Liebe und Hass: Eine philosophische Analyse im Anschluss an Max Scheler und Aurel Kolnai 9783495820384, 9783495490044


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German Pages [209] Year 2020

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Danksagung
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Das Thema
1.2 Die Autoren
1.3 Die Arbeit
2 Phänomenologie der Liebe
2.1 Liebe in der gegenwärtigen philosophischen Debatte
2.1.1 Evaluative Theorien der Liebe
(a) Liebe als Würdigung (J. D. Velleman)
(b) Liebe als Wertverleihung (I. Singer)
2.1.2 Teleologische Theorien der Liebe
(a) Liebe als Wohlwollen (H. Frankfurt)
(b) Liebe als Verschmelzungswunsch (R. Scruton, R. Nozick, R. C. Solomon, N. Delaney)
2.1.3 Interaktive Theorien der Liebe
2.1.4 Konklusion
2.2 Schelers Emotionsphänomenologie
2.2.1 Fühlen, Gefühle etc.
2.2.2 Schichten
2.2.3 Funktionen und Akte
2.3 Sympathische Gefühle
2.3.1 Nachfühlen
2.3.2 Mitgefühle
2.3.3 Miteinanderfühlen
2.3.4 Gefühlsansteckung
2.3.5 Einsfühlung
2.3.6 Liebe und die Ordnung der Sympathie
2.4 Liebe
2.4.1 Das Phänomen
2.4.2 Das Objekt
2.4.3 Werterhöhung
2.4.4 Empirische und ideale Werte
2.4.5 Liebesillusionen
(a) Gefühl
(b) Streben
(c) Idealisierung
(d) »Bessermachenwollen«
2.5 Liebe und Person
2.5.1 Zum Begriff der Person
2.5.2 Person, Wert & Welt
2.5.3 Persönliche Liebe
2.5.4 Die Liebe und das Gute
2.5.5 Diskussion
(a) Intentionalität
(b) Einheit
(c) Entwicklung
2.6 Schelers Liebesbegriff im Kontext der aktuellen Liebesdebatte
2.6.1 Liebe als Transzendenzakt
(a) Emotionaler Akt
(b) Wertentdeckung
(c) Von Person zu Person
2.6.2 Interaktive Liebe
(a) Lieben und geliebt werden
(b) Geteilte Werte, geteilte Gefühle
(c) Gemeinschaft
2.6.3 Konklusion
3 Phänomenologie des Hasses
3.1 Kolnais Aversionsphänomenologie
3.1.1 Grundformen der Aversion
3.2 Angst
3.3 Ekel
3.4 Hass
3.4.1 Das Phänomen
3.4.2 Das Objekt
3.4.3 Hass, Unwerte und das Böse
3.5 Konklusion
4 Abschließende Synthese – Liebe & Hass
4.1 Akt & Gefühl
4.2 Absolutheit
4.3 Inter- & Antipersonalität
4.4 Symmetrie
4.5 Komplexität
4.6 Moralität
4.7 Schlussbetrachtung
4.7.1 Liebe & Hass als Grundphänomene des menschlichen Lebens
4.7.2 Zum Fundierungsverhältnis von Liebe und Hass
4.7.3 Therapie des Hasses?
Siglenverzeichnis
Verzeichnis der verwendeten Bände der Gesammelten Werke Max Schelers
Literaturverzeichnis
Personen- und Sachregister
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Liebe und Hass: Eine philosophische Analyse im Anschluss an Max Scheler und Aurel Kolnai
 9783495820384, 9783495490044

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Katharina Ernst-Wilken

Liebe und Hass Eine philosophische Analyse im Anschluss an Max Scheler und Aurel Kolnai

ALBER SYMPOSION

https://doi.org/10.5771/9783495820384

.

B

ALBER SYMPOSION

A

https://doi.org/10.5771/9783495820384 .

SYMPOSION PHILOSOPHISCHE SCHRIFTENREIHE BEGRÜNDET VON MAX MÜLLER, BERNHARD WELTE, ERIK WOLF HERAUSGEGEBEN VON CHRISTOPH HALBIG, JÖRN MÜLLER Band 138

https://doi.org/10.5771/9783495820384 .

Katharina Ernst-Wilken

Liebe und Hass Eine philosophische Analyse im Anschluss an Max Scheler und Aurel Kolnai

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820384 .

Katharina Ernst-Wilken Love and Hate A Philosophical Analysis in Dialogue with Max Scheler and Aurel Kolnai Currently the philosophical debate on emotions is dominated by analytical philosophy. Yet, one of the problems of the analytical interpretation is its neglect of the dimension of the experience of emotions. This book wants to close this gap by making accessible Max Scheler’s and Aurel Kolnai’s sketches of a phenomenology of love and hate. The book therefore develops alternative concepts of love and hate that are primarily informed by emotional experience. Crucial in this regard is the specific relation of both emotions to values as well as the person who is the object of either or both of those emotions. The Author: Katharina Ernst-Wilken studied philosophy, german literature studies, psychology and religious studies in Leipzig and Jena. In 2016 she received her PhD from the University of Gießen for a thesis on love and hate, which forms the basis for the present book.

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Katharina Ernst-Wilken Liebe und Hass Eine philosophische Analyse im Anschluss an Max Scheler und Aurel Kolnai In der vorwiegend analytisch geprägten philosophischen Emotionsdebatte der Gegenwart findet die Erlebnisdimension von Emotionen bislang wenig Beachtung. Dieses Buch möchte einen neuen Impuls setzen, indem es die liebes- und hassphänomenologischen Entwürfe von Max Scheler und Aurel Kolnai für den aktuellen Diskurs fruchtbar macht und alternative Begriffe von Liebe und Hass entwickelt, die sich primär an der emotionalen Erfahrung orientieren. Zentrale Bedeutung kommt hierbei dem besonderen Wertbezug dieser beiden Emotionen sowie der Person als ihrem spezifischen Objekt zu. Die Autorin: Katharina Ernst-Wilken studierte in Leipzig und Jena Philosophie, Germanistische Literaturwissenschaft, Psychologie und Religionswissenschaft. 2016 promovierte sie mit der vorliegenden Arbeit an der JustusLiebig-Universität Gießen im Fach Philosophie.

https://doi.org/10.5771/9783495820384 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49004-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82038-4

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Danksagung

Die vorliegende Arbeit ist die nahezu unveränderte Fassung meiner Dissertationsschrift, die im Sommersemester 2016 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen unter dem Titel »Phänomenologie von Liebe und Hass bei Max Scheler und Aurel Kolnai« angenommen wurde. Ich danke meinem Doktorvater Prof. Dr. Christoph Halbig herzlich für das große Interesse, das er meinem Thema über viele Jahre entgegengebracht hat, für die Freiheit, die er mir zur Entfaltung meiner eigenen Ideen gelassen hat, sowie für die zahlreichen Hinweise, regelmäßigen Deadlines und gelegentlichen Kurskorrekturen, die mir halfen, die Arbeit zu einem guten Ende zu führen. Den Teilnehmern seiner Oberseminare in Gießen, Konstanz und Zürich verdanke ich zudem inspirierende Diskussionen zu verschiedenen Teilen meiner Untersuchung. Großer Dank gilt auch meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Matthias Perkams. Seine wertvollen Anregungen und Ratschläge haben mich bereits durch mein Studium begleitet und mir so manches Mal den richtigen Weg gewiesen. Beim Verfassen der Dissertation waren sie mir einmal mehr eine unverzichtbare Hilfe. Dankbar bin ich ferner meinem langjährigen Freund Henry Seidel für das akribische Korrekturlesen sowie Lukas Trabert, Prof. Dr. Christoph Halbig und Prof. Dr. Jörn Müller für die freundliche Aufnahme der Arbeit in die Symposion-Reihe des Verlags Karl Alber. Nicht zuletzt danke ich meinem Mann Christian für sein Verständnis, seine Ermutigungen und die immer neuen Einsichten in das Phänomen der Liebe, die mir unsere Beziehung ermöglicht.

Berlin, im März 2019

Katharina Ernst-Wilken

Liebe und Hass

A https://doi.org/10.5771/9783495820384 .

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https://doi.org/10.5771/9783495820384 .

Inhaltsverzeichnis

1 1.1 1.2 1.3

Einleitung . . Das Thema . Die Autoren Die Arbeit .

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2 Phänomenologie der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Liebe in der gegenwärtigen philosophischen Debatte . . 2.1.1 Evaluative Theorien der Liebe . . . . . . . . . . (a) Liebe als Würdigung (J. D. Velleman) . . . . . (b) Liebe als Wertverleihung (I. Singer) . . . . . 2.1.2 Teleologische Theorien der Liebe . . . . . . . . . (a) Liebe als Wohlwollen (H. Frankfurt) . . . . . (b) Liebe als Verschmelzungswunsch (R. Scruton, R. Nozick, R. C. Solomon, N. Delaney) . . . . 2.1.3 Interaktive Theorien der Liebe . . . . . . . . . . 2.1.4 Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Schelers Emotionsphänomenologie . . . . . . . . . . . 2.2.1 Fühlen, Gefühle etc. . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Schichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Funktionen und Akte . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Sympathische Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Nachfühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Mitgefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Miteinanderfühlen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Gefühlsansteckung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Einsfühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.6 Liebe und die Ordnung der Sympathie . . . . . . 2.4 Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Das Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Das Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Liebe und Hass

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Inhaltsverzeichnis

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2.4.3 Werterhöhung . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Empirische und ideale Werte . . . . . . . 2.4.5 Liebesillusionen . . . . . . . . . . . . . (a) Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Streben . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Idealisierung . . . . . . . . . . . . . (d) »Bessermachenwollen« . . . . . . . . 2.5 Liebe und Person . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Zum Begriff der Person . . . . . . . . . . 2.5.2 Person, Wert & Welt . . . . . . . . . . . 2.5.3 Persönliche Liebe . . . . . . . . . . . . . 2.5.4 Die Liebe und das Gute . . . . . . . . . . 2.5.5 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Intentionalität . . . . . . . . . . . . (b) Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Entwicklung . . . . . . . . . . . . . 2.6 Schelers Liebesbegriff im Kontext der aktuellen Liebesdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.1 Liebe als Transzendenzakt . . . . . . . . (a) Emotionaler Akt . . . . . . . . . . . (b) Wertentdeckung . . . . . . . . . . . (c) Von Person zu Person . . . . . . . . 2.6.2 Interaktive Liebe . . . . . . . . . . . . . (a) Lieben und geliebt werden . . . . . . (b) Geteilte Werte, geteilte Gefühle . . . (c) Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . 2.6.3 Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Phänomenologie des Hasses . . . . 3.1 Kolnais Aversionsphänomenologie 3.1.1 Grundformen der Aversion . 3.2 Angst . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Ekel . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Hass . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Das Phänomen . . . . . . . 3.4.2 Das Objekt . . . . . . . . . 3.4.3 Hass, Unwerte und das Böse 3.5 Konklusion . . . . . . . . . . . .

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SYMPOSION

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Inhaltsverzeichnis

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7

Abschließende Synthese – Liebe & Hass . . . . . . . . . . Akt & Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absolutheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inter- & Antipersonalität . . . . . . . . . . . . . . . . . Symmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.1 Liebe & Hass als Grundphänomene des menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7.2 Zum Fundierungsverhältnis von Liebe und Hass . . 4.7.3 Therapie des Hasses? . . . . . . . . . . . . . . . .

Siglenverzeichnis

180 180 183 184 186 187 190 192 192 194 196

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Verzeichnis der verwendeten Bände der Gesammelten Werke Max Schelers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Liebe und Hass

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1 Einleitung

1.1 Das Thema Seit den 1990er-Jahren ist das Interesse der Philosophie an der menschlichen Emotionalität stetig gewachsen. Gerade in den letzten Jahren lässt sich ein fast explosionsartiger Anstieg der philosophischen Veröffentlichungen feststellen, die sich mit der Struktur und Funktion von Gefühlen beschäftigen, ihrer kulturellen und moralischen Bedeutung, ihrem Verhältnis zu Werten oder zur Vernunft. Betrachtet man die Analysen, die einzelnen Emotionen gewidmet sind, so fällt allerdings auf, dass positive emotionale Erlebnisse wie Freude, Hoffnung oder Glück(-seligkeit) im Allgemeinen deutlich beliebtere Forschungsgegenstände darstellen als ihre negativen Pendants wie Trauer, Verzweiflung oder Unglück(-seligkeit). Besonders augenscheinlich wird dieses ungleich gelagerte Interesse im Fall von Liebe und Hass: Einer mittlerweile fast unüberschaubaren Menge von philosophischen Liebestheorien steht eine verschwindend geringe Zahl von einschlägigen Untersuchungen zum Hass gegenüber. 1 Bemerkenswert ist dieser Unterschied nicht zuletzt deshalb, weil Liebe und Hass häufig als komplementäre Emotionen betrachtet werden, die einander genau entgegengesetzt zu sein scheinen und zugleich in einer eigentümlichen Beziehung stehen. Als ein paradigmatisches Beispiel für einen besonderen Zusammenhang zwischen diesen beiden Emotionen kann etwa das leidenschaftliche Liebespaar gelten, deren Hingabe aneinander mit dem Ende der Liebe in ebenso leidenschaftlichen Hass umschlägt. Auch das deutsche Kompositum »Hassliebe« (engl. »love-hate relationship«) für eine stark ambivalente emotionale Beziehung zu einem Menschen scheint ein spezifisches Wechselverhältnis von Liebe und Hass nahezulegen. Eine phiSiehe zum Beispiel die Bibliografie zu Liebe und Hass in Christoph Demmerling/ Hilge Landweer (Hg.) (2007): Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart u. a.: Metzler 2007, S. 316 f., 321 f.

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Liebe und Hass

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Einleitung

losophische Debatte über den Hass steht jedoch bislang aus. Die vermeintliche Polarität dieser Emotionen mag dabei selbst ein Grund sein, warum der Hass – gewissermaßen als negative Liebe – so selten eigens thematisiert wird. Nicht unerheblich trägt aber sicherlich auch die vorwiegend in westlichen, von christlichen Werten geprägten Gesellschaften verbreitete Tabuisierung, Verdrängung oder Verteufelung zerstörerischer, aversiver Regungen zu einer weitgehenden Vermeidung des Hassthemas bei. 2 Die vorliegende Arbeit möchte mit einer vergleichenden Untersuchung von Liebe und Hass einen Beitrag zu einer vielfältigeren philosophischen Emotionsdebatte leisten, in der sowohl die ›helleren‹ wie die ›dunkleren‹ Seiten unserer Gefühle zur Sprache kommen und in ihrer spezifischen Bedeutung für unser Leben gewürdigt werden. Die zentrale Frage ist hierbei, wie sich Liebe und Hass verstehen lassen und wie ihr Verhältnis bestimmt werden kann. Inwiefern weisen diese Emotionen Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten auf, in welcher Hinsicht sind sie einander entgegengesetzt? Inwiefern unterscheiden sie sich in ihrer Struktur, in ihren Objekten, in ihrer Funktion und inwiefern hängen sie voneinander ab? Nicht zuletzt soll der moralischen Relevanz beider Emotionen nachgegangen werden. In Bezug auf ein gutes oder glückliches Leben und Zusammenleben wird der Liebe nicht selten eine konstituierende Rolle zugewiesen, wohingegen der Hass oft als zu vermeiden oder zu überwinden gilt. Doch inwiefern ist die Liebe eigentlich ›gut‹ und der Hass ›böse‹ ? Und wäre es tatsächlich möglich oder erstrebenswert, gänzlich ohne Hass zu leben? Zur Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen werde ich mich mit zwei Philosophen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen, die trotz ihrer unbestreitbaren Pionierleistungen auf dem Gebiet der menschlichen Emotionalität erst wenig Beachtung in der neueren Emotionsphilosophie gefunden haben: Max Scheler und Aurel Kolnai. Bestrebt, die zentralen Phänomene des Lebens in ihren grundlegendsten Strukturen freizulegen, und mit einer ungewöhnlichen Beobachtungsgabe ausgestattet, konnten beide Autoren meines Erachtens die bisher tiefgründigsten und detailliertesten Phänomenologien von Liebe und Hass vorlegen. Darüber hinaus können Scheler und Kolnai durch ihren wertphänomenologischen Ansatz, der phiVgl. Demmerling/Landweer (2007), S. 299 ff.; Rolf Haubl/Volker Caysa (2007): Hass und Gewaltbereitschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 69 f.

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SYMPOSION

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Die Autoren

losophische Wert- und Emotionstheorie miteinander verbindet, für die derzeitige Emotionsdebatte von großem Interesse sein. Ein weiteres Ziel dieser Arbeit besteht daher darin, beide Philosophen wieder stärker in die Diskussion einzubringen. Insbesondere soll hierbei versucht werden, das äußerst vielversprechende Potenzial der Scheler’schen Liebestheorie für den aktuellen Liebesdiskurs deutlich zu machen.

1.2 Die Autoren Sowohl Max Scheler wie der eine Generation jüngere Aurel Kolnai können der Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen phänomenologischen Strömung zugerechnet werden, zu deren Gründungsgestalten insbesondere Edmund Husserl zu zählen ist. Die sogenannte frühe Phänomenologie zeichnete sich in erster Linie durch den Versuch aus, in der Konzentration auf die Erscheinung der Dinge im reinen Erlebnis derselben, das heißt auf das Phänomen, zu deren Wesenskern selbst vorzudringen. Die allgemeine Methode, um zu einer solchen Wesensschau zu gelangen, bestand in einem Heraustreten aus der natürlichen Einstellung zur Welt, wobei vor allem Existenzurteile zurückgestellt und individuelle Erfahrungsbedingungen ausgeblendet wurden. 3 Als einer der namhaftesten Vertreter dieser Bewegung machte Max Scheler (1874–1928) die phänomenologische Betrachtungsweise in zahlreichen Werken für ethische und religionsphilosophische Fragestellungen, für die Untersuchung des emotionalen Lebens wie auch für Grundlagendiskussionen der Psychologie und In ihren Details konnte die Verfahrensweise durchaus variieren. Siehe zum Beispiel Max Scheler (1913–14): Phänomenologie und Erkenntnistheorie, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre, hg. von Manfred S. Frings, 3., durchges. Aufl., Bonn: Bouvier 1986 (= GW 10), S. 394, oder das von Husserl 1913 im ersten Band des von ihm herausgegebenen Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung vorgelegte Programm der phänomenologischen Bewegung: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Buch 1: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Hamburg: Meiner 2009. Für ausführlichere Darstellungen zu Geschichte, Methode, Themen und Vertretern der Phänomenologie siehe zum Beispiel Ferdinand Fellmann (2006): Phänomenologie zur Einführung, Hamburg: Junius 2006; Elisabeth Ströker/ Paul Janssen (1989): Phänomenologische Philosophie, Freiburg u. a.: Alber 1989; zum Thema der Emotionen auch Íngrid Vendrell Ferran (2008): Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie, Berlin: Akademie Verlag 2008. 3

Liebe und Hass

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Einleitung

Sozialwissenschaften fruchtbar. In seinen wirkungsreichsten Hauptwerken, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/16) sowie Wesen und Formen der Sympathie (1913), stellt Scheler die primäre Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen radikal infrage und entwirft eine materiale Wertethik, in der die Gefühle des Menschen eine vorgeordnete Bedeutung erhalten. Für ihn sind es die emotionalen Akte, durch die der Mensch seine Welt erschließt, ihre Wertstruktur erfasst und damit letztlich auch zum moralischen Handeln fähig ist. Eine ganz besondere Rolle spielt für ihn dabei die Liebe, die es dem Menschen ermöglicht, seine gewöhnliche Wahrnehmung zu übersteigen und seine Werterfahrung zu erweitern. In seiner unvollendeten Schrift Ordo Amoris (1914–1916) beschreibt er sie deshalb sogar als eine Art Urakt des Menschen, der ihn wesentlich auszeichnet: »Der Mensch ist, ehe er ein ens cogitans ist oder ein ens volens, ein ens amans.« 4 Tatsächlich hat sich kaum ein anderer derart intensiv und vielseitig mit dem Phänomen der Liebe, ihren verschiedenen Erscheinungsformen und Interpretationen auseinandergesetzt wie Scheler. Doch so viel Licht Scheler auf die Liebe und ihre zentrale Bedeutung für das menschliche Leben zu werfen versucht, so viel Schatten fällt bei ihm auf das Phänomen, das im Allgemeinen und auch von ihm selbst als komplementär verstanden wird: der Hass. Obwohl er etwa den Mittelteil von Wesen und Formen der Sympathie explizit mit »Liebe und Haß« betitelt, widmet er sich weder hier noch an anderer Stelle einer eigenständigen Analyse des Hasses, sondern beschränkt sich im Wesentlichen darauf, ihn als eine zur Liebe entgegengesetzte, wertvermindernde Bewegung zu bestimmen. Anders verhält es sich bei dem in Ungarn geborenen Aurel Kolnai (1900–1973): Er sah sich von dieser ungleichgewichtigen Betrachtung Schelers geradezu herausgefordert, in den menschlichen Gefühlen auch »den Pendelschlag zum Bösen« 5 zu entdecken. Der in GW 10, S. 356. Die Liebe bildet damit nicht nur ein wichtiges Thema in Schelers philosophischem Denken, sondern zugleich ein Grundelement seiner Gesamtphilosophie. So betont unter anderem auch Manfred S. Frings, der langjährige (Mit-)Herausgeber seiner Gesammelten Werke: »This proposition of Scheler’s is the core of his philosophy of man. If this is not understood, Scheler’s philosophy as a whole is not understood.« Manfred S. Frings (1996): Max Scheler. A Concise Introduction to the World of a Great Thinker, 2. Aufl., Milwaukee Marquette University Press 1996, S. 41. 5 Aurel Kolnai (1927): Der ethische Wert und die Wirklichkeit, Freiburg i. Br.: Herder 1927 (= EWW), S. 71, Anmerkungen. 4

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SYMPOSION

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Die Arbeit

Deutschland noch wenig zur Kenntnis genommene Philosoph ist besonders in der englischen analytischen Philosophie längst kein Unbekannter mehr. Vor allem seinen Studien zur phänomenologischen Ethik wurde hier seit den 1960er-Jahren große Beachtung geschenkt. Die Beschäftigung mit moralphilosophischen Fragen reicht für Kolnai indessen schon bis in die 1920er-Jahre zurück: In seiner Studienzeit in Wien wendet er sich im Anschluss an Husserl und Scheler erstmals der Phänomenologie zu und befasst sich dabei insbesondere mit wertethischen Fragen. Doch während Philosophen wie Max Scheler vornehmlich die Rolle positiver Gefühle in der moralischen Lebenswelt der Menschen untersuchen, interessiert sich Kolnai, von der Psychologie Sigmund Freuds geprägt, eher für die ›Schattenseite‹ des menschlichen Daseins. So widmet er sich in den zwischen 1929 und 1935 veröffentlichten Aufsätzen Der Ekel, Der Hochmut und Versuch über den Haß 6 einer in dieser Form beispiellosen phänomenologischen Analyse unserer aversiven Gefühle, in der er ihren kognitiven Gehalt, ihre wesentliche Struktur und ihre spezielle Bedeutung für das (zwischen-)menschliche Leben in allen Einzelheiten zu ergründen sucht. Anders als Scheler zielt er jedoch nicht darauf ab, ein umfassendes System der menschlichen Emotionen zu entwickeln. Vielmehr versteht er seine differenzierten Betrachtungen als einen ergänzenden Beitrag zu Schelers wertethischem Entwurf.

1.3 Die Arbeit Die folgende Untersuchung von Liebe und Hass basiert auf den einschlägigen phänomenologischen Studien Schelers und Kolnais. Sie nimmt ihren Ausgang mithin wie diese nicht in einer Sprachanalyse oder einer Beschreibung verschiedener Verhaltensweisen, psychologischer Prozesse oder kulturell geprägter Ausdrucksformen, sondern orientiert sich vor allem an der emotionalen Erfahrung selbst und versucht, in dieser Weise zu einer lebens- und erlebnisnahen Bestimmung von Liebe und Hass zu kommen. Eine Sammlung dieser Aufsätze konnte dank der Bemühungen von Axel Honneth mittlerweile wieder einem breiteren deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht werden: Aurel Kolnai (2007): Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, mit einem Nachw. von Axel Honneth, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007 (= EHH).

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Liebe und Hass

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Einleitung

Nach einer Einführung in die grundlegenden Positionen der aktuellen philosophischen Liebesdebatte widmet sich der erste Hauptteil der Arbeit (Kapitel 2) einer ausführlichen Analyse des Phänomens der Liebe im Anschluss an Max Scheler. Hierbei wird die Liebe primär als eine interpersonale Emotion betrachtet, das heißt als ein spezifisches emotionales Erlebnis einer Person, das auf eine andere Person bezogen ist. Die Grundlage für meine Untersuchung bilden Schelers Betrachtungen zur Liebe und zur Person, namentlich in seiner Schrift Wesen und Formen der Sympathie sowie in seinem wertethischen Hauptwerk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, ferner auch in seiner unvollendeten Schrift Ordo Amoris. Das Ziel ist es, die allgemeine Grundstruktur der Liebesemotion herauszuarbeiten, wobei verschiedene kulturelle, soziologische, psychologische und ähnliche Aspekte unberücksichtigt bleiben, die eher in Hinsicht etwa auf die Entstehung und Ausgestaltung einer konkreten zwischenmenschlichen Liebesbeziehung relevant sind als auf die Frage, wie sich das emotionale Erlebnis selbst fassen lässt. Neben einer genauen Rekonstruktion von Schelers Liebestheorie, wie sie sich in den genannten Werken darstellt, wird in diesem Kapitel detailliert aufgezeigt, wie sich aus Schelers Ansatz ein für die aktuelle Debatte interessantes Konzept der persönlichen Liebe gewinnen lässt. Der zweite Hauptteil (Kapitel 3) wendet sich dem Phänomen des Hasses zu, das hier als ein aversives, primär gegen eine Person gerichtetes emotionales Erlebnis aufgefasst wird. Meine an Aurel Kolnai anschließende Analyse dieser Emotion stützt sich in erster Linie auf dessen Schrift Versuch über den Haß. Für eine umfassendere Darstellung werden außerdem seine Doktorarbeit Der ethische Wert und die Wirklichkeit, seine Studie Der Ekel sowie sein deutlich später entstandener Aufsatz The Standard Modes of Aversion herangezogen. Das Ziel ist es wiederum, die wesentliche Struktur der Hassemotion aufzudecken, wobei von den möglicherweise daraus folgenden oder damit verbundenen Erscheinungen wie beispielsweise dem Kollektivhass, dem hate crime oder der Hassrede abgesehen wird, die von diversen soziokulturellen Faktoren abhängig sind. Aus den zahlreichen Beobachtungen und einzelnen Thesen, die sich in Kolnais Werken finden lassen, wird dabei ein allgemeiner Grundbegriff des Hasses formuliert, der dem zuvor entwickelten Liebeskonzept gegenübergestellt werden kann. Der Schlussteil (Kapitel 4) vergleicht in einer Zusammenschau die Phänomene der Liebe und des Hasses miteinander, wie sie sich 18

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Die Arbeit

mit und im Anschluss an Scheler und Kolnai verstehen lassen. Das Ziel ist es, zu einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses dieser beiden Emotionen zu gelangen. Hierzu werden die Ergebnisse aus den Untersuchungen in Kapitel 2 und 3 nochmals unter ausgewählten zentralen Aspekten rekapituliert, sodass Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Liebe und Hass deutlich herausgestellt werden können. In der abschließenden Betrachtung werden zudem die Fundierungsbeziehung von Liebe und Hass sowie die Frage nach einer möglichen Überwindung des Hasses eingehender beleuchtet.

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2 Phänomenologie der Liebe

Die folgende Darstellung befasst sich mit dem Phänomen der persönlichen Liebe, wie es sich mit Max Scheler beschreiben lässt. Nach einer Einführung in Schelers Theorie der Emotionen und insbesondere der sympathischen Emotionen wird ein umfassender Begriff der persönlichen Liebe erarbeitet, wobei seine einschlägigen Ausführungen sowohl zum Liebes- wie zum Personbegriff einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden. Bevor jedoch Schelers Liebestheorie selbst zur Sprache kommt, möchte ich zunächst einen kritischen Überblick über die derzeitige philosophische Liebesdebatte geben, um am Ende des Kapitels aufzeigen zu können, inwiefern ein im Anschluss an Scheler entwickelter Liebesbegriff eine attraktive Alternative zu aktuellen Konzepten darstellt.

2.1 Liebe in der gegenwärtigen philosophischen Debatte Die Liebe ist zweifellos eines derjenigen Themen der Philosophie, zu denen es so viele verschiedene Ansichten gibt wie Philosophen, die darüber nachdenken. Gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich eine recht lebhafte Debatte entwickelt, die ein breites Spektrum an Liebesbegriffen hervorgebracht hat. 7 Gleichwohl lassen sich bestimmte Elemente in den meisten Theorien in irgendeiner Ausprägung wiederfinden. So sind sich viele Philosophen etwa darüber einig, dass Liebende normalerweise einander wohlwollen und wertschätzen, aneinander Anteil nehmen und sich umeinander sorgen oder sich in irgendeiner Weise miteinander identifizieren und als eine Art GeEinen guten Überblick geben die Artikel von Neera K. Badhwar (2003): »Love«, in: The Oxford Handbook of Practical Ethics, hg. von Hugh LaFollette, Oxford: Oxford University Press 2003, S. 42–69, und Bennett Helm (2013): »Love«, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, Fall 2013 Edition, hg. von Edward N. Zalta, URL: http:// plato.stanford.edu/entries/love/.

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meinschaft verstehen. Die Meinungen gehen auseinander, wenn es darum geht, zu bestimmen, wie sich diese einzelnen Aspekte zueinander verhalten und inwiefern sie wesentlich zur Liebe gehören – also worin die Liebe nun primär besteht und welche Aspekte sich sekundär daraus ableiten. Im Folgenden soll eine grobe Skizze dieser verschiedenen Grundpositionen gegeben werden. Allgemein möchte ich sie in drei große Gruppen einteilen 8: zum einen in evaluative Theorien der Liebe 9, nach denen es in der Liebe primär um eine besondere Wertschätzung des Liebesobjekts geht, zum anderen in teleologische Theorien der Liebe 10, nach denen die Liebe primär als eine Art Streben verstanden wird, das auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet ist, und zwar einerseits auf das Wohl des Liebesobjekts, andererseits auf die Verschmelzung mit ihm, und zuletzt in interaktive Theorien der Liebe 11, nach denen Liebe primär in einer speziellen Wechselbeziehung zwischen Liebessubjekt und -objekt besteht. Diese Einteilung ist allerdings nicht als ausschließlich zu verstehen. Wie erwähnt, haben viele Theorien durchaus einige Elemente gemein, sodass es immer wieder Überschneidungen gibt – so behauptet zum Beispiel kaum ein Philosoph ernsthaft, dass uns in der Liebe nicht in irgendeiner Weise am Wohl des anderen liege. Mein Vorschlag orientiert sich lediglich am unterschiedlichen Fokus der Liebestheorien. Mit der folgenden Darstellung möchte ich außerdem keine detaillierte Analyse sämtlicher Einzelpositionen bieten. Stattdessen sollen einige ausgewählte Theorien in ihren Grundzügen wiedergegeben und einer kurzen Kritik unterzogen werden, in der ich zugleich die eine oder andere Schwäche der jeweiligen Liebesmodelle aufzuzeigen versuche. Insofern ich in der vorliegenden Arbeit das Phänomen der persönlichen Liebe untersuche, konzentriere ich mich bei der Darstellung gegenwärtiger Liebesmodelle auf die Liebe zur Person. Nicht alle der Meine Einteilung orientiert sich grob an der von Helm (2013) gegebenen Übersicht, wobei ich allerdings nur diejenigen Positionen berücksichtige, die meines Erachtens aktuell häufiger vertreten oder diskutiert werden. 9 Diese Klassifizierung übernehme ich von Helm (2013). 10 In dieser Gruppe versammle ich aufgrund ihres teleologischen Liebesbegriffs Konzepte, die Helm (2013) unter »Love as Union« und »Love as Robust Concern« abhandelt. 11 Darunter fasse ich Theorien, die bei Helm (2013) unter das Stichwort »Emotion Complex« fallen, da meines Erachtens die Liebe hier weniger als Emotion im Vordergrund steht denn als interaktive Beziehung; siehe genauer Kapitel 2.1.3. 8

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Phänomenologie der Liebe

folgend genannten Autoren konzipieren zwar eine spezifisch persönliche Liebe, doch erscheint die Person in jeder der vorgestellten Theorien zumindest als ein Hauptobjekt der Liebe, sodass sie stets auch eine Beschreibung der Liebe zur Person geben.

2.1.1 Evaluative Theorien der Liebe Wenn wir jemanden lieben, ist damit für gewöhnlich eine außerordentliche Wertschätzung des geliebten Objekts verbunden. Der Geliebte erscheint uns in irgendeiner Weise besonders wertvoll gegenüber anderen Menschen, die wir nicht lieben; er ist in unseren Augen irgendwie wichtiger als sie, hat eine größere Bedeutung als sie. Die Liebestheorien nun, die ich evaluativ nennen möchte, konzentrieren sich vor allem auf diesen Aspekt. Sie sehen im Wertschätzen nicht nur eines der Begleitphänomene, die normalerweise im Zuge der Liebe auftreten, sondern verstehen die Liebe gerade wesentlich als eine besondere Form der Wertschätzung. Im Folgenden werfen wir einen kurzen Blick auf ihre bekanntesten Vertreter, James David Velleman und Irving Singer, die zugleich aufgrund ihres Wertobjektivismus beziehungsweise -subjektivismus zwei sehr unterschiedliche Varianten evaluativer Liebestheorien vorgelegt haben. (a) Liebe als Würdigung (J. D. Velleman) Für Velleman ist die Liebe grundsätzlich eine Art Einstellung oder Haltung gegenüber einer Person, mit der wir auf einen bestimmten Wert reagieren, der dieser innewohnt. 12 Bei diesem Wert handelt es sich um denjenigen, den eine Person allein aufgrund ihres Personseins hat – das heißt um den Wert der Person selbst. In Anlehnung an Kant spricht Velleman der Person insofern besonderen Wert zu, als sie im Unterschied zu anderen Dingen kein Mittel, sondern Zweck an sich selbst ist 13, sodass ihr Wert im Gegensatz zu diesen »nicht in einem Preis, sondern in einer Würde besteht« 14. Ähnlich wie für Kant Vgl. J. David Velleman (1999): »Liebe als ein moralisches Gefühl«, in: Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen, hg. von Axel Honneth und Beate Rössler, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 79, 92 ff. 13 Vgl. Immanuel Kant (1785): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (= GMS), AA IV, S. 428; Velleman (1999), S. 91 ff. 14 Velleman (1999), S. 95. 12

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ist auch für Velleman das wesentliche Merkmal der Person ihre Vernunftfähigkeit, sodass Liebe im Grunde »eine Antwort auf den Wert der vernünftigen Natur einer Person ist« 15. Allerdings versteht er unter unserer ›vernünftigen Natur‹ überraschenderweise nicht unsere intellektuellen Fähigkeiten oder unsere praktische Vernunft, sondern vielmehr unsere allgemeine »Befähigung zur Würdigung oder Wertschätzung« 16. Somit sind wir also eine Person und tragen besonderen Wert als Person, sofern wir über die Fähigkeit zur Wertschätzung verfügen. In der Liebe würdigen wir mithin den Wert des anderen als einer ihrerseits zur Würdigung oder Wertschätzung fähigen Person. Dieser besondere Wert kommt nun zwar allen zu, sofern sie eine zur Wertschätzung fähige Person sind, doch die Würdigung des Werts der geliebten Person beinhaltet für Velleman trotzdem und gerade, diese Person als unersetzliches Individuum zu behandeln, das heißt sie nicht dem Vergleich mit anderen auszusetzen sowie es abzulehnen, sie in Bezug zu anderen Personen zu beurteilen und zu bewerten. 17 In dieser Weise wird, obwohl wir den Personwert selbst mit allen anderen Personen gleichermaßen teilen, unser Bedürfnis gestillt, als etwas Besonderes und Unvergleichliches geschätzt zu werden. Eine ebensolche Würdigung des Werts einer Person stellt nach Velleman übrigens die Achtung dar. Sowohl die Liebe als auch die Achtung sind für ihn Reaktionen auf die Würde einer Person, wobei er in Letzterer das stets erforderliche Reaktionsminimum sieht und in Ersterer das im Einzelfall mögliche Reaktionsmaximum. 18 Was die Liebe von der Achtung unterscheidet, ist ihre hemmende Wirkung in Bezug auf unseren Selbstschutz: Ich vermute, daß sie unsere Tendenz zum emotionalen Selbstschutz eindämmt, die Tendenz, uns vor anderen Personen auf uns selbst zurückzuziehen und uns davor zu verschließen, von der Person ergriffen zu werden. Die Liebe entwaffnet unsere emotionale Abwehr, sie macht uns für andere verwundbar. 19

Für Velleman besteht dieser Selbstschutz vor anderen Personen häufig in einer »künstlichen Blindheit« 20 ihnen gegenüber, die uns davor 15 16 17 18 19 20

Velleman (1999), S. 93. Velleman (1999), S. 93. Vgl. Velleman (1999), S. 95 ff. Vgl. Velleman (1999), S. 93. Velleman (1999), S. 86. Velleman (1999), S. 86.

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Phänomenologie der Liebe

bewahrt, von ihnen angerührt zu werden und uns von ihren Wünschen, Bedürfnissen und Gefühlen bewegen zu lassen. Indem Liebe diese Abwehr aufhebt, ermöglicht sie es, »daß wir die Person vielleicht zum ersten Mal wirklich anschauen und auf eine Weise reagieren, die zeigt, daß wir sie wirklich gesehen haben.« 21 Andere Reaktionen wie etwa Mitgefühl oder Wohlwollen gehören nach Velleman dagegen nicht zur Liebe selbst und sind auch nicht notwendigerweise mit ihr verbunden. Vielmehr werden sie durch die Liebe befördert, indem diese uns für die Bedürfnisse und Interessen des anderen sensibler werden lässt. 22 Velleman versteht die Liebe also, kurz gefasst, als eine Würdigung des Werts einer Person, die darin besteht, diese Person als einmaliges Individuum zu behandeln. Im Unterschied zur Achtung senkt die Liebe dabei unsere Abwehr gegenüber der anderen Person und macht uns empfänglicher für ihre Gefühle und Bedürfnisse. Drei Schwierigkeiten seines Liebesmodells möchte ich an dieser Stelle andeuten: Zum einen ist eine als Haltung oder Einstellung verstandene Liebe prinzipiell ein einseitiges Phänomen. Nach Velleman kann die Liebe zwar zu verschiedenen Interaktionen zwischen zwei Personen führen, zum Beispiel zu wohlwollenden oder fürsorglichen Handlungen, jedoch bedarf sie in keiner Weise der Erwiderung. Gegenseitige Liebe wäre dann lediglich eine Art Summe zweier Lieben. Mit Velleman bestünde so kaum ein essenzieller Unterschied zwischen dem Fall, eine Person A zu lieben und von ihr wiedergeliebt zu werden, und dem, eine Person A zu lieben und von Person B geliebt zu werden. Warum wir aber nur den ersten Fall für eine glückliche oder vollkommene Liebe halten, kann innerhalb seines Modells nicht wirklich plausibel gemacht werden. Zum anderen wird bei Velleman nicht gänzlich klar, worin die Liebe nun tatsächlich besteht und worin sie sich von der Achtung genau unterscheidet. Einerseits behauptet er, dass Liebe, anders als Achtung, die ›künstliche Blindheit‹ aufhebe, mit der wir uns vor anderen Personen schützen, und uns so ermögliche, eine andere Person wirklich zu sehen. An anderer Stelle setzt Velleman für die Liebe zu einer Person wiederum voraus, dass wir sie schon gesehen haben: »[…] bevor wir nicht wirklich eine Person in dem Menschen vor uns sehen, wird uns nichts zur Liebe moti-

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Velleman (1999), S. 86. Vgl. Velleman (1999), S. 86.

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vieren« 23. Damit allerdings befinden wir uns offensichtlich in einem Zirkel. Setzt die Liebe ein, nachdem wir die andere Person wirklich wahrgenommen haben, kann es nicht ihre Leistung sein, unsere Blindheit gegenüber anderen Personen aufzuheben. Ziehen wir dies aber von der Liebe ab, bliebe nicht viel Bemerkenswertes übrig, was sie von der Achtung abgrenzt. Jemanden zu lieben hieße dann nichts weiter als ihm gegenüber verletzlich zu sein, was für die meisten Menschen sicherlich eine Erfahrung ist, die sie in der Liebe machen, jedoch kaum die wesentliche oder gar einzige. Nun könnten wir zwar sagen, dass sich Liebe und Achtung dadurch unterscheiden, dass sie, wie Velleman durchaus andeutet 24, sich schlicht auf verschiedene Objekte richten – Erstere nämlich auf die konkrete, empirisch wahrnehmbare Person eines anderen und Letztere auf seine rein intellektuell erfasste Personalität. Allerdings wäre in dem Fall nicht ohne Weiteres ersichtlich, inwiefern Liebe und Achtung Würdigungen ein und desselben Werts darstellen, wie er behauptet. Nicht zuletzt ist Vellemans Versuch, unser Bedürfnis, als einmalig und besonders geschätzt zu werden, zu stillen, nicht völlig befriedigend. Der Wert, der in der Liebe sowie in der Achtung gewürdigt wird, kommt laut Velleman allen Personen gleichermaßen zu. Das heißt aber, er ist kein Wert, den wir als unersetzliches Individuum besitzen, sondern er verleiht uns nur, wie allen anderen auch, den Anspruch, als ein solches behandelt zu werden. Das führt Velleman am Ende zu der meines Erachtens kontraintuitiven Schlussfolgerung, dass die geliebte Ehefrau eines Mannes in dessen Augen keinen besonderen Wert besitzt, der etwa begründen würde, dass er sie und nicht einen anderen vor dem Ertrinken rettet. 25

Velleman (1999), S. 100. Vgl. Velleman (1999), S. 100 f. 25 Vgl. Velleman (1999), S. 103 f. Er bezieht sich hier auf ein oft zitiertes Beispiel von Bernard Williams, in dem ein Mann sich entscheidet, von mehreren ertrinkenden Personen seine eigene Frau zu retten; vgl. Bernard Williams (1976): »Personen, Charakter und Moralität«, in: ders.: Moralischer Zufall. Philosophische Aufsätze 1973– 1980, Königstein, Ts.: Hain 1984, S. 11–29. Natürlich hat der Ehemann auch nach Velleman gute Gründe, eher seine Frau als einen Fremden zu retten, diese erhält er allerdings nicht durch die Liebe zu ihr, sondern durch die gemeinsame Beziehung und seine emotionale Bindung an seine Frau. Eine andere Lösung schlage ich in Kapitel 2.6.1 (c) vor. 23 24

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(b) Liebe als Wertverleihung (I. Singer) Nach Singer besteht die Liebe dagegen nicht in der Reaktion auf einen objektiven Wert des Liebesobjekts, sondern darin, ihm aktiv einen besonderen, unvergleichlichen Wert zu verleihen (bestowal). 26 In der bloßen Wertschätzung eines Objekts (appraisal) beziehen wir uns für Singer immer auf seine Fähigkeiten, verschiedene unserer Bedürfnisse zu erfüllen. 27 Auch andere Menschen wertschätzen wir so nur in Hinsicht auf unsere eigenen Interessen, die sie mehr oder weniger gut bedienen: »At the level of mere appraisal, we are all commodities for each other. And we do experience people at every moment of our lives in terms of some appraisive value we care about.« 28 Indem wir etwas oder jemanden lieben, schaffen wir jedoch einen völlig neuen Wert am Objekt, den es nun zusätzlich, über die geschätzten Werte hinaus besitzt. Dieser neue Wert ist in keiner Weise auf etwaige bereits geschätzte Werte zurückführbar, sondern wird frei verliehen und erwächst allein aus der liebenden Beziehung zum Objekt. So erhält das geliebte Objekt eine besondere Bedeutung für das Subjekt, die gänzlich unabhängig davon ist, inwiefern es dessen Bedürfnisse befriedigt. 29 Damit die Liebe keine reine Illusion ist, setzt eine liebende Wertverleihung für Singer allerdings die Wertschätzung des Objekts notwendig voraus. Die von uns geschätzten Werte eines Objekts zeigen zwar nur an, inwiefern es unseren Interessen entspricht, jedoch reflektieren sie dadurch auch einige seiner Eigenschaften. Nach Singer sind geschätzte Werte insofern, im Unterschied zum verliehenen Wert, prinzipiell empirisch überprüfbar, sodass unsere Wertschätzung im Gegensatz zur Wertverleihung grundsätzlich verifizierbar ist. 30 Wollen wir das Objekt also nicht verfehlen, sondern als das lieben, was es tatsächlich ist, muss unsere Wertverleihung mit einer Wertschätzung des Objekts einhergehen: »In love we attend to the beloved, in the sense that we respond to what she is. For the effort to succeed, it must be accompanied by jus-

Vgl. Irving Singer (1966): The Nature of Love, Bd. 1: Plato to Luther, Neuauflage, Cambridge, Mass./London: MIT Press 2009, S. 5. 27 Vgl. Singer (1966), S. 3 f. 28 Irving Singer (2009): Philosophy of Love. A Partial Summing-Up, Cambridge/ London: MIT Press 2009, S. 52 f. 29 Vgl. Singer (1966), S. 5 f. 30 Vgl. Singer (1966), S. 3 f. 26

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tifiable appraisals […].« 31 Im Fall der Liebe zu einer Person besteht die Wertverleihung laut Singer nun vor allem darin, dass wir emotional auf sie reagieren und Anteil an ihren Gefühlen, Bedürfnissen und Interessen nehmen – etwa indem wir uns um sie sorgen, mit ihr mitfühlen oder im Sinne ihres Wohles handeln. 32 In dieser Weise behandeln wir die geliebte Person als ›jemand‹ im Unterschied zu ›etwas‹, das heißt als wertvoll an sich selbst und nicht nur als wertvoll für uns. Dieser Wert der Person selbst ist, anders als bei Velleman, hier jedoch kein objektiver Wert, den die andere Person an sich besitzt, sondern er wird ihr vom Liebenden verliehen. Sie erhält diesen Wert an sich selbst mithin erst und ausschließlich durch dessen Liebe: »Whatever her personality, he gives it a value it would not have apart from his loving attitude. In relation to the lover, the beloved has become valuable for her own sake.« 33 Wie für Velleman beinhaltet demnach auch für Singer die Liebe, dass wir das geliebte Objekt als wertvoll in sich selbst betrachten, mit anderen Worten: als Selbstzweck und nicht als Mittel – das heißt im Fall der Liebe zu einem anderen Menschen als Person, als ›jemand‹. Doch während wir nach Velleman andere Menschen außer durch Liebe auch durch Achtung als Person wertschätzen, behandeln wir Singer zufolge nur diejenigen, die wir lieben, als ›jemand‹, alle anderen hingegen als ›etwas‹. Das allerdings ist meines Erachtens ebenso unplausibel wie es unserem Selbstverständnis widerspricht, einzig dann als Person selbst wertvoll zu sein, wenn wir geliebt werden. In diesem Punkt trifft, denke ich, Velleman eher unsere Intuition, wenn er den Wert der Person selbst als einen objektiven Wert ansieht, der allen Menschen zukommt, ungeachtet der jeweiligen Einstellungen, die andere zu ihnen haben mögen. Ein zweiter Kritikpunkt betrifft das Verhältnis von Wertschätzung und Wertverleihung in Singers Modell. Zum einen behauptet Singer, dass wir uns in der Liebe dem Geliebten, indem wir ihm Wert an sich selbst verleihen, als die Person zuwenden, die er ist. Zugleich muss diese Wertverleihung aber einhergehen mit oder hervorgehen aus einer Wertschätzung des anderen. Diese Wertschätzung wiederum erfasst den anderen jedoch allein in Hinsicht darauf, inwiefern er unsere Bedürfnisse erfüllen kann. Wie eine so verstandene Wertschätzung dazu führen kann, dass wir 31 32 33

Singer (1966), S. 9. Vgl. Singer (1966), S. 7 f. Singer (1966), S. 6.

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den anderen als denjenigen sehen, der er wirklich ist – über etwaige Eigenschaften, die gerade unsere Interessen ansprechen, hinaus – ist meines Erachtens nicht ganz ersichtlich. Um dem Einwand vorzubeugen, dass wir gemäß Singer andere vielleicht nur lieben, weil sie bestimmte Bedürfnisse erfüllen, beschreibt er die wertverleihende Liebe letztlich sogar als einen imaginativen Akt, in dem wir vom Wert des anderen, den er in Bezug auf unsere eigenen Interessen besitzt, völlig absehen: To the extent that a man is a lover […] he accords his beloved the courtesy of being treated affirmatively regardless of what he knows about her. In refusing to let his appraisive knowledge deflect his amorous conduct, he bestows a tribute which can only be understood as an imaginative act. 34

Damit macht Singer die Sache allerdings keineswegs klarer, im Gegenteil: Generell ist sicherlich nichts gegen die Ansicht einzuwenden, dass wir in der Liebe davon absehen, inwiefern uns der andere nützt. Doch wird dann wiederum unverständlich, welche Rolle die Wertschätzung überhaupt spielt, die Singer als notwendige Bedingung oder Ergänzung der Liebe darstellt. Soll die Wertschätzung gewährleisten, dass wir den anderen lieben, wie er wirklich ist, scheint das Absehen von der Wertschätzung geradewegs darauf hinauszulaufen, dass wir in der Liebe eine Fiktion des anderen erschaffen. Tatsächlich spricht Singer an anderer Stelle davon, dass der Liebende die Person des Geliebten gewissermaßen neu kreiere wie ein Maler die Landschaft, die sein Bild inspiriert. 35 Dies widerspricht nun aber offensichtlich der meines Erachtens häufig anzutreffenden Erwartung, von jenen, die uns lieben, so gesehen zu werden, wie wir tatsächlich sind, und nicht als ein Fantasiebild, das uns womöglich kaum gerecht wird. Singer betont zwar: »The lover uses his imagination to appreciate the beloved as she is, to accept her in herself […]« 36. Doch kann er dieser Erwartung mit seinem Modell nicht ganz Genüge tun. Mein letzter Kritikpunkt betrifft schließlich ein Problem, das Singers Liebestheorie mit jener Vellemans teilt: das Problem der Einseitigkeit. Auch bei Singer ist die Erwiderung beziehungsweise die Wechselseitigkeit nicht im Liebesbegriff selbst angelegt. Sie sei zwar »a desired

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Singer (1966), S. 18. Vgl. Singer (1966), S. 15 f. Singer (1966), S. 20.

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outcome of love« 37, und er deutet immerhin die Idee an, dass durch wechselseitige imaginative Liebe etwas Neues entstehe, eine Art interaktive Einheit der Liebenden 38; allerdings ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, inwiefern eine gegenseitige Wertverleihung dazu führen sollte.

2.1.2 Teleologische Theorien der Liebe Ein Aspekt, der ebenfalls häufig mit der Liebe in Verbindung gebracht wird, ist der des Wohlwollens. Für gewöhnlich wollen Liebende, dass es dem Geliebten gut geht, und bemühen sich, ihm wohlzutun oder ihn nicht zu verletzen. Oft wird zur Liebe aber auch der Wunsch gezählt, dem Geliebten in vielerlei Weise nahe zu sein und sich eng mit ihm zu verbinden oder gewissermaßen mit ihm zu verschmelzen. Liebende wollen meist in irgendeiner Form ihr Leben miteinander teilen, ihre Gedanken austauschen, miteinander mitfühlen, sich einander hingeben und Ähnliches. Mit der Zeit identifizieren sich Liebende so immer mehr miteinander und verstehen sich nicht mehr nur als für sich selbst bestehende Individuen, sondern zugleich als Teile einer größeren Einheit, einer Gemeinschaft, was zum Beispiel in der Eheschließung oder gemeinsamen Kindern konkreten Ausdruck finden kann. Liebestheorien, die ich teleologisch nennen möchte, beschreiben die Liebe primär als ein solches Streben nach dem Wohl des anderen oder nach der Vereinigung beziehungsweise Verschmelzung mit ihm. Die Auffassung, dass die Liebe in dieser Weise auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist, ist jedoch nicht das Einzige, was Wohlwollenstheorien und Verschmelzungstheorien miteinander verbindet. Wie wir sehen werden, impliziert nämlich zumindest das liebende Wohlwollen eine gewisse Identifizierung mit dem Geliebten. Im Folgenden schauen wir uns Harry Frankfurts Theorie der Liebe als Wohlwollen oder Sorge sowie die Beiträge von Roger Scruton, Robert Nozick, Robert C. Solomon und Neil Delaney zu einer Theorie der Liebe als Verschmelzung an.

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Singer (1966), S. 6. Vgl. Singer (1966), S. 22.

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(a) Liebe als Wohlwollen (H. Frankfurt) Frankfurt begreift die Liebe vor allem als die uneigennützige »Sorge um das Wohlergehen und Gedeihen eines geliebten Objekts« 39. Damit ist sie für Frankfurt allerdings keinerlei Gefühl oder Werturteil oder Ähnliches, sondern eher eine Art Willensbestimmung 40: Vielmehr ist die Liebe wesentlich eine irgendwie unfreiwillige und komplexe willentliche Struktur, die sowohl beeinflußt, wie eine Person zu handeln disponiert ist, als auch, wie sie mit ihren Motiven und Interessen umgeht. 41

Da wir uns nicht aktiv entscheiden können, ob oder wen wir lieben, und die Liebe ihrerseits unseren Willen bindet, indem sie unsere Handlungsinteressen auf das Wohl des von uns Geliebten ausrichtet, geht Liebe laut Frankfurt stets mit einer gewissen Nötigung einher. 42 Wir können nicht anders, als die Person zu lieben, die wir lieben, und diese Person zu lieben heißt wiederum, dass wir nicht anders können, als uns um ihr Wohlergehen zu sorgen und uns im Sinne dessen zu verhalten. Dennoch bedeutet die Liebe für Frankfurt keinen Zwang, denn: »the constraint operates from within our own will itself. It is by our own will, and not by any external or alien force, that we are constrained« 43. Liebe kann insofern als eine freiwillige Selbstnötigung verstanden werden, das Wohl des anderen zu befördern. Dabei sorgen wir uns jedoch nicht nur um das Wohl des anderen als irgendeines anderen, sondern der Geliebte ist uns derart wichtig, dass wir seine Interessen zu unseren eigenen Interessen machen und uns so mit ihm identifizieren. 44 In dieser Weise prägt die Liebe unmittelbar immer auch die persönliche Identität des Liebenden und bindet sein Schicksal an das des Geliebten: »The lover is invested in his beloved: he profits by its successes, and its failures cause him to suffer.« 45 ObHarry Frankfurt (1999): »Vom Sorgen oder: Woran uns liegt«, in ders.: Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, hg. v. Monika Betzler und Barbara Guckes, Berlin: Akademie Verlag 2001, S. 213. 40 Vgl. Harry Frankfurt (1994): »Autonomie, Nötigung und Liebe«, in ders.: Freiheit und Selbstbestimmung. Ausgewählte Texte, hg. v. Monika Betzler und Barbara Guckes, Berlin: Akademie Verlag 2001, S. 166 f. 41 Frankfurt (1999), S. 213. 42 Vgl. Frankfurt (1994), S. 174 ff. 43 Harry Frankfurt (2004): The Reasons of Love, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2004, S. 46. 44 Vgl. Frankfurt (1999), S. 217; Frankfurt (2004), S. 61 f. 45 Frankfurt (2004), S. 61. 39

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wohl wir in der Liebe aber dem Geliebten so eng verbunden sind, dass wir das Gefühl haben, so handeln zu müssen, dass wir ihm wohltun oder zumindest nicht schaden, ist sie nach Frankfurt keine moralische Emotion, also keine Emotion, die mit bestimmten moralischen Verpflichtungen dem anderen gegenüber einherginge. Der besondere Wert der Liebe besteht für ihn vielmehr darin, dass sie uns Handlungsgründe gibt und dadurch Sinn und Bedeutung in unser Leben bringt: Ähnlich wie nach Singer verleihen wir auch nach Frankfurt dem Geliebten Wert an sich selbst, indem wir ihn lieben. 46 Insofern wir uns um seiner selbst willen um den Geliebten sorgen, betrachten wir ihn und sein Wohlergehen als Zweck an sich. 47 In dieser Weise gibt uns die Liebe Orientierung in unserem Handeln, weshalb sie Frankfurt letztlich als die Basis praktischer Rationalität überhaupt gilt: »Insofar as love is the creator both of inherent or terminal value and of importance, then, it is the ultimate ground of practical rationality.« 48 Ein naheliegender Einwand, der gegen Frankfurts Theorie vorgebracht werden kann, bezieht sich auf seine These der Uneigennützigkeit der Liebe, die er innerhalb seines Modells nicht ganz plausibel machen kann. Indem wir uns nämlich nach Frankfurt die Interessen des Geliebten aneignen und unser Wohl und Wehe an das seinige binden, sorgen wir uns mit dem Wohlergehen des anderen letztlich immer auch um unser eigenes, sodass die Liebe kaum im vollen Sinne uneigennützig genannt werden kann. Verschmelzungstheoretiker gehen daher, wie noch zu sehen ist, konsequenterweise nicht von der Uneigennützigkeit der Liebe aus. Dieser These widerspricht ebenfalls die besondere Bedeutung, die Frankfurt der Liebe selbst als Basis praktischer Rationalität zumisst. Wenn die Liebe die Funktion hat, unserem Leben und Handeln Sinn und Orientierung zu verleihen, indem sie Dinge oder Menschen wertvoll in sich selbst macht und uns damit Zwecke an sich gibt, ist das Liebesobjekt tatsächlich nicht nur ein Selbstzweck, sondern zugleich ein Mittel zur Sinnerfüllung des eigenen Lebens. Zwar teile ich durchaus mit Frankfurt – wie mit Velleman und Singer – die Auffassung, dass Liebe insofern uneigennützig ist, als sie dem geliebten Objekt als Selbstzweck gilt, doch kann er sie meines Erachtens mit seinem Konzept nicht überzeugend ver46 47 48

Vgl. Frankfurt (2004), S. 39 f. Vgl. Frankfurt (2004), S. 42. Frankfurt (2004), S. 56.

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treten. Ein weiterer Einwand richtet sich gegen ebendiese wertverleihende Funktion der Liebe. Frankfurt betrachtet die Liebe nicht nur als eine mögliche Art der Wertverleihung neben anderen, sondern er betont: »Love is the originating source of terminal value. If we loved nothing, then nothing would possess for us any definitive and inherent worth.« 49 So weit verstanden, bedeutet zu lieben allerdings nicht viel anderes, als etwas für wichtig an sich zu halten. Damit wird die Liebe bei Frankfurt zu einem derart unspezifischen Phänomen allgemeiner Sinnstiftung, dass kaum erkennbar wird, was die Liebe zwischen zwei Personen auszeichnet oder inwiefern es überhaupt einen Unterschied zwischen der Liebe zu einer Person und der Liebe zu irgendeinem anderen Objekt gibt. 50 An dieser Stelle können wir gleich einen dritten und bereits bekannten Kritikpunkt anschließen: Wie schon Velleman und Singer konzipiert Frankfurt die Liebe grundsätzlich als ein einseitiges Phänomen. Damit sich der Liebende um das Objekt sorgen kann, ist dessen Mitwirkung im Prinzip nicht nötig und bei unbelebten oder abstrakten Gegenständen überdies nicht wirklich vorstellbar. Auch bei Frankfurt wäre also eine wechselseitige Liebe nur ein mehr oder weniger zufälliges Aufeinandertreffen zweier einzelner Lieben und nicht der glückliche Idealfall, den wir uns doch für gewöhnlich erhoffen. (b) Liebe als Verschmelzungswunsch (R. Scruton, R. Nozick, R. C. Solomon, N. Delaney) Der Gedanke, dass wir uns in der Liebe mit dem Geliebten identifizieren und danach streben, mit ihm eine Art Einheit zu bilden, ist zentral für die Verschmelzungstheorien der Liebe. Wie für Frankfurt kommt es für Roger Scruton in der Liebe zu einer Identifizierung des Liebenden mit den Interessen des Geliebten. 51 Insofern er in seiner Beschreibung der Liebe allerdings von dem Phänomen des sexuellen Begehrens und der sexuellen Vereinigung ausgeht, beinhaltet die Liebe nach Scruton in erster Linie den Wunsch nach Nähe und Gemeinschaft mit dem Geliebten. Wesentliche Merkmale der Liebe sind für ihn demnach: »the desire to ›be with‹ the other, taking comfort Frankfurt (2004), S. 55. Für weitere Kritik siehe den Abschnitt zu Singer, Kapitel 2.1.1 (b). 51 Vgl. Roger Scruton (1986): Sexual Desire. A Philosophical Investigation, London: Weidenfeld and Nicolson 1986, S. 230 f. 49 50

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from his bodily presence, and the ›community of interests‹ that erodes the distinction between my interests and his« 52. Zwar zählt auch Scruton das Streben nach dem Wohl des Geliebten mit zur Liebe, jedoch ist dieses Streben dem primären Wunsch untergeordnet, mit dem Geliebten zusammen zu sein, sodass der Liebende durchaus gegen dessen Wohl handeln kann, sollte dieses das Zusammensein gefährden: »My desire for your good is limited by my desire to be with you, and to be received by you as an object of an equal love.« 53 Der Wunsch, mit dem Geliebten zusammen zu sein, impliziert also ferner auch den Wunsch, dass der Geliebte die Liebe erwidere und folglich ebenfalls nach dem Zusammensein strebe. Der Wunsch nach Gemeinschaft und die Identifizierung der Liebenden miteinander führt nach Scruton im Laufe der Liebe schließlich zu einer wechselseitigen Identitätsbildung. 54 Da beide Partner füreinander liebenswert sein beziehungsweise bleiben wollen, versuchen sie Scruton zufolge fortgesetzt, einander gerecht zu sein oder zu werden, bis sie sich selbst letztlich nur noch mit dem und durch den anderen verstehen und so in völliger Abhängigkeit voneinander leben: »Everything that he [the lover; d. A.] is and wants has come to depend upon another’s cooperation. With that cooperation he has everything; without it nothing.« 55 Robert Nozick macht wie Frankfurt die Beobachtung, dass das Wohl und Wehe eines Liebenden typischerweise mit demjenigen des Geliebten verknüpft ist beziehungsweise er dieses als zu seinem eigenen gehörig betrachtet. 56 In dieser Verflechtung des Wohlergehens sieht Nozick eine unmittelbare Folge der Liebe, die für ihn in dem Wunsch besteht, mit dem Geliebten eine Einheit, ein »Wir« zu bilden. 57 In dem Streben danach, ein solches »Wir« zu bilden, vergemeinschaften Liebende nach Nozick jedoch nicht nur ihr Wohl, sondern ebenso in gewissem Maß ihre Autonomie, insofern sie als Teil eines »Wir« einige Entscheidungen nicht mehr allein treffen können, oder auch verschiedene Tätigkeiten, die beide gleichermaßen fürScruton (1986), S. 231. Scruton (1986), S. 239. 54 Vgl. Scruton (1986), S. 241 f. 55 Scruton (1986), S. 242. 56 Vgl. Robert Nozick (1989): »Love’s Bond«, in: The Philosophy of (Erotic) Love, hg. von Robert C. Solomon und Kathleen M. Higgins, Lawrence: University Press of Kansas 1991, S. 417. 57 Vgl. Nozick (1989), S. 418. 52 53

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einander verrichten können. 58 Als Teil einer solchen Wir-Gemeinschaft erhalten Liebende, so Nozick, eine neue, zusätzliche Wir-Identität, durch die sich ihre bisherige individuelle Identität verändert beziehungsweise erweitert. 59 Dieses »Wir« wiederum versteht er als eine Art Verschmelzung beider Liebespartner: »[…] we might diagram the we as two figures with the boundary line between them erased where they come together.« 60 Da nun der Geliebte als Teil dieses verschmolzenen »Wir« zu einem Teil der Identität des Liebenden selbst geworden ist, ist er für ihn zwangsläufig unersetzlich, solange ihm am Erhalt der eigenen Identität gelegen ist: »A willingness to trade up, to destroy the very we you largely identify with, would then be a willingness to destroy your self in the form of your own extended self.« 61 Ähnlich wie Scruton beschreibt Nozick die Liebe schließlich als prinzipiell wechselseitiges Phänomen, insofern der Wunsch des Liebenden, mit dem Geliebten ein exklusives »Wir« zu bilden, den Wunsch einschließt, dass der Geliebte seinerseits den Wunsch habe, Teil dieses »Wir« zu sein. 62 Im Anschluss an Scruton und Nozick versteht auch Neil Delaney die Liebe primär als den Wunsch nach psychischer und physischer Vereinigung mit dem Geliebten und das Streben nach einer Identifizierung mit ihm und seinen Interessen, worin wiederum der weitere Wunsch nach Erwiderung desselben enthalten ist. 63 Mehr als diese beiden Autoren wendet er sich allerdings der Frage nach den Gründen der Liebe zu. Nach Delaney wird der Geliebte stets wegen etwas geliebt, wobei es sich um wesentliche Eigenschaften des Geliebten handeln soll: »Eine Person möchte für Eigenschaften geliebt werden, die sie für ihr Selbstverständnis für zentral hält.« 64 Wie die Hervorhebung verrät, geht es Delaney an dieser Stelle jedoch weniger darum, dass wir um unserer selbst willen geliebt werden wollen. Vielmehr will er darauf hinaus, dass das Selbstbild und das Fremdbild zweier Liebender mehr oder weniger übereinstimmen sollten, damit Vgl. Nozick (1989), S. 419 f. Vgl. Nozick (1989), S. 419. 60 Nozick (1989), S. 420. 61 Nozick (1989), S. 424. 62 Vgl. Nozick (1989), S. 428. 63 Vgl. Neil Delaney (1996): »Romantische Liebe und Verpflichtung aus Liebe«, in: Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen, hg. von Axel Honneth und Beate Rössler, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 108 f. 64 Delaney (1996), S. 117. 58 59

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die Liebesgemeinschaft die Möglichkeit »zu gegenseitiger Ermutigung und Unterstützung bei den gemeinsamen Vorhaben der Charakterbildung und Selbstdefinition« 65 bieten kann. Für Delaney dient die Liebe zu einer anderen Person nämlich nicht zuletzt dazu, sich selbst zu vergewissern, die eigene Selbstachtung zu stabilisieren oder zu erhöhen und sich möglicherweise zu verbessern. 66 Obwohl eine Person nun zwar wegen Eigenschaften geliebt wird, die prinzipiell auch andere Personen aufweisen können, ist sie nicht ohne Weiteres ersetzbar für den Liebenden: Nach Delaney gehören zu den für das eigene Selbstverständnis relevanten Eigenschaften ebenso verschiedene »lebensgeschichtlich-beziehungsbezogene Eigenschaften« 67, die jedes Liebesobjekt einzigartig machen. Diese Eigenschaften besitzt der Geliebte nicht einfach als derjenige, der er ist, sondern er erhält sie erst in der gemeinsamen Beziehungsgeschichte und durch sie – wie etwa die Eigenschaft, »derjenige gewesen zu sein, der Ihnen auf dem Champs-Élysées einen Antrag machte« 68. In eine ähnliche Richtung argumentiert Robert C. Solomon, wenn er, in Anspielung auf den in Platons Symposion von Aristophanes vorgetragenen Kugelmenschenmythos, von ›aristophanischen Gründen‹ der Liebe spricht. 69 Im Unterschied zu Delaney meint er damit allerdings nicht nur Eigenschaften, die der Geliebte aufgrund der gemeinsamen Geschichte erhält. Vor allem beziehen sich ›aristophanische Gründe‹ darauf, inwiefern zwei Personen zueinander ›passen‹. Für Solomon ist die Liebe im Wesentlichen ein Streben nach einer gemeinsamen Identität (shared identity) 70 und insofern mehr als ein sich mit der Zeit entwickelnder interaktiver Prozess zu verstehen denn als ein besonderes Gefühl 71: »Love is about a relation-

Delaney (1996), S. 119. Vgl. Delaney (1996), S. 117 ff., 128 f. 67 Delaney (1996), S. 125. 68 Delaney (1996), S. 125. 69 Robert C. Solomon (2004): In Defense of Sentimentality, Oxford: Oxford University Press 2004, S. 208 ff. 70 Vgl. unter anderem Solomon (2004), S. 211 ff.; ders. (1994): About Love, Reinventing Romance for Our Times, Lanham: Rowman & Littlefield 1994, S. 196; ders. (1988): »The Virtue of (Erotic) Love«, in: The Philosophy of (Erotic) Love, hg. von Robert C. Solomon und Kathleen M. Higgins, Lawrence: University Press of Kansas 1991, S. 511. 71 Vgl. Solomon (2004), S. 193, 210 f.; ders. (2007): True To Our Feelings, What Our Emotions Are Really Telling Us, Oxford: Oxford University Press 2007, S. 54. 65 66

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ship.« 72 Die Eigenschaften, derentwegen wir eine bestimmte Person lieben, sind deshalb nicht so sehr Eigenschaften, die sie als einzelnes Individuum für sich charakterisieren, sondern betreffen eher die Rolle, die diese Person in der Beziehung, in der Herausbildung einer gemeinsamen Identität einnimmt 73: »[…] what makes a good reason for love as such is not any feature or characteristic of the other person. The question is rather how a trait or property fits into the relationship.« 74 Da wir nach Solomon als grundsätzlich soziale Wesen unsere Identität großenteils in und durch Beziehungen zu anderen gewinnen, suchen wir in der Liebe aber immer auch nach unserer eigenen, individuellen Identität. 75 Das Streben nach einer gemeinsamen Identität wird so stets zugleich zu einem »dialectical process of (mutual) reconceived selfhood« 76. Noch deutlicher als die zuvor genannten Autoren betont Solomon damit die Wechselseitigkeit der Liebe, wobei er Liebe als einseitiges Phänomen sogar explizit ausschließt: »Love, in other words, is necessarily reciprocal. […] Love may begin as desire but it is love only when it demands return.« 77 Ein erster und vielleicht der wichtigste Kritikpunkt, der gegen die Verschmelzungstheorien der Liebe insgesamt vorgebracht werden kann, ist der, dass sie häufig nicht klar zwischen der Liebe als Emotion und der gelebten Liebesbeziehung, die zwischen zwei Menschen bestehen kann, und damit verbundenen Phänomenen zu unterscheiden scheinen oder dass sie allenfalls eine Seite der Medaille für die ganze halten. Dieser Einwand lässt sich insbesondere gegen Solomon geltend machen, der die Liebe ausdrücklich als eine Beziehung versteht und so eine einseitige Liebe für unmöglich erklärt. Nun mag die unerwiderte Liebe zwar kein glückliches Phänomen sein, doch vermutlich jeder hat sie schon einmal erlebt, nicht selten sogar in ›Liebesbeziehungen‹, und wäre wohl kaum bereit, zu behaupten, er hätte gar nicht geliebt, nur weil er nicht zurückgeliebt wurde. Ein adäquater Liebesbegriff sollte insofern meines Erachtens sowohl die einseitige als auch die gegenseitige Liebe sinnvoll beschreiben können. Ein zweiter Kritikpunkt, den ich ansprechen möchte, betrifft den Status Solomon (2007), S. 54. Vgl. Solomon (2004), S. 209. 74 Solomon (2004), S. 212. 75 Vgl. Solomon (2007), S. 60 ff., Solomon (2004), S. 212; Solomon (1988), S. 512; Solomon (1994), S. 197. 76 Solomon (1988), S. 514. 77 Solomon (1994), S. 41. 72 73

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des Liebesobjekts. Wird die Liebe wie bei Solomon und Delaney als Streben nach einer Gemeinschaft verstanden, die den Zweck hat, die eigene Identität zu entwickeln oder sich seiner selbst zu vergewissern, wird der Geliebte zwangsläufig in gewissem Maß zum Mittel der eigenen Selbstverständigung. Für Verschmelzungstheoretiker ist die Liebe mithin in der Regel nicht uneigennützig. Damit bieten sie jedoch ein Modell an, das grundsätzlich inkompatibel ist mit der, wie wir sahen 78, ebenfalls oft vertretenen Auffassung, dass wir um unserer selbst willen geliebt werden wollen und gerade nicht wegen bestimmter Eigenschaften, durch die wir irgendeinen Zweck erfüllen – sei es, den anderen zu erfreuen oder ein geeigneter Beziehungspartner zu sein. Zumindest die Erwartung oder Hoffnung, dass wir in dieser Weise uneigennützig geliebt werden, erkennt im Übrigen selbst Solomon an, wenn er seinen Aufsatz Reasons for Love mit dem Hinweis beschließt, dass wir, wenngleich wir unsere Gründe dafür hätten, jemanden zu lieben, ihn nicht unbedingt darüber aufklären müssten – insofern die Liebe doch eine Emotion sei, »whose charm consists at least in part in the illusion that it cannot be explained by reasons« 79. Solomons und Delaneys Versuch, konkrete Gründe für die Liebe anzugeben, lässt sich noch in einer weiteren Hinsicht kritisieren, denn bei genauerer Betrachtung erweist sich ihre Argumentation als zirkulär: Beide schlagen (in unterschiedlichem Sinn) als Gründe der Liebe beziehungsbezogene Eigenschaften des Geliebten vor. Da sie aber die Liebe durchaus auch als ebendiese Beziehung verstehen, ergeben sich die Gründe der Liebe mithin wiederum aus dieser Liebe selbst.

2.1.3 Interaktive Theorien der Liebe Indem sie die Liebe als eine interpersonale Beziehung analysieren, stehen interaktive Liebestheorien den Verschmelzungstheorien recht nahe. Anders als diese verstehen interaktive Theorien die Liebe allerdings nicht als ein Streben danach, mit dem Geliebten eine WirGemeinschaft oder eine gemeinsame Identität zu bilden, sondern legen ihren Fokus auf den interaktiven Prozess, der sich zwischen Siehe die vorangegangenen Abschnitte zu Velleman, Singer und Frankfurt, Kapitel 2.1.1 & 2.1.2 (a). 79 Solomon (2004), S. 218. 78

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den Liebenden entwickelt, und dessen Auswirkungen auf die individuelle Identität der Beziehungspartner. Ein Einblick in diese Theorien soll im Folgenden anhand der Konzepte von Amélie O. Rorty, Annette Baier und Angelika Krebs gegeben werden. Für Amélie O. Rorty gehört die Liebe zu den psychischen Haltungen, die sich durch Historizität auszeichnen – das heißt, sie ist eine besondere Haltung zum Geliebten, die aus der gemeinsamen historischen Beziehung entsteht und durch die Eigenart der beiden Partner sowie ihre verschiedenen Interaktionen geprägt wird. 80 Die Liebe ist insofern nicht vornehmlich durch spezifische Gefühle gekennzeichnet, sondern eher durch ihren narrativen Verlauf, ihre Geschichte. 81 Als interaktive, historische Haltung wandelt sich die Liebe mit der Zeit und passt sich gewissermaßen an die Veränderungen der Liebenden an. Aber auch die Liebenden verändern sich durch einander und ihre Beziehung, sodass sie ebenso von ihrer Liebe geprägt werden, wie diese von ihnen geprägt wird. Eine solche historische Liebe nennt Rorty dynamisch permeabel 82: »Mit einem Wort, eine solche Liebe wird nicht nur durch ihre Objekte individuiert; noch bedeutsamer ist, daß die Liebenden durch ihre Liebe individuiert werden.« 83 Annette Baier sieht das Wesen der Liebe dagegen eher in einer wechselseitigen emotionalen Verflechtung, welche die Liebenden sensibler für die Gefühle und Bedürfnisse des anderen macht, aber zugleich verletzlicher werden lässt, insofern die eigenen Emotionen stets unmittelbar von jenen des anderen beeinflusst werden. 84 In dieser Hinsicht bedeutet Liebe also immer auch eine gegenseitige emotionale Abhängigkeit: »Love is not just an emotion people feel toward other people, but also a complex tying together of the emotions that two people or a few more have; it is a special form of emotional interdependence.« 85 Liebe ist mithin weniger selbst eine bestimmte Emotion; vielmehr ruft sie ihrerseits zahlreiche verschiedene Emotionen Amélie O. Rorty (1986): »Die Historizität psychischer Haltungen. Lieb’ ist Liebe nicht, die nicht Wandel eingeht, wenn sie Wandel findet«, in: Analytische Philosophie der Liebe, hg. von Dieter Thomä, Paderborn: Mentis 2000, S. 175 f. 81 Vgl. Rorty (1986), S. 178. 82 Vgl. Rorty (1986), S. 180. 83 Rorty (1986), S. 182. 84 Vgl. Annette Baier (1991): »Unsafe Loves«, in: The Philosophy of (Erotic) Love, hg. von Robert C. Solomon und Kathleen M. Higgins, Lawrence: University Press of Kansas 1991, S. 442 f. 85 Baier (1991), S. 444. 80

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und emotionale Reaktionen hervor. 86 ›Liebesgefühle‹ sind für Baier deshalb lediglich sekundäre Erscheinungen, welche die grundlegendere Wechselbeziehung bestätigen und erhalten. 87 Auch nach Angelika Krebs ist die Liebe in erster Linie eine interpersonale Beziehung. Genauer versteht sie unter dieser Beziehung eine Art ganzheitlichen Dialog, in dem zwei Personen ihr Leben – ihre Gefühle, Handlungen, Werte, Ziele – miteinander teilen. 88 Erst in zweiter Linie ist sie, als Bereitschaft zum Teilen, auch eine emotionale und praktische Einstellung. 89 Liebe besteht so vor allem im interaktiven, kooperativen Miteinander, das gemeinsame Entwicklungen wie wechselseitige Veränderungen einschließt. 90 Dieses Teilen des Lebens ist für Krebs, im Unterschied zu den Verschmelzungstheoretikern, zumindest primär selbstzweckhaft und bezieht den anderen gerade in seiner Individualität ein: »Eine Person liebt eine andere, wenn sie Gefühle und Handlungen mit ihr in ihrer ganzen Besonderheit selbstzweckhaft teilt.« 91 Allerdings ist der Geliebte in diesem dialogischen Verständnis der Liebe nun nicht so sehr das Gegenüber, auf das sich die Liebe richtet, sondern eher ein Partner oder Mitspieler, mit dem der Liebende etwas gemeinschaftlich tut. 92 Insofern Liebe wesentlich ein Miteinander zweier Personen ist, sind die Einzelaktionen jedes Partners nach Krebs stets und allein als Beiträge zur gemeinsamen Beziehung verständlich und verlieren ohne die Kooperation des anderen ihren Sinn. 93 Damit konzipiert Krebs die Liebe letztlich wie Solomon als ausschließlich wechselseitiges Phänomen und sieht in der einseitigen Liebe nicht mehr als einen Wunsch nach Liebe. 94 Vgl. Baier (1991), S. 442. Vgl. Baier (1991), S. 445. 88 Vgl. Angelika Krebs (2005): »›Der tote Sohn hat uns noch einmal zusammengeführt‹ – Liebe als geteilte Praxis«, in: Einheit der Vernunft? Normativität zwischen Theorie und Praxis, hg. von Thomas Rentsch, Paderborn: Mentis 2005, S. 287 ff.; Krebs (2009): »›Wie ein Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht‹ – Eine dialogische Philosophie der Liebe«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57/5 (2009), S. 741 f.; Krebs (2010a): Liebe und Abhängigkeit, Vortrag vom 30. 06. 2010 an der Universität Hamburg, abrufbar unter: https://lecture2go.uni-hamburg.de/veranstaltungen/–/v/11143/. Siehe auch Krebs (2015): Zwischen Ich und Du. Eine dialogische Philosophie der Liebe, Berlin: Suhrkamp 2015. 89 Vgl. Krebs (2009), S. 741. 90 Vgl. Krebs (2009), S. 733 ff.; Krebs (2010a). 91 Krebs (2009), S. 741. 92 Vgl. Krebs (2005), S. 287 ff.; Krebs (2009), S. 733, 742; Krebs (2010a). 93 Vgl. Krebs (2005), S. 290 ff.; Krebs (2010a). 94 Vgl. Krebs (2009), S. 741. 86 87

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Der Haupteinwand, der sich gegen interaktive Theorien im Allgemeinen anführen lässt, ist der, dass sie nicht nur, wie die Verschmelzungstheorien, die Grenzen zwischen der Emotion der Liebe und der Liebesbeziehung zweier Personen verwischen, sondern die Liebe explizit mit der interpersonalen Beziehung identifizieren. Interaktive Liebestheorien geben damit meines Erachtens lediglich eine Beschreibung einer Liebesbeziehung, die sich zwischen zwei Personen entspinnen kann und die sich normalerweise vielleicht auch entwickelt, wenn die Liebe wechselseitig ist. Was sie nicht bieten, ist eine Analyse der Emotion selbst, die sie höchstens als sekundäres Phänomen betrachten. Zwar mag zu einer glücklichen Liebe durchaus eine miteinander gestaltete Liebesbeziehung gehören, doch beinhaltet sie für die meisten sicherlich nicht weniger eine spezifische emotionale Erfahrung, die diese Beziehung von anderen zwischenmenschlichen Beziehungen abhebt, in denen wir ebenfalls mit anderen interagieren, von ihnen beeinflusst werden und Ähnliches mehr. Dafür, eine Beziehung einzugehen, sie zu erhalten oder gar zu beenden, haben wir überdies, meines Erachtens im Gegensatz zur Liebe, für gewöhnlich konkrete Gründe. Nicht selten wird dabei gerade die Liebe als ein wichtiger Grund angegeben, warum zum Beispiel eine Beziehung trotz widriger Umstände aufrechterhalten wird, und es kann ebenso Gründe geben, die zwei Personen dazu bewegen, eine Liebesbeziehung zu beenden oder gar nicht erst zu führen, obwohl sie sich lieben. Derartige Phänomene ließen sich schwerlich plausibel machen, wenn Liebe nichts anderes wäre als ebendiese Beziehung selbst. Normalerweise unterscheiden wir also sehr wohl zwischen der Emotion der Liebe und der Liebesbeziehung, und ein adäquater Liebesbegriff sollte dem gerecht werden.

2.1.4 Konklusion Wie wir gesehen haben, akzentuiert jedes der besprochenen Liebesmodelle verschiedene Vorstellungen und Erwartungen, die wir im Allgemeinen alle in irgendeiner Weise mit der Liebe verbinden. Generell heben die evaluativen wie die Wohlwollens-Theorien eher darauf ab, dass wir in der Liebe den Geliebten als wertvoll in sich selbst erfahren und als Zweck an sich, als Person beziehungsweise ›jemand‹ im Unterschied zu einer Sache oder ›etwas‹ betrachten. Doch während die geliebte Person nach Velleman einen objektiven Wert besitzt, 40

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kommt ihr kein individueller Wert zu (sondern wird nur so behandelt, als ob), wohingegen sie nach Singer und Frankfurt überhaupt erst durch das liebende Subjekt wertvoll an sich gemacht wird. Den nicht seltenen Wunsch, als die besondere Person geliebt zu werden, die wir tatsächlich sind, können mithin alle drei Ansätze nicht voll befriedigen. Hinzu kommt das Problem der Einseitigkeit: Keine der diskutierten Theorien kann eine adäquate Beschreibung wechselseitiger Liebe geben, die mehr als die (zufällige) Summe zweier einzelner Lieben ist. Diese beiden Schwierigkeiten stellen sich für die Verschmelzungs- und interaktiven Theorien nicht. Indem diese vor allem auf die Gemeinschaft abheben, die zwei Liebende bilden oder bilden wollen, beziehungsweise auf den sich zwischen ihnen vollziehenden interaktiven Prozess, fassen sie die Liebe von vornherein als ein interpersonales Phänomen auf. Da sie die Liebe hierbei allerdings sehr stark mit der praktischen Liebesbeziehung identifizieren, ermöglichen diese Modelle wiederum keine (befriedigende) Beschreibung der Liebesemotion. Zudem ist auch in diesen Liebeskonzepten der Status des Liebesobjekts nicht unproblematisch. Zwar erfasst die Liebe nach ihnen, als Wir-Gemeinschaft oder interaktive Beziehung verstanden, die andere Person gerade in ihrer Besonderheit, doch gilt sie ihr entweder nicht um ihrer selbst willen (Verschmelzungstheorien) oder im Grunde genommen gar nicht, da sie eher als Partner oder Beiträger zur Liebe denn als ihr Objekt betrachtet wird (interaktive Theorien). Meines Erachtens sollte eine adäquate Liebestheorie daher folgende wesentliche Bedingungen erfüllen: (a) Sie gibt eine Beschreibung der Liebesemotion, die sie von der praktischen Liebesbeziehung und damit verbundenen Phänomenen unterscheidet. (b) Sie unterscheidet und beschreibt die Phänomene der einseitigen Liebe und der gegenseitigen Liebe. (c) Sie zeigt den Zusammenhang zwischen der Liebesemotion und der praktischen Liebesbeziehung auf. (d) Sie berücksichtigt unsere Erwartung, eigentliches Objekt der Liebe zu sein. (e) Sie berücksichtigt unsere Erwartung, um unserer selbst willen geliebt zu werden. (f) Sie berücksichtigt unsere Erwartung, als besonderes und unersetzliches Individuum geliebt zu werden. Liebe und Hass

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(g) Sie gibt eine konsistente Darstellung der Liebe und liebesspezifischer Phänomene, die zirkuläre Argumentationen vermeidet. Auf den folgenden Seiten möchte ich mit Max Schelers Liebeskonzept nun ein Modell vorstellen, mit dem die aufgezeigten Schwierigkeiten zeitgenössischer Liebeskonzepte vermieden werden könnten und das den genannten Anforderungen an eine adäquate Liebestheorie möglicherweise besser Rechnung trägt. Grundsätzlich lässt sich Schelers Ansatz in die Klasse der evaluativen Liebestheorien einordnen, insofern er die Liebe als einen werterhöhenden beziehungsweise wertentdeckenden Akt auffasst, der sich auf die individuelle Person des anderen richtet. Wie ich nach einer ausführlichen Analyse seines Konzepts zeigen werde, lässt sich aus Schelers Grundbegriff des einseitigen Liebesakts aber zugleich eine gehaltvolle Beschreibung der wechselseitigen Liebe gewinnen, die über eine bloße Duplizierung einseitiger Liebesakte wesentlich hinausgeht. Dadurch ermöglicht Schelers Ansatz, wie wir sehen werden, die Formulierung eines umfassenden Liebesbegriffs, der schließlich auch dem Phänomen der praktischen Liebesgemeinschaft gerecht werden kann, die meines Erachtens den Kern einer wirklichen Liebesbeziehung bildet.

2.2 Schelers Emotionsphänomenologie Zu Beginn soll ein kurzer Einblick in Schelers Emotionstheorie gegeben werden. Die folgende Darstellung erhebt nicht den Anspruch, Schelers Emotionstheorie erschöpfend wiederzugeben oder zu diskutieren, sondern hat den Zweck, in wichtige Grundgedanken und Begriffe einzuführen, die in den kommenden Ausführungen immer wieder eine Rolle spielen werden. 95 Die zentralen Stellen, auf die ich mich dabei beziehe, finden sich in Schelers Formalismusbuch 96.

Für ausführlichere Erörterungen siehe unter anderem Bruno Rutishauser (1969): Max Schelers Phänomenologie des Fühlens. Eine kritische Untersuchung seiner Analyse von Scham und Schamgefühl, Bern/München: Francke 1969; Kevin Mulligan (2012): »Scheler. Die Anatomie des Herzens oder was man alles fühlen kann«, in: Handbuch Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, hg. von Hilge Landweer und Ursula Renz, Berlin/Boston: de Gruyter 2012, S. 589–612. 96 Damit ist gemeint: Max Scheler (1913/16): Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, 95

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2.2.1 Fühlen, Gefühle etc. Eine zentrale Unterscheidung, die Scheler für das emotionale Leben des Menschen trifft und die er immer wieder hervorhebt, ist diejenige zwischen nicht-intentionaler und intentionaler Emotionalität. 97 Mit dem Begriff der Intentionalität schließt Scheler an Franz Brentano und Edmund Husserl an, die damit die Gerichtetheit des Bewusstseins auf ein Objekt bezeichnen, wie die einer Vorstellung auf das Vorgestellte oder eben die eines Gefühls auf das Gefühlte. 98 Scheler differenziert genauer etwa vier verschiedene Formen der Emotionalität 99: zuständliche Gefühle, emotionale Verhaltungsweisen, intentionale Fühlfunktionen und emotionale Akte. Zuständliche Gefühle oder Gefühlszustände werden stets durch etwas verursacht und sind insofern immer kausal erklärbar. Sie sind nicht intentional, haben also kein Objekt, auf das sie gerichtet sind, sondern nur einen »Reizgegenstand« 100, mit dem sie erst durch »nachträgliche Akte des Beziehens« 101 verknüpft werden. Wenn zum Beispiel Paul mit dem Fuß gegen das Tischbein stößt, dann kennt er aufgrund der Körperempfindung im Fuß selbst noch nicht den Grund der Empfindung. Erst durch die visuelle Wahrnehmung des Tischbeins und die Erinnerung an seine Bewegungen kann er die kausale Verbindung mit seinem aktuellen Gefühl herstellen und sich seine Empfindung erklären. Dies betrifft zwar in erster Linie und hauptsächlich alle spezifisch sinnlichen Gefühle wie eben Schmerzempfinin: Gesammelte Werke, Bd. 2, hg. von Manfred S. Frings, 7., durchges. und überarb. Aufl., Bonn: Bouvier 2000 (= GW 2). 97 Vgl. unter anderem GW 2, Kapitel V, 2. 98 Vgl. unter anderem Brentano (1874a): Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, hg. von Oskar Kraus, Hamburg: Meiner 1973, Buch 2, Kapitel 1, §§ 5, 9; Husserl (1900/01): Logische Untersuchungen, Hamburg: Meiner 2009, Bd. 2, Teil 1, V, §§ 11, 13. Im Unterschied zu Brentano und Husserl ist der Gegenstandsbezug für Scheler allerdings kein spezifisches Merkmal psychischer Phänomene, sondern Kennzeichen des überbewussten Geistes, den er dem psychophysischen Organismus des Menschen gegenüberstellt; vgl. GW 2, S. 386–392. Für weitere Ausführungen siehe auch Kapitel 2.5.5 (a). Mit dem Begriff der Intentionalität bei Scheler befasst sich eingehender unter anderem Michael Gabel (1991): Intentionalität des Geistes: der phänomenologische Denkansatz bei Max Scheler. Untersuchung zum Verständnis der Intentionalität in Max Scheler ›Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik‹, Leipzig: Benno-Verlag 1991. 99 Vgl. zu den folgenden Gefühlsklassen GW 2, Kapitel V, 2. 100 GW 2, S. 262. 101 GW 2, S. 262. Liebe und Hass

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dungen, doch nach Scheler haben auch Gefühle wie Traurigkeit einen solchen zuständlichen Charakter. 102 Die Gruppe der emotionalen Verhaltungsweisen ist etwas schwieriger zu fassen. Zwar sind sie ebenfalls nicht intentional, haben jedoch mit der intentionalen Emotionalität immerhin »die Richtung gemein« 103 – das heißt nach Scheler: die Ausrichtung auf Werte. Diese Gefühle erfassen nun selbst keine Werte, sie sind allerdings spezifische emotionale Reaktionen auf gegebene Wertverhalte. 104 So kann Paul in Reaktion auf den Schmerz im Fuß beispielsweise leiden, sich freuen, ärgerlich und wütend sein oder gleichgültig bleiben. Je nachdem, wie angenehm oder unangenehm die Schmerzempfindung ist, wie intensiv oder wie flüchtig, wäre seine emotionale »Antwortsreaktion« 105 dann mehr oder weniger angemessen. Das Subjekt reagiert mit diesen Gefühlen also auf Werte, die Gefühle selbst sind aber noch nicht intentional. Obwohl Scheler häufig und auch in zentralen Kapiteln des Formalismusbuchs die Gruppe der emotionalen Verhaltungsweisen oder Antwortsreaktionen erwähnt 106, führt er sie im Unterschied zu den zuständlichen Gefühlen, den noch zu erläuternden intentionalen Fühlfunktionen und emotionalen Akten nicht explizit als eigene Klasse ein. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich diese Gefühlsart nicht so ohne Weiteres in seine Emotionstheorie einordnen lässt, die streng zwischen Zuständlichkeit und Intentionalität unterscheidet. Aus den einschlägigen Textstellen 107 geht zum einen nämlich hervor, dass Scheler sie irgendwo zwischen den zuständlichen Gefühlen und dem intentionalen Fühlen ansiedelt, zum anderen spricht er ihr einen intentionalen Charakter »im strengen Sinne« 108 klar ab. 109 Diese Positionierung ist offensichtlich schwierig und weist meines Erachtens auf einige grundsätzliche Probleme von Schelers Emotionstheorie hin, die an dieser Stelle jedoch nicht weiter diskutiert werden könVgl. GW 2, S. 262. GW 2, S. 264. 104 Vgl. GW 2, S. 264. 105 GW 2, S. 264. 106 Vgl. zum Beispiel die Kapitel zur formalen und materialen Wertrangordnung: GW 2, Kapitel II, B 4 & 5. 107 Vgl. vor allem GW 2, S. 264. 108 GW 2, S. 264. 109 Íngrid Vendrell Ferran fasst sie beispielsweise als Emotionen im engeren Sinne auf; vgl. Vendrell Ferran (2008), S. 208 f. 102 103

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nen. 110 Halten wir uns aber an seine allgemeine Einteilung in zuständliche und intentionale Emotionalität, ist »Nicht-Intentionalität« letztlich gleichbedeutend mit »Zuständlichkeit« – und emotionale Verhaltungsweisen oder Antwortsreaktionen haben dann ebenfalls zuständlichen Charakter, sind also Gefühle im zuständlichen Sinn. Bei den intentionalen Fühlfunktionen oder auch dem intentionalen ›Fühlen von etwas‹ handelt es sich hingegen um eine »zielbestimmte Bewegung« 111. Das intentionale Fühlen erfasst nach Scheler Werte und hat in dieser Hinsicht eine kognitive Funktion. Anders als die Gefühlszustände muss dieses Wertfühlen nicht erst mit einem Objekt verknüpft werden, sondern es hat mit dem Wert von vornherein sein eigenes Objekt, das ihm wesentlich zugehört. 112 Scheler deutet dies bereits durch den von ihm verwendeten Terminus »Fühlen von etwas« 113 an: »Fühlen von x« kann sich eben nur auf »x« richten, wie »x« nur durch »Fühlen von x« gefühlt werden kann. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es nun so unzählig viele und verschiedene Gefühle geben müsse, wie es Werte gibt. Für Scheler stellt das Wertfühlen im Unterschied zu den Gefühlen im engeren Sinne keinen je einzelnen, bestimmten Zustand dar, sondern eine allgemeine aufnehmende Funktion, die sich allenfalls nach den unterschiedlichen Wertarten 114 ausdifferenziert. 110 Auf eines davon werde ich bei der Erörterung der Gefühlsansteckung in Kapitel 2.3.4 zu sprechen kommen. 111 GW 2, S. 263. 112 Das intentionale Objekt einer Emotion ist dabei stets von dem jeweiligen Gegenstand zu unterscheiden, an dem der wahrgenommene Wert erscheint. An dieser Stelle muss auf eine wichtige Differenz zur gegenwärtigen Debatte hingewiesen werden: Während Scheler im Allgemeinen davon spricht, dass sich Emotionen auf Wertverhalte selbst beziehen und diese ihre intentionalen Objekte darstellen, geht die neuere kognitivistische Emotionsdebatte eher davon aus, dass sich Emotionen auf konkrete Gegenstände, Sachverhalte etc. richten, diese also ihre intentionalen Objekte ausmachen. Die an diesen gegebenen Wertverhalte werden im Anschluss an Anthony Kenny dagegen als die formalen Objekte der Emotionen aufgefasst, durch welche die Emotionen und ihre jeweils möglichen intentionalen Objekte bestimmt werden; vgl. unter anderem Sabine A. Döring/Christopher Peacocke (2002): »Handlungen, Gründe und Emotionen«, in: Die Moralität der Gefühle, hg. von Sabine A. Döring und Verena Mayer, Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 92 f.; Anthony Kenny (1963): Action, Emotion and Will, Bristol: Thoemmes Press 1994, S. 187–194; William Lyons (1980): Emotion, Nachdruck, Aldershot u. a.: Gregg Revivals 1993, S. 99 ff. Bei Kolnai werden wir später eine ähnliche Unterscheidung finden; siehe Kapitel 3. 113 GW 2, S. 261. 114 Siehe Kapitel 2.2.2.

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Damit es zu einer Werterkenntnis kommt, sind zusätzlich zu den grundlegenden Wertfühlfunktionen die auf ihnen aufbauenden emotionalen Akte des »Vorziehens« und »Nachsetzens« nötig. Mit diesen intentionalen Akten können wir die Werte konkret erfassen, das heißt in ihrem Höhersein oder Niedrigersein, in ihrer jeweiligen Ranghöhe. 115 Scheler versteht die Werterfassung damit prinzipiell analog zur sinnlichen Wahrnehmung: Wie etwa die Sehfunktion des Auges nur die optischen Reize aufnehmen kann, welche dann durch kognitive Akte zu konkreten visuellen Wahrnehmungen werden, nimmt das Wertfühlen alle möglichen ›Wertdaten‹ (Wertqualitäten) eines Gegenstandes auf und erst durch die Vorzugsakte werden diese als konkrete Werte (Qualität + Ranghöhe) erfasst. Zu den emotionalen Akten zählt Scheler schließlich auch die Liebe und den Hass, die im Unterschied zum Vorziehen und Nachsetzen jedoch keine Werte erfassen, sondern unsere Werterfahrung erweitern (Liebe) beziehungsweise reduzieren (Hass).

2.2.2 Schichten Im Formalismusbuch gliedert Scheler unser emotionales Leben weiterhin in vier sich nach Qualität und Tiefe der Gefühle unterscheidende Stufen, »die der Struktur unserer gesamten menschlichen Existenz entsprechen« 116 sollen. Dieses Schichtenmodell der menschlichen Emotionalität soll dabei die vierstufige materiale Rangordnung der Werte widerspiegeln, sodass jede Wertstufe mit einer spezifischen Fühlschicht korreliert, in welcher diese Werte erfasst werden. 117 In der äußersten Schicht finden sich die Gefühle von geringster Tiefe: die sinnlichen Gefühle. 118 Ihnen entspricht mit den sinnlichen Werten die unterste Stufe der Wertrangordnung. Hierhin gehören Vgl. GW 2, S. 265. GW 2, S. 334. 117 Ich versuche im Folgenden nur eine grobe Zusammenfassung der im Einzelnen durchaus widersprüchlichen Ausführungen Schelers, um eine allgemeine Vorstellung seiner Grundideen zu geben. So lässt sich aus Schelers Texten zum Beispiel weder die Zahl der Wertstufen eindeutig bestimmen noch das genaue Verhältnis von Zuständlichkeit und Intentionalität in den einzelnen Fühlschichten; vgl. dazu GW 2, S. 122– 126, 334–345. Eine kurze Auflistung einiger Probleme gibt unter anderem Wolfhart Henckmann (1998): Max Scheler, München: Beck 1998, S. 106 f. 118 Vgl. zu den einzelnen emotionalen Schichten bei Scheler GW 2, Kapitel V, 8. 115 116

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zum Beispiel unangenehme Berührungsempfindungen, angenehme Geschmackserlebnisse oder körperliche Schmerzen. Es handelt sich dabei vorwiegend um zuständliche Gefühle, die lokalisiert an einem Teil des Leibes und nur aktuell gegeben sind und daher leicht manipuliert werden können, etwa durch Narkotika. Die nächste Stufe bestreiten die Leib- und Lebensgefühle und die zugehörigen vitalen Werte wie beispielsweise in Mattigkeit, Unwohlsein, Gesundheits- und Krankheitsgefühl, aber auch in Furcht und Ekel. Diese vitalen Gefühle fühlen wir zwar wie sinnliche Gefühle am Leib, allerdings nicht genau lokalisiert. Sie sind vielmehr an unserem als Ganzheit erlebten ›Leibich‹, das heißt dem »einheitliche[n] Bewußtsein unseres Leibes« 119, gegeben. Sie sind intentionaler als die sinnlichen Gefühle und insofern auch prinzipiell verstehbar statt nur kausal erklärbar. In der dritten Schicht oder Stufe finden sich die seelischen Gefühle wie Trauer oder Freude und die korrelierenden Werte. Seelische Gefühle sind nach Scheler überhaupt nicht mehr leibesvermittelt, sondern unmittelbare Ich-Gefühle. Gleichzeitig sind sie weniger zuständlich als vitale Gefühle, dafür intentionaler. Diese Schicht ist dem »Kern« am nächsten, das heißt, der Mensch wird von seinen seelischen Gefühlen und Werten besonders tief durchdrungen und erfüllt. Die letzte und zugleich tiefste emotionale ›Schicht‹, den eigentlichen »Kern« des emotionalen Lebens machen schließlich die geistigen Gefühle aus, in denen die höchsten Werte der Wertrangordnung erschlossen werden. In diese Schicht gehören etwa die Gefühle der Seligkeit und Verzweiflung. Sie sind an der Person gegeben und entspringen spontan ihr selbst. Geistige Gefühle haben damit kaum noch zuständlichen, sondern fast rein intentionalen Charakter; sie sind mithin eher emotionale Akte als Zustände. Sie können zudem als ›absolute‹ Gefühle gelten, insofern sie nur ganz oder gar nicht gefühlt werden können – nicht nur ein wenig – und ebenso den Fühlenden entweder ganz oder gar nicht erfüllen. 120

119 120

GW 2, S. 340. Vgl. GW 2, S. 344 f.

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2.2.3 Funktionen und Akte Bisher ist bereits die Rede von Funktionen und Akten gewesen, ohne explizit darauf einzugehen, wie Scheler diese Begriffe verwendet. Das soll an dieser Stelle nachgeholt werden. Zu den Funktionen zählt Scheler zum Beispiel das Sehen, Hören und Riechen, er kennt aber auch verschiedene allgemeine Fühlfunktionen wie etwa die Funktion des vitalen Wertfühlens. Es handelt sich bei Funktionen um alle Vorgänge, die zur psychophysischen Organisation des Menschen gehören und fortwährend und ganz automatisch ablaufen, sich gewissermaßen selbst vollziehen. 121 Während die Sehfunktion nun, um das bereits erwähnte Beispiel der visuellen Wahrnehmung wieder aufzugreifen, sämtliche Reize für eine visuelle Wahrnehmung aus der Umwelt aufnimmt, bedarf es noch eines hinzutretenden geistigen Akts, um aus der Menge der Daten eine konkrete Wahrnehmung zu gewinnen – zum Beispiel die Wahrnehmung des braunen Tischs in der Zimmerecke. Alle Akte, zu denen Scheler unter anderem das Erkennen, Wollen, Erinnern, Vorziehen und Nachsetzen zählt, laufen allerdings nicht wie die Funktionen von selbst ab, sondern werden stets von der Person, dem geistigen Kern des Menschen vollzogen. Ein Akt kann sich dabei durch eine Funktion auf einen Gegenstand richten (wie bei der visuellen Wahrnehmung), eine solche Funktion kann jedoch auch selbst wiederum zum Gegenstand eines Akts werden (ich kann beispielsweise meine eingeschränkte Sehfunktion erkennen). 122 Weitere Erläuterungen zum Verhältnis von Akt und Person folgen in Kapitel 2.5.

2.3 Sympathische Gefühle Im Folgenden soll zunächst, bevor wir die Liebe selbst detailliert analysieren, eine Darstellung der sympathischen Emotionen nach Scheler gegeben werden, die aufzeigt, welchen Platz er ihr in der Gesamt121 GW 2, S. 387. Eine nicht ganz unbedeutende Frage, die Scheler hierbei meines Wissens offen lässt, ist, warum so verstandene psychophysische »Funktionen« überhaupt Intentionalität aufweisen und Werte erfassen können, denn Intentionalität ist für Scheler alleiniges Merkmal des Geistes (vgl. GW 2, S. 388) und nicht der Psyche oder gar der Physis. Die Gefühlsklasse der ›intentionalen Fühlfunktionen‹ (siehe Kapitel 2.2.1) scheint insofern einen Widerspruch in sich zu bilden. 122 GW 2, S. 387.

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Sympathische Gefühle

heit dieser Gefühle zuweist. Wir werden uns dazu die verschiedenen Sympathieformen, die Scheler in seiner Sympathieschrift 123 herausarbeitet, im Einzelnen ansehen und anschließend einen genaueren Blick auf ihre Fundierungsordnung werfen, die er in der ersten (1913) und zweiten (1922) Ausgabe dieses Werks unterschiedlich entwirft. Diese Untersuchung stützt sich vorwiegend auf den Teil A der Sympathieschrift: Das Mitgefühl.

2.3.1 Nachfühlen Jedem Mitgefühl gehen nach Scheler zunächst die elementareren Akte des ›Nachfühlens‹ oder ›Nachlebens‹ voraus. 124 Diese Gefühle ermöglichen ein unmittelbares Auffassen und Verstehen von Erlebnissen anderer Menschen, genauer: ihrer Gefühle, ohne diese selbst real mitzuerleben. Es handelt sich hierbei um selbstständig erkennende Akte, die nicht auf vorangehende Sachverhaltsurteile wie »Paul hat Schmerzen« zurückgreifen müssen, sondern die das fremde Erleben auf emotionale Weise erfassen. 125 Ihr spezifischer Erkenntnisgehalt enthält daher nicht – wie das Urteil – den bloßen Sachverhalt, »dass Paul Schmerzen hat«, sondern vielmehr »noch die Qualität des fremden Gefühles« 126 selbst. Zu einer echten Teilnahme am Erlebnis des anderen kommt es auf dieser Ebene jedoch nicht. 127 Das fremde Gefühl wird zwar gefühlt (nicht rational erschlossen), allerdings nicht selbst erlebt. Der Nachfühlende fühlt es als ebendieses fremde Gefühl und nicht als ein eigenes, zu ihm selbst gehörendes, Ich-bezogenes Gefühl – mit anderen Worten: nicht in der ersten Person, sondern in der dritten. So kann zum Beispiel Paula spüren, dass Paul sich über Peter ärgert, ohne selbst diesen Ärger mitzuerleben, das heißt ohne sich ihrerseits über Peter zu ärgern. Ebenso kann auch Peter die Verärgerung Pauls fühlen, ohne sich darum über sich selbst zu ärgern. Dennoch wäre es falsch, zu sagen, dass lediglich wahrgenommen würde, dass der andeScheler (1913): Wesen und Formen der Sympathie, in: Gesammelte Werke, Bd. 7: Wesen und Formen der Sympathie/Die deutsche Philosophie der Gegenwart, hg. von Manfred S. Frings, 6./2., durchges. Aufl., Bern: Francke 1973 (= GW 7), S. 7–258. 124 GW 7, S. 19 f., 24 f. 125 Vgl. GW 7, S. 19 f. 126 GW 7, S. 20. 127 Vgl. GW 7, S. 20. 123

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re dieses oder jenes fühlt. Im Nachfühlen wird die besondere emotionale Qualität des fremden Erlebnisses erfasst, das heißt, Paula spürt eigentlich nicht, dass Paul sich ärgert, sondern dass Paul sich ärgert oder wie er sich ärgert. Das fremde Gefühl wird im Nachfühlen immer ganz unmittelbar erfasst. Es muss und kann nicht von den jeweiligen äußeren Erscheinungen am anderen (Mimik/Gestik) rational abgeleitet werden, da diese schlichtweg keine kausalen Wirkungen oder Effekte des Gefühls sind. 128 Ein leidvoll verzerrter Gesichtsausdruck ist eben keine Folge von Schmerzen. Diese spezifischen »Ausdrucksphänomene« 129 sind für Scheler vielmehr genuine, evidente Zeichen oder Symbole der Gefühle, die einen direkten Zugang zum Erleben des anderen bieten. Sie gehören gewissermaßen zum Gefühlserlebnis selbst und sind, so könnte man sagen, lediglich das Ende, das für andere sichtbar ist. So versucht Peter (normalerweise) nicht erst, aus Pauls Gesichtszügen und seiner Körperhaltung abzuleiten, welche Gefühle Paul möglichweise haben könnte. Im Gegenteil: Wenn er nicht unter Alexithymie (»Gefühlsblindheit«) oder Ähnlichem leidet, ist ihm eigentlich, sobald er Pauls finsteren Blick und zusammengekniffene Lippen sieht, sofort klar, was mit Paul los ist, und er überlegt allenfalls, worin der Grund für dessen Verärgerung liegen mag. Für Scheler bestehen zwischen Gefühl und Ausdruck letztlich echte elementare »Wesenszusammenhänge«, die absolut allgemeingültig und von unseren »spezifisch menschlichen Ausdrucksbewegungen unabhängig« 130 sind. Unserer Emotionalität kommt mithin eine eigene ursprüngliche Sprache zu, die eine »universale Grammatik« 131 aufweist und insofern – zumindest prinzipiell – immer und von jedem verstanden wird. 132 Diese basalen, rein verstehenden Akte des Nachfühlens sind es schließlich, auf die im Weiteren alle Formen des Mitgefühls aufbauen. Das Nachfühlen liefert, indem es das fremdpsychische Erleben Vgl. GW 7, S. 21. GW 7, S. 21. 130 GW 7, S. 22. 131 GW 7, S. 22. 132 Zumindest für einige Emotionen sollte die von Scheler vermutete ›universale Grammatik‹ später auch empirisch nachgewiesen werden. So können zum Beispiel laut den Studien des Psychologen Paul Ekman mindestens sechs sogenannte Basisemotionen kulturübergreifend richtig erkannt werden: Freude, Ärger, Furcht, Überraschung, Ekel und Traurigkeit. Vgl. Ekman (1992): »Are there basic emotions?«, in: Psychological Review, 99/3 (1992), S. 550–553. 128 129

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erfasst, die möglichen Objekte, auf die sich dann die verschiedenen Mitfühlakte beziehen können. Jede Form von Mitgefühl setzt somit das Nachfühlen voraus und tritt stets erst »zu dem bereits verstandenen, aufgefaßten Erlebnis anderer hinzu« 133. Das Mitgefühl wiederum lässt sich für Scheler in zwei verschiedene Formen unterscheiden: die Mitgefühle im engeren Sinn und das Miteinanderfühlen.

2.3.2 Mitgefühle Die Mitgefühle »an etwas« – Mitleid oder Mitfreude – sind ebenfalls keine bloßen Gefühlszustände, sondern weisen wie das Nachfühlen Intentionalität auf. Das Mitfühlen ist wesentlich auf das fremde Leid oder die fremde Freude gerichtet, das beziehungsweise die zum Objekt des eigenen Fühlens wird. Das Gefühl des anderen muss allerdings zunächst im Nachfühlen als dieses erlebt sein. Erst auf dieses gegenständlich gegebene Gefühl kann sich das eigentlich teilnehmende Mitgefühl beziehen. Mitleid oder Mitfreude sind insofern stets Reaktionen auf ein Leid oder eine Freude, das oder die am anderen bereits erfasst worden ist. 134 Der Mitleidende leidet hier zwar durchaus auch selbst, jedoch erlebt er nicht dasselbe Leid wie der ursprünglich Leidende. Sein Leid bezieht sich vielmehr auf das Leid des anderen als des anderen – dieses ist der eigentliche Gegenstand des Mitgefühls des Mitleidenden. 135 Die Teilnahme im Mitgefühl besteht mithin nicht darin, dass der Mitfühlende denselben Wert- oder Unwertverhalt wie der Leidende oder der sich Freuende erfasst. Stattdessen reagiert er lediglich auf die Gefühle des anderen und die darin erschlossenen Werte oder Unwerte. Der Mitleidende nimmt also insofern teil, als er auf die fremde Unwerterfahrung (Leid) oder Werterfahrung (Freude) mit einem eigenen Gefühl antwortet. So leidet Paula nicht Pauls Leid mit, also nicht darunter, worunter Paul leidet, sondern sein Leid ist das Objekt ihres Leids. Sie reagiert aber auch nicht einfach nur darauf, dass Paul leidet, sondern sie nimmt im Mitleid an Pauls Leid als seinem Leid teil. Nachfühlen (das Fühlen des fremden Leides) und Mitfühlen (emotionale Teilnahme) werden hier – im Unterschied zum Miteinanderfühlen – vom Mitfühlenden selbst 133 134 135

GW 7, S. 19. Vgl. GW 7, S. 24. Vgl. GW 7, S. 24 f.

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als zwei verschiedene Akte erlebt, das fremde Gefühl und das eigene Mitgefühl als zwei verschiedene Tatsachen. Dass Nachfühlen und Mitfühlen zwei völlig verschiedene Funktionen beziehungsweise Akte darstellen 136, macht Scheler unter anderem am Beispiel des Grausamen deutlich. 137 Der Grausame zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er für die Leiden anderer unempfänglich wäre. Im Gegenteil: Er zieht typischerweise gerade einen besonderen Genuss aus den Qualen, die er seinen Opfern zufügt. Das heißt, im Akt des Nachfühlens ist auch für ihn das fremde Leid erfahrbar. Allerdings wird es nicht zum Objekt seines Mitgefühls, sondern zum Objekt seiner Freude.

2.3.3 Miteinanderfühlen Mit dem Begriff des Miteinanderfühlens bezeichnet Scheler nun diejenige Sympathieform, bei der zwei Menschen, A und B, unmittelbar dasselbe Gefühl erleben. 138 Im Unterschied zu einer bloßen Ansteckung 139 löst das Gefühl von A jedoch nicht das Gefühl von B aus oder überträgt sich auf diesen. Stattdessen fühlen beide gleichzeitig und gemeinsam (nicht nur parallel) dasselbe Leid oder dieselbe Freude – ohne dabei den Sachverhalt, dass sie dasselbe fühlen, erfassen zu müssen. Im Gegensatz zu einfachen Mitgefühlen wie Mitleid oder Mitfreude, die sich immer auf das gegenständlich gegebene Gefühl des anderen richten, wird im Miteinanderfühlen, der für Scheler höchsten Form des Mitfühlens, das Gefühl von A nicht zum Objekt

136 Scheler spricht sowohl von Akten als auch von Funktionen; vgl. GW 7, S. 19 f., 24 f. Es ist zu vermuten, dass für ihn wie beim Wertfühlen auch beim Mitfühlen jeweils spezifische Funktionen und Akte beteiligt sind. Nicht ganz unproblematisch in dieser Hinsicht ist Schelers Bestimmung des Mitgefühls als emotionale Reaktion. Zum einen stellen Akte und Reaktionen für ihn zwei grundsätzlich verschiedene emotionale Kategorien dar; vgl. Kapitel 2.2.1; GW 2, S. 264 ff. Zum anderen ist es meines Erachtens fraglich, ob wir das Mitgefühl tatsächlich nur als eine bloße Reaktion auf fremde Gefühle und Werte erleben, die selbst keinerlei Werte erfassen kann, wie Scheler betont; vgl. GW 7, S. 18. Zumindest die Erfassung des fremden Leids als ein Wert- oder Unwertverhalt scheint doch für ein eigenes Mitgefühl notwendig zu sein. 137 Vgl. GW 7, S. 25. 138 Vgl. zum Miteinanderfühlen GW 7, S. 23 f. 139 Siehe Kapitel 2.3.4.

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des Fühlens von B, sondern das Gefühl selbst wird als aktuales Erlebnis von A und B gleichermaßen geteilt. Im Beispiel, das Scheler gibt, stehen Vater und Mutter an der Leiche eines geliebten Kindes und fühlen zusammen dasselbe Leid. Hier leidet nicht jeder für sich und bemitleidet darüber hinaus noch den anderen, den er leiden fühlt, sondern sie fühlen das Leid gemeinsam: […] sie fühlen es ›miteinander‹ im Sinne eines Miteinander-fühlens, eines Miteinander-erlebens nicht nur ›desselben‹ Wertverhalts, sondern auch derselben emotionalen Regsamkeit auf ihn. Das ›Leid‹ als Wertverhalt und Leiden als Funktionsqualität ist hierbei eines und dasselbe. 140

Das Leid der Eltern bedeutet mithin für beide erstens denselben Wertverhalt – und das ist nicht der Tod des Kindes, sondern der schmerzliche Verlust, den dieser für beide darstellt. Zweitens zeigen beide dieselbe emotionale Reaktion auf den Verlust, nämlich das Leiden. Das Miteinanderfühlen bezieht sich somit stets auf einen spezifischen Wertverhalt, der in dem geteilten Gefühl gemeinsam intendiert wird. Wenn Vater und Mutter in diesem Sinne dasselbe Leid teilen, machen sie also notwendig auch dieselbe Werterfahrung. Rein sinnliche Gefühlszustände wie physischer Schmerz sind in dieser Weise daher nicht teilbar. Ohne gemeinsame Werte – wie im Falle der identischen Verlusterfahrung von Vater und Mutter – ist ein spontanes Miteinanderfühlen zunächst schwer zu denken. Wenn es sich bei dem verstorbenen Kind etwa für den Vater um ein Stiefkind handelt, das ihm immer fremd geblieben ist, wird der Tod des Kindes für ihn sicherlich etwas anderes bedeuten als für die Mutter. Vielleicht leidet er weniger an einem (weniger schmerzlichen) Verlust, möglicherweise hat er aber auch nur Mitleid mit der Mutter. Dennoch stellt Scheler die Möglichkeit in Aussicht, »daß A zunächst allein das Leid fühlt und B dann ›mit ihm‹ mitfühlt« 141. Der unerwartete Tod seines Vaters kann Paul zum Beispiel, der ein inniges Verhältnis zu ihm hatte, so tief erschüttern, dass er sich von der Welt zurückzieht und nicht mehr das Haus verlässt. Paula hingegen mag, wenn sie Paul leiden sieht, vielleicht Mitleid mit ihm empfinden, doch dasselbe Leid teilt sie darum noch nicht. Mit anderen Worten: Paula würde, unter normalen Umstän140 141

GW 7, S. 24. GW 7, S. 24.

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den, nicht selbst unter dem Verlust von Pauls Vater leiden, da der Tod von Pauls Vater für sie nicht denselben Unwertverhalt, denselben Verlust bedeutet. Wie kann es dann aber dazu kommen, dass sie doch mit Paul mitfühlt? Für Scheler ist dies nur für Liebende möglich. 142 Da in der Liebe zu einer Person, wie noch zu sehen ist, alle Akte dieser Person nach- und mitvollzogen werden, haben wir in ihr unmittelbaren Zugang zu den Werten und Gefühlen des anderen und können so auch ein Leid ›miteinanderfühlen‹, von dem wir selbst ursprünglich nicht betroffen waren. Paula kann also, wenn sie Paul liebt, sein Verlusterlebnis nach- oder mitvollziehen und als gemeinsames Leid mit ihm teilen. Ein genaueres Verständnis dieses Phänomens erhalten wir, wenn wir uns späterhin eingehender mit der persönlichen Liebe befassen. 143

2.3.4 Gefühlsansteckung Die Gefühlsansteckung wiederum ist für Scheler im Grunde »überhaupt kein echtes Mitgefühlsphänomen« 144. Ich erwähne dieses Phänomen dennoch, weil sich hieran zumindest eine Schwierigkeit der Scheler’schen Emotionstheorie verdeutlichen lässt. Bei der Gefühlsansteckung kommt es Scheler zufolge nicht zu einer echten Teilnahme an den Freuden und Leiden anderer wie im Mitgefühl oder Miteinanderfühlen, sondern lediglich zu einer unwillkürlichen Auslösung eigener Gefühle durch fremde Gefühle. Das Gefühl des anderen ist nicht das Objekt des eigenen Gefühls, sondern dessen Ursache. Verursacht werden in diesem Sinne können zudem ausschließlich zuständliche Gefühle wie bloße Heiterkeit oder Traurigkeit. 145 So kann Paula zum Beispiel nicht von Pauls Leiden am Verlust seines Vaters angesteckt werden, aber doch etwa von der traurigen Stimmung, in der er sich befindet und die er vielleicht in seine Umwelt ausstrahlt. Für Scheler ist allerdings nicht nur eine Ansteckung durch fremde Gefühlserlebnisse möglich. Ebenso können an verschiedenen Naturgegenständen und Umgebungen »die objektiven Qualitäten von den

142 143 144 145

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Vgl. GW 7, S. 24. Siehe Kapitel 2.5 & 2.6. GW 7, S. 25. Vgl. GW 7, S. 26.

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gleichnamigen Gefühlen« 146 wahrgenommen werden und entsprechende eigene Gefühle hervorrufen. Scheler nennt hier beispielsweise die Heiterkeit einer Frühlingslandschaft oder die Düsterheit eines Regenwetters. 147 Da das fremde Gefühl hier in keiner Weise Gegenstand des eigenen Gefühls ist und die Auslösung des eigenen Gefühls ein ›Wissen‹ um das fremde Gefühl keineswegs voraussetzt, ist es auch möglich, dass eine Ansteckung völlig unbemerkt stattfindet und der Betroffene erst im Nachhinein oder sogar niemals die Ursache seiner Gefühlslage entdeckt. 148 Paula kann zum Beispiel nach einem Besuch bei Paul traurig nach Hause gehen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie von ihm ›angesteckt‹ wurde. Möglicherweise stellt sie erst nach einigen Wiederholungen fest, dass ein Zusammenhang zwischen ihren Begegnungen mit Paul und ihrer Traurigkeit besteht. Genauso kann sie von der heiteren, ausgelassenen Stimmung von Peter und Petra ergriffen werden, ohne zuvor wissen zu müssen, worüber sie sich eigentlich amüsieren. Auch im Fall des ›ansteckenden Lachens‹ ist das Lachen des anderen typischerweise nicht das Objekt des eigenen Lachens – das, worüber gelacht wird –, sondern fungiert vielmehr als aktivierender Reiz, vergleichbar einem Kitzeln. Der Umstand, dass diese Gefühlsauslösungen nicht willentlich kontrolliert werden können, kann nach Scheler sogar dazu führen, dass eine besondere Angst vor Gefühlsansteckungen entwickelt wird 149, die sich beispielsweise in der Vermeidung trauriger Musik oder geselliger, lustiger Orte zeigt. Umgekehrt kann diese ansteckende Wirkung von Gefühlszuständen jedoch auch gezielt genutzt werden, um eigene unliebsame Gefühlslagen zu verändern und zum Beispiel die eigene Traurigkeit zu vertreiben. 150 Ein besonderes Charakteristikum der Gefühlsansteckung ist allerdings das Phänomen der gegenseitigen Verstärkung. So kann es nämlich zu wechselseitigen Rückansteckungen kommen, die mit einer zunehmenden Steigerung der jeweiligen Gefühle einhergehen. Für Scheler liegt in diesem Effekt die Möglichkeit begründet, dass eine ganze Menschenmasse in eine unbändige emotionale Erregung gerät und dabei »über die Inten146 147 148 149 150

GW 7, S. 26. Vgl. GW 7, S. 26. Vgl. GW 7, S. 26 f. Vgl. GW 7, S. 28. Vgl. GW 7, S. 27 f.

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tionen aller Einzelnen so leicht herausgerissen wird und Dinge tut, die keiner ›will‹ und ›verantwortet‹« 151. Ein Problem, das ich an dieser Stelle kurz anreißen will, betrifft die Kategorie des Gefühlszustandes. Im Grunde werden Gefühlszustände Scheler zufolge immer durch ein Reizobjekt hervorgerufen und sind – für sich betrachtet – ›wertblind‹. 152 So erfasst das sinnliche Gefühl, das im Fuß lokalisierbar ist, nachdem ich gegen das Tischbein getreten bin, selbst keine Werte. Ein so verstandener Gefühlszustand könnte meines Erachtens allerdings noch nicht einmal ein Schmerz sein, wie Scheler behauptet 153, sondern lediglich ein Körperzustand, der Träger negativer Werte (»unangenehm«) sein könnte, die sich wiederum in einem intentionalen Schmerzgefühl erschlössen. Noch deutlicher wird die Problematik des Gefühlszustandes bei der Gefühlsansteckung. Hier werden Gefühlszustände nicht durch physische Reizgegenstände, sondern durch andere Gefühlszustände verursacht. Auch in diesem Fall sollte das eigene Gefühl also keine Werte erfassen, sondern lediglich durch den fremden Gefühlszustand ausgelöst werden. Insofern Scheler dabei vor allem von Gefühlszuständen wie Traurigkeit oder Freude spricht, scheint er jedoch primär Gefühle zu meinen, die er andernorts als emotionale Antwortsreaktionen bezeichnet und die, wie wir gesehen haben, Reaktionen auf Werte darstellen sollen. 154 Die Frage wäre nun, wie eine fremde Reaktion auf bestimmte Werte ohne einen eigenen intentionalen Bezug auf diese Werte auf uns übertragen werden kann. Wie ist eine reine Kausierung eines eigenen Gefühls durch ein fremdes überhaupt möglich und wie kann ein Gefühl kausiert werden, das in irgendeiner Weise auf Werte bezogen ist? Zumindest in Hinsicht auf die Kategorie des zuständlichen Gefühls beziehungsweise der emotionalen Antwortsreaktionen besteht mithin eine erhebliche Unklarheit. Meines Erachtens weist sie auf ein grundlegendes Problem in Schelers Emotionstheorie hin, die zuständliche strikt von intentionaler Emotionalität trennt. 155

GW 7, S. 26. Vgl. unter anderem GW 2, S. 262, 335 ff. 153 Vgl. unter anderem GW 2, S. 261 f. 154 Vgl. GW 2, S. 264; siehe Kapitel 2.2.1. 155 In der späteren Diskussion von Liebe und Hass schließe ich mich daher in einigen emotionstheoretischen Grundbegriffen nicht direkt an Scheler an; siehe Kapitel 2.6.1. 151 152

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Sympathische Gefühle

2.3.5 Einsfühlung Die Einsfühlung gehört zwar, wie die Gefühlsansteckung, nicht zu den sympathischen Fühlfunktionen und -akten selbst, dennoch bildet diese Fähigkeit für Scheler die fundamentale Grundlage für jede mögliche Form von Mitgefühl und Verstehen. 156 Durch sie sind wir in unserem Nachfühlen und Mitfühlen von emotionalen Erlebnissen anderer nicht nur auf zuvor selbst erlebte Gefühle beschränkt, sondern prinzipiell auch in der Lage, echte fremde Gefühle mitzuerleben. Mit dem Terminus Einsfühlung bezeichnet Scheler das Phänomen der unbewussten Identifizierung des eigenen Ich mit einem fremden Ich, die eine Art »Grenzfall der Ansteckung« 157 darstellt und im Wesentlichen in drei Varianten auftreten kann. So kann es einmal zu einer solchen Einssetzung kommen, indem das Ich des anderen vollständig in das eigene Ich aufgenommen wird. Das Subjekt macht sich hier das Erleben des anderen zu eigen und füllt sein IchBewusstsein mit den fremden Erlebnisinhalten. Ein solcher Fall liegt zum Beispiel vor, wenn sich Kinder mit den Figuren eines Theaterstücks oder Ähnlichem identifizieren und jedes Unglück oder jede ihrer Freuden selbst mitleben. 158 Auch der Mutterinstinkt – die fürsorgliche Hingabe an das Kind, das intuitive Wissen um seine Bedürfnisse – beruht für Scheler auf einer besonderen Einsfühlung der Mutter mit dem Kind, die ihren Ursprung in der vorgeburtlichen Einheit hat. 159 Eine emotionale Identifizierung kann außerdem stattfinden, indem das eigene Ich durch ein fremdes Ich gewissermaßen beherrscht, in Besitz genommen wird. In diesem Fall wird nicht nur das eigene Ich-Bewusstsein mit fremden Erlebnisinhalten ausgefüllt, sondern das Ich-Bewusstsein selbst wird durch das fremde ersetzt. Dieser vielleicht eher als Besessenheit zu charakterisierende Identitätsverlust kann unter anderem bei Persönlichkeitsstörungen auftreten – etwa wenn sich jemand für Napoleon oder König Ludwig XIV. hält. 160

156 Dieser Fühlform widmet sich Scheler allerdings erst in der zweiten und deutlich erweiterten Auflage der Sympathieschrift, die neun Jahre nach der ersten erschien. 157 GW 7, S. 29. 158 Vgl. GW 7, S. 35. 159 Vgl. GW 7, S. 37 ff. 160 Vgl. GW 7, S. 35 f.

Liebe und Hass

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Phänomenologie der Liebe

Scheler nennt hier aber auch die Beispiele der religiösen Ekstase und der Hypnose. 161 Den dritten Typus der Einsfühlung sieht Scheler im »gegenseitige[n] Verschmelzungsphänomen« 162. Dabei kommt es letztlich zur Auslöschung sowohl des eigenen als auch des fremden Ich-Bewusstseins, die »in einen Lebensstrom« 163 eingehen, ohne dass ein gemeinsames Wir-Bewusstsein erlangt wird. Abgesehen vom naheliegenden Bereich der sexuellen Vereinigung kann diese Art der Einsfühlung auch bei Massenbewegungen auftreten, in denen die einzelnen Individuen ihr Ich-Bewusstsein verlieren und von kollektiven Affekten geleitet werden (zum Beispiel bei einem Pop-Konzert). 164 Diese Fähigkeit der emotionalen Identifizierung steht für Scheler zugleich am Anfang der Entwicklung des einzelnen Menschen wie am Beginn der Entwicklungsgeschichte der ganzen Menschheit. In späteren Entwicklungsstadien wird sie allerdings zunehmend von den distanzierteren Funktionen des Nachfühlens und Mitfühlens abgelöst. 165

2.3.6 Liebe und die Ordnung der Sympathie Im Unterschied zu den bisher besprochenen sympathischen Fühlformen weist die Liebe – ebenso wie der Hass – keinerlei Funktionscharakter auf 166: Sowohl das Nachfühlen als auch das Mitgefühl und das Miteinanderfühlen sind für Scheler zunächst grundständige Funktionen, auf die jeweils konkrete Nachfühl- oder Mitfühlakte aufbauen. Die Liebe ist dagegen ausschließlich ein geistiger Akt und insofern eher als eine »Bewegung des Gemüts« 167 zu verstehen. Sie kann sich zudem frei und spontan auf ihre Objekte richten, während jedes Mitgefühl immer eine Reaktion auf ein vorgefundenes fremdes Gefühl oder einen Wertverhalt darstellt. Darüber hinaus ist die Liebe nicht

161 162 163 164 165 166 167

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Vgl. GW 7, S. 31. GW 7, S. 36. GW 7, S. 36. Vgl. GW 7, S. 36 f. Vgl. GW 7, S. 42 f. Vgl. GW 7, S. 146. GW 7, S. 147.

SYMPOSION

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Sympathische Gefühle

auf das Glück oder Unglück, Wohl oder Leid des anderen ausgerichtet, sondern auf seine Person. 168 Scheler schließt damit nun zunächst einmal aus, dass die Liebe selbst zu den sympathischen Funktionen und Akten gehört und zum Beispiel nichts weiter als eine besondere Form von Mitgefühl sein beziehungsweise sich aus dem Mitgefühl entwickelt haben könnte. Zur Sympathie im engeren Sinne zählen, so können wir fürs Erste zusammenfassen, lediglich die Mitgefühle – Mitfreude und Mitleid – sowie das Miteinanderfühlen. 169 Dennoch geht Scheler grundsätzlich davon aus, dass sämtliche genannten Fühlformen und die Liebe nicht einfach unverbunden koexistieren, sondern in ihrer Entstehung aufeinander aufbauen – weshalb er den Begriff »Sympathie« später häufig im weiteren Sinne als Sammelbegriff für alle diese emotionalen Phänomene verwendet. Die Frage, wie die Fundierungsordnung der Sympathie genau aussieht, ist jedoch nicht so leicht zu beantworten, da mindestens zwei Versionen dieser Ordnung in der Sympathieschrift zu finden sind. Ich versuche im Folgenden eine chronologische Rekonstruktion: Laut der ersten Auflage (1913) geht das Nachfühlen jedem Mitfühlen voraus. 170 Gleichzeitig ist das Mitfühlen aber auch im Lieben fundiert, was Scheler unter anderem damit begründet, dass wir nicht nur zu mehr Mitgefühl fähig sind, wenn wir lieben, sondern es uns geradezu unmöglich ist, mit jemandem nicht mitzufühlen, den wir lieben. 171 Wie sich Nachfühlen und Lieben zueinander verhalten, bleibt dagegen offen. In der zweiten Auflage (1922) ergänzt Scheler die Fühlform der Einsfühlung und widmet sich außerdem einer ausführlicheren Darstellung der Fundierungsgesetze der Sympathie 172: Auch in dieser wird das Mitfühlen durch das Nachfühlen fundiert, allerdings erhält das Nachfühlen selbst eine Fundierung in der ursprünglicheren Funktion der Einsfühlung. Interessanter wird es mit der Liebe. Im Gegensatz zur ersten Auflage sieht Scheler hier die LieVgl. GW 7, S. 145. Angelika Krebs zählt hierzu ferner die Gefühlsansteckung und die Einsfühlung, die für Scheler, wie gesehen, keine echten Mitfühlphänomene sind; vgl. Krebs (2010b): »›Vater und Mutter stehen an der Leiche eines geliebten Kindes‹ – Max Scheler über das Miteinanderfühlen«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 35/1 (2010), S. 12–21. 170 Vgl. GW 7, S. 19 ff. 171 Vgl. GW 7, S. 147 f. 172 Vgl. im Folgenden GW 7, S. 105–111. 168 169

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Phänomenologie der Liebe

be ihrer Entstehung nach im Mitgefühl fundiert, wobei er zudem zwei Liebesformen unterscheidet, von denen zuvor keine Rede war: die allgemeine Menschenliebe und die rein geistige Person- und Gottesliebe. Die Liebe zu einem Menschen als Mensch oder auch zur ganzen Menschheit fordere – so jetzt die Begründung – die ›Realisierung‹, die Realhaltung des anderen, da nur ein für real gehaltenes Objekt Gegenstand der Liebe werden könne. Diese Realhaltung des anderen Menschen oder der Menschheit als Ganzer wird für den späteren Scheler jedoch im Mit- oder Miteinanderfühlen vollzogen, insofern wir denjenigen, mit dem wir mitfühlen, notwendig für real halten müssen. 173 Obwohl Scheler kritisiert, dass die Idee der Menschenliebe häufig auf Basis eines Ressentiments instrumentalisiert und fälschlicherweise der Person- und Gottesliebe an Wert übergeordnet werde 174, betont er: Die Menschenliebe selbst ist eine im Wesen des Menschen als ideale Möglichkeit angelegte Form der Liebesemotion, die ihrem Wesen und ihrer Richtung nach positiv ist, sowohl in Hinsicht auf ihren Ursprung als in Hinsicht auf ihren Wert. 175

Von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass Scheler die Menschenliebe nicht nur als echte Liebesform betrachtet, sondern in ihr zugleich die Möglichkeitsbedingung für die Entwicklung der höheren Personund Gottesliebe sieht. 176 Mag die Begründung der Menschenliebe im Mitgefühl noch plausibel erscheinen – die Notwendigkeit einer voll entwickelten Menschenliebe, bevor die Liebe zu einer individuellen Person einsetzen kann, bleibt meines Erachtens unverständlich. Scheler bietet zu dieser Fundierung im Wesentlichen drei Erklärungen an. Die erste ist genau genommen keine Erklärung, sondern eine anschauliche Darstellung der Entwicklung der Personliebe: Der Grund für dieses Fundierungsgesetz ist, daß […] die Person (ihre rein noetischen Akte und deren Aktsinn) einem anderen (durch rein geistiges Sinnverstehen) nur zur Gegebenheit kommen kann, wenn die dem eigenen Vgl. GW 7, S. 107 f. In seiner zehn Jahre zuvor verfassten Ressentimentschrift fällt diese Kritik noch vehementer aus; vgl. Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (1912), in: Gesammelte Werke, Bd. 3: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, hg. von Maria Scheler, 5. Aufl., Bern: Francke 1972 (= GW 3), S. 96–114. 175 GW 7, S. 109. 176 Vgl. GW 7, S. 109. 173 174

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SYMPOSION

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Sympathische Gefühle

Vitalich gleiche Realhaltung des anderen Vitalich […] durch Mitgefühl bereits vollzogen ist und die auf es aufgebaute spontane Menschenliebe in immer weitere Tiefenschichten vordringt – bis zu dem Punkte gleichsam, wo Personsein im Menschen beginnt. 177

Schelers Idee von einem quasi zwiebelartigen Aufbau des Menschen ist uns bereits beim Schichtenmodell der menschlichen Emotionalität begegnet. 178 Ein ähnliches Bild verwendet er nun, um zu zeigen, warum Personliebe in Menschenliebe fundiert sein müsse: Demnach ist die Person im Menschen wie in einem Gefäß enthalten beziehungsweise auf irgendeine Weise verborgen, sodass die Liebe – als Menschenliebe – erst diese Hülle durchdringen muss, bevor sie sich – als Personliebe – auf die Person richten kann. Wie Scheler sich dies genau vorstellt, bleibt allerdings äußerst unklar. So stellt sich die Frage, inwiefern überhaupt sinnvoll davon geredet werden kann, selbst nur als Gleichnis, dass die Person oder das Personsein einen ›Ort‹ im Menschen habe: Wo würde der Mensch aufhören, wo die Person beginnen? Wäre die Personliebe dann lediglich eine Form, eine Weiterentwicklung der Menschenliebe? Und warum sollte schließlich die Menschenliebe die Voraussetzung der Liebe zur Person Gottes sein, der offenbar über keine menschliche ›Hülle‹ verfügt? Die zweite Erklärung zur Fundierung der Personliebe ist zwar kein Gleichnis, funktioniert aber nur unter der Voraussetzung des von Scheler hier anvisierten christlichen Liebesbegriffes: Damit die Liebe eines Subjekts jede individuelle Person erfassen könne, wie es nach Schelers Verständnis im Wesen der christlichen Personliebe liegt, müsse ihr eine allgemeine Menschenliebe vorausgehen, die keine Wertunterschiede zwischen den Menschen mache und sie nicht in Freund und Feind, das heißt in potenzielle Liebes- und Hassobjekte spalte. Durch eine solche Spaltung würde immerhin ein Teil der Menschheit als mögliches Objekt der Personliebe ausfallen. 179 GW 7, S. 109. Siehe Kapitel 2.2.2. 179 Vgl. GW 7, S. 109 f. Auch wenn Schelers Fundierungsversuch insgesamt fragwürdig ist und ich darin der Kritik von Ute Kruse-Ebeling zustimme, ist ihr Einwand, dass sich die Personliebe von der »oberflächlichen« Kategorie des Feindes kaum abhalten lasse, meines Erachtens irrelevant: Ein Feind ist ein Hassobjekt und dieses wird eben gehasst und nicht geliebt; vgl. Kruse-Ebeling (2009): Liebe und Ethik. Eine Verhältnisbestimmung ausgehend von Max Scheler und Robert Spaemann, Göttingen: V & R Unipress 2009, S. 191. Viel entscheidender ist doch die Frage, was es überhaupt heißen kann, jemanden ›nur‹ als Menschen zu lieben und gerade nicht als Individu177 178

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Phänomenologie der Liebe

Die interessanteste, darum aber nicht weniger problematische Erklärung der Fundierungsordnung ist sicherlich die dritte 180: Um eine Person lieben zu können, ist es nach Scheler notwendig, dass sich diese Person dem Liebenden öffnet, sich ›zu erkennen‹ gibt – sie kann sich stattdessen nämlich auch verbergen und verschließen. Ob eine Person von einer anderen geliebt werden kann, hängt, mit anderen Worten, also davon ab, ob sie sich lieben lässt. Eine solche Öffnung setzt für Scheler hier nun wiederum voraus, dass der als Person zu Liebende bereits als Mensch geliebt wird. Erst diese Basis biete die Möglichkeit, dass er sich überhaupt als individuelle Person ›offenbart‹. Doch sehr viel überzeugender ist diese dritte Begründung meines Erachtens nicht, da Scheler nicht ganz verständlich machen kann, warum eine Selbstoffenbarung als individuelle Person das Geliebtwerden als ein bloßes »›Exemplar‹ des Menschen« 181 voraussetzen sollte. Immerhin ließe sich die Erklärung »Ich liebe dich als Mensch« auch als eine Zurücksetzung seiner besonderen Person verstehen – dieser Meinung ist Scheler im Übrigen noch selbst in der ersten Ausgabe der Sympathieschrift, in der er das Mitgefühl in der Liebe fundiert: Nicht ›Mitleid – als solches – ist gegen die Scham‹, wie Nietzsche sagt, sondern das Mitleid ohne Liebe zu dem, der bemitleidet wird. Das einzige, was Mitleid erträglich macht, ist die Liebe, die es verrät. Im anderen Falle fühlt der Bemitleidete, daß die Liebe […] gar nicht auf ihn in concreto geht, sondern auf einen allgemeinen Gegenstand, wie z. B. die Menschheit, seine Familie, sein Land, seine Zugehörigkeit zu einer Klasse. […] Darum sehen wir auch, daß jedes Äußern von Mitleid ohne Liebe zu einer Person auch von dem Mitleidigen – einer feineren sittlichen Empfindung – selber als eine Brutalität empfunden wird. 182

Dem Interpreten stellt sich jetzt vor allem das Problem, dass die Kapitel, die Scheler später in den Text der ersten Ausgabe eingefügt hat, mehr oder weniger unkommentiert neben den alten stehen. 183 Daraus ergeben sich zwei mögliche Fundierungsordnungen, die in der folgenden Darstellung kurz zusammengefasst werden:

um, zumal für Scheler, wie sich noch herausstellen wird, die Liebe wesentlich auf Individuen gerichtet ist; siehe Kapitel 2.4.1. 180 Vgl. GW 7, S. 110. 181 GW 7, S. 110. 182 GW 7, S. 148. 183 Kruse-Ebeling konzentriert sich beispielsweise auf die Fundierungsordnung der zweiten Auflage; vgl. Kruse-Ebeling (2009), S. 173–195.

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Liebe

Fundierungsordnung 1 (1.Aufl.)

Fundierungsordnung 2 (2.Aufl.) Personliebe Menschenliebe

Mit- und Miteinanderfühlen

Liebe

Mit- und Miteinanderfühlen Nachfühlen

Liebe Nachfühlen Einsfühlung

Insofern das Hauptinteresse meiner Untersuchung dem Phänomen der Liebe selbst gilt, soll an dieser Stelle nicht für oder gegen eine der beiden Fundierungsordnungen argumentiert werden. Allerdings hoffe ich in den folgenden Ausführungen plausibel machen zu können, inwiefern das ›spontane‹ Miteinanderfühlen, das keine von vornherein geteilten Werte voraussetzt 184, nur in einer wechselseitigen persönlichen Liebe möglich ist. 185

2.4 Liebe 2.4.1 Das Phänomen Bisher hatten wir gesehen, dass Scheler die Liebe als einen spontanen geistigen Akt charakterisiert, womit er sie einerseits von zuständlichen Gefühlen wie sinnlichen Gefühlen und emotionalen ›Verhaltungsweisen‹ beziehungsweise ›Antwortsreaktionen‹ auf Werte abgrenzt. Andererseits unterscheidet er sie von den intentionalen Funktionen des Wertfühlens und Mitfühlens und den darauf aufbauenden Werterkenntnis- und Mitfühlakten. 186 Die Liebe besteht nach Scheler mithin weder in einem einfachen Gefühlszustand oder Mit184 185 186

Siehe Kapitel 2.3.3.; vgl. GW 7, S. 24. Siehe vor allem Kapitel 2.6.2. Siehe Kapitel 2.2.1 & 2.3.6; vgl. GW 7, S. 150–153; GW 2, S. 266 f.

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Phänomenologie der Liebe

gefühl noch in einer Reaktion auf Werte oder einer Werterkenntnis. Um ein erstes Verständnis zu erhalten, was sich Scheler stattdessen unter der Liebe vorstellt, betrachten wir zunächst die vermutlich bekannteste Beschreibung des Liebesphänomens, die er in seiner Sympathieschrift gibt: Liebe ist die Bewegung, in der jeder konkret individuelle Gegenstand, der Werte trägt, zu den für ihn und nach seiner idealen Bestimmung möglichen höchsten Werten gelangt; oder in der er sein ideales Wertwesen, das ihm eigentümlich ist, erreicht […]. 187

In dieser Definition (Liebe 1) fasst er sehr knapp folgende zentrale Bestimmungen seines Liebesbegriffs zusammen: (1) Der Akt der Liebe richtet sich auf Gegenstände, die Werte tragen – das heißt auf Wertgegenstände. (2) Der Akt der Liebe richtet sich auf konkrete Individuen – das heißt auf erlebbare Einzeldinge. (3) Der Akt der Liebe ist eine Bewegung, in der sich eine Werterhöhung beziehungsweise Wertmaximierung vollzieht. (4) Jeder Wertgegenstand hat eine eigene ideale Bestimmung oder ein ideales Wertwesen, die oder das er im Akt der Liebe – das heißt als Liebesobjekt – erreicht. Für die Frage, was Liebe denn nun eigentlich ist, haben wir damit eine vorläufige Antwort gefunden: Sie ist ein Akt der Werterhöhung, durch den der geliebte Wertgegenstand sein ideales Wertwesen erlangt. Aber auch für die Frage, worauf sich der emotionale Akt der Liebe richtet, haben wir bereits eine erste Antwort erhalten: Bei den Objekten der Liebe handelt es sich um Wertgegenstände. Im Folgenden werden wir nun versuchen, beide Antworten besser zu verstehen.

2.4.2 Das Objekt Bevor allerdings verständlicher wird, was es heißen soll, dass der Akt der Liebe auf Wertgegenstände gerichtet ist, müssen wir vorerst klären, was diese eigentlich sind: Wertgegenstände sind für Scheler alle Gegenstände, die neben physischen Eigenschaften auch evaluative Eigenschaften aufweisen, wie etwa eine Kaffeetasse, die nicht nur be187

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GW 7, S. 164; hier ohne Kursivierung zitiert.

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Liebe

stimmte Maße und ein bestimmtes Gewicht und Ähnliches hat, sondern aus der sich außerdem gut Kaffee trinken lässt, weil sie zum Beispiel angenehm in der Hand liegt. Nach Scheler besteht die Welt, in der wir Menschen leben, im Grunde ausschließlich aus solchen werttragenden Gegenständen, die er auch allgemein als Sachen bezeichnet. 188 Wenn wir von diesen Sachen die Wertseite gewissermaßen abschneiden, erhalten wir das, was Scheler die puren Dinge nennt – natürliche Dinge, die letztlich nichts weiter als dinghafte Ansammlungen physischer Eigenschaften sind. Dagegen gewinnen wir die puren Güter, wenn wir von dieser Dingnatur der Wertgegenstände absehen und ihre Werte als selbstständige Einheiten fassen. Beide Gegenstandsarten, pure Güter und pure Dinge, kommen nach Scheler jedoch höchstens in der philosophischen beziehungsweise naturwissenschaftlichen Anschauung vor. In unserer ›natürlichen‹ Anschauung haben wir es hingegen stets mit Wertgegenständen zu tun. 189 Gut (z. B. »Kunstwerk«)

Werte Wertgegenstand (z. B. »Bild«) physische Eigenschaften

physisches Ding (physikalische Größen, chemische Zusammensetzung …)

Was bedeutet es aber, dass der Akt der Liebe auf solche Wertgegenstände gerichtet ist? Zunächst einmal bedeutet es, dass er weder auf physische Eigenschaften noch, wie das Wertfühlen und seine Akte, auf die Werte selbst gerichtet ist. Scheler betont: »Ich ›liebe‹ keinen Wert, sondern immer etwas, das werthaltig ist.« 190 Außerdem ist damit ebenfalls gesagt, dass prinzipiell alle Gegenstände, die Werte tragen, zu Liebesobjekten werden können. Allerdings können sich die Menschen in ihrem Vermögen, Werte zu fühlen, durchaus unterscheiden. So prägt sich die Wertwahr188 189 190

Vgl. GW 2, S. 41–44. Vgl. GW 2, S. 44. GW 7, S. 151.

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Phänomenologie der Liebe

nehmung des einzelnen Menschen in erster Linie danach aus, welche Werterfahrungen er durch das Aufwachsen in einer bestimmten Familie, Gesellschaft, Kultur oder Epoche am Beginn seines Lebens gemacht hat 191: Scheler zufolge werden nämlich die Wertgegenstände, die einem Menschen in früher Kindheit begegnen, vor allem durch die Orientierung an Vorbildern wie Vater und Mutter, funktionalisiert – das heißt, sie fungieren für seine möglichen zukünftigen Werterfahrungen als Anschauungsform: Erfahrung eines Wertwesens oder eines Wertverhaltswesens, je früher sie stattfindet, hat in sich eine vital notwendige Tendenz, für alle fernere mögliche Realerfahrung von Gütern überhaupt die Dignität und Wirksamkeitsform einer echten Kategorie anzunehmen […]. [Es] fungiert […] nicht als das, was es ist: als einzelner Gehalt der Lebenserfahrung, sondern ›wie eine‹ Kategorie, ›wie ein‹ Aktapriori, ›wie eine‹ Form des Erfahrens. 192

So hat Peter in seiner Kindheit vielleicht niemanden in seinem Umfeld, der ihn an Kunstgegenstände heranführt, entwickelt als Musikerkind aber ein gutes musikalisches Gehör und eine Vorliebe für klassische Klaviermusik. Kunstvolle Gemälde werden damit in seiner Werterfahrung von deutlich geringerer Bedeutung sein als etwa Klavierkonzerte, an denen er eine ungleich größere Wertvielfalt wahrzunehmen imstande ist. Aufgrund der speziellen Wertprägungen, die wir früh in unserem Leben erhalten haben, kann die Welt für uns also jeweils unterschiedliche Wertgegenstände und Güter enthalten – und nur ein Gegenstand, der für uns fühlbare Werte trägt, kann zu einem Objekt unserer Liebe werden.

2.4.3 Werterhöhung Obschon die Werte eines Wertgegenstands nun nicht selbst das Objekt der Liebe sind, so spielen sie doch eine entscheidende Rolle, da sie es sind, mit denen im Liebesakt etwas passiert: Sie werden, wie ge191 Siehe zu den historischen und kulturellen Variationen der Wertschätzungen unter anderem GW 2, Kapitel V, 6. 192 Scheler (1915–16): Absolutsphäre und Realsetzung der Gottesidee, in: GW 10, S. 223 f. Siehe auch die Begriffe Umwelt/Milieu und Schicksal in seiner Schrift Ordo Amoris (1914–16), mit denen Scheler die Relativität der Werterfahrung in eine räumliche und eine zeitliche Dimension differenziert; vgl. GW 10, S. 348–355. Weitere Ausführungen folgen in Kapitel 2.5.2.

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Liebe

sagt, erhöht. Um dies besser zu verstehen, sehen wir uns eine weitere Definition (Liebe 2) von Scheler an: Liebe ist […] die intentionale Bewegung, in der sich von einem gegebenen Werte A eines Gegenstandes her die Erscheinung seines höheren Wertes realisiert. 193

Das heißt: (1) Die Liebe ist eine intentionale Bewegung: Sie ist kein passiver Zustand, sondern eine auf ein Objekt gerichtete aktive Bewegung. (2) Die Bewegung setzt bei dem gegebenen Wert des geliebten Gegenstands an, also bei dem Wert, der zuvor durch das Wertfühlen erfasst worden ist. (3) Im Verlauf der Bewegung erscheint der höhere Wert dieses Gegenstands. Die Formulierung »von einem gegebenen Werte A« ist durchaus missverständlich, denn hiermit ist nicht ein einzelner, spezifischer Wert des Liebesobjekts gemeint, sondern sein Wertgehalt überhaupt. Da sich die Liebe auf Wertgegenstände und nicht auf Werte richtet und mithin keine Werte erfasst, kann sie ebenso wenig einen besonderen Wert des Objekts auswählen und erhöhen, sondern muss alle jeweils gefühlten Werte umfassen. Punkt (2) expliziert nochmals, was wir zuvor bereits sahen: nämlich dass der Akt der Liebe grundsätzlich vom Wertfühlen abhängig ist, insofern das Liebessubjekt notwendigerweise zunächst Werte am Objekt wahrnehmen muss, bevor es sie erhöhen kann. Zu Punkt (3) können wir anhand des vorherigen Zitats noch ergänzen, dass die Liebe nicht bei irgendeiner höheren Wertstufe ihres Gegenstands stehen bleibt, sondern nichts anderes als dessen ideales Wertwesen zum Vorschein bringt. Doch wie läuft dies ab? Wir haben gesehen, dass die Liebe selbst keine Werte erfassen kann und dass sich der höhere Wert des Liebesobjekts erst in ihrer Bewegung zeigt, also vorher nicht fühlbar gegeben ist. 194 Die Liebe kann folglich auch nicht auf diesen höheren Wert gerichtet sein. Scheler bestimmt den Akt der Liebe stattdessen als eine »Bewegung

193 194

GW 7, S. 156. Vgl. GW 7, S. 161.

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Phänomenologie der Liebe

in der Richtung ›niederer Wert → höherer Wert‹« 195 oder zum »Höhersein eines Wertes« 196. Da jeder Wert für Scheler einen festen Platz innerhalb einer unveränderlichen Rangordnung einnimmt 197, kann damit allerdings nicht gemeint sein, dass die vorhandenen Werte des Objekts lediglich ›aufgewertet‹ werden und dieselbe Wertqualität nur mit einem höheren Wertrang versehen wird – sodass zum Beispiel die nicht besonders schöne blaue Farbe einer oft benutzten Kaffeetasse plötzlich einfach besser gefällt. Vielmehr ist Schelers einigermaßen kryptische Formulierung so zu verstehen, dass die Liebe durch das »Transzendieren der gegebenen positiven Werte in die Richtung ›höher‹« 198 echte neue Wertqualitäten am Gegenstand erscheinen lässt. Sie schafft um die gefühlten Werte herum – gewissermaßen entlang dem Profil des gegebenen individuellen Wertgehalts – einen Möglichkeitsraum, in dem für das Wertfühlen neue, höhere Werte auftauchen können. Mit anderen Worten: Sie weitet die Grenzen des Wertfühlens, sodass es über die bisher gegebenen Werte hinaus das ideale Wertwesen des Liebesobjekts erfassen kann. 199 Im Akt der Liebe wird mithin nicht der Wertgehalt, sondern die Wertwahrnehmung eines Gegenstands verändert und um neue Werte bereichert. Bisher haben wir die werterhöhende Liebe als einen sekundären Akt kennengelernt, der auf das primäre Wertfühlen aufbaut. Immer wieder jedoch betont Scheler gerade auch die fundierende Rolle der Liebe für das Wertfühlen: Aber ich meine, daß […] dieser Akt vielmehr die eigentlich entdeckerische Rolle in unserem Werterfassen spielt – und daß nur er sie spielt –, daß er gleichsam eine Bewegung darstellt, in deren Verlauf jeweilig neue und höhere, d. h. dem betreffenden Wesen noch völlig unbekannte Werte aufleuchten und aufblitzen. Er folgt also nicht dem Wertfühlen und Vorziehen, sondern schreitet ihm als sein Pionier und Führer voran. 200

Scheler beschreibt hier ein Phänomen, das als durchaus typisch für die Liebe gelten kann: das Phänomen nämlich, dass dem Liebenden das Objekt seiner Liebe irgendwie wertvoller erscheint als zuvor oder als anderen. Auch machen wir häufig die Erfahrung, dass wir in der 195 196 197 198 199 200

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GW 7, S. 159. GW 7, S. 161. Vgl. unter anderem GW 2, S. 104 ff., 122–126. GW 7, S. 194. Vgl. GW 2, S. 266 f. GW 2, S. 266 f.

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Folge unserer Liebe sensibler für ›neue‹ Werte werden, das heißt für Werte, die uns zuvor entweder völlig unbekannt waren oder die zumindest bislang keine besondere Rolle in unserem Leben gespielt haben. So kann uns die Liebe zu einer Person beispielsweise dazu anregen, neue Interessen zu entwickeln oder neue Hobbys zu entdecken. Umgekehrt verdanken wir unsere Vorliebe etwa für einen Komponisten oder ein Instrument nicht selten einer früheren, initialen Leidenschaft für ein bestimmtes Musikstück. Die Annahme, dass jede unserer Werterfahrungen durch eine ursprünglichere Liebe bedingt sei, scheint nun allerdings nicht nur unplausibel zu sein – im Normalfall können wir Werte an einem Objekt wahrnehmen, ohne es erst lieben zu müssen oder irgendwann einmal einen ähnlichen Wertgegenstand geliebt zu haben –, sondern sie würde uns direkt in einen Fundierungszirkel führen. Da sich die entdeckerische Funktion der Liebe nicht von der Hand weisen lässt, kann jedoch zumindest in dem Sinne von einer fundierenden Rolle der Liebe für das Wertfühlen gesprochen werden, dass sie durch die Transzendenz der bereits gefühlten Werte verschiedene neue Wertfühlakte ermöglicht, welche die Grenzen des gewöhnlichen Wertfühlens erweitern.

2.4.4 Empirische und ideale Werte Zu klären bleibt noch, was es mit diesem idealen Wertwesen des Liebesobjekts auf sich hat. Was ist darunter zu verstehen und was haben diese idealen Werte mit jenen zu tun, die normalerweise (ohne Liebe) an dem Objekt gefühlt werden können? Wird ein Objekt in der Liebe vielleicht wertvoller gemacht, als es ist? Versuchen wir, diese Fragen zunächst wieder von Scheler beantworten zu lassen (Liebe 3): Insofern zeichnet die Liebe der empirisch gegebenen Person immer ein ›ideales‹ Wertbild gleichsam voraus, das dennoch zugleich als ihr ›wahres‹ und ›wirkliches‹, nur noch nicht im Fühlen gegebenes echtes Dasein und Wertsein in einem erfaßt ist. Dieses ›Wertbild‹ ist wohl in den empirisch im Fühlen schon gegebenen Werten ›angelegt‹ […], aber es ist gleichwohl nicht darin empirisch ›enthalten‹, es sei denn als ›Bestimmung‹ und objektiv idealische Forderung, ein noch schöneres und besseres Ganzes zu werden. 201

201

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Die Antwort auf die letzte Frage wurde hiermit schon deutlich formuliert: Das Liebesobjekt – hier die Person – wird nicht wertvoller gemacht, als es sonst ist, sondern es ist im Gegenteil wertvoller, als es sonst erscheint. Das ideale Wertwesen – oder, wie es hier heißt, Wertbild – ist das ›wahre‹, ›wirkliche‹ Wertwesen des Liebesobjekts, das in jenen Werten, die wir auch ohne Liebe an ihm wahrnehmen können, bereits ›enthalten‹, allerdings noch nicht fühlbar ist. Der empirische Wertgehalt und das ideale Wertwesen sind also nicht zwei völlig verschiedene, unabhängige Wertseiten des Objekts, sodass es einmal diese und einmal jene Werteigenschaften aufweist, etwa einmal hässlich und einmal schön ist. Für Scheler ist das ideale Wertbild vielmehr schon keimhaft in den aktuell gefühlten Werten ›angelegt‹ – sie tragen es gewissermaßen als Entwicklungsmöglichkeit und ›Bestimmung‹ des Objekts in sich. Die empirischen Werte eines Objekts können somit wie Punkte angesehen werden, die sich erst im Laufe der Liebesbewegung als Anfangspunkte von Vektoren entpuppen. Mit diesen sind jedoch zwangsläufig zugleich die Endpunkte der Vektoren (als ›Entwicklungsmöglichkeit‹ der Anfangspunkte) gesetzt, die schließlich das ideale Wertbild ergeben. Doch was kann es genau heißen, dass ein Wert (B) in einem anderen Wert (A) ›angelegt‹ ist? Verstehen wir dies ontologisch, könnte es heißen, dass aus einem Wert (A) ein zweiter Wert (B) entsteht, sodass wir am Ende zwei Werte (A + B) haben. Damit hätten wir zwar eine Begründung dafür, warum an dem geliebten Objekt mehr Werte erscheinen als an dem ungeliebten, aber keine, die mit Schelers Werttheorie vereinbar wäre. Nach dieser sind Werte apriorischer Natur und können nicht erschaffen oder vernichtet werden, weder entstehen noch vergehen und ebenso wenig sich verändern oder weiterentwickeln 202: Wert (B) kann daher auch nicht so etwas wie ein modifizierter Wert (A) sein. Eine zweite, epistemologische Deutung wäre folgende: Ein Wertgegenstand verfügt über ein (ideales) Wertwesen, das vom Subjekt im Allgemeinen nicht in seiner Totalität wahrgenommen werden kann. Dem normal wertfühlenden Subjekt ist immer nur ein Ausschnitt oder Grundriss vom Wertwesen des Objekts gegeben (der empirische Wertgehalt), so wie es bei der flüchtigen Betrachtung eines 202 Vgl. unter anderem GW 2, S. 266. Zur Frage, ob in der Liebe neue Werte am anderen erschaffen werden, siehe auch die Diskussion zum Verhältnis von pädagogischer Haltung und Liebe, Kapitel 2.4.5 (d).

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Objekts lediglich einige seiner vordergründigen Eigenschaften erfassen kann: So können wir beispielsweise, wenn wir auf ein Objekt zugehen, vielleicht sehen, dass seine uns zugewandte Seite quadratisch ist; welche Farbe es aber hat oder ob es sich um einen Würfel handelt, einen Quader oder etwas anderes, können wir unter Umständen erst erkennen, wenn wir das Objekt genauer und von allen Seiten betrachten. Die Liebe ließe sich hierbei als derjenige Transzendenzakt verstehen, der einen Blick aus allen Perspektiven gleichzeitig erlaubt und in dieser Weise das Wertwesen des Objekts voll sichtbar macht. Die empirischen Werte des Objekts wären dann im Grunde nur jenes Ende seines Wertwesens, das uns in der gewöhnlichen Wahrnehmung gegeben ist. Die Formulierung, dass das ideale Wertwesen im empirischen Wertgehalt ›angelegt‹ ist, wäre damit allerdings nicht viel mehr als eine etwas merkwürdige Ausdrucksweise für die schlichte Tatsache, dass die wahrnehmbaren Werte eines Objekts Bestandteile seines gesamten Wertgehalts sind. Obwohl diese Augenöffner-Funktion zweifellos wesentlich für Schelers Liebesbegriff ist, kann sie allein in obigem Zitat daher meines Erachtens nicht gemeint sein. Die Rede von der ›Bestimmung‹, der ›Forderung, ein noch schöneres und besseres Ganzes zu werden‹, impliziert zudem deutlich in irgendeinem Sinne eine Entwicklungsmöglichkeit aufseiten des Objekts. In Bezug auf einen einfachen Gegenstand wie eine blaue Kaffeetasse bleibt eine solche Forderung jedoch äußerst rätselhaft. Worin sollte die ideale Bestimmung einer Kaffeetasse bestehen? Inwiefern kann sie sich zu einem ›besseren Ganzen‹ entwickeln? Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich mit der Relativität beziehungsweise Subjektivität des Wertfühlens. Wie wir oben sahen 203, verfügt nach Scheler jeder Mensch über ein individuelles Wertfühlvermögen, das durch seine Erziehung, seine Vorbilder und Ähnliches geprägt wurde und das bestimmt, welche Werte und Wertgegenstände er normalerweise oder vordergründig wahrnimmt. Der empirische Wertgehalt eines Gegenstands ist mithin stets ein subjektives Wertbild, das sich dem Wertfühlenden aufgrund seiner ihm eigenen Fühlfähigkeiten bietet. Insofern kann ein und derselbe Wertgegenstand für jedes Subjekt einen anderen empirischen Wertgehalt aufweisen. Das ›ideale Wertbild‹ hingegen ist als das wahre und wirkliche Wertwesen eines Gegenstands als objektiv zu denken, als unabhängig von

203

Siehe Kapitel 2.4.2.

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der subjektiven Wahrnehmung des Einzelnen. 204 War es allerdings schon problematisch, zu erklären, wie überhaupt ein Wert A zu einem Wert B erhöht werden kann, lässt sich nun noch schwerer plausibel machen, wie durch die Erhöhung verschiedener subjektiver Wertbilder A und B dasselbe objektive Wertbild C zu erreichen sein soll. Wie zuvor gesehen, könnten wir die subjektiven Wertgehalte A und B einfach als Aspekte des objektiven Wertwesen C verstehen und die Liebe als eine Erhöhungsbewegung, die gewissermaßen die noch nicht erfassten Werte, die der Gegenstand objektiv hat, freilegt. Nehmen wir an, das Wertwesen C besteht genau aus A und B – der Wertgehalt einer blauen Kaffeetasse zum Beispiel aus einer bestimmten Schönheit und Nützlichkeit: Wenn der Ästhet Paul und der Pragmatiker Peter diesen Gegenstand normal betrachten, findet Ersterer ihn vielleicht nur schön und Letzterer nur nützlich. Wird die Kaffeetasse dagegen zum Liebesobjekt von Paul und Peter, würde sich das Wertbild, das beide von ihr haben, jeweils um den Wert der Schönheit beziehungsweise der Nützlichkeit 205 erweitern. In welchem Sinne ließe sich in diesem Modell aber von einer Werterhöhung durch die Liebe sprechen und wie sollte es hier zu verstehen sein, dass die ›neuen‹ Werte in den ›alten‹ angelegt sind? Selbst wenn wir bereit wären, die vollständige Sichtbarmachung des Wertwesens eines Objekts im Liebesakt als eine Werterhöhung aufzufassen, bliebe es vollkommen unklar, inwiefern der Wert des Nützlichen im Wert des Schönen ›angelegt‹ sein sollte oder umgekehrt. Hinzu kommt, dass dieses einfache Erweiterungsmodell auf der Vorstellung basiert, das Wertwesen eines Gegenstands setze sich aus verschiedenen Einzelwerten zusammen wie etwa Schönheit und Nützlichkeit – einer Vorstellung, der Scheler mit der folgenden Behauptung direkt widerspricht:

204 In seinem Aufsatz Ordo Amoris fundiert Scheler das objektive Wertwesen letztlich in der Liebe Gottes; GW 10, S. 356: »Die Ziele und Wesensideen aller Dinge sind ewig in ihm vorgeliebt, vorgedacht.« 205 Ergänzend sei hierbei erwähnt, dass Nützlichkeitswerte bei Scheler nicht eindeutig klassifiziert sind: Im Formalismusbuch tauchen sie lediglich als Konsekutivwerte zu den Werten des sinnlich Angenehmen auf, an anderen Stellen wiederum als Eigenwerte, die eine Klasse für sich bilden, so zum Beispiel in Vorbilder und Führer (1911– 21); vgl. GW 10, S. 262, 268. In der Literatur ist daher sowohl von vier Wertreihen als auch von fünf Wertreihen die Rede.

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Liebe

Liebe und Haß gehen eben notwendig auf einen individuellen Kern der Dinge, einen Wertkern – wenn ich so sagen darf –, der sich nie in beurteilbare Werte, ja nicht einmal in gesondert fühlbare vollständig auflösen läßt. 206

Bei dem objektiven oder idealen Wertwesen handelt es sich nach Scheler mithin weniger um ein Wertmosaik als vielmehr um einen komplexen Wertkern, der nicht restlos in einzelne Werte ausdifferenziert werden kann. Das objektive Wertwesen eines Gegenstands, das die Liebe sichtbar macht, ist also mehr und etwas anderes als die bloße Summe seiner einzeln wahrnehmbaren Werte. Folglich kann die Transzendenzbewegung der Liebe nicht lediglich darin bestehen, sämtliche Einzelwerte, die ein Gegenstand hat, aufzudecken. Die subjektiv fühlbaren Werte eines Objekts werden in der Liebe meines Erachtens eher in dem Sinne transzendiert, dass sie aus ihrer Vereinzelung gelöst und in ein komplexes Wertganzes aufgehoben werden. Ein klarer Vorteil dieses Emergenzmodells liegt darin, dass mit ihm eine von Schelers streitbareren Thesen zumindest etwas plausibler wird: nämlich die These, dass das ideale oder objektive Wertwesen im empirischen oder subjektiven Wertbild ›angelegt‹ sei. Unverständlich bleibt allerdings noch immer, worin genau die besagte Werterhöhung bestehen soll. Außerdem stellt sich die Frage, inwiefern die Liebe zur Entdeckung konkreter neuer Werte führen kann, wenn wir es bei dem idealen oder objektiven Wertwesen, das sie uns offenbart, mit einem unauflöslichen Wertkomplex zu tun haben. In Bezug auf die Subjektivität des Wertfühlens wäre nicht zuletzt wiederum zu klären, wie durch die Transzendenz der subjektiven Einzelwerte A oder B derselbe objektive Wertkern C sichtbar werden kann. Bevor wir mit der Untersuchung eines ganz besonderen Liebesobjekts die Lösung der verschiedenen Rätsel in Angriff nehmen, vor die uns Schelers Liebesbegriff stellt, soll dieser anhand einer Diskussion einiger klassischer und für Scheler irriger Liebesauffassungen zunächst noch etwas weiter ausformuliert und ergänzt werden.

206

GW 7, S. 152.

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2.4.5 Liebesillusionen (a) Gefühl Bereits aus der kurzen, in Kapitel 2.2 gegebenen Skizze der Scheler’schen Emotionstheorie geht deutlich hervor, dass mit Scheler nicht von der Liebe als einem einfachen Gefühl gesprochen werden kann. Gefühle in diesem engeren Sinne sind für ihn immer zuständlicher Natur, können sich also nicht von selbst auf ein Objekt richten, sondern werden stets durch etwas verursacht. Könnte Liebe in dieser Weise durch ein Objekt ausgelöst werden – wie eine Schmerzempfindung durch einen spitzen Gegenstand –, müsste dasselbe reizende Objekt in zahlreichen Subjekten, ceteris paribus, eine ähnliche Liebesreaktion hervorrufen: so wie viele eine Schmerzempfindung hätten, wenn sie sich an einer Nadel stächen. Wenn die Liebe von einzelnen Eigenschaften des Objekts ausgelöst wird, wäre es außerdem nicht nur ein Leichtes, konkrete Gründe dafür anzugeben, warum man etwas oder jemanden liebt, sondern dann wäre auch der Träger der Eigenschaften austauschbar und Liebe würde für jedes Objekt erwachen, das diese Eigenschaften zufällig aufweist. Nichts davon entspricht jedoch unserer allgemeinen Erfahrung – vielmehr scheint es sich mit der Liebe normalerweise umgekehrt zu verhalten: Eher noch können die Eigenschaften des Geliebten wechseln als ihr Träger und für gewöhnlich können wir, wenn wir genauer darüber nachdenken, letztlich nicht erschöpfend begründen, warum wir diese bestimmte Person lieben und nicht eine andere, eine ähnliche oder vielleicht sogar eine in irgendeiner Hinsicht ›bessere‹ Person. Scheler lehnt daher nicht nur die Auffassung der Liebe als eines einfachen Gefühls ab, sondern auch die Ableitung der Liebe von einfachen Gefühlszuständen sowie die Idee, dass Liebe eine Art Mixtum compositum aus Gefühlen, Wünschen und Ähnlichem sei. 207 Gerade mit dem Rückzug auf eine rein formale Bestimmung der Liebe als ein spontaner Akt der Werterhöhung gelingt es Scheler dagegen, zu erklären, warum Liebe – statt selbst nur ein Gefühl zu sein – viel eher das gesamte Gefühlsleben enorm bereichern kann: Indem sie die bereits gefühlten Werte transzendiert und gewissermaßen Platz für Neues schafft, kann das Wertfühlen zahlreiche neue Wertqualitäten entdecken, sodass sich im Zuge der Liebe die verschiedensten Gefühle einstellen 207

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Vgl. GW 7, S. 150.

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können beziehungsweise die Liebe von den vielfältigsten Gefühlsqualitäten begleitet sein kann. (b) Streben Wie wir bisher sehen konnten, ist die Liebe für Scheler ebenfalls kein einfacher werterkennender Akt, sondern ein Akt, der die durch das Wertfühlen erfassten Werte transzendiert und so – in der Folge – neue, höhere Werte sichtbar macht. Damit ist jedoch zugleich ausgeschlossen, dass in der Liebe diese neuen Werte irgendwie gesucht oder erstrebt werden: Eine Suche oder ein Streben würde schließlich voraussetzen, dass das Ziel schon in irgendeiner Form gegeben ist. Zudem würden wir uns vermutlich kaum von einer Person geliebt fühlen, die allein unsere guten Seiten im Blick hat und unsere Schwächen und Fehler ignoriert. So konstatiert auch Scheler: »Ein solches Herumsuchen nach ›höheren‹ Werten wäre zweifellos ein Zeichen eines bestehenden Mangels an Liebe.« 208 Viel eher erwarten wir doch, dass wir als derjenige geliebt werden, der wir tatsächlich sind, und das heißt letztlich mit allem, was zu uns gehört, seien es Vorzüge oder Fehler. Scheler betont daher: »Die Echtheit der Liebe bekundet sich […] durchaus darin, daß wir die ›Fehler‹ der konkreten Gegenstände wohl sehen, aber sie mit diesen Fehlern lieben.« 209 Interessant ist an dieser Stelle allerdings die Frage, was in diesem Zusammenhang eigentlich unter einem Fehler zu verstehen ist. Handelt es sich hierbei um einen geringeren Wert im Gegensatz zu einem höheren Wert oder um einen negativen Wert beziehungsweise Unwert im Gegensatz zu einem positiven Wert? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns diese beiden Unterscheidungen, die Scheler für das Wertreich trifft, kurz vergegenwärtigen 210: Für Scheler zerfällt das gesamte Wertreich zunächst einmal grundsätzlich in positive und negative Werte wie etwa schön und hässlich. Dieser Unterteilung steht eine zweite Gliederung in höhere und niedere Wertstufen gegenüber wie etwa in die ästhetischen und die sinnlichen Werte. Jede Wertstufe ist dabei in positive und negative Werte geschieden, sodass es geringere und höhere positive Werte sowie geringere und höhere negative Werte gibt. Wenn wir zudem annehmen, 208 209 210

GW 7, S. 160. GW 7, S. 160 f. Vgl. unter anderem GW 2, S. 99 f., 104 ff., 122–126.

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dass jede Wertstufe noch einmal feinere Abstufungen aufweist – schließlich kann ein Gemälde nicht nur schön oder hässlich, sondern auch schöner oder hässlicher sein –, könnte sich zum Beispiel folgendes Bild ergeben: (positive Werte / »Werte«) + schön schöner am schönsten Höhere Werte Niedere Werte am hässlichsten

hässlicher hässlich – (negative Werte/ »Unwerte«)

Inwiefern kann ein Fehler nun ein niederer Wert sein? Würden wir von einem ›Fehler‹ oder Mangel eines Gemäldes A sprechen, wenn es »nur« schön ist, Gemälde B hingegen schöner? Oder wenn die Pinselführung schön, die Farbkomposition jedoch schöner ist? In solchen Fällen reden wir meines Erachtens normalerweise noch nicht von Fehlern. Wenn wir ein Gemälde mangelhaft finden, erscheint uns dieses oder etwas daran meist nicht einfach nur weniger schön, sondern vielmehr hässlich. Wir nehmen, könnte man sagen, eine bestimmte negative Qualität wahr. Wären Fehler allerdings echte negative Werte oder Unwerte eines Objekts, müsste der Liebesakt, der sich auf dieses mitsamt seinen Fehlern richtet, gleichermaßen positive wie negative Werte erhöhen. Mit dieser Folgerung würden sich wiederum erhebliche Probleme ergeben: denn entweder müsste das sichtbar werdende Wertideal dann auch (höhere) negative Werte enthalten, was dem Begriff des Wertideals selbst widerspräche, oder das positive Wertideal müsste ebenso in negativen wie in positiven Werten ›angelegt‹ sein und sich in irgendeiner Weise aus ihnen entwickeln, was nicht minder unplausibel scheint. Meines Erachtens sind die Fehler oder Mängel eines Objekts daher weniger zu seinem eigenen Wertgehalt zu zählen, sondern eher in der Wahrnehmung des Subjekts zu suchen, dessen Ansprüchen und Erwartungen es mehr oder weniger gut entspricht. 211 Weitere Überlegungen dazu folgen bei der Besprechung der persönlichen Liebe in Kapitel 2.5.3.

211

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Zur subjektiven Werterscheinung einer Person siehe auch Kapitel 2.5.2.

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Liebe

(c) Idealisierung Die Formulierung, dass die Liebe ein Akt der Werterhöhung ist, in dem der geliebte Gegenstand sein ideales Wertwesen erreicht, könnte nun aber auch die Vorstellung vermitteln, dass das Liebesobjekt idealisiert würde. Während die Liebe, wie Scheler sie versteht, das wahre Wertwesen eines Gegenstands oder einer Person offenlegt, kann eine Idealisierung jedoch – ebenso wie eine Fokussierung auf höhere Werte – nur eine Illusion desselben erzeugen. 212 Im Unterschied zum Liebenden, der den individuellen Wertkern des Liebesobjekts entdeckt, erschafft das idealisierende Subjekt gewissermaßen neue Werte am Objekt, wodurch es dessen eigentümliches Wertwesen zwangsläufig überformt und verfremdet. Insofern Werte selbst, wie erwähnt, nicht wirklich erschaffen werden können 213, kann das Subjekt dabei letztlich nur die eigenen Wertvorstellungen auf das Liebesobjekt projizieren. Für Scheler steckt hinter jeder Idealisierung daher nichts anderes als ein »Nichtloskommenkönnen von der Neigung zu den eigenen Ideen, Gefühlen, Interessen« 214. Jemanden zu idealisieren heißt mithin immer ihn zur Projektionsfläche der eigenen Bedürfnisse zu machen, statt sich ihm als demjenigen zuzuwenden, der er tatsächlich ist. Von der Liebe erwarten wir dagegen eher, dass sie uns selbst gilt, so, wie wir sind, und nicht einem Wunschbild, das ein anderer von uns haben mag. Zwar spricht Scheler an einigen Stellen durchaus von der ›schöpferischen‹ Rolle der Liebe, doch sieht er diese nicht in der Hervorbringung neuer Werte am Objekt, sondern vielmehr darin, dass sie »einen Vorstoß macht in das noch bis dahin unbekannte Wertreich in der Richtung ›höher‹« 215 und ein Licht wirft auf bislang unbemerkt gebliebene Werte des Liebesobjekts. (d) »Bessermachenwollen« Das letzte Liebesmissverständnis, das ich hier besprechen möchte, ist eine Haltung zum Liebesobjekt, die als pädagogische Einstellung bezeichnet werden kann. Nach dieser Deutung versucht der Liebende, sein Liebesobjekt zu verbessern, das heißt faktisch neue, höhere Werte an ihm hervorzubringen – ihn zu einem ›besseren‹ Menschen zu 212 213 214 215

Vgl. GW 7, S. 162. Siehe bereits Kapitel 2.4.4; vgl. unter anderem GW 2, S. 266. GW 7, S. 162. GW 7, S. 194.

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machen. Es liegt auf der Hand, dass auch in diesem Fall das Liebesobjekt nicht geliebt wird, wie es ist, sondern zu etwas verändert wird, das es (noch) nicht ist. Scheler betont: [Es, d. A.] ist hier eine Scheidung vollzogen zwischen dem, was der betreffende Mensch schon ist, und was er noch nicht ist und eben bloß werden ›soll‹. Aber gerade gegen diese Scheidung ist die Liebe indifferent; eben diese Scheidung ist es, die durchaus nicht bei der Liebe vorliegt. Auch liegt keine Scheidung vor zwischen dem, was ich ›empirisches Wertfaktum‹ und ›ideales‹ Wertbild […] nannte. 216

Was genau ist also darunter zu verstehen, ein Objekt zu lieben, ›wie es ist‹ ? Wenn die Liebe als Erhöhungsbewegung ein dynamischer Akt ist, wie Scheler betont 217, kann es jedenfalls nicht heißen, dass wir das Liebesobjekt mit seinen aktuellen empirischen Werten annehmen und es einfach ›bejahen‹. Ebenso wenig kann es jedoch bedeuten, dass wir eine Art Idealversion des Objekts lieben, zu der es sich erst entwickeln würde. Für Scheler entfällt in der Liebe eine derartige Unterscheidung zwischen dem aktuellen Sosein und Wertgehalt des Liebesobjekts – wie es jetzt ist – und seinem erst noch zu erreichenden Idealzustand – wie es sein ›soll‹. Vielmehr erscheinen in der Liebesbewegung beide Seinszustände des Objekts gewissermaßen überlagert: Das ›Sein‹, um das es sich hier handelt, ist eben jenes ›ideale Sein‹ ihrer [der Gegenstände; d. A.], das weder ein existential-empirisches Sein ist, noch ein ›Seinsollen‹, sondern ein Drittes, gegen diesen Unterschied noch Indifferentes: dasselbe ›Sein‹ z. B., das in dem Satze liegt: ›Werde der du bist‹ […]. 218

Was Scheler hierbei genau im Sinn hat, bleibt an dieser Stelle allerdings äußerst vage. In einer Fußnote findet sich lediglich eine kurze Andeutung: »Was im empirischen Werden des Menschen ›Entwicklung‹ ist, ist bezogen auf sein absolutes Sein und Sosein nur ›Enthüllung‹.« 219 Für weitere Erklärungen werden wir auf seine Untersuchungen zur Person im Formalismusbuch verwiesen, die wir daher im Folgenden eingehender betrachten wollen.

216 217 218 219

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GW 7, S. 160. Vgl. unter anderem GW 7, S. 160. GW 7, S. 162. GW 7, S. 162, Fußnote 2.

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2.5 Liebe und Person Die bisherige Analyse von Schelers Liebesbegriff der Werterhöhung hat einige Probleme aufgeworfen. So ist bislang noch unklar, inwiefern das ideale oder objektive Wertwesen des Liebesobjekts in seinem empirischen Wertgehalt und mithin in verschiedenen subjektiven Wertbildern ›angelegt‹ sein kann, wie seine (Wert-)Entwicklung zu verstehen ist, die eigentlich eine Enthüllung sein soll, inwiefern die Liebe tatsächlich höhere (und nicht nur neue) Werte offenbart und wie durch die Liebe überhaupt konkrete neue Werte am Objekt entdeckt werden können, wenn das, was sie sichtbar macht, letztlich ein komplexer Wertkern ist, der sich nicht ohne Weiteres in gesondert fühlbare Einzelwerte zerteilen lässt. Wenngleich Scheler immer wieder deutlich macht, dass prinzipiell alles, was Werte trägt, geliebt werden kann 220, weisen diese Rätsel, die uns sein Liebesbegriff aufgibt, meines Erachtens doch eher darauf hin, dass er in erster Linie nicht einen einfachen Wertgegenstand wie eine schöne Kaffeetasse im Blick hat, sondern ein weitaus komplexeres Objekt, und zwar die Person. In den nächsten Abschnitten werden wir deshalb Schelers Konzept der Person genauer erörtern und seinen Liebesbegriff auf dieses spezielle Objekt anwenden.

2.5.1 Zum Begriff der Person Schelers wesentliche Bestimmungen zur Person finden sich im Formalismusbuch, speziellere Ausführungen zur Person in der Liebe auch in der Sympathieschrift. Wie mit seinem gesamten Entwurf einer materialen Wertethik wendet er sich mit seinem Begriff der Person hauptsächlich gegen Kants formalistische Ethik. Gemäß dieser zeichnet sich die Person durch ihre vernünftige Natur und somit durch ihr Vermögen der Selbstgesetzgebung aus. 221 Insofern die bloße Vernunfttätigkeit jedoch nicht individuell, sondern allen vernünfti-

220 Ausgenommen sind hier Träger von ausschließlich sinnlichen Werten (angenehm/ unangenehm), welche für Scheler nicht erhöhungsfähig sind; vgl. GW 7, S. 170 f. Siehe dazu auch Schelers Erläuterungen zu verschiedenen Formen und Arten der Liebe, GW 7, S. 170–174. 221 Vgl. Kant (1788): Kritik der praktischen Vernunft (= KpV), AA V, S. 86 f.; GMS, AA IV, S. 428.

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gen Wesen gemeinsam ist, wären demnach alle Personen grundsätzlich identisch und würden sich erst durch ihr konkretes »empirischbestimmbare[s] Dasein« 222 und die damit verbundenen besonderen Erlebnisinhalte individuieren. Für Scheler ist ein solcher Begriff der individuellen Person selbstwidersprüchlich 223: Wenn das Kriterium für das Personsein in einem allen Personen gemeinsamen, das heißt nicht-individuellen Vernunftvermögen liegt, würde jede Individuierung einer Person gerade ihr Personsein notwendig aufheben. Die Person müsse dagegen vielmehr schon als Person ein konkretes Individuum sein, das ihren individuellen Erlebnisgehalten vorausgeht. Pointiert kann man Schelers Antwort so zusammenfassen: Die Person wird nicht erst durch ihre besonderen Erlebnisinhalte zum Individuum, sondern die Erlebnisinhalte werden erst zu besonderen durch die individuelle Person, der sie zugehören. Was genau ist nun eine Person für Scheler? Sehen wir uns dazu wieder als Erstes eine Definition an, die er selbst gibt: Person ist die konkrete, selbst wesenhafte Seinseinheit von Akten verschiedenartigen Wesens, die an sich […] allen wesenhaften Aktdifferenzen […] vorhergeht. Das Sein der Person ›fundiert‹ alle wesenhaft verschiedenen Akte. 224

In Kapitel 2.2.3 war bereits davon die Rede, dass (geistige) Akte im Gegensatz zu (psychophysischen) Funktionen vollzogen werden, und zwar von der Person, dem geistigen Kern des Menschen. Diese Bestimmung lässt sich jetzt noch genauer fassen: Die Person ist das geistige Wesen des Menschen, das der Vielheit seiner verschiedenen einzelnen Akte – also aller erkennenden, wollenden, vorziehenden, liebenden und so weiter – zugrunde liegt. Doch darf sie nach Scheler nicht als eigene Substanz gedacht werden, die irgendein fixer Ausgangspunkt von Akten wäre, die Akte in irgendeiner Weise hervorbrächte. 225 Als letzte Seinseinheit aller Akte des Menschen ist sie für Scheler nicht lediglich ein Aktvollzieher, sondern sie ist im Grunde nichts anderes als ihre Akte selbst; sie besteht gewissermaßen aus den Akten, die sie vollzieht. Damit ist die Person allerdings ebenso wenig nur eine zufällige Ansammlung von Akten oder ein bloß abs-

222 223 224 225

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KpV, AA V, S. 86. Vgl. auch im Folgenden GW 2, S. 371. GW 2, S. 382 f. Vgl. unter anderem GW 2, S. 371, 383 f.

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trakter Zusammenhang von Akten, sondern ein dynamisches Wesen, das sich in seinen Akten selbst vollzieht und allein in diesem Aktvollzug überhaupt existiert: Gewiß ist die Person und erlebt sie sich auch nur als aktvollziehendes Wesen, und ist in keinem Sinne ›hinter diesen‹ oder ›über diesen‹ oder etwas, das wie ein ruhender Punkt ›über‹ dem Vollzug und Ablauf ihrer Akte stünde. […] Vielmehr steckt in jedem voll konkreten Akt die ganze Person und ›variiert‹ in und durch jeden Akt auch die ganze Person – ohne daß ihr Sein doch in irgendeinem ihrer Akte aufginge, oder sich wie ein Ding in der Zeit ›veränderte‹. 226

Die Person ist Scheler zufolge also keiner Entwicklung in der Zeit unterworfen, sie existiert genau genommen nicht einmal in der Zeit. Sie lebt und vollzieht ihre Akte vielmehr »in die Zeit hinein« 227. Anhand der zuvor erwähnten Bemerkung Schelers zum empirischen Werden des Menschen 228 können wir dies auch so formulieren: Die Person ist das absolute Sein und Sosein des Menschen, das sich in seiner empirischen Entwicklung im Laufe der Zeit nur ›enthüllt‹. Als absolutes Sein des Menschen transzendiert die Person mithin seine verschiedenen, sich mit der Zeit wandelnden empirischen Erscheinungen. Zwar ›enthüllt‹ sie sich in jeder von ihnen, in keiner einzigen ist sie jedoch voll zu erfassen. Dennoch ist sie kein unveränderlich andauerndes Sein, sondern als grundsätzlich dynamisches Wesen variiert die Person tatsächlich mit jedem einzelnen ihrer Akte. Bloße Kontinuität ist für Scheler somit kein Kriterium für die Identität einer Person: »Die Identität liegt hier allein in der qualitativen Richtung dieses puren Anderswerdens selbst.« 229 Um zu verstehen, was es mit dieser qualitativen Richtung auf sich hat und was eine konkrete Person letztlich ausmacht, müssen wir Schelers Idee der Person im Folgenden noch etwas genauer nachgehen.

226 227 228 229

GW 2, S. 384; vgl. auch GW 2, S. 386, 389 f. GW 2, S. 385. Siehe Kapitel 2.4.5 (d); GW 7, S. 162, Fußnote 2. GW 2, S. 385.

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2.5.2 Person, Wert & Welt Erinnern wir uns kurz an Schelers Bestimmung des Wertgegenstands und seine Unterscheidung von Sachen, puren Gütern und puren Dingen. 230 Wertgegenstände hatte ich alle Gegenstände genannt, die außer physischen Eigenschaften auch Werte tragen. Im Allgemeinen spricht Scheler hierbei von Sachen. Pure Dinge tragen überhaupt keine Werte und pure Güter sind keine Gegenstände mit physischen Eigenschaften, sondern ›Dinge‹, die gleichsam aus Werten bestehen, wie etwa künstlerische oder literarische Werke. Werte wiederum brauchen stets einen Träger, um in der Welt zu erscheinen, und das ist der Wertgegenstand. 231 Wie sieht es aber mit der Person aus? Laut Schelers Liebesbegriff (Liebe 1) 232 richtet sich die Liebe generell auf Wertgegenstände, sodass sich die Frage stellt, in welchem Sinne die Person eigentlich ein Wertgegenstand sein kann. Auf der Hand liegt, dass sie keine Sache ist. Wie Scheler betont, kann sie als dynamisches Wesen, das in seinem Aktvollzug existiert, nicht als ein bloßer Gegenstand betrachtet werden 233 – und folglich nicht als etwas, an dem Werte lediglich erscheinen würden. Dennoch muss sie ein Träger von Werten sein, wenn sie Objekt eines werterhöhenden Liebesakts sein können soll. In welcher Weise ›haben‹ Personen also Werte? Die Alltagssprache kann uns hier schon den richtigen Weg weisen: Wenn wir jemanden fragen, welche Werte er hat, meinen wir normalerweise nicht, dass er uns seine evaluativen Eigenschaften aufzählen soll, wie er uns zum Beispiel seine Haarfarbe oder Körpergröße nennen könnte. Wir fragen danach, was ihm wichtig ist, welche Werte er in seinem Leben verfolgt. Auch wenn wir jemanden als gerecht oder gebildet beschreiben, meinen wir damit nicht, dass er in derselben Weise gerecht oder gebildet ist, wie er blond und 1,80 Meter groß ist. Wir meinen vielmehr, dass er gerecht handelt oder sich umfangreiches Wissen angeeignet hat, dass er also in seinem und durch sein Leben Rechtswerte oder Bildungswerte realisiert. Wenn wir davon reden, dass eine Person die Werte A und B hat oder Träger der Werte A und B ist, dann heißt dies letztlich, dass diese Person die Werte A und B durch ihre Akte verwirklicht. Die Person ist 230 231 232 233

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Siehe Kapitel 2.4.2. Vgl. GW 2, S. 35–45. Vgl. unter anderem GW 2, S. 386, 389 f. Vgl. GW 2, S. 389.

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insofern nicht eigentlich ein Wertgegenstand, sondern ein wertrealisierendes Wesen. Um zu sehen, wie dieses wertrealisierende Wesen zum Objekt der werterhöhenden Liebe werden kann und was es demnach bedeutet, eine Person zu lieben, müssen wir zunächst auf eine Unterscheidung zurückkommen, die sich aus Schelers Liebesbegriff (Liebe 3) ergeben hatte: diejenige zwischen dem empirischen Wertgehalt und dem idealen Wertwesen. 234 Empirische Werte hatte ich jene Werte eines Wertträgers genannt, die das wertfühlende Subjekt aufgrund seines Wertfühlvermögens an ihm wahrzunehmen in der Lage ist. Als das ideale Wertwesen hatte ich hingegen alle Werte bezeichnet, die ein Wertträger objektiv hat. Im Fall der Person gestaltet sich diese Unterscheidung nun etwas schwieriger. Auch der Person schreibt Scheler, wie in seiner dritten Liebesdefinition zu lesen war 235, sowohl ein ideal-objektives wie ein empirisch-subjektives Wertbild zu. Wie ist dies jedoch zu verstehen, wenn die Person als absolutes, nicht raum-zeitliches Sein des Menschen nicht empirisch erfasst werden kann? Beginnen wir mit dem idealen oder objektiven Wertwesen einer Person, also jenen Werten, die sie an sich ›hat‹ : Wie bereits angedeutet, ist die Person kein Gegenstand, an dem Werte lediglich ›erscheinen‹. Vielmehr hat eine Person Werte in dem Sinne, dass sie diese durch ihre Akte zu realisieren sucht. Als ideal können diese Werte insofern gelten, als sie die Person bestimmen, indem sie gewissermaßen die Zielpunkte ihrer vielfältigen Bewegungen darstellen. Jede Person besitzt dabei ein eigenes, spezifisches Wertprofil, das sie wesentlich charakterisiert und in welchem nach Scheler ihr besonderes ›persönliches Heil‹ 236 liegt, ihr individuelles »An-sichGutes« 237, das ihr »eine einzigartige Stelle im sittlichen Kosmos an [weist] und […] sekundär auch Handlungen, Taten, Werke [gebietet]«. 238 Wenngleich die Person als dynamisches Wesen mit jedem ihrer Akte variiert, ist der Spielraum ihrer Variationsmöglichkeiten also durch die ihr wesenhaften Wertstrebungen vorgegeben. Das ideal-objektive Wertwesen einer Person bestimmt mithin die ›qualiSiehe Kapitel 2.4.4. Siehe Kapitel 2.4.4. 236 Vgl. GW 2, S. 481. 237 GW 2, S. 483. 238 In der Schrift Ordo Amoris spricht Scheler in diesem Zusammenhang von der »individuelle[n] Bestimmung«; GW 10, S. 351. 234 235

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tative Richtung ihres Anderswerdens‹ 239. Ihre individuellen Werte konstituieren jedoch nicht allein die Raum und Zeit übergreifende Identität der Person, sondern ebenso dasjenige, was Scheler ihr als ihr Korrelat gegenüberstellt: die Welt. 240 Insofern die Dinge, die wir wahrnehmen, erst durch ihr Wertsein Sinn erhalten und dadurch überhaupt zu Dingen für uns werden, zu Dingen, die wir als etwas erfassen können, ist Scheler zufolge auch die Welt, die aus diesen Dingen besteht, unsere Welt, geprägt durch die grundsätzliche Wertorientierung unserer Person. 241 Jeder Person entspricht damit eine besondere (Wert-)Welt: Wie unsere Welt aussieht und was wir in ihr erleben können, hängt, mit anderen Worten, davon ab, wer wir sind. Wenn zum Beispiel Peter (als Person) vorwiegend von Nützlichkeitswerten bestimmt ist, so wird seine Welt in erster Linie nützliche und unnütze Dinge enthalten – seine Welt erhält ihre Grundstruktur dann vor allem aus der mehr oder weniger großen Nützlichkeit der Dinge. In welchem Sinne lässt sich nun aber von den empirischen oder subjektiven Werten einer Person sprechen? Obschon das dynamische Aktwesen, als welches ich die Person beschrieben habe, nicht in Raum und Zeit persistiert, so erstrecken sich doch ihre konkreten Akte, wie oben zitiert, ›in die Zeit hinein‹. Die Akte und mit ihnen die Person sind insofern stets an raum-zeitliche Aktträger wie den Leib gebunden 242, die sich meines Erachtens allgemein unter dem zusammenfassen lassen, was Scheler die psychophysische oder psychovitale Organisation des Menschen nennt. 243 Die Person als das geistige Wesen Vgl. GW 2, S. 385. GW 2, S. 381. 241 Vgl. unter anderem Ordo Amoris, GW 10, S. 357: »Nicht die ihm erkennbaren Dinge und ihre Eigenschaften bestimmen und begrenzen seine Wertewelt, sondern seine Wertewesenswelt ist es, die das für ihn erkennbare Sein umgrenzt und bestimmt und aus dem Meere des Seins wie eine Insel heraushebt.« 242 In der Sympathieschrift unterscheidet Scheler die Aktträger Leib, Ich und Person; siehe GW 7, S. 170. Diese nicht unproblematische Einteilung habe ich bereits an anderer Stelle kritisiert, vgl. Katharina Ernst (2009): Der Liebesbegriff bei Max Scheler in seiner Schrift »Wesen und Formen der Sympathie« vor dem Hintergrund seiner Werttheorie, unveröffentlichte Magisterarbeit, Friedrich-Schiller-Universität Jena 2009, S. 48 ff. 243 Meine Deutung stützt sich auf Schelers grundsätzliche Unterscheidung zwischen einem geistigen, nicht in Raum und Zeit gegebenen Kern des Menschen und seiner psychophysischen Natur, die den Bedingungen von Raum und Zeit unterworfen ist. Der cartesianische Leib-Seele-Dualismus wird bei Scheler mithin durch einen Dualismus von Geist und Leben abgelöst; siehe Scheler (1927): Die Stellung des Menschen 239 240

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eines Menschen wirkt also, könnte man sagen, durch seinen psychophysischen Organismus in Raum und Zeit hinein. Der Mensch als psychovitales Wesen ist wiederum gegenständlich gegeben, sodass er durchaus Träger empirischer Werte sein kann. Hierbei können meines Erachtens im Wesentlichen zwei Fälle unterschieden werden: 1. Der Mensch als Wertgegenstand: Paul kann zum Beispiel die unbekannte Frau, die ihm auf der Straße begegnet, hübsch finden oder den Fleischer, bei dem er einkauft, hässlich. In dieser Hinsicht sind die Menschen im Grunde nicht viel mehr als Gegenstände, an denen Werte erscheinen. Verschiedene wertfühlende Subjekte können dabei in ihrer Wertwahrnehmung übereinstimmen oder sich unterscheiden. Peter findet vielleicht wie Paul die unbekannte Frau hübsch, den Fleischer hingegen ekelhaft. Die Werte, die ein Mensch in dieser Weise trägt, verraten uns somit weniger über die Person des anderen, dafür aber möglicherweise umso mehr über uns selbst und unsere Wertwahrnehmung. 2. Der Mensch als Aktträger: Andere Werte wie ordentlich, hilfsbereit, egoistisch oder ähnliche werden einem Menschen indessen eher in Bezug auf seine Akte zugeschrieben, das heißt, insofern er durch sein Handeln und Verhalten bestimmte Werte verwirklicht. Wenn zum Beispiel Paul seinen Bekannten Peter als sehr ordentlich beschreibt, meint er normalerweise nicht, dass Peter aufgeräumt ist oder Ähnliches, sondern dass er häufig aufräumt, dass ihm Ordnung wichtig ist. Welchen Stellenwert die Ordnung für Peter tatsächlich hat, darüber könnte Paul sich allerdings irren. Vielleicht räumt Peter nur dann gründlich auf, wenn Besuch kommt. In diesem Fall könnte ihm etwa seine Gastfreundlichkeit oder das Wohl seiner Besucher wichtig sein und weniger die Ordnung selbst. Im Sinne von Punkt 2 ist der Mensch nicht als ein einfacher Wertgegenstand gegeben, an dem Werte lediglich erscheinen, sondern vielmehr als Wertrealisierer. Die Werte, die er als Aktträger besitzt, sind Werte, die er als Person ›hat‹ und in der Welt zu verwirklichen sucht. 244 Im Unterschied zum ideal-objektiven Wertwesen handelt es im Kosmos, in Gesammelte Werke, Bd. 9: Späte Schriften, hg. von Manfred S. Frings, 2., durchges. Aufl., Bonn: Bouvier 1995 (= GW 9), S. 7–71, zum Beispiel S. 62. 244 Ob und inwiefern die Werte, die ein Mensch in ersterem Sinne trägt, von jenen Liebe und Hass

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sich hierbei jedoch stets nur um einzelne, konkrete Werterscheinungen seiner Person, die meines Erachtens von mehreren Faktoren aufseiten des Subjekts abhängen: erstens von den allgemeinen soziokulturellen Wertprägungen, die Scheler zufolge auf frühkindliche Werterlebnisse zurückgehen und seitdem die Wertstruktur unserer subjektiven Erfahrung bestimmen; zweitens von der konkreten raum-zeitlichen Wahrnehmungssituation sowie der besonderen (funktionalen) Relation zum Objekt (zum Beispiel Kollegen-, Nachbar-, oder Arzt-Patienten-Verhältnis); drittens von den damit verbundenen aktuellen Wertinteressen. Dieselben Bedingungen gelten nun aber auch für das Objekt: Je nach seinen eigenen Prägungen sieht der andere in seiner konkreten Situation und Relation zu uns verschiedene Wertrealisierungsmöglichkeiten, von denen er aktuell wiederum nur jeweils ganz bestimmte umsetzt. Hinzu kommt, dass der Mensch als Aktträger und Wertrealisierer auch der Subjektivität seiner eigenen Wertwahrnehmung unterworfen ist. Dem ideal-objektiven Wertwesen der Person steht mithin immer ein subjektives Werterleben des Menschen gegenüber, das die Realisierung seiner persönlichen Werte bedingt. Die konkrete Werterscheinung seiner Person, die wir an einem Menschen wahrnehmen können, ist demnach nicht allein von unserer, sondern ebenso sehr von seiner eigenen subjektiven Erlebnisstruktur abhängig, insofern diese beeinflusst, welche seiner persönlichen Werte er letztlich realisiert. Gleich in mehreren Hinsichten lässt sich bei den Werten, die wir an einem Menschen als Aktträger erfassen, also von einem empirisch-subjektiven Wertbild seiner Person sprechen. In dem zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Aufsatzfragment Ordo Amoris, das mit dem Formalismusbuch und der Sympathieschrift in engem thematischem Zusammenhang steht, nennt Scheler die Grundstruktur des Wertfühlvermögens den faktischen ordo amoris des Menschen im Unterschied zu seinem normativen ordo amoris beziehungsweise seiner ›individuellen Bestimmung‹. 245 Während abhängen, die er in letzterem Sinne hat, wäre eine untersuchenswerte Frage, die hier nicht weiter erörtert werden kann. 245 Vgl. GW 10, S. 347–355. Eine ausführlichere Darstellung der verschiedenen Aspekte des Begriffs ordo amoris bei Scheler gibt unter anderem Angelika Sander (2003): »Normative und deskriptive Bedeutung des ordo amoris«, in: Vernunft und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens, hg. von Christian Bermes, Wolfhart Henckmann und Heinz Leonardy, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003.

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Letzterer zum persönlichen oder absoluten Sein des Menschen gehöre, gehe Ersterer notwendig mit seiner psychophysischen Existenz einher 246: [Darin; d. A.] schreitet der Mensch einher wie in einem Gehäuse, das er überallhin mit sich führt; dem er nicht zu entrinnen vermag, wie schnell er auch liefe. Er gewahrt durch die Fenster dieses Gehäuses die Welt und sich selbst – nicht mehr von der Welt und sich selbst und nichts anderes als das, was ihm diese Fenster nach ihrer Lage, Größe, Farbe zeigen. 247

Doch wie verhalten sich subjektiv-faktischer und persönlich-normativer ordo amoris oder empirisch-subjektives und ideal-objektives Wertbild zueinander? Wenn Scheler betont, dass der Mensch dem ›Gehäuse‹ seiner faktischen Werterfahrung nicht entkommen kann, ist die Frage naheliegend, inwiefern ich überhaupt als Person zum Beispiel die Werte A, B, C, D haben kann, wenn ich als psychovitales Subjekt nur die Werte A, C, F, M erfasse? Für Scheler ist dies allerdings keine Frage, sondern vielmehr ein häufig zu beobachtendes menschliches Phänomen. 248 Die subjektive Werterfassungsstruktur bestimmt zwar, in welchem Licht ein Mensch normalerweise diejenigen Dinge sieht, die ihm in einem konkreten Raum (Umwelt/Milieu) und einer konkreten Zeit (Schicksal) unmittelbar begegnen 249, sie bestimmt jedoch nicht die allgemeine Wertorientierung seiner Person und die grundlegende Gestalt ihrer Welt. Die subjektive Werterfahrung eines Menschen und die wesentlichen Wertinteressen seiner Person können dabei zueinander passen, sich überschneiden oder auch einander ausschließen. So ist es beispielsweise möglich, dass ein Mensch in ein Milieu und ein Schicksal hineingeboren wird, in dem er seine persönlichen Werte nicht verwirklichen kann, weil er sich gewissermaßen selbst im Weg steht: Paula kann etwa von den Werten der Sicherheit und der finanziellen Unabhängigkeit, die ihr von ihrer Familie vorgelebt wurden und mit denen sie aufgewachsen ist, für den Rest ihres Lebens derart geprägt sein, dass ihr die persönliche Erfüllung als Musikerin versagt bleibt, weil in ihrer subjektiven Umwelt vorwiegend berufliche Optionen erscheinen, die ein gesichertes Einkommen versprechen. Insofern unsere ›individuelle BeVgl. GW 10, S. 353. GW 10, S. 348. 248 Vgl. GW 10, S. 352 f. 249 Vgl. GW 10, S. 347–355; zum Begriff des Milieus vgl. unter anderem auch GW 2, S. 153 ff. 246 247

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stimmung‹ oder die ideal-objektiven Werte unserer Person nicht konkret von uns erkannt sein müssen 250 – nach Scheler zeichnen sich diese zudem eher negativ ab, wenn wir nämlich gegen sie verstoßen 251 –, können wir im Grunde ein Leben lang Wertkonflikte in uns tragen, ohne dass sie uns bewusst sind. Tragisch wird ein solcher Konflikt zwischen subjektiver und persönlicher Wertstruktur für Scheler jedoch, wenn wir ihn bemerken und aufgrund unserer Wertprägung dennoch gewissermaßen dazu gezwungen sind, gegen unsere eigentlichen Werte zu handeln. 252 Obgleich der Mensch in der gewöhnlichen Wahrnehmung an das ›Gehäuse‹ seiner subjektiven Erlebnisstruktur, an seine ›Umwelt‹ und sein ›Schicksal‹, gebunden sein mag, ist er nun aber nicht in jedem Fall dazu gezwungen, seinen ursprünglichen Wertprägungen zu folgen, wenn sie seinen persönlichen Wertinteressen widerstreiten. Als Person haben wir nach Scheler durchaus die Möglichkeit, uns zumindest in einem gewissen Maß davon zu lösen. Schauen wir uns dazu ein weiteres Beispiel an: Der angehende Künstler Paul erhält das Angebot, an einem Meisterkurs eines von ihm besonders verehrten Malers teilzunehmen, der auf der obersten Aussichtsplattform des Eiffelturms stattfindet. Paul leidet allerdings aufgrund früher Erfahrungen unter starker Höhenangst, die ihn hohe Türme vermeiden lässt. Trotz der höheren ästhetischen Werte, die für Paul persönlich wichtiger sind und seiner (Wert-)Welt ihre Grundgestalt verleihen, ist das subjektive Erleben seiner Umwelt in dieser Situation daher erheblich von einfachen vitalen Werten beziehungsweise Unwerten bestimmt. Paul, der sich dieser konkreten Bedingtheit seiner Wertwahrnehmung bewusst ist, kann in diesem Fall zwar nicht spontan entscheiden, keine Höhenangst mehr zu haben, er kann sich jedoch von ihr beschränken lassen oder nicht. Der Mensch kann sich sein subjektives Erleben der Dinge, die ihm begegnen, mithin nicht ohne Weiteres aussuchen, er kann sich aber »personfrei zu ihm verhalten« 253, das heißt, er ist als Person prinzipiell frei, sich dazu zu verhalten. Er kann sich diesem Erleben hingeben oder er kann dagegen

Vgl. GW 10, S. 351. Vgl. GW 10, S. 354. 252 Vgl. GW 10, S. 355. Vgl. auch: Zum Phänomen des Tragischen (1914), in: GW 3, S. 149–170. 253 GW 10, S. 352. 250 251

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ankämpfen. Scheler hält es sogar für möglich, dass er es grundlegend verändern kann: Ja, er vermag […] prinzipiell sowohl seine Umweltstruktur (nicht nur ihren je zufälligen Gehalt) wie sein Schicksal in jedem Grade der Vollkommenheit abzuwerfen oder doch zu wandeln. Freilich: Er vermag es im Unterschiede zu den freien Wahlakten, die innerhalb der Grenzen seiner Milieustruktur und seines Schicksals liegen und deren Spielräumen nicht entfliehen können, nur durch Akte und Verhaltungsweisen, die wesensverschieden von jenen sind, durch die er die sog. ›freie Wahl‹ vollzieht – und was noch wichtiger ist: Er vermag es nie allein, sondern nur unter der hier konstitutiv notwendigen Mithilfe von Wesen, die außerhalb seines Schicksals und seiner Milieustruktur stehen. 254

Der Mensch ist also in der Lage, sein Schicksal gewissermaßen in die eigene Hand zu nehmen, und zwar durch spezielle Akte seiner Person, die die Grenzen seiner subjektiven Wertstruktur übersteigen. Wie wir im Weiteren noch sehen werden, bietet insbesondere der Transzendenzakt der Liebe einen solchen Weg aus dem ›Gehäuse‹ unserer gewöhnlichen Wahrnehmung. Sie kann dem Menschen das ideale Wertwesen seiner Person offenbaren und ihm damit auch ermöglichen, sich bewusst zu seiner subjektiven Werterfahrung zu verhalten. 255 Im Folgenden werden wir der Frage nachgehen, wie sich der Akt der Liebe zu einer Person demnach genau verstehen lässt und inwiefern wir, wie Scheler andeutet, zur Erfüllung unseres persönlichen, ideal-objektiven Wertwesens auf die Mitwirkung anderer Personen angewiesen sind.

2.5.3 Persönliche Liebe Bisher ist deutlich geworden, dass es sich bei der Person nach Scheler weniger um einen bloßen Wertgegenstand handelt als vielmehr um ein Wesen, das durch Werte bestimmt ist, das durch seine Akte Werte zu verwirklichen sucht. Die Person kann folglich nicht als ein gegenständlich-substanzielles, sondern nur als ein dynamisches Objekt gedacht werden. Wie lässt sich der in Kapitel 2.4 erarbeitete Liebesbegriff nun auf dieses spezielle Objekt anwenden? Gehen wir dazu

254 255

GW 10, S. 353. Vgl. GW 10, S. 353 f.; GW 2, S. 483.

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die verschiedenen Definitionen, die wir untersucht haben, noch einmal durch: Liebe 1: Liebe ist die Bewegung, in der jeder konkret individuelle Gegenstand, der Werte trägt, zu den für ihn und nach seiner idealen Bestimmung möglichen höchsten Werten gelangt; oder in der er sein ideales Wertwesen, das ihm eigentümlich ist, erreicht […]. 256

In Kapitel 2.4.4 haben wir gesehen, dass sich die werterhöhende Bewegung der Liebe am besten als ein Akt verstehen lässt, der das empirisch-subjektive Wertbild eines Objekts transzendiert und durch ebendiese Transzendenz dessen ideal-objektives Wertwesen sichtbar macht. In der Liebe zu einer Person, welche als ein dynamisches Aktwesen zu verstehen ist, besteht diese Bewegung für Scheler in nichts anderem als im Nach- oder Mitvollzug ihrer verschiedenen Akte: »erkenntnismäßig im ›Verstehen‹ und ›Nachleben‹, sittlich aber in der ›Gefolgschaft‹.« 257 Soll uns das ideale Wertbild einer Person offenbar werden, müssen wir demnach an ihren wertrealisierenden Akten teilnehmen, die sie durch ihre empirisch gegebenen Aktträger in Raum und Zeit hinein vollzieht. Wenn Peter zum Beispiel den besonderen Wert erfassen will, der für den leidenschaftlichen Fußballfan Paula im Fußballschauen besteht, müsste er im Grunde ebenfalls Fußball schauen, und zwar in derselben Weise wie Paula. Da er jedoch nicht Paula ist, kann er dies nur, indem er an ihrem Fußball-Erlebnis teilnimmt: indem er etwa gemeinsam mit ihr ins Stadion geht und Paulas Erlebnis – ihre Begeisterung, ihre Enttäuschung, ihre Wut oder ihren Freudentanz – miterlebt. Tut er dies nicht, muss ihm der spezielle Wert, der für Paula im Fußball-Erlebnis liegt und der sie vielleicht dazu brachte, einen Tag Urlaub zu nehmen, um zu einem bestimmten Spiel gehen zu können, verborgen bleiben. Peter kann in dem Fall zwar noch immer wahrnehmen, dass Fußball für Paula wichtig ist, doch nicht, was er für sie wirklich bedeutet. In dieser Perspektive kann Paula für Peter vor allem Träger subjektiver Werte oder Unwerte sein: Wenn er selbst Fußballfan ist, mag ihm Paulas Begeisterung vielleicht gefallen. Wenn er mit Paula lieber ins Konzert gehen möchte, statt Fußball zu sehen, sieht er in ihrem Fußball-Interesse mög256 257

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GW 7, S. 164; hier ohne Kursivierung zitiert. GW 7, S. 168.

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licherweise eher ein mangelndes Interesse für seine Bedürfnisse und fühlt sich zurückgesetzt. Reden wir, wie weiter oben angesprochen 258, von Fehlern oder auch Vorzügen einer Person, sprechen wir meines Erachtens also oft nur von den besonderen Unwerten oder Werten, die wir aufgrund unserer rein subjektiven Betrachtungsweise am anderen wahrnehmen und die unseren eigenen Wertinteressen entsprechen oder nicht. Im Mitvollziehen der Akte des anderen, im Miterleben seiner Erlebnisse überwinden wir dagegen unsere subjektive Erlebnisstruktur und erfahren seine individuelle Person selbst beziehungsweise die ideal-objektiven Werte, die sie wesentlich bestimmen. Die ›Erhöhung‹ des empirisch-subjektiven Wertbilds einer Person, das uns an einem Menschen als Aktträger erscheint, liegt damit letztlich in der Übersteigung der Grenzen unserer eigenen subjektiven Wahrnehmung. Der Transzendenzakt der Liebe erlaubt es uns, das ›Gehäuse‹ unserer gewohnten Werterfassungsstrukturen zu verlassen und den anderen nicht als denjenigen zu erleben, der er hier und jetzt für uns ist, sondern als denjenigen, der er an sich ist. 259 Jemanden ›mit seinen Fehlern zu lieben‹, wie Scheler es verlangt 260, bedeutet meines Erachtens mithin nicht mehr und nicht weniger als uns von unserem situativen subjektiven Erleben zu lösen und ihn objektiv, als die Person, die er ist, zu sehen. Liebe 2: Liebe ist […] die intentionale Bewegung, in der sich von einem gegebenen Werte A eines Gegenstandes her die Erscheinung seines höheren Wertes realisiert. 261

Auch für das Liebesobjekt der Person lässt sich die Frage, inwiefern in der Liebe von einem gegebenen niederen Wert aus ein höherer Wert Siehe Kapitel 2.4.5 (b). Unter anderem im Ordo Amoris bezeichnet Scheler die Liebe daher auch als den geistigen Urakt, der jeder möglichen Erkenntnis vorausgeht: »Darum war uns Liebe immer auch zugleich der Urakt, durch den ein Seiendes – ohne aufzuhören, dieses begrenzte Seiende zu sein – sich selbst verläßt, um an einem anderen Seienden als ens intentionale so teilzuhaben und teilzunehmen, daß beide doch nicht irgendwie reale Teil voneinander werden. Was wir ›erkennen‹ nennen – diese Seinsrelation –, das setzt also immer diesen Urakt voraus: ein sich und seine Zustände, seine eigenen ›Bewußtseinsinhalte‹ Verlassen, ein sie Transzendieren, um mit der Welt in einen Erlebniskontakt der Möglichkeit nach zu kommen.« GW 10, S. 356. 260 Vgl. GW 7, S. 160 f. 261 GW 7, S. 156. 258 259

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erscheint, bisher nicht so recht beantworten. Nach dem von uns erarbeiteten Liebesbegriff sind die in der Liebe entdeckten ideal-objektiven Werte einer Person nichts anderes als die ihr wesenhaften Werte, die sie an sich ›hat‹. Diese müssen allerdings in der Rangordnung nicht zwangsläufig höher stehen als die empirisch-subjektiven Werte, die wir ohne Liebe am anderen wahrnehmen. Dennoch gehört die Erscheinung eines höheren Werts offenbar für Scheler – und vermutlich für die meisten Liebenden – wesensmäßig zum Phänomen der Liebe. Das anschließende Kapitel (2.5.4) wird sich dieser Frage daher noch etwas eingehender widmen und untersuchen, worin der höhere Wert eines persönlichen Objekts bestehen kann, der allein in der Liebe sichtbar wird. Zuvor kommen wir jedoch auf die dritte Liebesdefinition von Scheler zurück, die wir in Kapitel 2.4.4 besprochen hatten und die nun wiederum allererst und nur in Bezug auf ein persönliches Liebesobjekt verständlich zu sein scheint – Liebe 3: Insofern zeichnet die Liebe der empirisch gegebenen Person immer ein ›ideales‹ Wertbild gleichsam voraus, das dennoch zugleich als ihr ›wahres‹ und ›wirkliches‹, nur noch nicht im Fühlen gegebenes echtes Dasein und Wertsein in einem erfaßt ist. Dieses ›Wertbild‹ ist wohl in den empirisch im Fühlen schon gegebenen Werten ›angelegt‹ […], aber es ist gleichwohl nicht darin empirisch ›enthalten‹, es sei denn als ›Bestimmung‹ und objektiv idealische Forderung, ein noch schöneres und besseres Ganzes zu werden. 262

Beziehen wir diese Beschreibung auf einen einfachen Wertgegenstand, ist, wie wir sahen, kaum plausibel zu machen, wie ein Wert B in einem Wert A ›angelegt‹ sein kann, insofern dies letztlich bedeuten müsste, dass sich der Gegenstand in irgendeiner Weise entwickeln kann. 263 Das Liebesobjekt der Person stellt uns vor dieses Problem nicht. Zwar lässt sich nach Scheler genau genommen nicht von einer Entwicklung der Person in Zeit und Raum sprechen, jedoch offenbart sie sich in den je verschiedenen Entwicklungszuständen des Menschen. Die Werte, die ein Mensch als Aktträger aufweist und die von jedem erfassenden Subjekt wiederum ein wenig unterschiedlich wahrgenommen werden können, sind somit nichts anderes als vereinzelte Enthüllungen des idealen Wertbilds seiner Person. Dieses ist dabei in dem Sinne in der empirischen Werterscheinung ›angelegt‹, dass jene nur einen ganz bestimmten von vielen möglichen Ausdrü262 263

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GW 7, S. 156 f. Siehe Kapitel 2.4.4.

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cken der Person darstellt, welche erst durch die Transzendenz derselben voll sichtbar wird. Die Person als dynamisches Wesen und mithin ihr ideales Wertbild kann nie in einem konkreten Zustand des Menschen aufgehen, sondern muss sich in der empirischen Welt immer wieder neu verwirklichen. Damit wird auch Schelers Rede von einem individuellen Wertkern des Liebesobjekts, der sich nicht restlos in Einzelwerte auflösen lässt, noch etwas verständlicher: 264 Ist die Person ein wesentlich dynamisches und kein statisches Objekt, dann kann ebenso ihr Wertwesen keine feste Summe einzelner wahrnehmbarer Werte sein. Das ideal-objektive Wertwesen der Person oder ihr Wertprofil, wie wir es oben nannten, 265 ist vielmehr jene umfassende individuelle Wertstruktur, die ihrer Verwirklichung in den verschiedensten konkreten Werterscheinungen zugrunde liegt. Die Person und ihr Wertprofil können insofern niemals in den empirischen Einzelwerten des psychophysischen Menschen ganz enthalten sein, doch sie kündigen sich stets auf die eine oder andere Weise darin an.

2.5.4 Die Liebe und das Gute Die oben aufgeworfene Frage nach dem höheren Wert eines persönlichen Objekts, der einzig durch die Liebe entdeckt werden können soll, hängt eng mit der Frage nach dem moralischen Status der Liebe zusammen. Mit dem Liebesobjekt der Person ist für Scheler nämlich ein besonderer Wert der Liebesakte verbunden: Die Liebe zum Personwert, d. h. zur Person als Wirklichkeit durch den Personwert hindurch, ist die sittliche Liebe im prägnanten Sinne. 266

Wenn sie sich auf eine Person richten, werden Liebesakte also zu moralisch wertvollen Akten. Eine explizite Erklärung dazu erhalten wir von Scheler allerdings nicht, sodass wir versuchen müssen, sie zu rekonstruieren: Im Formalismusbuch stellt Scheler grundsätzlich fest, dass der Wert des Guten nicht selbst gewollt und realisiert werden kann, sondern denjenigen Akten zukommt, die Werte gemäß der Vorzugsordnung verwirklichen – das heißt die höheren vor den niederen und die 264 265 266

Siehe Kapitel 2.4.4. Siehe Kapitel 2.5.2. GW 7, S. 167.

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positiven vor den negativen. 267 Da ferner alle Akte zu einer Person gehören, die sie vollzieht, ist die wertrealisierende Person letztlich der erste Träger des Werts des Guten. 268 In der Sympathieschrift hingegen bemisst Scheler das ›Gutsein‹ einer Person »nach dem Maße der Liebe […], die sie hat« 269, da die Liebe aufgrund ihrer werterhöhenden Bewegung »(unter den Akten) der ursprünglichste Träger des ›Guten‹« 270 sei: Eben an jener Bewegung vom niedrigen zum höheren Wert kommt der Wert ›gut‹ zur ursprünglichsten Erscheinung. 271

Beide Bestimmungen scheinen jedoch nicht ohne Weiteres zusammenzupassen. Schelers Ausführungen im Formalismusbuch zufolge erscheint der Wert des Guten an Akten der Realisierung und nicht der Erhöhung von Werten. Soll diese Bestimmung gültig bleiben, müssten Liebesakte nicht nur Werte erhöhen, sondern im gleichen Zuge Werte verwirklichen. Doch welche Werte sollten dies sein? Darüber hinaus erklären beide Bestimmungen nicht, warum die Liebe zu einer Person moralisch wertvoller als andere werterhöhende oder -realisierende Akte sein sollte. Was ist das Besondere an der persönlichen Liebe, das ihr vor allen anderen Akten moralischen Wert verleiht? Ich möchte dazu folgende Lösung vorschlagen, die, wie ich denke, im Sinne Schelers sein könnte: Die Liebe zu einer Person ist darum unter den Akten der erste Träger des Werts des Guten, weil sie durch ihre Transzendenzbewegung den höchsten Wert der Vorzugsordnung realisiert – und das ist der Personwert selbst, der Wert, der einer Person qua Person zukommt. Die Person ist bei Scheler fraglos der höchste ›Wertgegenstand‹ : Einerseits ordnet Scheler in der formalen Rangordnung der Werte, die er im Formalismusbuch nach ihren wesenhaften Trägern aufstellt, alle Werte der Person sämtlichen Güter- oder Sachwerten vor. 272 Andererseits finden sich ebenso in der allgemeinen materialen Wertrangordnung Hinweise auf die Vorrangstellung der Person. Zwar taucht die Person hier nicht direkt auf, insofern der Personwert, da er zu einer Person als ebendieser individuellen Person gehört, selbst notwendig individuell ist. Schauen 267 268 269 270 271 272

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Vgl. GW 2, S. 47 f. Vgl. GW 2, S. 49. GW 7, S. 165. GW 7, S. 165. GW 7, S. 165. Vgl. GW 2, S. 117.

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wir uns aber die oberste Wertklasse in der materialen Rangordnung an, so stellen wir fest, dass diese Werte – die geistigen Werte beziehungsweise die Werte des Heiligen 273 – für Scheler im Gegensatz zu allen anderen Wertstufen nur in der Liebe zu einer Person erfasst werden, 274 dass diese Werte also primär Werte einer Person sind. Als schlechthin höchster Wert kann daher der Wert der Person selbst gelten, der Wert, den jede Person trägt, einfach weil sie eine Person ist. Diesen Personwert allerdings kann vor allem anderen die Liebe verwirklichen, indem sie durch die Transzendenz der empirisch-subjektiven Werte eines Menschen seine individuelle Person und ihr Wertwesen sichtbar macht, indem sie ihm, mit anderen Worten, die Freiheit gibt, über seine psychophysische Existenz hinaus eine Person zu sein: Nun gilt aber für die individuelle Person, daß sie uns überhaupt nur durch und im Akte der Liebe, d. h. also auch ihr Wert als Individuum nur in diesem Aktverlauf zur Gegebenheit kommt. Die Gegenständlichkeit als ›Liebesgegenstand‹ ist gleichsam der Ort, wo allein die Person existiert und darum auch auftauchen kann. 275

Der besondere höhere Wert des Liebesobjekts, den wir in der persönlichen Liebe entdecken können, ist mithin nichts anderes als der Personwert selbst. Indem sie diesen sichtbar macht und damit zugleich realisiert, kann die Liebe nun tatsächlich auch als eine Erhöhungsbewegung aufgefasst werden.

2.5.5 Diskussion Fassen wir zusammen: Wenn wir Schelers Liebesbegriff auf das Objekt der Person anwenden, so lässt sich die Liebe als ein Transzendenzakt verstehen, durch den wir die Subjektivität unserer Wertwahrnehmung überwinden und über die konkrete Werterscheinung hinaus, die ein Mensch für uns in seiner aktuellen raumzeitlichen Gegebenheit aufweist, die sich darin kundgebende individuelle Person in ihrem ideal-objektiven Wertwesen erblicken. Das ideale Wertbild einer Person oder ihr eigentümliches Wertprofil ist dabei in dem Sin273 Die Kategorisierung ist bei Scheler nicht ganz eindeutig, vgl. GW 2, S. 122–126 vs. S. 331–345. 274 Vgl. GW 2, S. 126. 275 GW 7, S. 168.

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ne in den empirischen Werten ›angelegt‹, als es als allgemeine richtunggebende Wertstruktur ihrer Verwirklichung in den einzelnen Werterscheinungen zugrunde liegt. Obwohl diese individuelle Wertstruktur einer Person nicht ohne Weiteres in Einzelwerte ausdifferenziert werden kann, können wir in der Liebe zu einer Person dennoch konkrete neue Werte entdecken, da der Transzendenzakt hier gerade im Nach- oder Mitvollzug ihrer Akte besteht und wir somit stets teilhaben an den jeweils realisierten Werten der geliebten Person. Auch lässt sich bei der Liebe zu einer Person durchaus von einer werterhöhenden Bewegung sprechen, insofern sie in der Tat einen höheren Wert an ihrem Objekt sichtbar macht, nämlich den Wert der Person selbst. Schließlich scheint Schelers Rede von einer Bestimmung oder einer »Forderung, ein noch schöneres und besseres Ganzes zu werden« 276 (Liebe 3) nur in Bezug auf eine Person Sinn zu ergeben, wobei damit meines Erachtens nichts anderes gemeint ist als die Erfüllung ihres individuellen Wertprofils. Die Erfüllung ihrer persönlichen ›Bestimmung‹ kann jedoch, da die Person ein wesentlich dynamisches Objekt ist, weniger in ihrer Entwicklung zu einem bestimmten Idealzustand gesehen werden als vielmehr in der vielfältigen Verwirklichung ihrer konstitutiven Wertinteressen. Indem die Liebe das besondere Wertwesen einer Person offenbart, das ihr selbst möglicherweise verborgen ist, können Liebende schließlich auch einander helfen, ihren persönlichen Werten zu folgen und ihr ›persönliches Heil‹ 277 zu realisieren. Schelers Liebesbegriff scheint sein volles Potenzial also erst mit der Anwendung auf das Objekt der Person zu entfalten. Bevor wir nun allerdings zu der Frage übergehen, inwiefern er uns damit zugleich eine vielversprechende Alternative zu verschiedenen aktuellen Liebeskonzepten bietet, wollen wir zunächst noch einen abschließenden kritischen Blick auf seinen Personbegriff werfen – denn die Beschreibung der Person, die Scheler in seinen Schriften gibt, stellt uns doch vor einige Schwierigkeiten. So ist etwa nur schwer einzusehen, was es genau heißen kann, dass die Person ihre Akte in Zeit und Raum ›hineinvollzieht‹, während sie selbst außerhalb derselben existiert. Wie ist dieses ›absolute Sein‹ zu verstehen, das den empirischen Erscheinungen des Menschen gegenüberstehen soll? Und wie kann es GW 7, S. 157. Siehe Kapitel 2.5.2; vgl. GW 2, S. 481 ff. Weitere Ausführungen dazu folgen in Kapitel 2.6. 276 277

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uns möglich sein, dieses in der Liebe zu erfahren, wenn es doch offensichtlich unseren Erfahrungsbereich übersteigt? Muss die Person, die wir in den raumzeitlichen Erscheinungen des anderen zu entdecken vermeinen, dann nicht lediglich eine Fiktion bleiben? Schelers Begriff der Person scheint in diesen Punkten nicht nur wenig unserem alltäglichen Erleben zu entsprechen, vielmehr scheint sich die Person hier unserem Erleben geradezu zu entziehen. Dieser Eindruck mag sich noch verstärken, wenn Scheler an anderer Stelle davon schreibt, dass eine Person neben einer sozialen Sphäre, die sie in Beziehungen zu anderen Personen mit diesen teilen könne, stets eine unzugängliche intime Sphäre habe, in der sie grundsätzlich einsam sei 278: […] die absolut intime Person ist es, die an einer Sozialverbindung mit anderen Personen […] keinen möglichen Anteil mehr hat. So steht sie innerhalb des Gesamtreiches endlicher Personen gleichsam in absoluter Einsamkeit – eine Kategorie, die also ein unaufhebbares Wesensverhältnis negativer Art zwischen endlichen Personen ausdrückt. 279

Endliche Personen sind demnach, mit anderen Worten, durch eine »absolute Grenze der Selbstmitteilbarkeit« 280 voneinander getrennt, die nach Scheler selbst in den »relativ intimsten Gemeinschaftsbeziehungen« 281 wie jener zwischen zwei Liebenden letztlich nicht überwunden werden kann. 282 Es liegt auf der Hand, dass damit eine der bemerkenswertesten Errungenschaften der Scheler’schen Liebesphilosophie – nämlich plausibel machen zu können, dass wir in der Liebe dem anderen als der Person begegnen, die er wirklich ist – in Zweifel gezogen, wenn nicht gänzlich hinfällig wird. Im Folgenden soll nun nicht der Versuch unternommen werden, Schelers Personbegriff umfassend zu verteidigen. Stattdessen möchte ich versuchen, eine Alternative aufzuzeigen, die ohne metaphysische Bedingungen auskommt und mit der es dennoch gelingt, Schelers Erkenntnisse zur Person zu bewahren, die für seinen Entwurf der persönlichen Liebe relevant sind. Nicht nur unabdingbar für Schelers Modell der persönlichen Liebe, sondern meines Erachtens auch relativ unproblematisch ist Vgl. GW 2, S. 548 ff. GW 2, S. 549. 280 GW 2, S. 549, Fußnote 2. 281 GW 2, S. 549, Fußnote 2. 282 Einzig mit Gott können wir Scheler zufolge als absolut intime Person in Beziehung treten; vgl. GW 2, S. 550. 278 279

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die Identifizierung der Person mit den geistigen Akten des Menschen, das heißt mit seinen Intentionen, in denen er sich in bestimmter Weise auf die Welt, die ihn umgibt, und die Dinge darin bezieht und sich zu ihnen verhält. 283 Dabei halte ich Schelers These für plausibel, dass die für eine Person primären Akte in irgendeiner Form auf Werte gerichtet sind und es ihre spezifische Wertorientierung ist, durch die sich Personen letztlich individuieren. So machen wir häufig die Erfahrung, dass Menschen in dem, was sie tun oder wie sie sich verhalten – sei es, einer alten Frau über die Straße zu helfen, sich ein Klavierkonzert anzuhören oder Angst vor einer Prüfung zu haben –, jeweils besondere Werte realisieren oder zu realisieren suchen und dass es diese ihre wertgerichteten Akte sind, die uns etwas darüber verraten können, wer sie eigentlich sind, mit was für einer Person wir es zu tun haben. Problematisch ist dagegen Schelers These, dass die Person, als »Seinseinheit« 284 aller intentionalen Akte eines Menschen verstanden, welche für uns sehr wohl in Raum und Zeit erfahrbar sind, selbst jenseits der empirischen Welt existiert und unberührt von ihrem Wandel fortbesteht. Auch die Formulierung, dass die Person »ihre Akte in die Zeit hinein« 285 vollzieht, ist dabei nicht sonderlich hilfreich: Sie scheint einerseits die Person zu einem bloßen Ausgangspunkt von Akten zu machen und ein substanzielles Verständnis der Person nahezulegen, welches von Scheler wiederum vehement abgelehnt wird. 286 Andererseits ist keineswegs ersichtlich, wie wir uns einen solchen die Grenzen von Raum und Zeit überschreitenden Aktvollzug genau vorzustellen haben. Dies wird auch dann nicht klarer, wenn wir uns an die Erklärung Schelers halten, dass die Person im Grunde ausschließlich in ihren Akten beziehungsweise im Aktvollzug ›lebe‹. 287 Wie ist ein solches Wesen zu denken, das außerhalb der Zeit und zugleich in sie ›hineinlebt‹ ? Nicht zuletzt führt Schelers These von dem außerzeitlichen, ›absoluten Sein‹ 288 der Person ihn zu dem Schluss, dass die Person ungeachtet der Entwicklung des empirischen 283 Dieser Gedanke findet sich in neuerer Zeit etwa bei Robert Spaemann wieder; siehe Spaemann (1996): Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart: Klett-Cotta 1996. 284 GW 2, S. 382; vgl. Kapitel 2.5.1. 285 GW 2, S. 385. 286 Vgl. GW 2, S. 383. 287 Vgl. GW 2, S. 384 f., 389. 288 Vgl. GW 7, S. 162, Fußnote 2.

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Menschen selbst zu keiner wirklichen Veränderung fähig sei 289 – was sich schwerlich aus unserer gewöhnlichen Erfahrung bestätigen lässt. Wenngleich diese metaphysischen Annahmen Schelers nicht sehr plausibel anmuten, so lassen sie sich meines Erachtens doch weitgehend auf Erfahrungen zurückführen, die wir durchaus in der Liebe machen können – wie etwa die Erfahrung, dass die geliebte Person in irgendeinem Sinne mehr ist als das, was wir in einzelnen Situationen von ihr wahrnehmen, was uns im Hier und Jetzt von ihr gegeben ist; dass sie mit der Zeit vielleicht immer wieder Entwicklungen durchläuft und dabei stets irgendwie dieselbe Person bleibt; oder dass unsere Liebe zu einer Person über den gegenwärtigen Moment hinauszureichen scheint und gleichsam in ihre Vergangenheit zurück- oder in ihre Zukunft vorausgreift. Allerdings denke ich, dass auch eine an Scheler anknüpfende Beschreibung der Person möglich ist, die derartigen Phänomenen Rechnung trägt, ohne ein ›absolutes Sein‹ annehmen zu müssen, das letztlich jenseits der für uns erfahrbaren Welt angesiedelt ist. Die Alternative, die ich hier vorschlagen möchte – ohne zugleich die weitere und zweifellos grundlegende Frage nach dem Dualismus von Geist und psychophysischem Organismus des Menschen in Angriff nehmen zu wollen –, besteht darin, die Person als die strukturelle und sinnhafte Einheit der intentionalen Akte des Menschen zu verstehen. Um diesen Vorschlag genauer zu erklären, werde ich im Folgenden gesondert auf die Punkte Intentionalität und Einheit eingehen und anschließend die Frage nach der persönlichen Entwicklung aufgreifen. (a) Intentionalität Der Begriff der Intentionalität wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Franz Brentano in die philosophische Debatte eingebracht, um die psychischen Phänomene von den physischen abzugrenzen. Für ihn liegt das charakteristische Merkmal alles Psychischen im Gegensatz zum Physischen in der Bezogenheit auf ein Objekt, was er auch als »intentionale Inexistenz« 290 oder »immanente

Vgl. GW 7, S. 162, Fußnote 2; GW 2, S. 384 f. Brentano (1874a): Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, Buch 2, Kapitel 1, § 5. 289 290

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Gegenständlichkeit« 291 bezeichnet. Aufgenommen und konkretisiert wird dieser Gedanke von Edmund Husserl, der statt von psychischen Phänomenen von intentionalen Erlebnissen oder Akten spricht, die das bewusste Dasein charakterisieren, und diese explizit von nichtintentionalen Zuständen, wie bloßen Körperempfindungen, unterscheidet. 292 Scheler wiederum übernimmt zwar letztere Unterscheidung 293 sowie die allgemeine Rede von intentionalen Akten, folgt Husserl und Brentano jedoch nicht darin, die intentionale Bezugnahme auf ein Objekt als ein Spezifikum der Psyche zu betrachten. Für ihn ist es vielmehr der »psychophysisch indifferent[e]« 294 Geist, der sich durch Intentionalität auszeichnet: Wohl aber nehmen wir für die gesamte Sphäre der Akte […] den Terminus ›Geist‹ in Anspruch, indem wir alles, was das Wesen von Akt, Intentionalität und Sinnerfülltheit hat – wo immer es sich finden mag –, also nennen. 295

Mittlerweile gehört der Begriff der Intentionalität im Sinne der Objektgerichtetheit zu den Grundbegriffen der Philosophie des Geistes. Es ist weitgehend unumstritten, dass es geistige Phänomene gibt, die eine intentionale Struktur aufweisen, und auch in der neueren Debatte vertreten einige Philosophen, wie etwa Tim Crane, die Meinung, dass Intentionalität das Kennzeichen des Geistigen überhaupt sei. 296 Die von Scheler angestrebte klare Trennung von psychischen Vorgängen oder Zuständen einerseits und geistigen Akten andererseits wird dabei allerdings oft kaum thematisiert und nicht selten werden Begriffe wie Psyche, Bewusstsein oder Geist nebeneinander verwendet, ohne sie eindeutig voneinander zu unterscheiden. Eine etwas differenziertere, wenngleich nicht weiter ausformulierte Position versucht unter anderem Spaemann einzunehmen, wenn er in seinem Buch Personen Intentionalität zwar ausdrücklich zu einer Eigenschaft des Geistigen erklärt 297, aber zugleich alle psychischen Ereignisse für

Brentano (1874a): Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1, Buch 2, Kapitel 1, § 5. 292 Husserl (1900/01): Logische Untersuchungen, Bd. 2, Teil 1, V, §§ 9, 10, 15 b. 293 Siehe zu Schelers Klassifizierung der verschiedenen emotionalen Phänomene GW 2, S. 261–270; auch Kapitel 2.2.1. 294 GW 2, S. 388. 295 GW 2, S. 388. 296 Siehe zum Beispiel Tim Crane (2007): Intentionalität als Merkmal des Geistigen. Sechs Essays zur Philosophie des Geistes, Frankfurt a. M.: Fischer 2007. 297 Vgl. Spaemann (1996), S. 63. 291

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»potentiell intentional« 298 hält, insofern sie stets auch zu bewussten intentionalen Erlebnissen werden könnten. Generell scheinen zum Thema Intentionalität jedoch nach wie vor – oder vielleicht mehr denn je – viele Fragen offen zu sein. So ist meines Erachtens, um nur eine zu nennen, nicht unbedingt selbstevident, warum intentionale Akte, wie es zumeist vorausgesetzt wird, immer bewusst sein sollten. Seit Brentano und Husserl kann etwa die Wahrnehmung als ein klassisches Beispiel eines (bewussten) intentionalen Akts gelten. Zumindest unter Psychologen wird heute dagegen die These vertreten, dass Wahrnehmungen durchaus unbewusst bleiben können. 299 Erst recht erklärungsbedürftig erscheint die Annahme, dass alle intentionalen Akte bewusste Erlebnisse seien, wenn wir es mit einer Verknüpfung oder Verschachtelung mehrerer verschiedener Akte zu tun haben. So kann beispielsweise ein Urteilsakt über ein Kunstwerk sicherlich mit einer Vielzahl anderer Akte wie der visuellen Wahrnehmung oder der Werterkenntnis verbunden sein, ohne dass wir darum jeden einzelnen davon bewusst erleben müssten. 300 Allerdings kann und muss die allgemeine Frage, wie sich das Verhältnis von psychischen Prozessen, bewusstem Erleben und geistigen Akten beschreiben lässt, an dieser Stelle als Forschungsdesiderat dahingestellt bleiben. Für unsere Zwecke ist es zunächst ausreichend, zu beleuchten, inwiefern Personen durch intentionale Akte bestimmt sind. Wenn ich im Folgenden von einem intentionalen Akt spreche, so meine ich damit nichts anderes als die Bezugnahme auf ein (intentionales) Objekt. Da ich nicht der Ansicht bin, dass sich bloße psychische Ereignisse selbstständig auf etwas beziehen können oder etwas ›meinen‹ können, werde ich hierbei (mit Scheler) auch von geistigen Akten sprechen. Der Begriff der Person, als intentionale Struktur des Menschen verstanden, bezieht sich mithin auf die Gesamtheit der geistigen Akte, die ein Mensch vollzieht. Obschon sich die Person folglich durch die verschiedenartigsten intentionalen Akte konstituiert, ist sie doch, und auch in diesem Punkt schließe ich mich ausdrücklich Scheler an, primär durch ihre werterkennenden Akte chaSpaemann (1996), S. 66. Siehe unter anderem Norman F. Dixon (1971): Subliminal Perception. The Nature of a Controversy, London/New York: McGraw-Hill 1971. 300 Fraglich wäre auch, ob die Kapazität unseres Bewusstseins überhaupt dafür ausreichen würde. 298 299

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rakterisiert, das heißt durch ihre emotionalen Akte. Personen individuieren sich demnach vor allem durch ihre Wertorientierung, die der Welt, in der sie leben, ihre je besondere Gestalt verleiht. Und insofern es die Werte einer Person sind, die ihre Welt allererst als sinnhafte Einheit, als Bedeutungsganzes konstituieren, sind es letztlich ihre werterfassenden Akte, in denen sämtliche anderen Akte wie jene des Wollens oder des Denkens fundiert sind. So kann zum Beispiel der besondere ästhetische Wert, welcher für eine Person in einem bestimmten Musikstück liegt, in ihr den Willen wecken, eine Aufführung desselben zu besuchen. Dieses Wertinteresse gibt ihr allerdings nicht nur ein Handlungsziel, sondern der Willensakt selbst erhält hierdurch tatsächlich erst seinen konkreten Sinn. Ohne einen solchen Werthintergrund ließe sich der bloße Wille, zu jenem Konzert zu gehen, nicht verstehen – und je nachdem, welche Werte diesem Willensakt zugrunde liegen (ästhetische Werte, Bildungswerte, Unterhaltungswerte etc.), kann er völlig unterschiedliche Bedeutungen besitzen: So bedeutet es etwas anderes, wenn jemand, der die Musik schätzt, das Konzert besuchen möchte oder vielleicht jemand, dem mehr an einer anspruchsvollen Abendgestaltung gelegen ist. Die Person als die intentionale Struktur des Menschen ist also keineswegs als eine beliebige Ansammlung verschiedenster geistiger Akte anzusehen. Vielmehr bilden die emotionalen, wertbezogenen Akte des Menschen das Fundament für alle anderen Akte, insofern sie ihnen ihren spezifischen Sinn verleihen. Die Individualität der Person liegt jedoch weniger in den einzelnen Werten begründet, die sie hat, oder deren bloßer Summe. Zweifellos können Personen eine Vielzahl von Werten teilen, ohne dass ihre Individualität infrage gestellt wäre. Ebenso wenig hängt ihre Individualität als Person davon ab, welche Werte sie faktisch in ihrer Umwelt realisieren (können). So ist es in einer entsprechend restriktiven Gesellschaft durchaus möglich, dass die meisten Personen mehr oder weniger dieselben Werte verwirklichen, ohne darum ihre Individualität zu verlieren. Was stets einzigartig bleibt, ist die besondere gesamtheitliche Wertstruktur, die sämtliche Werte einer Person gemeinsam ergeben und die den jeweiligen Hintergrund ihrer konkreten Werterlebnisse und -realisierungen bildet. Jede Person hat ihren eigenen Wertmikrokosmos 301, in dem jeder einzelne Wert einen speziellen Platz einnimmt und in bestimmten Beziehungen zu anderen Werten steht. Wenn301

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Den Begriff des Wertmikrokosmos entlehne ich von Scheler, der in seiner Schrift

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gleich verschiedene Personen dieselben Werte teilen mögen, so finden sie sich doch bei jeder Person in einer anderen Ordnung, aus der heraus wiederum unterschiedliche Akte vollzogen werden können. Die primären Wertintentionen eines Menschen können in dieser Weise letztlich als das Grundgerüst seiner gesamten intentionalen Struktur gelten. Damit sind wir beim zweiten Teil des von mir vorgeschlagenen Personbegriffs angelangt: dem Aspekt der Einheit oder Einheitlichkeit. Er soll im nächsten Abschnitt eingehender dargestellt werden. (b) Einheit Wenn oben die Rede von der Person als der Gesamtheit aller geistigen Akte des Menschen war, ist damit, wie gezeigt, keine bloße Summe seiner Akte gemeint. Eine solche These entspräche auch schwerlich unserer Erfahrung, denn normalerweise erleben wir Personen nicht als mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelte Aktbündel. Ebenso ist hierbei weniger an Abgeschlossenheit oder Vollständigkeit zu denken, insofern sich Personen sehr wohl entwickeln und verändern können (ohne darum zu anderen Personen zu werden). In Erklärungsnöte brächte uns insbesondere die Vorstellung, dass diese Gesamtheit tatsächlich jeden vergangenen und zukünftigen Einzelakt eines Menschen umfassen würde, so als bestünde eine Person aus allen faktisch vollzogenen Akten eines Menschen und wäre mithin gewissermaßen erst am Lebensende vollständig. Dennoch ist eine Person kaum wie ein statischer Gegenstand in ihrer aktuellen Gegebenheit voll erfassbar, sondern scheint das Hier und Jetzt stets in irgendeiner Weise zu übersteigen. Die Frage ist also, in welcher Weise sie dies tut und wie demnach die Person als die Gesamtheit der intentionalen Akte des Menschen zu verstehen ist, ohne dass wir wie Scheler ein außerzeitliches absolutes Sein annehmen müssen, das sämtliche in der Zeit vollzogenen Akte vereint. Wie wir bereits gesehen haben, können einem einzelnen volitiven Akt je nach den wertgerichteten Akten, mit denen er verbunden ist, verschiedene Bedeutungen zukommen. Nun gilt meines Erachtens generell für alle Einzelakte, die zu einer Person gehören, dass

Ordo Amoris das menschliche ›Gemüt‹ als einen »Mikrokosmos der Wertewelt« beschreibt; GW 10, S. 361. Liebe und Hass

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sie nicht einfach separat nebeneinander, sondern in einem größeren Sinnzusammenhang stehen, der ihnen eine je besondere – persönliche – Bedeutung verleiht. Jeder intentionale Akt besitzt zwar einen allgemeinen Sinn, den wir erfassen können, auch ohne auf die Person zu schauen, zu der er gehört. So können wir etwa verstehen, was es heißt, ein Konzert besuchen zu wollen, ohne dass wir die Person kennen müssten, der wir den Weg zum Konzerthaus weisen. Darüber hinaus hat er jedoch ebenso eine in keiner Weise verallgemeinerbare Bedeutung, die er einzig als Akt dieser einen Person und keiner anderen besitzt. Als ein solcher ›persönlicher Akt‹ ist er nicht für sich allein verstehbar, sondern nur und ausschließlich vor dem Hintergrund des jeweiligen individuellen Aktkomplexes, in den er sich einfügt: Der Wunsch einer Person, zu einem Konzert zu gehen, ist kein zusammenhangloses, singuläres Ereignis. Er ist stets mit einer Reihe weiterer Akte der Person verknüpft – wie einer Bewunderung für den Komponisten, früheren musikalischen Erlebnissen, einer Empörung über die Eintrittspreise, einer Hoffnung, bestimmten Personen zu begegnen oder Ähnlichem –, durch die er erst seine konkrete, individuelle Bedeutung gewinnt. Allerdings sind bei einer Person nicht lediglich einige Einzelakte miteinander verbunden, sondern letztlich ergeben alle Akte, die zu ihr gehören, ein vielschichtiges komplexes Gefüge, das jeden von ihnen in denselben gemeinsamen Sinnzusammenhang stellt. Wenngleich sämtliche Akte einer Person in dieser Weise eine größere sinnhafte Einheit bilden, ist hierfür aber weder jeder intentionale Akt eines Menschen gleichermaßen relevant, noch ist der alle persönlichen Akte durchziehende einheitliche Sinn von irgendeinem einzelnen konkreten Aktvollzug abhängig. Fundierend für den gemeinsamen Sinnzusammenhang ist vielmehr die spezifische Wertorientierung der Person. Insofern ihre Werte, wie gesehen, ihre Welt überhaupt erst als Bedeutungsganzes erscheinen lassen, sind sie es auch, welche die besondere Sinneinheit der auf diese Welt gerichteten Akte konstituieren. Sprechen wir von einer Person, reden wir meines Erachtens also von der strukturellen und sinnhaften Einheit der intentionalen oder geistigen Akte eines Menschen, die in seinen individuellen Werten fundiert ist. Da der Mensch jedoch nur durch emotionale Akte in der Lage ist, Werte zu erschließen, spielen sie für die Struktur und den Sinn seiner gesamten Intentionalität letztlich die größte Rolle und sind für die individuelle Person mithin grundlegender als zum Beispiel rein kognitive Akte. 104

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Mit dieser Variante zu Schelers metaphysischem Personbegriff lassen sich, denke ich, dessen augenscheinliche Schwierigkeiten leicht auflösen, ohne etwas von Schelers Beschreibung der persönlichen Liebe aufgeben zu müssen. Verstehen wir die Person als die strukturelle und sinnhafte Einheit der Intentionalität eines Menschen, so ist ersichtlich, dass sich die Person in irgendeiner Form in jedem einzelnen zu ihr gehörigen Akt andeutet, insofern er Teil dieser Einheit ist, sie jedoch niemals in einem konkreten Einzelakt voll gegeben sein kann. Daraus erklärt sich die genannte Erfahrung, dass die Person, obwohl im Moment erfahrbar, stets zugleich das Hier und Jetzt zu transzendieren scheint: Die Person als Struktur- und Sinneinheit der Intentionalität eines Menschen wird und kann nur durch immer wieder neue Akte in Raum und Zeit erfüllt und zur Erscheinung gebracht werden, weshalb sie selbst nicht an einen bestimmten Raumzeitpunkt gebunden sein kann. Eine Person zu lieben bedeutet nach meinem Verständnis also, in den unterschiedlichen intentionalen Akten eines Menschen und den darin verwirklichten Werten die gesamtheitliche Struktur und Sinneinheit zu entdecken, deren Teil sie sind und die ihnen ihre besondere persönliche Bedeutung verleiht. Insofern kann ich Scheler nur zustimmen, wenn er sagt: »Die Liebe liebt und schaut im Lieben immer etwas weiter als nur auf das, was sie in Händen hat und besitzt.« 302 In der Liebe bleiben wir nicht bei dem stehen, was uns von einem Menschen hier und jetzt gegeben ist. Wir blicken stattdessen von seinen aktuell erlebbaren Akten, oder auch von den bereits erlebten, auf ihre strukturelle und sinnhafte Einheit, die in keinem einzigen konkreten Aktvollzug ganz zur Erscheinung kommt, sich aber doch durch jeden von ihnen erfüllt. Das ›ideale Wertwesen‹ der Person, das im liebenden Mitvollzug ihrer Akte offenbar wird, ist dabei nicht mehr und nicht weniger als ihr struktur- und sinngebendes Wertfundament, durch das sie sich als die individuelle Person, die sie ist, konstituiert. Ideal können wir dieses insofern nennen, als es etwas ist, das stets realisiert werden will. Unterstützen sich zwei Liebende gegenseitig, ihre persönlichen Werte zu verfolgen, helfen sie mithin zwar einander, die Person zu verwirklichen, die sie sind – dieser Prozess kann allerdings niemals abgeschlossen sein, da die Person selbst immer nur etwas zu Verwirklichendes ist und als solche zu keinem Zeitpunkt vollkommen verwirklicht sein könnte.

302

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(c) Entwicklung Dass die Person an keinem konkreten Raumzeitpunkt voll erfasst werden kann, bedeutet nun aber wiederum nicht, dass sie ein außerzeitliches Sein besäße und sich daher nicht wirklich verändern, sondern lediglich ›enthüllen‹ könne, wie Scheler schreibt. 303 Die Struktur und der gemeinsame Sinn der geistigen Akte eines Menschen können mit der Zeit sehr wohl einen Wandel durchlaufen. So kann sich der fundierende Wertmikrokosmos um neue Werte erweitern und alte Werte können neue Plätze einnehmen oder vielleicht sogar ganz aufgegeben werden. Obgleich ich nicht der Meinung bin, dass allein von einer ›Variation‹ der grundlegenden Wertintentionen in den konkreten Aktvollzügen die Rede sein kann und jede Entwicklung des Menschen gewissermaßen auf die Erfüllung einer unveränderlichen individuellen Bestimmung hinausläuft, wie es Scheler nahelegt 304, stimme ich ihm darin zu, dass sich die Person nicht »wie ein Ding in der Zeit« 305 verändert. Offensichtlich ist sicherlich, dass sich die Wandlungen einer Person nicht einfach auf Kausalgesetze zurückführen lassen und sie auch nicht in derselben Weise dem Lauf der Zeit unterworfen ist wie der menschliche Körper, der über die Spanne des Lebens unweigerlich wächst, blüht und verfällt. Doch obwohl die Veränderungen einer Person keinem Gesetz folgen, stellen sie ebenso wenig ein chaotisches Geschehen dar. Vielmehr stehen sie, wie die konkreten Aktvollzüge selbst, in einem besonderen Sinnzusammenhang, der die Identität der Person durch die Zeit hindurch erhält. Die strukturelle und sinnhafte Einheit unserer intentionalen Akte kann sich nicht in irgendeine beliebige andere verwandeln, denn sie ist wesentlich an unsere Werte gebunden und diese ändern sich nicht von einem Moment auf den anderen. Die Werte, die wir haben – und die wir uns nicht in einer bewussten Wahl aussuchen können –, bilden das Fundament unserer Identität als Person und geben damit ebenfalls die Möglichkeiten unserer persönlichen Entwicklung vor. Dies ist meines Erachtens jedoch nicht als absolut zu verstehen, so als wäre damit der Rahmen unserer potenziellen Entwicklung grundsätzlich abgesteckt: Dasjenige Wertprofil, von dem unsere Person hier und jetzt geprägt ist, bestimmt lediglich die Ausgangslage des uns aktuell möglichen Wertwachstums. Mit den neu hinzutretenden Werten 303 304 305

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Vgl. GW 7, S. 162, Fußnote 2; siehe Kapitel 2.4.5 (d). Vgl. GW 2, S. 384 f., 481 ff.; GW 10, S. 351 ff. GW 2, S. 384.

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kann sich nach und nach auch die allgemeine Wertkonstellation verschieben und wiederum neue Spielräume für die Entwicklung unserer Person eröffnen. So kann etwa der ein oder andere zentrale Wert zunehmend an Wichtigkeit verlieren, während bislang weniger beachtete Werte mehr in den Mittelpunkt rücken. Es ist ebenso möglich, dass wir spontan einen völlig fremden Wert übernehmen und in unser Wertprofil eingliedern. Der entscheidende Punkt ist, dass wir neue Werte stets integrieren: Sie gesellen sich nicht beliebig zu den anderen dazu oder stehen unverbunden zwischen ihnen, sondern wir machen sie uns zu eigen und fügen sie in unseren bestehenden Wertkomplex ein wie einen neuen Ton in eine Komposition. In dieser Weise löst sich die ursprüngliche Struktur- und Sinneinheit der sich wandelnden Person nicht einfach auf und wird gegen eine andere eingetauscht, vielmehr entwickelt sie sich in einem lebensumspannenden offenen Prozess organisch weiter. Wiewohl die persönliche Veränderung mithin keine bloße Variation ein und desselben Themas bleiben muss, wie Scheler zu behaupten scheint, gehe ich davon aus, dass es für jede Person bestimmte Grundwerte gibt, die unauflöslich mit ihrer Identität verbunden sind. Sie können im Laufe der Zeit unterschiedliche Positionen im gesamten Wertgefüge einnehmen und in ihrer Aktualität oder Zentralität wechseln, erhalten sich aber mehr oder weniger durch alle Entwicklungen hindurch und bewahren so in verschiedener Form den Einheitssinn der sich verändernden Person. Wenn wir noch einmal auf die musikalische Metapher zurückgreifen, können wir also sagen, dass die Person weder hinsichtlich der konkreten Akte noch hinsichtlich ihrer möglichen Wandlungen eine bloße Abfolge einzelner Töne oder Melodien ist, sondern ein einziges großes Musikstück, das sich über die Zeit vielfältig ausgestaltet. 306

306 Ein Ansatzpunkt für die Frage nach dem Verhältnis unserer geistigen und psychophysischen Natur bietet sich an dieser Stelle übrigens bei Otto F. Bollnow, der unter anderem auch an den Husserl-Schüler Martin Heidegger anknüpft. In seinem Buch Das Wesen der Stimmungen stellt er den intentionalen Akten eine von der jeweiligen Umwelt abhängige psychophysische Verfassung des Menschen gegenüber, welche – wie die Stimmung oder Gestimmtheit eines Instruments das Spiel – die Möglichkeiten des konkreten Aktvollzugs bestimme; vgl. Otto Friedrich Bollnow (1941): Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M.: Klostermann 1995, S. 33–43. Im Anschluss an ihn ließe sich mithin überlegen, inwiefern der psychophysische Organismus des Menschen auch als das Instrument verstanden werden kann, durch welches sich die ›Musik‹ seiner Person realisiert.

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Scheler schließt nun allerdings nicht nur die Möglichkeit einer persönlichen Entwicklung aus, sondern schränkt ebenso die individuellen Möglichkeiten der Werterfahrung recht stark ein, indem er sie im Allgemeinen auf frühkindliche Werterlebnisse zurückführt. 307 Auch diesen Punkt möchte ich hier relativieren. Zweifellos spielen die ersten Werterfahrungen keine unerhebliche Rolle für das weitere Werterleben eines Menschen. Doch anders als Scheler, der von lebenslänglichen grundsätzlichen Prägungen, etwa durch Vorbilder wie Vater und Mutter, auszugehen scheint 308, würde ich hierbei eher von Wahrnehmungsgewohnheiten sprechen, die Einfluss auf unsere späteren Erlebnismöglichkeiten haben, sie aber weder zwingend noch umfassend festlegen. Damit geht die These einher, dass es sich nicht nur bei der Liebe, wie Scheler meint, sondern auch bei unserer Werterkenntnis letztlich um spontane Akte unserer Person handelt, sodass wir prinzipiell stets zu neuen Erfahrungen in der Lage sind, die unseren gewohnten Werthorizont erweitern können – sei es durch eine neue Lebenssituation, ein anderes soziales Umfeld oder eben die Liebe. Die Werte, mit denen wir aufwachsen, tragen mithin zwar zum Gesamtwertbestand unserer Welt bei und werden von uns sicherlich auch gewohnheitsmäßiger wahrgenommen, sie bestimmen jedoch nicht die Grenzen der uns überhaupt möglichen Werterfahrung. Ebenso wenig können sie vorgeben, welche Werte für uns als Person besondere Relevanz besitzen, das heißt, in welchen Werten wir das ›An-sich-Gute für uns‹ 309 entdecken beziehungsweise, in Adaption der Scheler’schen Formulierung, das ›An-sich-Schlechte für uns‹. So hängt meines Erachtens im Grunde bereits die Orientierung an Vorbildern oder eben Gegenbildern von entsprechenden mehr oder weniger bewussten Wertinteressen unserer Person ab 310, die mit der Zeit freilich wechseln können. Die von Scheler angedeutete Tatsache, dass unser subjektives Werterleben Erfahrungsprägungen oder -gewohnheiten unterworfen sein kann, die es uns nur teilweise oder im Extremfall gar nicht ermöglichen, eigene persönliche Werte zu realisieSiehe Kapitel 2.4.2. Vgl. GW 10, S. 223 f. Scheinbar im Widerspruch dazu betont Scheler allerdings oft auch gerade die unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten unseres Wertfühlens durch die Liebe, vgl. etwa GW 2, S. 266 f., 272. 309 Vgl. GW 2, S. 481 ff. 310 Diese Idee findet sich auch bei Nicolai Hartmann, der sich im Anschluss an Scheler dem umfassenden systematischen Entwurf einer materialen Wertethik widmete; vgl. Hartmann (1926): Ethik, 4. Aufl., Berlin: de Gruyter 1962, Kapitel 14 e). 307 308

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ren 311, wirft indessen verstärkt die Frage nach der Autonomie der Person auf. Handelt es sich bei den in früher Kindheit erlernten Wertschätzungen um feste Prägungen, scheint es in der Tat kaum in unserer Hand zu liegen, ob wir uns als die individuelle Person verwirklichen können, die wir sind, oder ob wir letztlich nach fremden oder für unsere persönliche Erfüllung irrelevanten Werten leben. Gewohnheiten hingegen können wir uns bewusst machen und sie damit grundsätzlich auch, wenngleich nicht einfach ändern. Indem wir gemeinsam mit anderen unsere subjektiven Erlebnisse reflektieren, ist es uns möglich, die darin wirksamen Werteinstellungen zu überprüfen und Erfahrungsgewohnheiten zu identifizieren, die unsere persönliche Verwirklichung beeinträchtigen oder verhindern, und uns sukzessive von diesen zu lösen. Für einen autonomen Lebensvollzug ist es meines Erachtens mithin weniger entscheidend, welche Werte wir in einer konkreten Situation wahrnehmen oder realisieren, sondern vielmehr, dass wir zwischen Eigen- und Fremdinteressen unterscheiden und uns zu uns selbst verhalten können. 312 Von einer selbstbestimmten Entwicklung unserer Person lässt sich zwar nicht in dem Sinne sprechen, dass wir bewusst wählen könnten, welche Werte für uns persönlich von besonderer Bedeutung sind oder einmal sein sollen – wir können nur, wie Scheler es beschreibt, den besonderen ›Ruf‹ jener Werte an uns erleben: den »Fingerzeig, der von diesem Gehalte ausgeht und auf ›mich‹ deutet; was gleichsam sagt und flüstert: ›für dich‹.« 313 Unser persönliches Wertprofil geht, mit anderen Worten, schlicht auf spontane Akte unserer Person zurück. Es liegt jedoch in unserer Entscheidung, immer wieder unsere faktische Werterfahrung und -realisierung zu reflektieren, uns über unsere persönlichen Wertinteressen klar zu werden und gegebenenfalls unsere praktischen Einstellungen oder unsere Lebensumstände so zu gestalten, dass sich unsere individuelle Person (besser) entfalten kann. 314

Siehe Kapitel 2.5.2. Die allgemeine Fähigkeit, zwischen Fremd- und Eigeninteressen unterscheiden zu können, ist für Scheler eines der Grundkriterien, um einer Person moralische Verantwortlichkeit zusprechen zu können; vgl. GW 2, S. 471. 313 GW 2, S. 482. 314 Auch uns selbst gegenüber können wir meines Erachtens daher in gewissem Sinne heteronom sein, wenn wir etwa aus Gewohnheit vorwiegend Werten folgen, die für uns in einer Phase unseres Lebens einmal zentral waren, mittlerweile aber für unser persönliches Selbstverständnis unbedeutender geworden sind, oder Werte 311 312

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Mit dem hier skizzierten Begriff der Person als struktureller und sinnhafter Einheit der Intentionalität des Menschen – den ich in den weiteren Ausführungen auch für den Menschen verwenden werde, sofern er der Vollzieher jener intentionalen Akte ist – haben wir schließlich eine voraussetzungsärmere Variante zu Schelers Personbegriff zur Hand 315, die sich meines Erachtens nahtlos in sein Konzept der persönlichen Liebe übernehmen lässt. Im nächsten Teil können wir daher dazu übergehen, das Potenzial des Scheler’schen Liebesbegriffs für die gegenwärtige philosophische Debatte herauszuarbeiten.

2.6 Schelers Liebesbegriff im Kontext der aktuellen Liebesdebatte Im Folgenden sollen die wesentlichen Bestimmungen der Liebe, wie sie Scheler beschreibt, noch einmal rekapituliert und weiterformuliert werden. In diesem Zusammenhang werden nun auch die zu Beginn des Kapitels vorgestellten Positionen der gegenwärtigen Liebesdebatte an gegebener Stelle wieder aufgegriffen und diskutiert, um das Potenzial eines an Scheler anknüpfenden Liebeskonzepts detailliert aufzeigen zu können. Im ersten Teil soll herausgestellt werden, worin die Liebesemotion im engeren Sinne besteht und inwiefern es sich hierbei um ein interpersonales Phänomen handelt. Der zweite Teil entwickelt im Ausgang von Schelers Grundbegriff der Liebe als (einseitiger) Akt einen weiteren Begriff der Liebe als (wechselseitige) Interaktion, der erst eine sinnvolle Beschreibung der spezifischen Liebesgemeinschaft ermöglicht, in der meines Erachtens jede echte Liebesbeziehung fundiert ist. Die im dritten Teil folgende Konklusion

ignorieren, deren Realisierung vielleicht mit ›unbequemen‹ Lebensveränderungen verbunden wäre. 315 Scheler selbst hat die Idee der Person als eines bloßen Zusammenhangs oder auch eines intentionalen Sinnzusammenhangs ihrer Akte übrigens mit der Begründung abgelehnt, dass die Person gewissermaßen in jedem einzelnen ihrer Akte stecke und keineswegs ›hinter‹ oder ›über‹ diesen stehe; vgl. GW 2, S. 384 f. Diese Kritik trifft uns indessen weniger, insofern die spezifische Struktur- und Sinneinheit der Person nach unserem Modell durchaus in allen konkreten Einzelakten gegenwärtig ist und in keiner Weise unabhängig von ihnen bestehen kann. Irreführend ist dagegen meines Erachtens eher Schelers Rede von der Person als eines aktvollziehenden Wesens, wenn sie doch ausschließlich in ihren Akten existieren soll, vgl. GW 2, S. 384 ff., 389.

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Schelers Liebesbegriff im Kontext der aktuellen Liebesdebatte

fasst die wesentlichen Punkte des mit Scheler entwickelten Liebeskonzepts zusammen und geht der abschließenden Frage nach, ob und inwiefern Liebe eigentlich Gründe hat.

2.6.1 Liebe als Transzendenzakt (a) Emotionaler Akt Scheler unterscheidet, wie in Kapitel 2.2.1 gezeigt, grundsätzlich zwischen nicht-intentionaler und intentionaler Emotionalität. Dabei zeichnen sich reine nicht-intentionale Gefühle dadurch aus, dass sie kein Objekt haben, auf das sie sich richten, sondern eine Ursache, die sie auslöst. Sie stellen bloße Gefühlszustände dar, wie einfache sinnliche Empfindungen, und sind als solche allein durch ihre jeweiligen Gefühlsqualitäten charakterisiert. Intentionale Emotionen sind dagegen nicht versursacht, sondern objektbezogen und haben somit einen spezifischen Gegenstand oder Inhalt, womit bei Scheler meist Wertverhalte gemeint sind. Von besonderem Interesse ist für uns an dieser Stelle die Unterklasse der emotionalen Akte, wozu er zum Beispiel das Vorziehen und Nachsetzen von Werten, aber auch die Liebe zählt. Im Unterschied zum einfachen intentionalen Wertfühlen, das lediglich eine passive Aufnahmefunktion hat, beziehen wir uns hier aktiv auf bestimmte Objekte und ›tun‹ etwas mit ihnen – so ziehen wir in den Vorzugsakten einzelne Werte gemäß ihrer Ranghöhe vor oder setzen sie nach. Während die Vorzugsakte für Scheler jedoch nur die bereits gefühlten Werte konkreter erfassen, findet in der Bewegung der Liebe eine völlig freie und spontane Erhöhung oder Erweiterung der gegebenen Werte statt. Die Werte sind dabei nicht selbst das Objekt der Liebe, sondern dieser emotionale Akt richtet sich auf deren Träger – oder in diesem Fall besser: deren Realisierer –, der erst durch die Erhöhungsbewegung in seinem vollen Wertreichtum sichtbar gemacht wird. Ich möchte mich im Folgenden Schelers Bestimmung der Liebe als emotionaler Akt anschließen, wobei ich seine emotionstheoretischen Grundbegriffe allerdings nicht unverändert übernehme. Vor allem möchte ich Schelers strikte Trennung zwischen nicht-intentionaler oder zuständlicher und intentionaler Emotionalität aufheben und verstehe unter einer Emotion etwas, das beide Aspekte, Zuständlichkeit und Intentionalität, aufweist. Dabei ist eine Emotion insofern Liebe und Hass

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zuständlich, als sie eine charakteristische Gefühlsqualität hat, und insofern intentional, als sie einen spezifischen Objektbezug hat. 316 Beide Anteile können durchaus unterschiedlich stark ausgeprägt sein, sodass Emotionen sowohl einen eher passiven, zuständlichen wie einen eher aktiven, intentionalen Charakter haben können. Als emotionale Akte möchte ich ferner Emotionen bezeichnen, die wesentlich intentional sind, das heißt sich in erster Linie durch einen eigenen Gegenstandsbezug auszeichnen und erst in zweiter Linie durch eine besondere Gefühlsqualität. Wenn ich also die Liebe als einen emotionalen Akt fasse, möchte ich damit nicht nur betonen, dass Liebe kein einfaches Gefühl ist, welches durch ein Objekt ausgelöst wird und uns passiv widerfährt wie zum Beispiel Kopfschmerzen, sondern auch, dass sie keine bloße Reaktion auf ein Objekt ist, wie es Velleman darstellt, für den die Liebe in einer Antwort auf einen allen Personen gemeinsamen Wert besteht 317. Stattdessen gehört Liebe meines Erachtens zu den Emotionen, mit denen wir spontan und aus uns selbst heraus etwas tun und die insofern sehr viel mehr von unserer individuellen Person abhängen – davon, wer wir sind – als etwa Angst vor frei laufenden Tigern. Theorien, die die Liebe als eine solche Reaktion auf ein Objekt begreifen, haben die große Schwierigkeit, plausibel zu machen, warum dasselbe Objekt verschiedene Reaktionen hervorrufen kann oder verschiedene Objekte dieselbe Reaktion: denn während ein und derselbe frei laufende Tiger vermutlich in den meisten von uns Angst auslöst oder unsere Angst mehr oder weniger von jedem möglichen frei laufenden Tiger geweckt wird, sieht dies bei der Liebe erfahrungsgemäß meist anders aus – die wenigsten von uns lieben ausgerechnet dieselben Personen und vielleicht noch weniger von uns lieben alle möglichen Personen. Im Gegensatz zu emotionalen Reaktionen wie der Angst scheint die Liebe gerade ein höchst individuelles Geschehen zu sein, das sich daher auch adäquater als ein frei und spontan vollzogener Akt beschreiben lässt denn als eine Reaktion. Obwohl ich damit klar den Bewegungscharakter der Liebe in den Vordergrund stelle, gehört zu ihr nach meiner oben genannten These 316 Mit dieser These lehne ich mich an Aurel Kolnais Konzept der emotive response oder emotional presentation an; vgl. Kolnai (1969/70): The Standard Modes of Aversion: Fear, Disgust, and Hatred, in: On Disgust, edited and with and introduction by Barry Smith and Carolyn Korsmeyer, Chicago u. a.: Open Court 2004, S. 94 f.; siehe auch Kapitel 3.1.1 & 4.1. 317 Siehe Kapitel 2.1.1 (a).

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ebenso eine spezifische Gefühlsqualität. Den Aspekt des Gefühlserlebnisses vernachlässigen gegenwärtige Liebestheorien oft oder enden sogar dabei, Liebe überhaupt nicht als eine Emotion zu verstehen. 318 Der normalen Erfahrung wird dies allerdings nicht gerecht, insofern es sich für uns doch meist auch in einer bestimmten Weise ›anfühlt‹, jemanden zu lieben. Dieses kennzeichnende emotionale Erlebnis der sich in der Liebe vollziehenden Erhöhungsbewegung möchte ich allgemein als Transzendenzgefühl bezeichnen. Jedoch machen wir häufig die Erfahrung, dass es sich nicht genau gleich ›anfühlt‹, wenn wir verschiedene Personen lieben, sondern jedes Mal ein wenig anders. Dieses Phänomen lässt sich gerade mit Schelers Liebesbegriff verständlich machen: Nach ihm besitzt jede Person ein ganz eigenes, individuelles Wertwesen, das in der Transzendenzbewegung der Liebe sichtbar wird, sodass sich notwendigerweise die konkreten Wertqualitäten unterscheiden, die wir in der Liebe jeweils an unseren Liebesobjekten fühlen, und mit ihnen die Qualität unseres Liebesgefühls. 319 Da sich die persönliche Liebe, mit anderen Worten, auf ein wesensmäßig individuelles Objekt richtet – im Gegensatz etwa zur Angst –, kann auch der besondere Charakter des Liebesgefühls bei jedem neuen Liebeserlebnis variieren. (b) Wertentdeckung Scheler beschreibt die Liebe als einen werterhöhenden Akt, wobei dies nach meiner Interpretation, wie in Kapitel 2.4 ausführlich gezeigt, nicht so zu verstehen ist, dass die am anderen gefühlten Werte selbst gesteigert oder hochgestuft werden. Vielmehr ›erhöhen‹ wir meines Erachtens in der Liebe die aktuell gegebenen, situativen Einzelwerte des anderen in dem Sinne, dass wir sie aus ihrer Vereinzelung herauslösen und als Realisierungen ein und derselben transzendenten Person erleben, die alle besonderen Werterscheinungen, die wir von ihr wahrnehmen, vereint und zugleich übersteigt. Nur indem wir die am anderen gegebenen Einzelwerte derart transzendieren, erSiehe Kapitel 2.1. Scheler selbst geht im Übrigen von vielfältigen Liebesarten aus, denen unabhängig von ihrem konkreten Objekt bereits unterschiedliche, artspezifische Gefühlsqualitäten eigen sind, wie zum Beispiel die Liebe zur Heimat oder die mütterliche Liebe zum Kind. Da ich die Scheler’sche Einteilung der Liebesformen und -arten jedoch nicht überzeugend finde, soll an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen werden. Eine genauere Darstellung und Kritik habe ich andernorts vorgelegt; siehe Ernst (2009). 318 319

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fahren wir ihn überhaupt als die individuelle Person, die er wirklich ist. Da aber die Person den inneren Sinnzusammenhang aller konkreten (wertrealisierenden) Akte eines Menschen bildet, ermöglicht die Liebe, indem sie die Person des anderen gewissermaßen freilegt, auch erst ein angemessenes Verständnis der am anderen wahrnehmbaren Einzelerscheinungen, insofern diese nun im richtigen Zusammenhang, das heißt vor dem Hintergrund der ganzen Person, gesehen werden können. Damit entdecken wir im liebenden Transzendenzakt zunächst weniger echte neue Werte am anderen als vielmehr einen neuen Blick auf die Werterscheinung des anderen, indem wir etwa verstehen, welche Werte welchen Stellenrang bei ihm persönlich einnehmen, welche Werte wesentlich zu seiner Person gehören oder inwiefern sich seine Person in seinen einzelnen Entscheidungen, Handlungen, Wünschen, Sorgen etc. ausdrückt. Einen besonderen Wert erschließen wir im Akt der Liebe jedoch tatsächlich neu: und zwar den individuellen Wert der geliebten Person selbst, also den Wert, den sie qua Person besitzt. Indem wir den anderen in der Liebe als die individuelle Person erscheinen lassen, die er ist, erschließen wir seinen Personwert allerdings nicht nur, sondern verwirklichen ihn gleichzeitig auch. In der Folge der Liebe kann sich unser Werthorizont aber durchaus noch in anderer Weise erweitern. Da wir in der Liebe an den vielfältigen Wertinteressen des anderen teilhaben, können wir oft viele neue, fremde Werte intensiv kennenlernen oder sie mit der Zeit sogar als eigene Werte übernehmen und in unser Wertspektrum integrieren. Zwar können wir neue Werte ebenfalls außerhalb der Liebe entdecken 320, jedoch erfolgt die Wertübernahme leichter und natürlicher in der Liebe, weil wir die jeweiligen wertrealisierenden Akte des anderen hier bereits mitvollziehen. Je unterschiedlicher das Wertprofil von Subjekt und Objekt ist, desto mehr Möglichkeiten gibt es damit, die eigene Wertewelt zu bereichern. Allerdings hängt es nicht zuletzt von der individuellen Wertstruktur des Liebenden ab, welche Werte er zu seinen eigenen hinzufügen kann. Insofern Fremdwerte meines Erachtens nur dann erfolgreich angeeignet werden können, wenn sie in irgendeiner Weise an die bestehenden Eigenwerte anknüpfen und das eigene Wertprofil ergänzen, scheint mir eine gewisse Ähnlichkeit 320 Hier schließe ich mich also nicht Scheler an, der die Liebe im Formalismusbuch jeder neuen Werterkenntnis vorordnet und im Ordo Amoris Liebe und Werterschließung letztlich gleichsetzt; vgl. GW 2, S. 266 f.; vgl. GW 10, S. 347–373.

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in den Wertinteressen der Liebenden ebenso eine Voraussetzung für eine Wertbereicherung zu sein wie die Verschiedenheit. Möglicherweise ist sogar der Vollzug von Liebesakten einfacher, je näher die Wertwelten von Subjekt und Objekt beieinander liegen. Teilen beide von vornherein Werte, die sie gleichermaßen bestimmen, könnte ihnen der Transzendenzsprung leichter gelingen, da sie in den einzelnen Wertrealisierungen des anderen vielleicht eher Verwirklichungen seiner Person sehen. Wie sich die Liebe zu den Werten verhält, ist in der neueren Liebesdebatte, wie wir zu Beginn des Kapitels gesehen haben 321, ein großes Thema. Einige Theorien, die ich evaluative Theorien genannt habe und die vor allem von J. David Velleman und Irving Singer vertreten werden, machen dabei gerade den Bezug der Liebe zu den Werten zum Kern ihres Liebesbegriffs. Schelers Liebeskonzept lässt sich nun zwar gleichfalls zu den evaluativen Theorien zählen und teilt mit ihnen auch den zentralen Gedanken, dass es wesentlich zur Liebe gehört, die Person des anderen als in sich wertvoll anzusehen, bietet jedoch eine grundsätzliche Alternative zu den aktuell diskutierten Ansätzen von Velleman und Singer. Nach Velleman würdigen wir in der Liebe, wie gezeigt 322, den Personwert des anderen, indem wir ihm gegenüber unsere natürlichen Schutzbarrieren fallen lassen, die häufig in einer Art ›künstlichen Blindheit‹ bestünden, welche uns daran hindere, die Person des anderen wirklich zu sehen. Der Personwert ist dabei ein objektiver Wert des anderen, den wir an ihm wahrnehmen und auf den wir mit der liebenden Wertschätzung lediglich reagieren. Zwar würde ich Velleman mit Scheler darin zustimmen, dass es sich bei dem Wert der Person um einen objektiven Wert handelt und uns die Liebe für die andere Person in gewisser Weise sehend macht, allerdings erscheint seine Argumentation zirkulär: Einerseits soll es eine Leistung der Liebe sein, unsere Blindheit gegenüber der anderen Person aufzuheben, andererseits muss uns die Person des anderen mit ihrem Wert schon gegeben sein, damit wir darauf mit Liebe antworten können. 323 Fassen wir mit Scheler nun aber, wie vorgeschlagen, die Liebe nicht als eine Reaktion auf den bereits vorgefundenen Personwert des anderen, sondern als einen Akt, der diesen erst offenbart, können wir einem solchen Zirkel entgehen. Singer versteht die Liebe 321 322 323

Siehe Kapitel 2.1. Siehe Kapitel 2.1.1, Abschnitt (a). Siehe genauer Kapitel 2.1.1, Abschnitt (a).

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im Übrigen ebenfalls als einen Akt, der die jeweils am Objekt gegebenen Werte transzendiert, wenn er sie als eine über die bloße Wertschätzung hinausgehende individuelle Verleihung eines neuen besonderen Werts beschreibt. 324 Jedoch ist sein subjektivistisches Konzept wiederum insofern unplausibel, als der andere hier einzig und allein durch die liebende Wertverleihung überhaupt als Person selbst wertvoll wird und somit sein Personwert gänzlich von der Liebe anderer abhängig ist. 325 Auch dieses Problem stellt sich für eine an Scheler anschließende Liebestheorie nicht, die den Wert der Person als einen objektiven Wert begreift, der ihr an sich zukommt und also von der Liebe nicht erschaffen, sondern nur entdeckt wird. (c) Von Person zu Person Wie bereits betont und in Kapitel 2.5 dargelegt, ist es nach meiner Scheler-Interpretation die eigentümliche Leistung der Liebe, die individuelle Person des anderen sichtbar zu machen und so ihren Wert zu realisieren. Anders als für Vertreter interaktiver Theorien, die die Liebe wesentlich als eine wechselseitige Beziehung verstehen und die andere Person primär als Partner ansehen 326, ist die Liebe für Scheler folglich eine explizit auf die andere Person ausgerichtete Emotion. Damit ist in seinem Konzept der Geliebte tatsächlich das Objekt der Liebe, wie es meines Erachtens sowohl unserer gewöhnlichen Erfahrung entspricht als auch in der klassischen Liebeserklärung formuliert wird. Im Gegensatz zu verschmelzungstheoretischen Ansätzen wiederum betrachtet Schelers Liebestheorie das Objekt der Liebe, den Geliebten, als reinen Selbstzweck, das heißt als wertvoll an sich, weshalb sie, anders als diese, ebenfalls unser Bedürfnis erfüllen kann, um unserer selbst willen geliebt zu werden und nicht wegen bestimmter Vorzüge, die andere in uns sehen mögen. 327 Diese beiden Punkte teilt Schelers evaluative Theorie mit den Entwürfen von Velleman und Singer. Sie bietet im Unterschied zu ihnen allerdings noch eine befriedigendere Lösung in Bezug auf zwei weitere Grundbedürfnisse, deren Erfüllung wir uns oft von der Liebe erhoffen: der Wunsch, als der gesehen zu werden, der wir wirklich 324 325 326 327

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Siehe Kapitel 2.1.1, Abschnitt (b). Siehe genauer Kapitel 2.1.1, Abschnitt (b). Siehe genauer Kapitel 2.1.3. Zur Liebe als Verschmelzungswunsch siehe genauer Kapitel 2.1.2 (b).

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sind, sowie der Wunsch, als einzigartig und unersetzlich betrachtet zu werden. Für Velleman würdigen Liebende den objektiven Wert der anderen Person, indem sie sie als unvergleichliches Individuum behandeln. Der Personwert selbst kommt ihr nach ihm jedoch gerade nicht als individuelle Person zu, sondern sofern sie über die allen Personen gemeinsame Befähigung zur Wertschätzung verfügt, das heißt, sofern sie genauso ist wie alle anderen auch. Das bedeutet, in der Liebe werden wir nach Velleman nicht wirklich in unserer Besonderheit geschätzt, sondern lediglich als besonders behandelt – und zwar aufgrund einer allen Personen gleichermaßen zukommenden Eigenschaft. Um es pointiert zu formulieren: Wir werden als Individuum behandelt, weil wir keines sind. Abgesehen von der Unplausibilität dieser Argumentation trägt Vellemans Konzept damit unserem Bedürfnis, als einzigartig und unersetzlich angesehen zu werden, meines Erachtens nur scheinbar Rechnung. Für Scheler hingegen gehört die Individualität – im Gegensatz zu Kant, an den Velleman anschließt – ausdrücklich zum Begriff der Person selbst. 328 Unseren besonderen Wert als Person tragen wir insofern auch ausschließlich und genau als ebendiese individuelle Person, die wir sind. Verstehen wir mit Scheler die Liebe als den emotionalen Akt, der uns die Person des anderen und ihren Wert erfahren lässt, ist mithin notwendig gesetzt, dass wir in der Liebe im anderen stets das einzigartige und unersetzliche Individuum sehen, das er ist. Kommen wir auf das Beispiel des (liebenden) Ehemannes zurück, der sich dafür entscheidet, seine eigene Frau statt eines Fremden vor dem Ertrinken zu retten: Velleman hatte hier konsequenterweise bestritten, dass die geliebte Ehefrau in den Augen ihres Mannes einen besonderen Wert besitze, der es rechtfertigen könne, sie vor den anderen aus dem Wasser zu ziehen. 329 Nun wäre ihm zwar in der Hinsicht zuzustimmen, dass der Personwert grundsätzlich allen Personen gleichermaßen zukommt und dem Ehemann insofern keinen Grund böte, seine Frau vorzuziehen. Nicht von der Hand zu weisen ist außerdem sicherlich, dass die gemeinsame Beziehung und die emotionale Verbundenheit der Ehepartner und Ähnliches für die Entscheidung des Mannes von großer Bedeutung sind, wie Velleman herausstreicht. Meines Erachtens spielt hierbei aber, anders als Velleman behauptet, gerade die Liebe eine wichtige Rolle. Zum einen ist sie es – nach dem in dieser Arbeit entwickelten 328 329

Siehe dazu genauer Kapitel 2.5.1. Siehe Kapitel 2.1.1 (a).

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Liebesbegriff –, durch die wir die Person des anderen in ihrer Individualität unmittelbar erleben können, sodass uns ebenso ihr Wert als Person nur durch die Liebe voll gegeben ist. Wiewohl sich der Ehemann natürlich dessen bewusst sein kann, dass es sich bei den anderen Ertrinkenden genauso sehr um Personen handelt wie bei seiner Frau, käme er damit, sofern er keinen der anderen liebt, erlebnismäßig im Grunde überhaupt nicht in die Lage, zwischen mehreren Personen und deren Wert wählen zu müssen. Zum anderen ermöglicht, wie im Weiteren noch zu sehen ist, vor allem die wechselseitige Liebe, in der zwei Personen aneinander teilhaben, die Entwicklung jener Gemeinschaft, die Velleman wiederum zur Rechtfertigung der Bevorzugung anführt. Nach Singer hingegen lieben wir den anderen explizit als besonderes und unvergleichliches Individuum. Allerdings ist es hier die Liebe, die den anderen zu dieser besonderen Person macht. Im Unterschied zu Velleman sprechen wir Singer zufolge in der Liebe der anderen Person einen absolut individuellen Wert zu, doch erhält sie ihren Wert als Person, wie oben bereits kritisiert, auch erst durch ebendiese subjektive Wertverleihung. Die Wertverleihung in der persönlichen Liebe besteht für Singer letztlich gerade darin, die individuelle Person des Geliebten unabhängig von der gewöhnlichen Wertschätzung, der alle Menschen unterliegen, neu zu erschaffen. Singer versteht die Liebe insofern weniger als einen wertschätzenden, sondern vielmehr als einen imaginativen Akt, durch den der Liebende ein subjektives Bild der geliebten Person entwirft. 330 Zwar wird so Singers Konzept wie kaum ein anderes unserem Wunsch gerecht, als einzigartig und unersetzlich betrachtet zu werden, jedoch in keiner Weise dem, als derjenige gesehen zu werden, der wir sind. Folgen wir Singer, bleibt der, der wir wirklich sind, für andere zwangsläufig unerreichbar, eine echte Begegnung zwischen zwei Personen undenkbar. Alles, was wir dann voneinander haben, sind Bilder; und wir wissen nicht, inwiefern sie den realen Personen entsprechen. Wollen wir dagegen in der Liebe als derjenige erfahren werden, der wir tatsächlich sind, und anderen in derselben Weise begegnen, müssen wir, wie Scheler es vorschlägt, die Person und ihren Wert als etwas Objektives denken, das nicht von unserer Liebe kreiert wird, sondern das an sich besteht und zu dem wir durch sie Zugang erhalten.

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Siehe Kapitel 2.1.1 (b).

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Nur wenn wir Personen solchermaßen als etwas objektiv Bestehendes begreifen, lässt sich meines Erachtens schließlich eine echte Teilhabe am anderen, wie sie nach ausnahmslos allen Liebestheorien zur Liebe gehört, plausibel machen – beziehungsweise eine Fürsorge, wie sie insbesondere Harry Frankfurt als wesentlich für die Liebe erachtet. 331 Im Zusammenspiel mit seinem Personbegriff ermöglicht vor allem Schelers Liebeskonzept ein umfassendes Verständnis der liebestypischen Teilhabe an der geliebten Person. Wie in Kapitel 2.5 ausgeführt, lässt sich die Person im Anschluss an Scheler als die strukturell und sinnhafte Einheit der intentionalen Akte des Menschen verstehen, die primär durch spezifische Wertstrebungen charakterisiert ist – den Menschen bezeichnen wir dabei insofern als eine Person, als er der Vollzieher jener Akte ist. Personen sind mithin keine statischen Objekte, die sich durch die Summe ihrer wahrnehmbaren Eigenschaften fest definieren lassen oder, wie einfache Wertgegenstände, durch die Werte, die an ihnen erscheinen. Vielmehr sind sie dynamische Objekte, die sich durch die zahlreichen verschiedenen Werte individuieren, nach denen sie jeweils leben und die sie auf ihre je eigene Weise zu verwirklichen suchen. Jede Person ist so durch ein einzigartiges Wertprofil bestimmt, das ihrem Weltbezug seine besondere Struktur und ihrem Leben seine besondere Orientierung verleiht. Die Liebe zu einem solchen dynamischen Objekt beinhaltet nach Scheler nun aber notwendigerweise eine gleichermaßen dynamische Teilhabe an ihm 332: Als das individuelle intentionale Wesen des Menschen ist uns die Person in ihrer Ganzheit nämlich nie gegenständlich gegeben, sondern nur in den vielfältigen Akten, durch die sie sich in der Welt realisiert oder konkretisiert. Akte wiederum sind ebenso wenig gegenständlich gegeben, sondern können nur vollzogen oder mitvollzogen werden. 333 Wollen wir also der grundlegenden Einheit in den verschiedenartigen Akten des anderen gewahr werden und, wie oben beschrieben, in seinen Handlungen, seinen Sorgen und Sehnsüchten die individuelle Person entdecken, die sich darin ausdrückt, müssen wir seine jeweiligen Akte, namentlich die wertbezogenen, mitvollziehen. Die auf eine Person gerichtete Liebe lässt sich daher nicht als ein starrer Bezug auf ein fixes Objekt denken, sondern ausschließlich als ein dynamischer Akt, als eine immer 331 332 333

Siehe Kapitel 2.1.2 (a). Siehe Kapitel 2.5.3. Vgl. GW 2, S. 386.

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neue Teilhabe an ihren Akten – als praktisches oder verstehendes Mitfreuen, Mitleiden, Mitleben. Anders als zum Beispiel für Velleman oder Nozick ist die Teilhabe am anderen nach Scheler damit allerdings keine Folgeerscheinung der Liebe; vielmehr besteht der die Person sichtbar machende Transzendenzakt der Liebe wesentlich gerade im Nach- oder Mitvollzug ihrer Akte. Keine andere Emotion gilt meines Erachtens in so ausgesprochener Weise der Person wie die Liebe. Doch tritt die Person hierbei nicht nur auf der Objektseite in besondere Erscheinung, sondern ebenso sehr aufseiten des Subjekts. Einerseits ist die Liebe, als Akt verstanden, eine rein personale Emotion: Im Unterschied zu einfachen zuständlichen Gefühlen, die durch etwas ausgelöst werden, oder Gefühlsreaktionen, die durch etwas provoziert werden, müssen emotionale Akte wie die Liebe frei und spontan vollzogen werden. Anders als zum Beispiel die Angst vor großen Raubtieren, die letztlich auf einer natürlichen Reaktion unseres psychophysischen Organismus basiert, hat die Liebe ihren Ursprung somit tatsächlich allein in unserer Person. Greifen wir Schelers Idee eines Schichtenmodells der Emotionalität 334 auf, erklärt dies auch, warum das Gefühl der Liebe oft als zutiefst erfüllend empfunden wird. Personale Emotionen entspringen demnach unserem innersten Kern und durchdringen von dort unser gesamtes Erleben. Sie sind also tiefe Gefühle, die uns gewissermaßen vollständig ausfüllen und uns nicht nur an der Oberfläche bewegen. Als solche sind sie zudem weniger an spezifische Lebensbereiche oder Situationen gebunden, sondern prägen vielmehr in umfassender und nachhaltiger Weise unser gesamtes Leben und unsere Welt. Andererseits offenbart sich der Liebende nirgends so unmittelbar selbst als Person wie in der Liebe: Indem wir in der Liebe die intentionalen Akte des anderen teilen, sie mitvollziehen, treten wir ihm gegenüber zwangsläufig ebenfalls als ein aktvollziehendes, personales Wesen in Erscheinung. Jemanden zu lieben bedeutet mithin nicht allein, die Person des anderen beziehungsweise ihn als Person zu sehen, sondern zugleich auch, sich dem Geliebten zu öffnen und sich selbst 334 Siehe Kapitel 2.2.2. Ich adaptiere hier Schelers Idee der emotionalen Schichten lediglich, der nicht von personalen Emotionen spricht, sondern nur davon, dass die tiefsten Gefühle ›an der Person‹ gegeben seien; vgl. GW 2, S. 344 f. Zudem verortet Scheler die Liebe nicht allein im personalen Kern des Menschen, sondern unterscheidet – anders als ich – neben der Liebe der Person weitere Liebesformen, die in anderen emotionalen Sphären erlebt werden; vgl. GW 7, S. 170 ff.

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als Person zu erkennen zu geben. Die Liebe kann insofern als interpersonale Emotion im engsten Sinne verstanden werden, als eine intime Begegnung zwischen zwei Personen. 335 Aus beiden Gründen – weil sie uns tief und ganzheitlich bewegt und weil wir in ihr unseren innersten Kern, unsere Person offenbaren – birgt die Liebe sicherlich mehr als andere Emotionen zahlreiche Gefahren für uns, worauf in der aktuellen Diskussion häufig hingewiesen wird. Wie Velleman schreibt, machen wir uns in der Liebe dem anderen gegenüber verletzlich 336; nach Baier stellt sie eine riskante emotionale Abhängigkeit dar 337; und Frankfurt warnt uns vor Liebesobjekten, die unserem Wohlergehen abträglich sind 338. Eine der schmerzlichsten Erfahrungen ist möglicherweise die der nicht erwiderten Liebe: Indem wir den anderen lieben und als Person wahrnehmen, geben wir ihm die Freiheit, als derjenige betrachtet und behandelt zu werden, der er wirklich ist. Zugleich zeigen wir uns dabei als die Person, die wir wirklich sind, und geben dem anderen die Möglichkeit oder laden ihn dazu ein, uns in derselben Weise zu begegnen wie wir ihm. Bleibt dies aus, fühlen wir uns daher als die Person, die wir sind, ignoriert oder gar zurückgewiesen und damit nicht weniger als in unserem Personsein selbst verletzt. Eine derart existenzielle Enttäuschung führt oft zu großer Verzweiflung und kann darum unter Umständen auch in entsprechend starke Gefühle der Ablehnung oder schlimmstenfalls des Hasses übergehen. Im Folgenden wollen wir uns allerdings mit dem glücklichen Fall der Liebe beschäftigen und das besondere Phänomen der erwiderten Liebe genauer beleuchten.

2.6.2 Interaktive Liebe (a) Lieben und geliebt werden Bisher haben wir die Liebe mit Scheler primär als einen einseitigen Akt der Werterhöhung analysiert, der die Person des Geliebten für uns sichtbar macht. Doch seine evaluative Liebestheorie lässt darüber hinaus auch zwei Ansätze erkennen, die eine Erweiterung dieser 335 336 337 338

Siehe hierzu genauer Kapitel 2.6.2 (a). Vgl. Velleman (1999), S. 86. Vgl. Baier (1991), S. 442 f. Vgl. Frankfurt (2004), S. 62 f.

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Grundformel zu einem Begriff der wechselseitigen Liebe ermöglichen. So betont er in der Sympathieschrift explizit, dass für den sich auf eine Person richtenden Akt der Liebe eine Mitwirkung ebendieser Person unerlässlich sei: Bei der geistigen Personliebe aber erst tritt das neue Wesensgesetz auf, daß sie […] ursprünglich nicht mehr nur von spontanen Akten des sie Liebenden oder Verstehenden allein abhängt, sondern auch von dem freien Ermessen der zu liebenden oder geistig zu verstehenden Person. ›Personen‹ können nicht verstehend erkannt werden (im Nachvollzug ihrer geistigen Akte), ohne sich selbst spontan zu erschließen. Denn sie können auch ›schweigen‹ und sich verbergen. 339

Damit wir also eine Person lieben können, muss sie sich ihrerseits uns zeigen, sich uns öffnen. 340 Die vom Subjekt ausgehende Erhöhungsbewegung kann demnach nicht ohne eine Selbstöffnung des Objekts stattfinden. Liebe involviert, mit anderen Worten, in gewissem Sinne stets das Sich-lieben-Lassen. Einen zweiten Ansatz, wenngleich nicht viel mehr als eine Andeutung, finden wir in dem nach Scheler »von Erfahrung unabhängigen Satz, daß jede Liebe (so sie erfahren wird) Gegenliebe setzt« 341. Hiermit ist meines Erachtens Folgendes gemeint: Dass uns jemand liebt, das heißt Akte der Liebe auf uns richtet, erfahren wir nur, wenn wir ihn überhaupt als aktvollziehendes Wesen, als Person erleben. Insofern wir dies jedoch ausschließlich in der Liebe tun, erfordert die Erfahrung des Geliebtwerdens zwangsläufig wiederum unsere Liebe. So ist mit der vom anderen erfahrenen Liebe zu uns immer unsere Gegenliebe zu ihm vorausgesetzt. Diese von Scheler selbst kaum ausgearbeiteten Ansätze zur Wechselseitigkeit der Liebe möchte ich nun zu folgender These weiterformulieren: Die Liebe ist wesentlich ein Transzendenzakt, der sich gleichermaßen auf das Liebesobjekt wie auf das Liebessubjekt bezieht, indem das Subjekt sowohl über die jeweils gegebenen Werte des Objekts hinausblickt und dieses als Person realisiert als auch sich seinerseits dem Objekt öffnet und als Person zu erkennen gibt. Richten wir Akte der Liebe auf einen anderen, transzendieren wir zum GW 7, S. 110. In seiner Untersuchung zu Liebe und Erkenntnis (1915) greift Scheler den Gedanken der Selbstoffenbarung des Liebesgegenstandes von Augustinus auf; vgl. Gesammelte Werke, Bd. 6: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, hg. von Manfred S. Frings, 3., durchges. Aufl., Bonn: Bouvier 1986 (= GW 6), S. 96 f. 341 GW 7, S. 166. 339 340

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einen seine situative Werterscheinung zu der sich darin andeutenden und darüber hinaus bestehenden wertrealisierenden Person. Zum anderen transzendieren wir hierbei uns selbst, insofern wir in der Liebe unser rein situationsbedingtes Denken und Fühlen, unsere aktuelle Gegebenheit übersteigen und uns der anderen Person aufschließen, wenn wir an ihr teilnehmen und ihre Akte mitvollziehen. 342 Im Mitvollzug der Akte einer Person treten wir ihr, wie oben gesehen, notwendig ebenfalls als aktvollziehendes Wesen gegenüber. Der Transzendenzakt der Liebe kann so allgemein als öffnender oder offenbarender Akt beschrieben werden, der sowohl die Fremd- wie die Selbstoffenbarung als Person einbegreift. Damit ist die Liebe eine Emotion, zu der Subjekt wie Objekt beitragen müssen und die deshalb grundsätzlich stets die Möglichkeit der Erwiderung enthält: Einerseits erfordert der Vollzug des die andere Person offenbarenden Liebesakts ihre Mitwirkung wenigstens in dem Maße, dass sie sich nicht verbirgt, sondern zu erkennen gibt. Andererseits öffnet sich das Subjekt in diesem Transzendenzakt der anderen Person derart, dass es selbst wiederum Ziel ihrer Liebe sein kann. Anders als nach interaktiven Liebeskonzepten 343 oder Verschmelzungstheorien wie jener von Solomon 344 gehört die Gegenseitigkeit meines Erachtens nicht notwendig zum Begriff der Liebe, sodass auch eine einseitige, unerwiderte Liebe durchaus einen Fall von Liebe darstellt und nicht nur den Wunsch danach, wie etwa Krebs behauptet. 345 Jedoch ist sie eine Liebe, die unerfüllt bleibt, denn die Gegenseitigkeit ist zumindest strukturell in der Liebesemotion angelegt und gehört insofern sehr wohl zur Liebe im Vollsinn oder zur vollkommenen Liebe. Zur erfüllten Liebe bedarf es mithin der Gegenliebe. Die erwiderte Liebe ist nun allerdings nicht allein deshalb ein so besonderes und beglückendes Phänomen, weil sie uns vor einer schmerzhaften persönlichen Verletzung bewahrt, die mit der Nichterwiderung der Liebe einhergehen kann, oder weil sie uns, wie beispielsweise Delaney schreibt 346, in unserer Selbstachtung bestärkt. Scheler deutet den Gedanken der Selbsttranszendenz in der Liebe übrigens in Ordo Amoris an. Jedoch gilt ihm hierbei, im Unterschied zu mir, die Liebe als allumfassender Urakt des Geistes, der jeder Erkenntnis überhaupt vorausgeht; vgl. GW 10, S. 356. Siehe auch Kapitel 2.5.3. 343 Siehe Kapitel 2.1.3. 344 Siehe Kapitel 2.1.2 (b). 345 Siehe Kapitel 2.1.3; vgl. Krebs (2009), S. 741. 346 Siehe Kapitel 2.1.2 (b); vgl. Delaney (1996), S. 117 ff., 128 f. 342

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Wie ich in den folgenden Abschnitten zeigen will, ist die wechselseitige Liebe, das Lieben und Sich-wiedergeliebt-Fühlen, vielmehr eine der erfüllendsten menschlichen Erfahrungen überhaupt, weil sie in so fundamentaler und nachhaltiger Weise wie kaum etwas anderes unser gesamtes Leben bereichern kann. (b) Geteilte Werte, geteilte Gefühle Wie wir bisher sahen, ist es der Transzendenzakt der Liebe, der in den konkreten Erscheinungen eines Menschen seine individuelle Person und ihren unvergleichlichen Wert entdeckt. In seiner Liebe gibt uns der andere gewissermaßen die Freiheit, als Person wahrgenommen zu werden und derjenige sein zu können, der wir wirklich sind. Indem der uns Liebende unsere Akte mitvollzieht, entdeckt er jedoch nicht nur unsere Person und ihren Wert, sondern trägt zugleich dazu bei, diese zu realisieren. Im Mitfühlen, was wir fühlen, im Wertschätzen, was wir wertschätzen, unterstützt er uns darin, unsere Individualität zu entfalten und nach unseren persönlichen Werten zu leben – kurzum uns selbst zu verwirklichen. Hingegen kann unsere Liebe, die zur Selbstentfaltung des anderen beiträgt, wiederum unsere eigene Wertewelt, wie an anderer Stelle gezeigt 347, um neue Werte erweitern. Da wir im Mitvollzug seiner Akte an dem vielfältigen Wertstreben des anderen teilhaben, können wir in der Liebe auch bisher fremde Werte kennenlernen, für uns erschließen und in die Reihen unserer eigenen Werte aufnehmen. So kann also einerseits die Liebe eines anderen zu uns unsere Selbstverwirklichung befördern, andererseits kann unsere Liebe zu ihm unser Werterleben reicher machen. Anders als nach den prinzipiell einseitigen Ansätzen von Velleman, Singer oder Frankfurt 348 lässt sich die wechselseitige Liebe nach meinem an Scheler anschließenden Liebesbegriff nun jedoch nicht lediglich als die einfache Summe zweier einseitiger Lieben verstehen. Vielmehr tritt hier ein völlig neues Phänomen auf, das die wechselseitige Liebe erlebnismäßig klar von der einseitigen Liebe abhebt: Werden wir von derselben Person zurückgeliebt, die wir lieben, können wir nämlich ihre Teilhabe an uns miterleben. Insofern wir in der Liebe die verschiedenen Akte des anderen mitvollziehen, ist es uns möglich, ebenso an seinem auf uns gerichteten Liebesakt teilzuhaben, 347 348

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Siehe unter anderem Kapitel 2.6.1 (b). Siehe dazu Kapitel 2.1.

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Schelers Liebesbegriff im Kontext der aktuellen Liebesdebatte

der unsere situative Erscheinung übersteigt und unsere individuelle Person erfasst. Der Mitvollzug der Akte des anderen lässt uns im Fall der erwiderten Liebe mithin nicht nur seiner, sondern auch unserer Person in ihrer einzigartigen Wertfülle gewahr werden. Sowohl die Beförderung unserer Selbstverwirklichung wie unsere Wertbereicherung erhält dadurch in der gegenseitigen Liebe eine gänzlich andere Dimension. Zum einen können wir für uns neue Werte erfahren und zugleich unsere eigenen Werte bewusster erleben oder sogar neu entdecken. Zum anderen werden wir von dem uns Liebenden in der Realisierung unserer Werte unterstützt und können zugleich diese Förderung und Bejahung unserer Person im Mitvollzug seiner auf uns gerichteten Akte unmittelbar selbst erleben – das heißt uns tatsächlich geliebt fühlen. In der erwiderten Liebe wird die Welt folglich nicht allein darum bunter und reicher, weil wir eine andere Person mit ihren Werten kennenlernen, sondern weil wir uns in ihr selbst neu erfahren können. Auf diese Weise kann ein an Scheler angelehntes Liebeskonzept auch den oft mit der Liebe verbundenen Vorstellungen einer besonderen Selbsterfahrung und Selbstentfaltung oder -veränderung gerecht werden, die sich in unterschiedlichster Form vor allem in Verschmelzungs- und interaktiven Liebestheorien wiederfinden. 349 Dabei vermeidet es allerdings das Problem, keine Beschreibung der einseitigen Liebe geben zu können, welches sich hauptsächlich interaktiven Liebestheorien stellt, wenn sie die Liebe grundsätzlich als wechselseitige Beziehung zweier Personen konzipieren. 350 Über die Realisierung und Bereicherung unserer Person und Wertewelt hinaus ermöglicht die erwiderte Liebe meines Erachtens jedoch noch ein weiteres besonderes Phänomen, das wir uns im nächsten Abschnitt anschauen wollen: die Liebesgemeinschaft. (c) Gemeinschaft Fassen wir die Liebe, wie von mir vorgeschlagen, als fremd- und selbstoffenbarende Transzendenzbewegung auf, lässt sich die gegenseitige Liebe zunächst einmal in dem Sinne als eine gemeinschaftliche Emotion auffassen, dass hier zwei Personen aneinander teilnehmen 349 Vgl. unter anderem Solomon (1988), S. 512–515; Delaney (1996), S. 119; Scruton (1986), S. 241 f.; Rorty (1986), S. 177 f. 350 Siehe Kapitel 2.1.3.

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Phänomenologie der Liebe

und sich im gleichen Zug aneinander teilhaben lassen. Aus einem so verstandenen Scheler’schen Liebesbegriff können wir nun aber auch, obschon er sich ursprünglich auf die Liebe als Einzelakt konzentriert, die Beschreibung des komplexeren Phänomens einer Liebesgemeinschaft gewinnen, die sich im Laufe der Zeit zwischen zwei Personen entfalten kann. Eine zentrale Rolle spielt dabei eine ganz spezielle Erfahrung, die Scheler das Miteinanderfühlen 351 nennt: Lieben sich zwei Personen, teilen sie, wie gesehen, ihre Gefühle und Werte miteinander. Sie mit- oder nachvollziehen jeweils die Wertinteressen des anderen und versuchen, seine Werte ebenso mit zu verwirklichen wie die eigenen. Gefühle und Werte sind ihnen hierbei stets als eigene oder andere gegeben, sodass sie für gewöhnlich zwischen Eigen- und Fremdinteressen unterscheiden. 352 Im Miteinanderfühlen hingegen wird diese Grenze zwischen Eigen- und Fremdinteressen aufgehoben und eine intime Gemeinschaft ermöglicht. An die Stelle von Teilhabe und Teilnahme tritt hier ein gemeinsames Erleben, das über das bloße Teilen von Gefühlen und wechselseitige Mitrealisieren von Werten hinaus zur Herausbildung eines echten Wir-Bewusstseins führen kann. Während ein Miteinanderfühlen aufgrund bereits bestehender gemeinsamer Werte nach Scheler nicht nur für Liebende möglich ist, können ausschließlich Liebende, die aneinander teilhaben, darüber hinaus spontan miteinanderfühlen, das heißt (fremde) Werte und darauf bezogene Emotionen des anderen als die eigenen teilen und so etwa ein Leid des anderen tatsächlich selbst mitleiden. Damit beeinflusst eine gegenseitige Liebe die Liebenden nicht allein in der Weise, dass sie, wie wir zuvor sehen konnten, beide in ihrer Selbstverwirklichung befördert und um neue Werte bereichert. Sie lässt sie zudem mit der Entwicklung eines Wir-Bewusstseins gleichsam über sich selbst hinaus- und zusammenwachsen, insofern sie nunmehr nicht lediglich verschiedene Werte des anderen (mit-)realisieren, sondern auch gemeinsame Wertinteressen entwickeln, die beide Liebenden gemeinschaftlich verfolgen. Anders als die Vertreter eines Verschmelzungsmodells der Liebe 353 halte ich eine derartige Wir-Gemeinschaft allerdings nicht für einen notwendigen oder gar den zentralen Aspekt der Liebe. VielSiehe ausführlicher bereits Kapitel 2.3.3; vgl. GW 7, S. 23 f. Siehe dazu Schelers Beschreibung des Mitgefühls: Kapitel 2.3.2; vgl. GW 7, S. 24 f. 353 Siehe Kapitel 2.1.2; vgl. zum Beispiel Solomon (1988), S. 511 ff.; Nozick (1989), S. 417–431; Scruton (1986), S. 230 f. 351 352

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mehr betrachte ich sie als ein eigenes Phänomen, das aufgrund einer wechselseitigen Liebe entstehen kann, sich jedoch nicht zwangsläufig einstellen muss. Ebenso wenig gehe ich davon aus, dass eine WirGemeinschaft per se ganzheitlich ist und sämtliche individuellen Wertinteressen der Partner vereint, wie es etwa Scruton oder Solomon nahelegen, wenn sie die Identität des Liebenden wesentlich an jene des Geliebten binden. 354 Meines Erachtens kann sie sich durchaus auf einzelne Werte beschränken, sodass ein entsprechendes WirBewusstsein vielleicht nur in bestimmten Lebenssituationen oder -bereichen auftritt; sie kann sich aber ebenso über gemeinsame Ziele, Aufgaben und Projekte wie Hobbys, Arbeit oder Kinder erstrecken und sich gegebenenfalls mit der Zeit auf immer weitere Lebensbereiche ausdehnen. Wie sehr zwei Liebende in einem Wir-Bewusstsein leben, hängt dabei nicht zuletzt davon ab, wie viel Zeit die beiden haben, dieses zu entwickeln, wie viele praktische Gelegenheiten, ihr Leben zu teilen, und auch davon, wie sehr dies überhaupt im Interesse der beiden Personen liegt. Es ist sicherlich eine Liebe denkbar, in der beide Partner aneinander teilhaben, die Werte des anderen berücksichtigen und nach ihren Möglichkeiten mit umsetzen, ohne dass eine in einem Wir-Bewusstsein fundierte Gemeinschaft gewollt ist. Eine Wir-Gemeinschaft mag die Liebenden enger aneinander binden, ihre persönliche Identität intensiver beeinflussen und sie vielleicht sogar glücklicher machen, insofern Werte oft erfolgreicher realisiert werden können, wenn sich beide mit vereinten Kräften dafür einsetzen. Doch können sich mit einer solchen Liebesgemeinschaft ebenfalls Probleme ergeben, etwa wenn sie von beiden Partnern unterschiedlich stark angestrebt wird oder wenn einzelne individuelle Wertinteressen zugunsten der Gemeinschaft vernachlässigt werden. Viele derartige Entwicklungen sind auf der Basis der Liebe möglich, aber sie geben uns meines Erachtens weniger Aufschluss darüber, was Liebe ist, als darüber, wie Menschen aufgrund ihrer Liebe und ihrer persönlichen Werte miteinander leben können oder wollen. Mit Schelers dynamischen Begriffen der Liebe und der Person lässt sich dagegen etwas plausibel machen, worauf vor allem interaktive Liebestheorien hinweisen 355: dass nämlich eine Liebesgemeinschaft so wenig wie die daran beteiligten Personen als etwas Stati354 Siehe Kapitel 2.1.2; vgl. Scruton (1986), S. 231; 241 f.; Solomon (2004), S. 211 ff.; Solomon (1988), S. 511. 355 Siehe Kapitel 2.1.3; vgl. zum Beispiel Rorty (1986), S. 176–180.

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Phänomenologie der Liebe

sches gedacht werden kann, sondern nur als etwas, das sich mit der Zeit entwickelt und wandelt. Als freier Akt verstanden muss die Liebe immer wieder vollzogen werden, soll sich die darauf aufbauende Gemeinschaft erhalten; und wie die den Liebesakt vollziehenden Personen ändert sich auch die Gemeinschaft, die ihnen aufgrund ihrer Liebe möglich ist: Wie wir sahen, individuieren sich Personen durch die Vielfalt der Werte, nach denen sie leben und streben. 356 Dabei können sie sich insofern verändern, als sie etwa durch die Liebe zu einer anderen Person neue Werte erschließen und zu ihren eigenen hinzufügen. Soll die Wertgemeinschaft zweier Personen im Laufe der Zeit Bestand haben, müssen sie also immer wieder in der Liebe einander neu begegnen und aneinander teilnehmen, damit sich ihre Gemeinschaft mit ihnen weiterentwickeln und wachsen kann. Bleibt der die Person offenbarende Akt der Liebe aus, ist eine wechselseitige Teilnahme und ein Miteinanderfühlen nicht mehr möglich, sodass die bisher bestehende Gemeinschaft zerfällt. Im Unterschied zu Interaktionstheoretikern der Liebe 357 identifiziere ich die Liebe hierbei allerdings nicht mit der praktischen Beziehung, die zwei Personen miteinander führen. Der Grundbegriff der Liebe beinhaltet meines Erachtens allein den selbst- und fremdoffenbarenden Transzendenzakt, den eine Person frei und spontan auf eine andere richtet. Erst aus ihm können die komplexeren Begriffe der gegenseitigen Liebe und der Liebesgemeinschaft gewonnen werden. Eine ›Beziehung‹ zwischen zwei Personen hinwieder kann alle möglichen Liebesphänomene aufweisen und verrät uns so, wie oben gezeigt, weniger über die Liebe als über die Liebenden.

2.6.3 Konklusion Wie ich in der Diskussion des Scheler’schen Liebes- und Personbegriffs hoffe deutlich gemacht zu haben, ist es mit Schelers Entwurf der persönlichen Liebe möglich, eine adäquate Liebestheorie zu entwickeln, mit der sich einige Erklärungslücken aktueller Liebesmodelle schließen lassen. Nach Scheler lässt sich die persönliche Liebe grundsätzlich als ein emotionaler Transzendenzakt verstehen, der die individuelle Person des anderen und ihren besonderen Wert voll sichtbar 356 357

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Siehe Kapitel 2.5. Siehe Kapitel 2.1.3; vgl. zum Beispiel Krebs (2009), S. 741.

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macht. Damit kann die Liebe als eine spezifische Emotion beschrieben werden, die durch ein bestimmtes intentionales Objekt (die Person) sowie durch ein eigentümliches Gefühl (›Transzendenzgefühl‹) charakterisiert ist. Neben unserer Erwartung, das eigentliche Objekt der Liebe zu sein und nicht nur ein Beiträger, wird sein Liebesbegriff dabei zugleich unserem Wunsch gerecht, um unserer selbst willen sowie als einzigartiges, unersetzliches Individuum geliebt zu werden. Insofern Schelers Liebesbegriff in der Weise ausformuliert werden kann, dass er ebenso die Selbstoffenbarung als Person enthält, lässt sich aus ihm zudem ein Begriff der gegenseitigen Liebe entwickeln, der diese nicht nur als eine Duplizierung zweier Lieben fasst, sondern als ein eigenes Phänomen, das über die bloße Teilhabe zweier Personen aneinander hinaus auch spezifische Selbsterfahrungen umfasst wie insbesondere das Sich-geliebt-Fühlen. Nicht zuletzt ermöglicht dieser erweiterte Liebesbegriff eine konsistente Beschreibung des komplexeren Phänomens der Liebesgemeinschaft zweier Personen, welche als das Fundament einer Liebesbeziehung im engeren Sinne gelten kann. Zum Abschluss des Liebeskapitels möchte ich auf eine Frage zu sprechen kommen, die zu diesem Thema immer wieder gestellt wird, die ich bislang allerdings weitgehend unangetastet gelassen habe: die Frage nach den Gründen der Liebe. In der gegenwärtigen philosophischen Liebesdebatte ist es relativ unumstritten, dass Liebe Gründe hat oder haben sollte. Die einzelnen Ansätze fallen jedoch recht verschieden aus. In seinem Aufsatz Love erklärt Bennett Helm, dass wir konkrete Gründe brauchen, die unsere Liebe rechtfertigen, und unterscheidet dabei drei Fragen, die wir ihm zufolge beantworten können sollen oder wollen: Warum lieben wir überhaupt eine bestimmte Person, warum diese statt einer anderen und warum lieben wir sie gegebenenfalls immer noch, obwohl sie sich mit der Zeit verändert hat? 358 Eine häufige Antwort lautet, dass die konkreten Gründe der Liebe in den jeweiligen Wertqualitäten des Liebesobjekts liegen, wir also jemanden lieben, weil er diese oder jene evaluativen Eigenschaften besitzt. 359 Abgesehen von der Frage, warum wir eine Person trotz ihrer Veränderungen vielleicht weiterhin lieben, stellt sich für derartige Ansätze, so naheliegend sie sein mögen, stets das Problem, plausibel machen zu müssen, warum die Liebe zum einen der Person selbst gilt 358 359

Vgl. Helm (2013), § 6. Vgl. unter anderem Badhwar (2003), S. 49–56.

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Phänomenologie der Liebe

und nicht nur bestimmten Eigenschaften, und warum das Liebesobjekt zum anderen nicht einfach austauschbar ist, wenn die Liebe zu ihm doch durch etwas gerechtfertigt wird, das ebenso andere potenzielle Liebesobjekte aufweisen können. 360 Auch Vellemans Ansatz, der die Liebe zu einer Person nicht in einzelnen Werteigenschaften, sondern in ihrem übergeordneten Wert als Person begründet, entgeht nicht dem Problem der Austauschbarkeit, da für ihn der Personwert allen Personen aufgrund derselben Eigenschaft zukommt, nämlich aufgrund ihrer Fähigkeit zur Wertschätzung. Überdies müsste Velleman erklären, inwiefern der Personwert Grund der Liebe ist, wenn er zugleich Grund der Achtung sein kann, die ihm zufolge wie die Liebe eine Reaktion auf den Personwert des anderen darstellt. 361 Eine Alternative könnte sich hier vor dem Hintergrund des in dieser Arbeit vorgestellten Personbegriffs bieten, nach dem die Person per se individuell ist und mithin ihren Wert als Person gerade aufgrund ihrer Individualität besitzt. Selbst Helms dritte Frage könnte so beantwortet werden, insofern der Personwert gewissermaßen jede Veränderung ›mitmacht‹, die sein Träger durchläuft. Allerdings ist dies nur eine Scheinlösung, da uns nach unserem Modell die individuelle Person des anderen in ihrer Ganzheit und so auch ihr Wert als Person allererst in der Liebe zu ihr erscheinen. Es ist also, mit anderen Worten, die Leistung der Liebe, die Person und ihren Wert zu entdecken – und was sich erst in der Liebe erschließt, kann kaum ihre Begründung sein. In einen ähnlichen Zirkel geraten übrigens, wie anfangs gesehen, Delaney und Solomon, wenn sie versuchen, die Liebe zu einer Person in Eigenschaften zu begründen, die ihr in irgendeiner Weise durch oder in Bezug auf die gemeinsame Liebesbeziehung zukommen. Zudem gelingt es ihnen nicht, auszuschließen, dass unsere Liebe am Ende doch nur speziellen Eigenschaften des anderen oder der besonderen Rolle gilt, die er in der gemeinsamen Beziehung einnimmt, statt ihm selbst. 362 Den Versuch, unsere Liebe zu einer Person durch verschiedene ihrer Eigenschaften zu begründen, lehnt Scheler grundsätzlich ab, denn für ihn wird die Person und werden mithin ihre Eigenschaften überhaupt erst in der Liebe offenbar. 363 Wenngleich ich es nicht für 360 361 362 363

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Siehe dazu auch Helm (2013), § 6. Siehe Kapitel 2.1.1 (a). Siehe Kapitel 2.1.2 (b). Vgl. GW 7, S. 168.

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sehr plausibel halte, dass uns eine Person außerhalb der Liebe völlig unzugänglich bleiben muss 364, wie es Scheler scheinbar nahelegt, stimme ich – wie auch einige neuere Liebestheoretiker – ihm aufgrund der oben genannten Schwierigkeiten eines Begründungsversuchs generell darin zu, dass unsere Liebe zu einer bestimmten Person X letztlich nicht durch konkrete Gründe gerechtfertigt, sondern allenfalls nachträglich erklärt werden kann. 365 Dies schließt nun allerdings keineswegs aus, dass es allgemeine Gründe dafür geben kann, warum wir die Liebe suchen. Die große Mehrheit der Philosophen ist sich darin einig, dass die Liebe, zumindest im erfolgreichen Fall der Wechselseitigkeit, in außerordentlichem Maße zu unserem persönlichen Glück beiträgt: sei es, dass sie Sinn und Bedeutung in unser Leben bringt 366, dass sie es wertvoller macht 367 oder dass sie uns vervollkommnet und dazu verhilft, unsere eigene Identität auszubilden 368. Und auch mit Scheler können wir eine Antwort auf die Frage nach dem besonderen Wert der Liebe für unser Leben geben, der sie uns trotz Enttäuschungen immer wieder suchen lässt. Folgen wir seinem Entwurf, ermöglicht es uns die Liebe, uns selbst zu erfahren, neue Werte zu entdecken, uns zu entfalten und persönliche Gemeinschaften zu bilden, in denen und durch die wir einander darin unterstützen, die Personen zu erleben und zu verwirklichen, die wir sind. Doch befördert die Liebe damit nicht nur unsere persönliche Entwicklung und Erfüllung. Insofern es in der Liebe zu einer wahrhaft intimen Begegnung mit einer anderen Person kommt, bietet sie uns nicht zuletzt einen Ausweg aus der existenziellen Einsamkeit, die vielleicht zu den notwendigen Erfahrungen des Lebens einer individuellen Person gehört.

364 Jedoch bin ich, ähnlich wie Scheler, der Meinung, dass uns die konkreten Akte, die zu einer Person gehören, und folglich ihre Eigenschaften nur vor dem Hintergrund der gesamten Person in ihrem individuellen Sinn, das heißt als Akte oder Eigenschaften dieser besonderen Person, verständlich werden; siehe Kapitel 2.5.5 (b). 365 Vgl. GW 7, S. 168; vgl. Laurence Thomas (1991): »Reasons for Loving«, in: The Philosophy of (Erotic) Love, hg. von Robert C. Solomon und Kathleen M. Higgins, Lawrence: University Press of Kansas 1991, S. 467–476; vgl. Singer (1966), S. 13 f. 366 So etwa Frankfurt (2004), S. 55 ff. 367 So etwa Singer (1966), S. 7 f., 15 f. 368 So etwa Nozick (1989), S. 421 f.; Solomon (1988), S. 512 ff.; Solomon (1994), S. 155, 203.

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3 Phänomenologie des Hasses

In diesem Kapitel wollen wir uns mit Kolnai derjenigen Emotion zuwenden, die häufig als direkter Gegensatz zur hinwendenden und bereichernden Liebe angesehen wird: dem Hass. Auch Scheler versteht den Hass als eine zur Liebe entgegengesetzte Bewegung, und zwar als einen Akt der Wertminderung. 369 Doch ist jeder Hass für ihn stets in irgendeiner Weise in einer grundlegenderen Liebe fundiert 370, sodass er ihn als unselbstständiges, aus der Liebe ableitbares Phänomen nicht weiter analysiert. Während sein Interesse eher unseren werterfassenden und -erhöhenden Fühlformen gilt, die er als die ursprünglicheren Phänomene ansieht 371, stehen bei Kolnai vornehmlich unsere ablehnenden Emotionen im Fokus der phänomenologischen Studien. Von Scheler stark geprägt, geht er zwar wie dieser grundsätzlich von einem Primat der positiven, welterschließenden Emotionen aus. 372 Im Unterschied zu Scheler misst er der ›dunklen Seite‹ unseres emotionalen Lebens allerdings durchaus eine eigene Bedeutung zu und sieht in der Erforschung unserer Aversionen eine entscheidende Ergänzung, wenn nicht gar die Vollendung des von Scheler begonnenen wertphänomenologischen Projekts. 373 Im Folgenden soll zunächst ein Einblick in Kolnais Emotions- respektive Aversionstheorie gegeben werden, bevor wir – neben den benachbarten Phänomenen der Angst und des Ekels – das Phänomen des Hasses genauer betrachten.

Vgl. GW 7, S. 155 ff. Vgl. unter anderem GW 10, S. 368 ff. 371 Im Ordo Amoris bestimmt er den Menschen wesentlich als ein ens amans; vgl. GW 10, S. 356. 372 Vgl. zum Beispiel EWW, S. 64, Anmerkungen; EHH, S. 125 f., 135 f.; GW 10, S. 368 f. 373 Vgl. zum Beispiel EHH, S. 143–153. 369 370

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Kolnais Aversionsphänomenologie

3.1 Kolnais Aversionsphänomenologie Obwohl Kolnai ausdrücklich an Schelers Entwurf einer materialen Wertethik anschließt, rückt er zugleich in nicht unerheblichem Maße von diesem ab: Kolnai wirft Scheler nicht nur eine »zimperliche Angst, mit dem Bösen ›in Berührung zu kommen‹« 374, vor und sieht in dieser Hinsicht Ergänzungsbedarf, vielmehr hält er auch dessen wertethisches System, wie er in seiner 1927 veröffentlichten Dissertation Der ethische Wert und die Wirklichkeit schreibt, insgesamt für korrekturbedürftig. 375 Insbesondere betrifft dies die Frage nach dem Status der moralischen Werte. Nach Scheler können die Werte des Guten und Bösen nicht direkt realisiert werden, sondern erscheinen ausschließlich »auf dem Rücken« 376 von wertrealisierenden Akten. 377 Gut beziehungsweise böse sind demnach Akte und Personen, sofern sie den jeweils höheren oder positiven Wert beziehungsweise den geringeren oder negativen Wert verwirklichen. Das Gute selbst zu wollen oder auch das eigene Gutsein oder Besserwerden zu wollen bezeichnet Scheler daher eher als pharisäisches denn als moralisch wertvolles Verhalten. 378 Kolnai ist in diesem Punkt ganz anderer Ansicht. 379 Für ihn, so führt er im 1928 erschienenen Aufsatz Der Aufbau der ethischen Intention deutlicher aus, gehört es sowohl zum moralisch guten Handeln, eben das Gute tun zu wollen, als auch, nach dem eigenen Gutsein, der eigenen moralischen Vervollkommnung zu streben: »Jedes ethische Verhalten […] hat das ›Dem-Guten-dienenwollen‹ zum bedingenden und das ›Gut-sein-wollen‹ zum begleitenden Hintergrunde« 380. Grundsätzlich sind moralische Werte bei Kolnai also eigenständige Werte, die selbst erstrebt und verwirklicht werden können. 381 374 Kolnai (1925), »Max Schelers Kritik und Würdigung der Freudschen Libidolehre«, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, XI (1925), S. 145. 375 Vgl. zum Beispiel EWW, S. VIf. 376 GW 2, S. 48. 377 Vgl. GW 2, S. 45–51. 378 Vgl. GW 2, S. 48 f. 379 Vgl. EWW, S. VII; Kolnai (1928), »Der Aufbau der ethischen Intention«, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 41/1 (1928), S. 3. 380 Kolnai (1928), S. 5. 381 Inwiefern dies in gleicher Weise für negative Werte gilt wie für positive, wir also das Böse direkt erstreben können, wird bei Kolnai nicht deutlich. Generell geht er hier von einer ambivalenten oder imperfekten Natur des Menschen aus, der stets auch

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Phänomenologie des Hasses

Für das moralische Handeln ist jedoch nicht allein die unmittelbare Erfahrung des Guten von Bedeutung. Anders als für Scheler spielt für Kolnai hier auch gerade das besondere Erlebnis von Unwerten eine zentrale Rolle. Er geht sogar so weit, die Entdeckung moralisch negativer Wertverhalte an den Anfang der Entwicklung unseres moralischen Bewusstseins überhaupt zu rücken. Das Böse, nicht das Gute, gilt ihm als das eigentliche »Urphänomen der Ethik« 382 – nicht in der Erfahrung des Guten liege der Ursprung des moralischen Erlebens, sondern in dem auf das Böse bezogenen Ausschlusserlebnis 383: Das sittliche Erleben erlangt eine gewisse Schärfe zunächst im Erlebnis des Bösen und des Widerstandes dagegen. […] Erst dann tritt das Erleben des Guten, einer urwüchsigen Gegenkraft gegen Störung und Zerstörung, klar ins Bewußtsein. 384

Nach Kolnai sind es, mit anderen Worten, die negativen, aversiven Emotionen, die unser moralisches Bewusstsein wecken. Erst der Unwertverhalt, an dem wir in diesen Emotionen Anstoß nehmen, der uns als störend oder zerstörend entgegentritt, verweist uns auf einen Wertverhalt, für den es einzutreten gilt, der an seiner statt sein soll. Insofern werden ethische Werte bei Kolnai zu echten »Kampfwerte[n]« 385: Der moralisch handelnde Mensch sieht sich in einen über seine Lebenswirklichkeit entscheidenden Kampf zwischen Gut und Böse gestellt, der seine Stellungnahme erfordert. 386 Er muss

vom Bösen angezogen, ›versucht‹ werden könne; vgl. EWW, S. 71, Anmerkungen; EHH, S. 149 ff. Gleichzeitig scheint er allerdings zu bezweifeln, dass es ein rein böses Verhalten, in dem der Unwert als solcher gewollt wird, geben könne; vgl. EWW, S. 72, 82. Noch unklarer bleibt daher, ob er damit nun ein eigenes negatives Wertreich postulieren will; vgl. unter anderem EHH, S. 152. Während sich das Gute nach Kolnai in einzelne sittliche Werte entfaltet, schließt er eine Ausdifferenzierung des Bösen in Einzelunwerte in seiner Dissertation eigentlich aus; vgl. EHH, S. 53 f., 56, Anmerkungen. In späteren Untersuchungen finden sich dagegen auch gelegentlich Stellen, die eher für eine Graduierung des Bösen sprächen, zum Beispiel im Aufsatz zum Hochmut: Vgl. EHH, S. 76. In jeder Hinsicht aber sind eindeutige Textstellen rar. Eine ausführlichere Diskussion dieser Fragen werden wir daher erst angehen können, nachdem wir die emotionalen Phänomene genauer analysiert haben, in denen wir laut Kolnai mit dem Bösen konfrontiert werden. 382 EWW, S. 20. 383 Vgl. EWW, S. 124. 384 EWW, S. 8. 385 EWW, S. 20. 386 Zum Begriff der ethischen Intention als Stellungnahme siehe auch Kolnai (1928).

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Kolnais Aversionsphänomenologie

Partei ergreifen und sich für die Realisierung des Guten in der Welt beziehungsweise gegen die des Bösen einsetzen. 387 Damit erhalten unsere Aversionen bei Kolnai eine eigene moralische Relevanz, welche zweifellos den gemeinsamen Fluchtpunkt der emotionsphänomenologischen Untersuchungen bildet, die er innerhalb weniger Jahre nach seiner Dissertation vorgelegt hat: Der Ekel (1929), Der Hochmut (1931) und Versuch über den Haß (1935). 388 Bevor wir uns allerdings vor allem dem von Scheler vernachlässigten Phänomen des Hasses genauer zuwenden, soll anhand dieser Texte zunächst eine Einführung in Kolnais Theorie aversiver Emotionen gegeben werden. Hilfreich wird dabei auch der über dreißig Jahre später entstandene Essay The Standard Modes of Aversion 389 sein, den er für das wöchentliche philosophische Seminar am Bedford College in London verfasst hat – wo er von 1959 bis zu seinem Tod 1973 tätig war – und mit dem er seinen dortigen Kollegen eine kurze, strukturierte Zusammenfassung seiner früheren Forschungsergebnisse zu geben versucht. 390

3.1.1 Grundformen der Aversion Zu Beginn seiner Untersuchung des Ekels im gleichnamigen Aufsatz gibt Kolnai den Ausblick auf eine allgemeinere Theorie oder zumindest These über die Emotionen des Menschen überhaupt und seine Aversionen im Besonderen: Indem wir nun Ekel und Angst voneinander sondern wollen, müssen wir auch der Frage Rede stehen, warum wir die entsprechenden positiven, lustbetonten Gefühlsreaktionen nicht mit heranziehen. Die Antwort wird lauten, daß es solche – nämlich wahrhaft entsprechende – gar nicht gibt. […] Vgl. unter anderem EWW, S. 7 f., 124–127. Zitiert wird nach der im Suhrkamp-Verlag erschienenen Aufsatzsammlung (EHH); siehe Fußnote 6. 389 Aurel Kolnai (1969/70): The Standard Modes of Aversion: Fear, Disgust, and Hatred, in: On Disgust, edited and with and introduction by Barry Smith and Carolyn Korsmeyer, Chicago u. a.: Open Court 2004, S. 93–108 (= SMA). 390 Zur Entstehungszeit lassen sich keine eindeutigen Angaben finden. Francis Dunlop datiert den Beitrag in seiner Kolnai-Biografie auf 1968, vgl. Dunlop (2002): The Life and Thought of Aurel Kolnai, Aldershot u. a.: Ashgate 2002, S. 298; David Wiggins, auf dessen Nachfrage hin der Essay entstanden ist, datiert ihn auf 1969/70, vgl. SMA, S. 108. Veröffentlicht wurde er erstmals 1998 in der Zeitschrift Mind, Bd. 107, Nr. 427, S. 581–95. 387 388

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Phänomenologie des Hasses

Weder Begehren noch Gefallen noch Angezogenwerden sind ebenbürtige Gegensätze zum Ekel. Andererseits wäre die Tönung ›appetitlich‹, wiewohl inhaltsvoller, zu eng dafür. Es scheint sich so zu verhalten, daß während die unlustbetonten Reaktionen sich in große Sondertypen ziemlich scharf differenzieren (Haß, Angst, Ekel), im Positiven es eine einheitlichere Einstellung der Liebe gibt, die sich dann verschiedenfach (den Unlustformen nicht durchwegs parallel) abwandelt. 391

Erst in den Standard Modes aber formuliert Kolnai diesen Ansatz expliziter aus. 392 Demnach bestehe eine grundsätzliche Asymmetrie zwischen positiven, bejahenden Emotionen einerseits und negativen, verneinenden Emotionen andererseits: Obwohl sich unser emotionales Leben abstrakt in diese zwei gegensätzlichen Seiten aufteilen ließe, könne einer konkreten Emotion kein eindeutiges Pendant auf der Gegenseite zugeordnet werden (These a). Außerdem lasse sich im negativen Bereich eine Unterteilung in Grundtypen vornehmen, die so im positiven Bereich nicht möglich sei (These b): Unsere zuneigenden Emotionen träten in einer ungleich größeren Bandbreite auf, erschienen in unterschiedlichsten Formen und Nuancen, die zu vielfältig seien, um darin genau voneinander abgrenzbare Grundformen zu erkennen. Im oben genannten Zitat hat Kolnai sie darum offenbar, wie zu sehen war, schlicht unter dem Stichwort »Liebe« zusammengefasst und auch in den Standard Modes spricht er in ganz ähnlicher Weise allgemein von »pro attitudes and love-like attentions« 393. Als Basistypen der Aversion schlägt er dagegen die drei bereits im Zitat erwähnten Emotionen vor: Angst, Ekel und Hass. Damit ist im Grunde allerdings noch eine dritte These impliziert, und zwar die, dass unsere abweisenden Emotionen eben sehr klare, prägnante und eintönige Phänomene sind, die keine wesentlichen Variationen aufweisen (These b’). 394 Insofern sind im Bereich unserer Aversionen distinktere phänomenologische Beschreibungen möglich als im vielfarbigen Spektrum unserer bejahenden Emotionen – was neben ihrer moralischen Bedeutsamkeit vielleicht ein weiterer Grund für Kolnai gewesen sein mag, sich eher mit dieser Seite unserer Emotionalität zu befassen: »[…] what we may recognize is that a far higher degree of

EHH, S. 12. SMA, S. 93. 393 SMA, S. 108. 394 Kolnai nennt nur die Thesen (a) und (b) explizit, die weitere Differenzierung der Asymmetrie-These stammt von mir. 391 392

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abstract typological characterization is possible on the negative or aversion side.« 395 Die um einiges buntere Vielfalt unserer positiven Emotionen liegt nun für Kolnai darin begründet, dass sie im Gegensatz zu unseren Ablehnungsemotionen in alle unsere Lebensvollzüge gewissermaßen eingewoben sind und ihren spezifischen Charakter stets erst vom konkreten Objekt erhalten, das uns jeweils anzieht oder dem wir uns zuwenden: Any project of attempting an analogous description of the modes of attraction would tempt us into describing life itself. That is so because our positive contacts, our consonances and our endeavors of union and communion with objects are functional, with their respective nature closely adapted to the manifoldness of the actual and possible objects and of the kinds of activity they invite or lend themselves to.396

So unterscheidet sich zum Beispiel unser Genuss bestimmter Speisen nicht allein in der Intensität, sondern auch qualitativ deutlich von unserem Genuss beim Tragen bestimmter Kleidungsstoffe 397; und selbst je nach Speise oder Kleidungsstoff können wir wiederum ganz verschiedene Genüsse erleben. Ob wir uns jedoch vor einem verschimmelten Brot, Fisch oder Kuchen ekeln, scheint für das Ekelerlebnis weniger relevant zu sein – in manchen Fällen mag das Objekt vielleicht gar nicht mehr genau zu bestimmen sein –, genauso wie die Frage, ob wir das verschimmelte Objekt riechen, schmecken oder sehen. 398 Allenfalls die Intensität des Ekelschauders kann hierbei variieren. Dieser Gedanke wird von Kolnai vor allem im Versuch über den Haß detaillierter entwickelt, wo er speziell das asymmetrische Verhältnis von Liebe und Hass analysiert. 399 Anhand dieses EmotionsSMA, S. 107. SMA, S. 107. 397 Das Beispiel stammt von Kolnai; vgl. SMA, S. 108. 398 Vgl. SMA, S. 108. 399 Vgl. EHH, S. 115–125. Eine Andeutung des ungleichen Verhältnisses von Liebe und Hass findet sich bereits in Kolnais Dissertation; vgl. EWW, S. 136. Auf ein Problem dieser Gegenüberstellung sei hier allerdings hingewiesen: An keiner Stelle gibt Kolnai eine genauere Beschreibung der Liebe, sodass letztlich unklar bleibt, inwiefern er dabei überhaupt eine bestimmte positive Emotion im Blick hat oder lediglich verschiedenste positive Emotionen unter dem Begriff der Liebe versammelt. In jedem Fall scheint Kolnai die Liebe aber – im Gegensatz zu dem in dieser Arbeit entwickelten Konzept – recht allgemein als eine Form der Bejahung von Wertgegenständen zu verstehen. 395 396

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paares lässt sich seine These also kurz genauer erläutern: Für Kolnai können prinzipiell alle Gegenstände oder Personen, mit denen wir in ›positiven Kontakt‹ treten, die wir irgendwie angenehm finden, nützlich oder schön und Ähnliches, zum Objekt unserer Liebe werden. 400 Tatsächlich durchziehen und prägen zahlreiche solcher Liebesbeziehungen unser gesamtes Leben 401: Wir sind vielleicht Liebhaber klassischer Musik oder französischen Rotweins, wir lieben unsere Eltern, unsere Kinder, unsere Heimat, die Natur oder den lokalen Fußballverein. Doch während wir gleichermaßen von der Liebe zur Musik, zu den Kindern oder zur Natur sprechen, ist jedes dieser emotionalen Erlebnisse qualitativ verschieden. Je nach dem Objekt, auf welches sich die Liebe richtet, fühlt sie sich anders an und wirkt sich ebenso anders aus: Der treue Fußballfan fährt vielleicht zu jedem Spiel seines Vereins, um ihm überall beizustehen; die mitfühlende Mutter verwöhnt ihr krankes Kind mit neuem Spielzeug, um ihm die Leidenszeit zu verkürzen; und der begeisterte Musikfreund spart jahrelang sehnsüchtig auf eine High-End-Musikanlage, die seinen Musikgenuss vervollkommnen soll. Welche Form die Liebe annimmt, hängt mithin von den funktionalen Beziehungen zum Objekt ab, von den Möglichkeiten, mit ihm umzugehen. Insofern nun diese Möglichkeiten der Bejahung, der Einbindung eines Objekts in unser Leben letztlich durch seine Beschaffenheit, seine verschiedenen Eigenschaften bestimmt ist, prägt also das jeweilige Objekt den spezifischen Charakter unserer liebenden Zuwendung. 402 In diesem Sinne sind unsere Liebesgefühle schließlich so mannigfaltig wie unsere Liebesobjekte. 403 Dass diese Vielfalt der Liebe wesentlich ist, zeige sich, so Kolnai, schon in ihrer klassischen Unterscheidung in die drei Formen der begehrlichen Liebe (eros, amor concupiscentiae), der wohlwollen-

Vgl. EHH, S. 121. Vgl. EHH, S. 119, 121, 123 f. 402 Vgl. EHH, S. 120 f. 403 In Bezug auf die personale Liebe vertrete ich eine ähnliche These in Kapitel 2.6.1 (a), wo ich die konkrete Gefühlsqualität des Liebeserlebnisses in gewissem Maße von der individuellen Person abhängig mache, auf die sich die Liebe jeweils richtet. Meines Erachtens handelt es sich bei der Objektabhängigkeit der Gefühlsqualitäten jedoch nicht um ein Charakteristikum positiver Emotionen, sondern um eine grundlegende Eigenschaft objektgerichteter Emotionen überhaupt, wobei sich die besondere Varianz des Liebesgefühls der besonderen Varianz des wesentlich individuellen Liebesobjekts verdankt; siehe auch Kapitel 4.1. 400 401

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den (agape, amor benevolentiae) und der freundschaftlichen Liebe (philia, amor intellectualis). 404 Eine ähnliche Vielseitigkeit lässt sich Kolnai zufolge beim Hass nicht feststellen. Zum einen hassen wir im Allgemeinen seltener, die Anzahl der potenziellen Hassobjekte ist deutlich geringer – wir reden zum Beispiel kaum ernsthaft davon, ein Musikstück, die Natur oder unsere Heimat zu hassen –, zum anderen scheint sich die emotionale Qualität der Hasserlebnisse sowie die damit verbundene praktische Auswirkung wenig mit den Objekten zu verändern. Wir verfügen insofern auch nicht über eine analoge Einteilung in verschiedene Hassformen, etwa in verabscheuenden, übelwollenden und feindschaftlichen Hass. Der Hass tritt stets als dasselbe einförmige Phänomen auf; die in ihm enthaltene existentielle Verneinung des Objekts bleibt wesentlich dieselbe, wenngleich sie im Ausmaß oder der tatsächlichen Umsetzung wechseln mag: 405 Dem Hasse eignet von dieser Differenzierung nichts. Wenn, über einen gewissen Siedepunkt des Hasses und des Zornes hinaus, der Vater den Sohn erschießt, oder der Sohn den Vater erschießt, die Eheleute einander vergiften oder mit der Hacke erschlagen, so kommt das alles ziemlich auf eines heraus. 406

Diese Asymmetrie spiegelt sich nach Kolnai selbst in unserer alltäglichen Sprache wider: Während die fürsorgliche Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die besondere Leidenschaft für Musik oder die enge emotionale Bindung an die eigene Heimat zumindest im Deutschen ihren eigenen sprachlichen Ausdruck gefunden hat, konnte sich eine entsprechende Rede von Mutterhass, Musikhass oder Heimathass nicht etablieren. 407 Nun lässt sich zwar einwenden, dass wir vielleicht nicht von Mutterhass oder Ähnlichem sprechen, dafür aber etwa von Deutschenhass, Judenhass, Ausländerhass oder Rassenhass. Doch einerseits verrät beispielsweise ein Blick in den Duden, dass es in der deutschen Sprache dennoch deutlich weniger Komposita gibt, die auf »-hass« enden und insofern als Bezeichnungen für eigenständige

Vgl. EHH, S. 116; ähnlich in SMA, S. 93 f. Vgl. EHH, S. 116 f. 406 EHH, S. 117. 407 EHH, S. 116 f. Die Beispiele sind leicht abgewandelt. Kolnai selbst nennt an dieser Stelle die Elternliebe, Kindesliebe, Freundesliebe, Geschlechtsliebe, Vaterlandsliebe und den »mystischen Eros der Griechen«. 404 405

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Hassformen gelten könnten, als entsprechende Liebes-Komposita. 408 Andererseits zeigt diese recht repräsentative Aufzählung, dass die jeweiligen Hassobjekte von auffallend ähnlicher Art sind und in Hinsicht auf die spezifische Qualität des emotionalen Erlebnisses sowie auf den möglichen praktischen Ausdruck austauschbarer erscheinen als die Liebesobjekte Kind, Tier, Heimat oder Musik. In diesem Sinne deutet die Alltagssprache also durchaus auf einen signifikanten Unterschied zwischen positiven und negativen Emotionen hin. Nach Kolnai weisen unsere positiven, oder auch integrierenden, Emotionen deshalb ein kaum differenzierbares Spektrum an Qualitäten und Ausdrucksmöglichkeiten auf, weil sie unseren gesamten Lebensvollzug begleiten und wir in ihnen alle irgendwie wertvollen Objekte, auf die wir stoßen, in unser Leben eingliedern (These c). Im Gegensatz dazu werden negative Objekte nicht in unser Leben eingebunden, sondern vielmehr ausgeschlossen. Unsere negativen, oder auch eliminierenden, Emotionen treten daher eher singulär auf, und zwar immer dann, wenn etwas als störend, bedrohlich oder feindlich in unser Leben eindringt (These c’). 409 Der bloße Ausschluss eines Objekts erfordert allerdings kein genaueres Einlassen auf seine besondere Beschaffenheit – ob wir es gerade mit einer verschimmelten Käse- oder Salamipizza zu tun haben oder uns auf dem Waldweg ein aggressiver brauner oder grauer Bär begegnet, ist für die Qualität unseres jeweiligen Ekel- oder Angstgefühls weniger entscheidend, ebenso wie für unsere Reaktion des Abwendens oder Fliehens. 410 Insofern bleiben unsere Aversionen relativ einförmige Abwehrreaktionen, die gegenüber den integrierenden Emotionen eine deutlich geringere Variabilität in Gefühlsqualität und Ausdrucksmöglichkeit zeigen. Kolnais Asymmetrie-These lässt sich damit wie folgt grob zusammenfassen: Es besteht eine wesentliche Asymmetrie zwischen unseren positiven und negativen Emotionen (a). Während unsere positiven Emotionen über eine große Qualitäts- und Ausdrucksvariabilität verfügen, weisen unsere negativen Emotionen eher unwesentliche Variationen auf (b). Dieser Unterschied gründet letztlich in unserem Umgang mit positiven und negativen Objekten (c): Da wir in unseren 408 Der Online-Duden verzeichnet etwa acht Hass- vs. sechzehn Liebes-Komposita; vgl. http://www.duden.de/. 409 Vgl. EHH, S. 119. 410 Vgl. zum Hass EHH, S. 116 ff.

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positiven Emotionen alle in irgendeiner Weise wertvollen, bereichernden Objekte bejahen und in unser Leben integrieren, sind sie so vielfältig wie die Objekte selbst. In den negativen Emotionen hingegen schließen wir Objekte, die uns stören oder gefährden oder Ähnliches, lediglich aus unserem Leben aus. Unsere positiven Emotionen spiegeln mithin, könnte man mit Kolnai sagen, die Vielfalt des Seins wider, unsere negativen die Einfachheit des Nichtseins. 411 Wie kommt Kolnai nun aber zu der angedeuteten Unterscheidung unserer Abwehrreaktionen in die drei Grundtypen Angst, Ekel und Hass? Diese Einteilung kündigt sich zwar schon in seiner Untersuchung zum Ekel an, wie das oben angeführte Zitat zeigt 412, eine Begründung seiner Auswahl gibt Kolnai hier allerdings noch nicht. Zudem lässt die zitierte Textstelle offen, ob es sich dabei um eine erschöpfende oder eher beispielhafte Reihe handelt. So zählt er etwa zur Abgrenzung des Ekels gegen andere Emotionen nicht nur Angst und Hass auf, sondern unter anderem auch die Abwehrreaktionen Verachtung, Zorn und Abscheu. 413 Eine Erklärung erhalten wir erst in den Standard Modes, wo Kolnai explizit diese Triade der standard modes of aversion vorschlägt. 414 Demnach bieten sich vor allem Angst, Ekel und Hass als grundlegende Aversionstypen an, weil sie im Unterschied zu anderen »Ablehnungstönungen« 415 echte emotive responses beziehungsweise emotional presentations darstellen: […] acts or attitudes or conative states of consciousness which on the one hand are clearly governed by an intentional object, and on the other hand express something like a passion aroused in the self […]; in other words intention (Gegenständlichkeit) as linked essentially […] to condition (Zuständlichkeit). 416

Für Aversionen bedeutet dies also, dass sie sich sowohl durch einen spezifischen negativen Objektbezug wie durch ein spezifisches negatives Gefühl auszeichnen. Bei vielen negativen emotionalen Erlebnissen ist diese enge Verbindung von Intentionalität (oder Gegenständlichkeit) und Zuständlichkeit nach Kolnai nicht so stark ausgeprägt. Einige Emotionen seien nicht notwendig oder nur vage auf ein be411 412 413 414 415 416

Vgl. EHH, S. 117. Siehe S. 135 f. Vgl. EHH, S. 8–11. Vgl. SMA, S. 93. EHH, S. 8. SMA, S. 94.

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stimmtes Objekt bezogen (zum Beispiel bei Unbehagen, depressiver Stimmung, innerer Unruhe), sodass wir es hier eher mit Gefühlszuständen zu tun hätten. Bei anderen scheine wiederum eine typische Gefühlsqualität zu fehlen (zum Beispiel bei Verachtung, Verabscheuung), ohne die sich eine intentionale Emotion kaum von bloß intellektuellem Erfassen und Urteilen abhebe. 417 Angst, Ekel und Hass sind für Kolnai dagegen gleichermaßen intentional wie zuständlich: Sie weisen einen deutlichen Bezug auf ein charakteristisches negatives Objekt auf, der mit einer ebenso signifikanten negativen Gefühlsqualität verbunden ist. Insofern können sie im vollen Sinn als aversive Emotionen gelten. Damit formuliert Kolnai einen Grundgedanken aus, der sich meines Erachtens bereits in seinen phänomenologischen Untersuchungen der 1920er- und 1930er-Jahre abzeichnet. Dass er ihn erst in den Standard Modes in klare Begriffe fasst, mag an der unterschiedlichen thematischen Ausrichtung der Texte liegen. Während ihm in den früheren Studien vornehmlich an den Einzelphänomenen gelegen war, versucht er hier, einen systematischeren Überblick über seine Forschungen zu geben. Möglicherweise sieht er sich im Kreis seiner analytischen Kollegen am Bedford College aber auch zu größerer begrifflicher Schärfe veranlasst als in seinen phänomenologischen Schriften. So spricht Kolnai etwa in Der Ekel und im Versuch durchweg recht allgemein von den Objekten der Emotionen, ohne an einer Stelle genauer zwischen intentionalen und realen Objekten zu unterscheiden respektive zwischen dem intentionalen Bezug zu einem Objekt und der Verursachung durch ein Objekt. In den Standard Modes betont er hingegen ausdrücklich die Bedeutung der Frage nach den spezifischen intentionalen Objekten von Emotionen und nimmt anhand dieser auch die grundlegende Differenzierung der drei Basisaversionen vor: Demnach beziehe sich der Ekel wesentlich auf bestimmte Eigenschaften eines Gegenstands, die Angst auf bestimmte Situationen oder Sachverhalte und der Hass auf bestimmte Individuen. 418 Angst, Ekel und Hass unterscheiden sich also nicht in ihrem 417 Vgl. SMA, S. 94 f. Andere Phänomene wiederum sind für Kolnai zu sehr oder zu wenig spezifisch oder auch zu komplex, um als standard modes gelten zu können; vgl. SMA, S. 95 f. 418 Vgl. SMA, S. 96. Wie wir in den folgenden Einzeluntersuchungen sehen werden, zeichnet sich bei Kolnai, wenngleich nicht in derselben Terminologie, bereits eine ähnliche Unterscheidung ab, wie sie heute oft zwischen dem intentionalen Objekt als dem jeweiligen Gegenstand, Sachverhalt etc., auf den sich eine Emotion richtet, und

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grundsätzlich negativen, eliminierenden Charakter, aber in der Art des Objekts, das jeweils nicht sein soll, und mithin, wie wir sehen werden, in der besonderen Art der Negation. Wenn wir einen Blick zurück in Kolnais Dissertation werfen, können wir ergänzen, inwiefern unsere Aversionen damit ebenso verschiedene Arten moralischer Unwerte zum Objekt haben können. Dort nennt Kolnai drei Verhaltensweisen, auf die sich das moralische Ausschlusserlebnis richten könne: 1. Bosheit – darunter fasst er das reine Übelwollen, den bloßen Zerstörungswillen; 2. Unreinlichkeit – hierzu zählt er Schamlosigkeit, Triebhaftigkeit, tierische Lebensweise, aber ebenso »feinere Formen seelischer ›Unsauberkeit‹« 419; 3. Gemeinheit – wie zum Beispiel Niedertracht, Verrat oder Hinterlist. 420 Wie im Einzelnen noch anhand von Kolnais Darstellungen im Versuch zu zeigen sein wird, können wir den Hass dabei als dasjenige Ausschlusserlebnis verstehen, in dem wir uns gegen eine als böse erlebte Person oder personhafte Macht auflehnen (1.): Das jeweilige Objekt des Hasses erscheint als zerstörerische, im Gegensatz zu Naturgewalten jedoch zurechnungsfähige, für ihre Handlungen verantwortliche Macht, die in unsere Welt einbricht, sie zu vernichten sucht und darum selbst vernichtet werden muss. 421 Der Ekel richtet sich dagegen nicht auf ein Individuum als Ganzes, sondern nur auf bestimmte Qualitäten. Obwohl hiermit in erster Linie bestimmte sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften organischer Objekte gemeint sind, vor allem solcher, die sich im Zustand der Fäulnis oder Verwesung befinden 422, gibt es nach Kolnai auch einen geistigen Ekel, der sich auf entsprechende Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften eines Menschen beziehen kann. Im Ekel als moralischem Ausschlusserlebnis wären wir demnach abgestoßen oder angewidert von irgendwie unsauberen, korrupten oder ›verdorbenen‹ Charakteren, die zum Zwecke eines einfachen, niederen Eigennutzes hochstehende moralische Werte verraten (2. & 3.). 423 In seinem Aufsatz zum Ekel betont Kolnai allerdings, dass er allenfalls ein sekundäres Erlebnis des Bösen sei: dem formalen Objekt, welches die intentionalen Objekte einer bestimmten Emotion charakterisiert, getroffen wird; siehe S. 45, Fußnote 112. 419 Vgl. EWW, S. 123. 420 Vgl. EWW, S. 123. 421 Vgl. EHH, S. 100–108. 422 Vgl. EHH, S. 29 f. 423 Vgl. EHH, S. 39–47. Liebe und Hass

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Der Ekel ist kein primäres Erlebnis des Bösen, er deutet nur – soweit es sich überhaupt um Geistig-Sittliches handelt – auf Böses hin. Mit anderen Worten: er zeigt die Anwesenheit einer besonderen Qualität des Unsittlichen, nämlich des moralisch ›Fäulnishaften‹, ›Angefaulten‹, an. 424

Kein moralisches Ausschlusserlebnis finden wir hingegen in der Angst. Im Unterschied zu Hass und Ekel richtet sich unsere Angst nach Kolnai nämlich nicht direkt auf Personen oder Verhaltensweisen, welche Träger moralischer Werte sein könnten, sondern eher auf Situationen: Vor dem hungrigen Tiger oder dem messerschwingenden Räuber haben wir eigentlich nur Angst, sofern sie sich in einer (unter anderem räumlichen) Lage befinden, in der sie uns tatsächlich gefährlich werden können – das Raubtier im sicheren Käfig oder der Bandit im Kinofilm beängstigt uns im Normalfall weniger. Im Zentrum des Angsterlebnisses steht daher weniger die eventuelle Boshaftigkeit oder Gemeinheit des Räubers als die mögliche Gefährdung unseres Lebens. 425 Im Grunde genommen können wir es in unseren aversiven Emotionen also mit zwei Formen des Bösen zu tun bekommen: zum einen mit seiner Reinform, der Wertvernichtung 426, das heißt den absolut wertwidrigen Handlungen beziehungsweise den Personen, die auf die Zerstörung von Wertstrukturen aus sind, und zum anderen mit einer Art Übergangsform zum Bösen, der Wertzersetzung, das heißt Verhaltensweisen, die bestehende Werte in irgendeiner Form aushöhlen, unterlaufen oder verraten. Die moralisch relevanteste Emotion ist hierbei der Hass, insofern er gerade wesensmäßig auf die böse, wertzerstörende Person oder Macht gerichtet ist. Eine der drei emotionsphänomenologischen Studien, die Kolnai im Anschluss an seine Dissertation angefertigt hat, bleibt in seiner späteren Zusammenschau in den Standard Modes unberücksichtigt: Der Hochmut. Abschließend soll daher kurz die Stellung dieses Phänomens zu den bisher besprochenen Aversionen beleuchtet werden. In seinem Aufsatz von 1931 beschreibt Kolnai den Hochmut als eine EHH, S. 56. Vgl. EHH, S. 13 ff.; SMA, S. 97 ff. 426 Dieser Terminus stammt, wie der folgende der Wertzersetzung, von mir. Gemeint ist damit nicht, dass Werte direkt zerstört werden, sondern dass Wertträger, Wertsymbole oder auch Wertrealisierungsmöglichkeiten und Ähnliches vernichtet werden. Allerdings lässt sich meines Erachtens durchaus davon reden, dass das eigentliche Ziel derartiger Akte die Werte selbst sind, die als ideale Objekte zwangsläufig unantastbar bleiben. 424 425

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Haltung der Selbstüberhöhung, die nicht nur eine Herabsetzung anderer beinhalte, sondern vielmehr eine vollständige Abschließung gegen die Wertmaßstäbe der (Mit-)Menschen, derer man sich, gottähnlich, enthoben glaube – und die folglich allein durch die demütige Hingabe an Gott ›geheilt‹ werden könne. 427 Wie Honneth im Nachwort der Aufsatzsammlung Ekel, Hochmut, Haß vermutet 428, unterschlägt Kolnai seine Betrachtungen unter anderem deshalb, weil sie zu deutlich im Zeichen seiner eigenen religiösen Wende stehen: Kolnai, in einem liberalen jüdischen Elternhaus aufgewachsen, hatte sich fünf Jahre zuvor erst katholisch taufen lassen. 429 Ein derartiges Glaubensbekenntnis mag er im Rahmen des Seminars und vor seinem analytischen Publikum am Bedford College vielleicht für unpassend gehalten haben. 430 Entscheidender aber ist sicherlich, dass der Hochmut überhaupt nicht zu den Aversionen im engeren Sinne gezählt werden kann, wie Kolnai sie in den Standard Modes bestimmt, da er strukturell nicht unter den Begriff der emotive response fällt. Statt als emotionale Antwort oder Reaktion auf störende oder bedrohliche Objekte erscheint der Hochmut, wie bereits Honneth feststellt, eher als konstante Grundeinstellung, die das Subjekt unabhängig von bestimmten äußeren Umständen der Umwelt entgegenbringen kann. 431 Insofern gehört der Hochmut weniger zu den Aversionen im Sinne der emotive response als zu den Charaktereigenschaften – Kolnai bezeichnet ihn selbst als eine »Haltung der Seele« 432. Doch nicht nur die Antwortstruktur fehlt dem Hochmut, sondern insbesondere auch das negative Objekt: Die Umwelt, gegen die er sich abschließt, erscheint dem Hochmütigen ja nicht als wertwidrig oder böse; vielmehr ist er es, der ihr jede Werthaftigkeit abspricht, ihre Wertmaßstäbe für ungültig erklärt und bestehende Wertstrukturen umstürzt. 433 Der Hochmut ist daher selbst wertvernichtend, also böse. Damit lässt er sich zwar neben Ekel und Hass unter die moralisch besonders relevanten Phäno-

Vgl. EHH, S. 77 ff., 96 ff. Vgl. EHH, S. 159–162. 429 Siehe Kolnai (1977b): Ethics, Value, and Reality. Selected Papers of Aurel Kolnai, with an introduction by Bernard Williams and David Wiggins, London: Athlone Press 1977 (= EVR), S. xiii. 430 Vgl. EHH, S. 162. 431 Vgl. EHH, S. 162. 432 EHH, S. 74. 433 Vgl. EHH, S. 75 ff. 427 428

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mene einreihen, allerdings nicht als ein weiteres moralisches Ausschlusserlebnis, sondern als ein mögliches Objekt eines solchen. Bevor wir uns im Folgenden eingehender mit dem Hass befassen, werfen wir zuerst noch einen Blick auf die Angst und den Ekel: zum einen, um ein genaueres Bild der Natur aversiver Emotionen nach Kolnai zu geben, und zum anderen, weil der Hass, obzwar Kolnai nicht von einer Fundierung in Angst oder Ekel spricht 434, strukturell Grundzüge dieser beiden anderen Aversionstypen aufweist.

3.2 Angst Wie bereits angedeutet, richtet sich die Angst laut Kolnai im Unterschied zum Ekel oder Hass wesensmäßig eher auf Situationen oder Sachverhalte als auf Individuen oder einzelne Eigenschaften derselben. Wir haben also nicht vor dem Bären in seiner konkreten Beschaffenheit Angst, sondern nur sofern er für uns eine aktuelle Gefahr darstellt. Kolnai spricht daher von einer Sachverhaltsbeziehung des Objekts zum Subjekt, die in der Angst eigentlich intendiert werde. 435 Dies mag zunächst etwas befremdlich klingen, haben wir doch augenscheinlich vor dem Bären Angst, der da leibhaftig direkt vor uns steht, und nicht vor einer scheinbar abstrakten Beziehung. Allerdings versucht Kolnai hier ein wesentliches Charakteristikum der Angst zu beschreiben, das sie deutlich von anderen Aversionen unterscheidet: nämlich die Besonderheit der doppelten Intention. Denn tatsächlich haben wir nie lediglich Angst vor etwas, sondern stets auch um etwas, und zwar typischerweise um uns selbst. Ob wir dabei um unser nacktes Überleben bangen, um unsere Gesundheit oder unseren beruflichen Erfolg – »bei jeder echten Angst ist irgendwie […] der Bestand des Selbst in Frage, […] ihre Bezugnahme ist immer irgendwie ›durchgeleitet‹ auf letzte und große Lebensinteressen, die gefährdet erscheinen.« 436 Angst enthält mithin in irgendeiner Form immer die Sorge um das eigene Wohlergehen; sie ist insofern gleichermaßen auf das gefährliche Objekt wie »intentional rückwärts« 437 auf das gefähr-

434 435 436 437

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Vgl. zum Beispiel EHH, S. 104. Vgl. EHH, S. 15. EHH, S. 15. EHH, S. 15.

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Angst

dete Subjekt gerichtet. 438 Damit ist jedoch die Gefährlichkeit genau genommen keine Eigenschaft des Objekts – etwa des wilden Bären –, sondern eine Eigenschaft der Situation, in der sich Objekt und Subjekt befinden. Unsere Angst vor dem Bären beruht nicht allein auf seinen diversen körperlichen Attributen oder seiner Aggressivität oder Ähnlichem; sie hängt mindestens ebenso sehr von den faktischen Umständen ab, die unsere Gefährdung ermöglichen oder verhindern – und, so möchte man Kolnai ergänzen, von uns: von unserer Fähigkeit, uns zu schützen oder zu wehren oder eben von unserer Sorge um uns selbst. Insofern weist die Angst, in bemerkenswertem Kontrast zu ihren bekannten und prägnanten leiblichen Symptomen, eine recht abstrakte Intention auf, was sich für Kolnai auch gerade darin zeigt, dass die besondere Eigenart, die genauere Beschaffenheit des Objekts für das Angsterlebnis eigentlich kaum eine Rolle spielt. Wie die Zähne des Bären etwa im Detail aussehen, ist für unsere Angst relativ unerheblich. Vielmehr scheint es nach Kolnai so zu sein, dass die Beschaffenheit des Angstobjekts mehr oder weniger auf die Eigenschaft des Gefährlichseins reduziert wird: »[…] das Gefährliche wird da vornehmlich nur als ›Gefahr‹ […] gemeint.« 439 Diese Eigenschaft der Gefährlichkeit aber gewinnt das Objekt, wie oben angedeutet, aus der aktuellen Situation, aus der Sachverhaltsbeziehung zum Subjekt. Das heißt, in Kolnais Worten, »daß für die Angst die Daseinsumstände und -tendenzen jenes Seins primär und soseinskonstitutiv sind« 440. Obschon uns die Angst laut Kolnai durchaus vollkommen in Besitz

Vgl. EHH, S. 15. EHH, S. 15. 440 EHH, S. 22. An anderer Stelle heißt es, dass »jene Daseinslage sich z. T. im Sosein des gefürchteten Objekts verdichtet, zusammenballt«; EHH, S. 21. Kolnai spricht zwar ebenfalls davon, dass ›furchtbar‹ und ›ekelhaft‹ – zumindest eher als ›hassenswert‹ – »objektive, eine eindeutige Reaktion ›auslösende‹ Qualitäten« seien (vgl. EHH, S. 10), doch scheint mir dies im Falle des Furchtbaren gerade angesichts Kolnais Betonung der Sachverhaltsbeziehung von Objekt und Subjekt und der Rückwendung der Angst auf das Subjekt unplausibel. ›Furchtbar‹ ist meines Erachtens allenfalls insofern eine objektivere Qualität, als die meisten Menschen eine ähnliche natürliche Ausstattung haben, sodass bestimmte Situationen für sie schlicht gleichermaßen gefährlich sind. In den Standard Modes formuliert er selbst auch etwas vorsichtiger: »Hence, the ›quality‹ of fearfulness, terribleness or […] dangerousness of the feared object has a dubious status, lending support to a relativistic approach.«; SMA, S. 98. 438 439

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nehmen, uns durch und durch erfassen kann 441, ist die Intention auf uns selbst, also auf die zweite Stelle der Sachverhaltsbeziehung, in der Angst ebenfalls nur abstrakt: Die eigene Person wird hier nicht als konkretes Individuum in all seinen Facetten intendiert, sondern vor allem als »Daseins-Einheit« 442, die es zu schützen und zu bewahren gilt. Das letzte Ziel der Angst ist dabei, wie auf der Hand liegt, die Flucht vor dem gefährlichen Objekt, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Diese besteht im einfachsten Fall darin, sich aus der Gefahrenzone zu entfernen, sich vom Objekt zurückzuziehen. Sie kann für Kolnai allerdings auch deutlich aggressivere Formen annehmen und auf das Außer-Gefecht-Setzen oder gar die Vernichtung des realen Objekts hinauslaufen. 443 Ebenso sieht er eine Fluchtreaktion in jeder vorsorglichen Maßnahme, die eine potenzielle Bedrohung bereits im Vorfeld ausschaltet, wie etwa das Vermeiden von Situationen, die in irgendeiner Weise gefährlich werden könnten. 444 Das Nichtsein des Objekts, auf das die Angst zielt, besteht mithin, so ließe sich Kolnai verstehen, in dessen Nicht-mächtig-Sein, in dessen Wirkungslosigkeit. Die Negation des Angstobjekts erfolgt daher durch die Negierung seiner Macht, und dies wird am direktesten und gefahrlosesten durch die Wegbewegung vom Objekt, das heißt durch das Verlassen seines Wirkungskreises, erreicht. Kommt es dabei zur Vernichtung des Objekts, so ist diese im Unterschied zum Hass nicht das eigentliche Ziel der Abwehrreaktion, sondern lediglich die ultima ratio, um das Angstobjekt zu entmachten. Wir werden im Folgenden sehen, in welcher Weise auch die beiden anderen Grundaversionen Ekel und Hass auf das Nichtsein ihres Objekts abheben.

3.3 Ekel Anders als die Angst ist der Ekel für Kolnai sehr deutlich nur nach außen, vom Subjekt weg, auf das Objekt hin gerichtet. 445 Dabei wird das Objekt des Ekels nicht abstrakt, sondern äußerst konkret inten441 442 443 444 445

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Vgl. EHH, S. 10, 21. EHH, S. 15. Vgl. SMA, S. 97. Vgl. SMA, S. 97. Vgl. EHH, S. 15 f.

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Ekel

diert: Statt der Situation, der Sachverhaltsbeziehung zum Subjekt, gilt der Ekel primär der besonderen Beschaffenheit des Objekts. Im Ekel wird dieses also weniger in seinem aktuellen Verhältnis zum Subjekt als vielmehr in seiner vollen Anschaulichkeit, in seiner ganzen »Bildfülle« 446 erfasst. Kolnai spricht in den Standard Modes daher auch von einer »eminently aesthetic emotion« 447. So kann uns der wilde Tiger, den wir auf dem Fernsehbildschirm sehen, normalerweise nicht wirklich Angst einjagen, vor hunderten wimmelnden Maden in Nahaufnahme können wir uns dagegen sehr wohl ekeln – mehr noch: Selbst die bildliche Vorstellung der Maden kann leicht schon einen geringen Ekel auslösen, wohingegen wir uns vom geistigen Bild des Tigers für gewöhnlich kaum bedroht fühlen. Doch welche Sinneseindrücke sind es eigentlich genau, die unseren Ekel hervorrufen können? Auf den ersten Blick scheint der Ekel immerhin subjektiver zu sein als die Angst. Während etwa große Raubtiere wohl auf viele Menschen gleichermaßen furchteinflößend wirken, können die Dinge, vor denen sie sich ekeln, sehr verschieden sein: Einige Menschen ekeln sich vor süß-sauren Speisen, andere stattdessen vor krabbelnden oder kriechenden Kleintieren und wiederum andere finden nichts davon ekelhaft. Dennoch hält Kolnai ›ekelhaft‹ für eine recht objektive Qualität 448, die typischerweise an ganz bestimmten Gegenständen auftritt. Demnach ekeln wir uns hauptsächlich vor Faulendem und Verwesendem, Exkrementen, Sekreten, Ungeziefer, verdorbenen Speisen, Schmutz oder auch dem menschlichen Leib. Der allen Ekelobjekten in irgendeiner Weise zugrunde liegende »Urgegenstand des Ekels« 449 ist für Kolnai dabei die Fäulnis: Dazu gehören auch: Verfall eines lebendigen Körpers, Verwesung, Zersetzung, Leichengeruch, im allgemeinen der Übergang des Lebendigen in den Zustand des Toten. Wohlgemerkt: nicht dieser Zustand selbst. […] Die Note des Ekelhaften sitzt speziell am Vorgang des Verfaulens und ihrem Träger [= Träger der Fäulnis; d. A.]. 450

Der Prozess des Verfaulens, Zerfallens und die damit verbundenen charakteristischen optischen, olfaktorischen, gustatorischen oder tak446 447 448 449 450

EHH, S. 16. SMA, S. 100. Wie auch schon ›furchtbar‹, siehe S. 147, Fußnote 440; vgl. EHH, S. 10. EHH, S. 29. EHH, S. 29.

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tilen Eindrücke sind es also, die das eigentliche Objekt des Ekels ausmachen, das Grundthema, das in irgendeiner Form in allen Ekelobjekten anklingt: So erinnern körperliche ›Abfälle‹ und Ausscheidungen wie Kot, Urin, Eiter und Ähnliches etwa nicht nur durch ihre breiige oder schleimige Konsistenz, ihre kräftigen Farben oder intensiven Gerüche an faulende organische Materie, sondern zeigen ihrerseits auch an, dass sich der lebendige Körper gewissermaßen fortwährend in Zersetzung befindet, im Übergang vom Lebendigen zum Toten. Krabbelndes, kriechendes, wimmelndes Getier wiederum steht zum einen ganz direkt in Verbindung mit Fäulnis und Verwesung, insofern sich einige Insekten tatsächlich von abgestorbenem Gewebe ernähren und so die Zersetzung menschlicher oder tierischer Kadaver vorantreiben (zum Beispiel Fliegenmaden). Zum anderen erweckt das scheinbar chaotische Gewimmel vieler kleiner Tiere nach Kolnai den optischen Eindruck zerfallender Materie, »als wären sie selbst Teile eines solchen [faulenden] Stoffes, etwa aus ihm ›entstanden‹, als wäre ihre wimmelnde, tolle Aktivität eine Verfallserscheinung des Lebens« 451. Diese wesentliche Abhängigkeit des Ekels von unserer sinnlichen Wahrnehmung zeigt sich nun sehr deutlich in der besonderen Relevanz der (räumlichen) Nähe des Ekelobjekts zu uns. Bekanntermaßen ekeln wir uns umso mehr, je näher uns der jeweilige Gegenstand ist – und zwar deshalb, weil wir ihn schlicht besser sehen, riechen oder spüren können. Doch für Kolnai ist die Nähe des Ekelhaften nicht nur der Auslöser oder Verstärker der Ekelreaktion, sondern letztlich sogar ein »Mit-Objekt« 452 des Ekels. Das bedeutet, es sind nicht allein die wimmelnden langen Spinnenbeine oder die mit Schimmelsporen übersäten, übel riechenden Speisereste, die unseren Ekel erregen; uns ekelt ebenso ihre Nähe selbst, ihre Anwesenheit in unserem Umkreis, und die damit gegebene Möglichkeit, mit dem Ekelhaften in direkten Kontakt zu kommen: Denn nicht nur soviel kann gelten, daß die Nähe des Ekelhaften seine Wirkung in hohem Maße bedingt, sondern es verhält sich damit so, daß gerade ein Zug der Nähe, des Naheseinwollens, der Nichtabgeschlossenheit, ich möchte sagen: des schamlosen und wie aufgelösten Sichdarbietens den

451 452

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EHH, S. 34. EHH, S. 16.

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Ekelcharakter des Gegenstandes mit (keineswegs allein!) konstituiert. Das Ekelhafte grinst, starrt, stinkt uns ›an‹. 453

Das Ekelobjekt scheint sich uns durch die intensiven Sinneseindrücke, die es verursacht, also regelrecht aufzudrängen und dadurch die abwehrende Reaktion zu provozieren. 454 Diese sehr genauen Beobachtungen schlagen sich auch in der Ordnung der Sinne nieder, die Kolnai in Bezug auf ihre Bedeutung für die Ekelauslösung aufstellt. 455 Der primäre Sinn, der uns ekelerregende Eindrücke vermittelt, ist demnach der Geruchs- beziehungsweise Geschmackssinn, da das Objekt des Ekels, etwa der verdorbene Fisch, auf diesem Wege am dichtesten an uns heranrückt oder, genauer genommen, in uns hinein. Riechen oder schmecken wir (weil wir ihn gegessen haben) den verdorbenen Fisch, nehmen wir Teile der fauligen Substanz in uns auf und kommen so in den engstmöglichen Kontakt mit Fäulnis und Verwesung. Das für den Ekel besonders typische körperliche Symptom des Brechreizes oder Erbrechens 456, das naturgemäß am häufigsten durch Geruch oder Geschmack herbeigeführt wird, spricht ebenfalls dafür, diesen Sinn als den ursprünglichen ›Ekelsinn‹ anzusehen. An zweiter Stelle folgt für Kolnai konsequenterweise der Tastsinn, insofern es hierbei, wenn auch nicht zu einer Vereinigung, so doch immerhin zu einer Berührung mit dem Ekelhaften kommt. Erst an dritter und letzter Stelle empfangen wir ekelerregende Eindrücke über den Gesichtssinn, über den nun überhaupt kein direkter Kontakt zustande kommt und der vielleicht keine derart prägnanten Eindrücke vermittelt wie die beiden ersten Sinne, der allerdings eine ganzheitlichere, komplexere Erfassung des jeweiligen Gegenstands ermöglicht. Eine wichtige Rolle spielt dieser Sinn daher, wenn es sich um Objekte handelt, die vor allem als Vielheit ekelerregend wirken wie zum Beispiel Würmer oder Maden. 457 Diese eigentümliche Wirkung des Ekelobjekts auf unsere Sinne ist es schließlich, die dem Ekel EHH, S. 17. Vgl. EHH, S. 18. 455 Siehe im Folgenden EHH, S. 26 ff. 456 Vgl. auch EHH, S. 9. 457 Dem Gehör misst Kolnai hingegen keine eigenständige Rolle in der Ekelerregung zu, insofern über diesen Sinn keine unmittelbare Erfassung der Gegenstandsbeschaffenheit möglich sei. Geräusche wären eher vom Gegenstand verursacht als zu ihm gehörig und könnten so im Unterschied zu Bildern, Gerüchen und Ähnlichem höchstens auf ekelhafte Gegenstände verweisen beziehungsweise ihre Anwesenheit anzeigen (vgl. EHH, S. 25 f.). 453 454

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nach Kolnai eine bemerkenswerte paradoxe Struktur des Abwehrens und Hinwendens verleiht: Das Subjekt wird vom Objekt mit seinen zahlreichen intensiven sinnlichen Reizen nämlich stets auch angezogen und dazu gebracht, sich ihm zumindest kurzzeitig zuzuwenden und es eingehender zu betrachten, bevor es sich ruckartig abwendet. 458 Die für den Ekel typischen körperlichen Erscheinungen des Schauderns, der Übelkeit, des Brechreizes oder Erbrechens und Ähnliches machen das eigentümliche Ziel dieser Abwehrreaktion deutlich. Statt um die Flucht, wie in der Angst, geht es im Ekel um das Ausstoßen, Abschütteln oder Wegräumen des Objekts. Die Negation des Aversionsobjekts besteht beim Ekel also allgemein in dessen Entfernung aus dem Wahrnehmungskreis des Subjekts. 459 Sobald es nicht mehr die Aufmerksamkeit des Subjekts auf sich lenken kann, verliert es zwangsläufig seine aufdringliche Wirkung, die es als Ekelobjekt mit konstituiert. Mit anderen Worten: Das Ekelobjekt wird negiert, indem sein ›Mit-Objekt‹ der Nähe negiert wird. Insofern nun das Objekt des Ekels hauptsächlich penetrant wirkt, erscheint es im Unterschied zur Angst nicht bedrohlich, gefährlich oder sonst in irgendeiner Weise überlegen, sondern lediglich störend und als solches eher geringfügig und unbedeutend. 460 Dies spiegelt sich wiederum in der geringen Tiefe des Gefühls wider: Obwohl er sehr heftig hervorbrechen und mit entsprechend starken körperlichen Empfindungen einhergehen kann, bleibt der Ekel für gewöhnlich recht peripher. 461 Wir werden nicht tiefgreifender von ihm erfasst, sondern die Abwehr des ekelhaften Objekts findet, so könnte man sagen, bereits an unserer äußersten Hülle statt, wo seine intensiven Reize eintreffen – etwa an unserer Nasenschleimhaut, wenn wir angeekelt die Nase rümpfen. Sowohl die entscheidende Rolle der Sinneswahrnehmungen wie die zugehörigen, teils heftigen Körperreaktionen machen den Ekel zu einer ausgesprochen leiblichen Emotion. 462 Bemerkenswert erscheint es daher, dass Kolnai ihm nicht nur typische physische Objekte zuordnet, sondern ebenso typische geistige Objekte. Was er in Der ethische Wert und die Wirklichkeit zunächst nur grob als zwei Gegen458 459 460 461 462

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Vgl. EHH, S. 18 ff. Vgl. EHH, S. 18 f. Vgl. EHH, S. 18. Vgl. EHH, S. 17. EHH, S. 9.

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standsbereiche moralischer Ausschlusserlebnisse neben der Bosheit andeutet – Unsauberkeit und Gemeinheit 463 –, gewinnt im Ekel in den Typen des geistig Ekelhaften anscheinend konkretere Gestalt. Insgesamt beschreibt er hier fünf Gegenstände des geistigen Ekels: Überdruss, Vitalität oder Geistigkeit im Übermaß beziehungsweise am falschen Ort, Verlogenheit, Korruption und ›moralische Weichheit‹ oder Rückgratlosigkeit. 464 Ganz offensichtlich ermangeln diese Phänomene zwar der penetranten sinnlichen Eindrücke, dennoch ist auch ihnen eine gewisse Aufdringlichkeit eigen, eine Tendenz, dem Subjekt nahe zu rücken und in es oder seine Umgebung einzudringen. Zudem verweisen sie ganz wie die physischen Ekelobjekte in irgendeiner Form auf das Grundmotiv der Fäulnis und des Zerfalls und werden daher oft metaphorisch mit denselben Attributen verbunden, wie jenen des Schleimigen, Kriechenden oder Schmutzigen. Allerdings geht es nun nicht mehr um die Zersetzung organischer Materie mit all ihren Begleiterscheinungen, sondern vielmehr um die Zersetzung von Sinn- und Wertstrukturen im weitesten Sinne. So ist es nach Kolnai im Falle des Überdruss-Ekels der ständig wiederholte Genuss des ewig gleichen Lustobjekts, der die ursprüngliche Lust zu einem schalen, bedeutungslosen Erlebnis entleert. 465 In der übermäßigen Vitalität, die sich für Kolnai vor allem in Form ungezügelter und ungeordneter Sexualität zeigt, habe sich hingegen ein ursprünglich dem Leben dienender Grundtrieb verselbstständigt und selbstzweckhafte Formen entwickelt, die seinem natürlichen Ziel zuwiderlaufen würden. 466 Doch Kolnai kennt ebenso eine übermäßige Geistigkeit, die ekelerregend sein könne: das unfruchtbare, sich nutzlos im Kreis drehende Herumgrübeln und Haare-Spalten, das nicht nur das Leben, sondern am Ende auch das Denken selbst blockiert, oder die »Geilheit des Geistes« 467, der sich immer neuen Ideen und Einfällen hingibt, ohne ein tatsächliches Interesse an den jeweiligen Gegenständen zu nehmen und ohne ein weiteres Ziel zu verfolgen. 468 Ein im engeren Sinne moralisches Ekelobjekt finden wir nach Kolnai in der Lüge beziehungsweise Verlogenheit. Hier sind es die Werte

463 464 465 466 467 468

Vgl. S. 10 f.; EWW, S. 123. Vgl. EHH, S. 39–47. Vgl. EHH, S. 39 f. Vgl. EHH, S. 41 f. EHH, S. 43. Vgl. EHH, S. 43 f.

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wahr und falsch, die durch die Lüge oder die Verlogenheit zersetzt werden. Der Lügner oder der verlogene Charakter kennt die Werte des Wahren und Falschen zwar, steht ihnen allerdings gleichgültig gegenüber. 469 Statt sie aber einfach abzulehnen oder sich dennoch nach ihnen zu richten, nutzt er die allgemein bestehende Wertstruktur für eigene Zwecke aus, indem er vor anderen etwas Falsches für wahr ausgibt oder umgekehrt. Entscheidend für die Ekelerregung ist, dass der Lügner dabei nicht selbstlos oder mit moralisch wertvollen Absichten handelt, sondern allein aus einfachem, niederem Eigeninteresse. Eine Steigerung erfährt der Eindruck des Ekelhaften noch im Fall des durch und durch verlogenen Charakters, der fortwährend andere und zudem sich selbst belügt und der sich so letztlich in seiner eigenen Wertstruktur, seiner Persönlichkeit, aufzulösen scheint oder zumindest bis zur Unkenntlichkeit verstellt ist. Ähnlich liegt der Fall der Falschheit im Sinne der Korruption, wenn vor der Öffentlichkeit hochstehende Wertinteressen vorgegeben werden, während tatsächlich niedere finanzielle Motive das Handeln des Korrupten dirigieren. 470 Ekelhaft ist hieran wiederum nicht, dass die vorgegebenen Werte etwa ihre Gültigkeit verlieren oder schlicht durch andere ersetzt werden, sondern dass sie scheinbar fortbestehen, insgeheim allerdings aufgeweicht, untergraben und ausgehöhlt werden, bis nur noch ein Trugbild übrig bleibt, hinter dem sich die bloße Geldgier verbirgt. Das Ekelobjekt des weichen und rückgratlosen Charakters schließlich bedarf sicherlich keiner größeren Erklärung, erinnert dieser doch schon durch seine unbestimmte, irgendwie formlose Beschaffenheit ganz offensichtlich an in Zerfall und Auflösung befindliche Substanz. 471 Kolnai bleibt allerdings nicht dabei stehen, festzustellen, dass es in jedem Ekel im Grunde in irgendeiner Weise um das Motiv der Fäulnis geht. Er versucht außerdem eine metaphysische Deutung dieses Prozesses und mithin des Ekels selbst zu geben, mit der auch unser Exkurs zum Ekel abschließen soll. Kolnai geht an dieser Stelle grundsätzlich von zwei Lebensprinzipien aus, die einander gegenüberstehen: die pure Vitalität und »Lebensüppigkeit« 472, das niedere

469 470 471 472

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Vgl. auch im Folgenden EHH, S. 44 f. Vgl. EHH, S. 45 f. Vgl. EHH, S. 46. EHH, S. 48.

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»Nur-Leben« 473, das in einem geistlosen, ziellosen, undifferenzierten Gemenge ungehemmt und ungeordnet wuchert und quillt, auf der einen Seite und das höhere, vom Geist gemäßigte und geordnete, gerichtete, individuelle, sinn- und wertvolle Leben auf der anderen Seite. 474 Im Prozess der Fäulnis kommt es nun zu einer Durchdringung und Zersetzung des höheren Lebens durch das niedere, wobei zweckmäßige Lebensgebilde beziehungsweise Wertstrukturen von der richtungslos treibenden, gleichgültigen ›Lebensüppigkeit‹ eingenommen, aufgelöst und letztlich sogar in ihren Dienst gestellt werden. Ausgehend von Schelers Idee einer objektiven Wertrangordnung, der zufolge die vitalen Werte der geistigen Wertsphäre untergeordnet sind 475, könnte man also sagen, dass sich hierin eine fundamentale Wertumkehr vollzieht, insofern das niedere, rein vitale Leben sich des höher stehenden, durchgeistigten Lebens bemächtigt und sich dessen bedient, um sich selbst zu erhalten. Für Kolnai fällt im Verwesungsprozess jedoch nicht nur ein (höheres) Leben einem anderen (geringeren) zum Opfer. Dem Tod geweiht ist nach seiner Deutung auch das chaotisch wuchernde ›Nur-Leben‹ selbst, das ohne Grenzen und ohne Ziel überbordend sich zu verschwenden scheint und so den eigenen Verfall bereits mit sich führt. 476 Fraglich ist daher, ob in diesem Zersetzungsprozess tatsächlich geringere Werte gegen höhere eingetauscht werden oder ob bestehende Wertstrukturen nicht vielmehr einfach zerfallen und einer nackten Wertlosigkeit Platz machen. Die im Ekelobjekt liegende Ankündigung des Todes ist es nach Kolnai schließlich, die zu unserer heftigen Abwehrreaktion führt. Dabei stößt uns im Ekel allerdings weniger der Vorgang des Sterbens oder das schlichte Totsein ab. Das verwesende Objekt ekelt uns, weil es uns als totes, zugleich aber unnatürlich verlebendigt erscheinendes Wesen (Madengewimmel, Verfärbungen, starke Gerüche) die Einheit von Leben und Tod vor Augen führt und uns dadurch an unsere eigene Todesbestimmung erinnert. 477 Im Ekel erscheint der Tod nicht nur als unentrinnbares Schicksal, das wir zeitlebens in uns tragen, sondern er offenbart sich geradezu als ureigenstes Ziel unseres Lebens, auf das es von Beginn an ausgerichtet ist: 473 474 475 476 477

EHH, S. 49. Vgl. EHH, S. 48 f. Vgl. GW 2, S. 122 ff. Vgl. EHH, S. 49 ff. Vgl. EHH, S. 52 f.

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Die im Ekelhaften gegenwärtige Todesfratze mahnt uns an unsere eigene Todesaffinität, unsere Todesunterworfenheit […], den Todessinn unseres Lebens selbst, unser Bestehen aus todgeweihter, man könnte sagen todestrunkener, verwesungsbereiter Materie. 478

Damit lässt sich nun auch genauer verstehen, warum Kolnai in der Nähe des Ekelobjekts ein entscheidendes Mit-Objekt des Ekels sieht: So stört uns die Nähe des Ekelhaften, weil es gerade mit seiner Aufund Eindringlichkeit droht, auf uns überzugreifen und seinen eigenen Zustand oder den, an den es erinnert, auf uns zu übertragen, uns also mit Fäulnis, Zerfall und Tod zu infizieren. 479 Zugleich wehren wir im Ekel aber noch eine viel grundsätzlichere, »substanzielle Nähe« 480 zum Ekelobjekt ab, die sich selbst durch die größte räumliche Entfernung nicht aufheben lässt: Tatsächlich ist es nämlich unsere eigene Verwandtschaft mit der zerfallenden Materie, welcher die aus- und wegstoßende Bewegung gilt, die wir im Ekel vollziehen. 481 Wir ahnen, so scheint Kolnai sagen zu wollen, dass auch wir Menschen, die wir im Wesentlichen geistig existieren, Sinn und Bedeutung in der Welt sehen und uns im Leben nach Werten orientieren, die unabhängig vom biologischen Werden und Vergehen bestehen, am Ende dasselbe Verwesungsschicksal teilen – dass auch wir trotz unserer Gedanken, Ideen und Ideale einmal nichts anderes sein werden als vermoderndes Fleisch, von Würmern zerfressen. 482

3.4 Hass Bevor wir uns genauer der dritten und für uns zentralen standard mode of aversion, dem Hass, zuwenden, ist es sinnvoll, die bisher erarbeiteten Charakteristika der anderen beiden Grundaversionen noch einmal kurz zu rekapitulieren, um in Abgrenzung dazu eine erste grobe Beschreibung des Hasses geben zu können. Der folgenden Gegenüberstellung liegt die allgemeine, lose an Kolnai anknüpfende These zugrunde, dass sich das Subjekt der Aversion stets in irgend-

EHH, S. 53. Vgl. EHH, S. 51. 480 EHH, S. 54. 481 Vgl. EHH, S. 53 ff. 482 Auf die Nähe zu Sartres Beobachtungen in dessen Werk Der Ekel hat bereits Honneth hingewiesen, vgl. EHH, S. 158, Fußnote 36. 478 479

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einer Form vom Objekt der Aversion mehr oder weniger existenziell infrage gestellt sieht und es deshalb abwehrt. Der Angriff auf das Subjekt beruht dabei meines Erachtens in unterschiedlicher Ausprägung sowohl auf bestimmten Eigenschaften des Aversionsobjekts wie auf seinem aktuellen Verhältnis zum Subjekt. 483 Die Angst richtet sich, wie gesehen, auf gefährliche Objekte, das heißt auf Objekte, die das Subjekt schädigen können. Um dem Subjekt Schaden zufügen zu können, muss sich das Angstobjekt in einer überlegenen Position gegenüber diesem befinden, weshalb es die Eigenschaft der Gefährlichkeit primär aufgrund seiner speziellen Lage oder Beziehung zum Subjekt erhält. Erst sekundär ist es aufgrund besonderer Eigenschaften wie beispielsweise der körperlichen Ausstattung gefährlich, insofern diese erst in einer entsprechenden Situation auf das Subjekt wirken können. Der spezifische Angriff des Angstobjekts besteht in der Bedrohung des Wohls des Subjekts, wobei es um dessen (Über-)Leben überhaupt, um seine physische oder psychische Unversehrtheit oder auch um die Wahrung bestimmter persönlicher Interessen gehen kann. Bemerkenswert an der Angst ist insbesondere ihre doppelte Intention: Neben der auf das Objekt zielenden Abwehrbewegung findet sich mit der Sorge um das eigene Wohlergehen in der Angst immer zugleich ein erlebter Rückbezug auf das Subjekt. Zwar ist ein Grundinteresse des Subjekts an der eigenen Existenz augenscheinlich (nach oben genannter These) für alle Aversionen notwendig, allerdings ist dieser Selbstbezug nirgends im Erlebnis selbst so präsent wie bei der Angst. Da das Angstobjekt nur aufgrund seiner überlegenen Position gefährlich ist, besteht die Negation des Objekts in der Angst schließlich in der Negation seiner Macht gegenüber dem Subjekt, mithin in der Flucht, der Entfernung vom Objekt, oder im Kampf. Der Ekel richtet sich dagegen vornehmlich auf im Zerfall befindliche oder an Zerfall gemahnende Objekte, die eine entsprechend penetrante Beschaffenheit aufweisen, durch die sie den Verfall unmittelbar an das Subjekt herantragen und es mit diesem zu infizieren drohen. Die Qualität des Ekelhaften erhält ein Objekt dabei primär aufgrund seiner intensiv auf die Sinne wirkenden Eigenschaften, sekundär aber auch aufgrund seiner Lage zum Subjekt, insofern seine 483 Siehe unter anderem EHH, S. 21–24. Kolnai formuliert hier die These, dass Angst und Ekel auf das Sosein des Objekts gerichtet seien, wohingegen der Hass nicht zwischen Sosein und Dasein des Objekts unterscheide.

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ekelerregende Beschaffenheit von diesem nur wahrgenommen werden kann, wenn es sich in dessen Nähe befindet. Der vom Ekelobjekt ausgehende Angriff besteht in der Bedrohung der Verfassung des Subjekts wie etwa seines gesundheitlichen oder seines moralischen Zustands. Doch das aufdringliche Objekt stört damit nicht allein den aktuellen praktischen Lebensvollzug des Subjekts. In einem weiteren Sinn stellt es zugleich, indem es ihm sein eigenes Verwesungsschicksal vor Augen hält, die Verfasstheit des Subjekts als geistiges Wesen überhaupt infrage. War bei der Angst die doppelte Intention besonders hervorzuheben, ist es beim Ekel die ambivalente Intendierung des Objekts: Neben der abwendenden Bewegung findet sich im Ekel ebenso eine, vielleicht sogar ursprünglichere, Hinwendung zum Objekt, insofern das Ekelobjekt mit seinen penetranten Sinnesreizen zumindest für einen Moment die volle Aufmerksamkeit des Subjekts auf sich zieht. Da das Ekelobjekt im Unterschied zum Angstobjekt das Subjekt in irgendeiner Weise bereits penetriert, besteht seine Negation letztlich in der Negation seiner Nähe zum Subjekt, also im Aus- oder Abstoßen, in seiner Entfernung vom oder aus dem Subjekt. Der Hass nun richtet sich weder in erster Linie auf eine bestimmte Beschaffenheit noch auf eine bestimmte Situation des Objekts, sondern auf beides gleichermaßen – und zwar auf unliebsame, insbesondere moralisch schlechte Eigenschaften (vor allem Bosheit) im Verbund mit einer dem Subjekt entgegengesetzten Position beziehungsweise einem das Subjekt schädigenden Verhalten des Objekts. 484 Das Hassobjekt wird damit komplexer, ganzheitlicher intendiert als das Objekt des Ekels oder der Angst und ist, anders als dieses, typischerweise ein personales Wesen. 485 Der Angriff des Hassobjekts besteht dabei in nichts Geringerem als in der Bedrohung der persönlichen Existenz des Subjekts, indem es diesem als böser Kontrahent seinen Platz in der Welt und letztlich seine Welt selbst streitig zu machen scheint. 486 Im Gegensatz zu Angst oder Ekel endet der Hass folglich nicht zwangsläufig, wenn das Objekt aus dem Umkreis des Subjekts verschwunden ist, insofern die Kontrahenz, durch die LetzVgl. EHH, S. 109 f. Vgl. EHH, S. 103; SMA, S. 105. Kolnai kennt zwar einen Hass gegen »unpersönliche geistige Mächte« (EHH, S. 106) wie Ideologien, Religionen und Ähnliches, allerdings halte ich diese lediglich für ein abgeleitetes Objekt und auch Kolnai sieht darin meines Erachtens keineswegs das Primärobjekt. In den folgenden Abschnitten wird dies deutlich werden. 486 Vgl. EHH, S. 113 ff., ferner S. 133 ff.; SMA, S. 107. 484 485

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Hass

teres infrage gestellt wird, prinzipiell fortbesteht, solange Ersteres existiert. Das Hassobjekt muss schließlich aus der Welt geschafft werden und die Negation des Hasses liegt somit tatsächlich in der Vernichtung seines Objekts. 487 Im Folgenden werden wir das Phänomen des Hasses, wie es Kolnai vor allem im Versuch beschreibt, genauer untersuchen und im Weiteren auch der Frage nachgehen, wie sich der Hass zu positiven Werten und negativen Werten beziehungsweise Unwerten verhält, speziell zum Bösen, und wie es mithin um den moralischen Status dieser Aversion steht.

3.4.1 Das Phänomen Kolnai vermeidet es, wie schon bei Angst und Ekel, eine genaue Definition des Hasses aufzustellen, und geht zunächst von einem allgemeinen Vorverständnis dieses Phänomens aus. Demnach ist der Hass im Wesentlichen ein historisches, »personvertretendes Feindschaftserlebnis« 488, das in irgendeiner Form die Auslöschung, das Nicht-sein-Sollen des Feindes impliziert. Versuchen wir zuerst, diese kurze Beschreibung etwas auszuformulieren, bevor wir uns in den nächsten Kapiteln einzelne Aspekte im Detail ansehen: Das eigentümliche intentionale Objekt des Hasses ist also, mit einem Wort, der Feind. Wenn wir mit Kolnai den Begriff des Feindes genauer betrachten, ergibt sich daraus bereits eine Reihe konkreterer Bestimmungen des Hassobjekts. Auf der Hand liegt sicherlich, dass ein Feind prinzipiell in der Lage sein muss, negativ auf uns und unser Leben Einfluss zu nehmen. Er muss für uns zumindest potenziell, meist auch aktuell, schädlich sein und ist damit, ähnlich wie das Angstobjekt, im Besitz einer bestimmten Macht oder gar Überlegenheit in Bezug auf uns. 489 Allerdings stellen Feinde für uns offenbar nicht dieselbe Art von Bedrohung dar wie etwa gefährliche Tiere oder Naturgewalten. Während die Bedrohung, die für die Angst entscheidend ist, gleichermaßen von unbelebten, belebten oder bewusst handelnden Objekten ausgehen kann, scheint ein feindliches Verhalten sinnvollerweise ausschließlich solchen Objekten zugeschrieben wer487 488 489

Vgl. EHH, S. 105–108; SMA, S. 104. EHH, S. 102. Vgl. EHH, S. 102 ff.

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den zu können, denen über das bloße Schädigungspotenzial hinaus eine gewisse »geistige ›Betreffbarkeit‹« 490 unterstellt werden kann. 491 So können wir zum Beispiel einem Wirbelsturm zwar eine ungeheure Zerstörungsgewalt zuschreiben, aber selbst wenn er unsere gesamte Lebensgrundlage vernichtet hat, werden wir kaum ernsthaft behaupten können, dass er sich uns gegenüber feindlich verhalten hätte. So etwas sagen wir normalerweise nur von jemandem, von dem wir glauben, dass er im Allgemeinen zurechnungsfähig ist und für das, was er tut, moralische Verantwortung trägt. 492 Doch halten wir jemanden, den wir unseren Feind nennen, typischerweise nicht allein für zurechnungsfähig und in der Lage, uns Schaden zuzufügen. Darüber hinaus handelt er in unseren Augen oft moralisch fragwürdig oder sogar böse – denn nicht selten nehmen wir an, dass uns der gehasste Feind auch gezielt zu schaden versucht. Dies wiederum weist uns auf ein wesentliches Charakteristikum des Hasses hin, das ihn scharf von Angst und Ekel abhebt: Anders als diese Aversionen scheint der Hass in seiner Struktur wenigstens die Möglichkeit einer Wechselseitigkeit vorauszusetzen und kann insofern im Gegensatz zu ihnen als prinzipiell symmetrische Emotion verstanden werden. Feindschaft entsteht, mit anderen Worten, eher »in der Mitte« 493 zwischen zwei Kontrahenten, sodass auch das Hassobjekt, selbst wenn es die Aversion nicht in gleicher Weise erwidert, seinerseits immerhin zum Hass fähig sein muss. 494 Das Hassphänomen erschöpft sich nun allerdings nicht im Feindschaftserlebnis. Feindschaften können intensiver oder oberflächlicher sein, mit den sich ändernden Lebensumständen vorübergehen oder kontinuierlich ein ganzes Leben lang anhalten. Der Hass ist dabei laut Kolnai ein sowohl sehr tiefes wie zentrales Feindschaftserlebnis, in dem es zur »Einsetzung der eigenen Person« 495 kommt 496: Das Hasssubjekt sieht durch den Feind wichtige persönliche Interessen gefährdet (Zentralität) und wehrt den Angreifer wiederum aus dem innersten Kern seiner Person heraus ab. Daher wird Hass nicht bloß peripher empfunden, sondern durchdringt das Subjekt immer 490 491 492 493 494 495 496

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EHH, S. 103. Vgl. EHH, S. 104. Vgl. EHH, S. 104. EHH, S. 123. Vgl. EHH, S. 123. EHH, S. 101. Vgl. EHH, S. 101 f.

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Hass

vollständig (Tiefe). Insofern also das Subjekt sich aus den Tiefen seiner Person gegen eine persönliche Gefährdung auflehnt, versteht Kolnai den Hass auch als eine »die Person mit ›aufbauende‹, sie ›vertretende‹ Haltung« 497: Indem wir hassen, beziehen wir gewissermaßen Position und treten unbeirrbar für uns selbst ein. Wir verteidigen unsere persönlichen Interessen und Werte und behaupten uns gegenüber einem Widersacher, der uns erheblich zu schädigen oder zu vernichten droht. Damit ist der Hass insgesamt deutlich spontaner und individueller als Angst und Ekel: Während diese beiden Grundaversionen mehr von außen kommen, vom Objekt her ausgelöst werden, bricht der Hass eher aus dem Subjekt hervor und wird dem Objekt aktiv entgegengebracht. Mithin ist es nicht nur maßgeblich von der individuellen Person abhängig, wer oder was als Hassobjekt überhaupt infrage kommt, sondern sie muss zudem tatsächlich bereit sein, die feindliche Haltung einzunehmen. 498 Dennoch bleibt der Hass, obschon aktiver, für Kolnai eine Abwehrreaktion, die das Subjekt nicht ohne Weiteres selbst initiieren kann, insofern sie von bestimmten Eigenschaften des Objekts im Zusammenhang mit einer besonderen Objekt-Subjekt-Konstellation provoziert wird: Auf der einen Seite also gehört zum Hasse immer ein gewisses wählendes Aufsuchen des Gegenstandes, er tritt nicht selbstverständlich und automatisch ein, sondern ist […] etwas Ereignishaftes, ein Kurs, den die Persönlichkeit einschlägt. Auf der anderen Seite eignet ihm nicht die Wesensart einer spielerischen Laune oder einer abenteuerlichen Suche, sondern es wird der Haß dem Menschen im vollen Sinne ›nahegelegt‹. 499

Nicht zuletzt trägt der Hass, wie es im Zitat anklingt, eine historische Dimension, die den Emotionen Angst und Ekel fehlt. Zum einen ist die im Hass liegende Feindschaft selbst ein historisches Phänomen. Ob sie sich schlagartig in einer für das Subjekt besonders bedeutsamen welt- oder lebensgeschichtlichen Situation entwickelt oder sukzessive durch immer wiederkehrende Rivalitäten in wichtigen Lebensbereichen – sie bindet das Subjekt in eine enge Beziehung zum EHH, S. 102. Kolnai schreibt später in den Standard Modes von einer gewissen Freiwilligkeit des Hasses, die ihn von Angst und Ekel unterscheide: »The central and unifying act of hatred seems to me a self-imposed – or quasi-imposed and accepted – commitment to hostility. Hatred connotes a tinge of free will more than do fear […] or disgust«; SMA, S. 106. 499 EHH, S. 110. 497 498

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Objekt, die über die konkreten Konfrontationen hinaus fortbestehen und Welt und Leben des Subjekts in nachhaltiger Weise prägen kann. Seinen eigentümlichen Ereignischarakter erhält der Hass zum anderen aber auch durch die hierin stattfindende unbedingte Einsetzung der eigenen Person. Wer sich für den Hass ›entscheidet‹, setzt sich radikal für sich selbst ein und kämpft für das, was ihm wichtig ist, woran er glaubt, was seinem Leben Sinn gibt, womit er sich identifiziert: Im Gegensatz zu ihm [dem Ekel; d. A.] ist Haß – ohne darum weniger intentional gerichtet zu sein – stets ein wesentliches, mitentscheidendes Element der Lebensgestaltung selbst. Haß ist ein historischer Aspekt des Menschenlebens, – wie Geburtsumstände, Charakter, Bekehrung, Leidenschaft, Liebe, Werk, Krankheit. 500

In letzterem Sinne kann im Hass also durchaus ein positiver und gegebenenfalls notwendiger Akt der Selbstbehauptung und sogar Selbstidentifikation gesehen werden. Dennoch und obwohl der positive Akt der Selbsterhaltung im Hass weitaus fundamentaler ist als in der Angst oder im Ekel, gilt er zweifellos als die negativste Emotion, die wir hervorbringen können. Das Hasssubjekt sieht sich einer derart existenziellen Gefährdung ausgesetzt, dass es, um für sich selbst einzutreten, bereit ist, das letzte und drastischste Mittel zu wählen: die Vernichtung des Angreifers. Die Negation des Objekts besteht im Hass, im Unterschied zu Angst oder Ekel, tatsächlich in seiner Auslöschung und das Nicht-Sein des Objekts, auf das die Abwehrreaktion zielt, in nichts anderem als eben seinem Nicht-Sein selbst. Wie Kolnai betont, muss es hierbei allerdings keineswegs (nur) um die physische Tötung des Gehassten gehen. 501 Hass kann sich ebenso in allen möglichen Formen der physischen, psychischen oder gar metaphysischen Schädigung des Hassobjekts niederschlagen (körperliche Gewalt, Mobbing, Rufmord, Grabschändung und Ähnliches) oder ganz ohne weitere praktische Konsequenzen bleiben. Unabhängig davon, inwiefern der Hass faktisch zu aggressiven Handlungen führt, scheint er für Kolnai jedoch stets eine absolute Vernichtungsintention zu beinhalten, die im Grunde durch keine reale Auslöschung wirklich befriedigt werden kann. Ist die initiale Einwirkung des Hassobjekts auf das Leben des Subjekts einmal erfolgt, nimmt es eine durch keine 500 501

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EHH, S. 102. Vgl. EHH, S. 105–108.

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Hass

physische Vernichtung aufhebbare Rolle in der Welt des Subjekts ein: denn der Angriff und die Herausforderung des Feindes, also die wesentliche Infragestellung des Subjekts, besteht neben seiner Kontrahenz darin, dass er überhaupt in der Welt des Subjekts erschienen ist, und dies lässt sich auch durch seine Tötung nicht rückgängig machen. So reicht jeder Hass gewissermaßen über das Objekt hinaus bis hin zur bloßen Möglichkeit seiner Existenz selbst: 502 Der Haß ist folglich mehr und weniger als Mordwille: gewöhnlich ist er in seiner konkreten erlebnismäßigen und aktiven Gestaltung weniger, er trägt aber oft die Andeutung eines noch weitergehenden Vernichtungsanspruchs in sich, – ja es fragt sich, ob eine solche Andeutung nicht immer, zumindest in schattenhafter Form, vorliegt. 503 Jeder Haß ist seinem konkreten Zweck nach unbestimmt und führt, ohne Rücksicht auf das konkrete Wollen, das sich an ihn knüpft, eine Atmosphäre ›absoluter‹ Vernichtung […] bei sich. 504

3.4.2 Das Objekt Was zeichnet nun das Objekt des Hasses genau aus und wie unterscheidet es sich von dem der Angst und des Ekels? Wie wir gesehen haben, scheint das Hassobjekt zunächst einmal komplexer zu sein. Hält Kolnai »furchtbar« und »ekelhaft« noch für einigermaßen objektive Qualitäten, denen zumindest normalerweise recht klare, eindeutige Reaktionen korrelieren, gibt es eine ähnlich einfache Qualität des »Hassenswerten« für ihn jedenfalls nicht. 505 Anders als Angst oder Ekel richtet sich der Hass, wie angedeutet, in zwei Hinsichten auf sein Objekt: zum einen auf seine moralischen Qualitäten und zum anderen auf seine Stellung zum Subjekt. In ersterer Hinsicht erscheint das Hassobjekt dem Subjekt stets in irgendeiner Weise minderwertig und, wie wir im Folgenden noch sehen werden, letztlich böse. 506 Es handelt etwa skrupellos, niederträchtig oder hochmütig oder vertritt moralisch mindestens zweifelhafte Ansichten und Überzeugungen. Natürlich kann uns das Hassobjekt ebenso anderweitig 502 503 504 505 506

Vgl. EHH, S. 106. EHH, S. 106. EHH, S. 108. Vgl. EHH, S. 10, 108. Vgl. EHH, S. 109 f.

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unsympathisch sein. Nicht selten finden wir andere Eigenschaften unseres Feindes gleichfalls abstoßend, wie etwa seine Stimme, seine Art zu lachen oder bestimmte Einzelheiten seiner äußeren Erscheinung. Doch lässt Kolnai keinen Zweifel daran, dass es im Hass primär um die moralischen Eigenschaften des Objekts geht, sodass es eher so zu sein scheint, dass sich etwaige sonstige Antipathien erst an einer grundlegenderen moralischen Entrüstung gewissermaßen anlagern. 507 In zweiter Hinsicht zeichnet sich das Hassobjekt durch seine besondere »dynamische Rolle« 508 aus, denn über die moralischen Unwerte hinaus muss es über die Möglichkeit verfügen, dem Subjekt gefährlich zu werden: Das heißt, »man haßt nur das Böse, das irgendwie an einen herantritt, in den Lebenskreis des Subjektes eindringt und dort womöglich auch ›Schaden‹ stiftet.« 509 Das Objekt des Hasses weist demnach beide Aspekte auf, die sich je einzeln beim Ekel- und Angstobjekt finden: zum einen eine negative Beschaffenheit – hier primär moralisch (»böse Menschen« 510) – und zum andern eine negative Position zum Subjekt (»meine Feinde« 511). Kolnai spricht an dieser Stelle von einer Doppelmotivation des Hasses und versucht in einer Art Hasstypologie zu zeigen, inwiefern die beiden Momente der moralischen Entrüstung und des Geschädigtseins in irgendeiner Ausprägung jedem Hasserlebnis zugrunde liegen. Folgende Hasstypen lassen sich, teils explizit benannt, teils nicht, aus seinen Beschreibungen gewinnen: die Extremformen Rachehass und moralischer Hass, Enttäuschungshass, Religions- und Kulturhass sowie die »objektive Feindschaftssituation« 512. 513 Während nur bei Letzterer beide Momente gleichermaßen vertreten sind, herrscht bei den anderen Formen jeweils eines der Momente vor: Sowohl der Rache- wie der Enttäuschungshass, zu dem sich übrigens auch der Selbsthass zählen lässt, beruht zum größeren Teil auf der erlittenen Schädigung durch das Hassobjekt. Beide Formen kommen allerdings nicht ganz ohne Entrüstung über die moralische Verfassung des Objekts aus: So ist es für Rachegelüste zumeist notwendig, dass das Objekt für unsere Verletzung zumindest moralisch verant507 508 509 510 511 512 513

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Vgl. EHH, S. 109 f. EHH, S. 109. EHH, S. 110. EHH, S. 109. EHH, S. 109. EHH, S. 110. Vgl. EHH, S. 110–113.

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wortlich scheint und sie, wenn nicht gewollt, so doch immerhin in Kauf genommen hat. Ebenso ist zum Beispiel beim Selbsthass zwar ausschlaggebend, dass wir uns selbst schädigen, aber normalerweise kommt es nicht zum Hass, wenn wir uns außerdem nicht zugleich (moralische) Vorwürfe machen. Moralischer Hass sowie Religionsund Kulturhass sind dagegen vorwiegend in einer grundsätzlichen Entrüstung über die (moralische) Beschaffenheit des Gehassten begründet. Während moralischer Hass eine Extremform ist, die sich auf so etwas wie eine satanische Bösartigkeit bezieht, geht der gewöhnlichere Religions- und Kulturhass allgemein auf die fremde Wesensart einer anderen Religion oder Kultur und speziell die darin vertretenen fremden (moralischen) Grundwerte. In beiden Fällen kommt jedoch wiederum kaum Hass zustande ohne die Möglichkeit einer tatsächlichen Konfrontation und Gefährdung durch das Objekt. Der satanische Bösartige oder die fremdartige Kultur muss in irgendeiner Weise in unserer Welt präsent sein, Wirkungsmöglichkeit haben, um Hass provozieren zu können. Die charakteristischste Form des Hasses, in der Entrüstungsund Schädigungsmoment in gleicher Weise vorhanden sind, Beschaffenheit und Position beziehungsweise dynamische Rolle des Objekts also gleichermaßen relevant sind, bildet nach Kolnai die objektive Feindschaftssituation. Er beschreibt sie als eine »zugleich sachlich und persönlich bedingte Gegnerschaft innerhalb eines mehr oder weniger scharf umrissenen Beziehungskreises« 514. Der Hass im engeren Sinne zeichnet sich mithin dadurch aus, dass das Objekt sowohl auf sachlicher als auch auf persönlicher Ebene als Kontrahent des Subjekts erscheint. Letzteres tut es, indem es in seiner Person Werte vertritt, insbesondere moralische, die im Widerspruch zu jenen des Subjekts stehen. 515 Zugleich tritt es ›in der Sache‹ in Konkurrenz zum Subjekt, indem es etwas zu vereinnahmen droht, das vom Subjekt für sich selbst beansprucht wird. Beispiele, die Kolnai hier nennt, sind das Werben zweier Männer um dieselbe Frau oder der Machtkampf zweier politischer Rivalen. 516 Persönliche und sachliche Gegnerschaft stehen im Hasserlebnis nun aber nicht unabhängig nebeneinander und treten rein zufällig gemeinsam auf. Wie Kolnai betont, handelt es sich beim Hass nicht um einen »unbestimmten Mischmasch von 514 515 516

EHH, S. 113; hier ohne Kursivierung zitiert. Zum Zusammenhang von Person und Wert siehe Kapitel 2.5. Vgl. EHH, S. 113.

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Selbstwehr und Fremdheitsgefühl« 517, sondern um ein klares, einheitliches Erlebnis. Beide Gegnerschaften laufen im Hass ineinander, bilden in gewisser Weise eine Einheit. Den Grund dieser Einheit sieht Kolnai »in dem Begriff des gemeinsamen Beziehungskreises, in welchem verschiedene Wesensarten zugleich verschiedene Kurse, verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten für den Gesamtkreis vertreten« 518. Das heißt: Subjekt und Objekt des Hasses sind in einen gemeinsamen und von beiden gleichermaßen gestaltbaren Seinsbereich gestellt, für den sie in ihrer unterschiedlichen Wertorientierung bereits unterschiedliche Möglichkeiten repräsentieren. 519 So kann sich etwa die von zwei gegensätzlichen Männern geliebte und umworbene Frau ganz verschieden entwickeln, je nachdem für welchen der Männer sie sich entscheidet, ebenso die Schicksale eines Landes, je nachdem welcher Politiker sich im Kampf um die Regierungsmacht durchsetzt. Auf der Hand liegt meines Erachtens, dass es in diesem Konflikt zwischen Hasssubjekt und -objekt nicht um Nebensächlichkeiten geht, sondern dass das Objekt dem Subjekt etwas streitig macht, das für dessen Leben von zentraler Bedeutung scheint, oder mit anderen Worten: einen Lebensbereich, in dem das Subjekt wichtige persönliche Werte zu realisieren sucht. Der persönliche und der sachliche Gegensatz des Hassobjekts bedingen mithin einander derart, dass dieses gewissermaßen eine absolute Kontraposition zum Subjekt einnimmt: Indem das Objekt droht, in einem für das Subjekt zentralen Lebensbereich konträre Werte zu verwirklichen, stellt es nämlich nicht nur ein Wertnegativ des Subjekts dar und darüber hinaus eine verdrängende Gegenmacht. Stattdessen gewinnt die Wirkungsmacht des Objekts meines Erachtens ihre besondere Bedrohlichkeit gerade aus seiner Wertgegensätzlichkeit zum Subjekt, wohingegen die betreffenden Werte des Objekts wiederum gerade in seiner Rivalität zum Subjekt als dessen Wertnegativ in Erscheinung treten. In diesem Sinne verschmelzen in der konkreten Hasssituation beide Kontrahenzen gleichsam zu einer absoluten Negation des Subjekts: etwas, das hinwieder nichts anderes als eine absolute Abwehr als Antwort nahelegt. Wenn wir das Hassobjekt allerdings als ein solches charakterisieren, das in einer Art absolutem Gegensatz zum Subjekt steht, und 517 518 519

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EHH, S. 114. EHH, S. 114. Vgl. EHH, S. 114 f.

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sein Angriff somit in einer absoluten Negation des Subjekts besteht, stellen sich nun einige nicht ganz unkomplizierte Fragen zur moralischen Qualität des Hassobjekts, denen wir uns im Folgenden eingehender widmen wollen: Ist die moralische Beschaffenheit des Objekts denn tatsächlich minderwertig, der Gehasste letztlich sogar böse, wie wir mit Kolnai anfangs postuliert haben? Oder ist es nicht vielmehr so, dass das Hassobjekt lediglich einen Wertgegensatz zum Subjekt bildet? Oder könnte beides dasselbe bedeuten und wenn ja, in welchem Sinne?

3.4.3 Hass, Unwerte und das Böse Die mit Abstand zentralste Frage, die in der Beschäftigung mit der Emotion des Hasses immer wieder aufgeworfen wird, ist diejenige nach ihrem moralischen Status. Zweifellos lässt sich der Hass als die zerstörerischste unserer Emotionen bezeichnen, insofern er wie keine andere die grundsätzliche Negation seines Objekts beinhaltet. Doch ist er damit zwangsläufig eine »böse Emotion«? Und was kann das eigentlich genau heißen? Komplizierter scheint der Fall zu werden, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass uns das Hassobjekt nach Kolnai ja selbst als böse gegenübertritt. Denn inwiefern sollte die Abwehr des Bösen, die wir im Hass vollziehen, wiederum selbst böse sein statt gut? Um diese und ähnliche Fragen zu beantworten, wollen wir auf den nächsten Seiten den moralischen Status des Hasses in zwei Teilen erörtern, wobei wir uns als Erstes denjenigen des Hassobjekts und als Zweites denjenigen des Hasssubjekts ansehen. Nach den bisherigen Ausführungen präsentiert sich das Hassobjekt zunächst als zerstörerische Gegenmacht, die unsere persönlichen Werte, unsere Wertewelt und damit auch uns selbst als wertrealisierendes Wesen, das heißt als Person, bedroht. Die Frage, die sich hierzu jedoch stellte, war, ob uns unser Hassobjekt nun tatsächlich bösartig Schaden zufügen will oder ob es vielmehr eigene positive Werte zu verwirklichen sucht und uns dabei deshalb schädigt, weil diese Werte nicht mit den unseren vereinbar sind. Auch wenn Kolnai diese Frage nicht explizit beantwortet, lässt er zumindest erst einmal keinen Zweifel daran, dass wir im Hass nicht einfach jemandem schlechte Eigenschaften andichten, der eigentlich ein ganz netter Kerl ist:

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Vielmehr bedarf es, damit wirklicher Haß zustande komme, auch eines Wesensgegensatzes, eines Aufgreifens der objektiv wertwidrigen Züge am Gegner, und zwar soweit diese mit der gegebenen Gegensatzsituation selbst verknüpft sind. Erst um diesen Ausgangspunkt her lagern sich Zusätze, wie daß alle Äußerungen des Gehaßten geradezu in wahnhafter Weise übel ausgelegt werden. 520

Das heißt, damit Hass entstehen kann, muss das Objekt nach Kolnai im Zusammenhang mit der jeweiligen Konfliktsituation zumindest dem Subjekt gegenüber durchaus konkrete Unwerte aufweisen – es muss etwa mit unlauteren Mitteln kämpfen oder moralisch minderwertige Ziele verfolgen. Allerdings wirft dieses Zitat auf den zweiten Blick mehr Fragen auf, als es beantwortet, da Kolnai anscheinend keinen Unterschied zwischen zwei an sich verschiedenen Sachverhalten macht: der Gegensätzlichkeit des Objekts zum Subjekt einerseits und seiner Wertwidrigkeit oder moralischen Minderwertigkeit andererseits. Tatsächlich impliziert er damit etwas, das er meines Erachtens auch an keiner anderen Stelle voll ausformuliert: nämlich dass sich der für den Hass relevante ›Wesensgegensatz‹ zwischen Subjekt und Objekt, der persönliche beziehungsweise wertmäßige Widerspruch, zwangsläufig in einem moralischen Konflikt manifestiert beziehungsweise moralisiert wird, und zwar in der Weise, dass die Objekt-Seite des Wesensgegensatzes erlebnismäßig primär von bestimmten moralischen Unwerten erfüllt ist, während auf der Subjekt-Seite die entsprechenden positiven Werte liegen. Dies wird noch klarer werden, wenn wir kurz rekonstruieren, was nach Kolnai im Hasserlebnis genau passiert: Die dem Hass zugrunde liegende Feindschaft entwickelt sich, wie zuvor beschrieben, in einer konkreten Konkurrenzsituation, innerhalb der Objekt und Subjekt wertmäßig oder persönlich in einem ausschließenden Gegensatz zueinander stehen. Im Hasserlebnis selbst werden diese Gegensätzlichkeiten nun allerdings nicht mehr differenziert und situationsbezogen wahrgenommen, sondern von der speziellen Situation abgelöst und absolut erlebt. Das bedeutet: Zum einen wird die den Hass bedingende sachliche Gegnerschaft verabsolutiert, sodass sich der eigentliche Ausgangskonflikt verwandelt in einen allgemeinen Kampf »um den Besitz eines repräsentativen Stücks Welt, welches also über sich selbst hinausreicht und die Welt

520

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EHH, S. 135.

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überhaupt als Kampfobjekt vertritt« 521. Der Hass entzündet sich mithin zwar an einer besonderen Streitsache, zugleich geht es in dieser jedoch immer in irgendeiner Form um alles, das heißt: »Was der Haß verlangt und verheißt, ist […] eine Art Entscheidung über das Schicksal der Welt.« 522 Zum anderen wird auch der vorhandene persönliche oder wertmäßige Gegensatz ins Absolute gesteigert. Tritt der Kontrahent zunächst nur in gewisser Hinsicht als moralisch minderwertig auf, indem er innerhalb der Konfliktsituation gegenüber dem Subjekt bestimmte schlechte Charaktereigenschaften oder zweifelhafte moralische Ansichten an den Tag legt, kommt es im Hass zu einer generellen »›Verteufelung‹ des Gegenstandes« 523. Ausgehend von den konkret gegebenen Unwerten des Objekts wird nunmehr alles an ihm negativ erlebt, man könnte auch sagen, das Sosein oder Wesen des Hassobjekts konzentriert sich gerade in seinem Negativsein. In dieser Weise übersteigert das Subjekt seinen moralisch zweifelhaften Rivalen im Hass schließlich zum Träger »einer bösen ›Weltrolle‹ : als wären an diesem Gegenstande nicht gerade nur die schlechten Züge schlecht, sondern als wären seine an sich, inhaltlich gleichgültigen Interessen und Wollungen schon Emanationen einer bösen Weltmacht.« 524 Der persönliche und der sachliche Gegensatz des Objekts scheinen damit in der Übersteigerung so zu verschmelzen, dass aus einem Konkurrenten mit einzelnen moralischen Unwerten für das Subjekt eine Art böse Gegenkraft schlechthin wird. 525 Umgekehrt bedeutet dies natürlich, dass das Subjekt im Hass wiederum, indem es sich dem bösen Gegner in einem schicksalhaften Kampf gegenübergestellt sieht, für die gute Seite eintritt. Wie anfangs angedeutet 526, ist die Aversion des Hasses also dasjenige moralische Ausschlusserlebnis, in dem das Böse selbst erfahren wird und das Subjekt als Fürstreiter des Guten Stellung bezieht. Bevor wir uns jedoch der Frage zuwenden können, was dies für den moralischen Status des Hasssubjekts bedeutet, müssen wir noch einen eingehenderen Blick auf das Böse werfen: Bisher hatten wir festgestellt, dass der den Hass provozierende Kontrahent stets bestimmte moralische Defizite aufweist, die im Hass 521 522 523 524 525 526

EHH, S. 133. EHH, S. 133. Vgl. auch SMA, S. 107. EHH, S. 135. EHH, S. 135. Vgl. EHH, S. 133. Siehe Kapitel 3.1.

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verallgemeinert werden, und dass das Hassobjekt schließlich als böse Macht erscheint, die gegen das (gute) Subjekt gerichtet ist. Noch nicht ganz klar geworden ist allerdings, inwieweit das Objekt tatsächlich böse ist oder böse wird oder dem hassenden Subjekt als böse erscheint. Diese Frage lässt sich aus der Analyse des Hassphänomens heraus in der Tat nicht so leicht beantworten, insofern sich dies erlebnismäßig kaum auseinanderhalten lässt. Möglicherweise lässt sich deshalb auch in Kolnais Darstellungen keine eindeutige Aussage dazu finden, sodass wir versuchen müssen, anhand der ebenfalls nur vagen Beschreibung des Bösen, die uns Kolnai gibt, eine plausible Lösung zu finden. Wie weiter oben gezeigt 527, äußert sich Kolnai nicht sehr deutlich, was den selbstständigen Status des Bösen angeht beziehungsweise dessen Verhältnis zu konkreten moralischen Unwerten wie zum Beispiel Rücksichtslosigkeit oder Unehrlichkeit. Einerseits erklärt er in seiner Dissertation Der ethische Wert und die Wirklichkeit das Böse, dem wir im moralischen Ausschlusserlebnis begegnen, zwar unmissverständlich zum »Urphänomen der Ethik« 528, insofern dessen Erfahrung uns allererst zum Erlebnis des Guten führe, und betont: »Das Ausschlußerlebnis setzt […] ein positiv Böses voraus, welches gleichsam mit dem Guten um einen endlichen Besitz ringt, weshalb zwischen beiden eine Wahl notwendig ist.« 529 Andererseits ist er dabei zumindest unentschlossen, ob es auch ein wirkliches »Böses als reinen Unwertwillen gibt« 530, und scheint hier eher noch der Ansicht zu sein, dass jedes böse Verhalten »irgendwie sub specie boni geübt wird« 531. Ferner spricht er in seiner Dissertation von einer Ausdifferenzierung des Guten in konkrete Einzelwerte, die auf der Seite des Bösen fehle, während er etwa in der späteren Schrift zum Hochmut ausführt, dass das Böse sich ausgestalte »nach den konkreten Werten, die ich in meinem Verhalten verneine, und den damit zusammenhängenden Arten dieser Verneinung« 532. In der Hassuntersuchung erfahren wir schließlich, dass es für Kolnai – im Unterschied zum Guten – gar kein eigenständiges Erlebnis des Bösen gibt. So schreibt er,

527 528 529 530 531 532

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Siehe Kapitel 3.1. EWW, S. 20. EWW, S. 124. EWW, S. 82, Anmerkungen. EWW, S. 72. EHH, S. 76.

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daß zwar das Erleben des Gegensatzes Gut – Böse weit unmittelbarer von der Richtung ›Böse‹ aus erfolgt, daß jedoch ein Erleben des Bösen zwangsläufig die Mitintendierung der ›Kampffront‹ und somit die Rückbeziehung auf das Gute bei sich führt, während das Erleben des Guten an sich selbständig sein kann […]. 533

Das Böse können wir demnach stets nur vor dem Hintergrund des – damit seinsvorrangigen – Guten erleben. 534 Das Böse erscheint also, indem es dieses negiert, ausschließlich als oder im Gegensatz zum Guten. Eine eigenständige Erfahrung des Bösen kann es mithin nicht geben, insofern die Erscheinung des Bösen von den gegebenen positiven Werten abhängt, die jeweils negiert werden, sowie von der Art ihrer Negation, wie Kolnai oben betont. Genauer führt er dies zwar nicht aus, in den bisherigen Untersuchungen zum Ekel und zum Hass haben wir allerdings mit der Wertvernichtung und der Wertzersetzung immerhin zwei Formen der Wertnegation kennengelernt 535, die er dabei möglicherweise im Blick hatte. In gewissem Sinne ließe sich damit nun vielleicht auch von einer Ausdifferenzierung des Bösen am jeweiligen Guten sprechen, indem sich gewissermaßen an den bestehenden positiven Werten einzelne Unwerte oder ›Wertwidrigkeiten‹ 536 abbilden. Dafür, dass das Böse eine selbstständige Macht sei, die in konkrete Unwerte emaniert oder Ähnliches, lässt sich bei Kolnai jedoch keinerlei Hinweis finden. Das für unsere Frage entscheidendste Puzzleteil liefert uns Kolnai erst in seiner unvollendeten und posthum veröffentlichten Schrift Morality and Practice (1977). Hier unterscheidet er an einer Stelle ausdrücklich zwischen ›schlecht‹ und ›böse‹ : My point is, rather, that the concept of moral evil essentially and characteristically refers, not so much to a deficient degree of certain required qualities, which is what ›bad‹ primarily means, as to a decision or sustained decision, a direction of the will, contra as opposed to pro in regard to certain privileged ends, values or principles […]; in any case, an aspect of wilful oppugnancy, a central feature of ›contrary‹ choice appears to be inherent in moral evil as distinct from the unsatisfactory or inferior quality […] of that which is just ›bad‹. 537

533 534 535 536 537

EHH, S. 136. Vgl. EWW, S. 136. Siehe Kapitel 3.1.1. Vgl. unter anderem EHH, S. 135, 137. EVR, S. 82.

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Zum einen expliziert Kolnai damit seine sich zuvor nur vage andeutende Vorstellung, dass das böse Verhalten eine Art Entscheidung gegen ein bestehendes Gutes enthält, einen Willen, der direkt gegen positive Werte gerichtet ist. Zum anderen scheint er mittlerweile einigermaßen sicher zu sein, dass Menschen zum Bösen in diesem Sinne durchaus fähig sind. Sah er sich anfangs noch als Fortführer oder Vollender von Schelers wertethischem Entwurf 538, so distanziert er sich nunmehr, wie er unter anderem in seinem 1971 erschienenen Aufsatz The Concept of Hierarchy deutlich macht, endgültig von dem »›optimistic‹ view«, den Nicolai Hartmann und Scheler teilen würden, »that men always act for the sake of some value; never in pursuit of a disvalue as such«. 539 Seine eigene Theorie des Bösen jedoch formuliert Kolnai weder hier noch an anderer Stelle aus. Dennoch können wir zumindest festhalten, dass das Böse im engeren Sinne für Kolnai letztlich in einer willentlichen oder direkten Wertnegation besteht, was im Rückblick auch in seiner Dissertation immerhin schon anklingt, wenn er dort zur Erscheinung der Bosheit, im Unterschied zur Unreinlichkeit oder Gemeinheit, das aktive Übelwollen, Schädigen oder den Zerstörungswillen zählt. Demgegenüber lassen sich einfache, nicht böse moralische Unwerte wie Rücksichtslosigkeit oder Unehrlichkeit meines Erachtens eher unter den Begriff ›schlecht‹ fassen. Im Gegensatz zum Bösen würde ich sie als einen Fall von unwillentlicher oder indirekter Wertnegation beschreiben, insofern hier zwar Werte verneint werden, aber lediglich im Zuge der Verwirklichung anderer Werte. Die Negation könnte man im Anschluss an Scheler dann darin sehen, dass geringere Werte höheren vorgezogen werden – was dieser im Gegensatz zu Kolnai bereits als böse bezeichnen würde 540 –, etwa wenn wir rücksichtslos jemanden beiseite stoßen und dabei sein Wohl gefährden, um selbst die Annehmlichkeit eines Sitzplatzes in der S-Bahn genießen zu können. Die zurückgestellten Werte werden hierbei allerdings, im Gegensatz zum bösen Verhalten, nicht in dem Sinne willentlich negiert, dass ihre Verneinung selbst intendiert wird. Stattdessen kommt es in diesem Fall durch die Realisierung anderer Werte zur Wertnegation. Doch erscheint das Hassobjekt meines Erachtens typischerweise weder nur als moralisch schlecht noch als reiner Bösewicht, dem es 538 539 540

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Siehe Einleitung zu Kapitel 3. EVR, S. 181, vgl. EVR, S. 181 f. Siehe GW 2, S. 47 f.

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allein darum geht, uns Schaden zuzufügen oder uns zu vernichten. Vielmehr scheint der Wert des Bösen hier neben den eigentlichen moralischen Qualitäten des Objekts gerade durch den Wertgegensatz zum Subjekt und die aktuelle Konfliktsituation mitkonstituiert zu sein. Das Hassobjekt ließe sich daher zwar insofern als böse im oben genannten Sinne bezeichnen, als es die Wertnegation tatsächlich intendiert und nicht lediglich in Kauf nimmt, jedoch nicht insofern, als ihm an der Zerstörung selbst gelegen sei. Das Hassobjekt ist deshalb auf die Wertvernichtung ausgerichtet, weil es eigene Werte realisieren will und diese in der betreffenden Streitsache im ausschließenden Gegensatz zu jenen des Subjekts stehen. Damit lassen sich die Bewegung des Hasses und die ›Entwicklung‹ des moralischen Status des Hassobjekts meines Erachtens schließlich wie folgt darstellen: 1. Die für den Hass kennzeichnende objektive Feindschaftssituation stellt sich ein, wenn das Hassobjekt in einen ›gemeinsamen Beziehungskreis‹ mit dem Subjekt tritt, innerhalb dessen es etwas zu vereinnahmen sucht, das vom Subjekt als zu sich gehörig betrachtet wird beziehungsweise das es für sich selbst beansprucht. Das heißt, Subjekt und Objekt erheben beide Anspruch auf dieselbe Sache (sachliche Gegnerschaft), so zum Beispiel wenn in unmittelbarer Nähe zu einem bereits ansässigen Bäcker ein weiterer Bäcker sein Geschäft öffnet und ihm damit Kundschaft und Einnahmen streitig macht. 2. Subjekt und Objekt erheben ihren Anspruch jedoch aus unterschiedlichen Wertstrebungen heraus, sodass beide in derselben Sache verschiedene Werte verfolgen (persönliche/wertmäßige Gegnerschaft). Insofern in der fraglichen Sache allerdings nur eine Seite ihre Werte realisieren kann, schließt die Verwirklichung der einen Werte zwangsläufig die der anderen aus. Dabei vertritt das Hassobjekt typischerweise geringere Werte als das Subjekt, wodurch es mit dem Versuch, seine Werte gegen diejenigen des Subjekts durchzusetzen, mehr oder weniger notwendig schlecht handelt (siehe oben). Unter Heranziehung von Schelers Idee der formalen Wertrangordnung und seiner These, dass die Realisierung von Fremdwerten höherwertig ist als die von Eigenwerten 541, können wir uns an dieser Stelle aber auch darauf zurückziehen, zu sagen, dass allein der Vorzug der eigenen Werte vor 541

Vgl. GW 2, S. 118.

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den Fremdwerten des Subjekts schon die moralische Minderwertigkeit des Objekts ausmacht. Am Objekt erscheinen mithin moralische Unwerte, indem es mit der Verfolgung der eigenen Werte diejenigen des Subjekts negiert. So könnte etwa der ansässige Bäcker aus unserem Beispiel einen seit mehreren Generationen bestehenden Familienbetrieb führen und sich insbesondere dem kulturellen Wert des traditionellen Bäckerhandwerks verbunden fühlen, während der mit ihm rivalisierende Bäcker als Inhaber einer schnell wachsenden Billig-Kette einzig an Umsatz und eigenem Reichtum interessiert ist. In seiner Profitorientiertheit handelt er in den Augen des Kleinbetriebs zumindest rücksichtslos, wenn er in dessen Einzugsgebiet eine neue Filiale eröffnet und durch seine Preispolitik Kundschaft abzuwerben droht, die dem Traditionsbäcker die kostenintensivere manuelle Produktion ermöglicht. 3. Im Hass nun wird das Objekt aber nicht nur als schlecht, sondern als böse erlebt, und wie wir oben gesehen haben, ist es dafür nötig, dass das Objekt das Subjekt mit dessen Werten auch direkt oder willentlich negiert. Das tut es in der objektiven Feindschaftssituation, indem es aktiv in Konkurrenz zum Subjekt tritt und dessen Platz im ›gemeinsamen Beziehungskreis‹ für sich beansprucht: indem es also gezielt versucht, das Subjekt zu verdrängen und aus dem Feld zu schlagen. Insofern seine Handlungen damit auf das Nichtsein des Subjekts und der von ihm realisierten Werte gerichtet sind, verhält sich das Objekt in Bezug auf das Subjekt letztlich böse. Im Fall der beiden Bäckereibetreiber läge diese Situation etwa vor, wenn der Billigbäcker einen offensiven Konkurrenzkampf eröffnet und mit gezielten Sonderaktionen dem ansässigen Betrieb sogar die Stammkundschaft abspenstig macht. Im Unterschied zum Angstobjekt bedroht er damit nicht nur das bloße Überleben des Kleinbäckers, sondern auch und vor allem seine persönliche Existenz als traditioneller Familienbäcker. 4. Das Subjekt sieht sich schließlich durch den Angriff des Objekts grundsätzlich in seinem individuellen Wertsein, in seiner Existenz und Identität als wertrealisierendes Wesen, das heißt als individuelle Person, bedroht und antwortet, um sich selbst zu erhalten, auf die vom Objekt ausgehende Negation wiederum mit der Negation des Objekts. Das bedeutet, es sieht sein Gegenüber nicht allein als einen niederträchtigen Konkurrenten, der es aus einem bestimmten Gebiet 174

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verdrängen will, sondern es erlebt das Objekt vielmehr als böse Gegenkraft, welche die Existenz des Subjekts und seiner Werte in der Welt infrage stellt und als solche bekämpft werden muss. Die ursprüngliche Konfliktsituation läuft damit auf eine fundamentale Entweder-Oder-Entscheidung hinaus: ich oder du – die Welt ist »too narrow a place to hold us both« 542. Unabhängig davon, welche praktischen Maßnahmen das Subjekt aus dem Hass heraus ergreift, passiert die entscheidende Negation im Hass selbst, indem sich das Subjekt auf die schlechten Eigenschaften oder gegen es gerichteten Handlungen des Objekts konzentriert und dieses insgesamt darauf reduziert beziehungsweise alle anderen Züge ins Negative verkehrt und es als schlechthin böse verteufelt. In unserem Beispiel könnte nun also der Traditionsbäcker den feindlichen Billig-Ketten-Inhaber, der ihn in seiner wertmäßigen Existenz bedroht, hassen und in dem gewinnsüchtigen Großunternehmer etwa den personifizierten Niedergang des gesamten Bäckereihandwerks in der westlichen Kultur überhaupt erblicken, dem mit allen Mitteln die Stirn geboten werden muss. Die hier entworfene Hass-Entwicklung ist in keiner Weise als zwingend zu verstehen. So bleibt insbesondere fraglich, inwiefern das Hassobjekt tatsächlich gezielt gegen die persönlichen Interessen des Subjekts agieren, es also als individuelle Person selbst angreifen muss, damit es zum Hass kommt, oder ob dies dem Subjekt lediglich so erscheinen kann. Entscheidend scheint mir für echten persönlichen Hass allerdings zumindest zu sein, dass das Subjekt die Handlungen oder Verhaltensweisen des Hassobjekts in irgendeiner Weise ›persönlich nimmt‹ – und dies legt die für den Hass spezifische Konfliktsituation in jedem Fall nahe: Indem das Hassobjekt in einem für die persönliche Verwirklichung des Subjekts relevanten Bereich eigene Interessen zu realisieren sucht, die zu jenen des Subjekts in einem ausschließenden Gegensatz stehen, erscheinen seine Handlungen subjektiv zugleich als schlecht und gegen das Subjekt gerichtet. Doch ob das Subjekt darin einen Angriff auf seine Person sieht und Hass entwickelt, hängt letztlich von seiner individuellen Person selbst ab, was uns unmittelbar zur Frage nach dem moralischen Status des Hasssubjekts führt.

542

SMA, S. 107.

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Phänomenologie des Hasses

Wie wir bereits gesehen haben 543, betont Kolnai, dass Hass nicht in derselben Weise hervorgerufen wird wie etwa Angst. Damit Hass zustande kommt, muss das Subjekt immer auch dazu bereit sein, sich gewissermaßen dazu entschließen, die Kampfposition einzunehmen. Der Hass ist insofern keine bloße passive Reaktion, sondern stets ein Akt des Subjekts. Das heißt, das Hasssubjekt ›wählt‹ in gewisser Weise als Mittel zum Selbsterhalt den Angriff, die Negation des Objekts. Dadurch wirkt es jedoch notwendigerweise selbst zerstörerisch, denn in der Verteufelung des Objekts und der Verabsolutierung seiner Unwerte schiebt es ebenso »nichtböse und wertvolle Elemente ›dem Bösen‹ zu« 544. In diesem Sinne entscheidet sich das Hasssubjekt gewissermaßen selbst für das Böse, wenn es ›dem Bösen‹ den Kampf ansagt. Gleichzeitig kommt es nach Kolnai zu einer moralisch bedenklichen ethischen Selbstlegitimierung des Subjekts, indem es sich im Kampf gegen das Böse selbst auf die Seite des Guten stelle. Die Verfehlung des Subjekts besteht hier laut Kolnai darin, dass »›Gegen-mich‹ mit ›Gegen-das-Gute‹ konfundiert wird« 545, wodurch das Subjekt gleichermaßen blind für die positiven Eigenschaften des Objekts wird wie für die eigenen Fehler. Nicht zuletzt enthält der Hass mit seiner absoluten Vernichtungsintention eine radikale Destruktivität, die über das konkrete Objekt hinaus auf das Seiende selbst zielt: »Ihm wohnt […] etwas ›Weltumstürzendes‹, ein Hang zur Zerschlagung der Seinsstrukturen, inne.« 546 Kulturgeschichtlich führt Kolnai die für den Hass typische Verbindung von feindlicher Gegnerschaft und Wertkonflikt im Übrigen auf das für viele Religionen, insbesondere den Manichäismus, kennzeichnende dualistische Weltbild zurück 547 und vermutet daher in jedem echten Hass immer auch einen letzten »Splitter von Religionshaß« 548. Insofern kommt der Hass für Kolnai also nicht ohne ein metaphysisches Bewusstsein aus, womit er durchaus als die geistigste, von natürlichen Instinkten am weitesten entfernte der drei untersuchten Aversionen bezeichnet werden kann. 549 Dementsprechend

543 544 545 546 547 548 549

176

Siehe Kapitel 3.4.1. EHH, S. 137. EHH, S. 137. EHH, S. 138. Vgl. EHH, S. 133 f. EHH, S. 133. Vgl. EHH, S. 132 ff.

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Konklusion

wäre eine »ametaphysische Einstellung zur Welt« 550 das wirksamste Mittel, wenn die Entstehung von Hass vermieden werden sollte. Allerdings geht Kolnai, der einige Jahre vor seiner Hassuntersuchung erst zum katholischen Glauben konvertiert ist, nicht so weit, dies als Therapeutikum vorzuschlagen. Generell hält Kolnai es für möglich, dass Hass nicht gänzlich vermieden werden kann, aber auch, dass er zumindest eingedämmt oder teilweise überwunden werden kann. Einen Weg dazu sieht er in einer bewussteren Pflege der liebevollen Einstellung im Gegensatz zur gehässigen Einstellung. Zwar ist Liebe für Kolnai kaum ganz ohne Hass denkbar, in dem wir für das, was wir lieben, eintreten, doch lasse sich der Habitus der Liebe durchaus üben ohne den des Hasses – wobei er nicht verrät, was genau darunter zu verstehen ist. 551 Der zweite von Kolnai vorgeschlagene ›Behandlungsansatz‹ zielt dagegen darauf, sich im Hass auf die konkrete sachliche statt auf die persönliche Gegnerschaft zu konzentrieren und damit die prinzipiell grenzenlose Vernichtungstendenz auf ein sachliches »›Besiegen‹ und ›Außer-Gefecht-setzen‹« 552 zu beschränken: Der Haß geht seinem Wesen nach über die bloße sachliche Gegnerschaft hinaus, aber es ist die Möglichkeit vorhanden, ihn von der geistigen Grundsubstanz unserer Welt, dem Personbestand als solchem, abzulenken und auf eine gewisse Zone um den sachlichen Entscheidungsbereich der menschlichen Beziehungsgebilde her einzuschränken. 553

3.5 Konklusion Während sympathische Emotionen wie die im vorangegangenen Kapitel untersuchte Liebe zur Bereicherung und Entfaltung unserer Person und unseres Lebens durch anderes beitragen, dienen aversive Emotionen, so zeigt Kolnais Analyse von Angst, Ekel und Hass, vor allem der Erhaltung und Verteidigung unserer Person und unseres Lebens gegen anderes. Wie wir sehen konnten, gehört es für Kolnai zur Struktur der Aversion, auf eine je spezifische Bedrohung durch das Objekt mit einer korrelierenden Negation des Objekts zu ›antworten‹. Dabei kann die vom Angstobjekt ausgehende Bedrohung meines 550 551 552 553

EHH, S. 133. Vgl. EHH, S. 140 f. EHH, S. 142. EHH, S. 142.

Liebe und Hass

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Phänomenologie des Hasses

Erachtens allgemein in einer potenziellen Schädigung gesehen werden, die sowohl unseren psychophysischen Organismus, mithin unseren grundlegenden Lebensvollzug, als auch besondere persönliche Werte betreffen kann – etwa wenn wir Angst haben, durch das Eintreten bestimmter Umstände eine für uns wichtige Tätigkeit nicht mehr ausüben zu können. Wie Kolnai betont, ist es hierbei weniger eine spezielle Beschaffenheit, die ein Objekt bedrohlich werden lassen, sondern eher die aktuelle, eine Schädigung ermöglichende Subjekt-Objekt-Konstellation. Als das intentionale oder, in der heute gebräuchlicheren Terminologie 554, formale Objekt der Angst, das allen einzelnen Angsterlebnissen gemeinsam ist, lässt sich daher im Anschluss an Kolnai die Gefahrensituation oder allgemeiner die Gefahr bestimmen. 555 Insofern das reale Angstobjekt allerdings nur aufgrund der bestehenden Machtkonstellation gefährlich ist, liegt die Abwehr in der Angst in der Negation dieser Situation, sei es durch Flucht oder Kampf. Die spezifische Bedrohung durch das Ekelobjekt besteht dagegen meines Erachtens in einer potenziellen Infizierung mit Krankheit und Verfall, von der wir wiederum sowohl als psychophysischer Organismus wie als wertstrebende Person betroffen sein können. Anders als bei der Angst sind es hier gerade spezifische Beschaffenheiten, die ein Objekt ekelhaft machen, und zwar jene penetranten Eigenschaften, die primär organische Substanzen auszeichnen, welche sich im Prozess der Fäulnis oder der Verwesung befinden, die im übertragenen Sinne jedoch auch moralisch zweifelhaften Charakteren und Ähnlichem zugeschrieben werden können. Das intentionale Objekt des Ekels kann meines Erachtens mithin in der Fäulnis oder dem Zerfall selbst gesehen werden, welche(r) durch das reale Objekt auf das Subjekt übertragen werden könnte. Da der Zustand des Objekts allerdings nur auf das Subjekt übergreifen kann, wenn es sich in dessen Nähe befindet, liegt die Abwehr im Ekel in der Negation ebendieser Nähe. Insofern das Ekelobjekt als wahrgenommenes aber bereits an das Subjekt herangerückt oder gar in es eingedrungen ist, wird die Nähe im Unterschied zur Angst weniger durch Flucht als durch Abschütteln und Ausstoßen aufgehoben. Das Hassobjekt schließlich droht uns mit einer existenziellen Vernichtung, wobei es im Gegensatz zu Angst oder Ekel insbesondere 554 555

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Siehe S. 45, Fußnote 112. Vgl. SMA, S. 98.

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Konklusion

um unsere persönliche Existenz geht. Waren für Angst und Ekel primär die Position beziehungsweise die Beschaffenheit eines Objekts ausschlaggebend, um zum Angst- oder Ekelobjekt zu werden, sind für den Hass beide Aspekte gleichermaßen wichtig. So zeichnet sich ein Hassobjekt dadurch aus, dass es sowohl eine konkurrierende Position zu uns einnimmt wie besondere (Un-)Werte vertritt, die unseren persönlichen Werten widerstreiten. Als reale Objekte des Hasses kommen meines Erachtens folglich nur personale Wesen infrage, wohingegen das eigentliche Objekt des Hasses der böse Feind ist, der als eine Art Wertnegativ zu uns die Existenz unserer wertrealisierenden Person bedroht. Eine derart existenzielle Bedrohung wird im Hass wiederum mit einer ebenso existenziellen Negation des Objekts beantwortet, die sich in verschiedenster Weise weiter auswirken kann, von unterschwelligen Aggressionen bis hin zu direkten Mordanschlägen. Anders als die beiden anderen Aversionen ist der Hass letztlich weniger eine passive Abwehrbewegung, die in bestimmten Situationen nahezu reflexartig eintritt, sondern eher ein Akt der Person, sodass sowohl die Entstehung des Hasses selbst als auch die daraus motivierten Handlungen weitaus entscheidender als bei Angst und Ekel von der jeweiligen Person und ihren Werten abhängen.

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4 Abschließende Synthese – Liebe & Hass

In diesem letzten Kapitel wollen wir ein Fazit über unsere vorangegangenen Untersuchungen ziehen, wobei wir vor allem der Frage nachgehen, wie sich Liebe und Hass zueinander verhalten und inwiefern wir sie tatsächlich als Gegensätze auffassen können. Um zu sehen, in welcher Hinsicht sich diese beiden Emotionen ähneln oder unterscheiden, sollen daher im Folgenden die Phänomene der Liebe und des Hasses, wie sie sich mit und im Anschluss an Scheler und Kolnai beschreiben lassen, einander gegenübergestellt und in einigen wesentlichen Gesichtspunkten verglichen werden. In der Schlussbetrachtung sollen zudem die Fragen aufgegriffen werden, inwiefern Liebe und Hass möglicherweise einander bedingen und inwiefern der Hass eigentlich als eine zu therapierende Emotion anzusehen ist.

4.1 Akt & Gefühl Wie wir sahen, unterteilt Scheler das menschliche Gefühlsleben allgemein in nicht-intentionale beziehungsweise zuständliche und in intentionale Emotionalität, wobei er die Liebe als einen intentionalen Akt versteht und mithin eindeutig letzterer Kategorie zuordnet. 556 Eine solche Unterscheidung finden wir grundsätzlich auch bei Kolnai. Allerdings geht er weniger als Scheler von gesonderten Fühlklassen aus, sondern betrachtet Intentionalität und Zuständlichkeit zunächst als zwei Merkmale neben anderen, wie zum Beispiel Leibgebundenheit, durch die Emotionen charakterisiert und differenziert werden können. 557 Später, in den Standard Modes, formuliert er anhand dieser beiden Aspekte schließlich sein Konzept der emotive responses 558: Diese Emotionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl auf ein 556 557 558

180

Siehe genauer Kapitel 2.2.1 & 2.6.1 (a); vgl. GW 2, S. 261–266. Vgl. EHH, S. 8 ff. Siehe Kapitel 3.1.1; vgl. SMA, S. 94 f.

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Akt & Gefühl

eigentümliches Objekt gerichtet sind (Intentionalität) wie eine charakteristische Gefühlsqualität aufweisen (Zuständlichkeit). Hierzu zählt er im Bereich der Aversionen neben der Angst und dem Ekel auch den Hass, insofern diese drei Emotionen im Gegensatz zu anderen negativen Gefühlen gleichermaßen intentional wie zuständlich seien. 559 In seiner Untersuchung zum Ekel klingt dies noch etwas anders: Hier scheint der Hass für ihn vor allem intentional und weniger zuständlich zu sein. 560 Generell vermeidet es Kolnai jedoch, eine klare Definition des Hasses oder der Liebe zu geben und sie in ein umfassendes System unserer Emotionen einzuordnen. In seinem Versuch spricht er etwa von einer Haltung, einem Gefühl oder auch ganz unspezifisch von Liebes- und Hassbewegungen. 561 Ausgehend von Schelers und Kolnais Beschreibungen des Liebes- und Hassphänomens schlage ich nun vor, sowohl die Liebe wie den Hass als einen emotionalen Akt zu verstehen, wobei die Liebe einen auf eine Person gerichteten Transzendenzakt darstellt, der Hass hingegen einen auf eine Person gerichteten Negationsakt. Wie zur Liebe schon genauer ausgeführt 562, meine ich damit Emotionen, die primär intentional sind, sich also durch ihre Objektgerichtetheit auszeichnen, und erst sekundär durch eine spezifische Gefühlsqualität charakterisiert sind. Liebe und Hass sind insofern weder einfache Gefühlszustände, die durch etwas verursacht werden und die wir lediglich passiv erleben, noch bloße emotionale Reaktionen auf bestimmte Objekte, sondern freie, spontane Bewegungen unserer individuellen Person. Diese Emotionen widerfahren uns mithin nicht oder werden in uns hervorgerufen, vielmehr werden sie von uns aktiv vollzogen. Anders als die Liebe bei Scheler wird der Hass bei Kolnai zwar nicht ausdrücklich als emotionaler Akt definiert, und in den Standard Modes scheint er ihn, wie gezeigt, als ebenso intentionale wie zuständliche Emotion anzusehen. Dennoch legt sich diese Auffassung zumindest nahe, wenn er den Hass im Versuch als ›Kurs der Persönlichkeit‹ 563 beschreibt und durch die in ihm stattfindende »›Einsetzung‹ der eigenen Person« 564 kennzeichnet. Auch in den Standard Modes unterstreicht Kolnai den Aktcharakter des Hasses meines Er559 560 561 562 563 564

Siehe Kapitel 3.1.1; vgl. SMA, S. 94 f. Vgl. EHH, S. 8 f. Vgl. zum Beispiel EHH, S. 101 f., 121. Siehe Kapitel 2.6.1 (a). Vgl. EHH, S. 110. EHH, S. 115.

Liebe und Hass

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Abschließende Synthese – Liebe & Hass

achtens letztlich selbst, indem er ihm hier eine Art freiwilliges »commitment to hostility« 565 zuschreibt. Mehr als die Liebe mag der Hass vielleicht – wie alle Aversionen, die schließlich in irgendeiner Weise aus dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb hervorgehen – von seinem Objekt herausgefordert werden, doch anders als die Angst oder der Ekel tritt er in keiner Weise einfach von selbst ein, sondern wir müssen uns immer erst in gewissem Sinne dafür entscheiden. Mehr als eine bloße Reaktion ist auch der Hass damit am Ende ein grundsätzlich freier Akt, den wir vollziehen. Als emotionale Akte weisen Liebe und Hass außer ihrem Aktcharakter eine eigene, dem intentionalen Bezug korrelierende Gefühlsqualität auf, die das spezifische Erlebnis kennzeichnet. Insofern sich die Liebe auf ein wesentlich individuelles Objekt bezieht, wird das Liebesgefühl meines Erachtens allerdings entscheidend von diesem mitgeprägt. Entsprechend ihrer Bestimmung als auf die Person des anderen gerichteten Transzendenzakt lässt es sich vielleicht am ehesten als Gefühl der Öffnung oder Offenbarung beschreiben, das seinen konkreteren Charakter von den vielfältigen Wertqualitäten der individuellen Person erhält, die das Objekt der Liebe ist. 566 So kann sich unser Liebesgefühl nicht nur von Person zu Person unterscheiden, sondern sich ebenso mit der geliebten Person im Laufe der Zeit verändern. Das Grundgefühl des Hasses kann dagegen vielleicht eher als ein Gefühl des Verschlusses und der Gegenwehr beschrieben werden. Der von mir im Anschluss an Kolnai entwickelte Begriff des Hasses als eines auf beziehungsweise gegen die Person des anderen gerichteten Negationsakts bietet hierbei ebenfalls Platz für meine These der objektabhängigen Gefühlsqualität: Denn insofern sich das Hassobjekt neben der bedrohlichen oder schädigenden Wirkung stets durch bestimmte Unwerte auszeichnet, können diese grundsätzlich auch, wie die Werte des Liebesobjekts, die besondere Qualität des Gefühls beeinflussen. Allerdings fällt die Varianz des Hassgefühls geringer aus als jene des Liebesgefühls, da die hassprovozierenden Eigenschaften der gehassten Person mit der speziellen Bedrohungssituation zusammenhängen und beides wiederum von den individuellen Wertstrebungen der hassenden Person abhängig ist. 567 Für jede individuelle Person sind also, mit anderen Worten, einige Hass565 566 567

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SMA, S. 106. Siehe dazu bereits Kapitel 2.6.1 (a). Siehe genauer Kapitel 3.4.3.

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Absolutheit

objekte naheliegender als andere, weshalb der Hass doch eine eintönigere Emotion als die Liebe ist, welche sich prinzipiell auf jede beliebige Person richten und deren Gefühl somit von den verschiedensten Wertqualitäten mitgeprägt sein kann.

4.2 Absolutheit In unterschiedlicher Weise lässt sich bei der Liebe wie beim Hass in Bezug auf ihr Gefühl wie auf ihre Intention von absoluten Emotionen sprechen: Mit der individuellen Person des anderen ist die Liebe wesensmäßig auf ein absolutes Objekt ausgerichtet. Wie in Kapitel 2.5 gezeigt, ist uns die individuelle Person nicht in der normalen (Wert-) Wahrnehmung gegeben, die von diversen subjektiven Bedingungen abhängt, sondern wird erst im Akt der Liebe wirklich erlebbar. Indem wir in der Liebe aus unseren Wahrnehmungsgewohnheiten und unserer subjektiven Situation heraustreten, öffnen wir unser Wertfühlen für die vielfältige Person des anderen, die über seine aktuelle Werterscheinung hinausreicht. Damit wir diese als eine von vielen möglichen Realisierungen seines individuellen Wertwesens erleben können, ist allerdings, wie in Kapitel 2.6.2 ausgeführt, seine Mitwirkung nötig. Er muss die Transzendenz seines ›empirischen Wertfaktums‹ 568, wie Scheler es nennt, zu seiner individuellen, intimen Person zulassen, indem er es als singulären, von verschiedenen Faktoren abhängigen Ausdruck seines komplexen wertrealisierenden Wesens zu erkennen gibt. Das absolute Objekt des Hasses ist nach Kolnai dagegen der ›böse Feind‹ oder die ›böse Gegenmacht‹. 569 Dabei macht der Hass jedoch, im Unterschied zur Liebe, kein objektiv Seiendes sichtbar, sondern er setzt vielmehr sein Objekt absolut: Im Hass wird der andere auf einzelne Unwerte beschränkt, die schließlich sein ganzes Wertwesen ersetzen und zum Bösen, zum Unwertsein überhaupt übersteigert werden. Dasselbe geschieht in Bezug auf die Rivalität des Objekts, die von der besonderen Konfliktsituation gelöst und derart ins Absolute gesteigert wird, dass es sich in den Erzfeind schlechthin verwandeln muss. Der Verabsolutierung des Hassobjekts entspricht wiederum 568 569

Vgl. unter anderem GW 7, S. 156, 160. Siehe Kapitel 3.4.2.

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Abschließende Synthese – Liebe & Hass

die Absolutheit des Vernichtungsanspruchs, den der Hass in sich trägt: Denn obwohl aus dem Hass keine zerstörerischen Handlungen resultieren müssen, impliziert er doch, wie Kolnai betont, stets die absolute Auslöschung seines Objekts, das heißt dessen Nichtsein selbst. Wie ihre Intention lässt sich ferner auch das Gefühl von Liebe und Hass in gewissem Sinn als absolut charakterisieren. Beiden Emotionen ist ein tiefes, alles durchdringendes Gefühl eigen, das gleichsam dem innersten Kern unserer Person entspringt und von dort unser gesamtes Sein und Erleben erfüllt. Während wir im Liebesgefühl aber vor allem die vollkommene Öffnung und Hingabe unserer Person an den anderen erleben, fühlen wir im Hass primär die vollkommene Verschließung und Abwehr unserer Person gegen den anderen.

4.3 Inter- & Antipersonalität Wie die signifikante Tiefe und Absolutheit ihres Gefühls und ihr ausgeprägter intentionaler Charakter bereits anzeigen, spielt sowohl in der Liebe wie im Hass unsere eigene individuelle Person eine entscheidende Rolle. Abgesehen davon, dass es sich bei ihnen um Emotionen handelt, die von unserer Person aktiv vollzogen werden, ist diese hier auch in besonderer Weise gegenwärtig. In der Liebe schließen wir uns dem anderen auf und offenbaren uns ihm als die Person, die wir sind. Wird unsere Liebe erwidert, können wir zudem sogar an der auf uns gerichteten Liebe des anderen teilhaben und gewissermaßen durch seine Augen uns selbst erleben. Im Hass kommt es dagegen, wie Kolnai es formuliert, zur ›Einsetzung der eigenen Person‹. 570 In ihm treten wir so rückhaltlos wie sonst nirgends für uns selbst ein und versuchen, unsere Existenz als Person zu bewahren, indem wir zentrale und unabdingbare persönliche Wertinteressen schützen. Damit verweist uns der Hass deutlicher als jede andere Emotion auf integrale Grundwerte unserer individuellen Person, ohne die wir uns nicht als uns selbst verstehen können. Doch in beiden Emotionen geht es in sehr unterschiedlicher Weise ebenso um die Person des anderen. Dabei richtet sich die Liebe 570 Vgl. EHH, S. 115. Kolnai spricht zwar auch bei der Liebe von der Einsetzung der eigenen Person, meint damit aber eher die Bereitschaft, für etwas, das man liebt, einzutreten – also meines Erachtens eine Haltung, die man aufgrund der Liebe einnehmen kann und die nicht zum Liebesakt selbst gehört; vgl. EHH, S. 118.

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Inter- & Antipersonalität

im Gegensatz zum Hass wesensmäßig auf die Person des anderen, indem sie diese zur Erscheinung kommen und uns an ihr teilhaben lässt. Insofern wir in der Liebe aber zugleich selbst als Person in Erscheinung treten, begegnet hier also eine Person einer anderen, weshalb die Liebe schließlich als interpersonale Emotion im engsten Sinne verstanden werden kann. Hingegen lässt sich der Hass meines Erachtens eher als antipersonale oder Person-negierende Emotion bezeichnen. Anders als die Liebe ist er nicht auf die Person des anderen hin gerichtet, sondern vielmehr gegen sie. Um seine eigene Person zu schützen, negiert der Hassende die Person des anderen, indem er ihn auf subjektive und situationsspezifische Unwerte reduziert. Der Hass verunmöglicht mithin das Personsein des anderen, das heißt, er realisiert ihn nicht nur nicht als Person, sondern er entpersonalisiert den anderen geradezu, macht ihn gewissermaßen zur Nichtperson. Allerdings negieren wir im Hass nicht allein die Person des anderen. Obwohl wir im Hass gerade für unsere Person eintreten und sie zu erhalten suchen, entpersonalisieren wir meines Erachtens tragischerweise am Ende auch uns selbst: Indem wir im anderen nämlich ausschließlich die für uns in der aktuellen Lage bedrohlich erscheinenden Unwerte zu sehen bereit sind, reduzieren wir im gleichen Zug uns selbst auf die durch den anderen gefährdeten Einzelwerte. Wenngleich es sich dabei um zentrale persönliche Grundwerte handeln mag, beschneiden wir doch in der Verabsolutierung dieser Wertinteressen zwangsläufig unsere Person, insofern wir andere Werte ignorieren, die ebenfalls zu unserer vielfältigen Person gehören und diese in ihrer Gesamtheit mit ausmachen. Damit opfern wir letztlich, könnte man sagen, um wichtige persönliche Interessen zu schützen, gerade unser Personsein selbst. Im Hass geht unsere Selbsterhaltung also stets mit einer Selbstnegation einher – er zeigt den Menschen daher, wie Kolnai schreibt, »in seinem entscheidenden Heraustreten aus sich selbst, in den großen Linien seiner ›Tragik‹«. 571

571 EHH, S. 124. Insofern es im Hass gerade um die Erhaltung der Person beziehungsweise ihrer Werte geht, ist er letztlich ein absolut tragisches Phänomen, wie Scheler es beschreibt: »Im ausgesprochensten Sinne tragisch ist es daher, wenn ein und dieselbe Kraft, die ein Ding zur Realisierung eines hohen positiven Wertes […] gelangen läßt, auch im Verlaufe dieses Wirkens selbst die Ursache für die Vernichtung eben dieses Dinges als Wertträgers wird. Wo wir unmittelbar eine Wirksamkeit anschauend miterleben, die, indem sie einen hohen Wert realisiert, gleichzeitig und im selben Aktus des Wirkens diesem Wert oder einem anderen, zu ihm wesenhaft gehörigen Wert die

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Abschließende Synthese – Liebe & Hass

4.4 Symmetrie Im Anschluss an Scheler und Kolnai lassen sich Liebe und Hass weiterhin als prinzipiell gegenseitige Emotionen beschreiben. Diese Symmetriethese legt sich ausgehend von Kolnais Untersuchungen zunächst vor allem für den Hass nahe, insofern die für das Hassphänomen typische Feindschaft, wie wir sahen, eher ›in der Mitte‹ zwischen Subjekt und Objekt entsteht 572: Innerhalb der objektiven Feindschaftssituation treten Subjekt und Objekt einerseits grundsätzlich als Rivalen auf, die dieselbe Sache, denselben Platz in der Welt für sich beanspruchen. Andererseits vertreten beide Parteien mit ihrem Anspruch unterschiedliche Wertvorstellungen, die einander zumindest in der Weise ausschließen, dass sie sich nicht gleichermaßen im umstrittenen Gebiet verwirklichen lassen beziehungsweise die Realisierung der einen Werte die der anderen verhindert. Mithin stellt das Subjekt ebenfalls einen potenziellen Hassgegenstand für das Objekt dar. Wenn also, wie Kolnai erklärt, das Hassobjekt wenigstens zum Hass fähig sein muss 573, dann betrifft dies nicht nur im Allgemeinen seine Fähigkeit, sich im engeren Sinne feindlich zu verhalten, das heißt bewusst und gezielt andere zu schädigen, sondern im Speziellen auch seine Fähigkeit, Hass gegen das Subjekt zu entwickeln. Nicht zuletzt provoziert gerade das Subjekt mit seiner ›Entscheidung‹ oder Bereitschaft zum Hass und somit zur Vernichtung des Objekts wiederum eine abwehrende Reaktion aufseiten des Objekts und begünstigt dadurch die Entwicklung eines Gegenhasses. Obschon die Liebe nach Schelers Darstellungen nicht in derselben Weise ›in der Mitte‹ zwischen Subjekt und Objekt verortet werden kann wie der Hass, konnten wir doch sehen, dass auch zu ihrer Struktur die Möglichkeit der Erwiderung gehört. 574 Verstehen wir die Liebe, in Fortsetzung von Schelers Überlegungen zur persönlichen Liebe, als selbst- und fremdoffenbarenden Transzendenzakt, so kommt es in ihr einerseits zur Erscheinung der Person des Objekts und andererseits zur Selbstöffnung des Subjekts, das sich seinerseits als Person zu erkennen gibt. Damit die Person des Objekts für das Bedingung der Existenz untergräbt, da ist der Eindruck des Tragischen am vollkommensten und reinsten.« GW 3, S. 158 f. 572 Siehe dazu und zum Folgenden Kapitel 3.4.1. & 3.4.2. 573 Vgl. EHH, S. 123. 574 Siehe Kapitel 2.6.2 (a).

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Komplexität

Subjekt sichtbar werden kann, ist es jedoch notwendig, dass es dies zulässt, das heißt dass es sich dem Subjekt gegenüber aufschließt und als Person in Erscheinung tritt. Indem sich das Subjekt durch seine Liebe dem Objekt als Person offenbart, ermöglicht es also zugleich die Erwiderung seiner Liebe. Insofern wir aber in unserer Liebe dem anderen als Person begegnen, uns als Person zeigen, erwarten oder erhoffen wir auch, von ihm als ebendiese wahrgenommen zu werden. In gewissem Sinne birgt die Liebe mithin stets den Wunsch, dass uns der andere zurückliebt und an unserer Person teilhat wie wir an seiner. Wird unsere Liebe nicht mit Liebe ›beantwortet‹, bleibt sie daher letztlich unerfüllt. Die Liebe ist somit in ganz anderer Weise auf Gegenseitigkeit angelegt als der Hass: Zwar laden beide Emotionen zu einer Erwiderung ein, doch während der Hass den Gegenhass lediglich nahelegt, erfordert die erfüllte Liebe immer die Gegenliebe.

4.5 Komplexität Aufgrund ihrer symmetrischen Grundstruktur können sich Liebe und Hass schließlich sehr viel komplexer ausgestalten als einseitige Emotionen wie Angst oder Mitleid. Insofern wir in der Liebe an der Person des anderen, ihren Akten und Werten teilhaben, bereichert sie nicht nur unser eigenes Leben, indem sie uns Zugang zu den verschiedensten neuen Werten bietet, sondern ebenso das Leben des Geliebten, indem wir seine Akte mitvollziehen und dazu beitragen, seine persönlichen Werte zu realisieren. 575 Kommt es nun zur Erwiderung der Liebe, wird dieser Effekt zum einen dupliziert: Beide Liebende können in der wechselseitigen Teilhabe neue Werte für sich erschließen und einander in der Verwirklichung ihrer Person in der Welt unterstützen. Zum anderen ermöglicht die erwiderte Liebe auch das besondere Erlebnis des Geliebtwerdens: Im gegenseitigen Mitvollzug ihrer Akte können die Liebenden an ihren aufeinander gerichteten Liebesakten teilhaben und so sich selbst als geliebt erfahren. 576 Infolge dieser intimen Teilhabe zweier Personen aneinander kann sich allerdings noch ein weiteres Phänomen einstellen, das die Liebenden dauerhaft eng verbindet – das Miteinanderfühlen, wie Scheler es

575 576

Siehe Kapitel 2.6.1 (b) & 2.6.2 (b). Siehe Kapitel 2.6.2 (b).

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Abschließende Synthese – Liebe & Hass

nennt. 577 Hierbei haben zwei Personen nicht nur wechselweise aneinander teil, sondern sie fühlen und erleben gemeinsam. Durch dieses Miteinanderfühlen können Liebende gemeinsame Wertinteressen entwickeln und verfolgen und so letztlich ein Wir-Bewusstsein ausbilden, das eine anhaltende Liebesgemeinschaft möglich macht, ein tatsächlich gemeinsames Leben, das beide miteinander gestalten. Insbesondere die gegenseitige Liebe öffnet uns mithin das Tor zu vielfältigen neuen Wert- und Selbsterfahrungen und befördert die Entwicklung und Ausformung unserer individuellen Person. Allerdings kann die Liebe nicht nur positive Folgen haben. Abgesehen von der unglücklichen Erfahrung der generell unerwiderten oder versagten Liebe, sei es am Anfang oder am Ende einer ›Liebesbeziehung‹, bietet gerade die große Nähe in einer auf wechselseitiger Liebe beruhenden Gemeinschaft zahlreiche Anlässe für mehr oder minder gravierende Verletzungen, etwa wenn persönliche Interessen des einen Partners mit jenen des anderen oder der Gemeinschaft kollidieren. Da wir uns hier so rückhaltlos wie nirgends einem anderen gegenüber aufschließen und als die Person offenbaren, die wir wirklich sind, können uns Meinungsverschiedenheiten, Zurückweisungen oder Vernachlässigungen zudem eher persönlich treffen und zu einer Vielzahl intensiver negativer Emotionen führen – möglicherweise sogar zu Hass. Durch den Hass wiederum ist zwar kaum eine derart vielseitige, dynamische und interaktive Gemeinschaft wie durch die Liebe möglich, doch kann er im Ausgang von Kolnais Beschreibungen trotzdem ebenso als Grundlage für eine komplexere, sich über die Zeit entwickelnde und verändernde Feindschaftsbeziehung verstanden werden. Insofern die dem Hass innewohnende Feindschaft gleichermaßen auf einer sachlichen Konkurrenz wie auf einer persönlichen beziehungsweise wertmäßigen Gegnerschaft beruht 578, birgt er prinzipiell die Möglichkeit, eine dauerhafte Feindschaft aufzubauen, wenn sie sich nämlich auf den persönlichen Gegensatz konzentriert, welcher grundsätzlich so lange bestehen bleibt, wie der Gehasste existiert oder die widerstreitenden Werte vertritt. Hass kann dann jederzeit neu entflammen, sobald der Feind in den Lebenskreis des Subjekts eintritt und ihm in irgendeiner Weise entgegenwirkt. Da der

577 578

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Vgl. GW 7, S. 23 f.; siehe Kapitel 2.6.2 (c). Siehe Kapitel 3.4.2.

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Komplexität

Hass die Unwerte seines Objekts nicht nur zum schlechthin Bösen verabsolutiert, sondern gleichzeitig die sachliche Gegnerschaft zu einem grundsätzlichen Kampf um das Schicksal der Welt erweitert 579, kann der ursprüngliche, auf eine konkrete Sache bezogene Konflikt mit Leichtigkeit auf immer neue Lebensbereiche übertragen werden, sodass wir über die primäre Hasssituation hinaus eine konstante Beziehung zu unserem Feind aufrechterhalten können, die schließlich unser gesamtes Leben prägt. Eine solche Entwicklung wird vor allem durch die symmetrisch angelegte Struktur von Hass und Feindschaft begünstigt, gemäß der auch unser Objekt uns als seinen Feind betrachten und seinerseits unsere Feindschaftsbeziehung pflegen kann. In dieser Weise kann unser Feind letztlich sogar zu einem unverzichtbaren Teil unseres Lebens werden, indem er als unser Negativ zu unserem Selbstverständnis beiträgt. Gehen wir allerdings in der Folge des Hasses eine anhaltende Feindschaftsbeziehung ein, beschränken wir unsere Person immer wieder auf einzelne Werte, sodass wir unsere persönliche Identität mit der Zeit womöglich nur noch aus dem Gegensatz zu unserem Feind gewinnen und für neue Werterfahrungen grundsätzlich verschlossen bleiben. Aus häufigem Hass kann damit nicht zuletzt eine Grundhaltung hervorgehen, die Kolnai zum weiteren Erscheinungskreis des Hasses zählt: »jenes Phänomen einer Verengerung des Liebesfundaments, das man ›Welthaß‹ nennen könnte.« 580 Im ›Welthass‹ sind wir letztlich so großen Teilen der Welt oder des Lebens gegenüber feindlich eingestellt, dass unsere allgemeine Lebenshaltung nahezu vollständig negativ ist und kaum mehr positive Werterlebnisse zulässt. Doch der Hass verengt unseren Wertblick meines Erachtens nicht nur, sondern durch seine Verabsolutierung verstärkt er zugleich unser Erlebnis der jeweiligen Unwertverhältnisse und folglich auch das der konträren Wertverhältnisse. Der ›Verteufelung‹ 581 bestimmter Unwerte steht fast zwangsläufig eine gewisse Idealisierung bestimmter positiver Werte gegenüber, sodass wir im Hass zwar ärmer an Werterfahrungen sind, diese dafür aber umso intensiver ausfallen. 582 Dadurch ermöglicht uns der Hass, so sehr er uns in unserer Wertwahrnehmung einschränken mag, eine besonders eindrückliche 579 580 581 582

Siehe Kapitel 3.4.3. EHH, S. 130. Siehe Kapitel 3.4.3; vgl. EHH, S. 135. Vgl. unter anderem EHH, S. 123 f., 130 f.

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Abschließende Synthese – Liebe & Hass

Selbsterfahrung: Er kann uns zeigen, welche Werte wir um nichts in der Welt bereit sind preiszugeben, welche Werte wir mithin als unverzichtbar zu unserer persönlichen Identität zählen, und uns dazu befähigen, uns selbst zu behaupten und für unsere Person einzutreten. Der Hass verleiht uns in dieser Weise wie kaum eine andere Emotion die Macht, unsere Werte zu verteidigen und gegen Widerstände in der Welt zu realisieren.

4.6 Moralität Nicht zuletzt lassen sich Liebe und Hass zu den moralisch relevantesten Emotionen zählen. Dabei kann die Liebe als gut gelten, insofern sie in dem Sinne wertschöpferisch wirkt, dass wir in ihr und ihrer Folge (höhere) Werte realisieren, wohingegen Hass als böse gelten kann, insofern er in dem Sinne wertvernichtend wirkt, dass wir in ihm und seiner Folge (höhere) Werte negieren: Gehen wir mit Scheler davon aus, dass der Wert des Guten allgemein in der Realisierung des jeweils höheren, insbesondere aber des höchsten Werts liegt, 583 so kann der Akt der Liebe zu einer Person und damit die diesen Akt vollziehende Person als der ursprünglichste Träger des Guten gelten, da in der Person-offenbarenden Transzendenzbewegung der Liebe der schlechthin höchste Wert, das heißt der Personwert selbst, verwirklicht wird. 584 Folgen wir Scheler ferner auch darin, »daß die Akte der Realisierung eines Fremdwertes höherwertig sind als jene der Realisierung eines Eigenwertes« 585, können aus der Liebe wiederum zahlreiche weitere gute Akte hervorgehen: nämlich dann, wenn wir infolge der liebenden Teilhabe an der Person des anderen und ihren Werten diese vor unseren eigenen (mit-)realisieren. Obschon die fortgesetzte Hingabe an den anderen und seine Interessen unseren moralischen Wert demnach erheblich steigern dürfte, ist sie meines Erachtens in Hinblick auf unsere eigene Person durchaus nicht unproblematisch. Wenn wir nämlich im Zuge der Liebe nur noch die Wertinteressen anderer im Blick haben und dadurch die Realisierung unserer Eigenwerte vernachlässigen oder gar unter-

583 584 585

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Vgl. GW 2, S. 47 f. Siehe dazu genauer Kapitel 2.5.4. GW 2, S. 118.

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Moralität

lassen, beschneiden wir uns damit am Ende selbst. 586 Zwar können wir so möglicherweise mehr zum Glück des anderen beitragen, jedoch sicherlich nicht zu unserem eigenen. Hierin mag auch ein Grund dafür liegen, warum große Liebe manchmal in ebenso großen Hass umschlagen kann: denn lässt die geliebte Person es zu oder fordert womöglich, dass wir uns ihr zuliebe stets zurücknehmen, statt ihrerseits an unseren Wertinteressen teilzunehmen oder zur Verwirklichung unserer Werte beizutragen, negiert sie im Grunde unsere Person und kann so letztlich zu einem Hassobjekt für uns werden. Zu einer glücklichen Liebesbeziehung bedarf es mithin weniger einer moralisch vielleicht höherwertigen Hingabe an den anderen als vielmehr einer wechselseitigen Teilhabe, die es beiden Liebenden erlaubt, ihre persönlichen Interessen zu realisieren. Hingegen lässt sich der Hass beziehungsweise die hassende Person gemäß Kolnais Darstellungen recht eigentlich als böse bezeichnen, insofern die wertvermindernde und selbstverschließende Bewegung des Hasses gerade die Person negiert und das Personsein verunmöglicht – mithin den Personwert selbst verneint. Ebenso kann der Hass weitere böse Akte nach sich ziehen, die gezielt gegen die Werte des anderen und ihre Verwirklichung gerichtet sind und im äußersten Fall sogar in der physischen Auslöschung des Gehassten enden. Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern der Hass, obzwar moralisch böse, unter Umständen nicht auch notwendig sein kann. So betont Kolnai wiederholt, dass »es vielleicht unvermeidlich ist, Haß zu empfinden« 587, wobei für ihn die Möglichkeit des Hasses prinzipiell immer schon da gegeben ist, wo wir überhaupt wertschätzen und lieben, wo uns etwas so wichtig und wertvoll ist, dass wir bereit sind, uns ganz und gar dafür einzusetzen. Demnach könne und müsse vielleicht eine »von Liebesbindungen und Hingabebereitschaft gestaltete Persönlichkeit […] an manchen Punkten ihrer Beziehungswelt sich in Haß und selbst starken Haß verstricken« 588. Zu dieser Einschätzung gelangt Kolnai jedoch nur unter der meines Erachtens unplausiblen Hintergrundannahme eines prinzipiell polaren Wechselverhältnisses von Liebe und Hass, nach der »Liebe ohne Hass nicht 586 Das ist ein Problem, das zum Beispiel Frankfurt, für den die Liebe primär in einer selbstlosen Sorge um das Wohl des anderen besteht, meines Erachtens nicht ausreichend würdigt; siehe Kapitel 2.1.2 (a). 587 EHH, S. 139. 588 EHH, S. 141.

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schlechthin möglich erscheint« 589. Ich möchte in dieser Frage dagegen noch einmal die wesensmäßige Funktion des Hasses in Erinnerung rufen. So sehr er auf die Zerstörung des anderen abheben mag, ist er doch in erster Linie eine selbsterhaltende Emotion, in der wir für uns und das, was uns absolut wichtig ist, eintreten. Wie wir sahen, ist er eine machtvolle Emotion, die uns dazu verhilft, zentrale Wertinteressen zu schützen und Angriffe gegen unsere Person abzuwehren. Überall da, wo unsere Existenz als Person unmittelbar bedroht ist, könnte Hass also mitunter unvermeidlich sein, um uns selbst zu erhalten.

4.7 Schlussbetrachtung 4.7.1 Liebe & Hass als Grundphänomene des menschlichen Lebens Wie unsere Untersuchungen zur Liebe und zum Hass mit Scheler und Kolnai deutlich gemacht haben, können beide Emotionen gleichermaßen als zentrale Grundphänomene des menschlichen Lebens gelten, in denen es in je besonderer Weise um unsere Existenz als individuelle Person geht. Dabei lässt sich die Liebe im Anschluss an Scheler als eine Person-aufschließende Bewegung verstehen, in der es zu einer einzigartigen intimen persönlichen Begegnung mit einem anderen Menschen kommt. Indem wir in der Liebe sowohl uns selbst öffnen wie an einer anderen Person teilhaben, befördert sie nicht nur in außerordentlichem Maße unsere persönliche Entfaltung und Entwicklung, sondern ermöglicht uns ebenso die Erfahrung einer echten Wir-Gemeinschaft. Insofern die individuelle Person des anderen und ihr Wert jedoch einzig in der Liebe zu ihr sichtbar werden, kann die Liebe zugleich als die größtmögliche Wohltat betrachtet werden, die wir einem anderen Menschen erweisen können. Der eigentümliche ›Witz‹ der Liebe kann indessen darin gesehen werden, dass es gerade die Teilhabe an einer anderen Person ist, die uns zu außergewöhnlichen Selbsterfahrungen führen kann: Die Liebe gilt nämlich wie keine andere Emotion einer anderen Person und lässt uns doch, wenn sie erwidert wird, wie keine andere Emotion in Kontakt mit unserer eigenen Person kommen.

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Der Hass wiederum lässt sich im Anschluss an Kolnai als eine Person-verschließende Bewegung beschreiben, in der wir uns gegen andere Menschen abgrenzen und schützen. In beispielloser Weise wehren wir im Hass eine existenzielle Bedrohung unserer wertrealisierenden Person durch andere ab und versuchen, uns selbst zu erhalten. Wenngleich er kein bereicherndes Erlebnis wie die Liebe ist, sind dennoch auch im Hass besondere Selbsterfahrungen möglich, insofern er uns unverzichtbare Grundwerte unserer Person aufzeigen kann. Da wir die erlebte persönliche Negation durch einen anderen im Hass allerdings durch eine ebensolche Negation seiner Person zurückweisen, kann er tatsächlich als eine der schwerwiegendsten Verletzungen gelten, die wir einem anderen Menschen zufügen können. Die eigentümliche Tragik des Hasses besteht darin, dass wir, um uns zu erhalten, letztlich ebenso unsere eigene Person negieren: Wie in keiner anderen Emotion treten wir im Hass für uns selbst, für unsere individuelle Person ein, jedoch reduzieren wir uns dabei auf einzelne Wertinteressen, die zwar wichtig für unsere Person sein mögen, die sie aber keineswegs in Gänze ausmachen. Bei allgemeiner Betrachtung können Liebe und Hass mithin durchaus als konträre Emotionen anmuten: Wie die Liebe eine positiv auf die Person gerichtete Emotion ist, die sie und ihren Wert erscheinen lässt, so findet im Hass eine Negation der Person statt. Im genaueren Vergleich ihrer Struktur lässt sich die These einer direkten Gegensätzlichkeit von Liebe und Hass hingegen schwerlich halten: So scheinen sie etwa in ihrem Objektbezug und ihrer Gefühlsqualität einander entgegengesetzt zu sein, doch während sich die Liebe prinzipiell vollkommen frei auf jedes beliebige persönliche Objekt richten kann, bleibt der Hass stets an eine bestimmte SubjektObjekt-Konstellation gebunden und ist daher sowohl in Hinsicht auf mögliche reale Objekte wie auf seine konkrete Gefühlsqualität eine deutlich eintönigere Emotion. Auch wird er anders als die Liebe immer von seinem realen Objekt provoziert, obschon er wiederum wie die Liebe ein emotionaler Akt ist und frei von der Person vollzogen werden muss. Ebenso können Liebe und Hass als symmetrische Emotionen gelten, wobei der Hass bereits gewissermaßen zwischen Subjekt und Objekt entsteht und insofern zur Erwiderung einlädt, während sich die Liebe zwar völlig einseitig vollziehen kann, zu ihrer Erfüllung aber notwendig der Erwiderung bedarf.

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4.7.2 Zum Fundierungsverhältnis von Liebe und Hass Noch nicht geklärt wurde bislang, inwiefern Liebe und Hass eigentlich einander bedingen oder auseinander abgeleitet werden können. Das soll an dieser Stelle nachgeholt werden. Sowohl nach Scheler wie nach Kolnai ist der Hass grundsätzlich in der Liebe fundiert, die beide Phänomenologen für die ursprünglichere Emotion erachten. In seiner Schrift Ordo Amoris erklärt Scheler die Liebe schließlich zum Urakt des Menschen, der ihn als wertrealisierendes Wesen auszeichne, und postuliert explizit einen Primat der Liebe gegenüber dem Hass: Immer aber gilt, daß der der Liebe gegenteilige Akt des Hasses, oder der emotionalen Wert- und darum auch Daseinsnegation, erst eine Folge irgendwie unrichtiger oder verwirrter Liebe ist […], daß jeder Haßakt durch einen Liebesakt fundiert ist, ohne den er des Sinnes ermangelte. 590

Der Hass ist für Scheler mithin kein eigenständiger Akt, sondern vielmehr eine »Reaktion gegen ein irgendwie falsches Lieben« 591, die ihren Sinn erst aus der grundlegenderen Liebe erhält, die in irgendeiner Form verletzt oder enttäuscht wurde. Insofern verweist jeder Hass auf primärere Liebesobjekte des Subjekts, die durch das jeweilige Hassobjekt verhindert, angegriffen oder zerstört werden. Anders als in Wesen und Formen der Sympathie versucht Scheler hier jedoch nicht, einen klaren Liebesbegriff auszuformulieren und das Spezifische des Liebesakts herauszustellen, sondern spricht nur recht vage von einem Urakt des menschlichen Geistes, der allen anderen Akten vorausgehe – also unser gesamtes Denken, Wollen und Fühlen bestimme – und unsere Werterkenntnis und Wertrealisierung leite. Der Hass ist in diesem Konzept dann lediglich eine aus unserem ursprünglicheren Lieben und Wertschätzen herrührende Enttäuschungsreaktion, die eintritt, wenn zentrale Werte oder Wertgegenstände verletzt oder missachtet werden. Im Gegensatz zu Scheler betont Kolnai zwar gerade die eigene Bedeutung unserer aversiven Emotionen, doch das Verhältnis von Liebe und Hass beschreibt er in ganz ähnlicher Weise. Für ihn geht die wesentlich umfassendere, unser gesamtes Leben durchdringende und gestaltende Liebe stets den vereinzelten, eher eruptiven Hassepisoden voraus und bildet gewis590 591

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GW 10, S. 368. GW 10, S. 369.

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sermaßen ihren Hintergrund. 592 Noch enger aber als Scheler bindet Kolnai den Hass dabei an die Liebe, insofern für ihn prinzipiell in jeder Liebe bereits die Möglichkeit des Hasses gegeben ist: In jedem freien guten Akte schwingt ein Pendelschlag zum Bösen hin mit, und zwar im Zusammenhange mit der besondern Wertbeziehung des betreffenden Aktes. In jeder Liebe ist ein Tröpfchen Haß gegen Feinde des Liebesobjektes oder namentlich ihm betont unähnliche Objekte […]. 593

Beide Autoren gehen in der Ableitung des Hasses aus der Liebe von einem äußerst unbestimmten Begriff der Liebe als einer Art allgemeiner Werterfassung und Wertschätzung aus. Auf die in dieser Arbeit entwickelten Begriffe der Liebe als eines fremd- und selbstoffenbarenden Transzendenzakts und des Hasses als eines sich gegen die Person richtenden Negationsakts ist ihre Fundierungsthese nicht anwendbar: Es ist im Gegenteil kaum plausibel zu machen, inwiefern der Hass, der die situativen, empirisch-subjektiven Einzelaspekte des Objekts verabsolutiert und dadurch dessen transzendentes individuelles personales Sein negiert, in der Liebe fundiert sein sollte, die das Objekt gerade in seinem objektiv-idealen Wertbild als individuelle Person sichtbar macht. Zuzustimmen wäre Kolnai allenfalls darin, dass die Liebe zu einem Objekt mittelbar Hass zu einem anderen Objekt begründen kann, etwa dann, wenn eine geliebte Person, die einen wichtigen Teil unseres Lebens ausmacht, mutwillig gefährdet, verletzt oder gar getötet wird. Aber auch das reale Liebesobjekt selbst ist durchaus dazu geeignet, Hass hervorzurufen, denn indem das liebende Subjekt sich ihm vollständig öffnet und in der Ganzheit seiner Person hingibt, macht es sich zugleich äußerst angreifbar und kann sich mitunter schwere persönliche Verletzungen zuziehen. Sowohl das Phänomen der emotionalen Kehrtwende nach einem unglücklichen Bruch der Liebesbeziehung wie das auf den ersten Blick paradox erscheinende Phänomen der Hassliebe lassen sich hieraus ohne Weiteres verständlich machen. In keinem der Fälle ist es allerdings die Liebe selbst, die den Hass begründet, sondern die erlebte Schädigung unserer Person. Die Liebe und ihre Folgen mögen zwar in verschiedener Weise die Möglichkeit zu derart tiefen Verletzungen schaffen und in diesem Sinne zu Hassakten beitragen, doch ist der Hass darum keineswegs in ihr fundiert. In unserer Analyse haben sich beide Emotio592 593

Vgl. EHH, S. 115–129. EWW, S. 71, Anmerkungen.

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nen vielmehr als völlig eigenständige, voneinander unabhängige Phänomene erwiesen, die einander in keiner Weise voraussetzen. Wenngleich der Hass anders als die Liebe stets in gewissem Maße provoziert wird, bleibt er wie die Liebe letztlich ein emotionaler Akt, der wie sie jeweils frei von der individuellen Person vollzogen wird.

4.7.3 Therapie des Hasses? Zum Schluss unserer Untersuchung wollen wir nun auf jene Frage zu sprechen kommen, die sich in Bezug auf den Hass geradezu zwangsläufig zu stellen scheint: die Frage nach einer möglichen Emotionstherapie. Als feindliche, gegen andere gerichtete Emotion, die äußerst zerstörerische Folgen nach sich ziehen kann, gilt er gewöhnlich als unbedingt zu vermeidende Emotion und wird als ›böse Emotion‹ in westlichen, christlich geprägten Kulturkreisen nicht selten tabuisiert. Als ein Therapeutikum wird dagegen, vor dem Hintergrund einer vermeintlichen Gegensätzlichkeit, immer wieder die Liebe ins Spiel gebracht. Bevor wir auf der Basis der von Scheler und Kolnai gewonnenen Begriffe der Liebe und des Hasses plausibel zu machen versuchen, wie der Hass durch die Liebe ›therapiert‹ werden kann – wiewohl sie sich in unserer Analyse nicht als direkt konträre Emotionen erwiesen haben –, wollen wir im Hinblick auf das Hasssubjekt zunächst jedoch fragen, inwiefern eine Überwindung des Hasses überhaupt möglich oder wünschenswert ist. Wie deutlich geworden ist, ist der Hass wesentlich eine selbsterhaltende Emotion. Im Hass wehren wir uns gegen Angriffe anderer, die unsere Existenz als die individuelle Person, die wir sind, gefährden. Zuverlässig verhindern ließe sich die Entstehung dieser Aversion demnach allein, indem wir unser grundsätzliches Streben nach Selbsterhaltung als Person aufgeben – zumindest so weit, dass wir dazu bereit sind, in entsprechenden Konfliktsituationen unseren persönlichen Werten zu entsagen. Dies allerdings hieße nichts anderes, als darauf zu verzichten, für uns selbst einzutreten und die Werte, die uns wichtig sind, nötigenfalls auch gegen Widerstände in der Welt zu realisieren. 594 Der Preis für ein solches Leben, in dem nicht einmal die 594 In eine ähnliche Richtung argumentiert Volker Caysa, wenn er zu bedenken gibt: »Nicht zu hassen kann auch Selbstverrat, Selbstunterdrückung und den Verzicht auf Selbstmacht bedeuten«; Haubl/Caysa (2007), S. 102.

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Möglichkeit zum Hass gegeben ist, wäre so am Ende nicht nur unsere persönliche Integrität, sondern ebenso unsere persönliche Verwirklichung. Eine vollständige Unterdrückung des Hasses erscheint insofern wenig erstrebenswert. Trotz seiner positiven, selbsterhaltenden Funktion bleibt der Hass dennoch eine negative Emotion, die paradoxerweise nicht zuletzt für das Hasssubjekt selbst schädlich ist: denn wie gesehen, reduziert sich der Hassende auf die jeweils gefährdeten Wertinteressen und beschneidet damit notwendig seine eigene Person. Eine rückhaltlose Hingabe an den Hass oder gar eine ›Pflege‹ dieser Aversion täte der Verwirklichung seines persönlichen Wertwesens daher nicht weniger Abbruch als ihre Verdrängung. Doch wie lässt sich vermeiden, dass wir in Situationen geraten, in denen wir uns behaupten und gegen andere verteidigen müssen, ohne uns selbst untreu zu werden? Wie angekündigt, kann uns hierbei durchaus die Liebe helfen. Um dies zu verstehen, müssen wir uns noch einmal vergegenwärtigen, was eine Person zum Hass treibt: Eine Person, die sich zu dem selbstschädigenden Schritt ›entschließt‹, zu hassen, um sich zu erhalten, befindet sich ganz offensichtlich in einer Notlage. Sie sieht sich in einer Situation, in der sie in zentralen Wertinteressen angriffen wird und als die Person, die sie ist, grundlegend infrage gestellt ist. Wer sich allerdings bereits in einer singulären Konfliktsituation als ganze Person existenziell gefährdet sieht, befindet sich meines Erachtens meist noch in einer weitaus größeren Notlage: nämlich in der, wichtige persönliche Werte generell kaum oder nicht angemessen umsetzen zu können, sei es aufgrund innerer oder äußerer Hindernisse. Eine wirksame Hasstherapie oder besser -prophylaxe sollte deshalb an diesem Punkt ansetzen – und hier kommt die Liebe ins Spiel. Wie wir sahen, ermöglicht uns die Liebe nicht nur die intime Begegnung mit einer anderen Person und ihren Werten, sondern sie kann uns ebenso in Kontakt mit uns selbst bringen und die vielseitige Entfaltung und Verwirklichung unserer eigenen Person befördern. Wie kaum etwas anderes trägt sie letztlich dazu bei, dass wir unseren persönlichen Werten folgen und sie in vielfältigster Weise in unserem Leben realisieren können. Indem sie hierdurch einer existenziellen persönlichen Gefährdung in einzelnen Konfliktsituationen grundlegend vorbeugt, kann die Liebe sicherlich als eines der effektivsten Prophylaktika für den Hass angesehen werden. Als ein freier Akt der Person lässt sich die Liebe jedoch ebenso wenig ›verordnen‹, wie sich der Hass ›heilen‹ lässt.

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Siglenverzeichnis

GW EHH

– Max Scheler: Gesammelte Werke – Aurel Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle EWW – Aurel Kolnai: Der ethische Wert und die Wirklichkeit SMA – Aurel Kolnai: The Standard Modes of Aversion: Fear, Disgust, and Hatred EVR – Aurel Kolnai: Ethics, Value, and Reality. Selected Papers of Aurel Kolnai GMS – Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten KpV – Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft

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Verzeichnis der verwendeten Bände der Gesammelten Werke Max Schelers

GW 2: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus GW 3: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze GW 6: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre GW 7: Wesen und Formen der Sympathie/Die deutsche Philosophie der Gegenwart GW 9: Späte Schriften GW 10: Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1: Zur Ethik und Erkenntnislehre

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Liebe und Hass

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Personen- und Sachregister

Personenregister Aristophanes 35 Augustinus 122 Baier, Annette 38 f. Bollnow, Otto Friedrich 107 Brentano, Franz 43, 99 ff. Caysa, Volker 196 Crane, Tim 100 Delaney, Neil 34 f., 37, 123, 130 Ekman, Paul 50 Frankfurt, Harry 30 ff., 41, 119, 121 Freud, Sigmund 17 Hartmann, Nicolai 108, 172 Helm, Bennett 21, 129 Husserl, Edmund 15, 43, 100

Kant, Immanuel 22, 79 Kenny, Anthony 45 Krebs, Angelika 39, 59 Nozick, Robert 33 f. Platon 35 Rorty, Amélie O. 38 Scruton, Roger 32 f. Singer, Irving 26–29, 115 f., 118 Solomon, Robert C. 35 ff. Spaemann, Robert 98, 100 Velleman, James David 22–25, 27, 112, 115, 117 f., 121, 130 Williams, Bernard 25

Sachregister Achtung 23 ff. Angst 144, 146 ff. Siehe auch Aversionen Aversionen –, als moralische Ausschlusserlebnisse 134 f., 143 f., Siehe auch Ekel: geistiger Ekel, Hass: und das Böse –, Bedrohung und Abwehr 156–159 –, Grundformen 135–146 Einsfühlung 57 f., 59 Ekel Siehe auch Aversionen –, geistiger Ekel 152 ff. –, sinnlicher Ekel 150 ff. –, und Tod 155 f. Emotion –, Akte 46, 48, 111 f., 181 –, Antwortsreaktionen 44 f., 56 –, Asymmetrie zwischen positiven und negativen Emotionen 135–141

–, Ausdrucksphänomene 50 –, Funktionen 45, 48 –, Intentionalität/Objektbezug 45 f., 48, 111 f., 141 ff., 180 ff. –, Schichtenmodell der Emotionalität 46 f., 120 –, Zuständlichkeit/Gefühlsqualität 43 ff., 111 ff., 141 f., 180–183 fremdpsychisches Erleben 49 ff. Gefühlsansteckung 54 ff. Geist Siehe Intentionalität Hass Siehe auch Aversionen –, Absolutheit 168 f., 176, 183 f., 189 –, Aktcharakter 181 ff. –, als Lebenskonstante 157 f. –, Entrüstung und Schädigung 163 ff. –, Feindschaftserlebnis 159 ff. –, Gefühlsqualität 182 f. –, Hassgenese 173 ff.

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Personen- und Sachregister –, Hassobjekt 163–175 –, Hasstypen 164 f. –, persönliche und sachliche Gegnerschaft (objektive Feindschaftssituation) 165 f., 168 f., 173 ff. –, Überwindung 177, 196 f. –, und das Böse 143, 167–176, 190 ff. –, und das Gute 169–172, 176 –, und die Negation der Subjektperson 166, 174 f., 185 –, und sein Verhältnis zur Liebe 194 ff. –, und Selbsterhaltung 161 f., 189 f., 196 f. –, Vernichtungsintention 162 f., 175 f., 184 –, Wechselseitigkeit 186–189 –, Welthass 189 –, Wertkonflikt 165–169, 173 ff. Hochmut 144 ff. Intentionalität 43, 99 ff., Siehe auch Emotion, Person Liebe –, Absolutheit 183 f. –, Aktcharakter 58, 111 f., 180–183 –, Aktmitvollzug Siehe Teilhabe –, als Idealisierung 77 –, als Wertschätzung 22–25 –, als Wertverleihung 26–29, 31 f., 118 –, als Gefühlszustand 74 –, als imaginativer Akt 28 –, als interaktive Beziehung 35–40 –, als pädagogische Einstellung 77 f. –, als Streben nach Verschmelzung 32–37 –, als Transzendenzakt 68, 71, 73, 90 f., 95 f., 113–116, 123 f. –, als Urakt des menschlichen Geistes 16, 91, 194 –, als Werterhöhung 64, 66–73 –, als Wohlwollen 30 ff. –, Gefühlsqualität 112 f., 182 f. –, Gründe 37, 129 ff. –, und ›Fehler‹ des Objekts 75 f., 91 –, und das Gute 93 ff., 190 f.

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–, und die Entdeckung der Person 24, 94 f., 113–120 –, und die Erweiterung des Werthorizonts 68 f., 113 f., 124 f. –, und die Selbstoffenbarung der Person 121 ff. –, und Gemeinschaft 32–36, 125– 128, 187 f. –, und Mitgefühlsphänomene 58–63 –, und Selbstverwirklichung 124 f., 187 f. –, und Teilhabe 90–93, 119 ff., 124 ff. –, und Verletzung 23 f., 38, 121, 188 –, Wechselseitigkeit 121–125, 186 ff. Mensch –, geistige Natur Siehe Person –, psychophysische Natur 48, 84–87, 178 Mitgefühlsphänomene –, Miteinanderfühlen 52 ff., 126, 187 f. –, Mitfühlen 51 f. –, Nachfühlen 49 ff. ordo amoris 86 f. Person –, als aktvollziehendes Wesen 79 ff. –, als Einheit der intentionalen Akte des Menschen 99–105 –, in Raum und Zeit 81, 106–109 –, Individualität 79 f., 83 f., 102, 117 –, Personwert 93 ff., 115 ff., 130 –, und Welt 84–89, 102 –, Wertbezogenheit 82–89, 101–105 phänomenologische Methode 15 Sympathie Siehe Mitgefühlsphänomene Umwelt/Milieu und Schicksal 87 ff. Wert –, empirisch-subjektive und ideal-objektive Werte 69–73, 83–89 –, materiale Wertethik 16, 46 f. –, Werterfassung 45 ff. –, Wertgegenstand 64 ff. –, Wertkonflikt 87 f., Siehe auch Hass –, Wertmikrokosmos 102, 106 –, Wertnegation 144, 153 f., 171 f. –, Wertstufen 46 f., 75 f., 94 f.

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