudem fünf unterschiedliche Musikgenres (selbst gewählte bekannte Musik, unbekannte Musik Bachs mit und ohne visuelle Reize, unbekannte japanische Musik sowie gesprochene Worte von Charles Chaplin). Die komplexesten Reaktionen zwischen den einzelnen untersuchten Gehirnarealen fanden bei der selbstgewählten Musik statt. Beim Hören Bachscher Musik waren die Sprachverarbeitungsbereiche bzw. Gehirnareale am stärksten miteinander vernetzt. Die Ergebnisse führten zu einem verstärkten, additiven Einsatz dieser Musik in der Schlaganfallbehandlung. In einer dritten Studie konnten Forooghy et al. 201525 in Teheran nachweisen, dass sich sowohl das Angstniveau als auch die hämodynamischen Parameter durch die musikrezeptive Intervention des Hörens von Instrumentalmusik, entweder von J.S. Bach oder Mariko Makino, während einer Koronarangioplastie, d.h. Katheterintervention am Herzen, signifikant verbesserten. Die Autoren empfehlen, und das ist fast allen bislang durchgeführten Studien zu musiktherapeutischen wie musikmedizinischen Interventionen gemein, den vermehrten Einsatz dieser preiswerten, sicheren, vergleichsweise einfachen wie nichtinvasiven supportiven Maßnahmen im klinischen Alltag.
5. KLINISCHE UND THERAPEUTISCHE ERFAHRUNGEN MIT BACHSCHER MUSIK Die musiktherapeutische Arbeit, sowohl die aktive als auch passive spielt bereits im klinischen Alltag eine zentrale Rolle im Rahmen des multimodalen Behandlungssettings. Über die Erfahrungen mit der Einführung der Musiktherapie in dieses spezielle Setting wurde an anderem Ort berichtet26. Anders als der Ansatz einer „Musikapotheke“, spielt im musiktherapeutischen Arbeiten die psychotherapeutische Beziehung eine zentrale Rolle. Als künstlerische Therapieform nutzt sie bewusst die Ressource Musik für den Umgang mit Gesundheit und Krankheit und ergänzt die vorwiegend gesprächsorientierten Psychotherapieverfahren durch das nonverbale Medium Musik. Über die Auswertung mittels mixed methods einer neuen, offenen Singgruppe gegenüber der traditionell aktiven geschlossenen instrumentalen Musiktherapiegruppe im stationären Behandlungs-
25 Forooghy, Masoumeh/Mottahedian Tabrizi, Elaheh/ Hajizadeh, Ebrahim/Pishgoo, Bahram: „Effect of Music Therapy on Patients' Anxiety and Hemodynamic Parameters During Coronary Angioplasty: A Randomized Controlled Trial“, in: Nursing and midwifery studies 4, 2 (2015). 26 Ohls, Isgard: „Rhythm is it! Aus der musikalischen Praxis der Depressionsbehandlung einer Universitätsklinik“, in: Psychotherapie und Seelsorge 1,1 (2018), S. 32–34.
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setting des Hamburger Universitätsklinikums wurde an anderem Ort berichtet.27 Entscheidend für den therapeutischen Kontext erscheint im Anschluss an Frohne-Hagemann28 für die Gruppendynamik Musik nicht nur als Ressource, Container, Katalysator und basaler Sinnesstimulus, sondern v.a. auch als Projektionsfläche, intermediäres Objekt und emotionaler Resonanzgeber mit soziokulturell integrativer Funktion. Speziell im Kontext der Depressionsbehandlung erscheint Musik im Anschluss an Susanne Metzner29 komplementär zur Psychopathologie, bestehend aus Antriebslosigkeit, Sprachlosigkeit, Selbstwertproblematik, Freudlosigkeit und einer global negativen Sicht auf das Selbst, die Umwelt wie Zukunft. Musiktherapie kann helfen, Gefühle ohne Worte auszudrücken, verschlossene Türen zum Wiederentdecken des emotionalen Erlebens erneut zu öffnen, Lebensfreude zu entdecken, über den Zugang zur eigenen Vitalität, Ressourcen und Stärken zu erinnern und ein Stück der Selbstwirksamkeit wiederzugewinnen. Bachs Musik wird in diesem Rahmen v.a. im Zusammenhang der passiven Musikrezeption eingesetzt. Die Integrative Musiktherapie (IMT) versteht sich dabei als ganzheitliche Methode, welche psychotherapeutische, musikagogische und musikheilpädadgogische Maßnahmen miteinander verbindet und klinisch nutzt. In der psychotherapeutischen Ausbildung hat der Musiktherapeut Matthias Witzel ein Verfahren der „Selbsterfahrung mit dem Medium des Bachschen Kantatenwerks“ entwickelt30, in welchem Bachsche Musik konkret für existentielle wie intuitive Erfahrungen, aber auch die Reflexion des eigenen Lebensweges wie emotionaler Prozesse eingesetzt wird. Anhand verschiedener Auseinandersetzungen mit den Texten Bachscher Kantaten werden meditative, körperbetonte und weitere Herangehensweisen, z.B. eine Textneudichtung eingesetzt, um den besonderen Erfahrungswert Bachscher Musik herauszuarbeiten. Witzel benennt diesen als speziellen Synergieeffekt von strukturellen, kompositorischen, ästhetischen und qualitativen Faktoren, welche sich für den therapeutischen Gebrauch gut eigneten. 27 Hoog Antink, Monika T./Weymann, Eckhard/Ohls, Isgard: „Die Stimme als Selbstrepräsentanz. Der Einfluß vokaler Gruppenmusiktherapie auf das Selbstwertgefühl in der Depressionsbehandlung“ in: Musiktherapeutische Umschau 40, 2 (2019), S. 113–127. 28 Frohne-Hagemann, Isabelle (Hg.): Rezeptive Musiktherapie -Theorie und Praxis, Wiesbaden: Reichert Verlag, Zeitpunkt Musik 2004d. 29 Metzner, Susanne: „Musiktherapie bei Depression – Forschungsergebnisse aus klinischer Sicht“, in: Musiktherapeutische Umschau 35,1 (2014b), S. 16–27. Metzner, Susanne/Busch, Veronika: „Musik in der Depressionsbehandlung aus musiktherapeutischer und musikpsychologischer Sicht“, in: Bernatzky, Günther/Kreutz, Gunter (Hg.): Musik in der Medizin, Wien: Springer Verlag, 2015, S. 189–218. 30 http://www.matthias-witzel.com/data/IT-Arbeit_mit_Musik_von_J.S.Bach.pdf vom 31.07.2019.
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6. BACHS MUSIK IM ALLTAG Im Deutschen Ärzteblatt wurde 2013 im Rahmen einer Studie genau dieser therapeutische Effekt Bachscher Musik sowohl zur Affektmodulation als auch Bewältigung psychosomatischer Erkrankungen herausgearbeitet31. Unter der Tabellenüberschrift „Welche Musik hilft wann?“ werden einzelne Kompositionen erwähnt, welche sich positiv auf Herz-Kreislauferkrankungen (z.B. Bachs Brandenburgisches Konzerte oder die Fugen des Wohltemperierten Klaviers), eine Förderung von Konzentration und Verbesserung depressiven Erlebens (z.B. Bachs Englische und Französische Suiten sowie die Toccata und Fuge d-Moll) oder auf die Entspannung und Stärkung des Immunsystems auswirken (z.B. Goldbergvariationen). Interessant erscheint bei letzterem Ergebnis, dass das Werk ursprünglich von Bach gegen die Schlaflosigkeit seines Fürsten komponiert wurde. Dieser günstige Effekt hat sich offensichtlich über die Jahrhunderte erhalten. Die heilende Wirkung Bachscher Musik auf Körper, Geist und Seele ist also nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv durch Studien belegt. Im komplexen, psychosomatischen Klinikalltag kann Musik verschieden eingesetzt werden: Sie kann beruhigen oder anregen, entspannen oder sogar Schmerzen lindern. Aus diesem Grunde wird sie bei der Therapie verschiedener Störungen und Erkrankungen eingesetzt, vorwiegend in der Psychiatrie, Neurologie und Geriatrie. Klinisch nachgewiesen sind positive Effekte auf die Demenz, Depression, Autismus und die Schmerztherapie. Zudem kann Musik die Sterblichkeit bei Frühgeborenen reduzieren (s. vorbeschriebener „Mozarteffekt“). Die Unterdrückung der Ausschüttung von Stresshormonen macht Musik im Rahmen des Einsatzes bei medizinischen Interventionen zu einem wichtigen Baustein im Gesamtbehandlungsplan. Nicht ohne Grund neigen eigene Operateure dazu, sich mittels passiver Musikrezeption in einen guten Zustand am Operationstisch zu versetzen.
7. ABSCHLIESSENDE BETRACHTUNG: BACHZITATE Der Einfluss Bachscher Musik auf die lutherische Kirchenmusik ist ein bekannter Faktor. Das interdisziplinäre, eklektische musikliterarische Gesamtkunstwerk Albert Schweitzers erscheint dabei als gelungene Annäherung an Bach im 20. wie 21. Jahrhundert. Im medizinisch-therapeutischen Bereich besteht weiterhin ein ausgeprägtes Forschungsdesiderat zum systematischen Einsatz Bachscher Musik. 31 Klinkhammer, Gisela: „Heilkraft der klassischen Musik: Bach und Mozart gegen Bluthochdruck“, in: Deutsches Ärzteblatt International 51–52 (2013), siehe https://www. aerzteblatt.de/int/article.asp?id=152514 vom 31.7.2019.
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Erste Studienansätze wurden exemplarisch vorgestellt. Die bedeutende therapeutische Wirkung Bachscher Musik im synästhetischen Interferenzfeld von Bild und Klang, wie sie früh im 20. Jh. exemplarisch von Albert Schweitzer erkannt und an verschiedenen Stellen in seinem umfangreichen Opus beschrieben wurde, gilt es anhand aktueller Studiendesigns aufzugreifen und für den therapeutischen Bereich systematisch zu erweitern bzw. fortzuführen. Diese Herangehensweise dürfte im Geiste des musikalischen Großmeisters erfolgen. J.S. Bach bekannte zu Lebzeiten:: „… damit dieses eine wohlklingende Harmonie gebe zur Ehre Gottes und zulässiger Ergötzung des Gemüts und soll wie aller Musik … Finis und Endursache anders nicht, als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths sein. Wo dieses nicht in acht genommen wird, da ist’s keine eigentliche Musik, sondern ein teuflisches Geplärr und Geleyer“32.
32 https://www.bachueberbach.de/100-bach-faq-und-bald-sind-es-500-bach-faq/faq119-wo-gibt-s-bach-spr%C3%BCche-bach-aphorismen-bach-zitate-bach-geschichten/= vom 31.7.2019.
Synästhetische Wahrnehmung und das Visuelle in der Musik des Barock Michael Haverkamp
1. EINLEITUNG Mit Bezug zu der Musik des Barock sind zwei Aspekte der Verknüpfung von auditiven und visuellen Wahrnehmungsinhalten bedeutsam: Zum einen erfreut sich die Malerei mit musikalischen Mitteln spätestens seit dem 17. Jahrhundert großer Beliebtheit bei Komponisten und Zuhörern.1 Diese Art der „Musikmalerei“ findet vorwiegend in Vokalkompositionen, seltener in Instrumentalwerken Anwendung. Ihre Sinnhaftigkeit wird im 18. Jahrhundert neben der Anwendung rhetorischer Prinzipien vielfach diskutiert.2 Analysen visueller Bezüge in Motiven von Johann Sebastian Bach, Georg Philipp Telemann, Antonio Vivaldi und anderen finden sich zahlreich in der Literatur.3 Darüber hinaus unterstützen tonmalerische As1 Ruf, Wolfgang: „Malen und Ausdrücken in der Musikästhetik des 18.Jahrhunderts“, in: Carsten Lange/Brit Reipsch (Hg.), Telemann, der musikalische Maler, Hildesheim: Georg Olms Verlag 2010, S. 33–43. 2 Z.B. durch Mattheson, Johann: Der vollkommene Kapellmeister, Hamburg: Christian Herold 1739, S. 200–203. Kritik an Telemanns musikalischer Malerei insbesondere durch Christoph Daniel Ebeling, 1770, zitiert bei Rampe, Siegbert: Georg Philipp Telemann und seine Zeit, Laaber: Laaber-Verlag ²2017, S. 305; siehe dazu auch B. Reipsch: „,… nach Anleitung der Poesie zu sehr mit Mahlereyen überladen‘ – Zu Christoph Daniel Ebelings Telemannbild“, in: C. Lange/B. Reipsch: Telemann, der musikalische Maler, S. 126–145. 3 Zum Beispiel im Sammelband: C. Lange/B. Reipsch (Hg.): Telemann, der musikalische Maler. Zu J.S. Bach siehe z.B. Schleuning, Peter: Die Sprache der Natur. Natur in der Musik des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1998, insbesondere im Teil II Kapitel 1.1.: Bach und Mattheson im Zwiegespräch über das Gewitter, S. 59–69.
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pekte den programmatischen Inhalt einer Komposition. Aus diesem Grund finden sie sich mit besonderer Häufigkeit in Vokalwerken wie Kantaten und Oratorien, sowie in der Opernmusik. Grundsätzliche Kritik an solchen Elementen einer Nachahmungsästhetik wurde bereits im 18. Jahrhundert von Verfechtern einer Autonomieästhetik laut4 – lange bevor das Thema im nachfolgenden Jahrhundert als Gegensatz von Programmmusik zu absoluter Musik Anlass kontroverser Diskussionen gab.5 Im 18. Jahrhundert wurde das Augenmerk zusätzlich auf die hörbare Nachahmung der Natur gelenkt.6 Insbesondere wurde diskutiert, ob dies den künstlerischen Charakter einer Komposition stützt oder aber vermindert. Für den letztgenannten Fall wurde eine Beschränkung musikalischer Motive auf die Darstellung von Affekten empfohlen.7 Die intuitive Plausibilität einzelner Motive wird in der zeitgenössischen Diskussion jedoch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Auch wenn Stimmen aus dem Publikum, wie etwa von musikalisch wenig gebildeten Personen nicht überliefert sind, muss allein aufgrund der Häufigkeit visueller Entsprechungen davon ausgegangen werden, dass diese Elemente unmittelbar verstanden wurden, und nicht erst aus dem Notenbild oder der Analyse einzelner Stimmen zu erschließen waren. Daher soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, aufgrund welcher Prozesse der Wahrnehmung eine unmittelbare Kommunikation visueller Gegebenheiten mit Hilfe rein musikalischer Mittel möglich ist. Dazu ist zunächst zu unterscheiden, ob im gegebenen Fall eine Nachahmung auditiver Ereignisse vorliegt, wie dies bei der Onomatopöie als Nachahmung von Geräuschen der Fall ist, oder ob Empfindungen anderer Sinne in Gehörtes übersetzt werden. In vielen Kompositionen treten Blitz und Donner in Zusammenhang auf und werden auditiv ausgestaltet. Hierzu wird der Donner tonmalerisch imitiert. Im Gegensatz dazu kann die rein visuelle Erscheinung des Blitzes jedoch nur dadurch in Töne transformiert werden, dass auf Prozesse der Verbindung des Visuellen mit dem Auditiven im Wahrnehmungssystem Bezug genommen wird. In diesem Beitrag wird daher zunächst ein Überblick über die Wahrnehmungsstrategien der Verknüpfung zwischen den Sinnen gegeben, bevor diese Befunde zur Analyse ausgewählter Beispiele musikalischer Malerei des Barock Anwendung finden. Die Diskussion der Möglichkeiten des Wahrnehmungssystems, auditive und visuelle Inhalte plausibel zu verknüpfen, führt unmittelbar zu dem zweiten Aspekt visueller Bezüge zur Musik des Barock: Die visuell-künstlerische Annäherung an 4 W. Ruf: Malen und Ausdrücken in der Musikästhetik des 18.Jahrhunderts. 5 Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik. Kassel: Bärenreiter & Müchen: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978. 6 P. Schleuning: Die Sprache der Natur. Natur in der Musik des 18. Jahrhunderts. 7 J. Mattheson: Der vollkommene Kapellmeister, S. 15–20 sowie S. 200.
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Abb. 1: August Macke: Farbige Komposition I – Hommage an J. S. Bach, 1912.
musikalische Werke. Insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierten sich verschiedene Strömungen der bildenden Kunst, die Musik mit graphischen oder skulpturalen Mittel darstellten. Das Werk Johann Sebastian Bachs spielt dabei eine zentrale Rolle und regte zahlreiche Künstler zur visuellen Umsetzung seiner Kompositionen an (Abbildung 1). Johann Sebastian Bachs Bedeutung für die Bildende Kunst des 20. Jahrhunderts wurde im Katalog der umfangreichen Ausstellung Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts von 1985 dokumentiert.8 Allein 29 Gemälde und Grafiken sowie 6 Plastiken verweisen direkt oder indirekt auf seine Kompositionen, dar-
8 Maur, Karin von (Hg.): Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung zum Europäischen Jahr der Musik in der Staatsgalerie Stuttgart, München: Prestel 1985.
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unter Werke von Georges Braque, František Kupka,9 August Macke, Wassily Kandinsky, Adolf Hölzel, Johannes Itten, Josef Albers, Paul Klee, Lyonel Feininger, Alexej von Jawlensky, Ernst Wilhelm Nay und Luigi Veronesi. Ein Spezifikum der Auseinandersetzung bildender Künstler mit dem Werk Johann Sebastian Bachs besteht darin, dass formale Konzepte in den Vordergrund rücken, insbesondere das Gestaltprinzip der Fuge. So verweisen allein 15 Werktitel des Ausstellungskatalogs auf das Formkonzept der Fuge. Johann Sebastian Bachs Kompositionen inspirieren die künstlerische Transformation offenbar durch ihre „Doppelheit von Mathematischem und Expressivem“ sowie vermittels einer „charakteristischen Ausgewogenheit von Struktur- und Ausdrucksprinzip.“10
Abb. 2: Intuitives Musikbild. Nina Pops: J.S. Bach/F. Busoni, Adagio, BWV 564. Diptychon, 2014.
Auch in Fällen, in denen Farben und Formen im Bild intuitiv kombiniert werden, reflektieren sie oft formale Strenge in der Geometrie der Formen, sowie im Rhythmus der Abfolge von Farben und Formen (Abbildung 2). Sie sind damit in besonderem Maße Ausdruck des „Geistigen in der Kunst“,11 das im Zusammenhang mit dem Aufkommen ungegenständlicher Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts – und zeitlich parallel zur Etablierung einer Transformation von Musik ins Visuelle – vielfach diskutiert wurde. Die graphische Darstellung von Musik ist auch ein beliebtes Thema der Kunstpädagogik. Dazu wurden im 20. Jahrhundert systematische Ansätze entwickelt, zunächst von Oskar Rainer als „Musikalische Graphik.“12 Die Bekanntheit Johann Sebastian Bachs ließ dessen Werk als pädagogisch besonders geeignet erscheinen. 9 Im Katalog als Frank Kupka aufgeführt. 10 Bach, Friedrich Teja: Johann Sebastian Bach in der klassischen Moderne, Ebd. S. 328– 335. 11 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. München: R.Piper Dez. 1911 (datiert 1912). 12 Rainer, Oskar: Musikalische Graphik. Studien und Versuche über die Wechselbeziehungen zwischen Ton- und Farbharmonien, Wien: Deutscher Verlag für Jugend und Volk 1925.
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So finden sich in den Veröffentlichungen der Musikalischen Graphik verschiedene Visualisierungen seiner Werke, unter anderem zur Matthäuspassion und zum Weihnachtsoratorium.13 Ein genereller Überblick zu den multisensorischen Verknüpfungen im Wahrnehmungssystem soll sich zunächst der Frage nähern, warum bestimmte musikalische Formen besonders geeignet sind, intuitiv visuelle Analogien hervorzurufen und eine bildnerische Beschäftigung anzuregen. Welche Verbindungen bestehen zwischen visuellen Parametern wie Helligkeit und Farbe zu auditiven Eigenschaften? Wie ist es darüber hinaus möglich, Aspekte der Bewegung musikalisch zu kodieren?
2. SYNÄSTHESIE UND MUSIK Für die Wahrnehmung und Gestaltung von Verbindungen der Musik zu anderen Sinnen spielt der Begriff der Synästhesie die zentrale Rolle. Dazu existieren allerdings Definitionen, die zunächst nicht miteinander vereinbar erscheinen und zu kontroversen Diskussionen beitragen. Zunächst müssen daher die Unterschiede dargelegt werden, bevor der Versuch einer Harmonisierung der Widersprüche unternommen werden kann. Die erste Definition der Synästhesie kann auch als Synästhesie im engeren Sinne aufgefasst werden. Damit wird versucht, spezielle Wahrnehmungsphänomene klar abzugrenzen gegenüber allgemein verbreiteten Mechanismen neuronaler Verknüpfung zwischen den Sinnen. Diese Definition wird im Bereich der Naturwissenschaften präferiert, denn Neurowissenschaftler, Physiologen und Psychologen bestehen auf eine möglichst präzise Eingrenzung der Phänomene. Die damit umrissenen Wahrnehmungsereignisse sind im Individuum festgelegt und sollen daher im Folgenden als genuine Synästhesien bezeichnet werden.14 Da die Verknüpfungen über genuine Synästhesie jedoch selten und strikt individuell auftreten, kann ein künstlerisches Gestalten nur sehr bedingt darauf aufbauen. Die wahrgenommenen Phänomene – wie z.B. Farben und Formen beim Farbenhören – zeigen in jedem Individuum eine ganz eigene Ausprägung. Sie wirken abstrakt und sind über ihre Merkmale nicht weiter erklärbar (Abbildung 3). Im künstleri13 Ebd.; s.a. Sündermann, Hans/Ernst, Berta: Klang-Farbe-Gebärde. Musikalische Graphik, Wien: Anton Schroll 1981, sowie Adam, Kamilla: Farbklänge zu Klangfarben in Bewegungsspuren. Neuorientierung in der Musikalischen Graphik Oskar Rainers, Wien: Österreichischer Kunst- und Kulturverlag 2000. 14 In Anlehnung an: Cytowic, Richard E.: Synesthesia, A Union of the Senses, New York: Springer 11989; Massachusetts: MIT 22002.
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schen Bereich hat sich daher eine zweite Definition etabliert, die auf eine rigide Einengung multisensorischer Verbindungen auf spezielle, strikt individuelle Teilaspekte verzichtet.15
Abb. 3: Beispiel für das Farbenhören. Timothy B. Layden: Shaking a Metal Plate and Seed Pod, 2013.
Diese zweite Definition der Synästhesie als eine Begriffsbestimmung im weiteren Sinne umfasst alle Möglichkeiten, die im Wahrnehmungssystem zur Verknüpfung zwischen den Sinnen fallweise angewandt werden. Hierzu gehören die weiter unten beschriebenen assoziativen Verbindungen, semantischen Bezüge und intermodalen Analogien. Um Konfigurationen zu gestalten, die einer größeren Zahl von Rezipienten plausibel erscheinen, muss Gestaltung auf diese Wahrnehmungsstrategien Bezug nehmen. Hinzu kommen Versuche der systematischen Konstruktion von Verbindungen über physikalische Eigenschaften – wie zum Beispiel Licht- und Tonfrequenz – oder mit Hilfe mathematischer Algorithmen. Die Ergebnisse sind jedoch nicht per se intuitiv nachvollziehbar, sondern müssen jeweils auf 15 Diesem Ansatz widmet sich der Autor ausführlich in: Haverkamp, Michael: Synästhetisches Design. Kreative Produktentwicklung für alle Sinne, München: Hanser 2009. Englische Ausgabe: Synesthetic Design. Handbook for a multisensory approach, Basel: Birkhäuser 2013.
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ihre Plausibilität hin untersucht werden. Das Gleiche gilt für die genuinen Synästhesien, die ebenfalls eine Komponente der Definition im weiteren Sinne bilden. Diese Phänomene können künstlerische Inspiration und kreative Ansätze liefern, sind jedoch in den größeren Zusammenhang multisensorischer Verbindungen einzuordnen, um zu Gestaltungen allgemeiner Plausibilität beizutragen. Der Begriff Synästhesie wurde aus den griechischen Worten „syn“ = zusammen und „aisthesis“ = Empfinden gebildet. Damit ist jedoch nicht der übliche Fall gemeint, bei dem Informationen über verschiedene Sinneskanäle parallel eintreffen. Vielmehr bezieht sich die Definition zunächst auf die genuine Synästhesie, das heißt auf eine Wahrnehmungsform, bei der die Reizung nur eines Sinnesbereiches zusätzlich Empfindungen eines oder mehrerer anderer Sinne bewirkt. So kann die Wahrnehmung von Klängen zu visuellen Erscheinungen, aber auch zu Empfindungen von Berührung, Geschmack oder Geruch führen. Solche speziellen Phänomene werden seit einigen Jahren im Rahmen der Synästhesieforschung intensiv untersucht.16 Sie führen zu besonders interessanten Fragestellungen. Insbesondere ist die Frage nach physiologischen Besonderheiten, die mit den wahrgenommenen Phänomenen korrelieren, Anlass umfangreicher Untersuchungen. Wie oben beschrieben, sind alle Menschen in der Lage, intuitiv Verbindungen zwischen den Sinnen herzustellen. Im Unterschied zu den speziellen, individuellen Wahrnehmungserscheinungen der genuinen Synästhesie muss das bewusste Gestalten von Verbindungen zwischen den Sinnesbereichen als Synästhetik alle Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen den Sinnen umfassen. Diese Bezeichnung wurde auch im Zusammenhang mit der Diskussion einer multisensorischen Medienästhetik vorgeschlagen.17 Gerade die Gestaltung von Objekten und multimedialen Environments für alle Sinne muss alle allgemein verbreiteten Verknüpfungsstrategien des Wahrnehmungssystems in Betracht ziehen. Dem entsprechend nimmt ein synästhetisches Design für eine allgemein plausible Gestaltung auf die weit gefasste Definition Bezug, bezieht genuine Synästhesien jedoch ausdrücklich mit ein.18 Das einfache Schema der Abbildung 4 illustriert die möglichen multisensorischen Verknüpfungen im Wahrnehmungsprozess und bildet damit die Grundlage wahrnehmungsbezogener Gestaltung für alle Sinne.19 Es ist auch ein unver16 Simner, Julia/Hubbard, Edward M. (Hg.): The Oxford Handbook of Synesthesia, Oxford: University Press 2013. 17 Filk, Christian/Lommel, Michael/Sandbothe, Mike (Hg.): Media Synaesthetics, Konturen einer physiologischen Medienästhetik, Köln: Halem 2004. 18 M. Haverkamp: Synästhetisches Design. 19 Zuerst beschrieben in Haverkamp, Michael: Synästhetische Wahrnehmung und Geräuschdesign, DAGA`02: Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Akustik DEGA,
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zichtbares Werkzeug für die Analyse multisensorischer Ansätze in der bildenden Kunst, wie der Musikmalerei, sowie für die Betrachtung visueller Referenzen in der Musik.
Mathematisch-physikalische Korrelation
bewusste Gestaltung
Semantische Verknüpfung - Symbol/Metapher
Ikonische/assoziative Verknüpfung
intuitiv wirksam allgemein verbreitet
Intermodale Analogie Elementare Verknüpfungen
Kompensationsmechanismen zwischen Sinnesreizen und Körper-Bewegung
Genuine Synästhesie
intuitiv wirksam individuell, selten
Abb. 4: Schema der Verknüpfung der Sinne im Wahrnehmungssystem als Grundlage wahrnehmungsbezogener Gestaltung.
2.1 Genuine Synästhesie Wie bereits angedeutet, tritt genuine Synästhesie nur bei relativ wenigen Menschen in Erscheinung.20 Die damit verbundenen Wahrnehmungsphänomene beziehen sich auf das Erscheinen einzelner Merkmale in Sinnesbereichen, die momen2002. Siehe auch Haverkamp, Michael: „Audio-visuelle Verknüpfungen im Wahrnehmungssystem und die Eingrenzung synästhetischer Phänomene“, in: Natalia Sidler / Jörg Jewanski (Hg.), Farbe-Licht-Musik. Synästhesie und Farblichtmusik, Bern: Peter Lang 2006, S. 31–74. Auch beschrieben in Behne, Klaus-Ernst: „Synästhesie, die Verknüpfung der Sinne“, in: Herbert Bruhn/Reinhard Kopiez/Andreas C. Lehmann, (Hg.), Musikpsychologie, das neue Handbuch, Reinbek: Rowohlt 2008, S. 223–230. 20 Nachdem seit der Jahrtausendwende die Schätzungen der Häufigkeit weit voneinander abwichen, hat sich der Erkenntnisstand inzwischen auf Werte zwischen 2 und 4% eingeschwungen. Diese Information wird von der Deutschen Gesellschaft für Synästhesie DSG kommuniziert https://www.synaesthesie.org/de/synaesthesie vom 17.9.2019. Cy-
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tan nicht angeregt werden. Zumeist handelt es sich um abstrakte Erscheinungen, wie Farben, Formen, Töne oder bewegte Objekte, die keine übergeordnete - etwa assoziative - Systematik der Zuordnung zwischen den Sinnesbereichen erkennen lassen. Vielmehr existiert ausschließlich eine individuelle Systematik, die sich bei keinem zweiten Menschen mit synästhetischen Wahrnehmungsphänomenen in genau gleicher Art findet. Beim Farbenhören löst ein gehörter Ton zum Beispiel zusätzlich zur auditiven Wahrnehmung die Empfindung einer Farbe aus. Die Bedeutung dieser Art der Verknüpfung für eine multisensorische, allgemein verständliche Gstaltung ist zurzeit allerdings noch unklar. Bei Umfragen unter Synästhetikern wird von allen Arten genuin-synästhetischer Verbindungen zwischen allen Sinnen berichtet. Viele davon sind jedoch äußerst selten. Tabelle 1 zeigt das Ergebnis einer internationalen Internet-Befragung, an der 1143 Personen teilnahmen, die insgesamt 73 Arten genuiner Synästhesie benannten.21 primäre Zuordnung Graphem > visuelle Wahrnehmung Zeiteinheit > visuelle Wahrnehmung Musik > visuelle Wahrnehmung
sekundäre Prozentsatz
Wahrneh-
Wahrneh-
der Nen-
mung
mung
nungen
V
V
61,26%
Konzept
22,96%
A
18,05%
Geräusch allgemein > visuelle Wahrnehmung
16,21%
Musiknote > visuelle Wahrnehmung
Konzept
7,80%
Phoneme > visuelle Wahrnehmung
A
7,54%
Konzept
6,49%
Geruch > visuelle Wahrnehmung
O
6,13%
Geschmack > visuelle Wahrnehmung
G
5,78%
Schmerz > visuelle Wahrnehmung
S
5,43%
Geräusch > Geschmack
A
G
5,00%
Konzept
Pers.
4,65%
Persönlichkeit > visuelle Wahrnehmung ('Auren')
Graphem Personifizierung OLP
towic benennt „roughly 4%“ in Cytowic, Richard E.: Synesthesia, Cambridge (MA): MIT Press 2018. 21 Day, Sean: http://www.daysyn.com/Types-of-Syn.html vom 17.9.2019.
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Geräusch > Berührung
A
T
4,38%
Berührung > visuelle Wahrnehmung
T
V
3,94%
Emotion > visuelle Wahrnehmung
S
Sehen > Geräusch
V
Sehen > Geschmack Lexeme > Geschmack
3,24% A
3,07%
G
2,98%
Konzept
Orgasmus > visuelle Wahrnehmung
S
2,89% V
Temperatur > visuelle Wahrnehmung
1,93% 1,84%
Geräusch > Geruch
A
O
1,58%
Sehen > Berührung
V
T
1,58%
Berührungen > Geschmack
T
G
1,14%
Sehen > Geruch
V
O
1,14%
Bewegung > Geräusch
S
A
1,05%
visuell
V
auditiv
A
taktil
T
olfaktorisch
O
gustatorisch
G
somatisch Personifizierung mentale Konzeption / Begriff
S Pers. Konzept
Tabelle 1: Synästhesie-Statistik nach Internet-Befragung durch Sean Day, Stand 15.04. 2016.
Die hier abgebildete Tabelle enthält als Teil der Gesamtstatistik nur die Synästhesien mit einem Anteil der Nennungen von mehr als 1%. Die Statistik beinhaltet Mehrfachnennungen, da viele Personen über verschiedene Synästhesien berichten. Die primäre Wahrnehmung wird dabei durch Sinnesreize angeregt, die sekundäre ist Ergebnis der synästhetischen Verknüpfung. Dabei zeigt sich die besondere Verbreitung visueller Erscheinungen, denn die überwiegende Zahl der hier berichteten sekundären Empfindungen ist mit 85% aller Nennungen visueller Natur. Am zweithäufigsten wurden in nur 6% der Fälle sekundäre Geschmacksempfindungen genannt – alle übrigen Sinnesbereiche stellen jeweils wenige als 5% der Nennungen.
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Bei der Anregung stehen Sehen und Hören im Vordergrund: Die Stimulierung synästhetischer Sekundärempfindungen erfolgt in 35% der Fälle visuell, in 27% auditiv.22 Als häufigste Form der Synästhesie nennt die Tabelle die Ergänzung gesehener Zeichen (Grapheme) durch weitere visuelle Eigenschaften, wie etwa das Sehen von Buchstaben und Zahlen mit zusätzlichen, synästhetischen Farben. Diese rein visuelle Art der Synästhesie entspricht streng genommen nicht der klassischen Definition der Synästhesie als Verknüpfung zwischen verschiedenen Sinnen, wird jedoch hier mit aufgenommen, da sie sehr oft mit synästhetischen Phänomenen einher geht, die der oben genannten Definition entsprechen. In vielen Fällen gehen synästhetische Wahrnehmungsphänomene nicht auf die spezifischen Sinnesreize selbst zurück, sondern auf mentale Konzeptionen. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten der Anregung wird dadurch erschwert, dass auch mentale Konzepte auf Sinnesreize zurückgehen oder zumindest durch diese unterstützt werden. Visuelle Synästhesien, die durch Musiknoten ausgelöst werden, können sich daher zum Beispiel auf das Sehen einer Note in der Partitur, auf deren Vorstellung beim Hören oder auf den am Instrument anzuwendenden Griff beziehen. Beim Hören von Musik können bei synästhetisch begabten Menschen komplexe Konfigurationen aus farbigen Formen sichtbar werden. Die Bilder erscheinen zwei- oder dreidimensional und enthalten oft bewegte Strukturen. Abbildung 5 zeigt Darstellungen visuell-synästhetischer Wahrnehmung beim Hören des FaustWalzers von Charles Gounod, die von den Synästhetikern Hugo Meier-Thur und Heinrich Hein graphisch festgehalten wurden.23 Die wahrgenommenen Formen können in der Regel Elementen der Komposition oder den Musikinstrumenten zugeordnet werden. Zusätzlich wurden die dargestellten Bilder von den Synästhetikern ausführlich kommentiert.24 Das eröffnet die Möglichkeit, einzelne Hinweise hier in die Bilder zu integriert. Wie angesichts der Individualität genuiner Synästhesien nicht anders zu erwarten, zeigen beide Darstellungen keinerlei Ähnlichkeit. Sekundäre synästhetische Wahrnehmungen können ihrerseits Reize für Verbindungen zu weiteren Sinnesbereichen bilden. So entstehen multiple Synästhesien. Abbildung 6 zeigt eine visuelle Figur, die der Synästhetiker Eduard Reimpell in den 1920er Jahren beim Riechen eines Blütenduftes wahrnahm und selbst gra22 Die im Text genannten Prozentangaben beziehen sich auf die Summe aller berichteten Phänomene, die Angaben der Tabelle dagegen auf die Gesamtheit befragter Personen. 23 Tafeln VI und XIX,3 aus: Anschütz, Georg: „Untersuchungen über komplexe musikalische Synopsie“, in: Georg Anschütz (Hg.), Farbe-Ton-Forschungen, Band 1, Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft 1927, S. 68–209. 24 Ebd. S. 138 und S. 163–164.
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Abb. 5: Darstellungen visuell-synästhetischer Wahrnehmung beim Hören des Faust-Walzers von Charles Gounod. Links: Hugo Meier-Thur; rechts: Heinrich Hein, beide 1927. Zusätzlich wurden Hinweise auf die zugrunde liegenden Elemente der Musik entsprechend der Beschreibungen der Künstler eingefügt.
phisch festhielt. Ein Ring von Lichtpunkten begrenzte die Figur nach außen und stimulierte wiederum Hörereignisse. Die über diese Reizkette in der Wahrnehmung entstandene Geräuschempfindung beschrieb Reimpell als eine „Mischung von Regen- und Musikgeräusch.“25 Frühe Hypothesen der Entstehung synästhetischer Wahrnehmung wurden bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelt. Heute dient die Synästhesieforschung auch dazu, allgemeine Verknüpfungen der Gehirnfunktionen zu erklären, die bei jedem Menschen notwendig sind, um die Objekte der Außenwelt ebenso wie die Innenwelt des Körpers erkennen, verstehen und handelnd manipulieren zu können.
25 Anschütz, Georg: Das Farbe-Ton-Problem im psychischen Gesamtbereich. Sonderphänome komplexer optischer Synästhesien (‚Sichtgebilde‘), Mit Niederlegungen und unter Mitarbeit von Eduard Reimpell (=Deutsche Psychologie, Band. V, Heft 5), Halle: Marhold 1929, Tafel XIV,6.
Synästhetische Wahrnehmung und das Visuelle in der Musik des Barock | 229
Abb. 6: Durch Riechen an den Blüten der Zimmerpflanze Heliotrop ausgelöstes „Sichtgebilde“, dessen visuelle Strukturen wiederum die Wahrnehmung von Klängen auslösten. Graphik nach Eduard Reimpell, 1929.26
Grundsätzlich deutet die Vielfalt genuin synästhetischer Phänomene darauf hin, dass direkte Verbindungen zwischen nahezu allen Hirnarealen möglich sind. Insbesondere können feste Verbindungen zwischen primären Bereichen der Wahrnehmung vorhanden sein, wie zum Beispiel zwischen Feldern, die für einzelne Eigenschaften der Hör-, Seh- und Geruchswahrnehmung zuständig sind. In diesem Fall kann die Wahrnehmung eines Geräusches Empfindungen von Farben und Formen sowie weitere Eigenschaften wie Bewegung oder Räumlichkeit bewirken. Genauso sind feste Verbindungen von höheren Hirnarealen, die mit der Entschlüsselung von Bedeutung befasst sind, zu primären sensorischen Arealen möglich. Dann können sich zum Beispiel auch Zahlenreihen – als Number Forms – zu spezifischen Formen gruppieren. Anhand derartiger Wahrnehmungsphänomene wird klar, dass sich nicht alle Phänomene der synästhetischen Wahrnehmung auf einer primär sensorischen Ebene erklären lassen. Häufig mischen sich auch genuine, abstrakte Synästhesien mit Assoziationen, wie Abbildung 7 am Beispiel einer Visualisierung von Wind- und Regengeräusch verdeutlicht. Hier bestimmen Tropfen und blattartige Formen das Bild – sowie grobe Pinselstriche, die an Wind erinnern. Weiterhin existieren oft Koppelungen von Hirnarealen, die am Entstehen von Gefühlen beteiligt sind, zu primären sensorischen Bereichen. Dann können Ge26 Ebd. Im Original ist nur der obere linke Viertelkreis dargestellt, der hier durch Spiegelung zum beschriebenen Wahrnehmungsbild ergänzt wurde.
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Abb. 7: Ninghui Xiong: Wind und Regengeräusch, ca. 2015.
fühle im Rahmen einer Gefühlssynästhesie Farben annehmen. Insgesamt verdeutlichen genuine Synästhesien über alle individuellen Unterschiede hinweg, dass jede Wahrnehmung durch eine Vielzahl funktionaler Einheiten des Gehirns beeinflussbar ist, unabhängig davon, ob die daran beteiligten Gehirnareale räumlich unmittelbar benachbart sind oder nicht.
3. ALLGEMEINE MULTISENSORISCHE VERKNÜPFUNGEN Geht es in der wissenschaftlichen Literatur um Verbindungen von Geräuschen und Musik zu anderen Sinnesbereichen,27 so steht die visuelle Wahrnehmung im Vordergrund der Betrachtung. Dies betrifft sowohl die Häufigkeit der genannten Wahrnehmungsphänomene, als auch die Vielzahl künstlerischer Konzepte, die bislang verfolgt wurden und bis heute erprobt werden. Viele dieser Ansätze beruhen auf intermodalen Analogien,28 in diesem Fall also auf einer Korrelation visueller und auditiver Eigenschaften. So erscheint einer Mehrzahl der Menschen die Verbindung zwischen der Helligkeit von Objekten oder der Sättigung von Farben einerseits mit der Tonhöhe von Klängen andererseits als unmittelbar plausibel. 3.1 Intermodale Analogien und musikalische Notation Ein weiteres Beispiel einer intermodalen Analogie der Wahrnehmung ist die Verknüpfung von Tonfrequenz und räumlicher Höhe, die für die Entwicklung der 27 ‚Sinnesbereiche‘ oder synonym ,Modalitäten‘. 28 Engl. ,correspondences‘, siehe Spence, Charles: „Crossmodal correspondences: A tutorial review“, in: Atten Percept Psychophys 73 (2011), S. 971–995. DOI 10.3758/ s13414-010-0073-7.
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musikalischen Notation entscheidende Bedeutung hat. Albert Wellek interpretiert diese Art der Verknüpfung zwischen dem Sehen und dem Hören als eine „Ursynästhesie.“29 An dieser Stelle ist die geschichtliche Entwicklung der westlichen Notation von Bedeutung. Die ersten Aufzeichnungen von Musik beinhalteten lediglich den Text von Gesängen. Dieser wurde später durch Striche ergänzt, die eine Änderung der Tonfrequenz im Gesang symbolisieren. Eine Erhöhung wurde dabei in der Regel durch einen nach oben weisenden, eine Verringerung durch einen nach unten weisenden Strich dargestellt. Reste dieser frühen musikalischen Aufzeichnungen, der Akzentneumen, finden sich in den Akzenten mancher Sprachen: Im Französischen wird z.B. der nach oben weisende Akzent (´) als accent aigu bezeichnet, was wörtlich mit ‚scharf‘ übersetzt wird, wobei ‚scharf‘ in Bezug auf die Tonhöhe als Synonym für ‚hoch‘ gilt. Entsprechendes gilt für den accent grave (`), der eine Absenkung der Stimme verlangt. Aus den Akzentneumen hat sich im Lauf der Zeit die heute übliche Technik entwickelt, genauere Angaben zu Tonhöhe und -dauer durch Zeichen in einem Liniensystem festzuhalten. Zunächst wurde dabei die Bewegung von einer Stufe zur nächsten als Zeichen festgehalten. Allmählich verschwand diese Kennzeichnung der Bewegung zugunsten von Zeichen, die nur den Einzelton auf einer Stufe, nicht jedoch die Bewegung von einem Ton zum nächsten bezeichnen. Daher muss die Interpretation einer Phrase im Hinblick auf Melodiebildung und Bewegungsgehalt heute im Musikunterricht eigens gelernt werden. Im 20. Jahrhundert wurde dann wiederum versucht, graphische Darstellungen musikalischer Bewegung zu gestalten, die zusätzlich zur etablierten Notation präsentiert werden. Alexander Truslit entwickelte dazu einen pragmatischen Ansatz, der weiter unten näher beschrieben wird.30 Analogien von Geräuschen und Musik zur Bewegung visueller Formen finden sich auch als Bestandteile von Phänomenen genuiner Synästhesie. Als Beispiel zeigt Abbildung 8 eine visuelle Form, die von einem Synästhetiker beim Hören des Kratzens der Nadel eines Plattenspielers wahrgenommen und dokumentiert wurde. Die empfundene Bewegung der Form korrespondiert dabei mit der kratzenden Bewegung der Nadel quer zu den Rillen einer Schallplatte. 29 Wellek, Albert: „Die Entwicklung unserer Notenschrift aus der Synopsie“, in: Georg Anschütz (Hg.), Farbe-Ton-Forschungen (= Bericht über den 2. Kongreß für FarbeTon-Forschung, Band 3), Hamburg: Psychologisch-ästhetische Forschungsgesellschaft 1931, S. 143–153. 30 Truslit, Alexander: Gestaltung und Bewegung in der Musik. Ein tönendes Buch vom musikalischen Vortrag und seinem bewegungserlebten Gestalten und Hören, BerlinLichterfelde: 1938. Reprint: Brandner, Hans/Haverkamp, Michael (Hg.), Augsburg: Wißner 2015.
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Abb. 8: Timothy B. Layden: Vinyl Record Scratch, 2015.
3.2 Musikalische Graphik Auf Analogiebetrachtungen beruht auch der Versuch, formale Aspekte der Musik als Musikalische Graphik in Formen und Farben umzusetzen. Entsprechende Konzepte wurden bereits von Oskar Rainer an Schulen entwickelt und von Hans Sündermann und Berta Ernst ausgebaut.31 Die Untersuchungen führten jedoch nicht zu einer Methodik, die bei rein formaler Anwendung generell zu plausiblen Resultaten führt. Intuitives Vorgehen unter Beachtung ganzheitlicher Ansätze wird dagegen als wesentlich erachtet. Aus diesem Grund ist das Konzept der Musikalischen Graphik für die Musikpädagogik besonders geeignet. Ergebnisse zahlreicher Schülerarbeiten zeigen, dass der Gesamtcharakter musikalischer Werke durch unbefangenes Malen relativ gut, häufig auch reproduzierbar wiedergegeben wird. Abbildung 9 zeigt ein Beispiel für die damit verbundene Fokussierung auf wesentliche Aspekte der Komposition.32 Mit der Beschränkung auf wenige 31 O. Rainer, Musikalische Grafik. Sündermann, Hans/Ernst, Berta: Klang-Farbe-Gebärde, Musikalische Graphik, Wien: Anton Schroll 1981. 32 O. Rainer, Musikalische Grafik, Abb. 26, S. 85. Dort finden sich weitere Visualisierungen einzelner Werke von J. S. Bach durch Hans Sündermann: Matthäuspassion, Eingangschor „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen” sowie die Choräle „O Haupt von Blut und Wunden“ und „Wenn ich einmal muss scheiden,“ Abb. 19–21, S. 71–73.
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Abb. 9: Musikalische Graphik. Schematische Visualisierung einer Komposition von Johann Sebastian Bach durch Franz Urbach: Präludium C-Dur, Das wohltemperierte Klavier, 1925. schwarze Linien handelt es sich jedoch um eine Ausnahme im Gebiet der Musikalischen Graphik, die sich zumeist auf intensive Farben stützt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Konzepte der Musikalischen Graphik erneut aufgegriffen, um neue Notationsformen als Basis der Aufführung Neuer Musik zu entwickeln. Ziel war dabei, die mit der Anwendung der „klassischen“ Notenschrift verbundenen Konventionen zugunsten freierer Kompositionsweisen zu überwinden und auch die graphische Gestaltung der Partitur als integralen Bestandteil in ein multisensorisches Kunstwerk einzubeziehen. Die so entstandenen Bildpartituren können als Anleitungen der interpretierenden Musiker verstanden werden, weisen jedoch als Graphische Musik – auch ohne akustische Umsetzung – eine rein bildhafte Musikalität auf. Einige Beispiele sind: Earle Brown: December 1952; Karlheinz Stockhausen: Elektronische Studien II (1956); György Ligeti: Artikulation (1958, mit nachträglich erstellter Hörpartitur von Rainer Wehinger); John Cage: Aria for Voice (Any Range) (1960); Leon Schidlowsky: Babel (1976). 3.3 Assoziation als Grundlage der musikalischen Malerei Die durch einen Instrumentalklang ausgelösten Empfindungen von Helligkeit, Farbe oder Form werden häufig durch visuelle Eigenschaften des Instrumentes mitbestimmt. So zeigen verschiedene Gemälde des Musikalisten Charles BlancGatti die Überlagerung instrumentaler Formen mit abstrakt-synästhetischen Ge-
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bilden und Farben.33 Das in Paris 1930 ausgestellte Bild Les Orgues (Die Orgel) kombiniert die Ansicht einer Orgel und von Teilen eines Kirchenschiffs mit einer abstrakten Kaskade farbiger Formen.34 Dabei verdeutlicht die Bezeichnung ‚Composition‘, dass die Visualisierung der Musik selbst im Vordergrund der Bildgestaltung steht. Auch geräuschhafte Umgebungen lassen sich visuell darstellen. Ein berühmtes Beispiel stellt das in Abbildung 10 gezeigte Gemälde La strada entra nella casa des Futuristen Umberto Boccioni dar. Das Bild weist ausgesprochen geräuschhafte Elemente auf, so dass auch die Bezeichnung Der Lärm der Straße dringt in das Haus angemessen erscheint. Expressive Farb- und Formkontraste verdeutlichen den offensiven Charakter der wahrgenommenen Geräuschballung. In Anlehnung an die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts rasch entwickelnde Filmtechnologie wird Bewegung hier durch Wiederholung einzelner Motive dargestellt, die wie Mehrfachbelichtungen auf Fotopapier wirken und so die Unruhe der Szenerie multiplizieren.
Abb. 10: Umberto Boccioni: La strada entra nella casa, 1911.
33 Blanc-Gatti, Charles: Des sons et des couleurs, Paris: Editions d’art chromophoniques 1934.
2
34 Ebd. S. 72.
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Sofern Laut- und Klangmalereien bekannte Geräusche nachahmen, wirken auch solche Effekte auf assoziativer Ebene. Onomatopöien bilden zunächst eine Referenz zu bereits bekannten Wahrnehmungsereignissen im auditiven Bereich, mithin zu dem schon einmal Gehörten. Durch die Zuweisung zu multisensorischen Objekten und Umgebungen entstehen jedoch auch ikonische Verknüpfungen zu erinnerten Wahrnehmungen anderer Sinnesbereiche. Es wird nicht einfach ein „glockenartiges Geräusch“ gehört, sondern „eine Glocke“ mit allen Sinneseindrücken, die diesem Objekt erinnernd zugeordnet sind. Im Gegensatz dazu werden über intermodale Analogien einzelne Eigenschaften verschiedener Sinnesbereiche zugeordnet. In diesem Fall ist es unwesentlich, ob diese Eigenschaften bereits früher wahrgenommen wurden oder nicht. 3.4 Symbolische Verbindung Semantische Aspekte können über verschiedene Sinne vermittelt werden. So wird die Symbolik von Nationalstaaten sowohl über Flaggen und deren Farben, wie auch über Nationalhymnen kommuniziert. Auch in der Industrie und bei zeitgenössischen Institutionen gewinnt die Repräsentation der Corporate Identity über Geräusche und Musikfragmente zunehmend an Bedeutung. Eine Zuordnung der Sinneseindrücke über deren Symbolgehalt ist intuitiv möglich, wenn die Bedeutung bereits über Lernprozesse im Wahrnehmungssystem verankert wurde. Schon in der Musik des Barock begegnen musikalische Elemente mit symbolischem Inhalt, etwa in der französischen Ouvertüre mit Anklängen der Repräsentation des Königshauses oder im Symbolgehalt bestimmter Instrumente, wie Trompeten und Pauken für staatliche Macht und Krieg oder bei gedämpften Klängen für die Trauermusik. Zu den herausragenden Symbolen der Kirchenmusik zählen die Kreuzsymbole, die sich zum Beispiel in den Passionen Johann Sebastian Bachs finden. Die Bedeutung dieses semantischen Elements ist für die unbefangenen Hörer allerdings nicht ad hoc erfassbar. Auch im Notenbild sind sie als Kreuzsymbole nur erkennbar, wenn man die beteiligten Noten durch Linien gedanklich miteinander verbindet. Ohne Kenntnis des Zusammenhangs erschließt sich weder das Auftauchen der Kreuze in der Komposition, noch dessen religiöse Bedeutung. Wie bei allen Symbolen sind Lernen und Wahrnehmungserfahrung unverzichtbar. Erst dann ist die Bedeutung musikalischer Kreuzsymbole auditiv und visuell erfassbar. Entsprechendes gilt für Elemente der Zahlenmystik und für Motive, die sprachliche Elemente kodieren, wie die Tonfolge B-A-C-H oder das von Dmitri Shostakovich verwendete Namenskürzel D-S-C-H.35
35 Wobei ‚S‘ durch den Ton Es repräsentiert ist.
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In der zeitgenössischen Musik spielt Symbolik bisweilen eine fundamentale Rolle. Für die Oper SONNTAG aus LICHT generiert Karlheinz Stockhausen ein komplexes semantisches System für Wochentage, musikalische Motive, Farben, visuelle Zeichen und Duft.36 Die Vertonung von Gerüchen findet sich bis dahin nur selten in der Musikgeschichte. Ein bekanntes Beispiel ist die musikalische Umschreibung des Fliedergeruchs in Richard Wagners Musikdrama Die Meistersinger von Nürnberg.37 Bei Stockhausen ist der Geruch für die gesamte vierte Szene der Oper SONNTAG aus LICHT, DÜFTE-ZEICHEN, jedoch von essentieller Bedeutung. Der Komponist verlangt hier ausdrücklich die Verwendung von traditionellem Räucherwerk. Auch der gesamte Zyklus LICHT ist mystisch auf die sieben Tage der Woche bezogen. Jedem Tag ist das musikalische Material ebenso zugeordnet wie ein graphisches Zeichen, eine Farbe und ein Duft. Diese Elemente werden in der Szene DÜFTE-ZEICHEN nach Art eines Rituals nacheinander präsentiert. Die musikalische Interpretation geschieht durch sieben erwachsene Singstimmen, Knabenstimme und Synthesizer. „Die sieben Solisten singen über die 7 Düfte und 7 Zeichen der Wochentage. Sie räuchern und erläutern diese.“38 Die vom Komponisten bewusst geknüpfte Verbindung visueller, auditiver und olfaktorischer Inhalte ist jedoch vom Publikum von vorneherein nicht nachvollziehbar. Erst durch die bei der Aufführung erfahrene zeitgleiche Präsenz von Symbol, Musik und Duft gewinnt die Verknüpfung Plausibilität und kann als multisensorische Verbindung auf symbolischer Ebene verinnerlicht werden. 3.5 Mathematisch/physikalische Korrelation Zur Vervollständigung der Übersicht über die Verknüpfungsstrategien des Wahrnehmungssystems entsprechend Abbildung 4 muss hier noch kurz auf die Verbindung mittels physikalischer Befunde und mathematischer Prinzipien eingegangen werden. Tatsächlich wurde häufig versucht, Farbe und Tonhöhe über die Frequenzen von Licht und Schall miteinander in Beziehung zu setzen. So ist es möglich, Tonskalen von tiefen zu hohen Frequenzen mit Lichtskalen zu verbinden, die von
36 Stockhausen, Karlheinz: Sonntag aus Licht. Materialienbuch zur Uraufführung an der Oper Köln, Kürten: Stockhausen-Stiftung für Musik 2011. 37 Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, UA: 1868. Dritte Szene, „Fliederarie“ des Hans Sachs. 38 Stockhausen, Karlheinz: Begleitbuch zur CD-Ausgabe DÜFTE-ZEICHEN im Rahmen der Stockhausen-Gesamtausgabe, Aufnahme 1.–7. September 2003 im Sound-Studio N/Köln, 2004, S.6.
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den niedrigen Frequenzen bei Rot über Orange, Gelb und Grün zu Blau reichen.39 Neben vielen anderen verwendet auch Alexander Wallace Rimington solche Skalen für die Konzeption seiner Colour-Music.40 Er schlägt als eine Möglichkeit von vielen vor, die ganze Farbskala auf eine Oktave anzuwenden, wobei jedem chromatischem Ton ein Farbton zugeordnet ist. In diesem Fall können verschiedene Oktaven durch unterschiedliche Helligkeit oder Farbsättigung unterschieden werden. Als alternative Möglichkeit verweist Rimington auf die Möglichkeit, die Farbskala dem gesamten Tonumfang zuzuordnen. Da der Farbunterschied benachbarter Töne dann kaum wahrnehmbar wäre, müsste die Variation der Helligkeit für nahe beieinander liegende Töne weitere Differenzierung schaffen. Über eine bloße Adaption der Skalen hinaus wurde auch versucht, eine absolute Beziehung zwischen Farben und Tönen herzustellen. Durch vielfaches Verdoppeln der Tonfrequenz bis in den Bereich der Frequenzen sichtbaren Lichtes kann auf diese Weise formal eine feste Verbindung etabliert werden. Thomas Young ermittelte so 1801 für den Ton C die Farbe Gelbgrün.41 Das Ergebnis der Berechnung hängt allerdings von der angenommenen Tonfrequenz ab und wäre im 18. Jahrhundert anders ausgefallen. Im Gegensatz zum heute üblichen Bezugswert, der Frequenz 440 Hz für den Stimmton a, war in der alten Stimmung der Wert 415 Hz verbreitet. Daneben existierten höhere, aber auch noch tiefere Bezugswerte, wie etwa die französische Stimmung bei 400 Hz. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich eine Vielzahl weiterer Konzepte der systematischen Transformation zwischen auditiven und visuellen Parametern. Beispiele finden sich in der bildenden Kunst.42 Hinzu kommt eine rapide zunehmende Zahl von Software-Algorithmen, die etwa als Media Player eine automatisierte Transformation ermöglichen. Derartige Transformationen führen jedoch in der Regel nicht zu intuitiven Lösungen, die als unmittelbar plausibel wahrnehmbar sind. Dazu 39 Verwirrung entstehen mitunter dadurch, dass in der Akustik Frequenzangaben üblich sind, während die Optik Wellenlängen betrachtet. Beide physikalische Größen lassen sich jedoch sowohl für Schall als auch für Licht über die Schall- bzw. Lichtgeschwindigkeit einfach ineinander überführen. 40 Rimington, Alexander Wallace: Colour-Music. The art of mobile colour. London: Hutchinson & Co 1911. 41 Siehe insbesondere Jewanski, Jörg: Ist C = Rot? Eine Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zum Problem der wechselseitigen Beziehung zwischen Ton und Farbe. Von Aristoteles bis Goethe (= Berliner Musikstudien, Band 17), Sinzig: Schewe 1999. 42 Wie z. B. die Visualisierungen von Werken J. S. Bachs auf Basis mathematischer Konzepte: Veronesi, Luigi: Chromatische Visualisierung, Contrapunctus II aus der Kunst der Fuge, 1971, sowie Weder, Jakob: Orchestersuite 3 in D-Dur, 1980–81, 5 Bilder in verschiedener Farbe zu den Sätzen der Suite.
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müssen zusätzlich die intuitiven Verbindungen der Sinne über intermodale Analogie sowie ikonische und semantische Verknüpfung Berücksichtigung finden.
4. MUSIKALISCHE MALEREI IN DER MUSIK DES BAROCK Das Schema der Abbildung 4 liefert die Grundlage für eine Analyse der verschiedenen Ansätze einer musikalischen Malerei des Barock, worunter in diesem Zusammenhang eine Malerei mit ausschließlich musikalischen Mitteln zu verstehen ist. So ist es möglich, verschiedene Ansätze des Vorgehens voneinander zu unterscheiden. Die musikalische Malerei des Barock erfüllt verschiedene Funktionen. Neben der Erweckung der Aufmerksamkeit des Publikums spielt die Illustration von Gemütsregungen, den Affekten eine herausragende Rolle.43 Dies gilt nicht nur für Oper und Lied, sondern mit der Etablierung des Oratorienstils zunehmend auch für kirchliche Kompositionen. Zudem zeigen Werke der Orchestermusik nicht selten programmatische Aspekte, die auch in der Kammermusik häufig essentiellen Charakter aufweisen.44 Wesentlicher Maßstab für Komposition und Aufführung ist dabei die Natürlichkeit des Ausdrucks. So verknüpft Johann Mattheson die Affektenlehre mit einer „Naturlehre des Klanges.“45 Damit rückt im 18. Jahrhundert die Wiedergabe von Naturerscheinungen in den Vordergrund des Interesses. Schilderungen der Natur spielten auch in der protestantischen Kirchenmusik der Aufklärung eine wichtige Rolle, galt es doch, Belege für das Wirken Gottes zu präsentieren und künstlerisch zu gestalten, die der menschlichen Erkenntnis unmittelbar zugänglich sind. Die Musik wurde so zu einem ausdrucksstarken Medium der Vermittlung einer Physikotheologie.46 Dabei unterscheiden sich die Ansätze verschiedener Komponisten von Kirchenmusik durchaus. Für Martin Geck steht bei Johann Sebastian Bach die „Rezeption der mathematischen Momente“ im Vordergrund, während es in seiner 43 Mattheson, Johann: Der vollkommene Kapellmeister, Hamburg: Christian Herold 1739, S.15–20. 44 Dies gilt z.B. für eine Vielzahl von Georg Philipp Telemanns Ouvertürensuiten TWV55, siehe S. Rampe: Georg Philipp Telemann und seine Zeit, S.143; Ein allgemein bekanntes Beispiel stellen Antonio Vivaldis Konzerte ‚Die Vier Jahreszeiten‘ dar; Programmatische Aspekte finden sich auch in der Kammermusik von Heinrich Ignaz Franz Biber. 45 J. Mattheson: Der vollkommene Kapellmeister, S.19. 46 Geck, Martin: „Das Spätwerk Bachs und Telemanns im Licht von Aufklärung und Physikotheologie“, in: Ulrich Tadday (Hg.): Telemann und die urbanen Milieus der Aufklärung, München: Richard Boorberg Verlag 2017, S. 205–222.
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Sicht bei Georg Philipp Telemann um „Sympathie für die sensualistischen Züge der Physikotheologie“ geht.47 Allerdings offenbarte die Betrachtung der Naturerscheinungen das Potential zur Entwicklung eines Naturmythos, der zunehmend „die Stelle der göttlichen Allmacht und Vorsehung einzunehmen begann“48 und so auch eine säkulare Strömung etablierte, deren Wirken bis heute anhält. Ein weiterer Aspekt ist die Verdeutlichung des Textes mit Hilfe musikalischer Malerei. Deutlichkeit vermittelt die Deutung des Textes, und ist damit ein unverzichtbares Element der textorientierten Kirchenmusik.49 „Die Musik verdeutlicht den Text, sie macht ihn begreifbarer, stützt ihn, bietet ihn dar.“50 Musikalische Malerei ist daher nicht Selbstzweck, sondern dient auf dem Umweg der Schilderung natürlicher Vorgänge als Medium einer Vermittlung von Gefühlszuständen. So wird eine maximale Verdeutlichung des Textes erreicht. Abbildung 11 zeigt dies anhand des Tränenmotives aus der Arie Nr. 6 der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach.
Abb. 11: Tränenmotiv in der Matthäus-Passion, BWV 244, Nr. 6, Arie (Alt), Takt 65–75.51 Markierung durch den Autor.
47 Ebd. S. 216. 48 P. Schleuning, Die Sprache der Natur, Vorwort S. VII. 49 Hobohm, Wolf: „,Deutlichkeit‘ als kompositorisches Prinzip bei Telemann“, in: Adolf Nowak/Andreas Eichhorn (Hg.), Telemanns Vokalmusik – Über Texte, Formen und Werke, Hildesheim: Georg Olms 2008, S. 11–28. 50 Ebd. S. 20, am Beispiel der Telemann-Kantate: „Drei sind, die da zeugen im Himmel“ TVWV 1:374, Jahrgang Geistliches Singen und Spielen 1710/11. 51 Autographisches Manuskript 1736 (- ca.1740), Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung (D-B), Mus.ms. Bach P 25.
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Der vollständige Text lautet: „Buß und Reu knirscht das Sündenherz entzwei, daß die Tropfen meiner Zähren angenehme Spezerei, treuer Jesu, dir gebären.“52 Zu den Worten „daß die Tropfen meiner Zähren“ zeichnen absteigende StakkatoSechzehntel die fallenden Tränen nach. Das Bild wird damit zunächst über die intermodale Analogie von Tonhöhe zu räumlicher Höhe sowie die abwärts gerichtete Bewegung vermittelt. Die kurze Tondauer im Stakkato repräsentiert zudem die räumliche Begrenztheit der Tränen und liefert als Geräusch auftreffender Tropfen einen onomatopöetischen Beitrag. Dies dient jedoch allein dem Zweck, den Gläubigen das Leiden – und damit die Person – Jesu nahe zu bringen und Betroffenheit, Demut und Mitleid zu vermitteln. Die emotionale Beteiligung motiviert so zu einer Anwendung der christlichen Lehre im Alltag. Der verdeutlichte Text entfaltet gerade im Mitempfinden das Potential lebenspraktischer Umsetzung. Im Folgenden sollen die multisensorischen Aspekte Licht, Farbe und Bewegung im Hinblick auf die musikalische Malerei des Barock etwas näher betrachtet werden.
5. LICHT Das Spiel mit Licht und Dunkelheit ist ein wichtiges Element der Musik des Barock – wie auch anderer Epochen. Synästhetiker berichten häufig über die Wahrnehmung von Lichterscheinungen im Zusammenhang mit dem Hören von Musik. Abbildung 12 zeigt ein Beispiel des Künstlers Walther Behm. Er berichtet über seine 1931 als Schwarzweiß-Abbildungen publizierten Werke: „Die in diesem Bericht veröffentlichten Photismen […] lassen sich charakterisieren als große selbstleuchtende Glasplastiken, die ein goldenes mildes Licht ausstrahlen, häufig treten im synoptischen Bilde Lichtstrahlen, Lichtfontänen und Lichtkränze auf, gebündelt wie das Nordlicht in zahllosen Variationen.“53 Da Musik aller Epochen häufig auf Lichteffekte anspielt, ist wahrscheinlich, dass auch Menschen ohne ausgeprägt genuine Synästhesien Entsprechungen zwischen Licht und einer darauf bezogenen Musik empfinden. Alber Wellek bezeichnet die Verbindung von Ton zu Licht als „Lichthören“, das er als Vorstufe des eigentlichen Farbenhörens, der Farbe-Ton-Synästhesie betrachtet. In seiner Sicht ist dies „die primitivere, weil allgemeinere und unbunte Vorstufe des eigentlichen Farbenhörens und auch jenen Menschen eigen, die letzteres gar nicht oder nur in 52 Das Libretto stammt von Christian Friedrich Henrici, genannt Picander. 53 Behm, Walther: „Erläuterungen zu meinen synoptischen Bildern (Tafel 59–64) und zu den Schülerarbeiten aus meinem synoptischen Kunstunterricht (Tafel B-G)“, in: Anschütz, Farbe-Ton-Forschungen, Band 3 (1931), S. 414–416.
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sehr unmerklichem Grade besitzen.“54 Heute ist anerkannt, dass die Verknüpfung auditiver Toneigenschaften mit der visuellen Helligkeit eine allgemein verbreitete intermodale Analogie bildet. Dabei bleibt jedoch offen, ob dies wie bei Synästhetikern spontane Lichterscheinungen beinhaltet, die der visuellen Wahrnehmung aufgrund eines Lichtreizes gleichen, oder ob die Möglichkeit der Zuordnung lediglich als plausibel vorstellbar erscheint.
Abb. 12: Darstellung visuell-synästhetischer Lichterscheinungen beim Hören eines Präludiums mit Fuge von Johann Sebastian Bach. Walther Behm, 1929.55 54 Wellek, Albert: Der musikalische Blitz und seine Geschichte, in: Zeitschrift für Musik (Juli/August 1928), S. 414–418. 55 Abbildung 3 aus Walther Behm: Synoptik. Kunst und Jugend, 9.Jahrgang, Heft 1, Stuttgart: Eugen Hardt 1929, S. 3–6. Die Abbildung wurde auch auf Tafel 64,1übernommen
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Wie im Fall der Wahrnehmung über das Auge, so kann auch bei visuellen Erscheinungen, die über Lichtanalogien in der Musik entstehen, die Reizintensität variieren. Die Spanne reicht von einem milden Lichtschein bis hin zu grellem, blendendem Licht. Ein Beispiel für das grelle Licht ist der Einsatz des fünfstimmigen Vokalensembles zu Beginn des Miserere von Gregorio Allegri.56 Der unmittelbare Einsatz des ersten, fünfstimmigen Vokalensembles (SSATB) mit den zwei dominierenden Sopranstimmen und einem schlichten Akkord, der im gesamten ersten Takt beibehalten wird, kann als plötzliches Erscheinen eines gleißenden Lichts aufgefasst werden. Als aufscheinende Gnade Gottes dürfte er seine Wirkung auf die Zuhörer kaum verfehlt haben, insbesondere in einer dämmerigen Kirche wie der Sixtinischen Kapelle und dann, wenn ein gregorianischer Choral vorangeht. Grelles Licht ist auch für eine Verkündigungsszene angemessen, in der die bei Nacht plötzlich erscheinende Lichtgestalt eines Engels den Hirten die Geburt Jesu berichtet. In Georg Philipp Telemanns Weihnachtskantate von 1761 übernimmt ein Sopran die Rolle des Engels.57 Nach einer einleitenden Engelsmusik der Streicher erscheint zu den Worten: „Ich verkündige euch große Freude …“ das blendende Licht als enggeführte Begleitung der Singstimme durch Trompete und Blockflöte, wodurch eine grelle Klangfarbe entsteht. Zusätzlich wird die räumliche Höhe der Erscheinung durch Verlagerung des Basso Continuo in die Violinstimme illustriert. Ein Beispiel für das milde Licht findet sich hingegen in den Symphonies zur Oper ‚Les Indes Galantes‘ von Jean-Philippe Rameau.58 Das Prélude pour l‘adoration du soleil leitet die Szene der Anbetung der Sonne durch den Hohepriester der Inka mit geteilten Violinen und zwei Traversflöten in hoher Lage ein. Die lichthelle Klangfarbe der Instrumente in Liegetönen dominiert die Atmosphäre. Die Wirkung des Lichtes kann sich zu Beginn ungestört entfalten, da der Basso Continuo erst im sechsten Takt einsetzt.59 Johann Sebastian Bach stattet Jesus in den Rezitativen der Matthäuspassion mit einem deutlichen Heiligenschein aus. Jesu Worte werden dabei im Sinne eines in: Anschütz, Farbe-Ton-Forschungen, Band 3 (1931), S. 414–416, mit kurzen Erläuterung auf S. 415. Die Bezeichnungen der Bilder wurden im Anschütz-Band jedoch unter den beiden Abbildungen der Tafel 64 vertauscht – wie auf allen 6 Tafeln mit Bildern von Walter Behm, mit Ausnahme der Tafel 63. 56 Gregorio Allegri, 1582–1652: Miserere nach Psalm 51. 57 TVWV 1:1334, Am 1. Heiligen Weihnachtstage 1761 in St. Petri, Nr. 1. 58 Jean-Philippe Rameau, 1683–1764, Les Indes Galantes, 1735, Prélude pour l‘adoration du soleil. 59 Ausgabe: Les Indes galantes, ballet, réduit à quatre grands concerts: avec une nouvelle entrée complete, Par Monsieur Rameau, ÉditeurSe vend à, 1736.
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Accompagnato-Rezitativs mit Violinen über einem Bassfundament begleitet. Der Gegensatz zwischen der Sphäre des Himmels und der Sphäre irdischer Qualen bzw. der Hölle wird hier ganz bildlich in der Vertikalen als intermodale Analogie aufgespannt und durch den Unterschied der Klanghelligkeit zwischen hohen Streichern und tiefen Registern des Generalbasses illustriert. Das Bassfundament verleiht den Worten darüber hinaus standhaft erdverbundene Autorität. Die räumliche und klangfarbliche Analogie entspricht hier einem Schema, dass im Barock auch für den Dialog der Seele mit Jesus Anwendung findet. In Georg Philipp Telemanns Matthäuspassion von 1750 illustrieren Klangfarbe und Tonhöhe der Sopranstimme die leuchtende, hoch schwebende Seele, während Jesus auch hier durch eine Bassstimme charakterisiert wird.60 Ein weiteres Beispiel für die Anwendung der genannten intermodalen Analogien findet sich in Georg Philipp Telemanns Passionsoratorium Der Tod Jesu. In der Arie Nr. 14 wird die Metapher von Jesus als „Berg Gottes“ musikalisch verdeutlicht: „So stehet ein Berg Gottes, den Fuß in Ungewittern, das Haupt in Sonnenstrahlen, so stehet der Held aus Kanaan.“ 61 Am Fuß des Berges toben die Gewitter mit Unterstützung durch Horn und tiefe Streicher, während die Stimme des Sängers sich zum Haupt Jesu hin in lichte, klanghelle Höhen erhebt und bei zarter Umspielung der Violinen eine wiegende, melismatische Melodie präsentiert. Weitere Beispiele für visuelle Analogien finden sich in großer Zahl in der Musik des Barock. Auch im 19. Jahrhundert wird die Möglichkeit der musikalischen Ausdeutung von Lichterscheinungen weiter ausgeschöpft. So macht insbesondere Richard Wagner in weitem Umfang davon Gebrauch. Dies gilt für das lichte Gralsmotiv ebenso wie für die Sonnenstrahlen, die Brünnhilde im Augenblick des Erwachens wahrnimmt.62 Oft ist bereits der Text im Hinblick auf eine Kommunikation von Lichterscheinungen gestaltet, etwa wenn Elsa von ihrem Traum berichtet, in dem sie das Erscheinen Lohengrins voraussieht. Dabei fällt die Häufung der Vokale ‚e‘ und ‚i‘ auf, die aufgrund ihrer ausgeprägt hohen Sprachformanten ein besondere Helligkeit vermitteln: „In lichter Waffen Scheine ein Ritter nahte da, so tugendlicher Reine ich keinen noch ersah“.63 In Wagners Musikdrama Tristan und Isolde wird der Gegensatz zwischen Licht und Dunkelheit vielfach auskomponiert. Dies kulminiert im Kontrast des grellen, offensiven Tagmotivs zu dem dunkel-gedämpften, sehr zurückhaltenden
60 TVWV 5:35, 1750, Nr. 15, Duett (Sopran, Bass). 61 TVWV 5:6, 1755, Text von Karl Wilhem Ramler, Nr. 14, Arie (Tenor). 62 Richard Wagner: Lohengrin, Vorspiel und Elsas Traum im 1. Aufzug; sowie Siegfried, 3. Aufzug, Brünnhildes Erwachen. 63 Ebd. Elsas Traum.
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Motiv der Nacht.64 Die Erkenntnis, dass Wagner für das Tagmotiv offenbar auf eine Blitzanalogie zurückgreift, lenkt den Blick wieder zurück auf die Musik des Barock, in der Blitz und Donner beliebten Anlass zur musikalischen Ausdeutung boten. Der ‚musikalische Blitz‘ bildet mithin eine wichtige Anwendung der Analogie zwischen Klang und visueller Helligkeit. Musikalische Umschreibungen des Blitzes sind bereits seit Beginn des 17. Jahrhunderts bekannt. Als „früheste Blitzfigur“ benennt Albert Wellek ein Motiv aus einer Fantasie – der Wettersuite – für Virginal von John Munday.65 Das einfache Motiv findet sich in einem Teil der Fantasie, der explizit mit ‚Lightning‘ überschrieben ist. Wie oben bereits beschrieben, gilt die Nachahmung der Natur im 18. Jahrhundert als wesentliche Aufgabe des Komponisten. In der Kirchenmusik dieser Zeit stehen damit auch Blitz und Donner exemplarisch für das Wirken Gottes in der Natur. So liefern die Naturphänomene anschauliche, von der Vernunft fassbare Argumente für die Existenz Gottes. Dies entspricht wiederum der Denkrichtung der Physikotheologie der Aufklärung, die sich nicht mit dem Wort der Verkündigung begnügt, sondern auf sinnlich fassbare Belege baut.66 Ein expressives Beispiel liefert Georg Philipp Telemanns Donnerode, ein mehrsätziges Werk für Solisten, Chor und Orchester, das zum Gedenken an das verheerende Erbeben von Lissabon im Jahr 1755 komponiert wurde.67 Zu den Worten „Er donnert, dass er verherrlicht werde …“ finden sich musikalische Umschreibungen von Donner und Blitz. Die beiden Sänger nutzen die stimmlichen Möglichkeiten der Bassstimme zur Imitation des Donners über Tonrepetitionen und Triller; sie werden durch solistische Pauken und Streicher adäquat unterstützt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Blitz und Donner in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch als eigenständige Naturerscheinungen angesehen wurden, auch wenn beide Phänomene offenbar im gleichen Kontext eines Gewitters vorkommen. Der Kausalzusammenhang zwischen Blitz und Donner als Ausprägungen des selben physikalischen Vorgangs war jedoch noch nicht bekannt.68 Die musikalische Umschreibung beider Phänomene 64 Richard Wagner, Tristan und Isolde, 2. Aufzug, Tagmotiv zu Beginn des Vorspiels, Nachtmotiv als Einleitung zum Duett „Oh sink hernieder Nacht der Liebe“. 65 John Munday oder Mundy, vor 1555–1630, Die Fantasia ,Faire wether‘ findet sich im Fitzwilliam Virginal Book. A. Wellek: Der musikalische Blitz und seine Geschichte, S. 415. 66 M. Geck: Das Spätwerk Bachs und Telemanns im Licht von Aufklärung und Physikotheologie, S. 205–222. 67 Donnerode, TVWV 6:3a, 1756. 68 Eine Verbindung beider Phänomene allein anhand der Wahrnehmung ist auch nicht zwingend, denn der zeitliche Abstand variiert in weitem Rahmen. Donner und Blitz können auch ohne die jeweils komplementäre Erscheinung wahrgenommen werden,
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wurde vom Publikum offenbar intuitiv verstanden, auch wenn die Verknüpfung über verschiedene Prozesse der Wahrnehmung erfolgt: Beim Hören ist der musikalische Donner über die onomatopöetische Nachahmung im auditiven Bereich plausibel; der musikalische Blitz beruht dagegen auf einer intermodalen Analogie zum Visuellen. Beim Betrachten der Partitur kehren sich die Verhältnisse um. Der Blitz ist nun als visuelle Analogie zum – häufig gezackten – Notenbild verständlich, während etwa 16tel-Ketten im Bass über eine intermodale Verknüpfung zum Auditiven als Donner nachvollziehbar sind.
6. FARBE – KLANGFARBE Die Zuordnung musikalischer Töne zu Farben wird bereits in der Zeit des Barock intensiv diskutiert.69 In Paris entwickelt der Jesuitenpater Louis-Bertrand Castel das Konzept eines Farbklaviers, des Clavecin Oculaire, das bereits zu seiner Zeit internationale Beachtung erfuhr. So veröffentlicht Georg Philipp Telemann einen euphorischen Bericht über Castels Bemühungen; Abbildung 13 zeigt das Titelblatt.70 Telemann hat Castel während seiner Reise nach Paris in den Jahren 1737– 38 persönlich kennengelernt. Es ist jedoch nicht klar, ob ihm auch das Farbklavier praktisch vorgeführt wurde. Das Instrument sollte zugleich mit dem Anschlagen eines Tones die diesem zugeordnete Farbe präsentieren. Es ist jedoch nicht erwiesen, dass das beschriebene Instrument überhaupt realisiert wurde. Doch allein das Konzept löste im 18. Jahrhundert eine angeregte Diskussion über die Sinnfälligkeit der Zuordnung von Farben zu Tönen aus. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts traten im Zuge der wissenschaftlichen Entwicklung die bereits angedeuteten mathematisch/physikalischen Analogiebetrachtungen hinzu. Castel präsentiert bereits ein System der Zuordz.B. als Wetterleuchten, oder als fernes Donnern ohne Lichtblitz. Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden die elektrischen Prozesse der Blitzentstehung entdeckt, z.B. durch Benjamin Franklin. Es wäre für die Analyse musikalischer Beschreibungen von Blitz und Donner wichtig, zu klären, wann diese Erkenntnis sich genau durchsetzte. 69 J. Jewanski: Ist C = Rot? Eine Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zum Problem der wechselseitigen Beziehung zwischen Ton und Farbe. Barthelmes, Barbara: „AugenClavicimbel – Musique à couleur. Der Traum von der Farbenmusik“, in: Carsten Lange/ Brit Reipsch (Hg.), Telemann, der musikalische Maler, Hildesheim: Georg Olms Verlag 2010, S. 229–234. 70 Beschreibung der Augen-Orgel oder des Augen-Clavicimbels, so der berühmte Mathematicus und Jesuit zu Paris, Herr Pater Castel, erfunden und ins Werk gerichtet hat; Aus einem französischen Brief übersetzet von Telemann, Hamburg: Piscator 1739.
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nung von Tönen zu Farben, bei dem nicht Intervalle das Pendant zu Farben bilden, sondern jedem chromatischen Ton eine Farbe entspricht (Abb. 13 unten): c Blau; cis Celadon, d Grün; dis Olive; e Gelb; f Goldgelb; fis Incarnat; g Rot; gis Cramoisi; a Violett; ais Agate; h Blau-violett Diese Zuordnung wurde in allen Oktaven beibehalten, wobei die Oktavlage tiefer Töne durch geringere, die hoher Töne folgerichtig durch größere Helligkeit charakterisiert wurde. Interessant ist, dass die Zuordnung von Ton- zu Farbskalen zu verschiedenen Resultaten führt, je nachdem, welche Art der intermodalen Verknüpfung gemäß Abbildung 4 dem zugrunde liegt. So sind genuin-synästhetische Farbskalen strikt individuell und erscheinen Außenstehenden als beliebig, denn es existieren weder
Abb. 13: Titelblatt der Beschreibung Georg Philipp Telemanns zu Louis-Bertrand Castels AugenOrgel, 1739. Darunter ein Versuch der Rekonstruktion von Castels nur verbal dokumentierten Farbzuordnungen zu einer Oktave.
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sinnvolle Verbindungen der Farben benachbarter Töne, noch ist das Auftreten einzelner Töne ohne bestimmte Farbe in irgendeiner Weise erklärbar. Im Individuum sind solche Verbindungen zwischen Tonhöhe und Farben jedoch fest und langfristig konstant. Manche Absoluthörer können die gehörte Tonhöhe daher aufgrund der parallel erscheinenden synästhetischen Farbe identifizieren.71 Stellt man dagegen Menschen, die keine synästhetischen Farben wahrnehmen, die Aufgabe, Farbtöne in eine Reihenfolge zu bringen, so entscheiden sie sich zumeist für eine Skala mit zunehmender Helligkeit, die zum Beispiel von Schwarz über Blau, Rot und Gelb zu Weiß führt. Über die intermodale Analogie von Tonhöhe zu Farbhelligkeit ist eine solche Skala daher zur Visualisierung von Musik besonders geeignet. Als assoziative Farbskala kann hingegen die aus dem Regenbogen bekannte Abfolge der Farbtöne dienen. Wie oben beschrieben, kommt eine physikalische Transformation von Tonhöhe zu Lichtfrequenz zum selben Ergebnis. Wenn Personen nach Farben gefragt werden, die nicht einzelne Töne repräsentieren, sondern zu komplexen Klangfolgen oder ganzen Kompositionen passend erscheinen, so spielen emotionale Aspekte eine bestimmende Rolle. Die gewählten Farben entsprechend dann zumeist den von der Musik vermittelten Emotionen. Dies kann auch als eine emotionale Analogie zwischen Sehen und Hören aufgefasst werden. Im Gegensatz zu den oben genannten intermodalen Analogien erfolgt die neuronale Verarbeitung dann jedoch auf höherer kognitiver Ebene.72 Während die Instrumentation der Kammermusik im Barock oft noch flexibel gehalten oder im Unbestimmten belassen wird, spielt die Klangfarbe gerade in der Vokalmusik des Barock eine wichtige Rolle. Bei den Soloinstrumenten wird ein Spaltklang angestrebt, der sich deutlich von anderen Solisten sowie vom Tuttiklang abhebt. Darüber hinaus erfreut sich die klangfarbliche Modifikation des Streicherklangs durch colla parte geführte Blasinstrumente großer Beliebtheit, zu der häufig Oboen, nicht selten auch Flöten, Chalumeaux oder Blechblasinstrumente eingesetzt werden. Die charakteristischen Klangfarben der Instrumente bilden eine wesentliche Grundlage der Klangmalerei. Darüber hinaus entwickeln sich assoziative Zuordnungen der Instrumente zu Affekten und zu musiktheatralischen Personen der Handlung. Als Beispiele werden in der Literatur genannt:73
71 Wellek, Albert: Das absolute Gehör und seine Typen. Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1938. 72 Entsprechend einer emotional mediation hypothesis, siehe bei Whiteford, Kelly L./ Schloss, Karen B./Hellwig, Nathaniel E./Palmer, Stephen E.: „Color, Music, and Emotion: Bach to the Blues“, in: i-Perception Vol. 9(6) (2018), S.1–27. 73 Harnoncourt, Nikolaus: Der musikalische Dialog. Gedanken zu Monteverdi, Bach und Mozart, München: dtv/Bärenreiter 1984, S. 44.
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Streicher: zärtliche und raffinierte Affekte, aber auch Zorn Blockflöten und Schalmeien: pastorale sowie folkloristische Affekte Traversflöten: erotische Affekte Zinken und Posaunen: Wassergötter, Tritonen und Unterweltklänge Trompeten: Götter und Herrscher
Dies differenziert sich weiter in der Kirchenmusik des Barock. Die Soloinstrumente sind dabei Träger einer essentiellen Klangsymbolik. In Kantaten Johann Sebastian Bachs finden sich die folgenden Zuordnungen:74 • • • • • •
Trompete: Hoheitssymbol und Instrument der Verkündigung Holzbläser: das Göttliche aus menschlicher Sicht Traversflöte: christliche Nachfolge Oboe und Oboe d‘amore: die dem Menschen zugehörige Sphäre Violine: das flehende Aufblicken des Menschen zu Gott Viola da Gamba: Klage
Als Folge der Koppelung der Klangfarbe an den assoziativen oder symbolischen Gehalt der Musik trägt das Klangbild einen wesentlicher Teil der musikalischen Aussage, sowohl was den Klang des einzelnen Instruments, als auch die klangliche und dynamische Balance im Ensemble betrifft. Dies hat weitreichende Folgen für die Aufführungspraxis. Es ist damit nicht mehr sinnvoll, die Soloinstrumente gegen andere Bauformen, zum Beispiel technisch modernisierte Varianten auszutauschen. Die im Barock verwendete Traversflöte unterscheidet sich akustisch ganz wesentlich von Flötentypen aus Mittelalter und Renaissance, wie auch von der in Symphonieorchestern heutiger Zeit verwendeten Böhmflöte.75 Die BarockTraversflöte weist gegenüber den früher und später verwendeten, zylindrischen Bauformen eine umgekehrt konische Form der Bohrung auf, die den Klang deutlich beeinflusst.76 Zudem sind für viele Töne spezielle Gabelgriffe erforderlich, die den Klang verändern. Holzblasinstrumente des Barock zeigen daher eine starke Varianz der Klangfarbe benachbarter Töne. Aufgrund der sehr verschiedenen klanglichen Verhältnisse ist es daher nicht sinnvoll, zum Beispiel in den Branden-
74 Booklet zur Aufnahme: J.S. Bach, Famous Cantatas BWV 128, 129 & 130, Teldec 8.43096 ZK, 1983. Der Text stammt vermutlich von N. Harnoncourt. 75 benannt nach ihrem Entwickler Theobald Böhm, 1794–1881. 76 Scheck, Gustav: Die Flöte und ihre Musik, Mainz: B. Schott’s Söhne 1975.
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burgischen Konzerten die Traversflöte oder sogar die Blockflöten durch Böhmflöten zu ersetzen – was allerdings in der Vergangenheit nicht selten geschah.77
7. BEWEGUNG IN DER MUSIK Von den Möglichkeiten der musikalischen Darstellung von Bewegung wird in der Musik des Barock umfassend Gebrauch gemacht. Dies betrifft sowohl die reale Bewegung physikalischer Objekte, wie auch die affektive Bewegung des Gemüts. Die auditive Repräsentation von Bewegung beruht auf Verbindungen zwischen dem Hören und der visuellen Wahrnehmung von Bewegung, bei der das „Bauchgefühl“ als interozeptive Körperwahrnehmung sowie der Gleichgewichtssinn mitschwingen. Eine Analogie zur zirkularen Bewegung des Degens findet sich in Johann Heinrich Schmelzers Balletto Fechtschule.78 Dabei ist bemerkenswert, dass das Kreisen der Armbewegung musikalisch verständlich vermittelt wird, obwohl die objektive Zeit linear voranschreitet und die Töne der Partitur im Gegensatz zum Degen nicht die Richtung wechseln können. Die Rückkehr der Bewegung zum Ausgangspunkt ist somit wahrnehmbar. Es ist jedoch nicht möglich, ihn in der Partitur so zu notieren, wie er empfunden wird. Bewegungsanalogien illustrieren häufig Naturphänomene, wie Sturm, Flut, Erdbeben und das Lodern des Feuers. Wie in der Literatur, so bilden solche Erscheinungen auch in der Musik die Grundlage metaphorischer Umschreibungen der Affekte. Ein Beispiel unter vielen ist Carlo Gesualdos Madrigal „Arde il mio cor …“, in dem die wild lodernden Flammen durch ein in jeder Stimme unvermittelt aufspringendes Motiv aus einer punktierten Viertel- mit zwei Sechzehntelnoten überdeutlich modelliert sind.79 Ähnlich verfährt Johann Sebastian Bach beim Eingangschor der Kantate „Schwingt freudig euch empor,“ indem er diesen Text sich über eine Sequenz aus Sechzehntelnoten aufschwingen lässt. Auf den Silben ‚dig‘ und ‚euch‘ wird über je zwei Sechzehntel jeweils ein Flügelschlag angedeutet, und so ein engelsgleicher Flug zu den Sternen illustriert.80
77 Johann Sebastian Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 2, 4, und 5: BWV 1047, 1049 und 1050. 78 Johann Heinrich Schmelzer, 1623–1680, Balletto a 4 „Fechtschule“ G-dur. 79 Carlo Gesualdo di Venosa, ca. 1561–1613, 4. Madrigalbuch, Nr. 18, „Arde il mio cor …“, „Mein Herz brennt …“. 80 Johann Sebastian Bach, Kantate zum 1. Advent 1731 „Schwingt freudig euch empor zu den erhabnen Sternen, Ihr Zungen, die ihr itzt in Zion fröhlich seid!“, BWV 36.
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Die visuelle Bebilderung musikalisch präsentierter Bewegung funktioniert jedoch auch bei geräuschlosen oder völlig abstrakten Vorgängen. Auch im umfangrei-
Abb. 14: Cellosolo in Johann Sebastian Bachs Jagdkantate BWV 208, Ausschnitt, Markierung vom Autor.
chen Werk Georg Philipp Telemanns finden sich dazu zahlreiche Beispiele. Mit Hilfe einer Bewegungsanalogie komponiert er das Schreiten der Emmausjünger, die auf ihrem Weg dem auferstandenen Jesus begegnen und von ihm belehrt werden. Dazu verwendet er eine pointierte Rhythmisierung im Schritttempo – ein „Walking Bass“ des Barock.81 Die rein abstrakte Himmelsmechanik der Gestirne gewinnt sinnliche Erfahrbarkeit in Telemanns Arie der Erkenntnis aus dem Oratorium zum Neujahrstag „Herr Gott, dich loben wir“. Der Text „Wer wirbelt das feurige Rennen der Sonnen? Wer treibet die Sternen bald vor, bald zurück?“ wird mit schnellen Sequenzen des Fagotts reflektiert.82 Dabei zeigt sich das Potential von Bewegungsanalogien, selbst unvorstellbare Vorgänge multisensorisch zu vermitteln.
81 Georg Philipp Telemann: Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, TVWV 6:6, Rezitativ/Accompagnato (Jesus) „Der Held aus Juda, dem die Völker dienen sollen…“. 82 Georg Philipp Telemann, Oratorium zum Neujahrstag „Herr Gott, dich loben wir“, TVWV 1:745, Arie der Erkenntnis (Bass).
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Während die Beschreibung von Bewegung in der Musik des Barock eine wesentliche Rolle spielt, blieben grundlegende Studien dazu späteren Jahrhunderten vorbehalten. Insbesondere seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Frage nach Verbindungen zwischen Hören und Bewegung mit Blick auf musikalische Performance häufiger behandelt. Der Musikwissenschaftler und Pädagoge Alexander Truslit (1889–1971) hat zur Entstehung der durch musikalische Strukturen ausgelösten Bewegungsvorstellung verschiedene Experimente durchgeführt und versucht, allgemeine Prinzipien der Musikwahrnehmung, Interpretation und Komposition abzuleiten. In diesem Zusammenhang sind auch das von ihm entwickelte System der Visualisierung der Bewegungsvorstellung und seine Extraktion von Grundformen bemerkenswert. Truslits Arbeiten gerieten jedoch weitgehend in Vergessenheit und wurden nur von wenigen Autoren berücksichtigt. Erst in jüngerer Zeit erkannte man ihre Bedeutung für Musikpädagogik.83 Da eine Anwendung von Truslits Konzepten für die Analyse von Barockmusik von erheblicher Bedeutung ist, soll darauf abschließend eingegangen werden. Truslit veröffentlichte 1938 das Buch „Gestaltung und Bewegung in der Musik“ mit zahlreichen Visualisierungen. Es ist offenbar das erste Werk zur Musikwahrnehmung, dem auch zahlreiche Klangbeispiele auf Schallplatten beigefügt wurden.84 Alle für die Interpretation geeigneten Bewegungsformen lassen sich nach Truslits Konzept auf drei Grundformen zurückführen: offene, geschlossene und gewundene Bewegung (Abbildung 15 b-d). Das bloße Aneinanderreihen von Tönen führt dagegen nicht zu einer wirkungsvollen Interpretation (Abbildung 15 a).
83 Brandner, Hans: Bewegungslinien in der Musik. Alexander Truslit und seine Lehre der Körpermusikalität, der Kinästhesie der Musik, Augsburg: Wißner 2012. 84 Truslit, Alexander: Gestaltung und Bewegung in der Musik. Ein tönendes Buch vom musikalischen Vortrag und seinem bewegungserlebten Gestalten und Hören, BerlinLichterfelde: 1938, S.149. Reprint: Brandner, Hans/Haverkamp, Michael (Hg.), Augsburg: Wißner 2015.
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Abb. 15: Grundformen musikalischer Bewegung nach Alexander Truslit mit einer „unnatürlichen“ (a) und drei „naturgemäßen“ Formen (b–d).85
Truslits Grundannahme ist, dass sich die Bewegungsformen eines Musikwerkes vom Hörer und Interpreten eindeutig erfassen lassen. Diese Erkenntnis verdichtet er zu einem Bewegungsgesetz, dem er allgemeine Bedeutung zuweist. Im Zentrum steht die Bewegung als das „Urelement“ der Musik: „Aus der inneren Bewegtheit wird die Musik geboren, und aus der gleichen Bewegtheit erhält sie ihre Form. Durch ihre Bewegtheit reißt die Musik den Hörer mit und lässt ihn das erleben, was sie selbst zum Erklingen gebracht hat“.86 Truslit interpretiert dies als ein unumstößliches, biologisch bedingtes Gestaltungsgesetz, das durch physiologische Gegebenheiten im Wahrnehmungsapparat des Menschen festgelegt ist.
85 Ebd. Tafel 2, hier invertiert zu schwarz auf weißem Grund. 86 Ebd. S. 53.
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Abbildung 16 gibt ein Beispiel für die Visualisierung der Bewegungskurve eines Klavierstücks von Carl Philipp Emanuel Bach.87 Die Bewegungskurve ist als Anleitung des Interpreten zu einer optimalen Phrasierung zu verstehen. Sie wird über Körperbewegungen experimentell aus der Musik ermittelt und bei der Aufführung wiederum musikalisch umgesetzt.
Abb. 16: Alexander Truslits Bewegungskurve mit „offener Bewegungsform“ zum Rondo Es-Dur von Carl Philipp Emanuel Bach.
8. FAZIT Klangmalerei und visuelle Aspekte sind im Barock wichtige Bestandteile der Musik. Dies gilt sowohl für Vokalmusik als auch für Instrumentalmusik mit programmatischen Bezügen. Multisensorische Aspekte unterstützen so ein Mitempfinden emotionaler Regungen und das Erlebnis von Naturerscheinungen. Dabei sind Helligkeit, Farbton und Bewegung wichtige visuelle Korrelate zur Musik.
87 Ebd. S.149. Notenausgabe: Zehn Klavierstücke älterer Meister, herausgegeben von Elisabeth Caland, Leipzig, C. F. Kahnt.
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Die moderne Synästhesieforschung liefert neue Impulse zur Analyse von Verbindungen zwischen den Sinnen. Zur Gestaltung und Kritik multisensorischer Verbindungen und künstlerischer Ansätze ist jedoch ein allgemeines Konzept der Synästhesie notwendig, das neben individuellen Aspekten auch intermodale Verknüpfungen mit erfasst, die vom gesamten Publikum verstanden werden. Ein solches Konzept wurde hier vorgestellt. Es erlaubt die multisensorische Analyse der Musik alle Musikstile und Epochen. Die generelle Berücksichtigung von Verknüpfungen der Musikwahrnehmung mit den anderen Sinnen führt zu einem vertieften Verständnis der Wirkung der Musik auf die Hörenden.
9. DANKSAGUNG Für die Überlassung der Bildrechte bedanken wir uns herzlich bei den Künstlerinnen und Künstlern Nina Pops, Timothy B. Layden, Ninghui Xiong sowie beim Wißner-Verlag. Trotz intensiver Recherche war es nicht möglich, für die Abbildungen 6, 9 und 12 mögliche Inhaber der Bildrechte ausfindig zu machen. Für entsprechende Hinweise sind wir dankbar. Sollten Urheberrechte verletzt worden sein, werden wir diese nach Anmeldung berechtigter Ansprüche abgelten.
Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Jochen Arnold, Direktor des Michaelisklosters Hildesheim – Evang. Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik; PD für Systematische und Praktische Theologie an der Universität Leipzig Dienstl. Adresse: Hinter der Michaeliskirche 3, 31134 Hildesheim Kreiskantor Christian Domke, Büro für Kirchenmusik der Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Paul Am Packhof 8, 19053 Schwerin Prof. Dr. Klaus Hock, Professor für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock Theologische Fakultät, Universitätsplatz 1, 18051 Rostock Dr. Michael Haverkamp, Freiberufliche Tätigkeit im Bereich Akustik, Design, Synästhesieforschung, Musikpsychologie Bahnwärterweg 76, 50733 Köln Dr. Arend Hoyer, reformierter Pfarrer Alte Landstraße 93, CH-8800 Thalwil, Schweiz Dr. Jochen Kaiser, Kirchenmusiker und Liturgiewissenschaftler, bei der Reformierten Kirche des Kantons Zürich zuständig für „Musik und Gemeindeentwicklung“ Nordstrasse 358, CH-8037 Zürich, Schweiz Klaus-Dieter Kaiser, Akademiedirektor, Evangelische Akademie der Nordkirche Am Ziegenmarkt 4, 18055 Rostock
256 | Bach-Zitate
Prof. Dr. Thomas Klie, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock Theologische Fakultät, Universitätsplatz 1, 18051 Rostock Dipl. Kulturwissenschaftlerin Claudia Marks, Museumspädagogin am BachArchiv Leipzig von 06/2000 bis 08/2019. Seit 09/2019 Organisation der Leipziger Schulkonzerte an der Musikschule Leipzig „Johann Sebastian Bach“ Petersstr. 43, 04109 Leipzig Prof. em. Dr. Hartmut Möller, seit 2019 emeritierter Prof. für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater Rostock Rosengarten 3, 18435 Stralsund Dr. med. Dr. theol. Dipl. mus. Isgard Ohls, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (VT + TP), Spezialambulanz für Depressionen, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Martinistraße 52, Gebäude West 37, 20246 Hamburg
Religionswissenschaft Bernhard Grümme
Aufbruch in die Öffentlichkeit? Reflexionen zum ›public turn‹ in der Religionspädagogik 2018, 254 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4227-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4227-2
Nora Kim Kurzewitz
Gender und Heilung Die Bedeutung des Pentekostalismus für Frauen in Costa Rica März 2020, 272 S., kart., 2 Farbabbildungen 40,00 € (DE), 978-3-8376-5175-1 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5175-5
Thomas Klie, Jakob Kühn (Hg.)
Das Jenseits der Darstellung Postdramatische Performanzen in Kirche und Theater März 2020, 214 S., kart., 13 SW-Abbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5162-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5162-5
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Religionswissenschaft Isabella Schwaderer, Katharina Waldner (Hg.)
Annäherungen an das Unaussprechliche Ästhetische Erfahrung in kollektiven religiösen Praktiken Februar 2020, 272 S., kart., 23 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4725-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4725-3
Martin Tulaszewski, Klaus Hock, Thomas Klie (Hg.)
Was Heilung bringt Krankheitsdeutung zwischen Religion, Medizin und Heilkunde 2019, 218 S., kart., 4 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-5042-6 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5042-0
Oliver Wäckerlig
Vernetzte Islamfeindlichkeit Die transatlantische Bewegung gegen »Islamisierung«. Events – Organisationen – Medien 2019, 432 S., kart., 9 SW-Abbildungen 44,99 € (DE), 978-3-8376-4973-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4973-8
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