Das Verständnis des Ethischen: Eine hermeneutisch-phänomenologische Analyse der alltäglichen Erfahrung des Ethischen im Anschluss an Martin Heidegger 9783495825365, 9783495492185


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EINLEITUNG:
§ 1 Allgemeine Einführung in die vorliegende Untersuchung: Eingrenzung der Thematik
§ 2 Die Frage der vorliegenden Untersuchung
METHODIK: Die adäquate Methode, um das Phänomen des Verständnisses des Ethischen zu analysieren
Einführung in die Untersuchungsmethode
Kapitel 1. Zugangsart zum Phänomen: Hermeneutische Phänomenologie
§ 3 Das faktische Leben
§ 4 Hermeneutische Phänomenologie
§ 5 Methode der hermeneutischen Phänomenologie: Interpretation und Destruktion
α. Interpretation und hermeneutische Situation
β. Destruktion
§ 6 Die Klärung der Interpretation der vorliegenden Arbeit
Kapitel 2. Die formale Anzeige und die methodische Vorgehensweise der vorliegenden Untersuchung
§ 7 Das methodische Mittel der formalen Anzeige
§ 8 Die formale Anzeige dieser Untersuchung
α. Die Formulierung der formalen Anzeige der vorliegenden Interpretation
β. Heideggers Begriff von ἦθος
§ 9 Die theoretische Trennung der ontischen Ebene und der ontologischen Ebene
α. Abgrenzung der Ebenen
β. Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung
ERSTER TEIL: Das Intentionalsein des Daseins, die Tendenz zur Verdeckung und das Problem des Scheins
Einführung in den ersten Teil
Kapitel 1. Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik
§ 10 Die Problematik der Konstitution des Selbst als die Vorbereitung der ethischen Problematik
α Einführung in den ontologischen Begriff des Selbst
β. Einführung in den ontologischen Begriff der Welt
γ. Das Selbst und die Welt. Einführung in den ontologischen Begriff des Anderen
δ. Das Selbst, der Andere und das ›Selbst als ein Anderer‹ : Einführung in die Uneigentlichkeit und das Problem des Intentionalseins
§ 11 Das Intentionalsein des Daseins
§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit
α. Verstehendes Intentionalsein: Verstehen und Auslegung als Existenzialien
β. Gestimmtes Intentionalsein: Befindlichkeit als Existenzial
γ. Horizontal gemeinsames Intentionalsein: Rede als Existenzial
§ 13 Das Intentionalsein des Daseins als ein Ganzes: Die Sorge
§ 14 Der ursprüngliche Sinn des Intentionalseins: Die Zeitlichkeit
α. Die drei Korrelate des Intentionalseins: Selbst-, Mit- und Umwelt
§ 15 Die erreichte hermeneutische Situation: das Intentionalsein und die Problematik des Ethischen
Kapitel 2. Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins
§ 16 Das Intentionalsein als Wahrsein
§ 17 Schein und Verdeckung
§ 18 Das Intentionalsein als Verdeckendes: Das Verfallen
α. Das Gerede und das Problem des Scheins
β. Das alltägliche Gerichtetsein: Die Neugier
γ. Die Zweideutigkeit des Verstehens
§ 19 Das Sein der Aussage und das Problem des Scheins
α. Das Sein der Aussage
β. Das ontologische Verhältnis zwischen Aussage und Auslegung
γ. Die Aussage und das Problem des Scheins
§ 20 Die inhärenten Schwierigkeiten in der Sprache, welche die Untersuchung eines Phänomens erschweren
§ 21 Die erreichte hermeneutische Situation: Das Problem des Scheins und die Problematik des Ethischen
ZWEITER TEIL: Das alltägliche Verständnis des Ethischen, das Problem der Versicherung eines ursprünglichen Sinns des Ethischen und die Erfahrung der ethischen Appellation
Einführung in den zweiten Teil
Kapitel 1. Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen in Bezug auf die moralische Norm
§ 22 Die Abgrenzung des Begriffs des Moralitätsbereichs und das alltägliche Verständnis des Ethischen
§ 23 Das alltägliche Verständnis des Ethischen und dessen Bezug auf die moralischen Normen im Moralitätsbereich
α. Der allgemeine Begriff der Norm und die Skizze eines Begriffs der moralischen Norm
β. Das Sein der prohibitiven moralischen Norm und das alltägliche Verständnis des Ethischen
§ 24 Das Sein des Man und die prohibitive moralische Norm
§ 25 Die Bewegung des Verfallens und der Moralitätsbereich
α. Die Bewegtheit des Verfallens
β. Die Bewegtheit des ›sich in Bezug auf die moralische Norm Verstehens‹
γ. Die Ersetzung des ethischen Seins des Daseins und der Andersheit des Anderen
§ 26 Die erreichte hermeneutische Situation: der erreichte Sinn des Ethischen und die Umwandlung der Fragestellung
Kapitel 2. Der methodische Wert einer moralischen Norm für eine phänomenologische Untersuchung des Ethischen
§ 27 Die moralische Norm als Zeugnis
§ 28 Der Verweisungscharakter des Zeugnisses und sein methodischer Wert
§ 29 Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses
α. Wahrheit einer Aussage, Evidenz, Erfüllung und Überprüfung
β. Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses und die korrelative Seinsart des Daseins gegenüber diesem Seienden
§ 30 Die erreichte hermeneutische Situation: Die moralische Norm als ungewisses Zeugnis des Ethischen und die erneute Umwandlung der methodischen Fragestellung
Kapitel 3. Der methodische Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens
§ 31 Die Erfahrung der Bezeugung als adäquater methodischer Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens im Rahmen einer phänomenologischen Untersuchung
§ 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung
α. Die Erfahrung der Angst als Bezeugung des In-der- Welt-seins als solches und der Möglichkeit einer eigentlichen Existenz
β. Die Erfahrung des Todes als Bezeugung des Sinns der Sorge und des eigenen Seinkönnens
γ. Die Erfahrung des Rufs des Gewissens als Bezeugung der Nichtigkeit (bzw. des Grundseins) des Daseins und des situationell-individuellen Charakters des Selbstseinkönnens
§ 33 Die erreichte hermeneutische Situation: Verantwortlichkeit und die Bezeugung als möglicher Zugang zum Ethischen
Kapitel 4. Die Erfahrung der Irregularität und die Erfahrung der Appellation des Ethischen
§ 34 Die Beschreibung der Erfahrung der Irregularität
§ 35 Die Forderung einer Antwort zum ethischen Ereignis, der ursprüngliche Sinn des Ethischen und das ethische Sein des Daseins
α. Der ursprüngliche Sinn des Ethischen und das Korrelat des von dem ethischen Ereignis Aufgefordertwerdens
β. Das von dem Ereignis Betroffene und das mitverstandene ethische Sein des Daseins
§ 36 Die Analysen der positiven Modi der Fürsorge und der Sicht dieser Modi aus der erreichten hermeneutischen Situation heraus
SCHLUSS: Rückblick auf die Forschungsfragen
Literaturverzeichnis
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Das Verständnis des Ethischen: Eine hermeneutisch-phänomenologische Analyse der alltäglichen Erfahrung des Ethischen im Anschluss an Martin Heidegger
 9783495825365, 9783495492185

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Alvaro Ledesma Albornoz

Das Verständnis des Ethischen

KONTEXTE

Eine hermeneutisch-phänomenologische Analyse der alltäglichen Erfahrung des Ethischen im Anschluss an Martin Heidegger

ALBER PHÄNOMENOLOGIE https://doi.org/10.5771/9783495825365

.

B

ALBER PHÄNOMENOLOGIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

PHÄNOMENOLOGIE Texte und Kontexte Herausgegeben von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und Walter Schweidler

KONTEXTE Band 31

https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Álvaro Ledesma Albornoz

Das Verständnis des Ethischen Eine hermeneutisch-phänomenologische Analyse der alltäglichen Erfahrung des Ethischen im Anschluss an Martin Heidegger

Verlag Karl Alber Baden-Baden

https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Álvaro Ledesma Albornoz Understanding the Ethical A Hermeneutic-Phenomenological Analysis of the of the everyday experience of the ethical following Martin Heidegger This paper begins with a full explanation of the hermeneutic-phenomenological method developed by Martin Heidegger in the years 1919–1929. This is followed by a detailed presentation and analysis of the Dasein ontology elaborated in Being and Time. Afterwards, Heidegger’s method and Dasein ontology are used to analyse both the everyday experience of what is ethical as well as the ethically experienced being. According to the hermeneutic-phenomenological method, the analysis moves on the ontological level, which means that it is not the (ontic) fact that is analysed, but rather the meaning witnessed in it and the structures of being that form meaning. The elaboration of these topics allows the present work to determine both the different meanings of the ethical and the conditions of their experience.

The author: Alvaro Ledesma Albornoz studied Liberal Arts with a specialisation in Philosophy at the Universidad San Francisco de Quito. In 2016 he completed his Master’s program in Philosophy at the Pontificia Universidad Católica de Chile. In 2014–2018, he was a PhD scholar at the Agencia Nacional de Investigación y Desarrollo Chile (ANID). In 2020, he completed his doctorate in philosophy at the Albert Ludwigs University of Freiburg and at the Pontificia Universidad Católica de Chile. He is currently working as a professor of philosophy at the Universidad San Francisco de Quito, Ecuador. His research focuses on phenomenology, philosophy and method, epistemology and ethics.

https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Álvaro Ledesma Albornoz Das Verständnis des Ethischen Eine hermeneutisch-phänomenologische Analyse der alltäglichen Erfahrung des Ethischen im Anschluss an Martin Heidegger Die vorliegende Arbeit beginnt mit einer vollständigen Erklärung der hermeneutisch-phänomenologischen Methode, welche in den Jahren 1919–1929 von Martin Heidegger entwickelt wurde. Es folgt eine ausführliche Darstellung und Analyse der in Sein und Zeit ausgearbeiteten Daseinsontologie. Danach werden die Methode und die Daseinsontologie Heideggers benutzt, um sowohl die alltägliche Erfahrung des Ethischen als auch das ethisch erfahrende Seiende zu analysieren. Gemäß der hermeneutisch-phänomenologischen Methode bewegt sich die vorgenommene Analyse auf der ontologischen Ebene, was bedeutet, dass nicht der (ontische) Sachverhalt analysiert wird, sondern der in ihm bezeugte Sinn und die Seinsstrukturen des sinnbildenden Seienden. Die Ausarbeitung dieser Themen erlaubt es der vorliegenden Arbeit sowohl die verschiedenen Bedeutungen des Ethischen als auch die Bedingungen ihrer Erfahrung zu bestimmen.

Der Autor: Alvaro Ledesma Albornoz studierte Liberal Arts mit dem Schwerpunkt Philosophie an der Universidad San Francisco de Quito. 2014– 2016 absolvierte er sein Masterstudium in Philosophie an der Pontificia Universidad Católica de Chile. 2014–2018 war er Promotionsstipendiant der Agencia Nacional de Investigación y Desarrollo Chile (ANID). 2020 promovierte er im Fach Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und an der Pontificia Universidad Católica de Chile. Aktuell arbeitet er als Professor für Philosophie an der Universidad San Francisco de Quito, Ecuador. Seine Forschungsschwerpunkte sind Phänomenologie, Philosophie und Methode, Erkenntnistheorie und Ethik.

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Diese Forschungsarbeit wurde vom Stipendienprogramm für ausländische Doktoranden in Chile 2014, ANID (Agencia Nacional de Investigación y Desarrollo) Chile finanziert. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© VERLAG KARL ALBER – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper

www.verlag-alber.de ISBN 978-3-495-49218-5 (Print) ISBN 978-3-495-82536-5 (ePDF)

https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Meinen Eltern gewidmet. Danke, dass ihr immer für mich da wart. Dedicado a mis padres. Gracias por estar siempre ahí para mí.

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Danksagung

Das Erreichen dieses Ziels verdanke ich vielen Menschen, die während dieser Jahre eine Stütze waren und mich nicht fallen ließen. Ganz besonders danke ich Nicoletta Fanfani für ihre tägliche Liebe, ihre Ratschläge, Kommentare, Unterstützung und Motivation, ohne sie wäre dieses Buch niemals entstanden. Meiner Mutter Sandra Albornoz, meinem Vater Alvaro F. Ledesma, meiner Großmutter Magdalena Villacreses, meiner Schwester Sandra C. Ledesma, meiner Tante María Liz, meinem Onkel Ivan, meinem Cousin Juan Camilo Cruz, meinen Cousinen, Karina Morales, Javier Castro und meiner ganzen Familie möchte ich für ihre grenzenlose Ermutigung und Liebe danken. Ich danke auch Paul Cadena, Juan Francisco Carrera, Eduardo Cadena, Esteban Duthan, Samira Yances, Ana Cristina Cañizares und Andrés Coronado, weil sie die Freunde waren, die mich jeden Tag aus der Entfernung unterstützen haben. Ebenfalls danken möchte ich meinen Freunden in Deutschland Juliano Almeida, Katharina Beck, Alyssa Lang, Katja Soeltenfuss, Santiago Costas, Ann Kathrin Gerstner, Marie Mahrt, Michaela Nguyen und Svenja Groschupp, weil sie Deutschland in der Farbe der Freundschaft gefärbt haben. Ein besonderer Dank gilt meinen Kommilitonen und Freunden José Pedro Cornejo, Christopher Gutland, José Luis Luna, Alexandra Acevedo, Mauricio Sepulveda, Udo Richter, Andrés Gatica, Pavel Veraza, Natalia Rodríguez, Mayco Burgos und Erika Whitney, mit denen ich nicht nur philosophische Ideen, sondern auch besondere Momente geteilt habe. Prof. Dr. Francisco De Lara gilt meine Dankbarkeit für sein Vertrauen und seine Ermutigungs- und Motivationsworte, die mir geholfen haben, dieses Ziel zu erreichen. Ich bedanke mich auch bei Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander, der eine Cotutelle mit der AlbertLudwigs-Universität Freiburg ermöglicht hat und mir alle Freiheiten bei der Ausarbeitung dieser Arbeit gelassen hat. 9 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Danksagung

Für die sprachlichen Korrekturen danke ich Nicoletta Fanfani und Carla Vlad des Korrekturservices des FRS der Albert-LudwigsUniversität Freiburg. Ohne ihre Hilfe wäre die Aufgabe, eine Doktorarbeit auf Deutsch zu schreiben, unmöglich gewesen. Ich bedanke mich auch sehr bei Hilde Fanfani und Usch Baur für die letzte sprachliche Korrektur der Arbeit. Ich danke auch den Professoren und Professorinnen der Katholischen Universität Chile und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ebenfalls bedanke ich mich bei den Doktorprogrammen der Katholischen Universität Chile und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Schließlich bedanke ich mich bei ANID (Agencia Nacional de Investigación y Desarrollo) Chile für die großzügige Finanzierung dieser Forschung. Freiburg im Breisgau, den 18. Mai 2019

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Inhaltsverzeichnis

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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EINLEITUNG: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 1. Allgemeine Einführung in die vorliegende Untersuchung: Eingrenzung der Thematik . . . . . . . . . . § 2 Die Frage der vorliegenden Untersuchung . . . . . . .

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METHODIK: Die adäquate Methode, um das Phänomen des Verständnisses des Ethischen zu analysieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung in die Untersuchungsmethode . . . . . . . . . . Kapitel 1. Zugangsart zum Phänomen: Hermeneutische Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . § 3 Das faktische Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4 Hermeneutische Phänomenologie . . . . . . . . . . . § 5 Methode der hermeneutischen Phänomenologie: Interpretation und Destruktion . . . . . . . . . . . . α. Interpretation und hermeneutische Situation . . β. Destruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 6 Die Klärung der Interpretation der vorliegenden Arbeit Kapitel 2. Die formale Anzeige und die methodische Vorgehensweise der vorliegenden Untersuchung . . . . § 7 Das methodische Mittel der formalen Anzeige . § 8 Die formale Anzeige dieser Untersuchung . . . α. Die Formulierung der formalen Anzeige der vorliegenden Interpretation . . . . . . . . β. Heideggers Begriff von ἦθος . . . . . . . .

17 20

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Inhaltsverzeichnis

§9

Die theoretische Trennung der ontischen Ebene und der ontologischen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . α. Abgrenzung der Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . β. Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung . . . . .

ERSTER TEIL: Das Intentionalsein des Daseins, die Tendenz zur Verdeckung und das Problem des Scheins . . . . . . . Einführung in den ersten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 1. Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 10 Die Problematik der Konstitution des Selbst als die Vorbereitung der ethischen Problematik. . . . . . . . α. Einführung in den ontologischen Begriff des Selbst β. Einführung in den ontologischen Begriff der Welt γ. Das Selbst und die Welt. Einführung in den ontologischen Begriff des Anderen . . . . . . . . δ. Das Selbst, der Andere und das ›Selbst als ein Anderer‹ : Einführung in die Uneigentlichkeit und das Problem des Intentionalseins . . . . . . . . . § 11 Das Intentionalsein des Daseins . . . . . . . . . . . . § 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . α. Verstehendes Intentionalsein: Verstehen und Auslegung als Existenzialien . . . . . . . . . . . β. Gestimmtes Intentionalsein: Befindlichkeit als Existenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . γ. Horizontal gemeinsames Intentionalsein: Rede als Existenzial . . . . . . . . . . . . . . . § 13 Das Intentionalsein des Daseins als ein Ganzes: Die Sorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 14 Der ursprüngliche Sinn des Intentionalseins: Die Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . α. Die drei Korrelate des Intentionalseins: Selbst-, Mit- und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . .

12 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

80 81 87

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93 95 98

. 107 . 115 . 126 . 132 . 133 . 144 . 151 . 158 . 161 . 169

Inhaltsverzeichnis

§ 15 Die erreichte hermeneutische Situation: das Intentionalsein und die Problematik des Ethischen . . . . . . . . . Kapitel 2. Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins § 16 Das Intentionalsein als Wahrsein . . . . . . . . . . . . § 17 Schein und Verdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . § 18 Das Intentionalsein als Verdeckendes: Das Verfallen . . α. Das Gerede und das Problem des Scheins . . . . . . β. Das alltägliche Gerichtetsein: Die Neugier . . . . . γ. Die Zweideutigkeit des Verstehens . . . . . . . . . § 19 Das Sein der Aussage und das Problem des Scheins . . . α. Das Sein der Aussage . . . . . . . . . . . . . . . β. Das ontologische Verhältnis zwischen Aussage und Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . γ. Die Aussage und das Problem des Scheins . . . . . § 20 Die inhärenten Schwierigkeiten in der Sprache, welche die Untersuchung eines Phänomens erschweren. . . . . § 21 Die erreichte hermeneutische Situation: Das Problem des Scheins und die Problematik des Ethischen . . . . . . .

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ZWEITER TEIL: Das alltägliche Verständnis des Ethischen, das Problem der Versicherung eines ursprünglichen Sinns des Ethischen und die Erfahrung der ethischen Appellation 219 Einführung in den zweiten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 1. Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen in Bezug auf die moralische Norm . . . . . . . . § 22 Die Abgrenzung des Begriffs des Moralitätsbereichs und das alltägliche Verständnis des Ethischen . . . . . . . . § 23 Das alltägliche Verständnis des Ethischen und dessen Bezug auf die moralischen Normen im Moralitätsbereich α. Der allgemeine Begriff der Norm und die Skizze eines Begriffs der moralischen Norm . . . . . . . . β. Das Sein der prohibitiven moralischen Norm und das alltägliche Verständnis des Ethischen . . . . . .

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222 222 231 232 234 13

https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Inhaltsverzeichnis

§ 24 Das Sein des Man und die prohibitive moralische Norm . § 25 Die Bewegung des Verfallens und der Moralitätsbereich . α. Die Bewegtheit des Verfallens . . . . . . . . . . . β. Die Bewegtheit des ›sich in Bezug auf die moralische Norm Verstehens‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . γ. Die Ersetzung des ethischen Seins des Daseins und der Andersheit des Anderen . . . . . . . . . . . . § 26 Die erreichte hermeneutische Situation: der erreichte Sinn des Ethischen und die Umwandlung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 2. Der methodische Wert einer moralischen Norm für eine phänomenologische Untersuchung des Ethischen . . . . § 27 Die moralische Norm als Zeugnis . . . . . . . . . . . § 28 Der Verweisungscharakter des Zeugnisses und sein methodischer Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 29 Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses . . . . . . . . α. Wahrheit einer Aussage, Evidenz, Erfüllung und Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . β. Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses und die korrelative Seinsart des Daseins gegenüber diesem Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 30 Die erreichte hermeneutische Situation: Die moralische Norm als ungewisses Zeugnis des Ethischen und die erneute Umwandlung der methodischen Fragestellung

https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

252 258

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. 265 . 265 . 269 . 273 . 273 . 280

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Kapitel 3. Der methodische Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 31 Die Erfahrung der Bezeugung als adäquater methodischer Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens im Rahmen einer phänomenologischen Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . α. Die Erfahrung der Angst als Bezeugung des In-derWelt-seins als solches und der Möglichkeit einer eigentlichen Existenz . . . . . . . . . . . . . . . .

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242 247 247

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Inhaltsverzeichnis

β.

Die Erfahrung des Todes als Bezeugung des Sinns der Sorge und des eigenen Seinkönnens . . . . . . γ. Die Erfahrung des Rufs des Gewissens als Bezeugung der Nichtigkeit (bzw. des Grundseins) des Daseins und des situationell-individuellen Charakters des Selbstseinkönnens . . . . . . . . . § 33 Die erreichte hermeneutische Situation: Verantwortlichkeit und die Bezeugung als möglicher Zugang zum Ethischen . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 4. Die Erfahrung der Irregularität und die Erfahrung der Appellation des Ethischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 34 Die Beschreibung der Erfahrung der Irregularität . . . . § 35 Die Forderung einer Antwort zum ethischen Ereignis, der ursprüngliche Sinn des Ethischen und das ethische Sein des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . α. Der ursprüngliche Sinn des Ethischen und das Korrelat des von dem ethischen Ereignis Aufgefordertwerdens . . . . . . . . . . . . . . . β. Das von dem Ereignis Betroffene und das mitverstandene ethische Sein des Daseins . . . . . § 36 Die Analysen der positiven Modi der Fürsorge und der Sicht dieser Modi aus der erreichten hermeneutischen Situation heraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . SCHLUSS: Rückblick auf die Forschungsfragen

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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15 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

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EINLEITUNG: Phänomenologie kann nur phänomenologisch zugeeignet werden, d. h. nicht so, daß man Sätze nachredet, Grundsätze übernimmt oder an Schuldogmen glaubt, sondern durch Ausweisung. (Heidegger, GA 63, S. 46)

§ 1 Allgemeine Einführung in die vorliegende Untersuchung: Eingrenzung der Thematik Eine der Hauptaufgaben einer phänomenologischen Forschung ist es, die Sinnbildung in der Erfahrung zu ergreifen, zu verstehen und zu beschreiben 1. Um die Sinnbildung in der Erfahrung zu verstehen, muss man nicht nur die Seinsart des erfahrenden Seienden (d. i. das Intentionalsein), sondern auch die Seinsart des erfahrenen Seienden (d. i. das Korrelatsein) erfassen, analysieren und erklären. Um zu erklären, warum etwas als etwas verstanden wird, muss man sich nicht nur fragen, wie dieses etwas erfahren wird, sondern auch, wie es möglich ist, dieses etwas erfahren zu können. Die phänomenologische Frage ist dementsprechend eine zweifache: Sie fragt einerseits nach dem Sinn des verstandenen Gegenstandes und andererseits nach den Bedingungen des Verständnisses dieses Sinns 2. Der Sinn ist allerdings nicht etwas Abstraktes, das ›getrennt‹ von dem bedeutsamen erfahrenen Gegenstand ›existiert‹. Der Sinn ist eigentlich die Art und Weise, in der der Gegenstand verstanden bzw. erfahren wird. Dies geschieht nicht in einer Isolation, sondern in einem Verständnishorizont (Kontext des Sinnes). Die PhänomenoDie Beschreibung bzw. Deskription ist die Behandlungsart der phänomenologischen Untersuchung. Sie ist laut Heidegger sowohl eine »direkte Selbsterfassung des Thematischen« als auch »ein heraushebendes Gliedern des an ihm selbst Angeschauten.« (GA 20, S. 107). Sie ist dementsprechend eine analytische Erfassung des Angeschauten. 2 Sheehan drückt es so aus: »[P]henomenology focuses on the a priori correlation between things-as-meaningful and the constitution of their meaningfulness, where ›constitution‹ refers to the bestowal of sense upon objects (Sinngebung).« (Sheehan, in Dreyfus; Wrathall (Hrsg.), 2005, S. 196). 1

17 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Einleitung

logie ist hermeneutisch, insofern sie den Sinn innerhalb dieses Horizonts (in dem man alltäglich lebt) untersucht 3. Die Absicht der vorliegenden Arbeit liegt darin, die Sinnbildung der alltäglichen ethischen Erfahrung hermeneutisch-phänomenologisch zu untersuchen und aufzuzeigen. Diese Absicht kann nur durch die Erforschung sowohl der Seinsart des erfahrenden als auch des erfahrenen Seienden erfüllt werden. Die Frage ist nun, wie eine solche Forschung angegangen werden soll. Dieses Unternehmen selbst, wie jede Untersuchung des Sinns, beginnt mit einem vorgegebenen Sinn(-Horizont), d. i. mit einer bestimmten Weise, das zu untersuchende Objekt und den Vorgang des Untersuchens selbst zu erfahren bzw. zu verstehen. Die vorliegende Abhandlung entwickelt sich im Rahmen der Forschung Martin Heideggers über das In-der-Welt-sein (Daseinsanalytik), welche 1919 in Freiburg begann und ihren Höhepunkt in der Marburger Zeit (1923– 1928) insbesondere im Werk Sein und Zeit (SZ) erreichte. Heideggers Forschung des In-der-Welt-seins liefert komplexe Überlegungen nicht nur zur Seinsart des Intentionalseins und des Korrelatseins überhaupt, sondern auch zum Verständnishorizont, in dem die Frage nach der ethischen Erfahrung gestellt werden muss. Dazu zählt die Konzeption des ethischen erfahrenden Seienden als ein Seiendes, dessen Sein einen Selbstbezug impliziert und welches in der Welt mit anderen Seienden ist, die auch die Seinsart des In-der-Welt-seins aufweisen. Im Rahmen der heideggerschen Philosophie kann die ethische Problematik auf verschiedene Weisen erforscht und interpretiert werden. Die Heidegger-Forschung hat sich hauptsächlich mit drei Perspektiven auseinandergesetzt: 1. Welche ethischen Komponenten weist die Philosophie Heideggers auf und wie können diese Komponenten benutzt werden, um eine Ethik oder ethische Theorie zu begründen? 4 2. Was ist der konkrete Sinn der Ethik und des ethischen Handelns in der Philosophie Heideggers? 5 3. Welches Verhältnis beDazu siehe §§ 3, 4 u. 5 der vorliegenden Arbeit. Dazu siehe z. B. Olafson, 1967 u. 1999; Sitter, 1975; Rentsch, 1990; Hodge, 1995; Luckner, 2001 in Rentsch (Hrsg.) u. 1998 in Waldenfels u. Därmann; Kellner, in Macann (Hrsg.), 2007 insbes. S. 205–206; Geniusas, 2009; Crowell, 2013; Golob 2014. Siehe auch: Gadamer, 1987a; Brandner, 1992; Köhler, in Großmann; Jamme (Hrsg.), 2000; Taylor, 2003; Miyasaki, 2007. Siehe auch Hatab (2000), der Heideggers Philosophie in Verbindung mit der moralischen Philosophie bringt. und in gewissermaßen 5 Dazu siehe z. B. Moyse, 1992; Fabris, 2007; Aurenque, 2001 u. 2016; Bambach, 2016 3 4

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§ 1 Allgemeine Einführung in die vorliegende Untersuchung

steht zwischen der Philosophie Heideggers und den ethischen Problemen (hauptsächlich mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor und während des zweiten Weltkriegs), sowie seiner politischen Aktivität in der nationalsozialistischen Partei und seinem Antisemitismus 6. Es gibt dennoch eine vierte mögliche Perspektive, der in der Forschung nicht viel Aufmerksamkeit zugewendet wird 7. Diese beschäftigt sich mit der Frage, wie die hermeneutische Phänomenologie Heideggers verwendet werden kann, um die ethische Erfahrung und das ethische Sein des menschlichen Daseins zu analysieren. Die ethische Erfahrung ist eine wichtige menschliche Erfahrung, die untersucht werden sollte. Die hermeneutische Phänomenologie Heideggers erlaubt dies, und zwar in einer von den anderen genannten Perspektiven unabhängigen Art und Weise 8. Die vorliegende Arbeit stellt sich die Aufgabe, die ethische Erfahrung und das ethische Sein des Daseins hermeneutisch-phänomenologisch zu erforschen. Dieses Unternehmen wird in der folgenden Reihenfolge durchgeführt werden:

u. 2017. Zur Bedeutung der Ethik im Brief über den Humanismus und zur Diskussion um die ›schwarzen Hefte‹ siehe Brencio, 2016, insbes. S. 120 ff. Zu einer Problematisierung der Ethik in Bezug auf Heideggers ›heraklitischen‹ Ansatz siehe: Borgman, in Faulconer; Wrathall (Hrsg.), 2000 und Nancy, in Raffoul; Pettigrew (Hrsg.), 2002; Ruoppo, 2017. Zu Heideggers ›heraklitischen‹ und ›aristotelischen‹ Ansätzen siehe § 8, β der vorliegenden Arbeit. Zur ›aristotelischen‹ Interpretation des ἦθος siehe auch Ruoppo, 2007. Zum Einfluss der ›aristotelischen‹ Interpretation Heideggers auf die ethische Problematik post Heidegger siehe Volpi, 1996. 6 Dazu siehe z. B. Zimmerman, 1974; Guest, 1992; Philipse, 1999; Nancy, in Trawny; Mitchell (Hrsg.), 2015. Zu Nazismus und Antisemitismus und der Philosophie Heideggers siehe: Farías, 1987; Ott, 1988; Schwan, 1989; Bensussan, in Taureck (Hrsg.), 2008; Zaborowski, 2010; Trawny; Mitchell (Hrsg.), 2015. Kritische Positionen findet man z. B. in Sheehan, 2015b; Homolka; Heidegger (Hrsg.), 2016. 7 Vertreter dieser Position ist Rodríguez (vgl. 2015b, S. 163 ff.). In der vorliegenden Arbeit wird die Meinung Rodríguez’ geteilt, dass die Untersuchung des ethischen Phänomens von der Daseinsanalytik Heideggers profitieren kann, wenn seine Methode der ontologischen Interpretation eines ontischen Tatbestandes angesichts einer formalen Anzeige sorgfältig beachtet wird. 8 Genau wie bei Sheehan (vgl. Sheehan, 2015b), wird auch hier eine Verknüpfung der formalen Strukturen bzw. der ontologischen Bestimmungen der Daseinsanalyse in SZ mit den politischen bzw. ontischen Entscheidungen Heideggers für falsch gehalten. Ein Ansatz, der dies vertritt, verkennt die grundlegende Unterscheidung zwischen der ontischen und der ontologischen Ebene, sowie die Methode, die benutzt wird, um diese Ebenen (philosophisch) zu untersuchen, nämlich die hermeneutisch-phänomenologische Methode.

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Einleitung

Nach einer Vorstellung der konkreten Untersuchungsfrage wird die Methode dargestellt werden, welche verwendet wird, um das gewählte Phänomen zu erforschen. In dieser Darstellung (Methodenteil) wird erstens (Kap. 1) die hermeneutische Phänomenologie Heideggers als Zugangsart zum gewählten Phänomen präsentiert, und zweitens (Kap. 2) wird das methodische Mittel der formalen Anzeige erklärt werden. Daraufhin wird (Erster Teil) das Intentionalsein des ethisch erfahrenden Seienden, d. i. des menschlichen Daseins, analysiert. Diese Analyse besteht aus (Kap. 1) einer Erläuterung des Intentionalseins des Daseins, einer Verknüpfung zwischen der Analyse des Intentionalseins und der ethischen Problematik und (Kap. 2) einer Beschreibung des Intentionalproblems bzw. des Scheinproblems. Letzteres wird zu einer Analyse des alltäglichen Verständnisses des Ethischen überleiten (Zweiter Teil). Hier werden (Kap. 1) der Moralitätsbereich, die moralische Norm und das Verhältnis des Daseins zu der Norm durchleuchtet werden. In einer ersten Analyse des alltäglichen Verständnisses des Ethischen (Kap. 2) wird sich die Arbeit nach dem methodischen Wert der moralischen Norm für eine phänomenologische Untersuchung des Ethischen fragen. Dieser theoretische Hintergrund erlaubt in der Folge die Frage nach einem methodischen Zugang zu einer ursprünglichen Erfahrung des Ethischen (Kap. 3). Im letzten Kapitel (Kap. 4) wird das Phänomen der Irregularität methodisch benutzt werden, um einen analytischen Zugang zu einer ursprünglichen Erfahrung des Ethischen zu gewinnen. Nach der Beschreibung und Analyse der zwei alltäglichen Erfahrungen des Ethischen endet die Arbeit mit dem Vorschlag eines Begriffs, welcher die erarbeiteten Bedingungen der Möglichkeit der Ethischen Erfahrung zusammenfasst.

§ 2 Die Frage der vorliegenden Untersuchung Die Ethik stellt sich verschiedene Fragen: Was darf man (nicht) machen? Was soll man (nicht) tun? Was gilt (oder nicht) als ›ethisch‹ ? Jede Antwort auf diese Fragen bezieht sich notwendigerweise auf einen bestimmten ›Wert-‹, oder ›Urteilspunkt‹ bzw. auf das, was in der Ethik Moralprinzip 9 genannt wird. Um zu wissen, was man maHöffe erklärt »Unter Moralprinzip wird […] ein letzter praktischer Grundsatz verstanden, der nicht aus einer allgemeineren Norm ableitbar ist u. als Kanon der De-

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§ 2 Die Frage der vorliegenden Untersuchung

chen darf bzw. nicht darf, braucht man ein Prinzip, welches einschränkt, was in einer Sozialinteraktion erlaubt oder gewünscht ist. Normalerweise ist eine ›Idee des Richtigen‹ (›des Guten‹) das, was unser Verständnis des Ethischen leitet und gründet 10. Eine kritische Ethik würde jedoch auch fragen: Worin gründet sich diese Idee? Ist sie legitim? Richtet sich unser Verständnis des Ethischen auf ein ursprüngliches Fundament? Hier fragt man nach dem Grund 11: Warum darf man das (nicht)? Warum gilt etwas (nicht) als ›ethisch‹ ? Unser Verständnis des Ethischen ist ein Verständnis dieses Grundes: Um etwas als ethisch anzusehen, muss man dieses ›irgendwie‹ als legitim und ›objektiv‹ verstehen 12. Die Hauptfrage der Ethik ist demzufolge die Frage nach dem Grund. Doch eine solche Frage setzt selbst ein Verständnis des Sinns des Ethischen voraus. Wir müssen das Ethische ›irgendwie‹ verstehen, um fragen zu können, was es sein soll oder worin es sich gründet. Diese Zirkularität des philosophischen Fragens wurde schon von Heidegger mit der Frage nach dem Sinn von Sein aufgezeigt 13. Die vorliegende Arbeit fragt weder nach dem Grund des Ethischen noch nach dem Was (oder nach dem was sein soll) des Ethischen; sie fragt, wie sich der Sinn des Ethischen bildet, oder anders formuliert: wie das Ethische alltäglich verstanden wird. In diesem Sinne liegen die Aufgabe und Absicht dieser Arbeit nicht in einer Begründung der Ethik, oder in einer Kritik ihres Grundes. Sie beschäftigt sich auch nicht mit der Legitimität der Moral und ebenso wenig mit dem ontologischen Status der moralischen Normen, oder einer Rechtfertigung des verstandenen Sollens bzw. der Pflicht. Diese duktion, Begründung, Rechtfertigung u. Kritik untergeordneter Normen fungiert. Das Moralprinzip dient so gesehen als oberstes Kriterium, als letzter Maßstab praktischen Argumentierens, das implizit oder explizit in jeder Begründung singulärer oder genereller moralischer Urteile in Anspruch genommen wird.« (Höffe, 2008, S. 217). 10 Vgl. GA 46, S. 371, Anhang 15. II. 39: »In jeder Moral ist gesetzt ein Ideal, in Bezug auf welches gut und schlecht unterschieden wird.« 11 Die Ethik stellt die Frage nach einer Metaebene, welche die moralischen Handlungen begründet (vgl. Pieper, 2007, S. 28). 12 Das Verständnis der Moral an sich hat schon eine Tendenz zur ›Objektivität‹. Rippe schreibt: »Wir sind nicht der Auffassung […] ›Für A ist es geboten, keine Tiere zu quälen‹, sondern wir sind der Auffassung: […] ›Niemand darf Tiere quälen‹. Unser gewöhnlicher Sprachgebrauch erhebt für moralische Urteile den Anspruch der Objektivität.« (Rippe, in Düwell; Hübenthal; Werner (Hrsg.), 2011, S. 501). 13 »Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom Gesuchten her.« (SZ, S. 5). Zur Frage nach dem Sinn von Sein siehe SZ, S. 5–8; GA 20, S. 194–198.

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Einleitung

Arbeit soll vielmehr eine Beschreibung des Phänomens (bzw. des verstandenen Sinns in) der ethischen Erfahrung sein. Das, was auf den folgenden Seiten beschrieben werden soll, ist kein Sachverhalt, sondern ein Verständnis. Mit ›Verständnis des Ethischen‹ ist nichts anderes gemeint, als die Weise, in der wir (erfahrenden Seiende) den Sinn des Ethischen erfahren, anders gesagt, es ist die Erfahrung des Etwas-(in einer gewissen Situation)-für-(un)richtigHaltens. Zum Beispiel verstehen wir es als ›richtig‹ oder ›fair‹, jemandem das zu bezahlen, was er/sie durch harte Arbeit verdient hat. Nun wird in diesem Beispiel der Sinn des ›Richtigen‹ alltäglich durch öffentliche Kriterien wie den Mindestlohn geleitet. Jemandem den Mindestlohn für eine geleistete Arbeit zu zahlen, kann sich in gewissen Situationen »gut und richtig« anfühlen. In anderen Gegebenheiten wiederum kann es indessen genau das Gegenteil auslösen und für eine innere Unruhe sorgen, insbesondere, wenn man das Gefühl hat, zwar das öffentlich Akzeptierte gezahlt zu haben, jedoch gemessen an anderen Vergleichsmaßstäben zu wenig entlohnt zu haben. Hier sind diese verschiedenen Gefühle verschiedene Modi des Verständnisses des Ethischen. Was auch immer der Sinn von ›(un)fair‹ und ›(un)richtig‹ ist, es ist unbestreitbar, dass hier etwas erfahren wird. In dieser Arbeit geht es um die Erforschung der Art und Weise, in der dieses ›Etwas‹ verstanden wird. Eine Untersuchung der Erfahrung bzw. des Verständnisses des Ethischen muss mit einer Analyse der Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung bzw. eines Verständnisses beginnen. Die leitenden Fragen sind dann zwei: wie wird das Ethische alltäglich erfahren bzw. verstanden und wie ist es möglich, das Ethische in dieser Weise erfahren bzw. verstehen zu können. Es geht um die Beschreibung der phänomenalen Tatbestände und die Analyse der Seinsstrukturen bzw. der Bedingungen der Möglichkeit dieser phänomenalen Erscheinungen. Wo soll eine solche Untersuchung anfangen? Eine Beschreibung der Seinsart des Menschen als Dasein 14 bzw. als verstehendes SeienFormal gesagt, ist ›Dasein‹ der Name, den Heidegger dem Seienden gibt, welches die bestimmte Seinsart der Existenz aufweist (vgl. SZ, S. 7; 41–42). Wie auch von Heidegger in der Vorlesung vom Sommersemester 1928 angemerkt wird, soll hier nachdrücklich betont werden, dass dieses ›Dasein‹ in seiner Neutralität verstanden werden muss (vgl. GA 26, S. 171–177). Das untersuchte Dasein hat kein bestimmtes Geschlecht, oder Alter, keine bestimmte Rasse etc. Alle Bestimmungen, die bezüglich dieses Daseins getroffen werden, werden, so erklärt Heidegger in Vom Wesen des Grundes, aus dieser Neutralität heraus getroffen (GA 9, S. 157–158).

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§ 2 Die Frage der vorliegenden Untersuchung

des findet man in der Philosophie Martin Heideggers 15. Die vorliegende Untersuchung möchte nicht nach der Handlungs- und/oder nach der Urteilssphäre dieses Seienden fragen, sondern nach seinem Verständnis in diesen Sphären. ›Handeln‹ und ›urteilen‹ sind ontische Möglichkeiten des Daseins, welche ihre Bedingung in seinem Sein haben. Heidegger hat gezeigt, dass sich jedes daseinsmäßige Handeln und jedes Urteilen im Seinsverständnis dieses Seienden gründen 16. Laut Heidegger gehört zum Sein des Daseins sowohl ein Verständnis des Seins überhaupt 17 als auch ein Verständnis des eigenen Seins 18. Wenn die vorliegende Arbeit nach dem Verständnis des Ethischen fragt, muss sie sich auf eine Ontologie des Daseins beziehen, um einen Verständnishorizont der Problematik zu erreichen. Die Daseinsanalytik, d. i. die Beschreibung des Seins des Daseins als verstehendes bzw. erfahrendes Seiendes, ist dementsprechend eine Vgl. SZ, S. 12; 17. Heidegger weist in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1928 darauf hin, dass jedes faktische Verhalten des Daseins als Grund seine Transzendenz hat, und dies bedeutet, dass alle ontischen Möglichkeiten ein Seinsverständnis als Fundament aufweisen (vgl. GA 26, S. 210–216). Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies, dass die Forschung des Seins des Daseins (als Seinsverständnis) notwendig ist, um das Ethische zu verstehen. Heidegger teilt diese Meinung. Er schreibt: »[die] fundamentalphilosophische Frage nach dem Menschen [nach seinem Sein] liegt vor aller Psychologie, Anthropologie und Charakterologie, aber auch vor aller Ethik und Soziologie.« (Ebd., S. 21; siehe auch GA 82, S. 8–9). 17 Laut Heidegger ist dieses Seinsverständnis die fundamentale Bedingung der Möglichkeit des Verhältnisses zwischen dem Dasein und der Totalität des Seienden (Vgl. GA 26, S. 20). 18 Vgl. SZ, S. 145; GA 24 S. 391–392. So gehört zum Seinsverständnis das Verständnis des In-der-Welt-seins (vgl. SZ, S. 86). Tatsächlich erscheint das Seiende als Seiendes, d. i. mit einem Sinn, nur solange es in Bezug auf die Existenzialität des Daseins verstanden wird. Heidegger schreibt: »Auch im praktisch-technischen Verhalten zu Seiendem liegt, sofern wir überhaupt mit Seiendem als Seiendem umgehen, Seinsverständnis. […] Denn nur im Lichte des Seinsverständnisses kann uns Seiendes als Seiendes begegnen.« (GA 24, S. 390). An dieser Stelle muss betont werden, dass das Weltverständnis Selbstverständnis ist. Während das Dasein die Welt versteht, versteht es sich selbst: »Zum Dasein gehört aber wesenhaft, daß es mit der Erschlossenheit seiner Welt ihm selbst erschlossen ist, so daß es sich immer schon versteht.« (SZ, S. 272). Von Herrmann schreibt: »Seiend bin ich für mich selbst in der Weise meiner Verhaltungen zum Seienden, das ich selbst nicht bin. In diesen Verhaltungen existiere ich leiblich. […] [Es gibt eine Dopplung im Verstehen des Seins:] Immer verhalte ich mich zum nichtmenschlichen Seienden [es müsste heißen: zum Seienden, das ich nicht selbst bin: auch andere Menschen], und in diesen Verhaltungen verhalte ich mich wesenhaft auch zu mir selbst als Seiendem.« (Herrmann, v., 1981, S. 30). 15 16

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Einleitung

solide Grundlage für die Frage nach dem Verständnis des Ethischen. In SZ hat Heidegger aufgezeigt, dass das Dasein einen ontischen Vorrang hat 19, und zwar nicht nur, um die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt zu stellen, sondern auch, um sein eigenes Sein als verstehendes Seiendes zu erklären. Heidegger übernimmt die Aufgabe einer Erklärung des Seins des Daseins als Ermöglichung der Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein 20. Die Erklärung des Seins des befragten Seienden (Fundamentalontologie) in einer Suche nach dem geeigneten Horizont für die Formulierung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt konstituiert die existenziale Analytik, die in SZ durchgeführt wird 21. Es darf nicht vergessen werden, dass diese Analytik ausschließlich im Rahmen dieser Frage entwickelt worden ist und deswegen nicht als eine vollständige und letzte Beschreibung des daseinsmäßigen Seins interpretiert werden darf 22. Dies ist aber keine Schwäche der Analyse, sondern eine kongruente Konsequenz der hermeneutisch-phänomenologischen Vorgehensweise. Diese ›Unvollständigkeit‹ erlaubt vielmehr eine weitere Analyse des Seins des Daseins, welche nicht die Frage nach dem Sinn von Sein, sondern eine andere philosophische Frage, wie z. B. die Frage nach dem Verständnis des Ethischen, verfolgt. Diese letzte Frage wur-

Laut Heidegger hat das Dasein einen ontologischen Vorrang: Es ist das Seiende, das andere Seiende nach ihrem Sein fragen kann. Das heißt, dass im Sein des Daseins die existenzielle Möglichkeit der ontologischen Untersuchung da ist. Das Dasein kann nach den ontologischen Fundamenten des Seienden und der Wissenschaften (d. h. nach der Zugangsart zum Sein des Seienden) fragen (vgl. SZ, § 3). Das Dasein hat auch einen ontischen Vorrang: Es gehört zum Dasein, da es faktisch um sein Sein selbst geht, ein Seinsverständnis: »Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins.« (Ebd., S. 12). Das bedeutet, dass auf ontische Weise das Dasein immer ontologisch ist (hier wird ›ontologisch‹ nicht als ontologische Forschung, sondern als Seinsverständnis verstanden, was Heidegger in diesem Absatz vor-ontologisch nennt) (vgl. ebd., § 4). 20 Vgl. SZ, § 5. 21 »Alle Bemühungen der existenzialen Analytik gelten dem einen Ziel, eine Möglichkeit der Beantwortung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt zu finden.« (SZ, S. 372). 22 Heidegger schreibt: »Die so gefaßte Analytik des Daseins bleibt ganz auf die leitende Aufgabe der Ausarbeitung der Seinsfrage orientiert. Dadurch bestimmen sich ihre Grenzen. Sie kann nicht eine vollständige Ontologie des Daseins geben wollen, die freilich ausgebaut sein muß, soll so etwas wie eine ›philosophische‹ Anthropologie auf einer philosophisch zureichenden Basis stehen. In der Absicht auf eine mögliche Anthropologie, bzw. deren ontologische Fundamentierung, gibt die folgende Interpretation nur einige, wenngleich nicht unwesentliche ›Stücke‹.« (SZ, S. 17). 19

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§ 2 Die Frage der vorliegenden Untersuchung

de von Heidegger nicht gestellt. Deshalb ist es wichtig herauszustellen, dass der Kern der vorliegenden Arbeit nicht im Vorschlag eines impliziten ethischen Sinns 23 in der heideggerschen Analyse 24 liegt, sondern in der Beschreibung des ethischen Verständnisses und der Bedingungen dieses Verständnisses besteht, welche den eröffneten Verständnishorizont der Daseinsanalytik Heideggers nutzt. Nun, da dies erklärt wurde, muss der Ausgangspunkt der Untersuchung erarbeitet werden. Eine ontologische Untersuchung, die das Seiende nach seinem Sein befragt, muss laut Heidegger mit der Sicherung der Zugangsart zum befragten Seienden anfangen. Heidegger schreibt: Soll [das Seiende] aber die Charaktere seines Seins unverfälscht hergeben können, dann muß es seinerseits zuvor so zugänglich geworden sein, wie es an ihm selbst ist. Die Seinsfrage verlangt im Hinblick auf ihr Befragtes die Gewinnung und vorherige Sicherung der rechten Zugangsart zum Seienden. (SZ, S. 6)

Nachdem die Fragen der Untersuchung geklärt wurden, soll nun die Untersuchungsmethode dargestellt werden, um mit der Analyse des Phänomens (des ethischen Verständnisses) beginnen zu können.

Eine solche Untersuchung findet man in Aurenque, 2011. Der heideggerschen Untersuchung geht es nicht darum, eine Existenzphilosophie oder eine Anthropologie (auch nicht eine Ethik) zu liefern (vgl. GA 26, S. 171; GA 20, S. 201), sondern darum, eine Einheitlichkeit des Seinsbegriffs (durch die Analyse des Seienden, welches in der Weise eines Seinsverständnisses ist) zu suchen. Siehe dazu Frede, in Thomä, 2013, S. 279–282; Polt, 2006; Szaif, 2003; Tugendhat, 1992, S. 108– 135. Heidegger stellt mit Nachdruck fest, dass die Beschreibungen des Seins des Daseins nicht (ontisch) moralisch interpretiert werden dürfen (vgl. z. B. SZ, S. 167; 295; GA 20, S. 376; 389; 391).

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METHODIK: Die adäquate Methode, um das Phänomen des Verständnisses des Ethischen zu analysieren

Einführung in die Untersuchungsmethode Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Erfahrung bzw. dem Verständnis des Ethischen. Ihre Ziele sind die Konzeptualisierung der Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung des Ethischen sowie die Beschreibung dieser Erfahrung. Für die Klarheit der Vorgehensweise ist es nötig, von Anfang an eine Methode zu wählen, die einerseits den Gegenstand dieses Fragens erfassbar macht und diesem andererseits keine Verzerrungen und keine nicht-angeeignete Vorurteile oder Voraussetzungen auferlegt. Eine Methode, die diesen Forderungen entspricht, hat Martin Heidegger entwickelt: die hermeneutische Phänomenologie. Demgemäß wird diese Arbeit die hermeneutisch-phänomenologische Methode nutzen, doch nicht um das ›ethische‹ Denken Heideggers darzulegen, sondern um eine eigene Forschung des Verständnisses des Ethischen auszuführen. Demzufolge muss in diesem Teil zunächst (Kap. 1) eine Darstellung der hermeneutischen Phänomenologie als Zugang zu dem verstehenden Seienden durchgeführt werden. Dafür werden sowohl der Gegenstand dieser Phänomenologie (das faktische Leben), wie er von Heidegger erarbeitet wurde, (§ 2) sowie die Forderung (§ 3) eines bestimmten Zugangs zu diesem Phänomen, nämlich die hermeneutische Phänomenologie, und (§ 4) seine bestimmte Methode, dargestellt. Nach der Erklärung der gewählten Zugangsart und ihrer Methode wird (§ 5) eine Erläuterung des Gegenstands, der Hinsicht und des Verständnishorizonts der vorliegenden Interpretation vorgenommen. Der Anspruch einer Interpretation des Verständnisses des Ethischen, die auf der Grundlage der Analyse Heideggers durchgeführt wird, benötigt (Kap. 2) das methodische Mittel der formalen Anzeige, um den Verständnishorizont zu erweitern. Dafür werden sowohl (§ 6) die Darstellung dieses methodischen Mittels als auch (§ 7) die Formulierung einer eigenen formalen Anzeige vorgenom26 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Einführung in die Untersuchungsmethode

men. Schließlich wird (§ 8) eine theoretische Trennung zwischen der ontisch-moralischen und der ontologisch-ethischen Ebenen, welche von der formalen Anzeige gefordert wird, eingeführt.

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Kapitel 1. Zugangsart zum Phänomen: Hermeneutische Phänomenologie

Seit den frühen Freiburger Vorlesungen stellt Heidegger die Notwendigkeit eines durchsichtigen Zugangs zu dem faktischen Leben (Dasein) als die Priorität der Philosophie vor 25. Das Problem des Zugangs liegt daran, dass der ›lebendige‹ Charakter des Lebens verloren geht, wenn man es als Objekt einer theoretischen Betrachtung sieht 26. Das Nach Heidegger ist die Philosophie ›gleichbedeutend‹ mit Phänomenologie (vgl. GA 58, S. 29) und ihre Gegenstände sind das faktische Leben (vgl. GA 58, S. 237; GA 62, S. 362–363) und die bedeutsame Welt (vgl. GA 59, S. 197). Heidegger argumentiert, dass die Sicherung des Zugangs zum Phänomen die Aufgabe der Phänomenologie ist und ihren ›wissenschaftlichen Charakter‹ konstituiert (GA 58, S. 137; 231; GA 63, S. 72; GA 60, S. 10; GA 27, S. 44 ff.). Phänomenologie als »Wissenschaft ›von‹ den Phänomenen besagt: eine solche Erfassung ihrer Gegenstände, daß alles, was über sie zur Erörterung steht, in direkter Aufweisung und direkter Ausweisung abgehandelt werden muß.« (SZ, S. 35). Die Philosophie muss ihre Methode nicht von anderen Wissenschaften übernehmen (vgl. GA 63, S. 71–72); ihr Gegenstand bestimmt ihre Methode (vgl. GA 59, S. 174; GA 60, S. 9 ff; GA 61, S. 45 ff. Siehe auch De Lara, 2008, S. 81 ff.; Greisch, 1997, S. 93; Vigo, 2005, S. 259; Hoffmann, 2005). Die Frage nach einer Methode, die den Zugang zum ursprünglichen Sinn des faktischen Lebens ermöglicht, ist dann laut Heidegger die Hauptfrage der Philosophie. De Lara betont: »Philosophie, so Heidegger, kann nur ihren Gegenstand [das faktische Leben] haben und einen Zugang zu ihm gewinnen, insofern sie das Methodenproblem nicht nur behandelt, sondern tatsächlich selbst ein Ringen um die Methode ist und all ihre Fragen im Grunde Fragen nach dem Wie sind.« (De Lara, 2008, S. 85). Zum faktischen Leben als Hauptphänomen der heideggerschen Phänomenologie siehe Pöggeler, 1980, S. 131 ff. Für eine detaillierte und treffende Darstellung von Heideggers Konzeption der hermeneutisch-phänomenologischen Philosophie in den frühen Freiburger Vorlesungen verweist die vorliegende Arbeit auf De Lara, 2008. Zu einem Überblick über ihre Entwicklung siehe Kisiel, 1993. 26 Die heideggersche Forderung, das Leben zu untersuchen, ohne es in seinem Lebenscharakter zu neutralisieren, ist durch Rickerts Kritik motiviert (vgl. Imdahl, 1997, S. 136–137). Kurz gesagt argumentiert Rickert, dass das Erleben nicht theoretisch ausgedrückt werden kann (vgl. Rickert, 1911/1912, S. 157) und dass die Wissenschaft dementsprechend das Leben als ›lebendiges‹ nicht thematisieren kann (vgl. ebd.). Heidegger nimmt die Überlegung Rickerts nicht als Resultat, betont Imdahl, sondern als Ausganspunkt seiner Forschung über die adäquate Methode der Lebensinterpretation. 25

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§ 3 Das faktische Leben

Leben, so argumentiert Heidegger, erfordere eine eigene Methode, die es als es selbst erfassen lasse 27. Ein Dilemma ergibt sich: Um eine entsprechende Methode zu bestimmen, braucht man ein Verständnis des Lebens. Doch man benötigt gleichzeitig eine Untersuchungsmethode, um das Leben (theoretisch) verstehen zu können. Es liegt ein Zirkel vor. Heidegger zeigt allerdings, dass zur Lebenserfahrung ein praktisches Verständnis dieses Lebens gehört. Mit der Erkenntnis dieses Verständnisses wird nicht nur festgelegt, dass die Aufgabe der Methode der Ausdruck dieses Verständnisses ist, sondern auch, dass der oben genannte Zirkel eine hermeneutische Dynamik 28 aufweist, in der der Sinn des Lebens (anhand der Methode) an Klarheit gewinnen kann. Dies wird in den nächsten Paragraphen ausführlich dargestellt.

§ 3 Das faktische Leben ›Faktisches Leben‹ ist der Begriff, den Heidegger in seinen frühen Freiburger Vorlesungen benutzt, um die Seinsart des Menschen auszudrücken 29. Dieser Begriff versucht vor allem der Konzeption des Lebens als ›Objekt‹ 30 entgegenzutreten. Laut Heidegger ist die Tendenz, das Leben als Objekt aufzufassen, eine Charakteristik des Lebens selbst. Heidegger nennt diese Tendenz ›Ruinanz‹ 31. Diese These Vgl. GA 56/57, S. 117. Vgl. SZ, S. 8. Laut Heidegger gehört dieser ›hermeneutische‹ Zirkel zum Verstehen bzw. zur Struktur des Sinns. Laut Heidegger soll man nicht »aus dem Zirkel heraus, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinkommen«, um rechtes Verständnis zu gewinnen (SZ, S. 152 ff.; GA 20, S. 197 ff.). Er argumentiert auch, dass dieser Zirkel nicht als ein ›circulus vitiosus‹ betrachtet werden sollte, da die phänomenologische Methode keine Deduktion ist (vgl. ebd., S. 152–153). 29 Im Sommersemester 1923 verwendet Heidegger den Begriff ›Dasein‹, um das faktische Leben mit dem Problem der Ontologie zu verknüpfen (vgl. GA 63, S. 7). Siehe: Imdahl, 1997, S. 223 ff. 30 Der Begriff ›Objekt‹ wird von Heidegger benutzt, um das Phänomen zu bezeichnen, welches durch eine theoretisch-reflexive Einstellung bestimmt und untersucht wird. Diese Einstellung interpretiert das Phänomen als ›konstituiertes Objekt‹ (bei einem konstituierenden Subjekt) oder ›erkennbares Objekt‹ (bei einem erkennenden Subjekt). Jedes ›Sich-Richten-auf‹ hat einen Gegenstand, auf den es sich richtet; aber nicht jedes ›Sich-Richten-auf‹ ist ein theoretischer Akt, worin der Gegenstand als ›Objekt‹ aufgefasst wird: »Objekt und Gegenstand ist nicht dasselbe. Alle Objekte sind Gegenstände, aber nicht umgekehrt alle Gegenstände Objekte.« (GA 60, S. 35). 31 Ruinanz ist nach Heidegger die Tendenz des Lebens sich von sich selbst zu entfer27 28

29 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

1. · Zugangsart zum Phänomen: Hermeneutische Phänomenologie

hat zur Konsequenz, dass sich für die Philosophie die Notwendigkeit einer philosophischen Methode stellt, die das faktische Leben in seiner eigenen Seinsart aufklären kann. Das erste Problem der Phänomenologie, so Heidegger, ist die Sicherung der Zugangsart zu der Bestimmung des faktischen Lebens: das Problem der Methode 32. Die Zugangsart zu dem faktischen Leben findet Heidegger in der Methode der Phänomenologie. Doch er glaubt, dass die husserlsche Phänomenologie nicht adäquat sei, weil sie die Erlebnisse (und mit ihnen das Leben selbst) als Objekt nehme 33. Für Heidegger kann das nen (GA 61, S. 131 ff.; 155). Da das Dasein in die Welt geworfen ist, und da es zunächst und zumeist vom Umgang mit den besorgten Seienden eingenommen ist, hat das Dasein die Tendenz, seine eigene Seinsart als ›Objekt‹ bzw. Vorhandenes zu verstehen (vgl. GA 24, S. 384). Diese Tendenz findet ein Äquivalent in der SZ-Periode, das ›Verfallen‹. Da diese Tendenz zum Verfallen in der Zeit-Analyse ein Verständnis des Lebens in Bezug auf die Gegenwart ist (vgl. SZ, S. 460), gibt es ein direktes Verhältnis zu dem frühen Freiburger Vorlesungsbegriff ›Ruinanz‹. In der Vorlesung vom Wintersemester 1921/1922 stellt Heidegger die Ruinanz als eine Tendenz vor, die die Zeit ›wegnimmt‹ und damit das Historische (im Leben) versteckt (vgl. GA 56/57, S. 89; GA 62, S. 353 ff.; GA 64, S. 41 ff.). 32 »Alle Fragen der Philosophie sind im Grunde Fragen nach dem Wie, im strengen Verstande Fragen nach der Methode.« (GA 60, S. 88). Heidegger ist der Meinung, dass »jede Methodenfrage, d. h. jede Frage nach der Art und Weise, wie wir auf eine Sache zugehen und ihr nachgehen können und sollen, mit der Frage nach dem Sachcharakter der betreffenden Sache zusammen[hängt].« (GA 29/30, S. 295). Dazu siehe Gethmann, 1974b. 33 Vgl. GA 59, S. 142; GA 61, S. 39. Laut Heidegger lebt das Leben primär in einem praktischen Umgang mit den Seienden. In diesem Sinne ist die theoretische Einstellung eine Modifikation dieses praktischen Umgehens (vgl. GA 56/57, S. 88). So erscheinen die Phänomene durch diese veränderte Einstellung ebenfalls modifiziert, d. i. nicht in ihrer ursprünglichen Seinsart. Die theoretische Einstellung ist dementsprechend laut Heidegger nur möglich, wenn das Erlebnis der Umwelt zerstört wird (vgl. ebd., S. 85). Husserl selbst erkennt dieses Problem (siehe: Hua I, § 15; III/1, § 78; XIX/ 1, § 3). Heidegger kritisiert dennoch den husserlschen Ansatz wie folgt: »Wie erlebe ich das Umweltliche, ist es mir ›gegeben‹ ? Nein, denn gegebenes Umweltliches ist bereits theoretisch angetastetes, es ist schon von mir, dem historischen Ich, abgedrängt, das ›es weltet‹ ist bereits nicht mehr primär. ›Gegeben‹ ist bereits eine leise, noch unscheinbare, aber doch echte theoretische Reflexion darüber.« (GA 56/57, S. 88–89). Zur Auseinandersetzung Heideggers mit den husserlschen phänomenologischen Grundprinzipien und Methoden siehe GA 20, Vorbereitender Teil, Zweites und Drittes Kapitel; siehe auch Sheehan, 2015a, S. 111 f; Cristin, 2012; Kisiel, 2002, S. 174 ff; Held, 1988; Biemel, in Orth (Hrsg.), 1978; Volpi, 1984c; 1984d. Zur heideggerschen Kritik der ἐποχή siehe GA 59, S. 142; GA 61, S. 39; GA 20, S. 150; Rodríguez, 1993, S. 75–87. Zum Einfluss und zu der Abhängigkeit der heideggerschen Phänomenologie in der von Husserl siehe Kisiel, 1993; Gander, 2001; Rodríguez, 1997a y b; Xolocotzi, 2002; Xolocotzi, 2004, §§ 6–7. Heidegger folgt der husserlschen

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§ 3 Das faktische Leben

Leben nicht durch Reflexion 34 erfasst werden. Heidegger argumentiert: »Das Er-leben geht nicht vor mir vorbei, wie eine Sache, die ich hinstelle, als Objekt, sondern ich selbst er-eigne es mir, und es ereignet sich seinem Wesen nach.« 35 Das Erlebnis muss als ›Aneignung‹ verstanden werden, d. h. als das, was von mir erlebt wird. Das Erlebnis ist nicht etwas, das geschieht, sondern das, was das Geschehen selbst konstituiert: das Leben ist Vollzug 36. In der reflexiven Einstellung verliert das beobachtete Erlebnis seinen erlebten Charakter, um ein Objekt (der Beobachtung) zu werden. Darüber hinaus wird der ursprüngliche (praktische) Sinn aller Gegenstände missverstanden, da die Reflexion die Gegenstände nicht im Zusammenhang mit dem Vollzugscharakter des Lebens auffassen kann. Anders gesagt, bleibt der Grundcharakter Phänomenologie auf zwei methodische Weisen: Erstens, wurde die Phänomenologie weder als ›Standpunkt‹ noch als ›Richtungsbestimmung‹ genommen, sondern als ›Methode‹ (siehe Hua II, S. 23; SZ, S. 27; GA 20, S. 117). Zweitens wurde das husserlsche ›Prinzip aller Prinzipien‹ : ›Zu den Sachen selbst‹ als Ausgangspunkt genommen (siehe Hua III/1, S. 49 f.; 61; Hua I, § 5, S. 54; vgl. Herrmann, v., 1981, S. 12). Zu diesem Prinzip schreibt Husserl: »Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich gibt,« (Hua III/1, S. 51). Siehe GA 56/57, § 20. Dies konstituiert das Prinzip der Evidenz. Damit eine philosophische Untersuchung als wissenschaftlich gilt, so Husserl, muss der/die Forscher/in »kein Urteil fällen oder in Geltung lassen, das [er/sie] nicht aus der Evidenz geschöpft [hat], aus Erfahrungen, in denen [ihm/ihr] die betreffenden Sachen und Sachverhalte als sie selbst gegenwärtig sind.« (Hua, I, § 5, S. 54). Heidegger schreibt: »Phänomenologie ist also ein Wie der Forschung, das sich die Gegenstände anschaulich vergegenwärtigt und sie nur, soweit sie anschaulich da sind, bespricht.« (GA 63, S. 72; siehe auch S. 71). Zum Konzept der Evidenz bei Husserl siehe: Anton Mlinar in Gander (Hrsg.), 2010, S. 104–106 und Willard, in Smith; Woodruff, (Eds.), 1995, S. 138 ff. Insbes. S. 143. Zur Diskussion der Evidenz in Heidegger und Husserl siehe Rodríguez, 1993, S. 67 ff. Vgl. Ströker, 1987, S. 8 ff. 34 Unter Reflexion versteht Heidegger die »Rückbeugung auf sich selbst« (GA 79, S. 138). Heideggers Kritik besagt nicht, dass die Reflexion nicht eine Weise der Selbsterfassung ist, sondern dass sie »nicht die Weise der primären Selbst-Erschließung« ist (GA 24, S. 226). Vgl. GA 27, S. 135. Zur heideggerschen Perspektive der Reflexion siehe Herrmann, v., 1985, S. 16–20; 2000, S. 67–85; Rodríguez, 1993, S. 88–93; 1996, S. 58. 35 GA 56/57, S. 75. 36 De Lara drückt diese Idee so aus: »Das faktische Leben ist kein abstrakter Strom von Gehalten, sondern immer das Leben eines es vollziehenden Selbst. Es ist, wie Heidegger sagt, je mein Leben: das Leben, das ich vollziehe und zu vollziehen habe: das ich bin.« (De Lara, 2008, S. 62).

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1. · Zugangsart zum Phänomen: Hermeneutische Phänomenologie

der Welt durch die Verzerrung des Lebens unverstanden 37. Die Welt ist nach Heidegger kein Korrelat eines reflexiven Aktes, sondern eine ›gelebte Welt‹. Um das Phänomen der Welt zu verstehen, muss man sich nach ihrer Erfahrung in ihrem Vollzugscharakter bzw. als ›Erfahrenes‹ richten. So konzipiert, erscheint die Welt als ›Lebenswelt‹ 38. Heidegger definiert die Welt als das, worauf das Leben sich, als gelebt, bezieht. Es kann behauptet werden, dass die Welt das vor-reflexiv Korrelat des Lebens ist. Heidegger drückt diese Idee durch die Vorstellung der intransitiv-verbale Bedeutung des Verbes ›leben‹ aus: ›[L]eben‹ expliziert sich, konkret vergegenwärtigt, selbst immer als ›in‹ etwas leben, ›aus‹ etwas leben, ›für‹ etwas leben, ›mit‹ etwas leben, ›gegen‹ etwas, ›auf‹ etwas ›hin‹ leben, ›von‹ etwas leben. Das ›etwas‹, was seine Beziehungsmannigfaltigkeit zu ›leben‹ anzeigt in diesen scheinbar nur gelegenheitlich aufgerafften und aufgezählten präpositionalen Ausdrücken, fixieren wir mit dem Terminus ›Welt‹. (GA 61, S. 85)

Ein philosophischer Begriff des Lebens sollte diesen verbalen Sinn ausdrücken. Dieser Begriff ist nach Heidegger die ›Sorge‹ 39. In Bezug auf diesen verbalen Sinn wird die Welt auch in einem anderen Licht gesehen, sie wird als bedeutsam gesehen: »Worauf und worum das Sorgen ist, woran es sich hält« 40. Bedeutsamkeit ist die Grundkategorie der Welt und besagt, wie die Dinge und die Ereignisse gelebt werden. Die Gegenstände werden primär weder als eine Zusammenfassung von Eigenschaften noch als ›Naturgegenstände‹, die dann

Heidegger argumentiert, dass eine reflexive Phänomenologie das Phänomen der Umwelt als solcher nicht greifen kann (vgl. GA 56/57, S. 99 ff.). 38 Dazu siehe Gander, 2001. In Anlenung an Husserl und Heidegger schreibt Gadamer: »[Lebenswelt ist] die Welt, in der wir in der natürlichen Einstellung hineinleben, die uns nicht als solche je gegenständlich wird, sondern die den vorgegebenen Boden aller Erfahrung darstellt.« (Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 233). Zur Konzeption Husserls der Lebenswelt siehe: Hua XXIX u. XXXIX; Carr, in Heinämaa, et al. (Hrsg.), 2014, S. 175–189. Zur lebensweltlichen Erfahrung in Husserl siehe: Tengelyi, in Gethmann, (Hrsg.), 2011. 39 »Leben, im verbalen Sinne genommen, ist nach seinem Bezugssinn zu interpretieren als Sorgen; sorgen für und um etwas, sorgend von etwas leben.« (GA 61, S. 90). Zum Begriff der Sorge siehe § 13 der vorligenden Arbeit. 40 GA 61, S. 90. »Alles, was in der faktischen Lebenserfahrung erfahren wird, trägt den Charakter der Bedeutsamkeit«. (GA 60, S. 13). »Bedeutsamkeit [ist] kein Sachcharakter, sondern ein Seinscharakter.« (GA 63, S. 89). Sie bestimmt nicht das ›Was‹ der Welt, d. i. was Welt ›real‹ als Vorhanden ist, sondern sie bestimmt das ›Wie‹ der Welt, die Weise, in der die Welt gelebt wird. Dazu siehe § 10 der vorliegenden Arbeit. 37

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§ 3 Das faktische Leben

einen Wertcharakter bekommen, gelebt, sondern immer mit einer Bedeutung 41. In diesem Sinne sind Leben und Welt keine entgegengesetzten Objekte. Das »Leben ist in sich selbst weltbezogen« und die Welt ist das, »was gelebt wird« 42, und nicht das, ›worin‹ man lebt 43. Die Lebenswelt ist dann besser als Sorgenwelt zu bezeichnen 44. Damit will Heidegger das Konzept von ›Intentionalität‹ radikalisieren 45. Schon Franz Brentano 46 und Edmund Husserl 47 hatten die Intentionalität als den relationalen Charakter des Bewusstseins beschrieben: Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas 48. Heidegger ar-

Vgl. GA 61, S. 91. Husserl vertritt eine ähnliche These. Siehe Hua XIX/1, S. 387; 399. 42 GA 61, S. 86. 43 Vgl. SZ, S. 53–54. Laut Heidegger hat das Problem der ›äußerlichen‹ Existenz der Welt aus dieser phänomenologischen Perspektive gesehen keinen Sinn; vgl. GA 56/ 57, § 17, siehe insbes. S. 91. 44 In Übereinstimmung mit dem Gegenstand, worauf das Leben sich richtet, kann die Sorgenwelt theoretisch in ›Selbstwelt‹, ›Mitwelt‹ und ›Umwelt‹ geteilt werden (vgl. GA 61, S. 94). Siehe dazu § 14, α der vorliegenden Arbeit. 45 Dazu siehe § 11 der vorliegenden Arbeit. 46 »Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter / hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehasst, in dem Begehren begehrt usw. Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Ähnliches.« (Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Buch II, § 5, S. 124–125). 47 Vgl. Hua XIX/1, §§ 9–21; III/1, § 36; I, S. 79. Siehe Gander (Hrsg.), 2010, S. 153– 157; Zahavi, 2009, S. 12 ff. Husserl kritisiert den Ansatz Brentanos. Laut Husserl trifft Brentano eine falsche Unterscheidung zwischen dem Gegenstand der Vorstellung und dem realen Gegenstand. Im Bewusstsein, so Husserl, ist den Gegenstand selbst gegeben. Dazu siehe Hua XXII, S. 307, 314; XIX/1, S. 439; Zahavi, 2009, S. 21. Heidegger kritisiert Brentano und Husserl mit dem Argument, dass beide nicht weiter nach dem Dasein fragen (vgl. GA 26, S. 166–167). 48 Doch dies bedeutet nicht, betont Husserl, dass es eine kausale Beziehung zwischen dem intentionalen Erlebnis und dem intentionalen Gegenstand gibt, »als ob das Bewußtsein auf der einen und die bewußte Sache auf der anderen Seite in einem realen Sinne zueinander in Beziehung treten würden« (Hua XIX/1, S. 389). Das Erlebnis ist nur als Erlebnis von etwas zu verstehen. 41

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1. · Zugangsart zum Phänomen: Hermeneutische Phänomenologie

gumentiert, dass die Seinsart des Lebens, d. i. die Sorge einen Bezugssinn hat: Das Sorgen ist Grundsinn des Bezugs von Leben. Bezugssinn je in einer Weise ist in sich ein Weisen und hat in sich eine Weisung, die das Leben sich gibt, die es erfährt: Unter-Weisung. Voller Sinn der Intentionalität im Ursprünglichen. (GA 61, S. 98) 49

Laut Heidegger ist dieser Bezugssinn zeitlich 50. Dieser zeitliche Charakter des Lebens (und mit ihm der geschichtliche Charakter) wird von dem ›Ruinanz‹ verdeckt 51. Deshalb ist es die Aufgabe der Philosophie, das Leben und die Welt in ihrem eigenen Sinn zu erfassen 52. Diese Aufgabe hat folglich zwei Momente: 1. die methodische Erarbeitung des Zugangs zum Sein des Lebens und 2. die methodische Sicherung dieses Zugangs. Laut Heidegger muss die Philosophie phänomenologisch hermeneutisch sein, um diese zwei Aufgaben anzunehmen.

§ 4 Hermeneutische Phänomenologie Heidegger definiert die Phänomenologie 53 in formaler Weise wie folgt: »Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.« 54 Laut Heidegger gibt es zwei MögSiehe auch GA 62, S. 365; Imdahl, 1997, S. 213 ff. Vgl. GA 61, S. 137 ff. Zum zeitlichen und geschichtlichen Charakter des Lebens und zum philosophischen Problem ihres Zugangs siehe die Vorlesung vom Wintersemester 1920/1921. 51 Vgl. GA 61, S. 139–140. 52 Laut Heidegger ist die Faktizität des Lebens keine ›Gegebenheit‹. Sie ist vielmehr ein ›Ausdruck‹ (vgl. GA 58 S. 257). Dieser Ausdruck muss explizit gemacht werden. Die theoretische Erklärung dieses Ausdrucks ist die Aufgabe der hermeneutischen Phänomenologie. 53 Für eine Übersicht von Heideggers Phänomenologie siehe: Hoffmann, 2005. Das aktuelle Kapitel möchte weder eine Geschichte der Entwicklung der hermeneutischen Phänomenologie liefern noch eine Darstellung der Änderungen und Unterschiede innerhalb der Philosophie Heideggers anbieten (dazu siehe z. B. Rodríguez, 1997b). Das hier angestrebte Ziel ist vielmehr, die Rekonstruktion eines kongruenten Bildes dieser Methode auszuführen. Es kann beanstandet werden, dass es in der heideggerschen Phänomenologie keine ›Standard-Methode‹ gibt. Obwohl dies nicht zu leugnen ist, ist auch klar, dass eine vollständige und kohärente Methode aus den Texten Heideggers rekonstruiert werden kann. 54 SZ, S. 34; GA 20, S. 117. In diesem Sinne bestimmt die Phänomenologie nicht die quidditas (Sachhaltigkeit) des Gegenstandes, sondern sie informiert über die Art und 49 50

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§ 4 Hermeneutische Phänomenologie

lichkeiten der Entformalisierung dieses Begriffs: Entweder wird er in Richtung des Seienden oder in Richtung des Seins entformalisiert 55. Die Phänomenologie, welche das Seiende erforscht (die von Heidegger sogenannte ›vulgäre Phänomenologie‹), ist laut Heidegger nicht primär 56. Für Heidegger muss sich im Gegenteil die ›phänomenologische‹ Phänomenologie nach dem Sein richten, weil das Sein den Sinn und den Grund des Seienden konstituiert 57. Das Sein sei kein Seiendes, aber dennoch sei das Sein »das, was Seiendes als Seiendes bestimmt« 58, und zwar als bedeutsames Seiendes. Das Sein des Seienden bedeutet bei Heidegger nicht das ›real Sein‹ eines realen Dinges. Es meint vielmehr den Sinn eines bedeutsamen Dinges 59. Das primäre Phänomen der Phänomenologie ist laut Heidegger das Sein 60. So wird die Phänomenologie als ›Ontologie‹ verstanden 61. Die phänomenologische Ontologie ist gleichzeitig hermeneutisch 62, da die Bedeutsamkeit des Bedeutsamen aus dem Kontext heWeise (das Wie), in der die Aufweisung und Behandlung des Gegenstands vollzogen werden (vgl. SZ S. 34–35; GA 20, S. 104). 55 Diese Entformalisierung in zwei Richtungen entspricht der ontologischen Differenz (vgl. Herrmann, v., 1981, S. 20 ff.). Siehe auch Herrmann, v., 2000, S. 122–148. 56 Vgl. SZ, S. 34–35. 57 SZ, S. 35. 58 SZ, S. 6. Wie Von Herrmann feststellt, ist diese These »die erste formale Anzeige für den Grundgedanken der ontologischen Differenz.« (Herrmann, v., 1981, S. 30). 59 Sheehan erklärt dies wie folgt: »[W]hen [Heidegger] uses the language of ›being‹, he means ›being‹ as phenomenologically reduced, i. e. as meaningfulness. When he says das Seiende he means not just beings (to on) but beings as intelligible (to alethes), not ›what is out there‹ but what is meaningfully present (to paron) within a human context.« (Sheehan, in Dreyfus; Wrathall (Hrsg.), 2005, S. 197; siehe auch Sheehan, 2015a, 123 ff.). 60 »Phänomen im phänomenologischen Verstande [ist] immer nur das […] Sein aber je Sein von Seiendem« (SZ, S. 37). Doch dies bedeutet nicht, dass das Sein als Seiendes interpretiert wird, sondern, dass das Sein zum Gegenstand der phänomenologischen Forschung gemacht wird. Nun gibt es hier einen Unterschied zwischen dem Projekt der frühen Freiburger Periode und dem Projekt von SZ. Im ersten ist das faktische Leben (in seinem Sein) das fundamentale Phänomen der Phänomenologie. Das Ziel dieser ersten Untersuchung ist die Konkretisierung einer vor-theoretischen und originären Urwissenschaft. Im letzten ist die Analyse des faktischen Lebens (nun Dasein genannt) der Zugang zu dem richtigen Fragen nach dem Sinn von Sein überhaupt. 61 Vgl. SZ, S. 35–38. 62 Heidegger führt drei Argumente für die These der Wichtigkeit der Hermeneutik an: Erstens: Da das Dasein ein Seinsverständnis habe, sei die Hermeneutik die Form, in der dieses Verständnis explizit ausgedrückt und erklärt werden könne. Zweitens: Da das Dasein einen ontisch-ontologischen Vorrang im Modus eines Seinsverständnisses habe und da dieses Verständnis durch die Hermeneutik explizit gemacht wer-

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1. · Zugangsart zum Phänomen: Hermeneutische Phänomenologie

raus entsteht 63. Heidegger argumentiert, dass das Sein des Seienden zunächst in jeglichem Sichzeigen des Seienden verborgen wird 64, weil das Phänomen sich immer in einem Verständnishorizont 65 zeigt und den könne, öffne die Hermeneutik den Horizont jeder weiteren ontologischen Forschung. Drittens: Da die Hermeneutik den geschichtlichen Charakter des Daseins untersuche und erkläre, sei sie die (methodische) Bedingung der Möglichkeit der Historie (vgl. SZ, S. 37–38). 63 Laut Heidegger entsteht die Bedeutsamkeit aus dem praktischen Kontext des weltlichen Lebens. Dies unterscheidet Heideggers hermeneutische Phänomenologie von der transzendentalen Phänomenologie Husserls. Sheehan erklärt: »What finally separated Heidegger’s phenomenology from Husserl’s was their disagreement over the constitution of the meaningfulness of the meaningful. After the Logical Investigations, Husserl took a neo-Kantian and Cartesian turn and claimed that transcendental subjectivity, in intentional correlation with its objects, was the source of all meaninggiving. Heidegger, on the other hand, argued that the lived context or world within which things are encountered – the matrix of intelligibility structured by correlative human interests and purposes – was the source of meaning.« (Sheehan, in Dreyfus; Wrathall (Hrsg.), 2005, S. 196–197; siehe auch Sheehan; Palmer (Hrsg.), 1997). 64 SZ, S. 35. 65 Bei Heidegger hat der Begriff ›Horizont‹ eine ontisch-hermeneutische und eine ontologisch-hermeneutische Bedeutung. 1. Horizont bedeutet, ontisch-hermeneutisch, die Interpretationslage (hermeneutische Situation), in der eine Interpretation durchgeführt werden muss. Die Aufgabe der Hermeneutik ist es, diesen Horizont zu bearbeiten, sodass eine Frage in ihrem ursprünglichen Sinn behandelt werden kann und ein Phänomen in seinem eigenen Sein durchsichtig gemacht werden kann. Zum Beispiel schreibt Heidegger: »Wir wollen Geschichte und Natur so herausstellen, daß wir sie vor der wissenschaftlichen Bearbeitung sehen, daß wir beide Wirklichkeiten in ihrer Wirklichkeit sehen. Das besagt aber: einen Horizont gewinnen, aus dem heraus erst Geschichte und Natur abgehoben werden können. Dieser Horizont muß selbst ein Feld von Sachbeständen sein, aus dem sich Geschichte und Natur abheben. Von, der Freilegung dieses Feldes handeln die ›Prolegomena zu einer Phänomenologie von Geschichte und Natur‹.« (GA 20, S. 7). 2. Ontologisch gesehen muss der Horizont in Zusammenhang mit der Transzendenz des Daseins verstanden werden. Da die Bestimmung der Transzendenz zwei Stufen hat, nämlich Insein und Zeitlichkeit, hat der Horizont zwei Definitionen: a. Horizont ist ein Verständnishorizont (das hermeneutisch konstituierte Woraufhin des Entwurfs bzw. des Verstehens) (vgl. SZ, S. 151; 324). Horizont bedeutet demzufolge ein hermeneutischer Hintergrund, in dem die Sachen verstanden werden (siehe § 12, α der vorliegenden Arbeit). b. Horizont meint auch ekstatischer Horizont: Das Wesen der Zeitigung der Zeit, so argumentiert Heidegger in der Vorlesung vom Sommersemester 1927, ist, außer sich zu sein. Die Zeit »ist dieses Außer-sich selbst« (GA 24, S. 378), sie ist ekstatisch. Im Wesen jeder Ekstase, so Heidegger, liegt »eine Entrückung nach …, auf etwas hin« (ebd., S. 378). Diese Entrückung sei selbst offen. Dann schreibt Heidegger: »Das, wohinein jede Ekstase in einer bestimmten Weise in sich selbst offen ist, bezeichnen wir als Horizont der Ekstase. Der Horizont ist die offene Weite, wohinein die Entrückung als solche außer sich ist.« (Ebd., S. 378). Siehe auch SZ, §§ 67 ff. und § 14 der vorliegenden Ar-

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§ 4 Hermeneutische Phänomenologie

dieser Horizont üblicherweise nicht erklärt wurde. Die Konsequenz dieser Unachtsamkeit ist laut Heidegger, dass das Phänomen in Bezug auf diesen interpretativen verdeckten Horizont verstanden wird. Es wird dem Phänomen immer als etwas Horizontales begegnet 66, bzw. stets in einem interpretativen bzw. geschichtlichen Horizont. Aus diesem Grund wird das Phänomen nicht in einer hermeneutisch-phänomenologischen Art und Weise aufgefasst, solange dieser Horizont nicht erklärt wird. Folglich muss der λόγος der Phänomenologie bzw. ihres Verfahrens hermeneutisch sein: Er soll das Phänomen in Bezug auf seinen Verständnishorizont interpretieren. Der Hauptgegenstand der hermeneutisch-phänomenologischen Untersuchung ist, wie bereits gesagt, das faktische Leben. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Untersuchung eine (Seins-)Möglichkeit des Lebens ist und als solche sie in Bezug auf das Sein des Lebens verstanden werden muss. Die hermeneutische Phänomenologie muss den selbstauslegenden Charakter des Lebens erläutern und den interpretativen Horizont dieser Selbstauslegung aufklären. Diese zwei Aufgaben konstituieren die Teile der hermeneutischen Methode: Interpretation und Destruktion.

beit. Horizont meint dementsprechend das intentionale Korrelat (das Woraufhin) des Intentionalseins des Daseins (des Sichrichten-auf) und den hermeneutischen Hintergrund, vor dem etwas verstanden wird. In der husserlschen Phänomenologie weist der Begriff Horizont auch auf die Transzendenz bzw. auf die Intentionalität hin. Laut Husserl ist ›Horizont‹, wie Gubatz erklärt, »das, was in der Hinwendung des Bewusstseins zu einer Sache an dieser Sache selbst oder an deren Umgebung im Hintergrund und also unthematisch bleibt, das aber wesentlich für die Bestimmung dieser Sache ist und im weiteren Wahrnehmungsverlauf zur Präsenz kommen bzw. zum Thema werden kann.« (Gubatz, in Gander (Hrsg.), 2010, S. 133). Siehe Hua III/1, § 35; XXII, S. 278 f. 66 Im Jahr 1921 schlägt Heidegger den Begriff ›begegnen‹ vor, um das, was von der husserlschen Phänomenologie zuvor als ›gegeben sein‹ bezeichnet wurde, besser zu formulieren. Laut Heidegger beziehen sich die husserlschen Begriffe ›Gegebenheit‹, ›gegeben sein‹ auf eine theoretische reflexive Einstellung, in der das Erlebnis nicht als ›Erlebtes‹ erfasst werden kann. In der Erfahrung ist die Welt nicht ›gegeben‹, sondern wir begegnen der Welt, insofern sie ›weltet‹ (vgl. GA 56/57, S. 88; GA 61, S. 91).

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1. · Zugangsart zum Phänomen: Hermeneutische Phänomenologie

§ 5 Methode der hermeneutischen Phänomenologie: Interpretation und Destruktion Laut der frühen Freiburger Vorlesungen ist das Leben sowohl faktisch als auch geschichtlich. Das Leben ist faktisch in dem Sinne, dass es immer in-einer-Welt, in der Weise eines Verständnisses dieses ›InSeins‹, ist. Geschichtlich ist das Leben, insofern es in diesem In-Sein sich und die Welt in Bezug auf den jeweiligen Verständnishorizont interpretiert. Dies bedeutet, dass das Leben schon von historischen interpretativen Elementen, welche üblicherweise verborgen sind, beeinflusst ist. Während der faktische Charakter des Lebens die Interpretation als adäquate Methode für die Artikulation des Verständnisses vorschlägt, wird die Destruktion von dem geschichtlichen Charakter des Lebens als Methode der Entdeckung der interpretativen Verbergungen gefordert. Diese zwei Aufgaben hängen zusammen 67. Interpretation und Destruktion sind nicht zwei separate methodische Schritte, sondern Momente einer einheitlichen hermeneutisch-phänomenologischen Forschung. α.

Interpretation und hermeneutische Situation

Laut Heidegger geht das Dasein mit Seienden um und in diesem Umgang versteht es sich selbst und das Sein dieser Seienden. Das Verständnis von Gegenständen ist ein Mitverständnis der Strukturen des Verstehens und des Verstandenen. Für Heidegger ist das, was mit der unmittelbaren Erfahrung von etwas mitverstanden wird, das Sein des Seienden. Zum Beispiel ist in der unmittelbaren Erfahrung eines Hammers, im Hämmern, das, was mitverstanden wird, das Sein dieses Seienden: die Zuhandenheit (des Hammers) (vgl. SZ, § 15); in der Welterfahrung wird die Weltlichkeit bzw. die Bedeutsamkeit mitverstanden (vgl. SZ, § 18); in der Erfahrung des alltäglichen öffentlichen De Lara schreibt: »Die Zentralität des Methodenproblems in der hermeneutischen Phänomenologie hängt also damit zusammen, dass der Gegenstand derselben, die Existenz, historisch ist (also zunächst faktisches Leben) und nur als solche (Existenz) ist, insofern sie in einer und durch eine sie mit ausmachende Methode intendiert wird. Die Interpretation selbst muss ursprünglich historisch sein, d. h., sie muss ständig den rechten Bezug zu ihrem Gegenstand vollziehen […]« (De Lara, 2008, S. 89). »Die Destruktion gehört demnach notwendigerweise zur Methode, insofern das Leben historisch im Sinne von faktisch ist.« (Ibid.). Vgl. ebd., S. 220–222.

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§ 5 Methode: Interpretation und Destruktion

Umgehens wird das Selbst uneigentlich als das Man-Selbst mitverstanden (vgl. SZ, § 27); in der Selbsterfahrung, durch die Erfahrung der Angst, des Todes, und/oder des Gewissensrufs, werden das eigene Seinkönnen, das In-der-Welt-sein und die Nichtigkeit (das Grundsein) mitverstanden (vgl. SZ, §§ 40, 53, 58, 60), usw. Die von Heidegger genannte hermeneutische Intuition meint dieses unmittelbare (vor-theoretische) Verständnis des eigenen Seins und des Seins der Welt, das in jeder alltäglichen Erfahrung geschieht 68. Die Erläuterung dieses Verständnisses konstituiert die Aufgabe der hermeneutischen Phänomenologie, deren Methode die Interpretation ist. Die hermeneutische Intuition ist ein Auffassungsmoment der Hermeneutik 69. Die Hermeneutik versucht das Verständnis des Lebens auszudrücken, ohne den Vollzugscharakter des Lebens zurückzuhalten bzw. ohne es als Objekt zu interpretieren 70.

Vgl. GA 56/57, S. 117. Im Wintersemester 1919/1920 nennt Heidegger die hermeneutische Intuition ›reines Verstehen‹. Wie Rodríguez erklärt, bedeutet ›rein‹ hier nicht das Fehlen der empiria wie im Transzendentalismus, sondern das Echte im Verstehen (vgl. Rodríguez, 1996, S. 74, Fußnote Nr. 31). Heidegger schreibt: »Wie kann sich die Anschauung von Lebenssituationen explizieren? Im reinen Verstehen, das sich ausformt in der Interpretation von Sinnzusammenhängen« (GA 58, S. 233). Siehe auch: GA 56/57, S. 109. In SZ geschieht die Evidenz (der Existenz) in der Erschlossenheit. Deswegen ist die Erschlossenheit in SZ der Ort der Wahrheit (und der existenzialen Wahrheit) (vgl. SZ, § 44, c). Vgl. Sheehan, 2015a, S. 123. Die Notion des unmittelbaren Verständnisses erlaubt es Heidegger, verschiedene Seinsstrukturen durch die Erfahrung von Grundphänomene zu untersuchen, da diese mit der Erfahrung dieser Phänomene miterfahren bzw. mitverstanden werden. Die Phänomene, die auf bestimmte Seinsstrukturen und andere Phänomene verweisen, sind, wie später gezeigt wird, die Bezeugungen. Diese Phänomene können analysiert werden, um die verweisenden Seinsstrukturen aufzufassen und/oder zu überprüfen. Siehe Kapitel 3 und 4 der vorliegenden Arbeit. 69 Vgl. GA 56/57, S. 117; GA 58, S. 185; 237–240. Xolocotzi liegt damit richtig, dass diese Erklärung noch nicht eine reflexive Einstellung ist, sondern ein explizites Erlebnis eines unexpliziten Erlebnises (vgl. Xolocotzi, 2004, S. 99 ff.). 70 Laut Heidegger erfordert das Leben diese Methode: »Das Leben als Korrelat ursprüngsmäßigen Verstehens hat weder Objektcharakter noch Sachverhaltcharakter. Deshalb ist die methodische Grundhaltung der Phänomenologie eine ganz andere als die der Objektwissenschaft.« (GA 58, S. 237). De Lara schreibt: »Hermeneutik ist also der konkrete Vollzug einer Auslegung, die dem Dasein sein Sein, seine Faktizität zu Begegnung, Sicht, Griff und Begriff bringt.« (De Lara, 2008, S. 208). De Lara erklärt: »Die Aufgabe der Hermeneutik ist es also nicht, feste, endgültige und öffentlich feststellbare Bestimmungen dessen zu erreichen, was das Dasein ist – des Daseins in seinem Was-Sein –, sondern ein durch Auslegung Aufmerksam-machen auf das eigene Sein als Existenz – als das Sein, das wir je sind und zu sein haben.« (Ebd., S. 216). 68

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1. · Zugangsart zum Phänomen: Hermeneutische Phänomenologie

Laut Heidegger ist dieses Selbst-Verständnis gleichursprünglich eine Selbst-Auslegung. Das Verständnis knüpft an einen auslegenden Horizont an. Heidegger nennt diesen Horizont Ausgelegtheit, wenn es um den praktischen Horizont des Verstehens geht, und hermeneutische Situation 71, wenn es um eine (theoretische) Interpretation geht. Dieser Horizont hat, nach Heidegger, eine Vor-Struktur 72. Zur Auslegung dieses Horizonts gehört eine Vorhabe, eine Vorsicht und ein Vorgriff. Die Erklärung dieser drei Charaktere des Verstehens konstituiert die Aufgabe der Interpretationsmethode. In seinen frühen Freiburger Vorlesungen hat Heidegger das Problem der Vorstruktur einer (interpretativen) Untersuchung angesprochen. In diesen Vorlesungen wurden die Begriffe Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff von den Begriffen Blickstand, Blickrichtung (Blickhabe und Blickbahn) präfiguriert 73. Eine kurze Darlegung dieser beiden Begrifflichkeiten wird ein besseres Verständnis des Problems sicherstellen. Heidegger schreibt im sogenannten ›NatorpBericht‹ : Der Blickstand umgreift das, ›von wo aus‹ die Auslegung sich vollzieht, d. h. die jeweilige Daseinsweise der Lebenssituation, in der sich die Auslegung motiviert. Die Blickhabe betrifft die sachhaltige Vorbestimmtheit dessen, was thematisch für die Auslegung ergriffen ist: das ›Als Was‹, in dem im vorhinein der Gegenstand stellt. Die Blickbahn – der gegenständliche Zusammenhang, auf den hin der thematische Gegenstand ausgelegt wird, das, woraufhin er, in der entscheidend ansetzenden Interpretationsfrage, abgehört wird – was demnach die Bahn des interpretierenden Bestimmens vorzeichnet. (GA 62, S. 345)

Jeder interpretative Blick hat einen Ausgangspunkt und eine Richtung. Während der Ausgangspunkt durch den Begriff ›Blickstand‹ konzeptualisiert wird, wird die Blickrichtung durch die Konzepte ›Blickhabe‹ und ›Blickbahn‹ konzeptualisiert. Nach Heidegger ist der Vgl. GA 60, S. 3, 187; GA 17, S. 110, 115; SZ, S. 232. Heidegger nennt die methodische Aufgabe einer Forschung, die die existenziale Auslegung des Lebens theoretisch ausdrückt, erklärt und konzeptualiziert, ›Interpretation‹ (vgl. SZ, S. 232). Die Interpretation ist eine existenzielle Möglichkeit der ontologischen Struktur der Auslegung (vgl. ebd., § 32). Diese Vor-Struktur gehört demzufolge sowohl zu der existenzialen Auslegung als auch zu der existenziellen Möglichkeit des methodischen Ausdrucks derselben, nämlich zur Interpretation. Ersteres wird später in dieser Arbeit erklärt (siehe § 12, α). Letzteres wird an dieser Stelle dargestellt. 73 Dazu siehe De Lara, 2008, S. 131–135. 71 72

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§ 5 Methode: Interpretation und Destruktion

Blickstand das methodische Moment, in dem es erkannt wird, dass jede Untersuchung aus der jeweiligen Situation und Motivation des Interpretierenden heraus entsteht. Soweit das faktische Leben geschichtlich ist, hat dieser Blickstand einen historischen Charakter 74. Die Erkennung des Blickstands garantiert die Bemerkung der Vorurteile und Voraussetzungen und öffnet die Möglichkeit einer Destruktion derselben. Laut Heidegger fasst der interpretative Blick das, was interpretiert wird, als irgendetwas auf. Die Blickhabe ist das methodische Moment, in dem erkannt wird, dass das, was interpretiert wird, immer schon in einer Hinsicht angenommen bzw. angeschaut wird. Doch in der Interpretation wird nicht nur über einen zu untersuchenden Aspekt des Gegenstandes entschieden, sondern auch über die Weise, in der dieser Aspekt untersucht wird: Jede Untersuchung spricht ihren Gegenstand aus einer spezifischen Problematik an. Die Blickbahn ist das methodische Moment der Anerkennung dieser Problematik und des Ziels der Untersuchung. Die Interpretation muss mit der Erkennung anfangen, dass jedes interpretative ›Sichrichten-auf‹ (etwas) 75 einen situationellen, bestimmten Ausgangspunkt, Umgang und Vorgang hat. Nun konkretisiert Heidegger diesen Gedanken in der Marburger Periode durch die methodische Sicherung der Vorhabe, der Vorsicht und des Vorgriffs. In der Vorlesung vom Wintersemester 1923/1924 beschreibt Heidegger diese Begriffe sehr deutlich: 1. die Vorhabe: was für die Untersuchung im vorhinein gehabt wird, worauf der Blick ständig ruht; 2. die Art und Weise, wie das in der Vorhabe Gehaltene gesehen wird, die Vorsicht; 3. wie das in bestimmter Weise Gesehene aus bestimmter Motivation heraus begrifflich expliziert wird: der Vorgriff. (GA 17, S. 110) 76

Hier wird nochmals erklärt, dass jede Untersuchung eine Untersuchung von etwas ist 77 und dass die Interpretation von einem Sinnhorizont ausgeht, in dem das, was interpretiert wird, ›als etwas‹ angenommen wird. Nach Heidegger kann dieser Horizont nicht ›rein‹ Vgl. GA 63, S. 83. Die Formulierung ›Sichrichten-auf‹ zeigt die intentionale Begegnung des erschlossenen Daseins mit der Welt an (vgl. SZ, S. 62). 76 Siehe auch: SZ, S. 232; GA 17, S. 115–116 77 Die existenzielle Möglichkeit des Untersuchens gründet in der ›a priori‹ Struktur der Auslegung (vgl. SZ, § 32). 74 75

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1. · Zugangsart zum Phänomen: Hermeneutische Phänomenologie

sein. Im Gegenteil, der Horizont werde immer aus interpretativen Überresten bestehen. Die Aneignung dieser ›Voraussetzungen‹ bzw. Vorurteile als Ausgangspunkt konstituiert das, was Heidegger die Versicherung der hermeneutischen Situation nennt 78. Diese Aneignung wird methodisch durch die Destruktion vollzogen. β. Destruktion Heidegger betont, dass die phänomenologische Destruktion nicht die methodische Vernichtung der jeweiligen Ausgelegtheit besagt (wie der Name suggerieren könnte), sondern dass sie eine Methode ist, mit der diese Ausgelegtheit, angesichts des (historischen) Phänomens, gesichert werden kann. In der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie (Sommersemester 1927) stellt Heidegger das Vorgehen einer Phänomenologie vor, die als Methode einer Ontologie dient 79. Diese Methode hat drei Momente: Reduktion, Konstruktion und Destruktion. Der Begriff ›Reduktion‹ wurde zuerst in der husserlschen Phänomenologie gebraucht 80. Nach Husserl ist die phänomenologische Reduktion die Operation, die »uns das ›reine‹ Bewusstsein und in weiterer Folge die ganze phänomenologische Region zugänglich macht.« 81 Diese Operation besteht aus der Klammerung der Wirklichkeit der Welt und der Umleitung des Blicks auf die Immanenz des Bewusstseins 82 (ἐποχή), dort, wo die noetische-noematische Struktur hervorgehoben wird 83. Heidegger benutzt den Begriff der ›Reduktion‹, um »die Rückführung des phänomenologischen Blickes von der wie immer bestimmten Erfassung des Seienden auf das Verstehen des Seins […] dieses Seienden« zu bezeichnen 84 (d. h. eine Wandlung von der ontischen zur ontologischen Ebene). Vgl. SZ, S. 232. Laut Heidegger liegt der wissenschaftliche Wert einer Untersuchung in der »Ausarbeitung [dieser Vor-Struktur] aus den Sachen selbst« (vgl. ebd., S. 153). 79 Vgl. GA 24, § 5; S. 27–28; vgl. S. 31. 80 Vgl. Hua II, S. 43–45; Hua III/1, §§ 32 ff. 81 Ebd. (insbes. Hua III/1, S. 68). 82 Vgl. ebd., S. 65–68; § 50. 83 Vgl. ebd., §§ 87 ff. 84 GA 24, S. 29. Zum Unterschied zwischen den zwei Ansätzen siehe Herrmann, v., 1981, S. 42–47. 78

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§ 6 Die Klärung der Interpretation der vorliegenden Arbeit

Die heideggersche Reduktion ist ein ›negatives‹ Moment der Methode, welches mit einem positiven Moment ergänzt werden muss. Heidegger nennt dieses positive Moment: ›phänomenologische Konstruktion‹. Nach Heidegger braucht das Seinsverständnis ein Entwerfen, welches dieses Verständnis in den Blick rücken könnte. Deswegen hat die phänomenologische Konstruktion die Funktion die Seinsbestimmungen bzw. Seinsstrukturen in den Blick zu rücken und sie in einem Konzept zu sichern, sobald der phänomenologische Blick auf das Sein des Seienden zurückgeführt wird 85. Reduktion und Konstruktion sind jeweils der Ausgangspunkt und der Vorgang einer ontologischen Interpretation. Doch diese Interpretation operiert, wie gesagt, immer in einem Verständnishorizont. Es muss ein Moment in der Methode geben, der den historischen Charakter (und mit ihm die Zweideutigkeit 86) des Seinsverständnisses aufklären könnte. Nach Heidegger ist die Aufgabe des Moments der Destruktion, das Phänomen (d. i. das Verständnis des Seins des Seienden) durch einen kritischen Abbau der Begriffe, die für die Seinsbestimmung benutzt wurden, zu erklären 87. So sichern die Reduktion, die Konstruktion und die Destruktion den Ausgang, den Zugang (zum Phänomen) und den Durchgang (bzw. das Eindringen der Verborgenheit) der ontologischen Untersuchung 88.

§ 6 Die Klärung der Interpretation der vorliegenden Arbeit Die vorliegende Arbeit fragt nach dem ethischen Verständnis. Heidegger hat das Dasein als das verstehende Seiende charakterisiert. Diese Charakterisierung soll in Anbetracht der Frage nach dem ethischen Verständnis interpretiert werden. In seiner programmatischen Abhandlung Der Begriff der Zeit (1924) stellt sich Heidegger drei Fragen (im Rahmen einer Forschung des historischen Seins des Daseins, d. i. der Geschichtlichkeit), um die Vgl. GA 24, S. 29–30. Vgl. SZ, § 37. 87 Vgl. GA 24, S. 31. Als wesentlicher Teil der Hermeneutik der Texte (vgl. GA 62, S. 368) geht die Destruktion zu den Texten zurück, um die originären Situationen, die die philosophischen Erfahrungen motiviert haben, zu erkennen (vgl. GA 9, S. 3 f.). 88 Siehe die Forderung in SZ, S. 36–37. Vgl. Herrmann, v., 1981, S. 42. Siehe auch GA 58, S. 254–255. 85 86

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1. · Zugangsart zum Phänomen: Hermeneutische Phänomenologie

hermeneutische Situation einer Untersuchung aufzuklären. Um sich der Vorhabe der Interpretation zu versichern, fragt er: »als was [soll] das […] Dasein im vorhinein aufgefaßt werden […] [?]« 89 Da viele interpretative Möglichkeiten (Psychologie, Anthropologie, Physiologie usw.) historisch geöffnet sind, muss jede Untersuchung mit der Klärung der gewählten interpretativen Möglichkeit anfangen. Um die Vorsicht der Untersuchung auszudrücken, fragt Heidegger: »in welcher Hinsicht das so Vorgefaßte [zum] Gegenstand des Befragens wird« 90, wenn erkannt wird, dass »[d]ie Möglichkeiten der ›Sicht‹ sich in vorgezeichneten Grenzen [halten] [?]« 91 Schließlich fragt er nach dem Vorgriff: »welche Begrifflichkeit [steht] für das verstehende Aneignen zu Gebote[?]« 92 Der Vorgriff wird dann als eine »bestimmte Verständlichkeit« definiert, die in einer »überkommene[n] Begrifflichkeit« begründet ist 93. Die vorliegende Untersuchung soll, auf der Suche nach der Klarheit der hermeneutischen Situation, diese drei Fragen beantworten. Vorhabe: Das Phänomen, das diese Untersuchung anspricht, ist das Verständnis des Ethischen. Das Ethische zu verstehen, ist aber eine Seinsmöglichkeit des ethisch-verstehenden Seienden bzw. des Daseins. In die Vorhabe muss dann vor allem das Dasein gestellt werden. Vorsicht: Wie soll das Dasein verstanden werden? Eine vollständige Erklärung des Seins des Daseins wird später durchgeführt werden 94. Zunächst kann allerdings nochmal erwähnt werden, dass das Dasein dasjenige Seiende ist, dessen Sein ein Seinsverständnis aufweist 95. Die vorliegende Arbeit folgt Heideggers Interpretation des Daseins, doch sie sieht dieses Seiende als das ethisch verstehende bzw. erfahrende Seiende. Damit ist gemeint, dass das Dasein nicht nur als erfahrendes bzw. verstehendes Seiendes gesehen wird, sondern auch in Bezug auf die spezifische Möglichkeit des ethischen Verständnisses. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die vorliegende Arbeit das Dasein als ethisches Seiendes oder als Begründer der Ethik konzipiert. Diese

89 90 91 92 93 94 95

GA 64, S. 92. Ebd. Ebd., S. 89. Ebd., S. 92. Ebd., S. 89. Siehe Erster Teil, Kap. 1 u. Kap. 2 der vorliegenden Arbeit. Vgl. SZ, S. 12.

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§ 6 Die Klärung der Interpretation der vorliegenden Arbeit

Sichtweisen werden bewusst vermieden, da sie sich auf die Frage nach dem Grund des Ethischen beziehen. Vorgriff: Die Problematik, welche der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, ist die Problematik des ethischen Verständnisses. Wie verstehen wir (alltäglich) das Ethische? Die Behandlung dieser Problematik wird sich in der Begrifflichkeit der Daseinsanalytik, die in SZ entwickelt wurde, bewegen. Gründe für diese Entscheidung sind: 1. Die Begriffe von SZ wurden auf die Seinsstrukturen des Daseins eingeschränkt, d. h., sie bestimmen nicht die existenziellen (materiellen) Möglichkeiten dieses Seienden. 2. Die Begriffe von SZ sind nicht konkrete und definitive Konzepte, sondern formale Anzeigen. Das bedeutet, a. dass diese Begriffe nicht das ›Was‹ des Phänomens bestimmen und b. dass sie das Phänomen nicht ausmergeln. 3. Die heideggersche Untersuchung fragt nach dem Sinn von Sein überhaupt und nicht nach dem Ethischen. Dies lässt Raum für eine unabhängige Untersuchung bezüglich dieses Themas. 4. Die Problematik des Verständnisses des Ethischen ist eine Problematik des Verstehens, d. h. eine Problematik der Transzendenz. Die Daseinsanalytik ist eine Analyse des Menschen als transzendentales Seiendes. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit die von Heidegger suggerierte Seinsstruktur des In-der-Welt-seins als Grundlage der Untersuchung gewählt und in Bezug auf die Frage nach dem Verständnis des Ethischen interpretiert. Jede Untersuchung muss aus einem schon geöffneten Verständnishorizont und einer schon gegebenen Begrifflichkeit heraus entstehen. Doch wie könnte dieser Vorgriff übertroffen werden, um eine originale Untersuchung zu entfalten? Es könnte kritisiert werden, dass das Vorgehen dieser Untersuchung eine bloße Repetition, eine Verzerrung oder eine naive Manipulation des heideggerschen Vorgriffs ist. Doch diese Kritik übersieht, dass die hermeneutisch-phänomenologische Methode über ein Mittel verfügt, welches eine bloße Repetition dessen, was schon gesagt wurde, verhindert, und dass eine Aneignung des Verständnishorizonts im Hinblick auf eine konkrete und unabhängige Frage auszuführen erlaubt (Heidegger nennt diese Vorgehensweise Wiederholung). Dieses methodische Mittel, das uns den Vorgriff überwinden lässt, ist die formale Anzeige. Es muss folglich das Mittel der formalen Anzeige beschrieben werden und dann eine eigene formale Anzeige vorgeschlagen werden, welche es ermöglicht, den Verständnishorizont in Bezug auf die Problematik des Ethischen anzueignen. 45 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Kapitel 2. Die formale Anzeige und die methodische Vorgehensweise der vorliegenden Untersuchung

Laut Heideggers hermeneutischer Phänomenologie ist die formale Anzeige das methodische Mittel, das die Interpretation von einer vor-gegebenen Begrifflichkeit (welche von einer philosophischen Tradition gegeben ist) hin zu einer phänomenologischen Begrifflichkeit (welche das Phänomen auf eine bestimmte Art und Weise im Blick hat) leitet. Mit anderen Worten ist es der Ansatz, um den Vorgriff phänomenologisch in Angriff zu nehmen 96. Die vorliegende Untersuchung erkennt, dass der heideggersche Vorgriff eine Beschränkung hat: Die Daseinsanalytik wurde in Bezug auf die Stellung und Klärung der Frage nach dem Sinn von Sein ausgearbeitet 97. Die vorliegende Untersuchung muss die Daseinsanalytik durch eine formale Anzeige interpretieren, die uns den Verständnishorizont in Bezug auf die Frage nach dem Verständnis des Ethischen aneignen lässt. Im Folgenden wird das methodische Mittel der formalen Anzeige erklärt und die Anzeige dieser Untersuchung eingeführt.

§ 7 Das methodische Mittel der formalen Anzeige Oben wurde schon erwähnt, dass nach Heidegger die adäquate Konzeptualisierung des faktischen Lebens das »philosophische Problem in seinem Ursprung« ist 98. Die Problematik der formalen Anzeigen 99 Vgl. GA 58, §§ 1–14. Vgl. SZ, S. 372. 98 GA 59, S. 169; auch GA 56/57 S. 169 ff. 99 Eine vollständige Darlegung der Problematik der formalen Anzeige findet man in Imdahl, 1997. Siehe insbes. Kapitel VII; Oudemans, 1990. Siehe auch De Lara, 2008, Kap. 5; Rodríguez, in De Lara (Hrsg.), 2011, S. 71–93; Gethmann, 1993, S. 258; siehe auch 1974b; Dahlstrom, 1994b; Streeter, 1997; Crowell,1998. Die Problematik der formalen Anzeige dehnt sich bis zur marburguen Periode und SZ aus. Heidegger schreibt an Löwith in einem Brief von 1927: »Formale Anzeige, Kritik 96 97

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§ 7 Das methodische Mittel der formalen Anzeige

bezieht sich einerseits auf die Kritik Heideggers an der reflexiven Philosophie 100 und andererseits auf die philosophische Motivation, gegen die Ruinanz (d. i. die Tendenz des Lebens sich als das, was es nicht ist, zu verstehen) zu kämpfen 101. In der Reflexion, so Heidegger, kann das Erlebnis nur als ein Objekt dieses reflexiven Akts erfasst werden. Obwohl der Inhalt dieses Erlebnisses erfasst werden kann, übersieht dieser Ansatz den Vollzugssinn (und den Bezugssinn) des Erlebens 102. Die Frage ist dann, wie kann die Philosophie das faktische Leben konzeptualisieren, ohne es zu objektivieren? Die formale Anzeige ist das methodische Mittel, das Heidegger vorschlägt, um das Leben in seinem eigenen Sinn zu gewinnen. In der Vorlesung vom Wintersemester 1929/1930 definiert Heidegger die formale Anzeige als einen Hinweis, der versucht, den WieCharakter des Phänomens zu zeigen, ohne es auf seinen Objektcharakter bzw. vorhandenen Charakter zu beziehen. Besser gesagt: Sie versucht nicht die Eigenschaften und Qualitäten des Phänomens als vorhanden zu beachten, sondern den Vollzug des Phänomens in seiner eigenen Seinsart anzuzeigen 103.

der üblichen Lehre vom Apriori, Formalisierung und dergleichen ist alles noch für mich da [in der Analyse im Rahmen von SZ], wenn ich auch jetzt nicht davon rede.« (Drei Briefe Martin Heidegger an Karl Löwith, in Papenfuss; Pöggeler, 1990, S. 37). Ebenfalls behandelt Heidegger nochmal das Problem der formalen Anzeige in der Vorlesung vom Wintersemester 1929/1930, wo er ausdrücklich die formalen Anzeigen ›Tod‹, ›Zeitlichkeit‹, ›Geschichtlichkeit‹, ›Eigentlichkeit‹, ›Uneigentlichkeit‹, und ›Existenz‹ im Kontext von SZ verweist (vgl. GA 29/30, § 70, a). Zur formalanzeigenden Struktur der philosophischen Begriffe bei Heidegger siehe Van Dijk, 1991. 100 Vgl. GA 56/57, S. 59. Laut Heidegger gründet sich diese Tendenz der Philosophie auf die Tendenz des Lebens, sich selbst als ein Objekt zu verstehen (vgl. GA 60, S. 64). 101 So charakterisiert Heidegger die formale Anzeige als ›gegenruinant‹ (GA 61, S. 141 f.) insofern sie die prohibitive Funktion hat, die ›ruinante‹ Tendenz des Lebens, die das Leben als gegenwärtiges Objekt interpretiert, zurückzuhalten. Imdahl schreibt: Die einschränkende Fuktion der formalen Anzeige »ist sie Warnung davor, den Bezugssinn allein in die faktische Welt zu richten, ohne es auf seinen Ursprung in der Selbstwelt abzusehen« (Imdahl, 1997, S. 151). Dieser Aspekt der formalen Anzeige wird gewissermaßen auf die Problematik der Indifferenz in der durchschnittlichen Existenz übertragen. Das ›Offensein‹ der formalen Anzeige kann sich nicht in der Indifferenz der Durchschnittlichkeit vollziehen. Man muss diese Indifferenz ›verwandeln‹ (vgl. GA 29/30, S. 429; Imdahl, 1997, S. 168). Das methodische Mittel der formalen Anzeige arbeitet als ›Gegenbewegung‹ zur Ruinanz (vgl. GA 61, S. 131, 134, 138; Xolocotzi, 2004, S. 114). 102 Vgl. Xolocotzi, 2004, S. 112. 103 Vgl. GA 29/30, S. 428 ff.

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2. · Die formale Anzeige und die methodische Vorgehensweise

In diesem Sinne hat die formale Anzeige drei methodische Aufgaben: 1. Die ›neutralen‹ Aufgaben ein Ansatz der Aneignung des Vorgriffs zu sein 104 und die Forschung zu leiten. 2. Die ›negative‹ Aufgabe, a. die theoretische Einstellung als adäquate phänomenologische Einstellung abzulehnen; b. zu verhüten, dass der Gegenstand als Objekt interpretiert wird; und c. die Vorurteile und Voraussetzungen aufzuklären und anzueignen. 3. Die ›positive‹ Aufgabe den Sinn des Phänomens zu konzeptualisieren 105. Das heißt, dass die formale Anzeige die methodischen Prinzipien der Interpretation (Reduktion und Konstruktion) und der Destruktion vereint. Die ›neutrale‹ Aufgabe: Laut Heidegger hat die formale Anzeige die Funktion des Hinweisens 106. Sie bestimmt nicht den theoretischen Hintergrund, in dem das Phänomen gesehen wird, sondern sie konstituiert den Sinn, der die phänomenologische Klärung leitet, und den interpretatorischen Horizont, in dem das Phänomen erforscht wird 107. Hier ist zu beachten, dass der Horizont im Dienst des Phänomens gestellt werden muss und nicht umgekehrt. Obwohl die formale Anzeige den Gehalt des Phänomens nicht bestimmt, führt sie das Verstehen durch eine angenommene Blickbahn 108, d. i. durch eine spezifische und aufgeklärte Problematisierung. In diesem Sinne hat die formale Anzeige auch die Aufgaben die Forschung zu leiten und den Vorgriff zu erweitern 109. Rodríguez betont: »Die formale Anzeige ist ein Begriff, der explizit gedacht wird, um das methodische Problem des Vorgriffes phänomenologisch zu besprechen.« (Rodríguez, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 58–59. Eigene Übersetzung). 105 Vgl. De Lara, 2008, S. 182–183. 106 Heidegger schreibt im Wintersemester 1929/1930: »Sie sind anzeigend, darin ist gesagt: Der Bedeutungsgehalt dieser Begriffe meint und sagt nicht direkt das, worauf er sich bezieht, er gibt nur eine Anzeige, einen Hinweis darauf, daß der Verstehende von diesem Begriffszusammenhang aufgefordert ist, eine Verwandlung seiner selbst in das Dasein zu vollziehen.« (GA 29/30, S. 430). 107 Heidegger erklärt: »Den methodischen Gebrauch eines Sinnes, der leitend wird für die phänomenologische Explikation, nennen wir die ›formale Anzeige‹. Was der formal anzeigende Sinn in sich trägt, daraufhin werden die Phänomene angesehen.« (GA 60, S. 55). Aus diesem Grund nennt De Lara die formale Anzeige eine ›Ansatzmethode‹ (vgl. De Lara, 2008, § 25, a.). 108 Vgl. GA 63, S. 80; De Lara, 2008, S. 182–183. 109 Zu dieser Problematik siehe GA 9, Anmerkungen zu Karl Jaspers ›Psychologie der Weltanschauungen‹ (1919/1921). 104

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§ 7 Das methodische Mittel der formalen Anzeige

Die ›negative‹ Aufgabe: Die Phänomenologie muss das Phänomen im Blick behalten und sich den interpretatorischen Horizont aneignen, um das Phänomen begrifflich aufzufassen. Wie soll diese Konzeptualisierung aussehen? Heidegger argumentiert, dass die formale Anzeige kein Ordnungsbegriff bzw. keine Generalisierung sein muss. Im Unterschied zu der Generalisierung bestimmt die formale Anzeige nicht die Sachhaltigkeit (das Was; den Wasgehalt) des Gegenstandes und sie ordnet diese Sachhaltigkeit auch nicht in ein bestimmtes thematisches Sachgebiet ein 110. Die formale Anzeige zielt nicht darauf ab, das ›Was‹, sondern das ›Wie‹ des Gegenstandes zu zeigen 111. Sie ist jedoch keine Formalisierung 112. Nach Heidegger bestimmt die Formalisierung zwar nicht den ›Wasgehalt‹ des Gegenstandes, aber die Einstellung, mit der das ›Wie‹ des Gegenstands untersucht werden muss. Die Formalisierung bestimmt die theoretische Einstellung als die adäquate Untersuchungssicht, dieselbe, die als Konsequenz das ›Wie‹ des Gegenstands als Erfasstes, d. i. »als das, worauf der erkenntnismäßige Bezug geht«, bestimmt 113. Diese zwei Weisen der Konzeptualisierung der Gegenstandsart präjudizieren das Phänomen in seiner ›Sinnganzheit‹. Die Sinnganzheit eines Phänomens, wie es Heidegger auffasst, besteht aus dem Gehalts-, dem Bezugs- und dem Vollzugssinn. Während der Gehaltssinn den erfahrenen Gehalt (das Was) des Phänomens designiert und der Bezugssinn die Weise (das Wie) ernennt, in der dieser Gehalt erfahren wird, bezeichnet der Vollzugssinn die Weise (das Wie), in der der Bezugssinn vollzogen wird. Die heideggersche Phänomenologie versucht nach dieser Ganzheit zu fragen 114, Vgl. GA 60, S. 57–61. Zum Unterschied zwischen dem ›Was‹ und dem ›Wie‹ und zum Platz dieser Begriffe in der Entwicklung der Phänomenologie Heideggers siehe: Baur, in Rese (Hrsg.), 2010, S. 95–113. Siehe auch: Hoffmann, 2005, S. 88–95. 112 Der Unterschied zwischen Generalisierung und Formalisierung wurde erstmals von Husserl erwähnt. Siehe: Hua III/1, § 13. Während die Generalisierung die materiellen Kategorien des Gegenstands meint, deutet die Formalisierung auf seine formalen Kategorien hin. Zur Problematisierung Heideggers siehe De Lara, 2008, S. 175– 179; Rodríguez, 1997b, S. 162 ff. 113 GA 60, S. 61. Siehe auch GA 60, § 12; Vetter, 2014, S. 46; De Lara, 2008, S. 180– 181; Xolocotzi, 2004, S. 119. 114 Der Gehalt muss hier nicht als Inhalt (Sachhaltigkeit), sondern als das Worauf und Wozu des Bezuges interpretiert werden. Über die Sinnstruktur der Erfahrung schreibt Heidegger: »Jede Erfahrung – als Erfahren wie als Erfahrenes – kann ›ins Phänomen genommen werden‹, d. h. es kann gefragt werden: 1. nach dem ursprünglichen ›Was‹, 110 111

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2. · Die formale Anzeige und die methodische Vorgehensweise

und sie, ohne die nicht angeeigneten Voraussetzungen der Generalisierung und der Formalisierung, zu zeigen bzw. zum λóγος zu bringen. Die formale Anzeige ist das Mittel, um diese Aufgabe auszuführen. Sie beabsichtigt, so Heidegger, den Inhalt des Phänomens nicht zu bestimmen 115, sodass es von dem Phänomen selbst erfüllt werden kann. Gleichzeitig versucht sie die Art und Weise des Sichzeigens des Phänomens zu untersuchen, ohne das Untersuchen auf eine theoretische Einstellung zu reduzieren. Die formale Anzeige lässt den Vollzugssinn offen, sodass sich das Phänomen selbst in seinem eigentlichen Sinn zeigen kann 116. Das heißt, dass sie, in Übereinstimmung mit der Formalisierung, den Inhalt des Phänomens nicht bestimmt. Dennoch bemüht sie sich, die Einstellung in der Erfahrung nicht zu bestimmen, wie die Formalisierung es tut. Der formale Charakter der formalen Anzeige muss nur als ein Bezugscharakter gesehen werden 117. Deswegen schreibt Heidegger diesem Mittel den Indikativcharakter (Anzeigendescharakter) zu: Eine Anzeige ist ein Zeichen, das ›anzeigt‹ oder ›hinweist‹, ohne sich auf eine feste Bedeutung (Gehalt) zu beziehen 118. So hat die formale Anzeige eine einschränkende Funktion: Die Anzeige soll vorweg den Bezug des Phänomens anzeigen – in einem negativen Sinn allerdings, gleichsam zur Warnung! Ein Phänomen muß so vorgegeben sein, daß sein Bezugssinn in der Schwebe gehalten wird. […] Der Bezug und Vollzug des Phänomens wird nicht im Voraus bestimmt, er wird in der Schwebe gehalten. […] Es gibt keine Einfügung in ein Sachgebiet, sondern im Gegenteil: die formale Anzeige ist eine Abwehr, eine vorhergehende Sicherung, so daß der Vollzugscharakter noch frei bleibt. (GA 60, S. 63–64) 119. das in ihm erfahren wird (Gehalt), 2. nach dem ursprünglichen ›Wie‹, in dem es erfahren wird (Bezug), 3. nach dem ursprünglichen ›Wie‹, in dem der Bezugssinn vollzogen wird (Vollzug).« (GA 60, S. 63). Siehe auch GA 61, S. 52 f. 115 Vgl. GA 61, S. 175. In diesem Sinne wird die Methode der formalen Anzeige benötigt, um das Sein des Daseins aufzufassen, weil der Gehaltsinn des Daseins nur durch das durchsichtige Verständnis seines Vollzugssinnes möglich ist. 116 Der immanente methodische Sinn der formalen Anzeige, wie Vetter richtig betont, liegt in dem Versuch, den Vollzugssinn nicht in dem Gehaltssinn und in dem Bezugssinn zu annullieren (vgl. Vetter, 2014, S. 45). 117 Vgl. GA 60, S. 59; 63. 118 Siehe ein Äquivalent in der husserlschen Phänomenologie: Hua, XIX/1, S. A23 ff. insbes. A29–31. 119 Die formale Anzeige hat den Auftrag, die Problematik des Bezugs- und Vollzugs-

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§ 7 Das methodische Mittel der formalen Anzeige

Die formale Anzeige hat auf diese Art die ›negative‹ Aufgabe des Nicht-Konkretisierens (d. i. des ›Offen-Lassens‹). Doch diese Aufgabe besteht auch aus der Erklärung und Aneignung der Voraussetzungen und Vorurteile, die den Vorgriff beinhalten 120. Die ›neutrale‹ Aufgabe stellt den Horizont im Dienst des Phänomens dar. Die ›negative‹ Aufgabe klärt auf und eignet sich diesen Phänomen-gerichteten Horizont an. Laut Heidegger konstituiert diese letzte Aufgabe den wissenschaftlichen Charakter der formalen Anzeige. In seiner letzten frühen Freiburger Vorlesung erkennt Heidegger, dass die ›Forderung eines standspunktsfreien Betrachtens‹ bzw. eine Suche nach der Objektivität in der Behebung des Subjekts, ein großes Problem in der (wissenschaftlichen) Forschung ist 121. Heidegsinnes aufzubringen. De Lara schreibt: »Diese Art der Bestimmung [der formalen Anzeige] ist aber anzeigend, d. h. bei ihnen wird nicht ein gewisser Bezug (der theoretische) vorausgesetzt, sondern durch sie wird entscheidend auf das Problem des Bezuges und vor allem des Vollzuges hingewiesen. Die Anzeige als formal weist auf das Problem des Bezuges und Vollzuges hin, auf die Frage nach dem Wie und d. h. letzten Endes auf das Problem der Methode.« (De Lara, 2008, S. 181. Eigene Betonung). 120 Dazu siehe GA 9, ›Anmerkungen zu Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen‹ ; insbes. S. 28. Siehe auch Inkpin, in Rese (Hrsg.), 2010. Wie Pöggeler hier richtig betont, ist für Heidegger der Weg zu den ›Sachen selbst‹ »nicht der direkte Weg der freigebig ausgeteilten ›Wesenseinssichten‹, sondern der Umweg, der sich zuerst einmal gegen die eigenen Voraussetzungen wendet.« (Pöggeler 1980, S. 132). 121 Vgl. GA 63, S. 82–83. Der Ansatz einer Phänomenologie ohne Vorurteile kann in den Cartesianische[n] Meditationen Husserls gefunden werden (siehe genau Hua I, S. 74 ff.). Dies ist ein großer Unterschied zwischen den Ansätze Husserls und Heideggers, nämlich, dass für Husserl der wissenschaftliche bzw. objektive Charakter der Phänomenologie in der Vorurteilslosigkeit liegt, während dieser für Heidegger in der Anerkennung der Vorurteile und Voraussetzungen jeder Untersuchung und in der Aneignung dieser durch die formale Anzeige liegt. Darüber hinaus kritisiert Heidegger jeden Ansatz, der um des (›objektiven‹) wissenschaftlichen Standpunkts willen den lebendigen bzw. geschichtlichen Charakter der Welt und des Daseins verfälscht. So kritisiert er z. B. den Versuch, die Philosophie als strenge Wissenschaft zu konzipieren (siehe z. B. Hua XIX/1, S. 27). In einem solchen Versuch argumentiert Heidegger, herrscht in der untersuchenden Wissenschaft nicht mehr die Sache in ihre Sachhaltigkeit vor, sondern eine »Sorge der Gewißheit«. Diese Gewissheit ist nur durch die regula, d. i. durch die strenge Formulierung einer Methode erreichbar. Die Kritik Heideggers an einem solchen Ansatz (insbes. an Husserl) liegt darin begründet, dass durch einen Versuch der Gewissheit (der Methode) die Philosophie bzw. die Phänomenologie nicht mehr eine Untersuchung der Sachen selbst, sondern ein Versuch der inneren Konsistenz des Systems würde (vgl. GA 17, zweiter Teil, fünftes u. sechstes Kapitel; dritter Teil, erstes, zweites u. drittes Kapitel). Heidegger schreibt: »Primär steht die Wissenschaft und die mögliche Aufrichtung einer solchen in Frage, sekundär

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ger ist der Meinung, dass die Voraussetzung der Standpunktfreiheit eine naive Kritiklosigkeit beweist. Der wahre Sinn der Objektivität einer wissenschaftlichen Untersuchung liegt laut Heidegger in der Aneignung der Vorurteile und Voraussetzungen, die ihren Standpunkt konstituieren bzw. in der Aneignung des Blickstandes 122. Ein Vorurteil ist »ein Urteil, das vor der endgültigen Prüfung aller sachlich bestimmenden Momente gefällt wird.« 123 Voraussetzungen sind explizite oder implizite Entscheidungen, die im Rahmen einer Untersuchung bezüglich ihres Gegenstandes und ihres Zugangs getroffen werden. Nach der Beschreibung der Vor-Struktur der Auslegung/Interpretation ist klar, dass jedes Fragen Vorurteile und Voraussetzungen mitträgt 124. Nach Heidegger beginnt jede Untersuchung mit einem Fragen, welches auf eine bestimmte Weise festlegt, ›was‹ untersucht wird (Vorhabe), wie es untersucht wird (Methode), in welcher Hinsicht (Vorsicht) und in Bezug auf welchen Verständnishorizont es untersucht wird (Vorgriff). Diese Entscheidungen sind Resultate der Vorurteile und der Voraussetzungen, die zu einer Untersuchung gehören: es gibt Voraussetzungen und Vorurteil in (1) der Notwendigkeit einer solchen Untersuchung, (2) in der Angemessenheit einer bestimmten Methode und (3) in der Entscheidung einer Perspektive, um die Problematik zu bearbeiten 125. Dies zeigt, dass der pejorative Sinn des Vorurteils und der Voraussetdas Sein dessen, worüber gehandelt wird […].« (GA 17, S. 257). »So ist also in gleichem Sinne die Begegnismöglichkeit von Seiendem als Seiendem in seinem Seinscharakter verstellt, sofern das Seiende als mögliche Region einer Wissenschaft begegnet, […].« (Ebd., S. 269). »So ergeben diese drei Momente, daß in der Tat das cogito sum und dessen certitudo in einem viel fundamentaleren Sinne trotzdem bei Husserl lebendig sind, so, daß es hier erst recht nicht zu einer ausdrücklichen Nachfrage nach dem Seinscharakter des Bewußtseins kommt. Vielmehr wird hier gerade alles Interesse darauf verlegt, eine Grundwissenschaft auszubilden und das Seiende im vorhinein im Hinblick auf seine Eignung als Thema dieser Grundwissenschaft zu betrachten. Sein im Sinne des Region-Seins für Wissenschaft verstellt noch viel mehr die Möglichkeit, das Seiende in seinem Seinscharakter begegnen zu lassen.« (Ebd., S. 270). Eine ähnliche Kritik wird an die Philosophie des ›Systems‹ gerichtet. Hier argumentiert Heidegger, dass in solchen Philosophien das, was untersucht wird, nicht mehr das Seiende ist (womit die Möglichkeit eines Fragens nach dem Sein nicht mehr möglich ist), sondern »das Relationale«, d. i. das Verhältnis zwischen dem Seienden und dem System (vgl. GA 63, S. 40–43). 122 Vgl. GA 63, S. 83; siehe auch GA 20, S. 415. 123 So definiert z. B. Gadamer das Vorurteil. Siehe Gadamer, WuM, S. 255 ff. 124 Vgl. SZ, § 2; § 63. 125 Die Erkenntnis wird zu diesem Aussehen einschränkend (vgl. SZ, S. 61).

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zung in einem Missverständnis des auslegenden Charakters des faktischen Lebens begründet ist 126. Die wissenschaftliche (philosophische) Objektivität liegt nicht in einer Entledigung des erkennenden Subjekts, sondern in einer Erklärung der Weise, in der dieses Subjekt verstehen bzw. erkennen kann 127. Doch bedeutet dies, dass alle Vorurteile und Voraussetzungen gültig und produktiv für eine Untersuchung sind? Die Antwort ist negativ. Aus diesem Grund muss die ›negative‹ Aufgabe der formalen Anzeige immer aus der ›neutralen‹ herauskommen, besser gesagt, die Vorurteile und Voraussetzungen müssen in Bezug auf das Phänomen formuliert und angeeignet werden. Diese Aneignung besteht aus der Klärung dessen, was schon in der hermeneutischen Intuition verstanden wird. Diese Klärung ihrerseits besteht aus der Anerkennung der Vorstruktur der Auslegung und des Inhalts dieser Struktur in Bezug auf die spezifische Untersuchung. Sobald der Ausgangspunkt entschieden ist, besteht die ›negative Aufgabe‹ darin, neue Vorurteile und Voraussetzungen, die nicht von dem Phänomen selbst kommen, zu verhindern. Im Sinne dieser ›negativen Aufgabe‹ kann auch der Ausgangspunkt an sich abgelehnt werden, wenn er nicht mehr mit der direkten Erfahrung des Phänomens zusammenpasst 128. Die ›Objektivität‹ einer solcher hermeneutischen Aufgabe liegt darin, dass all die Vorurteile und Voraussetzungen aus der direkten Erfahrung des Phänomens und nicht aus Diskursen (bzw. von indirekten Erfahrungen dieses Phänomens) herausgenommen werden müssen. Fazit: 1. Die Untersuchung muss erkennen, dass alle Erfahrungen hermeneutisch sind und deswegen, schon Vorurteile und Voraussetzungen mittragen. 2. Die Untersuchung soll nicht dogmatisch sein, dies enthält auch die Voraussetzung der Standpunktlosigkeit. In einer Suche nach absoluter ›Objektivität‹ ignorieren die Wissenschaften, dass sie immer einer möglichen Falsifikation aufgrund der Vor-Struktur des Verstehens (der Auslegung) ausgesetzt sind. Dies ist der ontologische Grund für eine (ontische) Kritik der Wissenschaften, wie die von Popper. Zum Falsifikationsprinzip siehe Popper, 1982. 127 Das Vorurteil trägt eine historische Realität in sich, die einen spezifischen Sinn des Lebens zeigt. »Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.« (Gadamer, WuM, S. 261). 128 Aufgrund der Zweideutigkeit, die das Verstehen konstituiert (vgl. SZ, § 37), bleibt immer die Möglichkeit, dass der Ausgangspunkt falsch ist. 126

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3. Die Aneignung der Vorurteile und der Voraussetzungen muss immer in Bezug auf das Phänomen gemacht werden, d. h., dass der Ansatz bezüglich der direkten Erfahrung des Phänomens akzeptiert oder abgelehnt werden muss. Durch diese drei Prämissen hat der ›angeeignete‹ Ansatz eine höhere Objektivität und einen höheren methodischen Charakter als die naive Forderung der Standpunktlosigkeit. 4. Das Vorurteil und die Voraussetzung haben einen methodischen Charakter und können methodisch gebraucht werden, solange sie ihren hermeneutischen Charakter erkennen, in Konfrontation mit dem Phänomen bleiben und nicht das Phänomen zu ersetzen versuchen. Die ›positive Aufgabe‹ der formalen Anzeige muss aus diesem Grund die phänomenologische Konstruktion einleiten. Die ›positive‹ Aufgabe: Die positive Aufgabe der formalen Anzeige ist die Konzeptualisierung, das Bestimmen. Heidegger sagt: Alle Begriffe haben »die formale Funktion des Bestimmens« 129: Sie versuchen das ›Was-Sein‹ (den Gehalt) und das ›Wie-Sein‹ (die Seinsart) des Gegenstands aufzufassen 130. Erkenntnis ist folglich das Resultat der Erfüllung der begrifflichen (formalen) Bestimmung durch die direkte Erfahrung des Phänomens 131. Die formale Anzeige ist ein Begriff, doch ein geöffneter 132 bzw. formaler Begriff, d. h. ein Begriff, der keine Bestimmung (des Was) vorschreibt. Ihre Funktion ist vielmehr, wie schon erwähnt, die des Hinweisens 133: Sie richtet den Blick auf das PhänoGA 58, S. 262. Vgl. GA 9, Anmerkungen zu Karl Jaspers ›Psychologie der Weltanschauungen‹. Siehe Rodríguez, 2015, S. 59–61; Siehe auch GA 61, S. 24. 131 Vgl. De Lara, 2008, S. 160–161. Diese These wurde schon von Husserl vertreten (vgl. Hua XIX/2, S. 566 ff.). Zur anschaulichen Erfüllung eines Bedeutens (Bestimmens) siehe Hua XIX/2, §§ 8 ff. Siehe dazu § 29, α der vorliegenden Arbeit. 132 Wie Imdahl betont, gibt es hier einen Unterschied zwischen den Ansätzen Husserls und Heideggers. Während Husserl die Idee der Wissenschaft als überzeitlich auffasst (vgl. Hua III/1, S. 36 ff.) und so die Möglichkeit einer festen Fixierung des Wesens in objektiven absolut gültigen Aussagen als möglich erachtet (vgl. Hua XXV, S. 33), kritisiert Heidegger das Exaktheitsideal (vgl. GA 61, S. 111) und entwickelt die formale Anzeige als ein methodisches Mittel, das auf den Vollzugscharakter des Lebens hinweisen (doch nicht einschränken) kann (vgl. Imdahl, 1997, S. 130–131). 133 »Die formale Anzeige ist immer mißverstanden, wenn sie als fester, allgemeiner Satz genommen […] wird. Alles liegt darin, vom unbestimmten, aber irgendwie verständlichen Anzeigegehalt aus das Verstehen auf die rechte Blickbahn zu bringen.« (GA 63, S. 80) 129 130

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§ 7 Das methodische Mittel der formalen Anzeige

men selbst, d. i., sie ist ein methodisch vorgeschlagener Begriff, der den investigativen Blick auf die Seinsart (das Wie) des Phänomens zu richten versucht, ohne seinen Gehalt (sein Was) zu bestimmen. Sie bestimmt dann zwar die Richtung des Blickes, aber weder den Gehaltssinn noch den Vollzugssinn des Phänomens. Nun soll es an dieser Stelle klar sein, dass der Formalcharakter dieser Begriffe keine ›Verallgemeinerung‹ ist, die jeden Gehalt akzeptieren könnte. Heidegger betont, dass die formalen Anzeigen nicht mit den von Immanuel Kant genannten ›metaphysischen Begriffen‹ ausgeglichen werden können. Diese letzten sind Begriffe, die »etwas Letztes und Allgemeinstes meinen« und denen trotzdem »wesensmäßig die Möglichkeit der Ausweisung ihrer Rechtmäßigkeit durch eine Anschauung dessen, was sie eigentlich meinen« 134, fehlt. Während es Allgemeinheiten gibt, die sich durch eine Anschauung (bzw. direkte Erfahrung) nicht akkreditieren können 135, muss die formale Anzeige zwar geöffnet bleiben, aber sich immer auf das Phänomen beziehen. Die formale Anzeige ist so ein Ausdrucksbegriff: Sie drückt das Verstehen aus, und »[a]lles Verstehen vollzieht sich in der Anschauung.« 136 Die Konkretion der formalen Anzeige 137 und damit die Möglichkeit des Erkennens dessen, worauf der Begriff hinweist, hängt vom angezeigten Phänomen ab. Dies bedeutet, dass die formale Anzeige, wenn das Phänomen es erfordert, entweder modifiziert, verworfen oder bestätigt werden muss 138. Die formale Anzeige muss situativ GA 29/30, S. 422; Kant, KrV. Elementarlehre II. Teil, II. Abteilung. Transzendentale Dialektik. 135 Heidegger argumentiert gegen dieses Verständnis des Formalcharakters (vgl. GA 29/30, § 70, a.). 136 GA 58, S. 240. Die formale Anzeige weist diese Ausdrucksfunktion auf, insofern sie nicht eine Bestimmung vorschreibt, sondern (als Ausdrucksbegriff) den Sinn des Phänomens aufzeigt (vgl. De Lara, 2008, S. 196–197). Wenn das Leben schon ein Verständnis seiner Selbst hat, sind diese Anzeigen nur Ausdrucksbegriffe, welche die Funktion einer Leitung der Ausdrücklichkeit des Lebens übernehmen. 137 Im strengen Sinn kann die formale Anzeige nicht konkretisiert werden. Doch sie kann immer in Bezug auf das Phänomen geschärft werden. In diesem Schärfen gewinnt man trotzdem eine Erkenntnis des Phänomens und deswegen kann man über die Konkretion einer formalen Anzeige reden, wenn sie eine solche Präzisierung erreicht, die genau den Kern der Problematik anzeigt. 138 Vgl. GA 61, S. 32. Laut Heidegger gehört zur Phänomenologie, wie zu allen Untersuchungen, die ihre Resultate kommunizieren wollen, die Möglichkeit der (teilweisen oder vollständigen) Verdeckung dessen, was sie aufgedeckt hat. Deswegen muss sie kritisch mit sich selbst bleiben (vgl. GA 20, S. 119; SZ, S. 36). Die formale Anzeige 134

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erfüllt werden 139. Es ist wichtig zu bemerken, wie Georg Imdahl betont, dass »[d]ie spezifische Sachhaltigkeit im Begriff nicht vorgegeben, sondern in der Reflexion erst gewonnen werden [soll], und der Ertrag des formal anzeigenden Begriffs bestimmt sich demnach daraus, inwieweit er die Reflexion gleichsam zur Applikation verpflichtet.« 140 So sind die formalen Anzeigen ›Bewegungsbegriffe‹, so Imdahl, die eine hermeneutische Dynamik initiieren 141, welche Konkretion in der jeweiligen Situation des Daseins erreicht werden kann, d. i., der Gehalt dieser Begriffe wird nur im jeweiligen Verständnis erreicht. Der Gehalt kann nicht normativ vorgegeben sein, sondern in dem eigenen jeweiligen Verstehen des jeweiligen verstehenden Daseins gewonnen werden 142. So kann behauptet werden, dass in Bezug auf das Dasein die formalen Anzeigen auf Strukturen seines ›Wie‹ hinweisen und in diesem Sinne die Form des Erfahrens anzeigen. Die eigene Erfahrung ist dann das einzige, was die formale Anzeige akkreditieren oder ablehnen kann 143. Die methodische Anstrengung dieses Mittels bleibt in der Anpassung zwischen dem Begriff und dem Phänomen, was zeigt, dass die ›Leere‹ der formalen Anzeige nicht mit irgendeinem Gehalt erfüllt werden kann, sondern mit einem, der aus der direkten Erfah-

gewinne ihren ›kritischen‹ Charakter in dem konstanten Bezug auf das Phänomen und in der Aneignung und Erklärung des Vorgriffs. 139 Vgl. GA 61, S. 61. In der Vorlesung vom Wintersemester 1929/1930 erklärt Heidegger z. B., dass die Existenzialen (die formalen Anzeigen, die das Daseinsphänomen beschreiben) die Seinsstrukturen des Daseins anzeigen, ohne die partikulär und situativ existenziellen Möglichkeiten dieses Seienden zu bestimmen (vgl. GA 29/30, S. 429). Dies bedeutet, dass sich die Erfüllung dieser Anzeige immer in Bezug auf ein situatives Phänomen vollzieht, während die Anzeige in einer Weise formuliert werden muss, sodass sie nicht auf eine spezifische Situation hinweist. 140 Imdahl, 1997, S. 171. 141 Vgl. ebd. 142 Vgl. GA 63, S. 16. Imdahl drückt es so aus: »Wie ich diese Begriffe verstehe, so verstehe ich mich selbst, als ›jemeiniges‹ Verstehen, in dem ich durch niemanden vertreten werden kann.« (Imdahl, 1997, S. 172). 143 Wenn Heidegger z. B. die Befindlichkeit vorschlägt, um die Grundform der Erschlossenheit anzuzeigen (z. B. in SZ § 29), benutzt er einen formalen Begriff, der nur in der eigenen Erfahrung geprüft werden kann. Der Wert der formalen Anzeige besteht darin, dass es im alltäglichen Leben eine Erfahrung gibt, welche die Anzeige entweder bejahen oder verneinen kann. In dem Beispiel der Befindlichkeit gibt die Erfahrung der Abhängigkeit zwischen meiner Erfahrung der Situation (Welt) und den Stimmungen der Anzeige einen wissenschaftlichen Wert.

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§ 7 Das methodische Mittel der formalen Anzeige

rung des Phänomens kommt und aus diesem Grund für dieses Phänomen ›adäquat‹ ist 144. Mit dieser Erklärung der positiven Aufgabe der formalen Anzeige (und damit der phänomenologischen Konstruktion) wird dann klar, welchen methodischen Sinn die Analyse eines Seienden, wie z. B. des Daseins in SZ, hat. Zuvor wurde gesagt, dass nach Heidegger das Sein (des Seienden) das Phänomen der Phänomenologie ist. Nun kann die ontologische hermeneutische Phänomenologie, welche das Sein als Phänomen hat, nicht von der Analyse des konkreten Seienden getrennt bleiben. Die von Heidegger genannte ›vulgäre Phänomenologie‹ ist notwendig, solange sie das Seiende (d. i. das vulgäre Phänomen) untersucht und es als ›Evidenz‹ der Seinsbestimmungen vorstellt. In der phänomenologischen 145 hermeneutischen Vorgehensweise wird der Begriff ›Evidenz‹ verstanden werden, sowohl als (a) »ein bestimmter intentionaler Akt und zwar der Identifizierung des Vermeinten und Angeschauten« 146 als auch als (b) das faktische Sich-Zeigen des Seienden, welches die Ausweisung bzw. die Überprüfung der Konkordanz zwischen dem Sich-Zeigen des Seienden und den Seinsbestimmungen erlaubt 147. Die Phänomenologie muss

Vgl. GA 61, S. 33. Über diesen Begriff schreibt Heidegger: »Phänomenologisch bedeutet all das, was zur Art einer solchen Aufweisung von Phänomenen [d. i. in der Begegnisart des Gegenstandes], was zur Art der Aufweise phänomenaler Strukturen gehört, all das, was in dieser Forschungsart [der Phänomenologie] thematisch wird.« (GA 20, S. 118; siehe auch: SZ, S. 37). 146 GA 20, S. 67. 147 Vgl. Hua II, S. 35; 59. Husserls Evidenz besteht, wie Føllesdal erklärt, darin »dass eine oder mehrere Komponenten in dem Noema erfüllt sind.« (Føllesdal, in Gethmann, (Hrsg.), 2011, S. 375). So erklärt Føllesdal, dass Husserls Evidenz in vier Thesen zusammengefasst werden kann: 1. »Evidenz ist die Selbstgegebenheit eines Gegenstandes in unserer Erfahrung, das ist, der Gegenstand wird erfahren als ›selbst da‹ und nicht als vorgestellt, vermutet, etc.«; 2. »Evidenz erfordert nicht vollständige Füllung, oder Adäquatheit, die Füllung des Noemas darf partiell sein.« 3. »Evidenz ist nicht auf Gebiet der Urteile begrenzt; ein Gegenstand kann mit Evidenz gegeben sein, ohne dass darüber prädikativ geurteilt worden ist.« 4. »Evidenz ist nicht nur durch wahrnehmungsmäßige Erfüllung gegeben, sondern auch durch praktische Aktivität und durch Gefühle.« (Ebd., S. 376). Zum Begriff der Evidenz bei Husserl siehe § 29, α der vorliegenden Arbeit. 144 145

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sich auf die Seienden richten, um die ontischen 148 phänomenalen 149 Tatbestände (Evidenz), die als Bestätigung der Seinsbestimmungen bzw. der formalen Anzeigen taugen, einzusammeln 150. Deswegen schreibt Heidegger in SZ: Weil Phänomen im phänomenologischen Verstande immer nur das ist, was Sein ausmacht, Sein aber je Sein von Seiendem ist, bedarf es für das Absehen auf eine Freilegung des Seins zuvor einer rechten Beibringung des Seienden selbst. Dieses muß sich gleichfalls in der ihm genuin zugehörigen Zugangsart zeigen. Und so wird der vulgäre Phänomenbegriff phänomenologisch relevant. Die Voraufgabe einer ›phänomenologischen‹ Sicherung des exemplarischen Seienden als Ausgang für die eigentliche Analytik ist immer schon aus dem Ziel dieser vorgezeichnet. (SZ, S. 37)

Seit den frühen Freiburger Vorlesungen ist die hermeneutische Intuition die ›Evidenz‹ 151, welche die (theoretisch-begrifflichen) Bestimmungen, die in der Analyse des Daseins (des faktischen Lebens) vorgeschlagen wurden 152, überprüfen bzw. ausweisen kann. Die hermeSo ist die Ontologie, wie es Heidegger in einem Brief an Löwith von 1927 ausdrückt, »nur ontisch zu fundieren« (Drei Briefe Martin Heideggers an Karl Löwith, in Papenfuss; Pöggeler, 1990, S. 36). 149 Heidegger definiert diesen Begriff wie folgt: »Phänomenal ist demnach alles das, was in [der] Begegnisart [des Phänomens] sichtbar wird und was in [den] Strukturzusammenhang der Intentionalität gehört.« (GA 20, S. 118; siehe auch: SZ, S. 37). 150 Diese Forderung einer Ausweisung der Begriffe ist notwendig in der Phänomenologie als solche. Wie es Imdahl ausdrückt, »[bedürfen] [d]ie Begriffe der Phänomenologie einer anschaulichen Ausweisung.« (Imdahl, 1997, S. 128). Doch, wie Imdahl betont, entfernt Heidegger sich von der husserlschen Idee der Evidenz und der eidetischen Erkenntnis, insofern Heidegger dort eine Näherung zur mathematischen Evidenz sieht, die »die Objekte ein für alle Mal bestimmen [kann]« (GA 58, S. 238) und die unabhängig vom Erfahrenden bzw. von der Individualität des Forschers ist (siehe Hua III/1, S. 137). Heidegger sieht dann hier »die Gefahr, daß mit der eidetischen ›immanenten Anschauung‹ die Erlebnisse als Dinge aufgefaßt werden. Dagegen sucht er selbst einen Primat des Verstehens zu begründen, in dem das ›Historische‹, Faktische, in der Situation Jeweilige erhalten bleibt (vgl. GA 58, S. 237 f.).« (Imdahl, 1997, S. 129). Die Evidenz wird dann in dem heideggerschen Ansatz als die ›hermeneutische Intuition‹ verstanden werden. Und, insofern die Phänomenologie versucht, diese Intuition auszudrücken, zu erklären und zu konzeptualisieren, muss sie geöffnet bleiben, um eine Erweisung der Evidenz in der Wiederholung zu schaffen (vgl. GA 61, S. 88). In diesem Sinne, erklärt Imdahl, ist mit ›Wiederholung‹ »keine bloße Reaktualisierung eines Resultats gemeint, sondern der Weg zu einer sukzessiv schärferen Ausweisung der Interpretation.« (Imdahl, 1997, S. 130). 151 Vgl. GA 21, S. 107–108. Siehe dazu: Rodríguez, 1996, S. 72–73. 152 Rodríguez schreibt: »Die hermeneutische Intuition greift das unumgehbare phänomenologische Moment der Gegebenheit der ›Sache selbst‹ auf, der ursprünglichen 148

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§ 8 Die formale Anzeige dieser Untersuchung

neutische Intuition ist die einzige, welche die vorgeschlagene Anzeige bestätigen, transformieren oder verweigern kann. Dies, weil die Intuition die phänomenalen Tatbestände liefert und die direkte Erfahrung des Phänomens konstituiert. Deswegen legt Heidegger in SZ fest, dass die Analyse des Seins des Daseins der einzige Zugang zu der Untersuchung des Sinns des Seins (überhaupt) ist. Zum Abschluss muss es nochmal betont werden, dass die Konzeptualisierung der Seinscharaktere eines Seienden, d. i. die positive Aufgabe der formalen Anzeige zusammen mit den neutralen und negativen Aufgaben dieses Mittels, immer in Bezug auf die direkte Erfahrung des Phänomens durchgeführt werden muss. Die formale Anzeige muss dann dem Phänomen dienen und es nie ersetzen.

§ 8 Die formale Anzeige dieser Untersuchung Die vorliegende Interpretation untersucht das ›existierende‹, ›verstehende‹ Dasein (Vorhabe). Sie interpretiert das Seinsverständnis dieses Seienden als ›Verständnis des Ethischen‹. Das, was im interpretatorischen Moment der Vorsicht liegt, ist das Dasein als ethisch erfahrendes Seiendes. Die hermeneutisch-phänomenologische Aufgabe dieser Untersuchung ist es, das zu analysieren, was in der hermeneutischen Intuition schon in einer Weise verstanden wird (d. i. das Ethische und das ›ethische Sein‹ des eigenen Daseins). Die phänomenologische Konstruktion dieser Untersuchung hat deshalb zum Ziel, den Sinn des Ethischen und die Bedingungen der Möglichkeit des ethischen Verständnisses darzustellen und aufzufassen. Die Verfeinerung dieser Strukturen beginnt mit einer phänomenologischen destruktiven Analyse des begrifflichen ontologischen Horizonts (Vorgriff) der Daseinsanalytik Heideggers. Die formale Anzeige ist das methodische Mittel, welches eine Untersuchung von dem vorgegebenen Vorgriff zu einem phänomenologischen Verständnis voranschreiten lässt. Laut der vorherigen Darstellung muss eine solche formale Anzeige die folgenden Aufgaben erfüllen: Sie hat die ›neutrale‹ Aufgabe, sowohl auf die Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung des Ethischen hinzuweisen, als auch auf die Weisen, in denen das Ethische erfahren wird, sodass der Vorgriff (die Daseinsanalytik) in Bezug Sinnerscheinung, und als evidente Wiederholung garantiert sie die Formulierung dessen, was gesehen wurde« (Rodríguez, 1996, S. 74. Eigene Übersetzung).

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auf die Frage nach dem Verständnis des Ethischen interpretiert werden kann. Sie hat die ›negative‹ Aufgabe, für eine Behutsamkeit zu sorgen, die es vermeidet, nicht angeeignete Vorurteile und Voraussetzungen (des Gehaltes oder der Weise, in der das Phänomen untersucht werden muss) im Interpretationsverlauf mitzutragen. Sie hat ebenfalls die Aufgaben, die Bestimmung des Was des Ethischen zu vermeiden, und einen Blickwinkel zu erschaffen, in dem das Phänomen in seinem Horizont verstanden werden kann (dies, weil jede Erfahrung hermeneutisch ist). Sie hat zusätzlich die ›positiven‹ Aufgaben einer Konzeptualisierung der Bedingungen der Möglichkeit einer ethischen Erfahrung und einer begrifflichen Beschreibung dieser Erfahrung (beide in Bezug auf das situative Phänomen als einzige Evidenz der Bestimmungen). Sie hat schließlich die Aufgabe, die Öffnung der Begriffe zu erhalten, sodass das Phänomen der einzige Bezug sein kann, welcher die Bestimmungen akzeptieren, verweigern oder modifizieren kann. α.

Die Formulierung der formalen Anzeige der vorliegenden Interpretation

Die vorliegende Untersuchung benötigt eine formale Anzeige, die darauf hinweist, wie das Dasein das Ethische erfahren kann und wie es alltäglich das Ethische erfährt. In einem ersten Schritt soll unser alltäglicher Kontakt 153 mit dem ethischen ›Ereignis‹ 154 betrachtet werden, was uns einen ersten Hinweis auf die Weise geben kann, in der wir das Ethische verstehen. Ein Blick auf das alltägliche Leben zeigt, dass man normalerweise Tatsachen, Handlungen, Menschen und Vorgehensweisen als ›ethisch‹, ›moralisch‹, ›gerecht‹, ›richtig‹ und korrelativ als ›unethisch‹, ›amoralisch‹, ›ungerecht‹, ›falsch‹ usw. beurteilt und bezeichnet. Nun suggeriert ein kritischer Blick, dass die Möglichkeiten Heidegger schlägt die durchschnittliche Alltäglichkeit als den adäquaten Bereich vor, in dem das Dasein (und dementsprechend seine Möglichkeiten) phänomenologisch erforscht werden muss (vgl. SZ, S. 43). 154 Der Begriff ›Ereignis‹ wird zum Leitwort der Philosophie Heideggers nach 1936 (vgl. GA 9, S. 316; Dazu siehe Vetter, 2014, S. 176–180; Seubold; Schmaus, in Thomä (Hrsg.), 2013, S. 335–340; Dahlstrom, 2013, S. 17–19). In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff ›Ereignis‹ allerdings als Geschehnis verstanden und in Bezug auf die Ergebnisse von SZ interpretiert: siehe § 35 der vorliegenden Arbeit. 153

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der Beurteilungen und Bezeichnungen fundiert sein müssen, sowohl in einem Verständnis dessen, was beurteilt und bezeichnet wird, als auch in einem Verständnis des Urteilspunkts, welcher etwas in diesen bestimmten Weisen beurteilen und bezeichnen lässt. Man kann nicht etwas als ›ethisch‹ bezeichnen, wenn man nicht schon ›das Ethische‹ ›irgendwie‹ verstanden hat. Nun ist es üblich zu sagen: ›das Ethische ist das, was in der Gesellschaft erwünscht ist‹, d. i. die Konkordanz zwischen der Handlung und der jeweiligen Idee des Richtigen, die in den jeweiligen moralischen Normen dargestellt wird. Eine erste Antwort auf unsere Frage wird dann in der Alltäglichkeit gefunden: ›Wir verstehen das Ethische in der Korrelation zwischen der Handlung und der moralischen Norm‹. Doch das alltägliche Verständnis zeigt auch, dass das Ethische immer in Bezug auf den Menschen verstanden wird: Tiere und Pflanzen und ihre respektiven ›Handlungen‹ können nicht als ›ethisch‹ bzw. ›unethisch‹ beurteilt werden. Tiere und Pflanzen sind nicht ›ethische‹ Wesen, sie werden nicht als solche verstanden. Die ›Handlung‹, um die es in der ersten Antwort geht, ist eine ›menschliche Handlung‹. Dann ist eine zweite Antwort auf die Frage ermöglicht: ›Wir verstehen das Ethische in Bezug auf das ethische Seiende und dies ist der Mensch‹. Es gibt etwas in dem Sein dieses Seienden, das es erlaubt, ethisch zu sein. Diese zwei Antworten schematisieren mutatis mutandis die zwei Richtungen, in denen die Geschichte der Philosophie das Ethische erforscht hat: Einerseits wird das Ethische in der Beziehung mit einer Idee des Richtigen und mit Normen (des Verhaltens und Urteilens) untersucht und andererseits wird es in der Natur (bzw. im Sein) des Menschen gesucht. Tatsächlich können diese zwei Antworten schon in dem griechischen Begriff ἦθος gefunden werden. Dementsprechend kann eine Analyse dieses Begriffs sowohl für die Erklärung als auch für die Formulierung der formalen Anzeige der vorliegenden Untersuchung von Nutzen sein. Die Wörter ›das Ethische‹, ›die Ethik‹ stammen aus dem griechischen ἦθος. Laut Aristoteles leitet sich der Begriff ἦθος aus dem Begriff ἔθος ab 155. Beide, ἦθος und ἔθος, werden manchmal als

Vgl. Arist. Nich.Eth. II, 1, 1103a 15–20. Siehe auch: Platon, Rep. II 375a ff.; III 400d f.; VI 500d.

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›Gewohnheit‹, ›Sitte‹, ›Gebrauch‹ definiert 156. ›Sitte‹ (habitus) ist mit dem Wort ›Sitz‹ (habitat) verwandt 157: ἦθος und ἔθος haben auch die Bedeutungen ›Wohnung‹, ›Wohnort‹, ›Aufenthalt‹. Ἔθος als habitus bedeutet sowohl ein ›soziales‹ als auch ein ›individuelles‹ ἔθος. In der deutschen Sprache wird dieser Unterschied jeweils bei den Wörtern Sitte 158 und Gewohnheit 159 gemacht. Nun liegt ein fundamentaler Unterschied zwischen ἦθος und ἔθος 160 darin, dass ἦθος auf den Charakter (der Person) anspielt 161, d. h., dass ἦθος die Bedeutung ›Seinsart‹ 162 hat. Philosophisch gesehen erscheint hier eine Ambivalenz in den Bedeutungen von ἦθος: einerseits kann es ›Gewohnheit‹ und/oder ›Sitte‹ und andererseits ›Charakter‹ und/oder ›Seinsart‹ (d. h. die Art und Weise, in der man mit Gewohnheiten und Sitten umgeht) be-

Vgl. Riemer, 1819, S. 513 u. 809; Pabón, 2009, S. 173 u. 282; Firsk, 1973, S. 449 u. 625; Passow, 1841, S. 780 u. 1333. Passow übersetzt das Wort ἔθος auch als ›Herkommen‹ und macht eine Emphase in der Übersetzung des Wortes ἦθος als ›Wohnung‹, ›Wohnort‹, ›gewohnter Sitz‹, ›Aufenthalt‹. 157 Vgl. Riemer, 1819, S. 513 u. 809. 158 Vgl. Pfeifer, 1993b, S. 1297: »›Brauch, Gewohnheit, (moralischer), Anstand‹, ahd. situ (8. Jh.), mhd. site ›Art und Weise, wie man lebt und handelt, Volksart, -brauch, Gewohnheit, Beschaffenheit, Anstand‹ […].« 159 Trotzdem bleibt in der Herkunft des Wortes ›Ge-wohnheit‹ eine Referenz zu einem gemeinsamen Charakter (vgl. Pfeifer, 1993a, S. 447). 160 Trotz dieses Unterschieds bleibt eine Ambivalenz zwischen beiden Konzepten aufgrund ihrer etymologischen, historischen Verbindung erhalten: »Ethos: n. ›sittliche Haltung des Menschen, sein Handeln bestimmende Gesinnung‹. Griech. éthos (ἦθος) ›Charakter, Wesensart, Sitte, Herkommen‹ sowie (im Plur.) ›gewohnter Aufenthaltsort‹ wird im 18. Jh. von dt. Schriftstellern aufgenommen, erlangt aber erst im 20. Jh. den heute vorherrschenden Sinn ›als Triebkraft für das eigene Handeln akzeptierte Moralnormen der Mitglieder einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe‹. Das auch ins Lat. entlehnte (griech.-lat. ēthos) griech. Substantiv steht als dehnstufige Bildung neben griech. éthos (ἔθος) ›Gewohnheit, Sitte‹ (aus * Fέθος) und führt mit aind. svadhá ›Eigenheit, Charakter, Gewohnheit, Sitte, Wohnsitz‹. lat. sodālis ›Kamarad, Gefährte, Tischgenosse‹ […].« (Pfeifer, 1993a, S. 302). 161 Bei Aristoteles meint der Begriff ἦθος auch den Charakter des Dichters und Rhetorikers, d. i. die Einstellung (προαίρεσις) desselben in Bezug auf das, was er sagt (vgl. Aris. Poet. 1450b8 ff.; Rhet. 1378a6 ff.). Wie Ricken betont, werden bei Aristoteles »die Rede und Dichtung ethisch, wenn sich in ihnen eine Entscheidung zeigt (Rhet. II 21, 1395b13 f.; III16, 1417a16–19; Poet. 15, 1454a17–19).« (Ricken, in Höffe (Hrsg.), 2005, S. 215). Doch der Charakter wird nur als Entscheidung in Bezug auf den λόγος ethisch (siehe Fußnote Nr. 167 der vorliegenden Arbeit). 162 Vgl. Corominas, 1954, Vol. 2, S. 459. Zu einer kurzen Darstellung der Entwicklung der Begriffe in der antiken Philosophie siehe: Horn; Rapp, 2008, S. 155–157. 156

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deuten. Dennoch steht die Bedeutung ›Charakter‹ mehr im Vordergrund, wenn das Wort als Adjektiv ή ἠθικός gebraucht wird 163. Diese Ambivalenz wurde in der lateinischen Übersetzung des griechischen ἦθος ›moral‹ überliefert. Das deutsche Wort ›Moral‹ stammt aus dem lateinischen morālis, das von mōs, mōris abgeleitet ist und auch ›Sitte‹ 164, eine Lebensart 165 bedeutet. Die Bedeutungen ›Wohnung‹, ›Wohnort‹, ›Aufenthalt‹ verschwinden nicht in der lateinischen Übersetzung. Moral steht in einer Beziehung zu mŏrārī und trägt so diese Bedeutungen. Aus diesem etymologischen Grund werden die Wörter ›Ethik‹ (Adj. ethisch) und ›Moral‹ (Adj. moralisch) üblicherweise in der alltäglichen (und auch wissenschaftlichen) Sprache homologiert. Doch ein philosophischer Blick muss unbedingt erkennen, dass es hier zwei verschiedene Bedeutungen gibt, die nicht auf eine einzige Bedeutung reduziert werden können: Bedeutung 1. Ein Horizont der sozialen Möglichkeiten, der einen Bezug zu den Verhaltensnormen hat. Bedeutung 2. Die Art und Weise, in der man ›innerhalb‹ dieses Horizonts existiert, d. i. der Modus, in dem dieser Horizont entweder internalisiert oder angeeignet wird. Die Erkennung dieser zwei Bedeutungen zeigt die Notwendigkeit einer interpretativen Eingrenzung an, die nicht philologisch gemacht werden kann, nämlich die Eingrenzung der Bedeutung 1 auf den BeFirsk schreibt über ἠθικός: »den Charakter betreffend, sittlich« (Frisk, 1973, S. 625). In den philologischen Quellen findet man allerdings eine Inkongruenz zwischen den Bedeutungen. Zum Beispiel wird ἔθος in dem Etymological Dictionary of Greek von Beekes als ›Gewohnheit‹ (custom) und ›Charakter‹ definiert, obwohl sich die ganze Analyse auf die Bedeutungen ›usage‹ (Gebrauch) und ›custom‹ (Gewohnheit) konzentriert (vgl. Beekes, 2010, S. 378). Andererseits ist ἦθος bei Beekes nicht als ›Charakter‹ definiert, sondern nur als ›custom‹ und ›usage‹ : Beide Wörter sind mit dem indoeuropäischen suedh verwandt (die zwei Wörter unterscheiden sich nur in einem langgezogenen Vokal (ἦ)) (vgl. ebd., S. 511). Beeker weist ἔθος und nicht ἦθος die Bedeutung ›Charakter‹ zu. Trotzdem bestätigt er, wenn er das Wort ἠθικός definiert, die Bedeutung dieses Worts als ›Charakter‹ (vgl. ebd.). 164 Sitte (consuetudo). Cicero (2. Jhd. n. Chr.) sagte, dass die mōs (Sitte) eine soziale Praxis sei, die durch den Gebrauch etabliert wurde. Es ist ein Wort, das die Handlungsweise des Menschen, die abhängig von einem historischen, geographischen, politischen, demographischen Kontext ist, designiert. Der Begriff moralitas (als Theorie) erscheint im 4. Jhd. n. Chr. in den Schriften San Ambrosius’ (vgl. Roth, 1995, S. 571). 165 Vgl. Corominas; Pascual, 1981, Vol. 4, S. 136–137. 163

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griff ἔθος und der Bedeutung 2 auf den Begriff ἦθος. Dementsprechend grenzt die vorliegende Untersuchung die Bedeutungen ›Gewohnheit‹, ›Sitte‹, ›Gebrauch‹ auf den Begriff ἔθος und die Bedeutung ›Charakter‹ auf den Begriff ἦθος ein. Diese Eingrenzung ist keine philologische Bestimmung, sondern ein interpretatives Mittel, um zwei verschiedene ›ethische‹ Bedeutungen bzw. Phänomene anzuzeigen. Tatsächlich ist eine solche Eingrenzung nicht unbekannt in der Geschichte der Moralphilosophie und ihrer Lehre 166. Sie ist schon beispielsweise bei Aristoteles 167, Kant 168 oder Heidegger 169 selbst zu finden. Der Begriff ›Moral‹ fluktuiert, so Pieper, zweideutig zwischen den Bedeutungen ἦθος und ἔθος: Einerseits ist es ein Synonym für Sitte (ἔθος) bzw. Lebensweise, die das widerspiegelt, was in einer Gesellschaft wertvoll und bedeutungsvoll ist; andererseits trägt es die Bedeutung ›Charakter‹ (ἦθος). Um diese Zweideutigkeit zu meiden, unterscheidet Pieper zwischen Moral und Moralität und grenzt die Bedeutung ›Sitte‹ (ἔθος) auf Moral und die von ›Charakter‹ (ἦθος) auf Moralität bzw. Sittlichkeit ein (vgl. Pieper, 2007, S. 27 ff.). Laut Pieper muss das Wort ›Moral‹ unter diesen drei Aspekten verstanden werden: 1. Der Begriff ›Moral‹ meine einen »Katalog materialer Normen und Wertvorstellungen«, der einerseits »die Bedürfnisbefriedigung einer menschlichen Handlungsgemeinschaft regele« und andererseits unter dem Namen ›Pflicht‹ das diktiere, was aus dem jeweiligen Freiheitsverständnis dieser Gemeinschaft erwünscht sei. 2. Der Begriff ›Moral‹ fasst eine Mannigfaltigkeit von »empirische[n] Gegebenheiten und Tätigkeiten unter einem bestimmten Aspekt zu einem Sinnganzen zusammen«, ohne ihre Begründung zu problematisieren. 3. Der Begriff ›Moral‹ meine etwas Veränderliches, das sich trotzdem als etwas Unveränderliches vorstelle (vgl. ebd., S. 42–43). Moralität als ἦθος ist nach Pieper »das zur festen Grundhaltung gewordene Gut-sein-wollen, das sich den unbedingten Anspruch der Freiheit zu eigen und zum Sinnhorizont jedweder Praxis gemacht hat.« (ebd., S. 45). 167 Die aristotelische Ethik muss als die Übung und die Gewohnheit der Tugend um der Tugend selbst bzw. um des guten Lebens willen verstanden werden. Unter τὸ ἦθος wird der Charakter einer Person verstanden, die sich daran gewohnt tugendhaft zu handeln (vgl. Nic. Eth., II, 1, 1103a15–20. Siehe auch Kap. 2, 3, u. 4). Die ethische Handlung ist nicht diejenige, die dem moralisch Gewünschten folgt (die Sitte: ἔθος), sondern eine solche, die versucht, sich die Tugend in der Handlung anzueignen und diese Aneignung zu einem Teil des eigenen Charakters zu machen. In diesem Sinne ist das, was ethisch ist, nicht die Handlung, sondern die Bestimmung der Handlung (das, was die Handlung bestimmt, ist der Charakter (ἦθος) vgl. Poet. 6, 1450a5 f.), d. i. die Entscheidung (προαίρεσις) (vgl. Nic. Eth. III 4, 1111b5 f.). Siehe z. B. Aristoteles’ Analyse der Großzügigkeit (ἐλευθερία) (Nic. Eth., IV, 1, 1120a23–120b30). Es ist wichtig anzumerken, wie Ricken betont, dass ἦθος (Charakter) bei Aristoteles nicht nur einer moralischen Dimension entspricht, sondern vielmehr die formale Bestimmung einer Handlung ist, d. i. der Charakter als die Weise, in der wir sind (Persönlichkeit vgl. Pol. III 14, 1285a19–22; VIII 4, 1338b17–19; auch situationelle physische Bedingungen wie z. B. die Beschaffenheit des Herzens) und in der wir uns befinden (Stimmungen) (Arist. Part. an., III 4, 667a11–22; IV 11, 692a20–24). In diesem Sinne 166

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Darüber hinaus erlaubt sie eine Interpretation, die mit der Erklärung des Möglichseins des Daseins übereinstimmt. Innerhalb der heideggerschen Philosophie findet man die von Ramón Rodríguez so haben auch Tiere einen Charakter (vgl. Arist. Hist. an. I 1, 488b12–28; VIII 1, 588a16b3). Der Charakter wird allerdings durch sein Verhältnis mit dem λόγος ethisch (vgl. Arist. Nic. Eth., I 13, 1102b28–1103a10; Eud. Eth., II 2, 1220b5 f.). So gesehen ist der Charakter das, was sich in der Entscheidung zeigt (Poet., 6, 1450b8 f.). Zur Bedeutung von ἔθος und ἦθος in der aristotelischen Philosophie siehe Ricken, in Höffe, (Hrsg.), 2005, S. 212–216. 168 Bei Kant kann man auch einen Unterschied zwischen der Handlung und der Bestimmung dieser Handlung finden. Nach Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist der Wille das, was ethisch bzw. ›gut‹ sein kann (vgl. GMS, S. 393). Der Wille hat die Metamöglichkeit, entweder das Gute, oder das Böse zu wählen, und zwar auf eine bestimmte Art und Weise. Kant nennt diese Metamöglichkeit: Charakter (vgl. ebd., S. 394). Der gute bzw. ethische Wille ist derjenige, der sich in Bezug auf die Pflicht für etwas entscheidet. Mit dieser These kann Kant nicht nur zwischen Handlungen unterscheiden, die entweder als Mittel zu einem moralischen Zweck vollzogen werden, oder als Zweck das Moralische selbst haben – auch bei dieser letzten Variante unterscheidet er zwischen den Handlungen, die infolge einer Pflicht durchgeführt werden (aber trotzdem eine Neigung als Grund haben), und denen, die aus Pflicht vollzogen werden. Er schreibt: »Wohltätig sein, wo man kann, ist Pflicht, und überdem gibt es manche so teilnehmend gestimmte Seelen, daß sie, auch ohne einen anderen Bewegungsgrund der Eitelkeit oder des Eigennutzes, ein inneres Vergnügen daran finden, Freunde um sich zu verbreiten, und die sich an der Zufriedenheit anderer, sofern sie ihr Werk ist, ergötzen können. Aber ich behaupte, daß in solchem Falle dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so liebenswürdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen Wert habe, sondern mit anderen Neigungen zu gleichen Paaren gehe, z. E. der Neigung nach Ehre, die, wenn sie glücklicherweise auf das trifft, was in der Tat gemeinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwert ist, Lob und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung verdient; denn der Maxime fehlt der sittliche Gehalt, nämlich solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu tun.« (Ebd., S. 398. Eigene Betonung). So setzt Kant den moralischen Wert einer egoistischen Handlung (die die Handlung nur als Mittel für andere Zwecke benutzt) mit dem Wert einer Handlung gleich, deren Zweck die Tugend selbst ist (z. B. die Großzügigkeit). Dies, insofern beide zwar pflichtmäßig sind, aber nicht aus einer Pflicht heraus entstehen. In der kantischen Ethik, so kann man sagen, bezeichnet der Begriff Charakter (ἦθος) das Wollen (vgl. ebd., S. 393), präziser, die Pflicht zu wollen. Der Begriff zeigt die Möglichkeiten des Handelns in Bezug auf die Neigung und des Handelns aus Pflicht. Doch der absolute moralische Wert in der kantischen Ethik findet sich in dem Prinzip des Willens, d. i., dass der Wille vom formalen Prinzip des Wollens und nicht von der Neigung bestimmt wird (vgl. ebd., S. 400). Die Pflicht ist von Kant als »die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz« definiert (ebd.). Achtung ist der Seinsmodus des Menschen in Bezug auf das Gesetz. Kant behauptet, dass die Neigung nicht Objekt der Achtung sein kann. Objekt der Achtung kann nur das sein, was nicht ›entschieden‹ werden kann, d. i., das, was Gebot ist. Das, was den Willen beherrschen

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genannte Trennung zwischen Möglichkeiten und Metamöglichkeiten: Einerseits wird darauf hingewiesen, dass sich die Existenz als eine faktische Möglichkeit vollzieht: Rodríguez nennt dies eine ›Möglichkeit des ersten Rangs‹. In SZ erklärt Heidegger, dass das Dasein nicht als etwas Vorhandenes (bzw. Konkretes; Aktuelles), sondern als Möglichsein bzw. Seinkönnen verstanden werden soll. Das Dasein ist nicht etwas anderes als seine Möglichkeiten 170, sein ›Wesen‹ ist es, kann, d. i. das Gesetz (vgl. ebd.). Die Handlung, die aus Pflicht geschieht, ist diejenige, die jede Neigung ausschließt und sich aus der Achtung und dem Gebot des Gesetzes ableitet. Deswegen ist die kantische Ethik deontologisch, weil sich der moralische Wert nur in der »Vorstellung des Gesetzes an sich selbst« findet (vgl. ebd., S. 401). Der Wille ist die menschliche Fakultät, so Kant, welche es ermöglicht, sich das Gesetz vorzustellen und ihm zu folgen (vgl. ebd., S. 412). Ein guter Wille ist derjenige, der aus der Vorstellung des Gesetzes heraus handelt, d. i. aufgrund von ›objektiven‹ Ursachen; der korrupte Wille (Kant benutzt dieses Wort nicht, sondern redet über die ›subjektive Unvollkommenheit des [menschlichen] Willens‹) ist derjenige, welcher Handlungen nicht notwendigerweise mit der Vernunft zustimmt. Dies bedeutet, dass seine Entscheidungen nicht notwendigerweise auf ›objektive Ursachen‹, sondern manchmal auf ›subjektive Ursachen‹ (d. i. materielle Neigungen) beruhen (vgl. ebd., S. 414). Während letzterer der menschliche Wille ist, ist ein Wille, der sich ausschließlich auf objektive Ursachen bezieht, nur theoretisch als der Wille Gottes vorstellbar. Deswegen braucht der menschliche Wille Nötigung, um aufgrund objektiver Ursachen zu handeln. Diese Nötigung hat die Seinsart des Imperativs (vgl. ebd., S. 413–414). Der kategorische Imperativ ist laut Kant der ›Imperativ der Sittlichkeit‹, er bezieht sich nicht auf ein ›Was‹ getan werden soll, sondern auf ein Wie es getan werden soll, nämlich aus Pflicht. So fordert der kategorische Imperativ, dem moralischen Gesetz um seiner selbst willen zu folgen (vgl. ebd., S. 416). So kann sich der Wille nach Kant entweder dem Gesetz unterwerfen, dessen Fundament die Seinsart des (menschlichen vernünftigen) Willens ist (d. i. ein Zweck und kein Mittel zu sein), oder sich den Maximen unterwerfen, welche aus der Neigung erwachsen. Kant nennt Ersteres die Autonomie des Willens, und Zweiteres die Heteronomie des Willens (vgl. ebd., S. 432–433). Ein kategorischer Imperativ, so Kant, ist nur möglich, durch die Autonomie des Willens, weil einem kategorischen Imperativ nie aus Neigung bzw. Interesse gefolgt werden kann (vgl. ebd.). In der Ethik Kants ist dann auch zwischen einem moralischen Horizont der Möglichkeiten und dem Charakter (der bei Kant die Seinsart des Willens hat) zu unterscheiden. Nur aufgrund dieser Unterscheidung wird klar, welche Rollen der Wille, die Handlung, das Gesetz und der Imperativ in seiner Ethik haben. Hegel unterscheidet auch zwischen ἦθος und ἔθος, dazu siehe Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 2010, 14, 2, S. 721 (Beilage für 14,1, § 150, S. 141). Siehe auch 14, 2, S. 717 (Beilage für 14, 1, § 150, S. 140). 169 Zu Heideggers Begriff von ἦθος siehe § 8, β der vorliegenden Arbeit. 170 Nach Heidegger ist es falsch zu denken, dass das Dasein Möglichkeiten hat. Das Dasein hat nicht Möglichkeiten, so Heidegger, es ist seine Möglichkeiten. Dieser Unterschied zwischen ›sein‹ und ›haben‹ ist bei Heidegger schon in seiner frühen Periode zu finden: »Dasein ist ihm selbst da im Wie seines eigensten Seins. Das Wie des Seins

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diese Möglichkeiten zu sein 171. Andererseits wird die Möglichkeit des Daseins angezeigt, alle seine (erstrangigen) Möglichkeiten entweder in einer ›eigentlichen‹ oder in einer ›uneigentlichen‹ Art und Weise zu sein. Das, was Heidegger Seinsmodi der Existenz 172 nennt, bestimmt Rodríguez als ›Möglichkeiten des zweiten Rangs‹ oder ›Metamöglichkeiten‹ 173. Nun kann dieser Unterschied hilfreich sein, um die Problematik des Ethischen zu betrachten 174. Das Dasein ist immer in der Welt bzw. in einem Horizont des Möglichen. Dieser Horizont ist vielfältig und kann den Charakter des Moralischen annehmen. In der Alltäglichkeit befindet sich das Dasein in verschiedenen moralischen Situationen, in denen es sich für etwas entscheiden muss, und zwar aus einem Grund. In der vorliegenden Arbeit werden dieser Horizont Moralitätsbereich und diese Art und Weise, in diesem Horizont zu sein, Moralität genannt. Moralitätsbereich ist der faktische Bereich, in dem das Dasein das Ethische erfährt. In diesem Bereich hat das Dasein die Möglichkeit der Moralität. Der Begriff ›Moralität‹ meint die Möglichkeit, in einem menschlichen Bereich zu sein, in dem es moralische Möglichkeiten gibt und wo dieselben immer in Bezug auf ein Prinzip gewählt werden müssen. Moralität wird, in Bezug auf diese Bestimmungen, als die Zusammensetzung aus den moralischen (bzw. unmoralischen) Möglichkeiten und der menschlichen Fähigkeit, sich für diese Möglichkeiten in einer bestimmten Art und Weise zu entscheiden, verstanden. Hier sind dann die zwei Formen der Möglichkeit erkennbar: Der Mensch lebt immer schon in einem Horizont von moralischen Möglichkeiten und lebt in diesem schon immer als Entscheidender: Er entöffnet und umgrenzt das jeweils mögliche ›da‹. Sein –transitiv: das faktische Leben sein! Sein selbst nie möglicher Gegenstand eines Habens, sofern es auf es selbst, das Sein, ankommt« (GA 63, S. 7). Vgl. Brief an Jaspers von 27. Juni 1922, in Heidegger / Jaspers Briefwechsel, S. 26 f. Siehe auch Gander, 2000, S. 153. Siehe auch GA 20, S. 412. 171 Heidegger legt fest: »Das ›Wesen‹ des Daseins liegt in seiner Existenz. Die an diesem Seienden herausstellbaren Charaktere sind daher nicht vorhandene ›Eigenschaften‹ eines so und so ›aussehenden‹ vorhandenen Seienden, sondern je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das.« (SZ, S. 42). 172 Vgl. SZ, S. 42–43. 173 Vgl. Rodríguez, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 56; Siehe auch Rodríguez, 2015b, S. 182. 174 Eine vollständige Analyse findet sich in Kap. 1 des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit.

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scheidet über verschiedene Möglichkeiten und er entscheidet immer in einer bestimmten Art und Weise (Metamöglichkeit). Mit diesem Unterschied ist dann eine ontologische Interpretation der obengenannten Bedeutungen möglich: Während die Bedeutung 1 eine ›Möglichkeit des ersten Rangs‹ meint, deutet die Bedeutung 2 eine Metamöglichkeit an. Es ist auch klar, dass keine von diesen Bedeutungen ohne die andere sein kann, da zwischen ihnen eine Co-Abhängigkeit besteht. Schließlich ist klar, dass diese zwei Bedeutungen Seinsbestimmungen des Daseins bezeichnen und nicht etwas, worauf das Dasein verzichten kann. Das alltägliche Verständnis des Ethischen, die griechische Grundbestimmungen ἔθος und ἦθος, das philosophische Verständnis der ethischen Problematik und die ontologische Beschreibung des Möglichseins des Daseins, haben eine erste Bestimmung der Bedingungen der Möglichkeit des ethischen Verständnisses geliefert: Die verschiedenen moralischen Möglichkeiten sind dem menschlichen Verständnis als einen Horizont gegeben (ἔθος) und sobald sie verstanden werden, müssen sie immer in einer bestimmten Art und Weise entschieden werden bzw. vollzogen werden (ἦθος). Anders gesagt: Zum Dasein gehören die Metamöglichkeiten (ἦθος) einer Aneignung oder einer Internalisierung dessen, was alltäglich als ›moralisch‹ (in einer Epoche, einer Kultur, einer Tradition, u. ä.) (ἔθος) konstituiert wurde. So wird eine erste formale Anzeige des ethischen Seienden gewonnen: Das ethische Verständnis ist nur, wenn es ein Seiendes gibt, welches sich immer in einem Horizont von moralischen Möglichkeiten bewegt und in diesem Horizont in der Weise eines Entscheidenden ist. In einer ›positiven‹ Weise zeigt diese formale Anzeige einen ersten Hinweis auf die Art und Weise an, in der das Dasein ›ethisch‹ ist: Das Dasein ist immer in einem moralischen Horizont, in dem es die Anderen und sich selbst moralisch versteht, d. i., das Dasein ist als moralverstehendes da, und es ist in diesem Horizont immer als entscheidendes da. Diese Bestimmung hilft uns bei der Interpretation und Erweiterung des vorgegebenen Vorgriffs: Die Struktur des Inder-Welt-seins wird dementsprechen in Bezug auf diese Anzeige interpretiert. In einer ›negativen‹ Weise versucht diese Anzeige einerseits darauf hinzuweisen, dass das Dasein nicht als ›getrennt‹ von seinem Moralhorizont verstanden werden kann: Das Dasein ist dieser Horizont, insofern es ihn versteht – andererseits wird darauf hingewiesen, dass das Dasein nicht von diesem Horizont bestimmt ist, 68 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

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sondern dass es sich diesen Horizont immer aneignet oder ihn internalisiert. Mit der Analyse des alltäglichen, philosophischen und historischen Grundverständnisses des ethischen Seins vom Dasein wurde formal angezeigt, dass dieses Seiende ein solches ist, zu dessen Sein ein Verständnis eines moralischen Horizonts und ein Verständnis seiner Selbst als Entscheidend gehört. Dieser erste Hinweis hilft der vorliegenden Untersuchung, das ethisch erfahrende Seiende besser zu konzipieren. Nun gibt es noch einen Hinweis, den Heidegger gibt, welcher näher an das ethische Sein des Daseins heranführt. Im Folgenden wird Heideggers Begriff von ἦθος dargestellt, mit der Absicht, eine deutliche ontologische Konzeption des ethischen Seins zu gewinnen. β.

Heideggers Begriff von ἦθος

In der durchgeführten philosophischen Eingrenzung der Begriffe ἔθος und ἦθος wurde die Bedeutung ›Aufenthalt‹ dieser Worte nicht erwähnt. Wie soll diese Bedeutung in Bezug auf die Eingrenzung interpretiert werden? Heideggers Konzeption des Begriffs ἦθος kann behilflich sein, um diese Frage zu beantworten. Zwei Hauptbedeutungen des Begriffs ›ἦθος‹ können in der Philosophie Heideggers gefunden werden. Diese Bedeutungen beziehen sich jeweils auf Heideggers Auseinandersetzung mit der aristotelischen und mit der heraklitischen Philosophie. Während die erste Bedeutung in dem Horizont des Fragens nach der Faktizität des Daseins in den frühen Freiburger und Marburger Vorlesungen zu finden ist, trifft man die zweite in dem Horizont des Denkens von der Wahrheit des Seins in Heideggers Brief über den Humanismus und in der Heraklit Vorlesung an. Der Unterschied zwischen den ἦθος-Bedeutungen hängt mit einer Verwandlung der Seinskonzeption Heideggers zusammen. Kurz gesagt: Während Heidegger vor der sogenannten ›Kehre‹ 175 unSiehe Richardson, 1963. Zu einer kritischen Darstellung siehe: Thomä, in Thomä (Hrsg.), 2013, S. 102 ff. Der neue veröffentlichte Band 82 der Gesamtausgabe Heideggers (2018) ist ein klares Zeugnis der Transformation des heideggerschen Ansatzes über das Sein und das Dasein. Dort findet man eine Interpretation von SZ gemäß dem Ereignis-Ansatz von 1936 (siehe GA 82, S. 7–338) und eine gemäß dem Ansatz der Wahrheit des Seins von 1943 (siehe ebd., S. 341–398).

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ter ›Sein‹ einen gemeinsamen Verständnishorizont (der in der Erschlossenheit des Daseins gründet) meint, in dem die Seiende (vom Dasein) als Seiende verstanden/ausgelegt werden, interpretiert er in seinen späteren Werken das ›Sein‹ als eine ›Lichtung‹, auf der das Dasein wohnt und die Erschlossenheit ermöglicht 176. Die Auswirkung dieser Veränderung zeigt sich in der Beziehung zwischen Sein und Dasein: Während in der ersten Konzeption das Sein im Dasein (bzw. im Seinsverständnis) zu finden ist 177, ist das Dasein in der Zweiten auf der Lichtung des Seins zu finden 178. Diese Verwandlung repliziert sich in Heideggers Verständnis der Ethik und des ἦθος vor und nach der Kehre. Obwohl Heideggers zwei Bedeutungen von ἦθος unterschiedlich sind, haben sie zwei gemeinsame Aspekte: Einerseits beziehen sie sich beide nicht auf die sittliche bzw. moralische Dimension dieses Wortes. Andererseits werden beide als eine Kombination zwischen den Bedeutungen ›Charakter‹ und ›Aufenthalt‹ des Wortes ἦθος konVgl. Frede, in Thomä, 2013, S. 279 ff. »Den gemeinsamen Grund alles Verstehens hat Heidegger zunächst als ›Sein‹ [in der SZ Zeitraum] bezeichnet und aus der Zeitlichkeit zu erklären versucht. Später scheint er ihn grundsätzlich der Verfügung der Menschen entzogen zu haben: Wir ›machen‹ unser Verstehen nicht, sind seiner nicht Herr, sondern es ist uns irgendwie gegeben.« (Ebd., S. 284). Und: »Grundsätzlich ist das ›Sein‹ im Spätwerk nicht mehr im Verstehen des Menschen angesiedelt, sondern bedingt umgekehrt als ›Lichtung‹ das Verstehen wie eine von außen kommende Macht (vgl. Zur Sache des Denkens. Tübingen 1969, S. 80). […] Das Sein ist kein Begriff mehr, über den die Menschen verfügen können, sondern eine Art Geschenk, das der Mensch in ›Gelassenheit‹ entgegennimmt (vgl. Gelassenheit, S. 23 ff.).« (Frede, in Thomä, 2013, S. 282). 177 Siehe z. B. SZ, S. 212 wo gesagt wird, dass, sobald es Seinsverständnis, d. i. Dasein gibt, gibt es Sein bzw. Seiendes als Seiendes. Heidegger interpretiert diese These später im Bezug auf das ›Denken der Lichtung‹ und sagt: »Allerdings. Das bedeutet: nur solange die Lichtung des Seins sich ereignet, übereignet sich Sein dem Menschen. Daß aber das Da, die Lichtung als Wahrheit des Seins selbst, sich ereignet, ist die Schickung des Seins selbst. Dieses ist das Geschick der Lichtung.« (GA 9, S. 336). Hier ist sehr deutlich, wie sich die Position des Daseins in diesem Zusammenspiel verändert hat. Heidegger versucht, die in SZ gennante ›ursprüngliche Wahrheit‹, d. i. die Erschlossenheit, in einer ursprünglichen Wahrheit, der Wahrheit des Seins, zu begründen. 178 Das Dasein bzw. das Seinsverständnis ist nicht mehr das ›Da‹ des Seins, wie in SZ, sondern Heidegger denkt die Ek-sistenz als das »Stehen in der Lichtung des Seins« (GA 9, S. 323 f.). »Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins ›geworfen‹, daß er, dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine.« (Ebd., S. 330). Siehe auch: GA 14, S. 80, GA 45, § 8. Vetter, 2014, S. 335–337. 176

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zipiert. Das, was die frühe und die spätere Konzeption des ἦθος unterscheidet, ist die Betonung und Interpretation der Termini. Ἦθος als Seinkönnen in der Welt: Heideggers ›aristotelische‹ Interpretation In der ›aristotelischen‹ Interpretation des ἦθος-Begriffs werden drei Hauptpunkte herausgestellt: 1. Zum Sein des Daseins gehört die Metamöglichkeit, sich für etwas in einer bestimmten Art und Weise zu entscheiden. 2. Dieses Entscheiden ist immer in der Welt mit Anderen. 3. Das Seiende, welches entscheidet, weist eine bestimmte Zeitlichkeit auf. Ein erster Hinweis auf Heideggers Verständnis des ἦθος-Begriffs kann in Verknüpfung mit der Konzeption der Ethik gefunden werden, die in der Vorlesung vom Wintersemester 1925/1926 dargelegt wird. In der Differenzierung der Disziplinen Logik (ἐπιστήμη λογική), Physik (ἐπιστήμη φυσική) und Ethik (ἐπιστήμη ἠθική) schreibt Heidegger über diese Letzte: ἐπιστήμη ἠθική: Wissenschaft vom ἦθος – dem Sichgehaben, Sichverhalten des Menschen zu anderen Menschen und ihm selbst: Wissenschaft vom Menschen. (GA 21, S. 1)

Heidegger behauptet hier, dass im Unterschied zur Physik, welche die Welt als ein ›Ding‹ untersucht, die Ethik »[den] Mensch[en] sofern er an den anderen und an sich selbst [handelt]« erfährt. Deswegen, so Heidegger, betrachtet die Ethik den Menschen »als ein Seiendes, das gleichsam sein eigenstes Sein in die Hand nimmt.« 179 Heidegger hebt hier hervor, dass zum Sein des Menschen einen Selbstbezug (Sichgehaben, Sichverhalten) gehört. Dieser Selbstbezug ist immer modal: Das Dasein bezieht sich auf sich selbst in einer bestimmten Art und Weise. Die Ethik muss dementsprechend das Dasein als Seinkönnen und verantwortlich (für die eigenen entschiedenen Möglichkeiten) anerkennen. Dies wird anhand einer Definition deutlicher, die Heidegger ein Jahr früher, in der Aristoteles-Vorlesung vom Sommersemester 1924 vorschlägt:

GA 21, S. 2. Eigene Betonung. Siehe auch: »ἦθος meint die Haltung des Menschen, den Menschen in seinem Gehabe, in seiner Haltung, in seinem Sichgehaben als ein von der Natur im engeren Sinne, von der φύσις unterschiedenes Seiendes.« (GA 29/30, S. 54).

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Ἦθικός heißt nicht ›sittlich‹, bei den ›ethischen Tugenden‹ muß man sich nicht äußerlich an das Wort halten. Ἦθος bedeutet die ›Haltung‹ des Menschen, wie der Mensch da ist, wie er als Mensch sich gibt, wie er sich ausnimmt im Miteinandersein […]. (GA 18, S. 106)

Wie mit anderen Grundbestimmungen der aristotelischen Philosophie, hat Heidegger hier das ἦθος ›ontologisiert‹ 180. Mit dieser Definition bezieht Heidegger sich auf die Bedeutung ›Charakter‹ des Wortes ἦθος in einer ontologischen Art und Weise: ἦθος meint hier die Beziehung zwischen dem Dasein und seinem eigenen Sein. Doch der letzte Teil des Satzes, wie auch im vorherigen Zitat, betont, dass sich diese Beziehung immer als In-der-Welt-sein bzw. Miteinandersein vollzieht. In diesem Sinne wird auch die Bedeutung ›Aufenthalt‹ akzentuiert. Durch den Begriff ἦθος erklärt Heidegger die untrennbare Beziehung zwischen einem entscheidenden Seienden und dem Horizont dieses Entscheidens. Sichverhalten ist immer in einer Welt mit Anderen. Ἦθος ist auch Aufenthalt. Dieser Aufenthalt ist die Weise, in der das Dasein in der Welt ist, nämlich die Erschlossenheit. In diesem und nicht in einem anderen Sinn spricht Heidegger über »Aufenthalt« in der Epoche von und vor SZ 181. Eine vollständige Darstellung Volpi argumentier, dass Heidegger in seiner Interpretation die Grundkategorien der praktischen Philosophie Aristoteles’ von ihrem ontisch-moralischen Gehalt entzogen hat, um sie zu ontologisieren und als formale Seinsstrukturen des Daseins (als ἀληθεύειν) darzulegen (vgl. Volpi, 1994, S. 201–202. Siehe auch Volpi, 1984a; 1994; 1996; 2012; Berti, 2008, Kap. II; Gonzales, in Hyland u. Panteleimon (Hrsg.), 2006, S. 127–156; Richardson, 1964. Ruoppo betont, dass eine Unterscheidung zwischen einem guten und einem schlechten Menschen, wie sie bei Aristoteles zu finden ist (vgl. Arist. Nic. Eth. 1098a9), nicht in Heideggers Interpretation vorkommt (vgl. Ruoppo, 2007, S. 253). Eine solche Ontologisierung der moralischen Kategorien ist gefärlich, insofern kein Unterschied mehr zwischen gut und schlecht gemacht wird (siehe auch Gonzales, in Hyland u. Panteleimon (Hrsg.), 2006, S. 150). Ruoppo weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Ontologisierung der aristotelischen Begriffe nicht ein konkretes ἦθος bietet, sondern nur die ontologischen Bedingungen einer Ethik darstellt (vgl. Ruoppo, 2007, S. 253–254). Dazu siehe auch Hodge, 1995, S. 196–197. Zum Unterschied zwischen dem Ansatz Aristoteles’ und Heideggers siehe: Rese, in Denker et al., 2007; siehe auch Hood, 1972. 181 Zum Beispiel schreibt Heidegger in der Abhandlung Der Begriff der Zeit, dass das Gerede eine Aufenthaltsart ist, insofern die Sprache eine Grundweise des In-derWelt-seins ist (vgl. GA 64, S. 29–30). Die Aufenthaltslosigkeit, die in SZ erwähnt wird, ist dementsprechend die uneigentliche Form der Erschlossenheit. Siehe: SZ, S. 61; 173; 347; GA 64, S. 29; 30; 33; 38; 63–64; GA 62, S. 354. 180

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der Erschlossenheit wird später durchgeführt werden 182, hier kann allerdings erwähnt werden, dass laut Heideggers Aristoteles-Interpretation der λόγος die Art und Weise charakterisiert, in der das Dasein in der Welt ist. In der Aristoteles-Vorlesung von 1924 interpretiert Heidegger die griechische Grundbestimmung ζῷον λόγον ἔχον als das Erschlossensein des Menschen: das Dasein als ἀληθεύειν 183. Laut Heidegger bezeichnet ζῷον die Seinsart eines Seienden, welches als ›Sein-in-derWelt‹ bestimmt ist 184. Das menschliche Dasein unterscheidet sich allerdings von den Tieren, so Heidegger, in der Weise, in der das Dasein in der Welt ist: die Erschlossenheit. Während das In-Sein des Tiers sich durch die φωνή charakterisiert, charakterisiert sich das In-Sein des Daseins durch λόγος. Der λόγος lässt das Dasein sein ›Da‹ haben 185. Die Funktion der φωνή ist ein Zeichen (σημεῖον) zu geben. Laut Heidegger enthüllt dieses Zeichen nichts über das Vorhandensein des Seienden, es zeigt einfach das Seiende entweder als Locken oder als Warnen an 186. Das Tier öffnet die Welt, so Heidegger, auf-

Siehe Erster Teil, Kap. 1 der vorliegenden Arbeit. Der λóγος ist die Weise, in der das Dasein in der Wahrheit ist. Heidegger definiert λóγος als »Eine-Sache-zum—Sichzeigen-Bringen« (GA 18, S. 19; siehe auch: GA 55, S. 215 ff.). Zu einer vollständigen Darstellung der heideggerschen praktischen Umwandlung des aristotelischen λόγος-Begriffs und der Bestimmung ζῷον λόγον ἔχον siehe: Weigelt, 2002. 184 GA 18, S. 18. 185 Vgl. ebd., S. 52 ff. 186 Vgl. ebd., S. 54–55. Später, in der Vorlesung vom Wintersemester 1929/1930, wird Heidegger die These ›Menschen sind weltbildend und Tiere sind weltarm und Dinge (Steine) sind weltlos‹ vertreten (GA 29/30, S. 272 ff.; 390 f.), d. i. zum Sein des Tieres gehört nicht Seinsverständnis, anders gesagt, im ›Benehmen‹ des Tieres liegt kein Seinlassen (ebd., S. 361; 368). Zur Kritik der Legitimität einer solchen These siehe: Derrida, 1987, S. 55–57; Glendinning, 1998, S. 68. Problematisch ist, dass eine phänomenologische These des Inseins der Tiere unmöglich ist, da die Menschen nicht wissen können, wie die Tiere die Welt erfahren (vgl. Luckner, in Rentsch (Hrsg.) 2001, S. 152–153). Heidegger erkennt selbst diese Einschränkung und legt fest, dass die These nur im Vergleich mit dem Dasein (und für das Dasein) verständlich ist (vgl. GA 29/30, § 63; insbes. siehe S. 272; 349; 393). Im Humanismusbrief sagt Heidegger, dass es zwischen dem Sein des Daseins und dem Sein der Tiere einen unüberwindbaren Unterschied gibt (vgl. GA 9, S. 326; siehe auch GA 29/30, zweiter Teil, Kap. 3– 6). Das Thema ist problematisch, da Heidegger in einem Punkt suggeriert, dass zum Wesen des Tieres und des Menschen eine Übertragbarkeit des Einen auf das Andere gehört (vgl. GA 29/30 §§ 49–50, insbes. S. 297–307). Siehe hierzu: Tanzer, 2016; Aurenque u. Neira, 2014; Aurenque, 2015; Johnson, 2016a; Spina, 2015; Auriol, 2001. 182 183

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grund seines Bedürfnisses. Im Gegenteil erschließt der λόγος die Welt als Bedeutsame 187. Der λόγος erschließt, so argumentiert Heidegger, durch das Besprechen (mit Anderen) die συμφέρον, d. i. den Bezugscharakter der Welt. In der Mitteilung wird die συμφέρον geöffnet. Dies bedeutet, dass für das Dasein die Welt nicht als ›private Welt‹ ›da‹ ist, sondern als eine Welt mit Anderen. Das In-der-Welt-sein zeigt sich hier als Miteinandersein 188. So versteht Heidegger die Grundbestimmung ζῷον λόγον ἔχον in Zusammenhang mit der Grundbestimmung ζῷον πολιτικόν 189. Darüber hinaus argumentiert Heidegger, dass die Ethik in der Politik gründet, da sich die Welt (Bedeutsamkeit) und das InSein (Erschlossenheit) immer auf die anderen Menschen beziehen: Diese Sichausnehmen des Menschen, dieses ›Sichhalten‹ in der Welt, diese ›Haltung‹ ist τὸ ἦθος. Also die Politik als die Auskenntnis 190 über das Sein des Menschen in seiner Eigentlichkeit – ἡ περὶ τὰ ἤθη πολιτική (Arist. Rhet. A 4, 1359b10 sq.) ist Ethik. (GA 18, S. 68) 191

Es wird deutlich, dass Heidegger die zwei Bedeutungen von ἦθος (Charakter und Aufenthalt) zusammenführt: Ἦθος ist das Sichverhalten in der Welt. Aufenthalt bedeutet das In-einer-Welt-mit-Anderen-Sein in der Art und Weise eines Seinsverständnisses. Schließlich muss erwähnt werden, dass in dieser Interpretation des ἦθος-Begriffs auch der bestimmte zeitliche Charakter des Seins des Daseins erkannt wird. In der Vorlesung vom Wintersemester 1924/1925 (im Kontext einer Diskussion und Kritik des Vorrangs der σοφία über die φρόνησις in der aristotelischen Ethik) legt Heidegger fest, dass die Ethik sich mit dem Menschen nicht als etwas Zur Interpretation der Natur bei Heidegger und zu ihrer ethischen Relevanz siehe Riedel, 1989. 187 Vgl. GA 18, S. 55 ff. 188 Vgl. ebd., S. 61 189 Heidegger schreibt: »So sehen Sie, daß in dieser Bestimmung, ζῷον λόγον ἔχον, ein fundamentaler Charakter des Daseins des Menschen sichtbar wird: Miteinandersein.« (GA 18, S. 47). 190 Der Begriff ›Auskenntnis‹ wurde in einer Interpretation der ersten Passage von erstem Buch der Nikomachischen Ethik als τέχνη ausgelegt (vgl. GA 18, S. 67–68). Dies bedeutet, dass die Ethik die τέχνη der Haltung des Menschen als Miteinandersein bzw. ζῷον πολιτικόν ist. 191 In der Rhetorik wird ἦθος als das ›Wie‹ der Rede des Redenden interpretiert, bzw. ›wie‹ der Redner redet (vgl. Arist. Rhet., A2, 1356a5 ff. Auch Rhet., B1, 1378a9; GA 18, S. 165 f.).

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»das immer ist«, sondern als das, was »auch anders sein kann«, beschäftig 192. Laut dieser Interpretation beschäftigt sich die Ethik mit dem Dasein in seiner besonderen Zeitlichkeit: als Seinkönnen, als Möglichsein. Die ›aristotelische‹ Interpretation des ἦθος zeichnet sich demnach durch eine Betonung des möglichen Charakters des menschlichen Daseins aus: Das Dasein ist möglich in der Art und Weise eines Entscheidens und dies ist modal und horizontal. Das Seinkönnen ist immer transzendent bzw. in einer Welt. Kurz: In dieser frühen Interpretation legt Heidegger das ἦθος als situierter Charakter aus: Dasein als Möglichsein und als Aufenthalt, d. i. Dasein als modale Erschlossenheit. Ἦθος als (poetischer) Aufenthalt in der Wahrheit des Seins: Heideggers ›heraklitische‹ Interpretation Nach der Kehre wird Heideggers Einstellung zum ἦθος-Begriff markanter. Dies geht so weit, dass das ἦθος einen festen Platz in (dem allgemeinen Schema) seiner Philosophie bekommt. Eine vollständige Darstellung der Bedeutung von ἦθος in dem Spätwerk Heideggers setzt dementsprechend eine Auseinandersetzung mit dem gesamten Schema seiner späten Philosophie und die Behandlung von großen Themen wie die ›Wahrheit des Seins‹, die ›Seinsgeschichte‹, das ›Ereignis‹, das ›Geviert‹ usw. voraus. Eine solchen Auseinandersetzung und Darstellung übersteigen den Rahmen der vorliegenden Arbeit und würden ihre Vorsicht und ihren Vorgriff in eine andere Richtung lenken. Sie sind dennoch der Forschungsliteratur nicht fremd 193, weshalb für die Absicht der vorliegenden Arbeit eine kurze Darstellung des fundamentalen Unterschieds bezüglich der ›aristotelischen‹ Interpretation ausreichen wird. Wie in seiner frühen Interpretation, erklärt Heidegger sein Konzept von ἦθος in Bezug auf die ἐπιστήμη ἠθική. Heidegger schreibt in der Vorlesung von Sommersemester 1944 über den ›Logos‹ bei Heraklit:

GA 19, S. 131. Siehe dazu Aurenque, 2011, insbes. Kap. V-VII. Eine zusammenfassende Darstellung findet man in Aurenque, 2016. Siehe auch die Referenzen in der Fußnote Nr. 5 der vorliegenden Arbeit.

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Der […] Titel ἐπιστήμη ἠθική bezeichnet das Sichverstehen auf das, was zum ἦθος gehört. Ἦθος bedeutet ursprünglich die Wohnung, den Aufenthalt. […] So bedeutet es den Aufenthalt des Menschen, des Sichaufhalten nämlich ›das Wohnen‹ des Menschen inmitten des Seienden im Ganzen. (GA 55, S. 205–206. Eigene Betonung) 194

Hier ist offensichtlich, dass Heidegger die zwei Bedeutungen von ἦθος in doppeldeutigem Sinn verwendet. Er schreibt z. B.: ἦθος ist die Haltung in allem Verhalten dieses Aufenthalts inmitten des Seienden. […] Der Mensch ist so in gewisser Weise in der Mitte des Seienden im Ganzen und ist dennoch nicht die Mitte selbst für das Seiende in dem Sinne, daß er sein tragender Grund sein könnte. (GA 55, S. 214) Allein das ἦθος betrifft den Menschen doch gerade so, daß er im ἦθος und durch es in dem Bezug zum Seienden im Ganzen steht, und so, daß umgekehrt dieses den Menschen eigens angeht. (GA 55, S. 216)

Die Doppeldeutigkeit liegt daran, dass das Wohnen (der Charakter) hier nicht als Ermöglichung des Wohnorts, d. h. als Erschließung der Welt (wie in der ›aristotelischen‹ Interpretation) betrachtet wird, sondern als das, was im Wohnort geschieht (bzw. das, was vom Wohnort ermöglicht wird). Die Betonung liegt dementsprechend nicht mehr in der Art und Weise, in der das Dasein in dem Wohnort ist, sondern in dem Wohnort selbst. Die Bedeutung von ›Wohnort‹ ändert sich auch zwischen der ›aristotelischen‹ und der ›heraklitischen‹ Interpretation. Während in der ›aristotelischen‹ Interpretation ›Wohnort‹ die vom Dasein erschlossene Welt bedeutet, besagt es in der ›heraklitischen‹ Interpretation die Wahrheit des Seins in der das Dasein geöffnet ist. In der Ersten ist der Wohnort etwas vom Dasein Erschlossenes; in der ZweiSiehe auch: »Die ἐπιστήμη ἠθική, ›die Ethik‹, das Wort hier wesentlich und weit gedacht, sucht zu verstehen, wie der Mensch in diesem Aufenthalt [inmitten des Seienden im Ganzen] sich an das Seiende hält und so sich selbst behält und hält. […]. Die ›Ethik‹ […] betrachtet den Menschen hinsichtlich des Bezugs des Seienden im Ganzen zum Menschen und des Menschen zum Seienden im Ganzen.« (GA 55, S. 214; 216; 236; 349). Nicht alle Definitionen von Ethik und ἦθος, die nach der Kehre durchgeführt wurden, verknüpfen das Wort mit der Aufenthaltsbedeutung. Zum Beispiel »Ethik: ἠθικὴ ἐπιστήμη: Wissen vom ἦθος, von der inneren Haltung des Menschen und der Weise, wie sie sein Verhalten bestimmt.« (GA 6.1, S. 75; GA 43, S. 90). »Was Haltung und Verhaltung des Menschen, die Ethik, bestimmt und wozu sie sich verhalten, ist das Gute.« (GA 6.1, S. 75; GA 43, S. 90). Diese Verknüpfung wird nur hergestellt, wenn Heidegger das Wort in Bezug auf seine ›heraklitische‹ Interpretation benutzt.

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ten ist er etwas, in dem das Dasein als erschließendes Seiendes möglich wird. Diese Änderung hängt von der Transformation des Wahrheitsbegriffs 195 vom Entdecktheit-Erschlossenheit 196 (von Heidegger jetzt ›ontische Wahrheit‹ genannt) zum »Enthülltheit des Seins« (onologischer Wahrheit) 197 ab. Diana Aurenque beschreibt den Unterschied zwischen der früheren und der späteren Interpretation des ἦθος-Begriffs ganz deutlich, wenn sie schreibt: Während im Fall des Aufenthaltes im Handeln der Mensch seine Umgebung durch sein eigenes Handeln entdeckt und ihm damit eine die Welt erschließende Rolle zugesprochen wird, geht es im Verständnis des Denkens als Handeln darum, einen Aufenthalt in der Offenheit, genauer: in der Wahrheit des Seins zu gewinnen, in dem der Mensch seine Existenz als eine auf die Situation antwortende erkennt. (Aurenque, 2011, S. 150)

Dies wird auch klar im Brief über den Humanismus, welcher zwei Jahre später verfasst wurde. Im Humanismusbrief bezeichnet Heidegger die Bedeutung ›Wohnung‹, ›Aufenthalt‹, ausdrücklich als die ursprüngliche Bedeutung von ἦθος 198 und subsumiert so die anderen zwei Bedeutungen von ἦθος unter dieser Bedeutung. Damit wird das Wohnen dem Wohnort zugeordnet. In diesem Sinne hält Heidegger fest, dass die ›Ethik‹ nicht mehr als die ἐπιστήμη betrachtet wird, die sich mit dem Menschen (als Möglichsein) beschäftigt, sondern als die ἐπιστήμη, die sich mit dem Wohnen des Daseins inmitten des Seienden im Ganzen beschäftigt. ›Im Ganzen‹ bedeutet hier ›in der Wahrheit des Seins‹, oder in dem Sein als Lichtung 199 und ›Wohnen‹ bedeutet dementsprechend in dieser Lichtung als derjenige/diejenige, der/ die auf diese Wahrheit antwortet, zu sein. Nur mit dieser Betonung des Wohnorts kann man die Hauptthese über die Ethik in dem Humanismusbrief verstehen, nämlich, dass die ›Ethik‹, wenn sie richtig verstanden wird, nicht nach dem Menschen, sondern nach dem Sein fragen muss 200. Die Art und Weise des ›Fragens‹ nach dem Sein ändert sich auch. Dies hängt nochmals von dem Wahrheitsbegriff ab. Wie Aurenque Dazu siehe Aurenque, 2011, Kap. V. Zum Begriff der Wahrheit als Entdeckheit-Erschlossenheit siehe § 16 der vorliegenden Arbeit. 197 Vgl. GA 9, S. 131. 198 Vgl. GA 9, S. 256. Siehe auch: S. 354 f.; GA 55, S. 206; 349; GA 81, S. 253. 199 Vgl. GA 55, S. 214. 200 Vgl. GA 9, S. 357–378. Levinas kritisiert Heideggers Ansatz diesbezüglich. Siehe Fußnote Nr. 318 der vorliegenden Arbeit. 195 196

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feststellt, liegt die Wahrheit im Frühwerk Heideggers im pragmatisch-technischen Handeln als Entdecktheit, während sie im Spätwerkt als ›Gelassenheit‹ bzw. als ›Seinlassen‹ zu interpretieren ist 201. Die phänomenologische Suche nach einer ursprünglichen Wissenschaft (frühere Freiburger Periode) und nach einer neuen Fragestellung bezüglich des Sinns von Sein in der Ontologie des Daseins (Marburger Periode) impliziert ein ἦθος als Philosophieren bzw. als Enthüllung der Strukturen des Leben durch philosophische Achtsamkeit. Die Absicht einer Gelassenheit hingegen, bringt einen neuen Sinn des ἦθος mit sich, nämlich das Sein-Lassen des Sagens des Seins durch einen künstlerischen bzw. dichterischen Aufenthalt 202. Im Brief über den Humanismus wird jedoch betont, dass diese Gelassenheit nicht passiv ist, sondern dass sie auch eine Art und Weise (und zwar laut Heidegger die ursprünglichste) des Handelns ist, nämlich das Denken 203. Das ›Fragen‹ nach dem Sein nimmt die Form des Denkens an. Laut Heidegger können weder die Ethik noch die Ontologie die Frage nach der Wahrheit des Seins angemessen stellen 204. Für diese Aufgabe sei ein Denken nötig, welches weder praktisch noch theoretisch sei. Ein Denken, so Heidegger, welches »in seinem Sagen nur das ungesprochene Wort des Seins zur Sprache [bringt].« 205 Das Denken, als ›Denken des Seins‹, ist nach Heidegger der Ort, in dem das Sein »als Geschick [ist].« 206 Laut Heideggers Spätphilosophie kann ein solches Denken als Kunsterfahrung 207 und/oder als ›dichterisches Wohnen‹ geschehen 208. An diesem Punkt kann bereits der Unterschied zwischen den zwei Interpretationen erkannt werden. Während in der ›aristoteVgl. Aurenque, 2011, S. 146–153. Vgl. ebd., S. 153 ff. 203 Vgl. GA 9, S. 313 204 Vgl. ebd., S. 357 f. 205 Ebd., S. 361. 206 Ebd., S. 363. 207 Siehe Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/1936) in GA 5. 208 Vgl. GA 7, S. 193. Siehe Sprache und Heimat (1960) in GA 13. Aurenque sagt: »Nur durch das dichterisch sich besinnende Denken kann es also einen wahren Bezug auf die Phänomene durch das Wort geben.« (Aurenque, 2011, S. 26). Dichterisches Wohnen bedeutet »[having a] sensitive attention to things. […] A stance of solemnity ›towards the nearness of things‹ essence.« (GA 4, S. 42). The poet attends (and respects) in his poetic dwelling the gathering of things in a way that respects their diversity and coherence.« (Aurenque, 2016, S. 42). 201 202

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lischen‹ Interpretation die Dynamik ›Charakter-Aufenthalt‹ bedeutet, durch Handeln die Welt zu erschließen, hat sie in der ›heraklitischen‹ Interpretation den Sinn, im Geschehen der Wahrheit des Seins erschlossen zu sein und in einer Art und Weise (d. i. Denken) zu handeln, dass diese Wahrheit zum Ausdruck kommen kann. Obwohl in beiden eine ethische Komponente gefunden werden kann 209, nähert sich die vorliegende Arbeit der ›aristotelischen‹ Interpretation Heideggers, insofern die Arbeit die Erfahrung des Daseins als erschließendes Seiendes (und seine Beziehung mit sich selbst und nicht mit dem Geschehen der Wahrheit des Seins) zu analysieren versucht. Aufgrund des eingeschränkten Rahmens einer akademischen Arbeit wird hier nur die ›aristotelische‹ Interpretation des ἦθος berücksichtigt werden. Es muss allerdings erkannt werden, dass die Möglichkeit einer ethischen Interpretation des Spätwerks Heideggers auch fruchtbar für die Ethik sein kann. Durch die Darstellung von Heideggers Interpretationen des ἦθος wurde die Dynamik des ›Charakter-Aufenthalts‹ in ihrem ontologischen Sinn verständlich gemacht und so wurde ein Verständnishorizont gewonnen, in dem klar wird, dass die Ethik das Ethische in Bezug auf die transzendentale Dynamik zwischen In-Sein und Welt denken muss.

Man kann einen (ontisch) sittlichen Sinn in der späteren Interpretation Heideggers finden. Diese These wurde stärker von Aurenque vertreten. Aurenque stellt zwei These auf: 1. »Durch eine Distanz zum [alltäglichen] vertrauten Ethos können wir uns sowohl die Welt, als auch uns selbst wirklich aneignen« (Aurenque, 2016, S. 40. Eigene Übersetzung). 2. In ihrem Buch Ethosdenken betont Aurenque, dass die Interpretation des Aufenthalts in Beziehung auf das, was sie ›Verbindlichkeit‹ nennt, verstanden werden muss. Aurenque schreibt: »Jeder verständliche Zugang zu einem Sachverhalt setzt voraus, dass sich das Begegnende in ein Gegenüber bringen lässt. Das Gegenüberstehen ist Ausdruck einer Relation, eines bestimmten Verhältnisses, in dem das eine (das Begegnende) und das andere (dem das Begegnende begegnet) auftauchen. Ein solches Verhältnis wäre unmöglich ohne einen Aufenthalt, der das Bestehen eines Abstands ermöglicht.« (Aurenque, 2011, S. 27. Eigene Übersetzung). Dies bedeutet für Aurenque, dass »die Rede von einem Ethos auf eine gewisse Verbindlichkeit hinweist, durch die ein verständiger Zugang zu vielfältigen Phänomenen (wie den Dingen, anderen Menschen und letztlich der Gesamtheit der Welt) möglich ist.« (Ebd., S. 27–28).

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§ 9 Die theoretische Trennung der ontischen Ebene und der ontologischen Ebene Mit der ontologischen Interpretation des ἦθος wurde deutlich, dass die Anzeigen ἔθος und ἦθος nicht auf existenzielle Möglichkeiten, sondern auf ein Apriori hinweisen. Der Begriff des ›Apriori‹ muss hier im heideggerschen Verständnishorizont verstanden werden, nämlich als das, was »immer schon in jeder faktischen ›Verhaltung‹ und ›Lage‹ des Daseins [liegt].« 210 Anders gesagt, weisen diese Anzeigen auf die strukturelle Weise hin, in der das Dasein ist, d. h., sie informieren nicht darüber, wie das Dasein das Ethische erfährt, sondern sie sind ein erster Hinweis darauf, wie es möglich ist, dass das Dasein das Ethischen überhaupt erfahren kann. Das Ziel dieser Untersuchung ist allerdings nicht nur die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung des Ethischen zu analysieren, sondern auch die alltägliche Erfahrung selbst. Diese zwei Ziele bewegen sich auf verschiedenen Untersuchungsebenen, doch gehören zusammen zu einer phänomenologischen (bzw. ontologischen) Untersuchung. Der Begriff des Mitverständnisses zeigt, dass eine Erfahrung von etwas, ein Vorverständnis dieses etwas und ein Vorverständnis des erfahrenden Seienden selbst voraussetzt. Eine Erfahrung des Hammers, beim Hämmern, schließt nicht nur den Hammer als Hammer, sondern sein Sein (Bewandtnis), das Sein der Welt (Bedeutsamkeit) und das Sein des erfahrenden Seienden (Sorge) mit ein. Eine Erfahrung eines innerweltlichen Seienden, so zeigt SZ, ist gleichzeitig eine SZ, S. 193. Das phänomenologische ›Apriori‹ ist, Heidegger betont, ein solches, das als Fundament die Sache hat, und zwar, die Sache in ihrem Sein (in ihrer Struktur). Das Apriori in der Phänomenologie ist material: »Sofern das Apriori jeweils in den Sach- und Seinsgebieten gründet, wird es in einer schlichten Anschauung an ihm selbst aufweisbar.« (GA 20, S. 101). Heidegger erklärt weiter: »Die Phänomenologie hat demgegenüber gezeigt, daß das Apriori nicht auf die Subjektivität beschränkt ist, ja daß es überhaupt primär zunächst mit der Subjektivität nichts zu tun hat. Die Charakteristik der Ideation als einer kategorialen Anschauung hat deutlich gemacht, daß es sowohl im Felde des Idealen, also der Kategorien, als auch im Felde des Realen so etwas wie die Abhebung von Ideen gibt. Es gibt sinnliche Ideen, d. h. solche von sachhaltiger Struktur (Farbe, Materialität, Räumlichkeit), was in jeder realen Vereinzelung schon da ist, d. h. gegenüber dem Hier und Jetzt einer bestimmten Dingfärbung a priori ist.« (Ebd.). Apriori ist nach Heidegger das Verhältnis zwischen Sein und Seiender: »Damit deutet sich schon an, daß Apriori im phänomenologischen Verstande kein Titel des Verhaltens, sondern ein Titel des Seins ist. Das Apriori ist nicht nur nichts Immanentes, primär der Subjektsphäre zugehörig, es ist auch nichts Transzendentes, spezifisch der Realität verhaftetes.« (Ebd.).

210

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§ 9 Die theor. Trennung der ontischen Ebene und der ontologischen Ebene

(Mit-)Erfahrung des eigenen Seins als Seinkönnen bei den innerweltlichen Seienden 211. Eine phänomenologische Untersuchung versucht, sowohl den intentionalen Akt als auch den intentionalen Gegenstand und das Wesen bzw. die Strukturen (eidos) dieser Beiden (in der Erfahrung) zu analysieren. Die Frage nach der konkreten Erfahrung kommt zusammen mit der Frage nach den Bedingungen dieser Erfahrung auf, da keine allgemeine Erfahrung ohne einen bestimmten erfahrenden Gegenstand denkbar ist. Eine Anzeige, welche die Untersuchung auf das erfahrende Sein des Daseins richtet, ist schon ein erster Schritt auf der Suche nach der Weise, in der das Dasein etwas erfährt. In der vorliegenden Untersuchung werden diese zwei Aufgaben gemeinsam durchgeführt. Nun ist es offensichtlich, dass diese Aufgaben auf verschiedenen Ebenen geschehen. Aus diesem Grund muss man eine theoretisch-methodische Trennung durchführen, welche zwar die Abhängigkeit zwischen beiden Ebenen erkennt, sie aber beide deutlich darstellt. Im Folgenden wird diese Trennung dargelegt. α.

Abgrenzung der Ebenen

Um die zwei Ebenen der Untersuchung trennen zu können, muss zuerst eine kurze Spezifikation der gebrauchten Terminologie vorgenommen werden. Ontologie wird nach Heidegger als das »explizite theoretische Fragen nach dem Sinn des Seienden« 212 eingeführt. Ontologie ist eine philosophische Untersuchung, die sich mit der Frage nach dem Sein eines bestimmten Seienden oder Sachverhalts (d. i. eine regionale Ontologie), des Seienden überhaupt (d. i. eine Ontologie), oder des daseinsmäßigen Seienden als Seinsverstehendes (d. i. eine Fundamentalontologie 213) beschäftigt. Die ontologischen Vgl. SZ, §§ 15–18. SZ, S. 12. Eigene Betonung. Wie Vigo richtig bemerkt, verändert Heidegger den traditionellen Sinn der Ontologie. Bei Aristoteles, so Vigo, sei die Ontologie als Archäologie im Sinne des griechischen arché, d. h. als Wissenschaft bzw. Untersuchung der Ursachen (aitíati) und der Prinzipien (archaí) zu verstehen. Für Heidegger sei die Ontologie hingegen Aletheiologie: Wissenschaft bzw. Untersuchung der Wahrheit im Sinne von aletheia (vgl. Vigo, 2008, S. 117–118). Diese Änderung der Konzeption der Ontologie durch die Phänomenologie Heideggers schließe jeden möglichen Rückgriff auf das kausale Erklärungsmodell aus (vgl. ebd., S. 132 ff.). 213 Das Fragen nach dem Sinn von Sein ist eine Seinsmöglichkeit des daseinsmäßigen Seienden, weil die Bestimmung seines Seins ein Seinsverständnis ist. Eine Ontologie 211 212

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2. · Die formale Anzeige und die methodische Vorgehensweise

Seinsstrukturen eines Seienden sind die Gegenstände der Ontologie. Das Adjektiv ›ontologisch‹ wird dementsprechend verwendet, um eine Seinsstruktur oder etwas, dass sich auf eine Seinsstruktur bezieht, zu qualifizieren. Der Begriff ›ontologische Ebene‹ bezeichnet dann die Ebene der Betrachtung, Erforschung, Beschreibung und Erklärung der Seinsstrukturen eines Seienden. Nun gewinnt die ontologische Ebene ihre ›Tatbestände‹ bzw. ihre Evidenz aus dem ontischen Sichzeigen des Seienden. Mit ›ontisch‹ sind das faktische Sich-Geben eines Seienden, die konkreten Möglichkeiten dessen und, im Fall des Daseins, die konkrete Aneignung dieser Möglichkeiten gemeint. Seiend in der Art und Weise des Möglichseins und der Modalität (d. h. Existenz: Möglichkeiten und Metamöglichkeiten) ist eine ontologische Bestimmung des Daseins. Die konkreten Möglichkeiten und die konkrete Weise, in der es diese Möglichkeiten wählt, sind ontische bzw. faktische Tatbestände. Es ist von phänomenalen Tatbeständen die Rede, wenn die ontischen Tatbestände als Evidenz einer phänomenologischen Konstruktion benutzt werden. Während eine ontologische Untersuchung über das Sein des Seienden forscht, betrachtet eine ontische Untersuchung das (bloße) Seiende. Der Begriff ›ontische Ebene‹ bezeichnet dann sowohl die Vollzugsebene (bzw. faktische Ebene), in der das Seiende das ist, was es ist, d. h. die faktische Erfüllung der Seinsstrukturen als auch die theoretisch-methodische Ebene, in der dieser Erfüllung dargestellt wird. Die ontische Ebene ist die methodische Ebene, die sich mit der Betrachtung, Erforschung, Beschreibung und Erklärung des Gehalts der Seinsstrukturen beschäftigt. Beide Ebene sind theoretisch-methodische Ebenen. Im ontischen Sichzeigen des Seienden sind sowohl die Strukturen, als auch ihren Gehalt ›real‹ ›da‹, sie vollziehen sich zusammen. Die Ebene dieses Vollzugs ist ontisch bzw. faktisch. Nun verwendet Heidegger in der ontologischen Konstruktion spezifische Begriffe, damit die Bestimmungen, die sich auf diese Ebenen beziehen, nicht durcheinandergebracht werden. Die ontologischen Begriffe sind formal und anzeigend. Die ontischen Möglichkeiten (eines Seienden) sind der Gehalt der Strukturen, welche diese Begriffe bezeichnen. Die Begriffe, die benutzt werden, um auf die des Seins dieses Seienden ist dann eine Fundamentalontologie (weil sie erklärt, aus welchen Grund etwas als eine Ontologie erst möglich ist) (vgl. SZ, S. 13; 17; 27; 37; 183).

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§ 9 Die theor. Trennung der ontischen Ebene und der ontologischen Ebene

Seinsstrukturen des Daseins hinzuweisen, nennt Heidegger ›Existenzialien‹ 214. Der traditionelle Bestimmungsbegriff ›Kategorie‹ (κατηγορία 215) wird von Heidegger benutzt, um die Seinsstrukturen aller Seienden, die nicht das Dasein sind, zu bestimmen 216. Die Existenzialien, so Heidegger, bestimmen nicht das Was des Daseins, sondern sie fassen das Dasein als ein Wer auf, d. i., sie bestimmen das Dasein nicht als etwas Vorhandenes (Vergegenständlichung), sondern sie adressieren das Dasein in seinem Sein: Existenz bzw. Möglichsein 217. Die ›realen‹ bzw. materialen Möglichkeiten, die durch die Existenzialien angezeigt werden, werden als ›existenzielle Möglichkeiten‹ bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen den ontischen und ontologischen Ebenen wurde von Heidegger in Bezug auf die so genannte ›ontologischen Differenz‹ durchgeführt. Mit der ontologischen Differenz meint Heidegger die thematische bzw. ausdrückliche Betrachtung des Verständnisses eines Unterschieds zwischen Sein und Seiendem 218. In der Vorlesung vom Sommersemester 1928 erklärt Heidegger: Sein ist überhaupt und in jeder Bedeutung Sein von Seiendem. Sein ist vom Seienden unterschieden – und überhaupt nur dieser Unterschied, diese Unterschiedsmöglichkeit gewährt ein Verstehen von Sein. Anders gewendet: im Verstehen von Sein liegt das Vollziehen dieses Unterscheidens von Sein und Seiendem. (GA 26, S. 193)

In SZ schreibt er:

Ciocan beschreibt die Existenzialien als folgende: »un existential est une structure fondamentale de la constitution de l’être du Dasein.« (Ciocan, 2009, S. 192). Zur Problematik von Heideggers Nutzung der Existenzialien und anderer Begriffe, die sich auf Strukturen des Seins des Daseins beziehen, siehe Ciocan, 2009. Die Existenzialien, wie García Norro richtig betont, beschreiben das Dasein, wie es ist, aber nicht als ein Ganzes (vgl. García Norro, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 175). Dafür schlägt Heidegger andere formalen Anzeigen vor, welche die Form einer strukturellen Ganzheit haben, nämlich das In-der-Welt-sein, die Sorge und die Zeitlichkeit. 215 Nach Aristoteles ist alles, was ist, entweder eine Substanz oder eine Quantität, eine Qualität, eine Orts- oder Zeitbestimmung, eine Relation, eine Lage, ein Haben, ein Tun oder ein Erleiden einer Substanz (vgl. Arist. Kat., 1b25–2a4). Die Kategorien sind bei Aristoteles die möglichen Seinsarten. 216 Vgl. SZ, S. 44–45; GA 17, 110. 217 Vgl. SZ, S. 45. Da die Existenz nicht etwas ›Fertiges‹ ist, sondern etwas, das vollzieht und geschieht (vgl. SZ, S. 20; 375. GA 9, S. 159), bezeichnen die Existenzialien nicht ein Was, sondern ein Wie des Daseins. 218 Vgl. GA 24, S. 454. 214

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2. · Die formale Anzeige und die methodische Vorgehensweise

[Sein ist] das, was Seiendes als Seiendes bestimmt, das, woraufhin Seiendes, mag es wie immer erörtert werden, je schon verstanden ist. Das Sein des Seienden ›ist‹ nicht selbst ein Seiendes. (SZ, S. 6)

Nach Heidegger gehört das Verständnis dieses Unterschieds zum Sein des Daseins: »Der Unterschied von Sein und Seiendem ist vorontologisch, d. h. ohne expliziten Seinsbegriff, latent in der Existenz des Daseins da« 219. Doch da das Dasein die Möglichkeit der Wissenschaft hat, ist es möglich, diesen Unterschied auszudrücken. Wenn eine (ontologische) Untersuchung das vorontologische Seinsverständnis bzw. die ontologische Differenz benutzt, trennt sie gleichzeitig zwischen den ontischen und ontologischen Ebenen: Die Seinsbestimmungen sind nicht Bestimmungen eines Seienden, sondern seines Seins 220. Ein ethisches Fragen, das sich nicht als Ontik (Beschreibung der Gesetzlichkeit, der Sitten, der Fällen usw.), sondern als eine (met)ontologische Stellung des Problems des Ethischen vorstellt, muss diese Trennung vollziehen. Heidegger redet in der Vorlesung vom Sommersemester 1928 über die Metontologie, d. i. eine Ontologie, welche ›das Seiende im Ganzen‹ zum Thema hat 221. Metontologie und Metaphysik der Existenz sind Fragestellungen, die das Dasein ontologisch (d. i. als ein Seiendes, dessen Sein das Verständnis dieses Seins und des Seins anderer Seienden ist) interpretieren. Laut Heidegger müssen die Analysen der verschiedenen Aspekte des menschlichen Lebens (Ethik, Politik usw.) in einer solchen Interpretation gründen. Eine Analyse des Verständnisses des Ethischen kann dementsprechend in einer Analyse des ethischen Seienden als verstehendes Seiendes gründen. In diesem Sinne setzt eine regionale Ontologie des Ethischen die Fundamentalontologie voraus. Die vorliegende Untersuchung richtet sich auf die ontologische Ebene des Ethischen, d. i. sie fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit einer ethischen Erfahrung (hermeneutisch-phänomenologische Reduktion). Um nachvollziehbar und transparent fortfahren zu können, wird theoretisch-methodisch unterschieden zwischen der ontologisch-ethischen Ebene und der ontisch-moralischen Ebene. Während die ›ontologisch-ethiEbd. Siehe: GA 24, Zweiter Teil. Siehe insbes. § 22. Auch GA 9, S. 134; GA 26, S. 193; GA 27, § 28; GA 29/30, § 75. Man führt eine hermeneutisch-phänomenologische Reduktion durch (vgl. GA 24, S. 29). 221 Vgl. GA 26, S. 199. Zur Metontologie siehe McNeill, 1992, S. 74 ff.; Gander, 2001, S. 230 ff. Zur Metontologie und Ethik siehe Cullen, 1991. 219 220

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§ 9 Die theor. Trennung der ontischen Ebene und der ontologischen Ebene

sche Ebene‹ die untersuchende Ebene der Seinsstrukturen des Daseins meint, die bezüglich der Frage nach dem Verständnis des Ethischen interpretiert werden, bezeichnet die ›ontisch-moralische Ebene‹ die faktische Ebene, in der diese Strukturen einen (materiellen) Gehalt bekommen. Eine solche Trennung dieser spezifischen Ebenen kann in Heideggers Ansatz selbst verfolgt werden. Obwohl nicht explizit weist die Betrachtung des Gewissens und der Nichtigkeit in SZ darauf hin, dass das Phänomen des Ethischen in zwei Ebenen untersucht werden muss. Heidegger schreibt: Dieses wesenhafte Schuldigsein ist gleichursprünglich die existenziale Bedingung der Möglichkeit für das ›moralisch‹ Gute und Böse, das heißt für die Moralität überhaupt und deren faktisch mögliche Ausformungen. Durch die Moralität kann das ursprüngliche Schuldigsein nicht bestimmt werden, weil sie es für sich selbst schon voraussetzt. (SZ, S. 286)

Obwohl Heidegger den Begriff ›ontisch-moralische Ebene‹ nicht benutzt, ist hier klar, dass sich die ontische Ebene mit dem Moralitätsbereich verknüpft (wenn er über »das ›moralisch‹ Gute und Böse« spricht). Gleichzeitig erkennt er den fundierten Charakter dieser Ebene und erkennt die Ebene der Seinsstrukturen bzw. die ontologische Ebene als Gründungsebene. Nach Heidegger ist die Struktur der Nichtigkeit diejenige, welche die ontische bzw. existenzielle Möglichkeit der Verantwortung (d. h. die Fähigkeit des Gut-seins und Böseseins) begründet 222. Hier wird die ontologisch-ethische Ebene zwar erkannt, aber nicht erforscht. Die Analyse des Gewissens und der Nichtigkeit ist nicht von der Frage nach dem Ethischen, sondern von der Untersuchung der (Meta-)Möglichkeit der Eigentlichkeit als Zugang zur Erfassung der Zeitlichkeit als Sinn der Sorge motiviert 223 und deswegen sind die Phänomene in ihrem ethischen Sinn weder beachtet noch ergründet. Trotzdem wird damit ein interpretatorischer Horizont für diese Ergründung des Ethischen geöffnet. Viele Forscher/innen 224 haben in der Analytik des Daseins viele Ansätze erkannt, die Auswirkungen auf das Verständnis des Ethischen haben. Zum Beispiel wurde das Schuldigsein (vgl. SZ, S. 287) als Bedingung sowohl der Möglichkeit des moralischen Urteilens als 222 223 224

Siehe dazu §§ 32, γ – 36 der vorliegenden Arbeit. Vgl. SZ, Zweiter Abschnitt. Kap. 2 u. 3. Siehe Fußnote Nr. 4 der vorliegenden Arbeit.

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2. · Die formale Anzeige und die methodische Vorgehensweise

auch der Möglichkeit moralisch beurteilt zu werden 225, und der Verantwortung und Verschuldung gegenüber Anderen 226 interpretiert. Andere Beispiele sind die Interpretation des ›Gewissen-haben-wollens‹ (vgl. SZ, S. 288) als Bedingung der Möglichkeit der Aneignung des Moralitätsbereichs 227; die Interpretation des Hörens des Gewissensrufs (vgl. SZ, S. 287) als Bedingung der Möglichkeit der Verantwortung für unser Seinkönnen 228; die Transzendenz als die Bedingung für den Raum des Ethischen 229 bzw. das Worumwillen als die Bedingung der Möglichkeit der personalitas moralis und des Moralischen 230; die ursprüngliche (existenziale) Wahrheit und das Entdeckendsein (vgl. SZ, § 44) als Bedingungen einer gemeinsamen Wahrheit, einer Kameradschaft (partnership) 231 und einer Gerechtigkeit 232; das Mitsein (vgl. SZ, § 26) als die Bedingung der Anerkennung des Anderen 233, des Guten und des Bösen 234, kurz: des Grundes der

Vgl. Hodge, 1995, S. 197. Miyasaki hält fest, dass in Heideggers ›Schuldigsein‹ ein Grund für die Ethik gefunden werden kann, und zwar in zwei Aspekten: 1. Schuldigsein ist die Bedingung der Möglichkeit unserer Verschuldung gegenüber Anderen; 2. Schuldigsein bietet das Kriterium für den Unterschied zwischen dem Ethischen und dem Unethischen (vgl. Miyasaki, 2007, S. 261 ff. insbes. 269 ff.). 227 Vgl. Hodge, 1995, S. 199; Luckner, in Waldenfels u. Därmann (Hrsg.), 1998, S. 77. 228 Vgl. Olafson, 1999, S. 47. Olafson erkennt, dass Heideggers Konzept von Verantwortung nicht die Anderen, sondern nur das Selbst beinhaltet (vgl. ebd., S. 55 ff.). Dann schlägt er eine Art gemeinsame Verantwortung, die auf Vertrauen und Gegenseitigkeit basiert, vor (vgl. ebd., S. 61). »Ontic indebtedness and responsibility are contingent affairs, in principle avoidable. Existential guilt, by contrast, is our being thrown into answering for ourselves and taking up the responsibilities into which we have been thrown. […] Only because we are existentially guilty can we understand ourselves as susceptible to ethical or moral guilt.« (Carman, 2003, S. 291). 229 Vgl. Greisch, in Raffoul; Pettigrew (Hrsg.), 2002, insbes. S. 110 ff. 230 Vgl. Rodríguez, 2015b, S. 209 ff. insbes. S. 215; 217–218. Laut Rodríguez legt das Worumwillen das Moment der Selbstbestimmung ontologisch offen. Allerdings, so erklärt er, zeigt es das Moment der Selbstgesetzgebung nicht. Er schreibt: »Dass das Gesetz mein Gesetz ist, weil es zu meiner vernünftigen Natur gehört, ist etwas, das das ›Worumwillen‹ nicht erfassen kann, da es nur die vorläufige Struktur des eigenen Seins bietet (d. i. Zweck meiner selbst zu sein) und nicht zeigt, dass dieses vorläufige Sein, insofern es von der Universalität des moralischen Gesetz bestimmt ist, einer eindeutigen vernünftigen Natur aufweist.« (Ebd. S. 218. Eigene Übersetzung). 231 Vgl. Olafson, 1999, S. 8 ff.; 32; 54 ff. Dieser ›partnership‹ hat nach Olafson einen Bindungscharakter (vgl. S. 11.) 232 Vgl. ebd., S. 58. 233 Vgl. ebd., S. 59. 234 Vgl. ebd., S. 69. 225 226

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§ 9 Die theor. Trennung der ontischen Ebene und der ontologischen Ebene

Ethik 235. Darüber hinaus haben Autoren argumentiert, dass der Ansatz Heideggers über die Freiheit einen neuen Ansatz der Ethik ermöglichen könne 236. Hier muss klargestellt werden, dass die vorliegende Untersuchung nicht die ethischen Implikationen der von Heidegger analysierten Seinsstrukturen erforscht. Sie versucht die fundamentalen Strukturen, die eine ethische Erfahrung ermöglichen, zu erforschen, und zwar anhand der Daseinsanalytik Heideggers. Dies bedeutet nicht, dass sie die Bedingungen der Möglichkeit der ethischen Handlung oder des ethischen Seins untersucht, sondern nur die Bedingungen des ethischen Verstehens. Die Forschung über diese Bedingungen ist gleichzeitig, wie gesagt, eine Untersuchung der (ontischen) Erfahrung bzw. des (ontischen) Verständnisses des Ethischen. β.

Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung

Was ist denn mit allen diesen methodischen Präzisierungen gewonnen? Die Frage dieser Arbeit ist die Frage nach dem Wie des Verständnisses des Ethischen. Um eine solche Frage zu beantworten, braucht man eine Methode, die das verstehende Seiende in seinem verstehenden Sein untersuchen kann. Aus diesem Grund wurde Heideggers Analyse des Seins des verstehenden Seienden (d. i. des DaVgl. ebd., S. 6; 49 ff. Laut Olafson sollte eine Ethik nicht in moralischen Normen gründen, weil das situationale Sein des Daseins nicht mit dem strengen Charakter des Modells der Normen zusammenpasst (vgl. ebd., S. 49 ff.). Eine Ethik sollte im Sein des Daseins, d. i. Mitsein gründen. Verschiedene ethischen Möglichkeiten gründen laut Olafson im Mitsein, nämlich die Möglichkeiten des Vertrauens (trust), der Kameradschaft (partnership), der Mitentdeckung der Welt (Wahrheit) und der Agape. Letzteres ist die Möglichkeit der Verwirklichung (fulfillment), d. i. Glückseligkeit, die mit der Glückseligkeit und dem Wohlsein der Anderen (und mit der Gegenseitigkeit) zu tun hat (vgl. ebd., S. 82 ff.). 236 Nach einer Diskussion von Heideggers Begriff der Freiheit und dem Unterschied zum Ansatz Kants schreibt Schalow: »Through his destructive retrieval of Kant’s practical philosophy, Heidegger undertakes a displacement of the subject as the agency of moral choice. But we should not then conclude, as others have, that he leaves no room for moral decision making and the practical self embodying this freedom. On the contrary, Heidegger reopens the question of how the self can engage in praxis, can exercise choice, and can display responsibility. And this questioning, which ›overturns‹ ontology in favor of a new set of issues that stems from Dasein’s situatedness among beings, accompanies Heidegger’s attempt to address the possibility of ethics.« (Schalow, in Raffoul; Pettigrew, 2002, S. 33). 235

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2. · Die formale Anzeige und die methodische Vorgehensweise

seins) als Vorgriff dieser Untersuchung gewählt. Doch diese Untersuchung soll keine bloße Repetition der Ergebnisse der Daseinsanalytik sein. Deshalb verwendet sie die hermeneutisch-phänomenologische Methode der Interpretation, um den Vorgriff in Bezug auf die Untersuchungsfrage auszuarbeiten. Die vorliegende Arbeit analysiert das Sein des Daseins in Bezug auf die ontische Möglichkeit der Erfahrung des Ethischen. Um diese Analyse durchzuführen, wurde eine erste formale Anzeige vorgeschlagen, die das Dasein als ethischerfahrendes Seiendes erklärt: Das Dasein existiert in einem moralischen Horizont, in dem es sich immer für (ethisch-moralische) Möglichkeiten entscheiden muss, und zwar in einer bestimmten Art und Weise. Diese formale Idee wird durch die Begriffe ἔθος-ἦθος ausgedrückt. Die Trennung der ontologisch-ethischen und der ontisch-moralischen Ebenen hilft, die zwei Zwecke der Untersuchung, nämlich die Enthüllung der Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung des Ethischen und die Analyse der konkreten Erfahrung des Ethischen, im Blick zu behalten und sie nicht miteinander zu verwechseln. Mit dieser ersten methodischen Erklärung wird die vorliegende Arbeit auf folgende Weise vorgehen: Im ersten Teil wird das erfahrende Sein bzw. Intentionalsein des Daseins dargelegt und analysiert. Diese Darlegung betont eine besondere Tendenz dieses Seins, nämlich, dass das Intentionalsein des Daseins zum scheinbaren Verständnis eines Phänomens tendiert. Diese Tendenz wird von Heidegger ›Verfallen‹ genannt. Das phänomenologische Problem, welches diese Tendenz in der Untersuchung der ethischen Erfahrung aufwirft, wird in der vorliegenden Arbeit das Problem des Scheins genannt. Sobald das Intentionalsein und seine Tendenz erklärt worden sind, wird die vorliegende Arbeit in einem zweiten Teil mit der Analyse der alltäglichen Erfahrung des Ethischen beginnen. Hier wird die folgende Frage formuliert werden: Wenn zum Intentionalsein eine Tendenz zur Verdeckung gehört, erfahren wir alltäglich das Phänomen des Ethischen selbst, oder erfahren wir das Ethische genau als das, was es nicht ist? Um diese Frage methodisch zu beantworten, wird Heideggers Methode der Bezeugung dargestellt. Durch die Darstellung der bezeugenden Phänomene der Angst, des Todes und des Gewissensrufs wird die Methode der Bezeugung als eine solche Methode dargestellt werden, die eine Erfahrung eines Phänomens ohne die Verstellung dessen, was über dieses Phänomen gesagt wird, leisten 88 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 9 Die theor. Trennung der ontischen Ebene und der ontologischen Ebene

kann. Nach der Erklärung der Methode muss die Erfahrung des Phänomens der Irregularität (zwischen der moralischen Norm und dem eigenen Verständnis des ›Richtigen‹) und die Erfahrung der Appellation des Ethischen analysiert werden, um eine neue Art der Erfahrung des Ethischen vorzustellen. Nach der Analyse der Erfahrungen des Ethischen, wird die vorliegende Arbeit einen vollständigeren Begriff der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung des Ethischen formulieren. Obwohl die Problematik des Ethischen selbstverständlich komplex und weitläufig ist, wird die vorliegende Arbeit ihre zwei Ziele erreichen, und damit sogar gleichzeitig die Basis legen, die eine folgende Untersuchung des Grundes der Ethik ermöglichen kann.

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ERSTER TEIL: Das Intentionalsein des Daseins, die Tendenz zur Verdeckung und das Problem des Scheins

Einführung in den ersten Teil Die vorliegende Untersuchung fragt nach dem Verständnis des Ethischen. Heideggers phänomenologische Analysen haben gezeigt, dass die Erfahrung von etwas gleichzeitig das Verständnis dieses etwas als etwas ist. Daraus lässt sich ableiten, dass sowohl die Erfahrung als auch die Konstitution des Verständnisses dieser Erfahrung untersucht werden müssen. Daher soll die Arbeit mit folgender These beginnen: Das Phänomen des Ethischen erscheint in einem ethischen Ereignis. Im ethischen Ereignis gibt es Jemanden, der etwas tut, etwas, das getan wird, und Jemanden, der von dem Akt betroffen ist. Es kann formal gesagt werden, dass die Problematik der Ethik die Problematik des Verhältnisses zwischen dem Selbst und dem ›Nicht‹Selbst (dem Andere) ist, d. i. eine Problematik des Selbst als Transzendentes. Diese Problematik ist dann eine des Seins des Daseins bzw. eine ontologische Problematik. Eine solche Problematik unterteilt sich in zwei Probleme: 1. Wie ist das Dasein als ethisches Seiendes möglich? Dies ist die Frage nach der Konstitution des ethischen Horizonts mit Anderen, d. i. die Konstitution des Daseins als Horizont, eine Frage nach der Transzendenz 237. Hier ist die Daseinsanalytik 237

Eine Analyse des Problems des Anderen nicht nur in Heideggers Philosophie,

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Erster Teil: Das Intentionalsein des Daseins

Heideggers von besonderem Gewicht. 2. Was begründet und ermöglicht den ethischen Horizont? Diese zweite Frage ist die Frage nach dem Grund des Ethischen. Wie bereits gesagt wurde, beschäftigt sich die vorliegende Arbeit ausschließlich mit der ersten Frage. Im folgenden Teil wird die Problematik der Transzendenz analysiert. Hier versucht die Arbeit, die von Heidegger dargestellte Struktur des In-der-Welt-seins zu erläutern. Die Analyse beginnt mit der Erklärung des In(seins) und des Wer, welches dieses In(sein) als Seinsart aufweist (d. i. das Selbst). Das erste Kapitel fängt mit (§ 10) einer Darstellung der Problematik des Selbst an und (§ 11) geht mit einer Erklärung des Erfahrendseins bzw. Intentionalseins dieses Selbst weiter. Diese Erklärung thematisiert die drei formalen Anzeigen, die Heidegger vorschlägt, um auf die Weise, in der das Dasein in der Welt als Welt- und Selbsterfahrend ist, hinzuweisen, nämlich (§ 12) die Erschlossenheit, (§ 13) die Sorge und (§ 14) die Zeitlichkeit. Mit der Analyse dieser Anzeigen werden fundamentale Bestimmungen des Intentionalseins enthüllt. Das Kapitel endet mit einer Revision der erreichten hermeneutischen Situation (§ 15). Kapitel 2 analysiert die Tendenz des Intentionalseins, sich auf ein Phänomen in einer scheinbaren Weise zu richten. Um die Problematik deutlich darzustellen, werden die heideggerschen Begriffe (§ 16) der Wahrheit, (§ 17) des Scheins und der Verdeckung eingeführt und (§ 18) die Tendenz zur Verdeckung im Sein des Daseins dargelegt. Es wird gezeigt, dass die Verdeckung nur möglich ist, weil zum Dasein die Möglichkeit der Sprache gehört. Aus diesem Grund wird (§ 19) die Aussage als sprachliche Äußerung der Ausgelegtheit analysiert. Nun suggeriert dies, dass in der philosophischen und wissenschaftlichen Sprache die Möglichkeiten des Irrtums und der Verstellung bestehen. (§ 20) Dies wird erörtert und die formale Anzeige wird als methodisches Mittel zur Vermeidung dieser Verstellung vorgeschlagen. Am Ende des Kapitels (§ 21) wird die Verknüpfung zwischen dem Problem des Scheins und der Problematik des Ethischen dargestellt. Nur wenn zuvor das Intentionalsein bzw. die Transzendenz und ihre Tendenz zur Verdeckung erklärt worden sind, kann die Untersuchung sich der alltäglichen Erfahrung des Ethischen und ihrer ontologischen Ebene widmen.

sondern auch in anderen phänomenologischen Ansätzen findet man in Wroblewski, 2008 und in Theunissen, 1965.

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Kapitel 1. Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Die vorliegende Untersuchung fragt nach dem Verständnis des Ethischen und hat zum Ziel, die Bedingungen der Möglichkeit dieser Erfahrung zu erforschen. Sie versucht dann das Ethische in seinem alltäglichen Sichzeigen zu konzipieren. Dieser Versuch macht es notwendig, verschiedene ontologische Voraussetzungen zu erklären. Was bedeutet Alltäglichkeit? Welche sind ihre ontologischen Gründe? Wie sind das seinsverstehende Seiende und das Seinsverständnis zu konzipieren? Wie konstituiert sich dieses Seiende? Wie ist das Sein dieses Seienden aufzufassen? usw. Die Klärung dieser und anderer Fragen dient als Einstieg in das Problem der vorliegenden Untersuchung. Im Folgenden soll versucht werden, den Verständnishorizont (bzw. den Vorgriff) der Problematik ontologisch darzustellen.

§ 10 Die Problematik der Konstitution des Selbst als die Vorbereitung der ethischen Problematik. Wo soll eine hermeneutisch-phänomenologische Untersuchung des Ethischen anfangen? Die einfachste Antwort hierauf ist: in der Erfahrung des ethischen Phänomens. Die ethische Forschung ist wichtig, gerade weil die Grenzen des Ethischen (und die Art und Weise seiner Erfahrung) nicht unmittelbar klar sind. Trotz dieser Unklarheit gibt es ein alltägliches Verstehen des Ethischen. Die Untersuchung muss dann mit der alltäglichen Erscheinung anfangen. Wo ist diese Erscheinung zu finden? Gerade im Alltag: Wir machen etwas ›(Un-) Richtiges‹ oder sehen, dass jemand etwas ›(Un-)Richtiges‹ tut. Wir hören in den Nachrichten, dass jemand eine gute Tat vollbracht oder ein Verbrechen begangen hat. Man hört vor Gericht Aussagen wie: ›Ich habe dieses oder jenes gemacht‹, ›Ich bin nicht schuldig‹ usw. Der Richter beurteilt dann die Tatsache und damit das ›Ich‹. Diese Fälle machen deutlich, dass sich das Verständnis einer Handlung über ein 93 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

›Ich‹ vollzieht. Das ›Ich‹ (oder die Häufung von ›Ichs‹, wie in der Aussage ›Wir 238 haben etwas (Un-)Richtiges gemacht‹) ist der ›Ort‹, in dem sich das Richtige und das Unrichtige ausdrücken bzw. zeigen. Es kann somit festgelegt werden, dass das Ich das moralische ›Subjekt‹ ist. Man versteht das beurteilte Ich unter moralischen Kategorien (die relativ zu der Lage, zu der Kultur, etc. sind) und artikuliert dieses Verständnis in Form einer Beurteilung, wie z. B. er ist schuldig. Dies zeigt, dass der moralische Akteur auch die Möglichkeit moralischer Beurteilungen eröffnet. Jemand muss schuldig, unschuldig, gut, böse usw. sein. Das Ich ermöglicht den ›moralischen‹ bzw. ›ethischen‹ Erscheinungsraum. Ohne das Ich (und dementsprechend das Du) gibt es das Ethische nicht. Die Untersuchung scheint also bei der Analyse des ›Ich‹ anfangen zu können. Doch die hermeneutisch-phänomenologische Forschung fragt ontologisch nicht nach dem Faktum ›Ich‹, sondern nach dem Verständnis eines ›Ich-bin‹ und dies bedeutet, dass sie nach dem Selbst bzw. nach der Selbstkonstitution dieses Ichs fragt 239. Die Frage lautet dann: Wie versteht und konstituiert sich das Ich als Ich? Diese Problematik wurde in Heideggers Daseinsanalyse entwickelt. Die Daseinsanalytik kann dementsprechend behilflich sein, um die Untersuchung des Verständnisses des Ethischen zu leiten 240. Zur verschiedenen Weise, in der man das ›Wir‹ in einer Aussage versteht (pluralis maiestatis; pluralis modestiae etc.) siehe: Schmid, 2012, S. 11–12. Heideggers Benutzung des ›Wir‹ hat die Form des Man (vgl. Theunissen, 1965, S. 118). »Sofern die ganze Problematik des Miteinanderseins von Heidegger nur aufgerollt wird zwecks Beantwortung der Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins, bilden die Anderen als Man von vornherein den Horizont, in dem die Anderen als Mitdasein thematisiert werden.« (Ebd., S. 172). Theunissen sieht hier eine Verneinung des Anderen (vgl. ebd., S. 173 f.). Für die vorliegende Untersuchung ist dies jedoch vielmehr eine Betonung Heideggers, dass durch die Anpassung an soziale Rituale und Handlungsweisen den Selbstbezug der Handlungsfähigkeit verloren geht. Dies konstituiert das Problem der Verantwortung. Im ›Wir‹ des Man sind alle und niemand verantwortlich (vgl. SZ, S. 127). Siehe §§ 24; 33 und Zweiter Teil, Kap. 4 der vorliegenden Arbeit. 239 Der Begriff Ich muss von dem Begriff Selbst unterschieden werden. Das Ich meint das ontische sich identifizieren als ein Selbst: Das Ich-sagen identifiziert, so Heidegger, dieses Seiende als sich selbst, d. i. dieses und nicht anders (vgl. SZ, S. 318; siehe auch Shoemaker, 1968). Das Selbst ist der Vollzug der Auslegung des eigenen Seins in Bezug auf den Möglichkeitshorizont. 240 Die Frage nach dem Ethischen ist hier phänomenologisch untersucht, und dies bedeutet, wie Luckner richtig betont, dass die Arbeit nicht »was eine Person überhaupt ist« fragt, sondern »wie es ist, eine Person zu sein« (vgl. Luckner, in Rentsch (Hrsg.), 2001, S. 149). Hier wird nach dem Vollzug des Lebens als selbst-verstehendes 238

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§ 10 Die Problematik der Konstitution des Selbst

α.

Einführung in den ontologischen Begriff des Selbst

In § 9 von SZ schlägt Heidegger die formale Anzeige ›Existenz‹ vor 241, um auf das Sein des Daseins hinzuweisen. Diese formale Anzeige hat zwei Momente 242 bzw. gleichursprüngliche Komponenten: das ›Zusein‹ und die ›Jemeinigkeit‹. Die Zusein-Anzeige weist auf den Aufgabecharakter des Seins des Daseins hin 243. In der Vorlesung vom Wintersemester 1928/1929 schreibt Heidegger über diesen Charakter: Das Sein seiner selbst [d. i. des Daseins] ist Vorgabe und Aufgabe, weil eben zum Dasein Seinsverständnis gehört, worin liegt, daß das Sein seiner selbst ihn vorgestellt ist als das, wie und was es zu sein hat. (GA 27, S. 325). Leben gefragt und dies wird dann mit der Problematik des Verständnisses des Ethischen in Verbindung gesetzt. 241 In § 45 SZ beschreibt Heidegger explizit die Existenz-Anzeige wie folgt: »Der Titel [Existenz] besagt in formaler Anzeige: das Dasein ist als verstehendes Seinkönnen, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht. Das Seiende, dergestalt seiend, bin je ich selbst.« (SZ, S. 231). Eine historisch-kritische Darstellung dieses Begriffs findet man in Kisiel, 2002, Kap. 7. 242 In der heideggerschen Phänomenologie wird der Begriff ›Moment‹ (vgl. SZ, S. 41; 191) genau wie in der husserlschen Phänomenologie benutzt. Nach Husserls Dritten Logischen Untersuchung bezeichnet ›Momente‹ in phänomenologischer Ausdrucksweise keine konkreten Stücke eines Ganzen, die selbstständig sind, sondern unselbstständige, abstrakte Stücke bzw. theoretisch geteilte Teile eines Bewusstseinsverlaufes. Momente sind Teile, die als Teile eines Ganzen analysiert werden müssen, sodass man ihr genaues Wesen verstehen kann. Wesentlich für diese Teile ist, dass sie nicht ohne das Ganze (und ohne ihr Verhältnis zu diesem Ganzen) konzipiert werden können (vgl. Hua, XIX/1, § 3). Obwohl sie analytische Teile sind, haben sie ihr Fundament in der Sache selbst und nicht in einer psychologischen, idealen Vorstellung (materiales a priori) (vgl. ebd., § 7, a). Siehe ebd., S. 229 ff.; 272 ff.; Auch Mara, in Gander (Hrsg.), 2010, S. 279–280; Sokolowski, 1968; Fine, in Smith u. Woodruff (Hrsg.), 1995. Eine kurze Erklärung der Lehre Husserls vom Ganzen und den Teilen und eine Darstellung des Einflusses, den diese Lehre in Heideggers Daseinsanalytik hat, findet man in Øverenget, 1998, S. 9–27. 243 Rodríguez stellt sehr präzise dar, worauf die Anzeige ›Zusein‹ hinweist: das Zusein »versucht zu zeigen, warum und wie es im Dasein ein Seinsverständnis gibt, und zwar, weil die Weise, in der das Daseins existiert, immer ein sein-Müssen ist, dies, weil das Dasein ein besonderes Verhältnis zu seinem Sein hat, nämlich es vollziehen zu müssen, es ins Spiel zu bringen. Ontologisch gesagt, bekommt das Dasein sein Sein nicht als etwas schon Gegebenes und Fertiges, sondern als etwas zu Vollziehendes.« (Rodríguez, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 54. Eigene Übersetzung). Dieser Aufgabecharakter und der persönliche Charakter der Existenz haben insbesondere die französische Existenz-Philosophie beeinflusst (dazu siehe: Lembeck, 1994, S. 118 f.; Wandenfels, 1998).

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Diese Aufgabe ist stets personell. Das Sein des Daseins ist, so Heidegger, »je meines«. Da es ›je meines‹ ist, kann ich es mir immer in einer Art und Weise aneignen. Die Jemeinigkeit-Anzeige weist auf den modal-personellen Charakter der Aufgabe hin 244. Die Existenz-Anzeige weist dementsprechend in einem ersten Moment auf (1) das Möglichsein des Daseins und auf (2) die Möglichkeit der Aneignung dieses Möglichseins hin: »Das Dasein bestimmt sich als Seiendes je aus einer Möglichkeit, die es ist und in seinem Sein irgendwie versteht.« 245 Das Dasein wird so zuerst als Möglichsein bzw. Seinkönnen aufgefasst 246. Was bedeutet es, dass das Möglichsein personell ist? Zunächst zeigt sich das Dasein als ›je meines‹. Ich bin es. Nun ist dieses ›Ich‹ genau das, was erklärt werden muss. Eine solche Aufgabe scheint zunächst bizarr, könnte ich doch einfach auf mich zeigen und antworten ›Ich‹. Ist mit dieser performatorischen Erwiderung die ontologische Frage nach dem ›Wer‹ des Daseins bzw. des Möglichseins beantwortet? Heidegger ist der Meinung, dass die Erkennung des Factums ›Ich‹ die ontologische Frage nicht beantwortet 247. Eine solche ›Antwort‹ missversteht die Frage als eine Frage nach dem ›Was‹ – doch wer zunächst und zumeist dieses Selbst ist, bleibt unbeantwortet. Dieses Missverständnis hat, nach Heidegger, seine Wurzeln in der philosophischen Tradition, die dieses Selbst ontologisch als ὑποκείμενον, Vgl. SZ, S. 114. Zur Jemeinigkeit schreibt Rodríguez: »Es geht darum, dass die Beziehung zum Sein, welches vollzogen werden muss, welches als eine vollziehbare Möglichkeit erscheint, nicht als eine indifferente, logische, abstrakte Möglichkeit gesehen wird, die man betrachtet, sondern als etwas, das mich befällt, das mich bewegt es zu vollziehen, das ich mir zu eigen machen muss. Kurz gesagt, es erscheint als etwas, das ich mir aneigne. […] Diese Struktur zeigt, dass das Zusein die Form eines besonderen Selbstbesitzes ist, welche unverständlich würde, wenn wir sie als eine objektive und unpersönliche Beziehung darstellen wollten. Der Bezug zum Sein, der die Idee der Existenz enthält, ist eine Idee des eigenen Seins, ein Sein, welches eine Möglichkeit ist, die ich aneignen oder ablehnen muss.« (Rodríguez, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 55. Eigene Übersetzung). Heidegger hatte das Dasein zuvor mit der Anzeige Jeweiligkeit angezeigt (siehe z. B. GA 63, S. 80; 85; GA 64, S. 11; GA 20, S. 205 ff.). Jeweiligkeit und Jemeinigkeit sind nicht austauschbar. Die Jeweiligkeit weist auf das Dasein als etwas nicht Allgemeines, sondern immer situativ und personelles, hin. Sie zeigt auch die Zeitlichkeit des Daseins. 245 SZ, S. 43. 246 § 9 SZ führt diese Idee ein, die im Sinne des existenzialen Verstehens in § 31 (vgl. S. 143) entwickelt wird. 247 Vgl. ebd., S. 114. 244

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subiectum, d. i. »das in einer geschlossenen Region und für diese je schon und ständig Vorhandene, das in einem vorzüglichen Sinne zum Grunde liegende« 248, d. h. Ständigkeit von etwas Vorhandenen interpretiert. Die Bestimmung des ὑποκείμενον konzipiere das Selbst als etwas Vorhandenes, d. i. als das, was über Änderungen hinaus präsent bleibe und veranlasse nicht nur, dass die Frage nach dem Wer ohne Antwort bleibe, sondern auch, dass sie selbst verhüllt werde 249 (sie antwortet auf das Was aber nicht auf das Wie dieses Seiende). Um diese Tendenz der Vergegenständlichung des Selbst zu vermeiden, schlägt Heidegger vor, dass das Selbst primär als eine formale Anzeige aufgefasst werden solle 250. Das Selbst sollte nicht als ὑποκείμενον, sondern als die reine Selbstreferenz der Existenz interpretiert werden. Nun muss diese formale Anzeige in Einklang mit dem phänomenalen Tatbestand sein, welcher besagt, dass das Dasein kein bloEbd. Wie Theunissen betont, kritisiert Heidegger in SZ §§ 25–27; § 64 jeweils die Positionen Husserls und Kants. Diese Positionen fassen das Ich als Personalität (das, was durch Wechsel identisch bleibt) und Substanzialität (das zugrunde Liegende) auf. Zur Position Heideggers im Kontrast zur Philosophie des Ichs bzw. transzendental Philosophie siehe Theunissen, 1965, S. 156 ff. Heidegger kritisiert Kants Ansatz des Ichs als Ich-denke. Kant definiert das Ich als »Bewußtsein an sich [d. i.] nicht eine Vorstellung […], sondern eine Form derselben überhaupt« (Kant, KrV., B, S. 404). Laut Heidegger ist das Ich hier als ὑποκείμενον konzipiert, weil das Subjektum keine Vorstellung, sondern die Form (das Grundliegende) dieser ist: ›Bewusstsein an sich‹ (SZ, S. 319). So wird das Ich als etwas Vorhandenes ohne Welt verstanden. Heidegger schreibt: »Das Ich-sagen meint das Seiende, das je ich bin als: ›Ich-bin-in-einer-Welt‹. Kant sah das Phänomen der Welt nicht und war konsequent genug, die ›Vorstellungen‹ vom apriorischen Gehalt des ›Ich denke‹ fernzuhalten. Aber damit wurde das Ich wieder auf ein isoliertes Subjekt, das in ontologisch völlig unbestimmter Weise Vorstellungen begleitet, zurückgedrängt.« (Ebd., S. 321). 249 Die Jemeinigkeit zeigt das Prinzip der Selbstheit an. Doch diese Selbstheit muss ohne einen bestimmten Gehalt gedacht werden, d. i. nicht als ὑποκείμενον. 250 Vgl. SZ, S. 116. Eine vollständige Analyse des Selbst im Horizont Heideggers und eine Interpretation der Daseinsanalytik in Bezug auf das Problem der Selbigkeit findet man in Øverenget, 1998. Wie Øverenget betont, versucht Heidegger nicht die Subjektivität des Daseins abzulehnen, sondern die Unzulänglichkeit der klassischen Interpretation des Phänomens (Dasein) aufzuzeigen und eine adäquatere Notion dieser Subjektivität zu erarbeiten (Øverenget, 1998, S. 2; siehe z. B. GA 26, S. 161 ff.). Dies wird klar, da er das Selbst (die Selbigkeit bzw. die Subjektivität) als eine formale Anzeige (als eine leere Struktur), die in Bezug auf die Struktur des In-der-Welt-seins und auf das faktische Miteinandersein verstanden werden muss, interpretiert (vgl. SZ, S. 116). Siehe auch Neuber, in Keiling (Hrsg.), 2013, S. 39 ff.; Crowell, in Polt (Hrsg.), 2005; 2013, S. 169 ff. Laut Crowell enthält die in SZ dargestellte Subjektivität eine normative Dimension. Siehe zweiter Teil, Kap. 1 der vorliegenden Arbeit. 248

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

ßes Subjekt ohne Welt bzw. kein »isoliertes Ich […] ohne die Anderen« ist 251. Dies bedeutet, dass die Konstitution des Ichs bzw. des Selbst in Bezug auf die Anzeige ›In-der-Welt-sein‹ geklärt werden muss. In § 12 von SZ wird die Struktur des ›In-der-Welt-seins‹ als die Grundstruktur des Seins des Daseins vorgeschlagen. Die Anzeige ›Inder-Welt-sein‹ weist auf ein einheitliches Phänomen hin, welches theoretisch in konstitutive Momente unterteilt werden kann. Die drei Momente dieser Struktur sind: ›die Welt‹, ›das Seiende‹ (welches in der Welt ist) und das ›In-Sein‹ 252. Die Problematik des Selbst ist nur in Bezug auf die Erklärung dieser Momente zu verstehen. β.

Einführung in den ontologischen Begriff der Welt

Im Methodenteil der vorliegenden Arbeit wurde Heideggers Konzeption der Welt schon erwähnt, doch hier sind ein paar Ergänzungen nötig. Heideggers Interpretation der Welt ist eine Gegenüberstellung mit der cartesianischen Tradition 253. Die Unterscheidung zwischen Seele und Körper wird bereits in den Anfängen der Philosophie getroffen 254, doch sie erreichte ihren Höhepunkt bei René Descartes. Descartes stellte fest, dass ein realer Unterschied zwischen zwei Sachen besteht, wenn man eine Sache getrennt von der anderen klar und deutlich (»clare et distincte«) einsehen kann 255, d. i., wenn es keine (denkbare) Existenzabhängigkeit gibt. Dieser Unterschied ist kein theoretisch-methodischer, sondern ein realer Unterschied. Dies bedeutet, dass eine dieser Substanzen (nämlich die res cogitans) ohne die andere (nämlich ohne die res extensa) ›existieren‹ kann 256. Es ist bekannt, dass Descartes diese Idee durch die Methode des Zweifelns erreichte. Über die Existenz des Körpers kann man zweifeln: Es kann SZ, S. 116. Vgl. ebd., S. 53. 253 Siehe SZ, erster Teil, erster Abschnitt, drittes Kapitel, B. 254 Siehe z. B. Platons Phaidon und sein Verhältnis zu Pythagoreer und Orphiker. Dazu siehe: Ebert, 1994, S. 4–17; Guthrie, 1975, S. 338–340. 255 »Man spricht von der realen Unterschiedenheit zweier Substanzen, wenn jede von ihnen ohne die andere existieren kann.« (Descartes, Med. Anhang zu den zweiten Erwiderungen: Gedanken zum Beweise des Daseins Gottes und der Unterschiedenheit der Seele vom Körper, nach geometrischer Methode geordnet, Def. X, S. 219). 256 Vgl. Descartes, Med. VI u. Anhang zu den zweiten Erwiderungen: Gedanken zum Beweise des Daseins Gottes und der Unterschiedenheit der Seele vom Körper, nach geometrischer Methode geordnet, Satz IV, S. 231. 251 252

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§ 10 Die Problematik der Konstitution des Selbst

wohl sein, dass die Wahrnehmung des eigenen Körpers nicht real, sondern ein Traum ist. Eine klare und deutliche Einsicht über den Körper ist nicht möglich. Im Gegenteil, wenn man zweifelt, kann nicht an der Fähigkeit des Zweifelns und folglich auch nicht an der Fakultät des Denkens gezweifelt werden. Auf diese Weise wird ein klares und deutliches Ding, ein denkendes Ding, konzipiert und erfasst. Die Möglichkeit einer unabhängigen reflexiven Auffassung des denkenden Dinges zeigt nach Descartes, dass zwischen der Seele und dem Körper bzw. zwischen der res cogitans und der res extensa ein realer Unterschied besteht 257. Im Gegensatz zu diesem Ansatz stellt Heidegger fest, dass die Welt und das Dasein nicht richtig aufgefasst werden können, wenn sie als getrennte und unabhängige Substanzen in den Modi der res extensa und der res cogitans konzipiert werden. Im Dasein gibt es keinen realen Unterschied zur Welt, im Gegenteil »[z]um Dasein gehört aber wesenhaft: Sein in einer Welt.« 258 Das phänomenologische Postulat der Intentionalität prüft, dass sich jede cogitatio auf etwas bezieht 259. Dieses ›Etwas‹ ist bei Heidegger als Welt zu bezeichnen 260. Vgl. Descartes, Med. I; II u. VI. Siehe auch: SZ, S. 211. SZ, S. 13. In Antwort auf den cartesianischen Ansatz kann mit Heidegger argumentiert werden, dass kein Dasein ohne Welt postuliert werden kann, da die theoretische Einstellung, die nötig ist, um dieses Postulat aufzustellen, ein fundierter Modus des In-der-Welt-seins ist: »Der Mensch ›ist‹ nicht und hat überdies noch ein Seinsverhältnis zur ›Welt‹, die er sich gelegentlich zulegt. Dasein ist nie ›zunächst‹ ein gleichsam in-seins-freies Seiendes, das zuweilen die Laune hat, eine ›Beziehung‹ zur Welt aufzunehmen. Solches Aufnehmen von Beziehungen zur Welt ist nur möglich, weil Dasein als In-der-Welt-sein ist, wie es ist.« (Ebd., S. 57). Olafson argumentiert darüber hinaus, dass die nötige Einstellung, um an der Existenz der Welt und damit an der Existenz Anderer zu zweifeln, nur in unsere Beziehung mit Anderen (in einer Mitwelt) ermöglicht wird. Er schreibt: »when in adulthood we pretend to wonder whether there are any minds other than our own, we are in effect trying to call into question something that has enabled us to reach the point at which we can pose this question.« (Olafson, 1999, S. 25). 259 Husserl sagt deutlich: »Der transzendentale Titel ego cogito muß also um ein Glied erweitert werden: jedes cogito, jedes Bewußtseinserlebnis, so sagen wir auch, meint irgend etwas und trägt in dieser Weise des Gemeinten in sich selbst sein jeweiliges cogitatum, und jedes tut das in seiner Weise.« (Hua I, § 14, S. 71). Man sieht schon in Descartes die Verbindung zwischen dem Bewusstseinsgehalt und der äußeren Welt, wenn er über den Unterschied zwischen Verstandestätigkeit (Intellecto) und Einbildungskraft (Imaginatio) spricht (vgl. Descartes, Med. VI, S. 88 f.). Doch mit der Unabhängigkeit der Intellecto stellt er fest, dass die res cogitans nicht den Gehalt der Welt benötigt, um ihre Tätigkeit zu vollziehen. 260 Doch hier meint Welt weder die Sammlung der Seienden, die innerhalb der Welt 257 258

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Laut Heidegger hat die traditionelle Ontologie, welche die Realität durch die Seinsbestimmung der ›Substanzialität‹ auffasst, zur Folge, dass die Struktur des In-der-Welt-seins und anderer Phänomene, die sich auf diese Struktur beziehen, verhüllt werden 261. Die Welt muss nach Heidegger in Bezug auf das Dasein bzw. in Bezug auf die Struktur des In-der-Welt-seins verstanden werden 262. Es wird davon ausgegangen, dass die Welt nur in der Transzendenz des Daseins ist, d. h., dass das In-der-Welt-sein das ist, was das Seiende als innerweltlich erschließt 263. Dies heißt nicht, dass die Dinge nur ›da‹ sind (im klassischen Sinn von existentia), wenn es Dasein gibt. Es bedeutet vielmehr, dass nur sobald das Dasein ist, es Seinsverständnis gibt und das Seinsverständnis ist wiederum das, was die Welt als Welt erschließt. Ohne Seinsverständnis, so Heidegger, könne weder gesagt werden, dass das Seiende sei, noch dass es nicht sei 264. Eine Interpretation der Welt als ein vom Dasein getrenntes Seiendes bestimmt die Weise, in der das Dasein in der Welt ist, als ›Sein-in‹ der Welt, d. h., sie interpretiert das In-Sein des Daseins in vorhanden sind, noch das, worin die Seiende sind. Zu den ontischen, ontologischen und ontologisch-existenzialen Begriffen der Welt siehe SZ, § 14 u. S. 86–87. 261 Vgl. SZ, S. 201. 262 In der Vorlesung vom Wintersemester 1923/1924 betont Heidegger, dass dies nicht bedeutet, dass man die Welt in ›Beziehung‹ zum Dasein verstehen soll, sondern als Grund des Lebens bzw. als das Sein des Daseins (vgl. GA 17, S. 105). In Vom Wesen des Grundes schreibt Heidegger: »Welt gehört zu einer bezughaften, das Dasein als solches auszeichnenden Struktur, die das In-der-Welt-sein genannt wurde.« (GA 9, S. 156). 263 In der Vorlesung vom Sommersemester 1928 schreibt Heidegger: »Innerweltlichkeit ist demnach nicht eine vorhandene Eigenschaft des Vorhandenen an ihm selbst. […] Das transzendierende Dasein gibt als In-der-Welt-sein je faktisch dem Seienden die Gelegenheit des Welteingangs, und dieses Gelegenheit-geben von Seiten des Daseins besteht in nichts anderem als im Transzendieren. […] [Die Innerweltlichkeit] gehört zur Welt und ist nur mit dieser, geschieht nur, sofern In-der-Welt-sein geschieht. Welt selbst gibt es nur, sofern Dasein existiert.« (GA 26, S. 251). 264 »Daß Realität ontologisch im Sein des Daseins gründet, kann nicht bedeuten, daß Reales nur sein könnte als das, was es an ihm selbst ist, wenn und solange Dasein existiert. Allerdings nur solange Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, ›gibt es‹ Sein. Wenn Dasein nicht existiert, dann ›ist‹ auch nicht ›Unabhängigkeit‹ und ›ist‹ auch nicht ›An-sich‹. Dergleichen ist dann weder verstehbar noch unverstehbar. Dann ist auch innerweltliches Seiendes weder entdeckbar, noch kann es in Verborgenheit liegen. Dann kann weder gesagt werden, daß Seiendes sei, noch daß es nicht sei. Es kann jetzt wohl, solange Seinsverständnis ist und damit Verständnis von Vorhandenheit, gesagt werden, daß dann Seiendes noch weiterhin sein wird.« (SZ, S. 211–212).

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§ 10 Die Problematik der Konstitution des Selbst

derselben Weise, wie das ›Sein-in‹ des Wassers ›im‹ Glas 265. Als existierendes ist das Dasein nicht nur als jeweiliges Seinkönnen (Jemeinigkeit und Zusein) formal angezeigt, sondern auch als transzendent 266. Die formale Anzeige ›Existenz‹ zeigt dann auch zwei andere Grundcharaktere des Daseins an: Einerseits meint die Ex-sistenz das immer Draußen-in-der-Welt-sein des Daseins: Im Sichrichten auf… und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon ›draußen‹ bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt. (SZ, S. 62)

Andererseits weist die Ex-sistenz auf das Sein des Daseins in seinem zeitlichen bzw. ek-statischen Charakter hin: Zeitlichkeit ist das ursprüngliche ›Außer-sich‹ an und für sich selbst. […] Sie [die Zeitlichkeit] ist nicht vordem ein Seiendes, das erst aus sich heraustritt, sondern ihr Wesen ist Zeitigung in der Einheit der Ekstasen. (SZ, S. 329)

Die bestimmte Art des In-Seins des Daseins wird durch die Anzeige Erschlossenheit benannt. Die Erschlossenheit weist formal auf die existenziale Konstitution des ›Da‹ des Daseins hin 267, d. i. die Art und Weise, in der sich das Dasein der Welt bzw. sich selbst, den Dingen und anderen Menschen öffnet 268.

SZ, S. 54. An dieser Stelle muss klar sein, dass dieser Ansatz ein ontologischer Ansatz ist. Dies bedeutet, dass von einem bestimmten Standpunkt aus, z. B. dem der Physik, der Mensch wohl ›in‹ der Welt als Vorhandenes gesehen werden kann, doch nicht in der Weise des Daseins, d. i. des Existierens. Heidegger schreibt: »das Dasein selbst, ›in‹ der Welt vorhanden ist, genauer gesprochen: mit einem gewissen Recht in gewissen Grenzen als nur Vorhandenes aufgefaßt werden kann. Hierzu ist ein völliges Absehen von, bzw. Nichtsehen der existenzialen Verfassung des In-Seins notwendig Mit dieser möglichen Auffassung des ›Daseins‹ als eines Vorhandenen und nur noch Vorhandenen darf aber nicht eine dem Dasein eigene Weise von ›Vorhandenheit‹ zusammengeworfen werden. Diese Vorhandenheit wird nicht zugänglich im Absehen von den spezifischen Daseinsstrukturen, sondern nur im vorherigen Verstehen ihrer.« (Ebd., S. 55). 266 Die Existenzialität des Daseins ist nur aufgrund der Transzendenz möglich: »[D]as Dasein ist nicht deshalb ein In-der-Welt-sein, weil und nur weil es faktisch existiert, sondern umgekehrt, es kann nur als existierendes sein, d. h. als Dasein, weil seine Wesenverfassung im In-der-Welt-sein liegt.« (GA 9, S. 141). 267 Dazu weiter in § 12 dieser Arbeit. 268 Vgl. SZ, S. 297. 265

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Auf der Grundlage des In-Seins des Daseins kann Heidegger die Seinsart der Welt mit der Anzeige ›Weltlichkeit‹ bestimmen 269 und mit dieser Bestimmung den Vollzug der Welt als eine Bewandtnisganzheit von Bedeutsamkeiten 270, die sich in Bezug auf das Worumwillen des Daseins artikulieren, darstellen. Die Begriffe ›Bewandtnisganzheit‹, ›Bedeutsamkeit‹ und ›Worumwillen‹ werden von Heidegger benutzt, um die ursprüngliche Begegnisart des In-derWelt-seins phänomenologisch zu beschreiben. Im Folgenden werden diese kurz erklärt. Die phänomenologische Analyse der Welt 271 fängt mit der Bestimmung des In-Seins als vertrauliches Umgehen in der Welt an 272. Diese Idee ist in der Abhandlung Der Begriff der Zeit wie folgt ausgedrückt: Das ›Insein‹ bietet sich dar als ›Sein bei‹ der besorgten Welt. Das ›Sein bei‹ zeigt sich als Vertrautsein mit der Welt, die unabgehoben als Um-, Mit- und Selbstwelt begegnet. Das Vertrautsein schließt in sich: der Welt vertrauen, ohne Verdacht sich ihr überlassen im Bestellen, Pflegen, Nützen, zur Verfügung Halten. Das Sich-auf-die-Welt-verlassen schließt ein sich Auskennen in ihr ein. Das sich auskennende Sich-auf-die-Welt-verlassen charakterisiert das nächste Insein als ›zu Hause‹ -Sein in ihr. (GA 64, S. 31)

Der Schlüsselbegriff dieses Abschnittes ist ›Vertrautheit‹. Unter diesem Begriff versteht Heidegger ein vor-theoretisches d. i. ein nicht erkennendes, sondern ein praktisches ›Bekanntsein‹ mit der Welt 273. Der Umgang mit der Welt ist nicht ›blind‹, sagt Heidegger in SZ, sondern hat seine eigene Art des Verstehens: die Umsicht. Diese Umsicht lässt im besorgten Umgehen das Seiende frei, als nützliches ›Zeug‹ 274, das auf anderes ›Zeug‹ und auf einen Nutzung-Kontext verweist 275. Doch im Umgehen verhält sich das Dasein vertraulich gegenüber dem Seienden, ohne es reflektieren zu müssen. So konzipiert Vgl. ebd., S. 64. Die Bedeutsamkeit ist die Weise, in der sich das Dasein das In-der-Welt-sein selbst gibt (vgl. SZ, S. 87). 271 Vgl. SZ, §§ 12–18; GA 64, S. 19 ff. 272 SZ, S. 54; GA 20, S. 213. 273 Vgl. GA 63, S. 99–100. 274 ›Zeug‹ ist der Begriff den Heidegger benutzt, um den Gegenstand zu benennen, womit wir im besorgten Umgehen zu tun haben. Dieser Begriff will die Um-zu Struktur des Gegenstandes verdeutlichen. Ein ›Auto‹ ist z. B. ein Fahrzeug, d. i. etwas um zu fahren (vgl. SZ, S. 68 ff.). 275 Vgl. SZ, S. 69; 85–86. 269 270

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§ 10 Die Problematik der Konstitution des Selbst

Heidegger zwar das Dasein als ein Verstehendes, aber er konzipiert weder das Dasein als ein erkennendes Subjekt 276 noch die Welt als ein erkennbares Objekt. Das Subjekt-Objekt Verhältnis, kritisiert Heidegger, verzerrt das wesentliche In-der-Welt-sein des Daseins 277. Heidegger stellt fest, dass dieser Ansatz beide, Welt und Dasein, als Vorhandenes interpretiert und außerdem eine Erklärung, »wie dieses erkennende Subjekt aus seiner inneren ›Sphäre‹ hinaus in eine ›andere und äußere‹ [kommt]« 278, erschwert. Im Gegenteil dazu zeigt die phänomenologische Analyse der Welt und des Daseins, dass die ursprüngliche Weise, in der das Dasein primär in der Welt ist, nicht die θεωρία, sondern die πρᾶξις ist 279. Dies bedeutet hauptsächlich zwei Sachen: Erstens, dass die theoretische Einstellung ein fundierter Modus der praktischen ist 280 und zweitens, dass weder das Dasein ohne Welt, noch die Welt ohne Dasein ›gegeben‹ werden können. Heidegger stellt das praktische Umgehen des Daseins in der Welt als ›Besorgen‹ 281 dar. In dieser Beziehung wird die Welt anders verWie Menke richtig anmerkt, gründet das Missverständnis der Subjekt-Objekt Dynamik in der Bestimmung des Daseins als res cogitans: »In dieser Strategie hat die Kritik am Subjekt(-Begriff) zunächst und grundlegend einen epistemologischen Sinn: Das Subjekt ist Descartes ›ego […] als weltlose res cogitans‹ (SZ, S. 211), das sich durch Vorstellungen auf ›Objekte‹ bezieht; die Rede von ›Subjekten‹ schließt die Vorstellung von Erkenntnis als einer ›Subjekt-Objekt-Beziehung‹ ein (SZ, S. 59).« (Menke, in Thomä (Hrsg.), 2013, S. 321). 277 Heidegger kritisiert diesen Ansatz an verschiedenen Stellen. Siehe z. B. SZ, S. 59; GA 18, S. 56–57. 278 Vgl. SZ, S. 60. Siehe auch: GA 20, S. 38 ff.; GA 24, S. 63 f.; GA 26, S. 205 ff.; GA 61, S. 94; 173; GA 62, S. 224 f. 279 Vgl. GA 19, S. 39 f.; GA 17, S. 295–296, Helene Weiss u. Herbert Marcuse Nachschriften, Ergänzung 4 zu S. 30. Heidegger findet im aristotelischen Begriff πρᾶξις, wie Volpi richtig ausgeführt hat, zwei verschiedene Aspekte: Erstens findet er einen ontischen Aspekt, nämlich, dass der Begriff »die Tätigkeit des Menschen, welche als Zweck sich selbst und nicht die Herstellung eines Produktes hat, designiert« (siehe: Arist. Eth. Nic. I, 1 1094a1; Volpi, 2012, S. 96–97, Note 30. Eigene Übersetzung; siehe auch Øverenget, 1998, S. 5; vgl. Ch. VII). Zweitens bezeichnet πρᾶξις, im ontologischen Sinne, einen Modus des In-der-Welt-seins, nämlich »den Modus der eigenen Bewegung des menschlichen Lebens« (Ebd.): κίνησις. So verstanden ist die πρᾶξις, als κίνησις, das Fundament der anderen Modi des Lebensvollzuges: »die póieseis und die epistemai«. So, folgert Volpi, »[verkehrt] nach Heidegger sich die ursprüngliche praxis in die Seinsstruktur des Daseins.« (Ebd.). Siehe eine vollständige Darstellung in Volpi, 1988. Siehe auch Metcalf, 2007. Zum Vorrang der πρᾶξις in Heideggers Phänomenologie siehe: Gethmann, 1993. 280 Vgl. SZ, § 13; GA 20, § 20. 281 Vgl. SZ, S. 56–57. 276

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

standen, nämlich als »[d]as Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis« 282. Die Begegnisart der Welt ist in diesem besorgten Umgehen als ›Bedeutsamkeit‹ 283 zu verstehen. Die Welt ist in der Weise der Bedeutsamkeit da. Doch die Bedeutsamkeit muss nicht als etwas von einem Subjekt Gegebenes verstanden werden. Laut Heideggers Analyse gibt es nicht zuerst ›Naturdinge‹, die von einem Subjekt einen ›Wert‹ bekommen 284. Genau umgekehrt, erschließt die Welt sich jedes Mal als bedeutsam. Diese These wurde sehr früh im phänomenologischen Ansatz Heideggers aufgestellt. Schon in der Vorlesung des Kriegsnotsemesters 1919 argumentiert er, dass das Erlebnis der (Um-)Welt nicht die Form einer Wahrnehmung (im weiteren Sinn) von Objekten und objektiven Eigenschaften und/oder Qualitäten (auch Bedeutungen) hat. Das Erlebnis der Welt, d. i. die Begegnung der Welt wird schon als die gelebte Beziehung zwischen bedeutsamen Seienden und menschlichen Handlungen bzw. Zwecke konstatiert. Dem Katheder, veranschaulicht Heidegger in dieser Vorlesung, wird nicht als ein »Fundierungszusammenhang« begegnet, SZ, S. 86. »Wir nennen das, woraufhin das Dasein als solches transzendiert, die Welt und bestimmen jetzt die Transzendenz als In-der-Welt-sein.« (GA 9, S. 139). 283 Vgl. SZ, S. 87. In der Vorlesung vom Sommerssemester 1925 argumentiert Heidegger, dass alle »unsere schlichten Wahrnehmungen und Verfassungen [und auch alle unsere Verhaltungen] schon ausgedrückte, mehr noch, in bestimmter Weise interpretierte sind.« (GA 20, S. 75). 284 In der Vorlesung vom Sommersemester 1925 nennt Heidegger die spezifische Ontologie, die diese These vertritt, ›Naturontologie‹ und argumentiert, dass die Weltinterpretation, die aus dieser Ontologie entsteht, das Phänomen nur verstellen kann (vgl. GA 20, S. 274). »[D]ie Bedeutsamkeit [ist] die spezifische Struktur des Ganzen der Verständlichkeit.« (Ebd., S. 287). In der Vorlesung vom Sommersemester 1927 schreibt er: »Das ›Deuten‹ besagt demnach nicht, daß ein Subjekt die zuvor nur dinghaft daseienden Naturdinge mit Wertmomenten versieht, die dem Seienden eigentlich nicht zukommen. Umgekehrt: die Abhebung der Bedeutsamkeit als des primären Seinscharakters der Welt soll den Boden geben für den Aufweis einer bestimmten Abkunft der Seinscharaktere des Naturseins.« (GA 64, S. 23–24). Dieser Ansatz bestimmt auch das Wesen der Sprache und des Wortes: »Die Sprache ist nicht identisch mit der Gesamtheit der in einem Wörterbuch aufgezeichneten Worte, sondern die Sprache ist, sofern sie ist, so wie das Dasein, d. h. die Sprache existiert, sie ist geschichtlich. Sprechend über etwas, spricht das Dasein sich aus als existierendes Inder-Welt-sein und Sichaufhalten bei und Umgehen mit Seiendem. […] Es sind nicht zunächst Wörter da, die zu Zeichen für Bedeutungen gestempelt werden, sondern umgekehrt, aus dem sich selbst und die Welt verstehenden Dasein, d. h. aus einem schon enthüllten Bedeutungszusammenhang heraus wächst diesen Bedeutungen je ein Wort zu.« (GA 24, S. 296–297). 282

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§ 10 Die Problematik der Konstitution des Selbst

»als sähe ich zuerst braune, sich schneidende Flächen, die sich mir dann als Kiste, dann als Pult, weiterhin als akademisches Sprechpult, als Katheder gäbe«. Es erscheine als Katheder, als »Platz für den Lehrer« 285. Diese Idee wird so in SZ ontologisch ausgedrückt: Den Gegenständen wird in ihrem »Wozu« begegnet 286. Ein Hammer, sagt Heidegger, wird nur ›als ein Hammer‹ verstanden werden, sobald man hämmert. Doch im Hämmern erscheint der Hammer nicht als etwas Isoliertes, ganz im Gegenteil, der Hammer erscheint immer in Bezug auf den Kontext, in dem das Hämmern möglich ist, nämlich in Bezug auf andere Zeuge z. B. Nägel, Flächen, u. ä., die für diese Tätigkeit notwendig sind 287. Die Tätigkeit des Hämmerns, argumentiert Heidegger, erschließt nicht nur den Hammer (als einen Hammer), sondern auch die Bewandtnisganzheit, d. i. den materialen Kontext dieser Tätigkeit 288. Infolgedessen ist die menschliche Tätigkeit das, was die Welt erschließt. Heidegger greift diese Idee auf, wenn er sagt, dass die bedeutsame Welt aufgrund des »Worumwillens« des Daseins, d. i. aufgrund des Zwecks der menschlichen Handlung erscheint 289. Dementsprechend ist die Seinsart der Seienden, welche die Bewandtnisganzheit konstituiert, als Zuhandenheit 290 bestimmt. Vgl. GA 56/57, S. 70–73. Siehe ein anderes Beispiel in GA 63, S. 88 ff.; GA 20, S. 48 ff. 286 Vgl. SZ, § 15. Laut Heidegger werden die innerweltlichen Seiende in ihrer Nützlichkeit erschlossen. Infolgedessen interpretiert Heidegger die ursprüngliche Seinsart der innerweltlichen Seienden als Zuhandenheit und bezieht diese Interpretation auf das griechische Wort πράγματα (vgl. SZ, S. 68; GA 17, S. 14). Wenn die πρᾶξις durchbrochen wird, sagt Heidegger, können die Seiende als vorhanden erscheinen. Während Heidegger in § 13 von SZ argumentiert, dass die Seienden vor der Analyse ihrer Eigenschaften der theoretischen Einstellung als vorhanden erscheinen, bekräftigt er durch die Analyse der Auffälligkeit, der Aufdringlichkeit und der Aufsässigkeit in § 16, dass das Zuhanden in seinem ›Ding‹-Charakter bzw. als Vorhandenes erscheinen kann, sobald die πρᾶξις durchbrochen worden ist. 287 SZ, S. 84. 288 In der Abhandlung Der Begriff der Zeit schreibt Heidegger: »das nächste Wobei des Verweilens des besorgenden In-der-Welt-seins sind nicht isoliert vorkommende Dinge, sondern die Verweisungen –das ›Von-zu‹ im besorgenden ›Um-zu‹. In diesen Verweisungen liegt sonach die ursprüngliche Struktur des Seins der begegnenden Welt. Das Verweisen ist die Art sich zeigenden Begegnens der Welt. Die Verweisung (etwas beiträglich zu etwas, etwas von Belang für etwas, etwas hergestellt aus etwas) ist ein ›Deuten auf‹ und so, daß das Worauf des Deutens, das ›Be-deutete‹ selbst im Bedeuten liegt. […] Das Bedeuten ist die Begegnisart der Umwelt.« (GA 64, S. 23). 289 Vgl. SZ, § 18; S. 84. 290 In SZ treten zwei Seinsarten auf, die in Kontrast zur Seinsart des Daseins behan285

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Hier muss beachtet werden, dass dies nicht besagt, dass das Dasein die Welt ›nach seinem Willen‹ bestimmen kann. Die Welt erscheint schon in einer (gemeinsamen) Ausgelegtheit – das Dasein selbst ist, so Heidegger, schon vom vertrauten Kontext ›ausgelegt‹. Diese Idee wird deutlicher und präziser, wenn man bedenkt, dass die praktisch begegnete Welt der Gegenstände, welche Heidegger als Umwelt 291 bestimmt, nicht nur aus (bedeutenden) materiellen Gegenständen, sondern auch aus (bedeutenden) ›idealen Gegenständen‹ besteht 292. Mit (Um-)Welt bezeichnet Heidegger nicht nur bedeutsame ›Orte‹ und materiale Gegenstände 293, die als bedeutsam erscheinen, sondern auch, wie Francisco De Lara betont, »alles, was auf [die] Weise [der Bedeutsamkeit] da ist, womit umgegangen wird, was in Sorge genommen wird.« 294 Die (Um-)Welt beinhaltet auch ›ideale Gegenstände‹ wie Diskurse, Erkenntnisse, Meinungen, u. ä., denen in anderen Tätigkeiten des menschlichen Lebens, z. B. wissenschaftliches erforschen, philosophieren, Kunst schaffen und betrachten, usf. begegnet wird. Alle diese Bedeutsamkeiten bilden den Kontext, in dem das Dasein lebt. Als Lebendiges kann das Dasein nicht ›indifferent‹ gegenüber diesen Bedeutungen sein, im Gegenteil, es lebt immer so, dass es von den Bedeutungen betroffen ist. Dies nennt Heidegger Ausgelegtheit. Die wesentliche Art und Weise des In-derWelt-seins ist nicht die reine Reflexion, in der ein denkdendes Ego getrennt von der Welt konzipiert werden kann, sondern ein Umgang mit den (innerweltlichen) Seienden, in dem ein praktisches Ich alltäglich existiert und sich von der Welt beeinflussen lässt.

delt werden: 1. Die Seinsart der Seienden, welche die Bewandtnisganzheit konstituiert: Zuhandenheit (SZ, S. 71). 2. Die Seinsart des Korrelats eines theoretischen Akts des Beschreibens: die Vorhandenheit (vgl. ebd., S. 25, 45, 55, 70–71). 291 Siehe dazu § 14, α der vorliegenden Arbeit. 292 Zur Umwelt gehört »das, was uns begegnet, wozu nicht nur materielle Dinge, sondern auch ideale Gegenständlichkeiten, Wissenschaften, Kunst etc. gehören.« (GA 60 A, S. 11). 293 Vgl. GA 63, S. 102. 294 De Lara, 2008, S. 58–59.

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§ 10 Die Problematik der Konstitution des Selbst

γ.

Das Selbst und die Welt. Einführung in den ontologischen Begriff des Anderen

Die Ausgelegtheit wird als »ein Die-Welt-schon-so-und-so-haben« 295 definiert. Doch ist hier zu bemerken, dass dieses ›die-Welt-haben‹ nicht etwas ›Individuelles‹ des jeweiligen Daseins ist. Die Welt erscheint nicht als eine ›persönliche Welt‹. Die Ausgelegtheit kann vielmehr als ein von anderen Existierenden geteilter Horizont interpretiert werden. Denn, das praktische In-Sein des Daseins bzw. das Besorgen bewegt sich in keiner privaten Welt, ganz im Gegenteil, die im Besorgen begegnete Welt bezieht sich immer auf andere Existierende. Die (Um-)Welt ist nach Heidegger von Anfang an eine Mitwelt 296. Die Welt, als Begegnete, hat schon den Charakter des ›Mit‹ 297. Dies bedeutet, dass die Anderen kein Aggregat der Welt sind; sie sind vielmehr ›mit-erschließende‹ Seiende 298. Die Welt ist uns dann ›gemeinsam‹, wie Heidegger in der Vorlesung von Wintersemester 1928/1929 sagt 299. Heidegger erklärt, dass den Anderen (als Anderen) nicht durch Bewusstseinsakte begegnet wird – weder durch die Unterscheidung des Selbst von den Anderen 300, noch durch eine Einfühlung 301, d. i. eine Übertragung der eigenen (körperlichen und psychischen) Qualitäten auf die Anderen. Man begegnet ihnen, so argumentiert Heidegger, im besorgenden Umgang 302. GA 18, S. 274. Vgl. SZ, S. 118. 297 Vgl. GA 63, S. 98–99; GA 20, S. 349. In der Vorlesung vom Wintersemester 1928/ 1929 schreibt Heidegger: »›Mit‹ [in Mit-da-sein] ist zu fassen als Teilnahme«. (GA 27, S. 85). Damit drückt Heidegger aus, dass die anderen Existierenden in der Welt mit mir sind, und zwar als In-der-Welt-sein. 298 Vgl. SZ, S. 118; GA 20, S. 328. 299 Vgl. GA 27, S. 105 ff. 300 Vgl. SZ, S. 118. 301 Vgl. SZ, S. 124–125. Die Kritik Heideggers an diesem Ansatz dreht sich um die Konzeption der Intersubjektivität als ein Zusammenhang von Subjekten (vgl. GA 27, S. 140 f.; dazu siehe Theunissen, 1965, S. 165). In der Vorlesung vom Wintersemester 1929/1930 betont Heidegger sehr deutlich, dass der Begriff ›Einfühlung‹ den spezifischen Charakter des Mitgehens (in der Welt) nicht erfassen kann, und dass die Perspektive, die dieses Konzept anbietet, das Phänomen selbst verdeckt (vgl. GA 29/30, S. 297–298). Zu Heideggers Ansatz gegenüber der Problematik der Einfühlung und der Empathie siehe Hatab, in Raffoul; Pettigrew, (Hrsg.), 2002. Zum Problem der ›Intersubjetivität‹ bei Heidegger siehe Cataldo, 2004. 302 Vgl. GA 63, S. 98; SZ, S. 117 f.; GA 20, S. 326 ff. 295 296

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Die Anderen begegnen nicht im vorgängig unterscheidenden Erfassen des zunächst vorhandenen eigenen Subjektes von den übrigen auch vorkommenden Subjekten, nicht in einem primären Hinsehen auf sich selbst, darin erst das Wogegen eines Unterschieds festgelegt wird. Sie begegnen aus der Welt her, in der das besorgend-umsichtige Dasein sich wesenhaft aufhält. (SZ, S. 119) Das Sein zu Anderen ist nicht nur ein eigenständiger, irreduktibler Seinsbezug, er ist als Mitsein mit dem Sein des Daseins schon seiend. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß das auf dem Grunde des Mitseins lebendige Sichgegenseitig-kennen oft abhängig ist davon, wie weit das eigene Dasein jeweilig sich selbst verstanden hat; das besagt aber nur, wie weit es das wesenhafte Mitsein mit anderen sich durchsichtig gemacht und nicht verstellt hat, was nur möglich ist, wenn Dasein als In-der-Welt-sein je schon mit Anderen ist. ›Einfühlung‹ konstituiert nicht erst das Mitsein, sondern ist auf dessen Grunde erst möglich und durch die vorherrschenden defizienten Modi des Mitseins in ihrer Unumgänglichkeit motiviert. (SZ, S. 125)

Die Anderen werden dann in Bezug auf die Erschließung der (Um-) Welt verstanden, d. h., dass sie nicht als andere ›homo sapiens‹, sondern im Weltkontext als ›Besitzer‹, ›Träger‹, ›Bekannte‹, ›Unbekannte‹, sowie als ›mein Vater‹, ›ihre Tochter‹, u. ä. verstanden werden (d. h. das Verständnis des Anderen vollzieht sich in Bezug auf das eigene Dasein, auf die besorgenden Seienden und/oder auf das Dasein Anderer). Kurz: Die Anderen werden im praktischen Horizont des Besorgens und der Fürsorge aufgefasst 303. Hier ist es wichtig, ein paar Missdeutungen dieses Ansatzes zu vermeiden. Man könnte sagen, dass in der Analyse von SZ das menschliche Verhältnis und die Anderen selbst auf ein instrumentelles Verhältnis des eigenen Daseins reduziert werden und, dass die Analyse der Umwelt als die einzige phänomenologische Vorgehensweise, um ›zu den Anderen zu kommen‹, dargestellt wird 304. Kurz Vgl. SZ, S. 117 f.; GA 63, 98 f. Löwith kritisiert, dass es in der Analyse Heideggers einen Vorrang der Umwelt vor der Mitwelt gebe. Er selbst plädiert für einen Vorrang der Mitwelt. Siehe: Löwith, 1981, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Kap. II. Doch, wie Theunissen richtig zeigt, ist dies nicht mehr als eine andere Akzentuierung, da dieselben Argumente, die Löwith benutzt, um den Vorrang der Mitwelt vor der Umwelt zu zeigen, auch benutzt werden können, um einen Vorrang der Umwelt vor der Mitwelt aufzuzeigen (vgl. Theunissen, 1965, S. 416 f.). Nun gründet die Betrachtung der Möglichkeit eines faktischen Vorrangs der einen vor der anderen in einem ontologischen Missverständnis, weil beide, Umwelt und Mitwelt, analytisch zu unterschiedlichen Aspekten desselben Phänomens, nämlich der Welt, sind. Löwith interpretiert ›Umwelt‹ auf eingeschränkte Weise als ›Werkwelt‹, doch bei Heidegger kann Umwelt so-

303 304

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gesagt könnte man argumentieren, dass diese Analyse die Erschließung der Andersheit (altérité) auf das Verständnis der Erschließung der praktisch-begegneten Gegenstände beschränkt 305. Eine solche Kritik verfehlt den Kern des Ansatzes Heideggers in zwei Punkten: wohl als Werkwelt als auch einfach als die Situation (situative Welt) verstanden werden. Heidegger schreibt: »Diese gleich ursprüngliche mitweltliche und selbstweltliche Artikulation muß als weltliche aus dem primären Begegnischarakter von Welt – der Bedeutsamkeit – verständlich werden, so zwar, daß auf ihrem Grunde der ›Mit‹charakter gegen das ›Um‹ sich abhebt. Die ›anderen‹ sind schon da im Worauf eines bestimmten Verweisens des Umweltlichen.« (GA 64, S. 25). Doch hier bedeutet Umwelt die praktische situative Welt, und nicht die Werkwelt (wenn man unter diesem Begriff die Welt des Zeugs und nicht die Welt des Worumwillens, welcher das Zeug in seiner Zuhandenheit und die Anderen in ihrem eigenen Worumwillen erschließt, versteht). Laut Löwith ist auch das Miteinandersein und nicht das einzelne Dasein das, was die Welt als bedeutsam erschließt (vgl. Löwith, 1981, S. 46). Doch dies ist genau das, was Heidegger meint, wenn er argumentiert, dass die Erschließung der Welt primär vom Man ausgeht. Das einzelne Subjekt öffnet die Welt nicht. Das Dasein erbt geschichtlich seine Möglichkeiten und existiert in den öffentlichen Möglichkeiten; Möglichkeiten, die in einem gemeinsamen Horizont entwickelt wurden. In diesem Sinne ist das welterschießende Dasein mitweltlich und mitseiend. 305 Eine prägnantere Kritik wurde von Theunissen geübt. Laut Theunissen ist der Begegnungsbegriff in SZ durch die Begegnisart des Besorgens geleitet. Dies bedeutet, dass die Begegnisart des Anderen nicht von derjenigen des Zeugs unterschieden wird: »›Begegnung‹ meint in ›Sein und Zeit‹ kaum je: wir begegnen uns, sondern fast durchweg: das innerweltlich Seiende begegnet einem Dasein, das begegnen läßt.« (Theunissen, 1965, S. 170). In diesem Sinne kann man nicht über eine symmetrische Beziehung zwischen dem Dasein und dem Anderen reden. Man kann diesen Kritikpunkt allerdings entkräften: Laut Heidegger richtet sich das Dasein nicht in der gleichen Form auf den Anderen, in der es sich auf die Sachen richtet. Die Art der Sicht ist in beiden Formen des Gerichtetseins unterschiedlich (vgl. SZ, S. 121–123; GA 20, S. 330). Das Dasein kann den Anderen allerdings vergegenständlichen, wenn es die Andersheit des Anderen auf das Besorgen reduziert. Dies wird von Heidegger mit dem Begriff ›einspringend-beherrschende Fürsorge‹ bezeichnet. In diesem Sinne gibt es eine asymmetrische Beziehung zwischen Ich und Du. Dies beschreibt eine Beziehung von mir zum Anderen, aber nicht vom Anderen zu mir, insofern der Andere im Kontext meines eigenen Worumwillens, ›frei gelassen‹, d. i. erschlossen wird (vgl. Theunissen, 1965, S. 168). In diesem Sinne unterscheidet sich das Verhältnis zu Menschen nicht vom Verhältnis zu ›Dingen‹ (ebd.). Man muss sich allerdings bedenken, dass Heidegger die Möglichkeit einer vorspringend-befreienden Fürsorge beschreibt. In dieser Art der Fürsorge versteht das Dasein den Anderen in seinem Sein (Sorge), und dies bedeutet, in seiner Existenzialität, in seiner Faktizität und in seiner Verfallenheit. Der Andere wird als Transzendentes verstanden, d. h., dass in der Begegnung mit dem Anderen sein Worumwillen mitverstanden wird. Nun sollte man Theunissen fragen: Wie kann das Dasein den Anderen als Worumwillen verstehen und nicht gleichzeitig verstehen, dass der Andere ihm auch begegnet

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Erstens hat Heidegger selbst z. B. in der Vorlesung vom Wintersemester 1921/1922 eine andere Vorgehensweise befolgt, um phänomenologisch zur Erschließung der Mitwelt zu gelangen. Dort wurden die Umwelt und die Mitwelt durch die Analyse der Selbsterfahrung untersucht 306. Die Entscheidung zu einer Beschreibung der Begegnung der Anderen durch die Analyse der Umwelt, die in SZ vorgenommen wird, sagt nichts über den ›Wert‹ weder des jeweiligen Daseins, noch der Anderen aus, es bestimmt nur eine besondere, untersuchende Vorgehensweise. Die Beschreibung der Begegnung des Anderen durch die Analyse der Umwelt zeigt vielmehr, dass der Andere als Anderer nicht primär in der theoretischen Einstellung geöffnet ist, sondern dass dieser schon im praktischen, mit dem Seienden besorgten Umgehen, geöffnet ist und, dass der Andere immer in Zusammenhang mit der Welt verstanden werden muss 307. Jedoch kann dieser Kritik auf methodische Art und Weise entgegnet werden: Die Vorsicht entscheidet nicht über den Gehalt der Vorhabe. Sie entscheidet zwar den Standpunkt, von dem aus dem Phänomen untersucht wird, aber gleichzeitig ist für die Interpretation klar, dass dieser Standpunkt nicht der einzige geeignete ist, um dieses Phänomen zu untersuchen. Den ontologischen ›Wert‹ bzw. Status der Anderen als Andere wird in SZ sehr wohl durch den Begriff ›Mitdasein‹ formal angezeigt. Diese Anzeige weist, wie Rodríguez richtig ausdrückt, auf die ontologische »Ranggleichstellung« hin, welche die Anderen mit

und versteht? Hier ist die Beziehung nicht mehr unidirektional, sondern bidirektional bzw. gegenseitig. Dies zeigt einen möglichen ethischen Aspekt in SZ, wie auch Aurenque erkennt (vgl. Aurenque, 2011, S. 296 ff.). Siehe mehr dazu in § 36 der vorliegenden Arbeit. Nun ist das Problem an dieser Stelle noch nicht völlig gelöst, insbesondere, wenn man Löwiths Kritik hierzu betrachtet: Da die eigentliche Form der Fürsorge, d. i. die vorspringend-befreiende Fürsorge, in dem eigentlichen Modus des Existierens des verstehenden Daseins (Eigentlichkeit) gründe, und da diese Form der Fürsorge als eine Freigabe des Anderen dargestellt werde, folge daraus, dass diese Freigabe nicht die Freigabe des Anderen in seinem eigenen Sein sei, sondern dass diese Freigabe mit dem Bild übereinstimme, welches ich mir vom ›Sein des Anderen‹ vorgestellt hätte (vgl. Löwith, 1981, S. 96 f.). Diese Art Fürsorge ermögliche dementsprechend nicht die Selbstständigkeit des Anderen, sondern lege dem Anderen die Selbstständigkeit des befreiten Selbst auf. Es sei folglich keine Befreiung, sondern eine Auferlegung (eine Auferlegung der eigenen Eigentlichkeit). 306 Siehe z. B. GA 61, S. 96. 307 Nun wird diese These von Levinas stark kritisiert. Siehe Fußnote Nr. 318 der vorliegenden Arbeit.

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dem eigenen Dasein teilen 308. Mitdasein ist der Begriff, um die Anderen als Existierende bzw. als In-der-Welt-sein zu bestimmen 309. Mit diesem Begriff stellt Heidegger fest, dass das Dasein keine einzelne Subjektivität ist, welche die Welt konstituieren kann. Die Welt, d. i. der Sinnhorizont wird sozial und geschichtlich konstituiert. Das Dasein entfaltet den mit-konstituierten Horizont. In diesem Sinne ist das Mitdasein ein Existenzial des Daseins und gehört zu seiner Struktur 310. Die Anderen sind in diesem Sinne ein Teil des Seins des Daseins: Die Bedeutsamkeit der Welt wäre ohne sie, betont Rodríguez, unverständlich 311. Wenn das Dasein einem Anderen begegnet, so Heidegger in der Vorlesung vom Sommersemester 1924, versteht es den Anderen als ein anderes Seiende, dessen Sein die Transzendenz ist. Das Miteinandersein ist ein Mit-dem-Anderen-die-Welt-Konstituieren und so ein Mit-dem-Anderen-dieselbe-Welt-Haben. Heidegger schreibt: 1. Im Miteinandersein sind solche Seienden miteinander, die jedes für sich In-der-Welt-sein sind. Das Einanderbegegnen ist Füreinanderdasein, so, daß jedes Seiende, das für das andere ist, in der Welt ist. Das Begegnende ist in der Welt des Begegneten, ist da für ein anderes Sein. 2. Im Miteinandersein haben wir miteinander dieselbe Welt. Miteinandersein ist zugleich: miteinander dieselbe Welt haben. (GA 18, S. 241–242)

Die Seinsweise des Daseins gegenüber den Anderen kann demzufolge nicht das Besorgen sein, wenn unter diesem Begriff die Weise verstanden wird, in der das Dasein mit den Gegenständen seiner Umwelt zu tun hat. Doch im Besorgen trifft das Dasein Andere, die auch mit der Welt und mit ihm umgehen 312. Nun benutzt Heidegger den Be-

Vgl. Rodríguez, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 131; siehe auch Wroblewski, 1998, S. 101–102. Heidegger schreibt: »Die so im zuhandenen, umweltlichen Zeugzusammenhang ›begegnenden‹ Anderen werden nicht etwa zu einem zunächst nur vorhandenen Ding hinzugedacht, sondern diese ›Dinge‹ begegnen aus der Welt her, in der sie für die Anderen zuhanden sind, welche Welt im vorhinein auch schon immer die meine ist.« (SZ, S. 118). 309 Vgl. SZ, § 26. 310 Vgl. ebd., S. 114. 311 Vgl. Rodríguez, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 124. Siehe auch Olafson, 1999, S. 18 ff. 312 »Die Umwelt läßt die nächstbekannten und vertrauten Anderen begegnen; im umweltlich Besorgen sind die anderen immer schon da als die, mit denen man besorgend zu tun hat.« (GA 64, S. 25). 308

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griff ›Fürsorge‹, um die Begegnisart mit den anderen Existierende zu beschreiben 313. Die Fürsorge ist folglich die Anzeige, welche auf jede Modi des Verhaltens und Umgehens mit den Anderen hinweist 314. Heidegger schreibt: »Der Andere ist so zunächst in der besorgenden Fürsorge erschlossen.« 315 Dies bedeutet, dass sich das Verständnis der Anderen im alltäglichen in der Welt sein bzw. im umsichtlichen besorgenden Umgang mit den Gegenständen vollzieht. Jedoch bedeutet dieser Bezug auf die Zeuge nicht, dass der Andere selbst als ein ›Zeug‹ erschlossen wird 316, umgekehrt zeigt er, erklärt Rodríguez, »die privilegierte unersetzliche Stellung [des Andere] als letzter Bezug […], als Seiendes, dessen Seinsart nicht die bloße Innerweltlichkeit ist, sondern das ›Worumwillen‹, d. i. das, was der Bewandtnisganzheit Sinn gibt.« 317 Zweitens argumentiert Heidegger, wie schon erwähnt, dass die Andersheit von Anfang an geöffnet ist, weil die Welt, der das jeweilige Dasein begegnet, eine Mitwelt bzw. ein gemeinsamer Horizont der Bedeutsamkeiten ist. Das Dasein kann die altérité weder durch die Erfahrung der Gegenstände noch durch die Selbsterfahrung ›öffnen‹, weil die altérité das Dasein qua In-Sein bedingt, d. i., sie ist immer schon geöffnet 318. Dieser Punkt wurde besonders in der Leibniz-Inter»Das Seiende, zu dem sich das Dasein als Mitsein verhält, hat aber nicht die Seinsart des zuhandenen Zeugs, es ist selbst Dasein. Dieses Seiende wird nicht besorgt, sondern steht in der Fürsorge.« (SZ, S. 121). 314 Siehe Theunissen, 1965, S. 168 f.; 413 ff. Dammerling sagt: »›Fürsorge‹ ist der Name für die charakteristische Gestalt, welche die Sorge im Kontext des Mitseins annimmt.« (Dammerling, in Rentsch, 2001, S. 97–98). 315 SZ, S. 124. 316 Vgl. GA 20, S. 330. Das Verständnis der Anderen kann nicht dasselbe sein wie das Verständnis eines Gegenstandes. Heidegger betont dies, wenn er argumentiert, dass obwohl der Andere gestorben ist, seine Leiche noch als ein Anderer verstanden wird und das Umgehen mit dieser Leiche keine besorgende, sondern eine fürsorgende Begegnung ist (vgl. SZ, S. 238). 317 Rodríguez, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 127. Eigene Übersetzung. In Heideggers Worten: »Diese Anderen stehen nicht im Verweisungszusammenhang der Umwelt, sondern sie begegnen in dem, womit sie es zu tun haben […]. Sie begegnen als sie selbst in ihrem In-der-Welt-sein […].« (GA 20, S. 330). 318 Levinas richtet drei fundamentale Kritiken an Heideggers Ansatz. Kurz gesagt, kritisiert Levinas zum einen, dass die Problematik der Andersheit in der Analyse Heideggers unter der Frage nach dem Sein überhaupt subsumiert wird. Dies bedeutet, dass bei Heidegger die Ethik unter der Ontologie subsummiert wird. Levinas schreibt z. B. »En posant le problème de l’ontologie où à juste titre Heidegger voit l’essentiel de son œuvre il a subordonné la vérité ontique celle qui se dirige sur l’autre à la question ontologique qui se pose au sein du Même, de ce soi-même qui, par son existence a une 313

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pretation des Sommersemesters 1928 und des Wintersemesters 1928–1929 betont 319. Heidegger interpretiert den Monade-Ansatz Leibniz’ auf radikale Weise. In der Monadologie argumentiert Gottfried Wilhelm Leibniz, dass die Monaden ›keine Fenster‹ haben. Dies heißt, dass sie keine Kommunikation miteinander brauchen, weil sie selbstständige Substanzen sind, d. i., jede Monade ist eine Einheit, die das Ganze beinhaltet (Entelechie) 320. Heidegger legt diese These völlig anders aus: Die Monade, das Dasein hat keine Fenster, weil sie keine braucht. Aber die Begründung ist verschieden [als in Leibniz]: Die Menschen brauchen keine, nicht, weil sie nicht hinaus zu gehen brauchen, sondern weil sie wesenhaft schon draußen sind. (GA 27, S. 144–145)

Das Dasein ist immer geöffnet zu Anderen, und zwar nicht, weil es sie in seiner Ichheit beinhaltet und ebenso wenig, weil es in der Andersheit enthalten ist, sondern weil beide als erschließende Seiende in der Welt sind. Das Insein bzw. die Erschließung der Welt ist, so Heidegger, Mitsein, d. h., die Welt wird mit-erschlossen. Das Dasein ist immer mit den Anderen da, nicht, weil es sich den Anderen öffnet, sondern weil es sein Da ist und dieses Da immer mit den Anderen geteilt wird 321. Die Welt ist der gemeinsame Horizont, in dem beide, Selbstheit und Andersheit, erschlossen werden. Deswegen miss-

relation avec l’être qui est son être.« (Levinas, 2001, S. 128; 1993, S. 211 f.; 2016d). Nach Levinas ist die Ebene der Ethik ursprünglicher als die der Ontologie (vgl. Levinas, 2016d, S. 220). Zum anderen behauptet Levinas, dass die heideggersche Analyse nicht die Konstitution der Andersheit in sich problematisiert und, dass in dieser Analyse die Andersheit (l’infini) auf die Selbstheit (totalité) reduziert wird, insofern das Dasein als der weltkonstituierenden Punkt dargelegt wird. Schließlich kritisiert Levinas, dass in Heideggers Mitsein-Modell die Erfahrung des Anderen, wie Aurenque richtig ausdrückt, »durch die Welt vermittelt sei« (Aurenque, 2011, S. 290). Die Asymetrie zwischen dem Selbst und dem Anderen, die laut Levinas die Andersheit (als Antlizt) charakterisiert und die ethische Beziehung bildet und erscheinen lässt, wird durch diese Mittelbarkeit der (gemeinsamen) Welt verstellt (vgl. ebd., S. 291). Zur Beziehung zwischen der heideggerschen Philosophie und der Philosophie Levinas’ siehe auch Marion, 2012, S. 129 ff.; Froman, in Dahlstrom (Hrsg.), 2011, S. 264 ff.; Stauffer, in Raffoul; Nelson (Hrsg.), 2013; Vanni, in Orth; Lembeck (Hrsg.), 1999; Stegmaier, in Thomä (Hrsg.), 2013, S. 431–437. Zur Kritik Levinas an Heidegger siehe auch Aurenque, 2011, S. 286 ff. Zur Subsumierung der Ethik unter der Ontologie sowohl in SZ als auch in den Brief über den Humanismus siehe Bogdan, 2014. 319 Vgl. GA 26, S. 86–122; in bes. S. 271; GA 27, S. 142–148. 320 Vgl. Leibniz, Monadologie, § 7, S. 45; § 18, S. 65; § 59; § 62, S. 131 u. a. 321 Vgl. GA 27, S. 137–138.

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deuten, sagt Heidegger, sowohl die solipsistische als auch die altruistischen Theorien das Phänomen des Daseins, weil sie beide das Dasein als verschlossen verstehen 322: Das Miteinander ist also nicht durch die Ich-Du-Beziehung und aus ihr zu erklären, sondern umgekehrt: Diese Ich-Du-Beziehung setzt für ihre innere Möglichkeit voraus, daß je schon das Dasein, sowohl das als Ich fungierende als auch das Du, als Miteinandersein bestimmt ist, ja noch mehr: Sogar die Selbsterfassung eines Ich und der Begriff von Ichheit erwächst erst auf dem Grunde des Miteinander, aber nicht als Ich-Du-Beziehung. (GA 27, S. 145– 146)

Sobald das Dasein in der Welt in der Art des In-Seins ist, so Heidegger, ist es Mit-Sein 323. Heidegger schreibt in SZ: Das ›Mit‹ ist ein Daseinsmäßiges, das ›Auch‹ meint die Gleichheit des Seins als umsichtig-besorgendes In-der-Welt-sein. Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mit-welt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein. (SZ, S. 118)

Mitwelt, Mitsein und Mitdasein sind ontologische Begriffe, welche die Seinsstrukturen des Daseins formal anzeigen. Die ontischen Tatbestände, welche in diesen Strukturen begründet sind und welche die phänomenologische Analyse (als Evidenz) leiten, werden von Heidegger mit den Begriffen ›Miteinandersein‹ 324 und ›Alleinsein‹ 325 konzeptualisiert. Vgl. GA 27, S. 146. In der Vorlesung vom Sommersemester 1927 erklärt Heidegger, dass die Gegeninterpretation das Phänomen ebenfalls verstellt: Das Dasein ist nicht zuerst mit anderen Menschen und erschließt danach in der Koexistenz die innerweltlichen Seienden. Mit-Sein, betont er, bedeutet »Mit-in-der-Welt-sein« (vgl. GA 24, S. 394). Die Erschließung der Welt entfaltet die Selbstheit, die Andersheit und die Innerweltlichkeit der Seienden. 323 Doch dies bedeutet nicht, dass eine Individualität und Singularität des Daseins ausgeschlossen ist (vgl. GA 64, S. 24). Zu den Änderungen des Sinns des Mitseins von SZ bis zur Rektoratsrede siehe: Grosser, in Thomä (Hrsg.), 2013, S. 306. 324 Der Begriff ›Miteinandersein‹ ist in den Analysen Heideggers etwas zweideutig. Er kann einerseits auf den Tatbestand hinweisen, dass das Dasein mit einem Anderen da ist. Er kann andererseits eine Wesensstruktur bezeichnen (vgl. GA 27, S. 140): In GA 64, S. 24 versteht Heidegger das ›Miteinandersein‹ nicht als Tatbestand, sondern als ontologische Bestimmung (letztlich als Mitsein) und deswegen schreibt er bezüglich des so interpretierten Miteinanderseins: »In solcher Bestimmtheit steht das Dasein auch dann, wenn kein anderer faktisch angesprochen und wahrgenommen wird.« Es ist klar, dass die Art und Weise dieses ›Da-Seins‹ mit den Anderen nicht die gleiche 322

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δ.

Das Selbst, der Andere und das ›Selbst als ein Anderer‹ : Einführung in die Uneigentlichkeit und das Problem des Intentionalseins

Sobald die Welt, und dies bedeutet auch die Anderen, beschrieben wurde, kann auf die Darstellung der Frage nach dem ›Wer‹ der Alltäglichkeit zurückgekommen werden. Es wurde weiter oben schon erwähnt, dass das Selbst als eine formale Anzeige aufgefasst werden muss und dass das Dasein kein isoliertes Subjekt ist, sondern dass es immer mit Anderen in der Welt existiert. Im Unterschied zu der philosophischen Tradition, welche das Selbst in der Unterscheidung und im Kontrast zu den Anderen aufzufassen versucht, stellt Heidegger fest, dass die phänomenologischen Analysen des In-der-Welt-seins suggerieren, dass das Selbst in Bezug auf das Mitsein untersucht werden muss. In diesem Sinne sagt Heidegger: ›Andere‹ »besagt nicht soviel wie: der ganze Rest der Übrigen außer mir, aus dem sich das Ich heraushebt, die Anderen – erkennt Heidegger – sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist nicht unterscheidet, unter denen man auch ist.« 326 Diese These ist auf den ersten Blick merkwürdig, da unser Verständnis der Andersheit, wie Thorsten Wroblewski rein formal beschreibt, eine ›Ähnlichkeit-Differenz‹ beinhaltet 327. Wir verstehen einen anderen Menschen als einen Anderen, wenn »[e]r einer wie ich [ist], aber nicht ich.« 328 So zeigt Wroblewski, dass die Andersheit relational ist, und in dieser Relation immer das Selbst miteinschließt. Nicht nur das – auch das Selbst versteht sich selbst stets in dieser

ist, wie die Weise, in der zwei Gläser nebeneinanderstehen (dazu siehe GA 27, S. 86 ff.). Diese Zweideutigkeit liegt daran, dass das Miteinandersein im Mitsein, d. h. im Mit-Charakter des Inseins gründet und dass das Mitsein nur als Bezeugung in der Erfahrung des Miteinanderseins zu verstehen ist. 325 Vgl. SZ, S. 120. In diesem Sinne kann das Alleinsein nur aufgrund des Mitseins verstanden werden. Wie Heidegger in der Vorlesung vom Wintersemester 1928/1929 sagt: »Alleinsein besagt immer: ohne andere sein. In diesem Ohne-andere ist, wer allein existiert, notwendig und wesensmäßig, freilich in einem bestimmten Sinne, auf die anderen bezogen.« (GA 27, S. 117). 326 SZ, S. 118. auch S. 119. Siehe eine Ausarbeitung dieser Problematik in Wroblewski, 2008, S. 105 f. Zur Problematik der Andersheit bei Heidegger siehe auch: Theunissen, 1965; France-Lanord, 2004; 2005; 2011. 327 Vgl. Wroblewski, 2008, S. 14–15. 328 Ebd., S. 15.

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Relation 329. Er betont mit Bezug auf Paul Ricœur, dass »die Selbstheit im Sinne des ipse [d. i. Selbstheit der Person] bereits ihre eigene Andersheit [impliziert], sie ist ohne diese nicht zu denken. Das Selbst ist als ein Anderer (vgl. Ricœur, 1996, S. 12; 359 ff).« 330 Doch Heideggers und Wroblewskis Ansätze sind nicht widersprüchlich, wenn man bedenkt, dass das Selbst und der Andere sowohl verschieden als auch ähnlich sind. Sie sind verschieden, weil beide jeweils in der Art und Weise der Aneignung ihrer Möglichkeiten (d. i. Jemeinigkeit) existieren. Sie sind ähnlich, weil in der Alltäglichkeit der Gehalt, welchen die jeweilige Jemeinigkeit bekommt, vom Man gegeben wird – und so verstehen beide ihr eigenes Selbst als Man-Selbst. Dies wird später erklärt, hier muss aber schon betont werden, dass ›die Anderen‹ in dieser Interpretation eine formale Anzeige darstellt, und d. h., dass damit nicht auf die konkreten faktischen Anderen, sondern auf die Weise, in der diese konkreten Anderen sich ihr eigenes Selbst aneignen, hingewiesen wird. Ontologisch gesehen ist das Dasein rein formal ein Selbst (und so auch der Andere), doch in der faktischen Selbstgebung (im Verstehen) unterscheidet es sich nicht von den Anderen, ganz im Gegenteil: Sein Möglichsein ist nicht angeeignet, sondern vollzieht sich in Bezug auf durchschnittliche Möglichkeiten. Insofern beide (Selbst und Anderer) als formale Anzeigen konzipiert werden, zeigt sich das Problem der ›Öffentlichkeit‹ deutlich. Öffentlichkeit muss im Verhältnis zur Alltäglichkeit verstanden werDemmerling interpretiert Heideggers These: »Auch das Alleinsein des Daseins ist Mitsein in der Welt« (SZ, S. 120) in dieser Weise. Er schreibet »Ohne Fremdbezug kein Selbstbezug«. Wir sind uns nicht unmittelbar gegeben, sondern unser Selbstverständnis wird in Bezug auf die Welt, die Anderen und den geschichtlichen Kontext vollzogen. Der Begriff des Man zeigt diesen Bezug an (vgl. Demmerling, in Rentsch (Hrsg.), 2001, S. 94). Siehe auch: Olafson, 1999, S. 23–26. Sartre argumentiert in dieser Richtung, dass die Relation mit den Anderen nicht eine Kenntnisbeziehung, sondern ein ontologisches Verhältnis ist: Wenn der Andere mich sieht, vergegenständlicht er mich und begründet so eine Dimension meines Seins, nämlich le pourautrui. Das Ich (l’être pour soi) konstituiert nicht die Andersheit, sondern ist von ihr als Ich konstituiert, insofern das pour-soi ein pour -autrui ist (Sartre, 1943, S. 275 ff. insbes. S. 288 ff.). Dazu Wroblewski, 1996, S. 140 ff. insbes. S. 162 ff.; Theunissen, 1965, S. 187 ff. Siehe auch Husserl, Ideen II, § 46. 330 Wroblewski, 2008, S. 16. Wroblewski liest Heideggers Bestimmung der Jemeinigkeit in Bezug auf Ricœurs Ansatz: »Aufgrund dieses ›Je‹ wird mein Besitz meiner Erfahrung gewissermaßen auf alle grammatischen Personen verteilt.« (Ricœur, 1996, S. 220). So kann er der Problematik des Unterschieds des Anderen nach der Bestimmung des Mitseins (und des Mitdaseins) weiter folgen (vgl. Wroblewski, 1996, S. 98 ff.). 329

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den. De Begriff Alltäglichkeit weist formal auf die Weise hin, in der sich das Dasein »alle Tage« verhält. Deshalb ist damit nicht die Summe aller Tage des Daseins, sondern das ›Wie‹ bzw. die Weise gemeint, in der das Dasein (jeden Tag) existiert 331. Diese alltägliche Weise des Seins des Daseins wird durch den Ausdruck ›zunächst und zumeist‹ angedeutet. Dazu schreibt Heidegger: ›Zunächst‹ bedeutet: die Weise, in der das Dasein im Miteinander der Öffentlichkeit ›offenbar‹ ist, mag es auch ›im Grunde‹ die Alltäglichkeit gerade existenziell ›überwunden‹ haben. ›Zumeist‹ bedeutet: die Weise, in der das Dasein nicht immer, aber ›in der Regel‹ sich für Jedermann zeigt. (SZ, S. 370).

Nun kann gefragt werden: Wie ist das Dasein alltäglich? Die Antwort in SZ: Das Dasein ist alltäglich in der Art und Weise des Man, dessen Sein die Öffentlichkeit ist. Heidegger vertritt die These, dass sich sowohl das Dasein als auch die Anderen selbst »aus der umweltlich besorgten Mitwelt« heraus verstehen 332. Der ›Selbst-Charakter‹ des Daseins und der Anderen wird existenziell durch das, was man (alltäglich) unternimmt, bestimmt. Es wurde in einem vorangegangenen Abschnitt bereits erwähnt, dass das Dasein sein eigenes Sein und das Sein des Seienden in Bezug auf sein besorgtes Umgehen in der (Um-) Welt versteht 333. Diese Art von Ausgelegtheit ist nicht nur auf das Verständnis des Selbst beschränkt. Die Anderen werden auch in Bezug auf das Besorgen verstanden: »Im umweltlich Besorgten begegnen die Anderen als das, was sie sind; sie sind das, was sie betreiben.« 334 Vielmehr, so präzisiert Heidegger, versteht sich das Dasein selbst in Bezug auf das undifferenzierte besorgte Umgehen der Anderen, in der Weise des Man, da die Umwelt immer eine Mitwelt ist und da das Insein immer ein Mitsein ist: »[M]an selbst begegnet

Vgl. SZ, S. 370. SZ, S. 125. 333 Korsgaard nennt das Resultat des Selbstverständnisses in Bezug auf das Besorgen ›practical identity‹ (vgl. Korsgaard, 1996, S. 101–102). Diese ›praktische Identität‹ konstituiert die Weise, in der ich mich sowohl auf mich selbst als auch auf Andere beziehe. Ich verstehe mich als einen Lehrer und nur deswegen kann ich mich an einen Schüler wenden und ihn nach der Hausaufgabe fragen. Die Motivation, mich an den Schüler zu wenden, um die Hausaufgabe zu bitten etc., ist auch von dieser Identität bestimmt. 334 SZ, S. 126. 331 332

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einem in dem, was man betreibt, erwartet, verhütet, wobei man sein besorgendes Verweilen hat.« 335 Das alltägliche Verständnis des Selbst-Seins hat dann eine doppelte Referenzialität: das besorgt erschlossene Seiende und das besorgt undifferenzierte Umgehen der Anderen 336. Auf dieses Verständnis gründet sich die Seinsart des Man: die von Heidegger genannte ›Öffentlichkeit‹. Die Öffentlichkeit ist die durchschnittliche Verständlichkeit, die der gegenwärtigen geschichtlichen Lage bzw. dem Heute entspricht 337. Laut Heidegger ist die Öffentlichkeit durch die Abständigkeit, die Durchschnittlichkeit und die Einebnung konstituiert. Eine kurze Darlegung dieser Komponenten ist nötig, um die Bemerkung zu verdeutlichen. Es wurde gesagt, dass die Strukturen Mitwelt und Mitsein darauf hinweisen, dass das Selbst nicht im Unterschied zu den Anderen, sondern mit ihnen untersucht werden muss. Im Miteinandersein unterscheidet sich das Dasein nicht von den Anderen, sondern es existiert in einer Homogenität des Möglichen. Diese Homogenität wird bei Heidegger nicht als eine bloße Idee dargestellt, die einen Aspekt der Gesellschaft charakterisiert, sondern als ein constitutivum des Seins des Daseins. Dieser Homogenitätscharakter der Öffentlichkeit wird durch den Begriff Durchschnittlichkeit konzeptualisiert. Heideggers Ansatz kann so erklärt werden: Das Dasein wird als Existierendes bzw. Seinkönnen/Möglichsein aufgefasst. Dies bedeutet, dass es nichts anderes ist, als seine Möglichkeiten. Nun werden die Seinsmöglichkeiten des alltäglichen Daseins vom Man eröffnet und gewählt. Das Dasein, sagt Heidegger, ist »[n]icht es selbst, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen«, was es bedeutet, dass die Anderen

GA 64, S. 25. Vgl. GA 20, S. 339–340. »Die alltägliche Selbstauslegung hat aber die Tendenz, sich von der besorgten ›Welt‹ her zu verstehen.« (SZ, S. 321). Später, mit der Analyse der Zeitlichkeit und der Geschichtlichkeit des Daseins, zeigt sich diese Referenzialität als eine Referenzialität zum geschichtlichen Horizont der Möglichkeiten, d. i. ein Horizont, der durch die Interaktion zwischen (kollektivem, geerbtem) Worumwillen und Welt hergestellt wird. 337 Heidegger schreibt in der Vorlesung vom Sommersemester 1923: »Das jeweilige Dasein ist da in seiner Jeweiligkeit. Diese wird mitbestimmt durch das jeweilige Heute des Daseins. Das Heute ist das heutige Heute. Eine Weise, in der sich das Heute präsentiert, in der man also schon so etwas wie das Dasein sieht, ist seine Öffentlichkeit.« (GA 63, S. 48). 335 336

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»über die alltäglichen Seinsmöglichkeiten des Daseins [verfügen].« 338 Wie gesagt, sind ›die Anderen‹ laut dieser ontologischen These nicht »der ganze Rest der Übrigen außer mir«, sondern etwas, »unter denen man auch ist.« 339 Heidegger ist der Meinung, dass das alltägliche Dasein nicht über seine eigenen Möglichkeiten entscheidet, sondern dass es existiert, wie man existieren soll. Dies bedeutet, dass das Seinkönnen des alltäglichen Daseins die Öffentlichkeit als Referenzialität des Selbstverständnisses hat. An einer späteren Stelle in SZ schreibt Heidegger sehr deutlich: »Es [d. i. das Selbst] versteht sich aus den Existenzmöglichkeiten, die in der jeweils heutigen ›durchschnittlichen‹ öffentlichen Ausgelegtheit des Daseins ›kursieren‹.« 340 Nun argumentiert Heidegger, dass das Dasein, aufgrund seiner Selbstauslegung in Bezug auf die Homogenität, sich selbst im Unterschied zu den Anderen zu verstehen sucht. Im Dasein, so Heidegger, »ruht ständig die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen« 341. Diese ›Sorge‹ wird Abständigkeit genannt. Diese ›Sorge‹ zeigt auch, dass das Individuationsprinzip der Alltäglichkeit den Anderen als Bezugspunkt hat: Das Dasein versteht sich alltäglich als ›Ich‹ im Gegensatz zum ›Nicht-Ich‹, d. i. zum Anderen. Die Referenzialität zum eigenen Selbst ist so verhüllt. Hier wird deutlich, dass es keine Spannung zwischen der Durchschnittlichkeit und der Abständigkeit gibt, weil beide Tendenzen den Anderen als Bezug aufweisen. Doch das Dasein kann, so behauptet Heidegger, sich seine Möglichkeiten aneignen, wenn das Seinkönnen das Dasein selbst als Bezug hat. Der Charakter dieser Referenzialität wird später in dieser Arbeit dargestellt werden 342. Hier ist zu betonen, dass zur Öffentlichkeit die Tendenz gehört, alle eigenen Möglichkeiten anzugleichen und sie als eine Möglichkeit des Man darzustellen. Diese Charakteristik der Öffentlichkeit wird als Einebnung bestimmt 343. Diese Tendenz ist aber nicht etwas ›Schlechtes‹ ; Es ist die Bedingung der Möglichkeit, einen gemeinsamen Horizont des Möglichen und des Verständlichen zu etablieren und so Institutionen, Sprachen, und alle gemeinsamen Dynamiken, die gemeinsame Stan-

338 339 340 341 342 343

SZ, S. 126; siehe auch GA 20, S. 337–338. SZ, S. 118. Ebd., S. 383. Eigene Betonung. Vgl. ebd., S. 126. Siehe den zweiten Teil dieser Arbeit. Vgl. SZ, S. 127.

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dards erfordern, zu entwickeln 344. Die Einebnung und die Durchschnittlichkeit sind für das menschliche Miteinandersein nötig, um einen gemeinsamen Horizont zu erschaffen und zu halten, in dem Man sich miteinander verstehen kann. Doch die Abständigkeit ermöglicht die Dynamik und Transformation dieses Horizonts. So beschreibt Heidegger die Bedingungen der Möglichkeit der menschlichen Dynamik und stellt sie als Tendenzen des menschlichen Daseins dar. Heidegger erkennt trotzdem ein ›negatives‹ Resultat dieser Tendenz, nämlich die Entlastung der Verantwortlichkeit. Dazu wird später mehr gesagt werden 345. Da die Charakteristika des Seins des Man bzw. der Öffentlichkeit nun dargestellt wurden, wird deutlicher, dass ›das Man‹ die Anzeige ist, welche die Tendenz des Daseins beschreibt, sich in Bezug auf die Möglichkeiten der Anderen zu verstehen. Das Man ist deshalb weder ein ontischer Begriff (er bezeichnet nicht ein Seiendes 346), noch eine Bestimmung, die über den Wert des ›alltäglichen‹ Daseins urteilt 347. Luckner schreibt: »Die institutionelle Seinsweise besteht in einer Nivellierung bzw. Einebnung aller spezifischen Seinsmöglichkeiten auf die Durchschnittlichkeit von abstrakt-allgemeinen, gar nicht zu personifizierenden Standards.« (Luckner, 1997, S. 60). Siehe auch Olafson, 1999, S. 18 ff. 345 Siehe §§ 22; 33–35 der vorliegenden Arbeit. 346 Vgl. SZ, S. 128–129; GA 20, S. 341. Luckner spricht es so aus: »Das ›Man‹ ist dabei nicht ein dämonisches Etwas, sondern einfach der Oberbegriff für alle Verhaltensweisen und Eistellungen, die das Dasein leiten und dessen Realität ausmachen, […].« (Luckner, 1997, S. 59). 347 Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass dieses Thema kontrovers ist. Einerseits haben Forscher wie Löwith (1930, S. 60) und Vietta (1950, S. 46) festgehalten, dass Heideggers Sprache rein deskriptiv sei, und dass deswegen eine normative und evaluative Interpretation dieser Sprache falsch sei. Heidegger selbst vertritt diese Position (vgl. SZ, S. 167). Andererseits argumentiert eine zweite Position, dass Heideggers Sprache sehr wohl eine evaluative Dimension beinhalte. Begriffe wie Uneigentlichkeit, Entfremdung, Durchschnittlichkeit, Verfallen, Gerede, Man usw., so fasst Kellner zusammen, hätten eine abwertende Bedeutung sowohl in alltäglicher Sprache als auch in den Werken von Kierkegaard, Nietzsche, Simmel, Scheler u. a., aus denen Heidegger diese Begriffe genommen habe (vgl. Kellner, 2007, S. 200). Kellner betont auch, dass Heideggers Beschreibung der Uneigentlichkeit (vgl. SZ, S. 126–130) und des Verfallens (vgl. ebd., S. 126–180) eine deutliche Verurteilung der uneigentlichen Alltäglichkeit beinhalte. Eine dritte Position wird z. B. von Carman vertreten und besagt, dass Heideggers Beschreibung zweideutig sei. Carman schreibt: »The problem is that terms like ›idle talk‹ and ›falling‹ do double duty both as descriptions of the indifferent ontological structures underlying the invidious distinctions Heidegger does draw between authentic and inauthentic modes of existence, and as names for the specifically negative instances or manifestations of those structures.« (Carman, 2003, S. 270). Die Erkennung der zwei Ebenen der Beschreibung erlaubt eine wert344

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Es bestimmt phänomenologisch nur, eine ›reale‹ Tendenz des Seins dieses Seienden 348. Die Analysen Heideggers zeigen, dass sich durch diese Tendenz die formale Struktur des Selbst, d. i. die Jemeinigkeit alltäglich erfüllt, d. h. einen Gehalt bekommt. Wenn Heidegger sagt, dass »[d]as Selbst des alltäglichen Daseins das Man-selbst [ist]« 349, meint er, dass sich das Dasein selbst zunächst und zumeist in Bezug auf die Möglichkeiten versteht, welche in der Öffentlichkeit zu finden sind 350. Das ›Man-Selbst‹ ist dann eine Anzeige, die darauf hinweist, dass die Jemeinigkeit des alltäglichen Daseins durch die Tendenz des Man erfüllt wird. Die Frage nach dem Wer bekommt so eine ontologische Antwort – Heidegger sagt, dass das Selbst des Daseins das Man bzw. das Niemand ist 351. Die Selbstständigkeit des Selbst ist nicht die Selbstständigkeit von etwas Vorhandenem, sondern eine Tendenz zu dem ManSelbst, d. i. ein Hang des Daseins, sich aufgrund der öffentlichen freie Lesart des ontologischen Sinns dieser Begriffe, welche sehr produktiv sein kann. Dies trifft auch auf andere Begriffe, die positiv gelesen werden (wie z. B. Fürsorge, Rücksicht, Durchsichtigkeit), zu. Heideggers Begriffe beziehen sich manchmal auf denselben Wortstamm und müssen in Bezug zu diesem verstanden werden. Uneigentlichkeit bedeutet z. B. nicht Inauthentizität, sondern muss in Bezug auf den Stamm ›eigen‹ verstanden werden, und bedeutet so die Nicht-Aneignung der Möglichkeiten. Fürsorge bedeutet nicht das Sich-um-jemanden-kümmern, sondern mit den Anderen Umgehen: Sich-um-jemanden-kümmern ist dann ein Modus der Fürsorge. Der Stamm dieses Begriffs hingegen ist die Sorge, und damit möchte Heidegger das intentionale Sichrichten-auf den Anderen beschreiben. Abschließend muss gesagt werden, dass diese Arbeit Kellners Position vertritt, in der er betont, dass die Begriffe Heideggers nicht auf eine rein deskriptive oder rein evaluative Kategorie reduziert werden können. Die Begriffe Heideggers haben beide Dimensionen und diese können nicht ignoriert werden, ohne die Bedeutung dieser Begriffe zu verzerren (vgl. Kellner, 2007, S. 207). Die zwei Dimensionen der Begriffe müssen jedoch erkannt werden. Das Man meint z. B eine ontologische Charakteristik des Seins des Daseins; das ManSelbst meint den alltäglichen ontischen Ausdruck dieser Charakteristik. Das Man als ontologische Struktur weist keine evaluative Dimension auf. Das Man-Selbst allerdings kann, als faktisches Phänomen, nicht beschrieben werden, ohne seine evaluative Dimension zu betonen. 348 »Diese Weise zu sein [nämlich die Uneigentlichkeit des Man] bedeutet keine Herabminderung der Faktizität des Daseins, so wenig wie das Man als das Niemand ein Nichts ist. Im Gegenteil, in dieser Seinsart ist das Dasein ein ens realissimum, falls ›Realität‹ als daseinsmäßiges Sein verstanden wird.« (SZ, S. 128). 349 SZ, S. 129. 350 Vgl. ebd., S. 383. 351 Vgl. ebd., S. 126 u. 128.

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Möglichkeiten auszulegen. Doch ›das Man‹ ist weder ein vorhandenes Seiendes, das getrennt vom Dasein ist, noch eine abstrakte Gattung, die über jedem einzelnen Dasein steht. Es ist viel mehr die Tendenz des Daseins sich selbst in Bezug auf den mitexistierenden Anderen zu verstehen. Der Verständnishorizont, der durch die In-der-Welt-sein-Anzeige eröffnet wird, zeigt, dass sich das Selbst nicht in einer persönlichen Introspektion bzw. Reflexion, sondern im alltäglichen Sichauf-die-Welt-richten konstituiert bzw. versteht 352. Da die Welt immer Umwelt und Mitwelt ist, gibt das Dasein sich sein eigenes Selbst zunächst und zumeist in Bezug auf das alltägliche Umgehen mit den besorgenden Seienden und den Anderen. Die alltägliche Selbstauslegung verhüllt aber das ontologische Verständnis des Selbst als Inder-Welt: Sie versteht das Selbst in Bezug auf die ›Welt‹ der Dinge, und versteht so das Selbst durch dinghafte Kategorien. In dieser Selbstauslegung wird das Selbst nicht als in-der-Welt verstanden, sondern genau als isoliertes Subjekt 353. Nun kann sich die formale Struktur des Selbst im faktischen Vollzug (in der ständigen ›Selbstgebung‹ des Umgehens) auf verLaut Heidegger ist die Interpretation der Reflexion als re-flectere, re-flexum (Latein für zurückwerfen, -strahlen, sich widerspiegeln) die richtige Art und Weise, über eine Konstitution des Selbst durch eine Reflexion zu sprechen. Heidegger schreibt in der Vorlesung vom Sommersemester 1927: »Zunächst müssen wir das eine klar sehen: Das Dasein ist existierend ihm selbst da, auch wenn sich das Ich nicht ausdrücklich auf sich selbst in der Weise einer eigenen Um- und Rückwendung zu sich selbst richtet, die man in der Phänomenologie als innere Wahrnehmung gegenüber der äußeren bezeichnet. Das Selbst ist dem Dasein ihm selbst da, ohne Reflexion und ohne innere Wahrnehmung, vor aller Reflexion. Die Reflexion im Sinne der Rückwendung ist nur ein Modus der Selbsterfassung, aber nicht die Weise der primären Selbst-Erschließung. Die Art und Weise, in der das Selbst im faktischen Dasein sich selbst enthüllt ist, kann man dennoch zutreffend Reflexion nennen, nur darf man hierunter nicht das verstehen, was man gemeinhin mit diesem Ausdruck versteht: eine auf das Ich zurückgebogene Selbstbegaffung, sondern ein Zusammenhang, wie ihn die optische Bedeutung des Ausdrucks ›Reflexion‹ kundgibt. Reflektieren heißt hier: sich an etwas brechen, von da zurückstrahlen, d. h. von etwas her im Widerschein sich zeigen.« (GA 24, S. 226). 353 Vgl. SZ, S. 321–322. Heideggers Kritik an dem Subjekt-Begriff ist, wie Carman betont, zweiteilig: Einerseits ist das Subjekt nicht ohne die Beziehung zur Welt erkennbar und in diesem Sinne ist es nicht selbst ein Ding (res) (sondern eine Beziehung); andererseits setzt der Begriff ›Subjekt‹ die Reflexion (bzw. theoretische Beobachtung) als die Art und Weise voraus, in der sich das Dasein selbst versteht (vgl. Carman, in Dreyfus; Wrathall (Hrsg.), 2005, S. 290). Das Dasein versteht sich selbst zunächst durch die Erfahrung der Welt (bzw. in seiner Beziehung zur Welt). 352

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§ 10 Die Problematik der Konstitution des Selbst

schiedene Weisen konkretisieren 354. Wie bereits erwähnt wurde, nimmt die alltägliche Konkretion des Selbst die Form des ›ManSelbst‹ an, in der das Existierende sich selbst in Bezug auf das öffentliche Mitsein gegeben ist. Diese Selbstgebung hat nicht die Form eines Sich-von-den-Anderen als Individuum unterscheiden, sondern umgekehrt, sie weist die Form einer Mit-den-Anderen-sich-Angleichen auf 355. Heidegger drückt diese Idee so aus: »Zunächst ›bin‹ nicht ›ich‹ im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man. Aus diesem her und als dieses werde ich mir ›selbst‹ zunächst ›gegeben‹.« 356 Das, was Heidegger die Uneigentlichkeit der Existenz nennt, ist nichts anderes als die Erfüllung der Jemeinigkeit und des Zuseins durch die alltäglichen nicht angeeigneten Möglichkeiten. Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind Seinsmodi der Existenz 357, d. i. die Weise, in der sich das Dasein auf sein Möglichsein bezieht. Dann ist das Problem der Uneigentlichkeit nicht ein ontisches Problem der Moral oder des Wertes bzw. der Authentizität des Menschen. Es ist vielmehr ein ontologisches Problem des Verstehens, d. i. des Intentionalseins. Nun ist es wichtig an dieser Stelle zu betonen, dass das Verständnis des Selbst und das Verständnis der Welt bzw. der Um- und MitWelt im Dasein nicht getrennt sind. In der Vorlesung vom Sommersemester 1927 argumentiert Heidegger, dass das Ich kein ›Pol‹ des Intentionalaktes ist. Das Ich öffnet die Welt nicht in einer unilateralen Art und Weise, vielmehr werden beide, Welt und Ich, in der Existenz mit-erschlossen: Das Selbst, das das Dasein ist, ist in allen intentionalen Verhaltungen irgendwie mit da. Zur Intentionalität gehört nicht nur ein Sichrichten-auf und nicht nur Seinsverständnis des Seienden, worauf es sich richtet, sondern auch das Mitenthülltsein des Selbst, das sich verhält. Das intentionale Sichrichten-auf ist nicht einfach ein aus einem Ich-Zentrum entfliehender Aktstrahl, der erst nachträglich auf das Ich bezogen werden müßte in der Weise, daß dieses Ich in einem zweiten Akt auf den ersten (das erste Sichrichten-auf) sich zurückrichtete, vielmehr gehört zur Intentionalität die Miterschlossenheit des Selbst. (GA 24, S. 225) Vgl. ebd., S. 129. Vgl. Rodríguez, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 57. 356 SZ, S. 129. 357 Vgl. ebd., S. 42–43. Zu Heideggers Begriffe der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit siehe Kellner, 1973; Carman, in Dreyfus; Wrathall (Hrsg.), 2005. 354 355

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Aufgrund dieser Verbindung kann Heidegger feststellen, dass die Öffentlichkeit »zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung [regelt]« 358. Dies bedeutet, dass die Art und Weise, in der das Dasein sich selbst versteht, die Weise, in der es die Welt versteht bzw. erschließt, modifiziert: Das Selbstverständnis modifiziert das In- und Mitsein und das Weltverständnis. Heidegger schreibt in der Vorlesung vom Sommersemester 1920: »Das Selbst im aktuellen Vollzug der Lebenserfahrung, das Selbst im Erfahren seiner selbst ist die Urwirklichkeit«. 359 Die Wirklichkeit des Daseins d. i. die (Um-, Selbst- und Mit-) Welt »ist in einer Situation des Selbst [gelebt].« 360 Die Weise, in der wir den Anderen verstehen, hängt davon ab, wie wir uns unser eigenes Sein aneignen 361. Heidegger drückt diese Idee in SZ so aus: Das Sein zu Anderen ist nicht nur ein eigenständiger, irreduktibler Seinsbezug, er ist als Mitsein mit dem Sein des Daseins schon seiend. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß das auf dem Grunde des Mitseins lebendige Sichgegenseitig-kennen oft abhängig ist davon, wie weit das eigene Dasein jeweilig sich selbst verstanden hat; das besagt aber nur, wie weit es das wesenhafte Mitsein mit anderen sich durchsichtig gemacht und nicht verstellt hat, was nur möglich ist, wenn Dasein als In-der-Welt-sein je schon mit Anderen ist. (SZ, S. 125)

In diesem Sinne ist die Analyse des Selbst der Kern der Problematik des Ethischen. Das, was in dem Methodenteil als ἦθος formal angezeigt wurde, erscheint hier deutlicher als die verschiedenen Möglichkeiten des Selbstverständnisses 362. Genau so wie es ein uneigentliches Selbstverständnis gibt, gibt es auch die (Meta-)Möglichkeit einer Aneignung der Möglichkeiten und ein Verständnis des Selbst, welches nicht in Bezug auf die Öffentlichkeit, sondern in Bezug auf das eigene Seinkönnen geschieht. Heidegger nennt diese Metamöglichkeit die Eigentlichkeit und nennt die Konkretion des Selbst in Bezug auf das eigene Seinkönnen das SZ, S. 127. GA 59, S. 173. 360 GA 58, S. 62. 361 Zu dieser These siehe: Thurnher, in Gander (Hrsg.), 1993. 362 Aurenque behauptet, dass das Man eine bestimmte Weise des In-der-Welt-seins bzw. des Aufenthalts sei und sagt dazu: »Der in dieser Welt vollzogene Aufenthalt ist derjenige eines nivellierten Daseins; es ist der Aufenthalt ›der besorgenden Sorglosigkeit, in dem die Welt als Selbstverständlichkeit begegnet‹ (GA 63, S. 103).« (Aurenque, 2011, S. 41). 358 359

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§ 10 Die Problematik der Konstitution des Selbst

›eigentliche Selbst‹. Doch das eigentliche Selbst ist eine Modifikation, die auch auf die existenziale Struktur des Man gründet. Dies bedeutet einerseits, wie Andreas Luckner betont, »daß das Dasein eigentlich nur es selbst sein kann, weil und insofern es die Sphäre des Man gibt« 363, und andererseits, wie Simon Glendinning richtig behauptet, dass »das Selbstverhältnis (self-relation) schon immer ein Modus des Mitseins ist.« 364 So unterscheidet Heidegger zwischen dem ›Man‹, dem ›Man-Selbst‹ und dem ›eigentlichen Selbst‹. Während ›das Man‹ »ein Existenzial [ist]«, welches »als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins [gehört]« 365, sind das Man-Selbst und das eigentliche Selbst die ontischen Ausdrücke bzw. existenzielle Möglichkeiten dieser Struktur, und zwar jeweils in einem positiven und negativen Sinn 366. Die ethische Problematik, die sich aus dem Verständnishorizont der Analyse des eigentlichen und uneigentlichen Selbst ergibt, ist keine Problematik der Authentizität, wenn man darunter eine Trennung zwischen authentischen und nicht authentischen Menschen versteht und so bewertet, dass derjenige, der ›eigentlich‹ (bzw. ›authentisch‹) ist, ›gut‹ bzw. moralisch ist und korrelativ, dass derjenige, der ›uneigentlich‹ (bzw. ›unauthentisch‹) ist, dann ›schlecht‹ oder ›böse‹ bzw. unmoralisch sein muss 367. Es ist vielmehr ein ontologisches Problem des Intentionalseins, d. i. eine Frage des Wie das Dasein sich selbst und den Anderen sein lässt bzw. wie sich die Erschlossenheit vollzieht. Die Problematik des Selbst gründet in der Problematik der Transzendenz. Die Transzendenz ist, wie Heidegger in der Vorlesung von 1928 sagt, »die ursprüngliche Verfassung der Subjektivität eines Luckner, 1997, S. 59. In diesem Sinne darf die Eigentlichkeit, wie Luckner an einer anderen Stelle betont, nicht als ein defizienter Modus des Daseins, als »Nichtalltäglichkeit« und/oder »Nichtinstitutionalität«, interpretiert werden (vgl. Luckner, in Waldenfels u. Därmann (Hrsg.), 1998, S. 72). 364 Glendinning, 1998, S. 156, Fußnote Nr. 15 der Seite 59. Eigene Übersetzung. 365 SZ, S. 129. 366 Siehe: SZ, S. 129; 317. An einer späteren Stelle in SZ schreibt Heidegger: »Dieses [d. i. das Man-Selbst] ist eine existenzielle Modifikation des eigentlichen Selbst.« (Ebd., S. 317). 367 Diese Missdeutung wird von Luckner als »das existentialistische Mißverständnis« bezeichnet (vgl. Luckner, in Rentsch (Hrsg.), 2001, S. 155 f.). Wie Luckner erklärt, sind Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit nicht Alternativen, die Man wählen kann. Sie sind nicht Möglichkeiten, sondern Metamöglichkeiten: Sie weisen auf die Weise hin, in der eine Möglichkeit realisiert wird. Siehe auch Rodríguez, 2015b, S. 190–193. 363

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Subjektes« 368 und, wie Heidegger in Vom Wesen des Grundes deutlich feststellt, ist sie der Grund für die Selbstheit dieses Subjektes 369. Die vorliegende Untersuchung muss die Transzendenz bzw. das Intentionalsein des ethisch-erfahrenden Seienden weiter untersuchen, um seine Selbst- und Welterfahrungen zu verstehen.

§ 11 Das Intentionalsein des Daseins In dem Methodenteil wurde erwähnt, dass die Notion der Intentionalität zuerst von Husserl phänomenologisch ausgearbeitet wurde und dass für ihn die Intentionalität die Grundeigenschaft des Bewusstseins war 370: Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas, d. i. immer auf eine Gegenständlichkeit gerichtet. Nach Husserl sind alle Bewusstseinsakte intentional: Der Akt der Erinnerung vollzieht sich immer in Zusammenhang mit etwas Erinnertem, Wahrnehmung mit etwas Wahrgenommenem, Phantasieren mit etwas Phantasiertem usw. Die Intentionalität ist demgemäß die Struktur des intentionalen Verhaltens 371. Jedes intentionale Verhalten charakterisiert sich durch jemanden, der erfährt, durch eine Intention bzw. eine Art des Erfahrens und durch einen intentionalen Gegenstand bzw. etwas, das erfahren wird. In der Reflexion kann diese intentionale Beziehung als die intentionale Struktur Ego-Noesis-Noema aufgefasst werden 372. Darüber hinaus erklärt Husserl, dass die Intentionalität horizontal GA 26, S. 211. Diese These wird auch in GA 26, S. 233–234 vertreten. Siehe auch GA 9, S. 138– 139; 174–175; GA 26, S. 243–244 370 Vgl. Hua I, S. 13. 371 Husserl unterscheidet zwischen der Materie und der Qualität des Aktes. Die Aktmaterie ist das, was beides, das Gegenständliche überhaupt und die Weise, in der dieselbe gemeint ist, bestimmt (vgl. Hua XIX/1, S. 429). Mit Materie meint Husserl nicht den Dingstoff, sondern den Sinn (stimmt mit Freges Begriff ›Sinn‹ überein. Vgl. Merz et al., in Gander (Hrsg.), 2010, S. 154). Die Qualität ist das Wie des intentionalen Aktes: Erinnern, Phantasieren, Wahrnehmen etc. Beide konstituieren »das intentionale Wesen des Aktes« (Hua XIX/1, S. 431). 372 Vgl. Hua III/1, S. 188 ff. Unter Noesis versteht Husserl »die Komponenten eines Bewusstseinserlebnisses, die die verschiedenen Weisen des Intendierens, des Bewussthabens betreffen […]. Mit Noema werden dagegen die entsprechenden intentionalen Korrelate bezeichnet, d. h. das Intendierte als solches mit seinen jeweiligen Charakteren […].« (Steffen, in Gander (Hrsg.), 2010, S. 209). In den Cartesianischen Meditationen beschreibt Husserl das Schema ›ego-cogito-cogitatum‹ als die allgemeinste Typik, um die Intentionalität zu analysieren (vgl. Hua I, S. 87). 368 369

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§ 11 Das Intentionalsein des Daseins

ist und dass dieser Horizont zeitlich ist. Die Notion des Zeitbewusstseins 373 zeigt die Korrelation zwischen Erlebnis und Horizont und den horizontalen Charakter aller Urimpressionen 374. Alle Aktualitäten werden, so Husserl, mit Potentialitäten mitgegeben 375, d. h., jedes Erlebnis ist horizontal 376. Man kann mutatis mutandis sagen, dass die Seinsart des Egos das Gerichtetsein bestimmt, dass die Noesis die Form eines horizontkonstituierenden Aktes hat und dass das Noema die Art und Weise einer Gegebenheit in einem Horizont aufweist 377. So verstanden, ist die Analyse der Intentionalität (bzw. die Phänomenologie) die Analyse der Struktur des Erfahrens von etwas, d. h. eine Analyse des Transzendierens. Nun ist für Heidegger, wie für Husserl, die Untersuchung des Intentionalseins (bzw. der Transzendenz) die Grundaufgabe der Phänomenologie. Die Ontologie, d. i. die Frage nach dem Sein kann nach Heidegger nur beantwortet werden, wenn man richtig auffasst und versteht, was es überhaupt bedeutet, zu existieren bzw. transzendent zu sein 378. Demzufolge könnte man fragen, warum Heidegger die Idee der Intentionalität als (ursprüngliche) Transzendenz kritisiert. Die Analyse der Transzendenz des Daseins konstituiert das Projekt, welches in SZ unter dem Namen ›Daseinsanalytik‹ durchgeführt wird. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es an dieser Stelle wichtig anzumerken, dass Heidegger nach SZ eine Unterscheidung zwischen Transzendenz und Intentionalität ausführt. In der Vorlesung vom Sommersemester 1928 379 unterscheidet Heidegger zwischen ontischer Transzendenz (bzw. intentionalem Verhalten) und

Vgl. Hua X; I, S. 109; III/1, S. 182 ff; 273; XI. S. 127 f.; 408. Vgl. Merz et al., in Gander (Hrsg.), 2010, S. 156. 375 Vgl. Hua III/1, § 35; I, § 19. 376 Vgl. ebd., S. 83. 377 Diese kurze Beschreibung versucht weder eine vollständige Darstellung der husserlschen Intentionalität noch eine ihrer Problematik zu sein. Eine solche Darstellung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Es kann ebenso wenig auf Husserls Wende zu einer transzendentalen und zu einer genetischen Phänomenologie, die nach den Logischen Untersuchungen (s. Hua II, Hua III/1) stattfindet, eingegangen werden. Zu diesen Themen siehe Drummond, 2003; Ströcker, 1984; Zahavi, 2008; Seep (Hrsg.), 1988; Smith; Woodruff (Hrsgs.), 1995. 378 Vgl. SZ, S. 6–8. Zur Heideggers Radikalisierung der Intentionalität siehe Bernet, 1994. Zur Problematik der Transzendenzinterpretation Heideggers siehe Opilik, 1993, Kap. II; Crowell; Malpas, 2007. 379 Siehe auch GA 9, Vom Wesen des Grundes (1929). 373 374

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

ontologischer (ursprünglicher) Transzendenz (d. i. In-der-Welt-sein bzw. Seinsverständnis): [Die Intentionalität] ist zwar auf das Seiende selbst bezogen und in diesem Sinne eine ontisch transzendierende Verhaltung, aber sie konstituiert nicht ursprünglich diese Beziehung-auf, sondern diese ist fundiert im Sein-bei… Seiendem. (GA 26, S. 168)

Und weiter: Das Transzendenzproblem überhaupt ist nicht identisch mit dem Problem der Intentionalität. Diese ist als ontische Transzendenz selbst nur möglich auf dem Grunde der ursprünglichen Transzendenz: dem In-der-Welt-sein. Diese Urtranszendenz ermöglicht jegliches intentionale Verhältnis zu Seiendem. Dieses Verhältnis aber geschieht dergestalt, daß im und für das Verhalten mit diesem Seiendes im ›Da‹ ist. […] Wenn demnach die ursprüngliche Transzendenz (das In-der-Welt-sein) die intentionale Beziehung ermöglicht, diese aber ontisch ist, und das Verhältnis zu Ontischem im Seinsverständnis gründet, dann muß zwischen ursprünglicher Transzendenz und Seinsverständnis überhaupt eine innere Verwandtschaft bestehen; ja am Ende sind sie ein und dasselbe. (GA 26, S. 170) 380

Mit dieser Unterscheidung betont Heidegger, dass eine primäre Entfaltung der Welt (in der Art und Weise des Verstehens) notwendig ist, damit das Dasein sich auf etwas richten kann. Anders gesagt: Seinsverständnis ist primärer als jedes Verhalten gegenüber der Seienden. Nun wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff Intentionalsein benutzt, um diese zwei Aspekte der Transzendenz zusammenzubringen. Dies geschieht nicht willkürlich, da gezeigt wird, dass diese zwei Aspekte vor 1928 mit dem Begriff Sorge ausgedrückt wurden. Heidegger bezeichnete in der Vorlesung vom Wintersemester 1921/1922 sehr energisch die Sorge als »volle[n] Sinn der Intentionalität im Ursprünglichen.« 381 In der Vorlesung vom Sommersemester 1927 stellt er darüber hinaus fest, dass jeder intentionale Akt ein Verständnis dessen, worauf es sich richtet, mitträgt 382, und damit ist gemeint, dass Intentionalität und Seinsverständnis gleichursprünglich sind und immer zusammen geschehen. Mit der Sorge-Anzeige weist Heidegger darauf hin, dass das Dasein intentional in seinem Sein ist,

380 381 382

Siehe auch GA 26, S. 253. GA 61, S. 98. Vgl. GA 24, S. 296.

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§ 11 Das Intentionalsein des Daseins

und zwar in dem Modus eines Umgehens in der Welt (um seiner selbst willen). Mit der Bemerkung aus der Vorlesung von 1927 betont er, dass dieses Umgehen mit den Seienden immer seinsverstehend ist. Diese zwei Hinweise suggerieren, dass es möglich ist, die Intentionalität (als Sorge) als gleichursprünglich mit der (ontologischen) Transzendenz zu denken, dass sie eigentlich (als Struktur) dasselbe sind. Heideggers Entwicklung der Intentionalität besteht dementsprechend aus einer Erweiterung der Intentionalität (als praktischen Umgang: das primordiale Gerichtetsein ist als Worumwillen aufzufassen) und aus der Erkenntnis, dass zu diesem Gerichtetsein ein Verständnis des Seins des intentionalen Objekts gehört. In der Vorlesung vom Sommersemester 1928 trennt Heidegger allerdings diese zwei Aspekte der Intentionalität: ontische Transzendenz ist das Gerichtetsein auf etwas (Intentionalität); ontologische Transzendenz ist das Seinsverständnis 383. Wenn man die Intentionalität und die Transzendenz als eine Einheit denken kann, warum unterscheidet Heidegger 1928 zwischen diesen beiden? In der Vorlesung von 1928 benutzt Heidegger einen sehr beschränkenden Begriff der ›Intentionalität‹. Er versteht die Intentionalität nicht als die Struktur des Verhaltens, sondern als ›intentionales Verhalten‹ 384, d. i. als die ontische Möglichkeit, die auf der strukturellen Transzendenz gründet: Zum bisherigen Begriff der Intentionalität halten wir fest: Sie ist 1. nur eine ontische Transzendenz, sie betrifft 2. das existierende Verhalten zu Seiendem nur in einer bestimmten Einschränkung und kommt 3. nur in verengender theoretischer Fassung, als νόησις vor den Blick. (GA 26, S. 169)

Es ist klar, dass Heidegger mit so einem beschränkenden Begriff der Intentionalität argumentieren kann, dass die Intentionalität im Seinbei begründet ist. Diese These hatte er eigentlich schon in der Vorlesung von 1923/1924 festgestellt 385. Dies ist auch richtig. Heidegger argumentiert, dass das Dasein seinsverstehend ist; dies bedeutet genau, dass »das ontische Verhalten, Seinsverständnis voraussetzt« 386. Die hier vertretene Kritik an dieser Begrifflichkeit besteht darin, dass Zur Entwicklung der Intentionalität bei Heidegger siehe Sallis, 2012, insbes. S. 194–199. Siehe auch Macann, in Macann (Hrsg.), 2007c. 384 »Kennzeichnet man alles Verhalten zu Seiendem als intentionales, dann ist die Intentionalität nur möglich auf dem Grunde der Transzendenz […].« (GA 9, S. 135). 385 Vgl. GA 17, § 48, a. 386 GA 26, S. 194. 383

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Heidegger die Intentionalität nicht mehr als eine Struktur des Verhaltens, sondern als das »Verhalten zu Vorhandenem« sieht 387. Inder-Welt-sein und Sorge sind zwei verschiedene Bezeichnungen für die Art und Weise, in der das Dasein ist 388 bzw. für die Transzendenz des Daseins, und so kann auch die Intentionalität (als Struktur, d. i. als Sorge) verstanden werden. Es ist klar, dass die Transzendenz das Fundament alles Verhaltens bzw. jeder existenziellen Möglichkeit ist. So schreibt Heidegger in der Vorlesung von 1928: »Transzendenz liegt vor jeder möglichen Verhaltensweise überhaupt, vor der νόησις [kognitive Ergreifung], aber auch vor der ὄρεξις [appetitus].« 389 Oder in der Abhandlung Vom Wesen des Grundes: »Die Transzendenz […] meint solches, was dem menschlichen Dasein eignet, und zwar nicht als eine unter andere mögliche, zuweilen in Vollzug gesetzte Verhaltungsweise, sondern als vor aller Verhaltung geschehende Grundverfassung dieses Seienden.« 390 Die Sorge ist (als ursprüngliche Intentionalität) auch als Bedingung des faktischen Verhaltens konzipiert. In SZ schreibt Heidegger: »Die Sorge liegt als ursprüngliche Strukturganzheit existenzial-apriorisch ›vor‹ jeder, das heißt immer schon in jeder faktischen ›Verhaltung‹ und ›Lage‹ des Daseins.« 391 Nun geht es beim Transzendenzproblem, so Heidegger, nicht um die Klärung der ›Erkenntnis‹ 392, sondern »des Daseins und seiner Existenz überhaupt« 393, d. h. eine Klärung der Strukturen, welche jede Haltung und jedes Verhalten des Daseins ermöglichen. Nun wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff Intentionalsein benutzt, um formal auf die Einheit dieser Struktur hinzuweisen und um den ontischen und ontologischen Sinn der Transzendenz in einem einzelnen Begriff aufzufassen. Intentionalsein meint demzufolge die Struktur jedes Erfahrens: die Entfaltung eines Horizonts für das Seiende, welches in der Weise der Erschlossenheit (d. h. des Verstehens) existiert und so mit den Seienden zu tun hat. Die Unterscheidung zwischen ontischer und ontologischer Transzendenz scheint dann anaVgl. ebd., S. 168–169. Von Herrmann argumentiert z. B., dass Heidegger über den von Husserl genannten intentionalen Akt mit dem Ausdruck ›Sein-bei …‹ spricht (vgl. Herrmann, v., 1981, S. 39). 388 Vgl. SZ, S. 192. 389 GA 26, S. 236. Siehe auch: S. 211 ff. 390 GA 9, S. 137. 391 SZ, S. 193 392 Wie z. B. bei Husserl (siehe z. B. Hua I; Hua II etc.). 393 GA 26, S. 170. 387

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§ 11 Das Intentionalsein des Daseins

lytisch unnötig für die vorliegende Arbeit, da der Begriff Sorge (bzw. In-der-Welt-sein), wie gezeigt wurde, beide Aspekte aufweist. Sobald das erklärt wurde, kann man den Begriff der Transzendenz bei Heidegger auslegen. Die traditionelle Philosophie hat zwischen Transzendenz und Immanenz unterschieden. In dieser Unterscheidung bedeutet das Konzept ›Transzendenz‹, die innere Sphäre zu verlassen 394. Husserl geht einen Schritt weiter und stellt z. B. in Die Idee der Phänomenologie fest, dass sich eine (Art von) Transzendenz in der Immanenz des Bewusstseins findet. Die berschriebene Struktur des Ego-Noesis-Noema weist auf diese immanente Transzendenz hin 395. Heidegger versucht noch einen Schritt weiterzugehen und schlägt vor, dass die Immanenz des Daseins seine Transzendenz ist (vgl. SZ, § 13): Das Dasein ist ›horizontal‹ transzendent, und dies bedeutet, dass seine primäre Seinsart »immer schon ›draußen‹ bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt [ist].« 396 Das Dasein transzendiert als Welt, es ist seine Welt als Erschlossenheit, als Seinsverständnis 397. Nun gibt es drei formale Hauptanzeigen, die Heidegger benutzt, um auf diese Transzendenz hinzuweisen: das In-der-Welt-sein, die Sorge und die Zeitlichkeit. Diese drei Anzeigen weisen auf dasselbe Phänomen, doch immer in einer ›ursprünglichen‹ bzw. spezifischen Weise hin. Oben wurden gesagt, dass die Struktur des In-der-WeltDeswegen unterscheidet Heidegger seinen Begriff der Transzendenz von der ›erkenntnistheoretischen‹ und der ›theologischen‹ Transzendenz: »Gegenüber den beiden Transzendenzbegriffen, dem erkenntnistheoretischen und dem theologischen, ist grundsätzlich zu sagen: Die Transzendenz ist weder eine Beziehung zwischen einer Innensphäre und einer Außensphäre, so daß das, was in ihr überschritten würde, eine zum Subjekt gehörige Schranke wäre, die das Subjekt von der Außensphäre trennte. Die Transzendenz ist aber auch nicht primär die erkennende Beziehung eines Subjekts zu einem Objekt, die dem Subjekt als Zugabe zu seiner Subjektivität eignete. Erst recht ist die Transzendenz nicht einfach der Titel für das Überschwängliche und der endlichen Erkenntnis Unzugängliche.« (GA 26, S. 211). 395 Vgl. Hua II, S. 43–45; Hua III/1, §§ 32 ff.; § 50; §§ 87 ff. 396 SZ, S. 62. 397 In einem solchen Zusammenhang bedeutet Sein nicht ein ens supremum oder eine Eigenschaft der Seienden, die sich auf die existentia (Realität) derselben bezieht. Heidegger nennt dieses Verständnis des Seins das ontotheologische Missverständnis des Seins. Laut Heidegger meint ›Sein‹ vielmehr den Verständlichkeitshorizont, wo sich das Seiende als Seiendes zeigt. In der Vorlesung von 1928 schreibt Heidegger: »Früher als das einzelne Seiende aber ist das Sein; denn es ist das, was zuvor schon verstanden ist, bevor dergleichen wie Seiendes irgendwo und irgendwie auftauchen kann.« (GA 26, S. 16). 394

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

seins drei gleichursprüngliche Momente hat. Zwei dieser Momente wurden schon erklärt, nämlich die Welt und das Seiende, das in der Welt ist. Im Folgenden wird das Insein-Moment, d. i. die sogenannte Erschlossenheit des Daseins dargelegt. Sobald diese Struktur in ihrem Ganzen verstanden ist, kann die Untersuchung die Sorge und die Zeitlichkeit erklären und einen tieferen Sinn des Intentionalseins des Daseins gewinnen.

§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit Erschlossenheit ist der Begriff, den Heidegger anwendet, um das Insein bzw. die Art und Weise, in der das Dasein in der Welt ist, aufzufassen. Wie alle anderen Existenzialien darf die Erschlossenheit nicht als eine ›Eigenschaft‹ verstanden werden, auf die das Dasein verzichten kann 398, sondern als ein Konstitutivum des Wie dieses Seienden. Heidegger sagt: »Das Dasein ist seine Erschlossenheit.« 399 Nach Heidegger ist das Dasein, sobald es existiert, immer schon ›draußen‹ bei begegnenden Seienden; es ist immer sein ›Da‹ 400. Dieses ›Da‹ weist nicht auf einen räumlichen Punkt 401 hin, sondern auf die Unverschlossenheit des Daseins. Als Unverschlossenes ist das Dasein immer für sich selbst, für das innerweltliche Seiende und für den Anderen geöffnet: Die Erschlossenheit des Da erschließt gleichursprünglich das je ganze Inder-Welt-sein, das heißt die Welt, das In-Sein [, welches immer ein Mitsein ist,] und das Selbst, das als ›ich bin‹ dieses Seiende ist. (SZ, S. 297)

Die Unverschlossenheit und das Immer-draußen-Sein zeigen, dass das Dasein als ex-istent die Konstitution eines Horizonts ist. Die Frage ist dann: Wie ist das Dasein welterschließend? Heidegger beantwortet diese Frage durch die Beschreibung der konstitutiven Momente der Erschlossenheit, nämlich des Verstehens, der BefindlichVgl. SZ, S. 57. SZ, S. 133. Zu einer Interpretation der Erschlossenheit des Daseins als eine Ontologisation der husserlschen kategorialen Anschauung siehe Øverenget, 1998, Ch. VI. 400 Vgl. SZ, S. 132. 401 Laut Heidegger ist die Räumlichkeit des Daseins aus diesem Punkt heraus zu verstehen. Die Räumlichkeit des Daseins wird in den Paragraphen 22–24 SZ als ein besorgtes, ›entfernendes‹, ›ausrichtendes‹ In-der-Welt-sein beschrieben. 398 399

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

keit und der Artikulation dieser beiden bzw. der Rede. Im Folgenden werden diese dargestellt. α.

Verstehendes Intentionalsein: Verstehen und Auslegung als Existenzialien

Laut Heidegger ist der charakterisierte Umgang in der Welt nicht ›blind‹ ; er hat eine Art des ›Wissens‹. Das Dasein »›weiß‹ es, woran es mit ihm selbst […] ist.« 402 Das Wissen, worauf Heidegger hinweist, d. i. das Verstehen 403 ist aber keine (bewusste) Kenntnis, sondern der Charakter des Daseins, seine Möglichkeiten, jedes Mal (insofern das Dasein Möglichsein bzw. Seinkönnen ist) zu sein 404. Anders gesagt, es ist der Charakter des Daseins »sich auf eine Möglichkeit [zu] [entwerfen]« 405. Heidegger nennt diese Seinscharakteristik des Daseins deshalb Entwurf. Das Dasein ist seine Möglichkeiten, d. h., es lebt in der Welt als entwerfend. Entwurf meint die ›existenziale Seinsverfassung‹, welche zeigt, dass das Verstehen »das Sein des Daseins auf sein Worumwillen ebenso ursprünglich wie auf die Bedeutsamkeit als die Weltlichkeit seiner jeweiligen Welt [entwirft]« 406. Hier zeigt Heidegger, dass das primäre Sichrichten-auf (etwas) den Charakter des Entwurfs bzw. des SZ, S. 144. Zur Entwicklung des hermeneutischen Konzepts des Verstehens (von Dilthey bis Gadamer) siehe Fehér, in Figal und Gander (Hrsg.), 2005, S. 91 ff. Eine Darstellung des Verstehens bei Heidegger findet man in Gethmann, 1974b. 404 Dieses ›Wissen‹ kommt nicht aus einer immanenten Selbstwahrnehmung heraus, sondern vollzieht sich in jedem Entwerfen des Daseins (vgl. SZ, S. 144). Diese Unterscheidung geht, wie Rodríguez erklärt, der Unterscheidung zwischen Sein und Erkennen voraus und weist auf beide hin. Damit ist gesagt, »1. dass sich das Moment des Wissens oder Verstehens nicht von dem Moment des Machen-Könnens unterscheidet und 2. dass das, was verstanden oder gemacht wird, nicht ein Objekt, sondern das eigene Etwas-machen-Können ist.« (Rodríguez, 2006, S. 96. Eigene Übersetzung). 405 GA 24, S. 392. Nun muss beachtet werden, dass Möglichkeit hier weder ›leere logische Möglichkeit‹, noch »die Kontingenz eines Vorhandenen« bedeutet. Sie bedeutet vielmehr »das noch nicht Wirkliche und das nicht jemals Notwendige« (SZ, S. 143) (d. i. Zukunft). Dann soll die Möglichkeit des Daseins nicht als eine modale Kategorie verstanden werden (d. i. als etwas nicht Effektives, das nicht ohne Kontradiktion gedacht werden kann), weil dies nur mit etwas Vorhandenem (nämlich mit den logischen Objekten) kompatibel ist. Möglichkeit hat den zeitlichen Sinn der Zukunft. 406 SZ, S. 145. 402 403

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Worumwillens hat und dass dieses verstehend ist. Das Dasein richtet sich primär auf Seiende in der Art und Weise des Worumwillens und nicht als aufmerksames bewusstes Seiendes. Die Weltanalyse hatte gezeigt, dass das besorgte Dasein mit der (Um-)Welt um seiner Selbst willen umgeht. Dies bedeutet phänomenologisch: Das Intentionalsein, also das Sichrichten-auf-etwas, ist primär, wie Heidegger es in der Abhandlung Der Begriff der Zeit ausdrückt, ein »Aus-sein auf das, was es noch nicht ist, aber sein kann.« 407 Heidegger suggeriert hier eine erste phänomenologische These: Das Gerichtetsein muss primär als Worumwillen verstanden werden. Heidegger betont dann, dass die Möglichkeit (welche das Dasein ist) immer eine »geworfene Möglichkeit« ist, was bedeutet, dass das Seinkönnen mit dem faktischen (bestimmten) In-der-Welt-Sein des Daseins gleichursprünglich ist. Dies hat zur Konsequenz, behauptet er, dass »das Dasein sich zunächst und zumeist aus seiner Welt her verstehen [kann].« 408 An dieser Stelle betont Heidegger zwei wichtige Ideen: 1. Zum Verständnis gehört eine zweiteilige Referenzialität, die Heidegger mit den Begriffen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit beschreibt. Die Eigentlichkeit weist auf eine Art der Erschlossenheit (bzw. des Verstehens) hin, die das eigene Seinkönnen (das eigene Sein des Daseins als Worumwillen) als Bezug oder Referenz aufweist. Diese Art des Verstehens versteht das eigene Selbst und die Welt in Bezug auf das, was dem Dasein eigen ist bzw. was das Dasein wesentlich als faktisch-existenziales Seiendes charakterisiert. Die Uneigentlichkeit ist eine Art der Erschlossenheit, die das Selbst und die Welt in Bezug auf die Umwelt, d. i. in Bezug auf die innerweltlichen Seienden (und ihren Seinsarten: Vorhandensein und/oder Zuhandensein) und auf die Mitwelt, d. i. in Bezug auf die anderen Existierenden (und ihren zunächst mitdaseinmäßige Seinsart: die Öffentlichkeit), zunächst versteht. Heidegger schreibt: Das Verstehen kann sich primär in die Erschlossenheit der Welt legen, das heißt das Dasein kann sich zunächst und zumeist aus seiner Welt her verstehen. Oder aber das Verstehen wirft sich primär in das Worumwillen, das heißt das Dasein existiert als es selbst. Das Verstehen ist entweder eigentliches, aus dem eigenen Selbst als solchem entspringendes, oder uneigentGA 64, S. 46. »Das Dasein ist immer auf etwas aus, das es in die Sorge gestellt hat.« (Ebd., S. 44). 408 SZ, S. 146. 407

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

liches. Das ›Un-‹ besagt nicht, daß sich das Dasein von seinem Selbst abschnürt und ›nur‹ die Welt versteht. Welt gehört zu seinem Selbstsein als In-der-Welt-sein. (SZ, S. 146)

Das Dasein versteht sich, so legt Heidegger fest, zunächst uneigentlich in Bezug auf die (Um-/Mit-)Welt. Dies bedeutet aber nicht, dass sich das eigentliche Dasein ohne einen Bezug zur Welt versteht. Das Dasein ist In-der-Welt-sein. Es ist, so wurde bereits gesagt, weder ein weltloses Subjekt noch ein vorhandenes Ding, welches sich ›innerhalb‹ der Welt der Dinge befindet. Seine Seinsart stimmt weder mit der reinen Subjektivität noch mit dem Vorhandensein überein. Die Seinsart des Daseins ist die Existenz bzw. die Beziehung zwischen dem Worumwillen und der Welt. Da es aber immer in dieser Beziehung ist, tendiert das Dasein dazu, sich zunächst entweder als ein innerweltliches Seiendes oder, in einem Versuch sich von der Welt zu unterscheiden, als reines Subjekt auszulegen. 2. Nun zeigt Heidegger an dieser Stelle aber auch, dass das Verstehen nicht eine Summe oder Gliederung des Selbst- und des Weltverständnisses ist, sondern immer ein Verstehen des Worumwillens in der Welt: Das Dasein versteht weder nur die Welt, noch nur sein Selbst, es versteht vielmehr das Worumwillen (in dem die »gründende Bedeutsamkeit miterschlossen« 409 ist). Das Dasein versteht sich dann immer aus und in seinen Möglichkeiten als In-der-Welt-sein: »Im Verstehen von Welt ist das In-Sein immer mitverstanden, Verstehen der Existenz als solcher ist immer ein Verstehen von Welt.« 410 Dies zeigt, dass die Transzendenz des Daseins nicht eine von einem reinen Subjekt (Substanz) ist 411, sondern dass sie nichts anderes als In-der-Welt-sein ist. Sie ist immer horizontal 412. In der Vorlesung vom Wintersemester 1928/1929 geht Heidegger darüber hinaus und

Ebd., S. 143. Ebd., S. 146. 411 Heidegger ist der Meinung, dass diese Konzeption der Transzendenz die Immanenz nicht ablehnt, sondern uns eine neue Konzeption der letzteren vermittelt. Das Problem der Transzendenz, so Heidegger, hängt von der Konzeption der Immanenz (und andersherum) ab (vgl. GA 26, S. 205 f.; siehe auch S. 210–216). 412 In der Vorlesung vom Wintersemester 1929/1930 betont Heidegger, dass Daseins Entwurf immer horizontal ist, d. h., dass er immer Weltentwurf ist. (vgl. GA 29/30, S. 526–527). Entwurf sei Weltbildung: »Wir haben nicht und nie zuerst ›etwas‹ und dann ›noch etwas‹ und dann die Möglichkeit, etwas als etwas zu nehmen, sondern völlig umgekehrt: etwas gibt sich uns nur erst, wenn wir schon im Entwurf, im ›als‹ uns bewegen.« (Ebd., S. 531). 409 410

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stellt fest, dass »[d]ieses ›Umwillen-seiner‹ das Selbst als solches [konstituiert].« 413 Dies bedeutet, dass dieses Gerichtetsein-auf (etwas) aufgrund der Möglichkeiten des jeweiligen Daseins sein Selbst konstituiert, und zwar nicht als einen konkretisierten, vorhandenen Punkt, der durch die verschiedene Erlebnisse ›unveränderlich‹ bleibt, sondern als ein Selbst, welches sich durch die Veränderung und die Möglichkeit charakterisiert, d. h. ein Selbst, welches sich immer im Verlauf eines Sich-auf-Möglichkeiten-Entwerfens entwickelt. Die Bestimmung der Erschließung als Worumwillen führt zur Feststellung, dass Selbst- und Weltverständnis gleichursprünglich sind und, dass die Modifikation des einen auch die Modifikation des anderen bedeutet. Das verstehende geöffnete Dasein richtet sich immer auf etwas. Dieses verstehende Sichrichten-auf wird von Heidegger Sicht (des Verstehens) genannt. Die Sicht soll hier nicht als Gesichtssinn eingeschränkt werden und sinnlich als Wahrnehmung verstanden werden. Sicht ist, behauptet Heidegger, die ›Gelichtetheit‹ bzw. Klarheit der Erschlossenheit, in der das Seiende im Da des Daseins frei gelassen ist bzw. erschlossen ist 414. Das, worauf sich das Dasein richtet, ist schon ›irgendwie‹ verstanden. So muss nochmals betont werden, dass für Heidegger die Struktur der Intentionalität nicht nur aus intentiointentum, sondern auch aus einem Verständnis dessen, worauf sich das Dasein richtet, konstituiert ist 415. Doch, wie zuvor erwähnt wurde, ist dieses Verständnis ein Mitverständnis der Strukturen sowohl des Verstandenen als auch des Verstehenden. In der Erfahrung des Hammers, wurde gesagt, werden sowohl sein Zuhandensein und damit sein Verweisungscharakter als auch das Intentionalsein des Daseins unmittelbar mitverstanden 416. Dieses Mitverständnis ist ›hermeneutisch‹, weil es situativ ist 417: GA 27, S. 324. Vgl. SZ, S. 146–147. 415 Vgl. GA 24, S. 296. 416 Vgl. SZ, S. 68 f. Da das Entwerfen die ursprüngliche Form des Gerichtetseins ist, geschieht in dem Entwurf die ontologische Differenz: »Das Entwerfen als dieses Entbergen der Ermöglichung ist das eigentliche Geschehen jenes Unterschiedes von Sein und Seiendem.« (GA 29/30, S. 529). So ermöglicht der Entwurf auch das kategorische Verständnis (vgl. ebd., S. 530). Deswegen sagt Heidegger in der Vorlesung vom Sommersemester 1928, dass im Umwillen »der Ursprung von so etwas wie Grund [liegt]« (GA 26, S. 276). 417 Wie es später argumentiert wird, ist das Verstehen bzw. der Entwurf immer faktisch bzw. geworfen. Das Verständnis ist situativ. 413 414

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

In der Situation des Hämmerns sind andere Menschen, andere Zeuge, andere Projekte usw. mitverstanden. Der Hammer selbst, mit dem ich hämmere, ist nur in dieser Situation als das, was er ist, verständlich. Eine zweite phänomenologische These wird also dargestellt: Die Intentionalität ist verstehend, d. i., das Dasein versteht das, worauf es sich richtet, in Bezug auf sein Möglichsein. Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass dieses Verständnis aus Selbst- und Weltverständnis entsteht und dass es modal ist bzw. dass es zwei Referenzialitäten aufweist. Nun erklärt Heidegger, dass diese Sicht der Erschlossenheit theoretisch nach ›verschiedenen‹ Aspekten konzipiert werden kann, wenn man sie in Bezug auf ihr ›Worauf‹ begreift. Die Sicht muss gemäß der Struktur des In-der-Welt-seins interpretiert werden, und dies bedeutet, dass sie in Bezug auf die Selbst-, die Mit- und die Umwelt verstanden werden muss 418. Dies, weil in jedem Umgehen mit der Welt das Dasein sich selbst, die innerweltlichen Seienden und die Anderen notwendigerweise erfährt. Diese Formen des Erfahrens als Erfahrungsmöglichkeiten gehören zum (Intentional)Sein des Daseins: die Sorge. Heidegger bezeichnet das Umgehen mit dem Selbst des Daseins als Selbstsorge, das Umgehen mit den anderen Existieren in einer Mitwelt als Fürsorge und das Umgehen mit den besorgten Seienden in Bezug auf die Worumwillen-Konstitution des Daseins als Besorgen 419. Die Sicht ist dann von Heidegger theoretisch In SZ wird der Begriff ›Selbstwelt‹ verworfen. Dies erscheint als eine Konsequenz von Heideggers Kritik an dem ›Subjektivismus‹. Dennoch kann man sicher sein, wenn man die Vorlesungen Heideggers analysiert, dass dieser Begriff nicht die Konstitution der Welt aus der Subjektivität oder aus dem Selbst meint (und auch nicht, dass dieses Selbst durch eine Selbst-Reflexion konstituiert oder erkannt wurde). Der Begriff ›Selbstsorge‹, in Bezug auf Selbstwelt, weist auf das Umgehen des Daseins mit seinem Selbst hin. Die Selbstwelt meint zwar die Bedeutsamkeit der Selbsterfahrung, aber hat mit einer isolierten Welt nichts zu tun, im Gegenteil, sie muss immer als ein Aspekt der Welt (und damit der Um- und Mitwelt) verstanden werden. Dies wurde sehr explizit in der Abhandlung Der Begriff der Zeit erklärt: »Zunächst und zumeist von der Welt her begegnend sind die anderen als Mitwelt, man selbst als Selbstwelt da. Im nächsten Dasein ist man die Welt der anderen und in dieser die eigene. Diese gleich ursprüngliche mitweltliche und selbstweltliche Artikulation muß als weltliche aus dem primären Begegnischarakter von Welt – der Bedeutsamkeit – verständlich werden, so zwar, daß auf ihrem Grunde der ›Mit‹charakter gegen das ›Um‹ sich abhebt. Die ›anderen‹ sind schon da im Worauf eines bestimmten Verweisens des Umweltlichen.« (GA 64, S. 25). Siehe dazu § 14, α der vorliegenden Arbeit. 419 Heidegger schreibt: »Sorge meint daher auch nicht primär und ausschließlich ein isoliertes Verhalten des Ich zu ihm selbst. Der Ausdruck ›Selbst-sorge‹ nach der Ana418

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jeweils in Durchsichtigkeit, Rücksicht/Nachsicht und Umsicht getrennt 420. Unter Durchsichtigkeit versteht Heidegger die Sicht, »die sich primär und im ganzen auf die Existenz bezieht« 421. Damit meint Heidegger, dass jeder intentionale Akt dem Dasein sein eigenes Sein ›irgendwie‹ erklärt. Zum Beispiel in der Wahrnehmungserfahrung einer Landschaft versteht sich das Dasein nicht als neutral Erfahrendes, sondern als Entwerfendes, Betreffendes, Symbolisches, Ästhetisches etc. So versteht das Dasein seine eigene Seinsstruktur, und zwar immer in verschiedenen Graden der Transparenz. Der Begriff ›Durchsichtigkeit‹ meint dann sowohl das verstehende Sichrichten-auf das eigene Sein als auch die erreichte ›Transparenz‹ dieses Seins 422. Die Umsicht ist die Weise, in der das verstehende Dasein sich auf die Welt richtet. Wie gesagt, ist dieses verstehende Sichrichten-auf nicht theoretisch (es ist nicht contemplatio), sondern Umgang mit der Welt bzw. mit den besorgten Seienden 423. Wie bereits erwähnt wurde, wird das Zeug in der Umsicht als etwas Bedeutsames in seiner Bewandtnisganzheit erschlossen. logie von Besorgen und Fürsorge wäre eine Tautologie.« (SZ, S. 193). Dazu kommentiert Rodríguez: »Heidegger lehnt nachdrücklich den Ansatz ab, dass es etwas als eine ›Selbst-Sorge‹ in Analogie zu der Sorge um die Angelegenheiten der Welt und die Anderen gibt.« (Rodríguez, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 130. Eigene Übersetzung). Rodríguez’ Behauptung ist missverständlich, insofern Heideggers Ansatz nicht die Selbstsorge ablehnt, sondern besagt, dass es unmöglich ist, die Fürsorge und das Besorgen ohne eine Beziehung zur Selbstsorge und umgekehrt zu verstehen. Heidegger lehnt nicht die Idee ab, dass es eine Sorge um das Selbst gibt. Das, was er ablehnt, ist vielmehr die Vorstellung, dass die Sorge als isoliert verstanden werden kann. Selbstsorge ist gleichzeitig Fürsorge und Besorgen, insofern das Dasein immer in der Welt ist (siehe z. B. GA 9, S. 163). Rodríguez’ nächster Satz bestätigt diese Interpretation: »Es gibt keine Selbstsorge, weil das Selbst, als Dasein, nur in der Sorge mit der Welt und mit den Anderen ist, und diese Sorge ist genau die Weise, in der sich das Dasein um sich selbst sorgt.« (Rodríguez, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 130). In verschiedenen Textpassagen sieht es so aus, dass es bei Heidegger einen ›Vorrang‹ der Selbstsorge gibt (siehe z. B. GA 24, S. 408). 420 Vgl. SZ, S. 146. 421 Ebd. 422 Heidegger schreibt über die Durchsichtigkeit: »Wir wählen diesen Terminus zur Bezeichnung der wohlverstandenen ›Selbst-erkenntnis‹, um anzuzeigen, daß es sich bei ihr nicht um das wahrnehmende Aufspüren und Beschauen eines Selbstpunktes handelt, sondern um ein verstehendes Ergreifen der vollen Erschlossenheit des Inder-Welt-seins durch seine wesenhaften Verfassungsmomente hindurch.« (SZ, S. 146). 423 Vgl. SZ, §§ 15–18.

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

Um über das verstehende Sichrichten-auf der Fürsorge zu reden, wählt Heidegger die Begriffe Rück- und Nachsicht 424. Heidegger entwickelt diese Begriffe nicht und korrelativ untersucht er die Phänomene, die diese Begriffe anzeigen, nicht ausführlich. Da das Problem der Ethik ein Problem des Intentionalseins ist, wird deutlich, dass diese Phänomene in direkter Verbindung zur Problematik stehen. Sie werden allerdings später in der vorliegenden Arbeit analysiert, sobald der notwendige Verständnishorizont erreicht wird 425. Nun ist zu bemerken, wie Heidegger in der Abhandlung Der Begriff der Zeit betont, dass das, worauf die Sicht sich richtet, nicht ›neutral‹ ›vorgestellt‹ wird, sondern schon als etwas verstanden und ausgelegt wird 426. Zum Verstehen gehört, sagt Heidegger in SZ, immer eine Auslegung. Während das Verstehen die Erschließung der Welt um des Möglichseins des Daseins willen ist, ist die Auslegung die Konkretion dieser Erschlossenheit zu einer bestimmten Möglichkeit. Das entwerfende Dasein hat das, worauf es sich entwirft, schon in einer Weise ausgelegt. In dieser Auslegung, so Heidegger, »eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu.« 427 Das, worauf sich das Dasein entwirft, wird stets schon als etwas ausgelegt und deswegen ›irgendwie‹ gewählt. Die Auslegung hat die Struktur »Etwas als Etwas« 428. Damit wird eine dritte phänomenologische These erreicht: Die Intentionalität ist dann verstehend und auslegend, d. h., das Dasein versteht das, worauf es sich richtet, immer in einer bestimmten Art und Weise. Jedes Gerichtetsein ist hermeneutisch. Die Auslegung ist dann als die »Ausbildung« des Verstehens bzw. des Entwurfs definiert 429. Diese Ausbildung soll nicht als eine Thematisierung verstanden werden. Das Insein ist ursprünglich Umgang mit der Welt. Die Thematisierung bzw. die theoretische Einstellung hat ihr Fundament in diesem primären Insein 430. Alle Thematisierung bzw. jede Beschreibung des Seienden in seinen Eigenschaften gründet in der verstehenden Auslegung. Dies besagt: Im praktischen Umgang erscheinen die Seienden primär als Etwas, d. h. mit einer 424 425 426 427 428 429 430

Vgl. ebd., S. 123. Siehe § 36 der vorliegenden Arbeit. Siehe GA 64, S. 36–37. SZ, S. 148. Vgl. ebd., S. 149. Ebd., S. 148. Vgl. ebd., § 13.

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Bedeutung und nur aus diesem Grund kann das Dasein sie als etwas thematisieren. Das ›Als‹ des praktischen Umgehens nennt Heidegger existenzial-hermeneutisches ›Als‹. Dieses primäre ›Als‹ begründet das apophantische ›Als‹, welches die Konkretion dieses ersten ›Als‹ in einer Aussage ist 431. Diese Beschreibung unterstützt den Ansatz, dass das Sein der Welt die Bedeutsamkeit ist, und das Argument, dass die Seienden weder Sinn noch Wert vom Dasein bekommen, sondern dass sie immer schon als sinnvoll erschlossen werden 432. Nun ist das Dasein, sobald es in der Welt als verstehendes, auslegendes Seiendes existiert, hermeneutisch. Das Insein ist hermeneutisch; dies bedeutet, dass Auslegen keine existenzielle Möglichkeit des Daseins, sondern eine Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrungen ist. Das Dasein erfährt die Welt und damit den Seienden immer als Etwas. Nun wurde schon im Methodenteil der vorliegenden Arbeit darauf hingewiesen, dass jede Interpretation nicht aus einer Neutralität heraus entsteht (Standpunktfreiheit), sondern dass sie stets von Voraussetzungen und Vourteilen beeinflusst wird; jede Interpretation weist eine Vorstruktur auf. Die Konzepte Interpretation und Auslegung bezeichnen nicht gleiche Phänomene. Interpretation ist die Methode, deren Ziel die Erhellung der hermeneutischen Situation ist. Auslegung bezeichnet ein Existenzial des Daseins; sie beschreibt die Form des Inseins, d. i. des Erfahrens. In diesem Sinne gründet sich die Interpretation auf die Auslegung. Daraus folgt, dass die Vorstruktur der Interpretation auch in der Auslegung erkennbar sein muss, und zwar in einer ursprünglichen Form. Im Umgang mit der Welt, argumentiert Heidegger, eignet sich die Auslegung das, was verstanden wurde, d. i. die Bewandtnisganzheit an. Das besorgte Seiende in seiner Bewandtnisganzheit wird in die Vorhabe der Auslegung gestellt. Etwas wird als etwas ausgelegt (welches bereits in der jeweiligen Ausgelegtheit ausgelegt worden ist). Die Auslegung hat immer eine Vorhabe. Doch das, was ausgelegt wird, wird als etwas, d. i. in einer gewissen Hinsicht ausgelegt. Die Auslegung hat eine Vorsicht, »die das fixiert, im Hinblick worauf das Verstandene ausgelegt werden soll.« 433 Schließlich argumentiert Vgl. ebd., S. 158. Siehe auch: GA 29/30, § 69; S. 417 ff. »Sie [d. i. die Auslegung] wirft nicht gleichsam über das nackte Vorhandene eine ›Bedeutung‹ und beklebt es nicht mit einem Wert, sondern mit dem innerweltlichen Begegnenden als solchem hat es je schon eine im Weltverstehen erschlossene Bewandtnis, die durch die Auslegung herausgelegt wird.« (SZ, S. 150). 433 SZ, S. 150. 431 432

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

Heidegger, dass das, was verstanden wird, in einem Horizont begriffen wird. Dieses Begreifen geschieht im Rahmen einer bestimmten Begrifflichkeit und Problemeinstellung (welche aus dem Phänomen entsteht oder ihm auferlegt werden kann) 434. Die Auslegung gründet sich so auf einen Vorgriff. Die Vorstruktur der Auslegung zeigt, dass diese »nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen [ist].« 435 Eine konkrete Darstellung findet man in der Vorlesung vom Sommersemester 1924: Das Dasein als In-der-Welt-sein ist immer ein Sein in einem schon Bekannten, schon so und so Ausgelegten, das Dasein ist schon so und so aufgefaßt. Auf die Welt kommend wächst man in eine bestimmte Tradition des Sprechens, Sehens, Auslegens hinein. Das In-der-Welt-sein ist ein Die-Weltschon-so-und-so-Haben. Diesen eigentümlichen Tatbestand, daß die Welt, in die ich hineinkomme, in der ich aufwachse, in einer bestimmten Ausgelegtheit, für mich da ist, bezeichne ich terminologisch als die Vor-habe. Die Welt ist schon so und so da, mit ihr auch mein Dasein in der Welt, die schon so und so da ist, und im Umgang mit ihr ist schon herrschend und führend eine bestimmte Weise des Ansprechens, in dem die Welt besorgt, diskutiert wird. Das umgrenzt eine bestimmte Möglichkeit des Begreifens, der Fragestellung, d. h. die Hinsichten, bezüglich deren die Welt besorgt wird, sind schon da. Die Vorhabe ist im vorhinein schon eine bestimmte Vor-sicht. Das schon Daseiende steht in einer bestimmten Hinsicht, alles Sehen, alle Hinsichtnahme ist im konkreten Sinne bestimmt. Das Seiende, d. h. die Welt und das Leben, ist besorgt unter der Leitung eines bestimmten Sinnes von Sein […]. […] Unter der Führung der Hinsicht wird nun das Aussehen genauer expliziert, und zwar so weit, als gerade der Anspruch auf Verständlichkeit herrscht, soweit eine bestimmte Idee von Beweis und Beweiskräftigkeit leitend ist. […] Die herrschende Verständlichkeit, die in sich schließt das Aussprechen als Artikulation, bezeichne ich als Vor-griff. (GA 18, S. 274– 275) 436

Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturieren den Sinneshorizont des Entwurfs 437. Sinn meint den strukturierten Horizont 438 dessen, wo»Die Auslegung kann die dem auszulegenden Seienden zugehörige Begrifflichkeit aus diesem selbst schöpfen oder aber in Begriffe zwängen, denen sich das Seiende gemäß seiner Seinsart widersetzt.« (SZ, S. 150). 435 SZ, S. 150. 436 Siehe auch GA 20, S. 414–415. 437 Vgl. SZ, S. 151. 438 »Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem her etwas als etwas verständlich wird.« (SZ, S. 151). »Sinn bedeu434

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

rauf sich die verstehende Intentionalität richtet: also das Seiende als Seiendes, d. i. das Seiende in Bezug auf die bedeutsame Welt und nicht als ›Dingvorhandenheit‹ (aber auch in Bezug auf ein bestimmtes Verständnis, welches in der Form der Vorhabe, der Vorsicht und des Vorgriffs geschieht). Nur in diesem (hermeneutischen) Horizont kann das Seiende als Seiendes erschlossen werden. In diesem Sinne schreibt Heidegger in der Vorlesung vom Sommersemester 1927: »Sofern das Verstehen eine Grundbestimmung der Existenz ist, ist es als solches die Bedingung der Möglichkeit für alle besonderen möglichen Verhaltensweisen des Daseins.« 439 An dieser Stelle muss an die These der Referenzialität erinnert werden: Das Verstehen ist nicht nur auslegend, sondern auch modal. Etwas ist nicht nur als etwas, sondern auch in Bezug auf etwas ausgelegt. Dieser Bezug kann entweder die Sache selbst sein, die in ihrer Beziehung zum eigenen Seinkönnen erschlossen werden kann (Worumwillen), oder ein Diskurs über die Sache, der aus der Beziehung zur Öffentlichkeit heraus entsteht. Das intentionale Gerichtetsein-auf geschieht dann innerhalb eines Horizonts bzw. eines hermeneutischen Hintergrundes: Die Sachen werden entweder in Bezug auf das eigene Seinkönnen und seine Situation oder in Bezug auf die jeweilige öffentliche Ausgelegtheit verstanden. Die oben genannte phänomenologische These des Verstehens muss deshalb angepasst werden: Das Sichrichten-auf ist verstehend und auslegend, d. h. horizontal und dieser Horizont kann entweder in einer eigentlichen oder in einer uneigentlichen Art und Weise gestaltet werden. Darüber wird zu einem späteren Zeitpunkt näher ausgeführt werden. Diese ganze Beschreibung verstärkt die These, dass das Problem des Ethischen ein Problem des Intentionalseins (und damit des Selbst) ist. Dies ist der Fall, weil das Verstehen den verständlichen Bezugshorizont für das Verhalten dem Anderen gegenüber formt. Anders gesagt: Das Verständnis des Anderen als ›Anderer‹ ist der Grund für das mögliche ethische Verhalten. Eine solche These kann nur fundamentiert werden, wenn man das Verständnis des Ethischen erforscht hat und dem Verständnishorizont bezüglich der Frage nach dem Grund des Ethischen weiter interpretiert.

tet das Woraufhin des primären Entwurfs, aus dem her etwas als das, was es ist, in seiner Möglichkeit begriffen werden kann.« (Ebd., S. 324. Eigene Betonung). 439 GA 24, S. 392. Siehe auch GA 26, S. 194 f.

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

Nun bleibt es nur zu betonen, dass das Verstehen und damit die Transzendenz in Zusammenhang mit den schon genannten Bestimmungen des Seins des Daseins verstanden werden müssen. Der Charakter des Entwurfs weist genau darauf hin, dass das Dasein »sich als Seiendes je aus einer Möglichkeit, die es ist und in seinem Sein irgendwie versteht, [bestimmt]« 440, d. i., es zeigt am klarsten das an, worauf die Anzeigen Jemeinigkeit und Zusein hingewiesen haben. Dies enthüllt das enge Verhältnis zwischen der Selbstbestimmung und dem In-der-Welt-sein, ein Verhältnis, das Heidegger Freiheit nennt. Freiheit ist aber ein komplexer Begriff, der beim frühen Heidegger mindestens drei Hauptbedeutungen hat, nämlich Transzendenz, Frei- (in der Wahrheit oder Unwahrheit)-Lassen und Negativität (dies wird in den nächsten Abschnitten β und γ weiter behandelt). Die erste Bedeutung lässt sich klar in der Vorlesung vom Sommersemester 1927 wiederfinden 441: Zur Existenz des Daseins gehört das In-der-Welt-sein, und zwar so, daß es diesem In-der-Welt-sein um dieses Sein selbst geht. Es geht um dieses Sein, d. h. dieses Seiende, das Dasein, hat in gewisser Weise sein eigenes Sein in der Hand, sofern es sich so oder so zu seinem Seinkönnen verhält, sich dafür oder dawider, so oder so entschieden hat. ›Es geht dem Dasein um das eigene Sein‹ heißt genauer: um das eigene Seinkönnen. Das Dasein ist als existierendes frei für bestimmte Möglichkeiten seiner selbst. Es ist sein eigenstes Seinkönnen. […] Wenn das Dasein für bestimmte Möglichkeiten seiner selbst, für sein Seinkönnen, frei ist, so ist es in diesem Freisein-für; es ist diese Möglichkeiten selbst. […] Das eigenste Seinkönnen selbst sein, es übernehmen und sich in der Möglichkeit halten, sich selbst in der faktischen Freiheit seiner selbst verstehen, d. h. das sich selbst Verstehen im Sein des eigensten Seinkönnens, ist der ursprüngliche existenziale Begriff des Verstehens. (GA 24, S. 391)

Hier versteht Heidegger unter Freiheit die Transzendenz des verstehenden Daseins, welches seine Welt um seiner selbst willen erschließt. Die erste Bestimmung der Freiheit weist auf die untrennbare Beziehung zwischen Seinkönnen und Welterschließung (bzw. Entfaltung eines Verständnishorizonts), d. i. das Verstehen, hin. Freisein-für wird nicht ontisch als die spontane Entscheidung (sich für etwas entscheiden), sondern ontologisch als Worumwillen inter440 441

SZ, S. 43. Siehe auch SZ, S. 193.

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

pretiert, d. h. das Verhältnis zwischen Existenzialität (d. i. sich auf Möglichkeiten entwerfen) und Welterschließung (d. i. die Erschließung der Bedeutsamkeit in Bezug auf die Möglichkeiten des geworfenen Daseins). Deswegen beschreibt Heidegger die Freiheit in der Vorlesung vom Sommersemester 1928 als das ›transzendierende Zusich-selbst-sein‹ 442. β.

Gestimmtes Intentionalsein: Befindlichkeit als Existenzial

Mit dem Existenzial ›Befindlichkeit‹ will Heidegger auf drei Aspekte des Seins des Daseins hinweisen. 1. Das Dasein erfährt sich selbst nicht durch Selbstbetrachtung, sondern durch Welterfahrung. 2. Das Verstehen bzw. der Entwurf ist immer mit der Faktizität verbunden. 3. Die Welterfahrung ist nicht etwas ›Neutrales‹, als wäre das Dasein ein unberührter Betrachter ›in‹ der Welt, sondern sie ist immer von den bedeutsamen Seienden und der Faktizität des Daseins beeinflusst. Als Grundsatz könnte festgehalten werden, dass beide, Selbstund Welterfahrung, von der Art und Weise, in der sich das Dasein in der jeweiligen Situation befindet, beeinflusst werden. Das Dasein ist in der Welt als Erfahrender, und seine Erfahrung wird immer aufgrund seiner Faktizität modifiziert. Die erste These ist früh im Denken Heideggers zu finden. So schreibt er z. B. in der Vorlesung vom Wintersemester 1920/1921: Ich erfahre mich selbst im faktischen Leben weder als Erlebniszusammenhang, noch als Konglomerat von Akten und Vorgängen, nicht einmal als irgendein Ichobjekt in einem abgegrenzten Sinn, sondern in dem, was ich leiste, leide, was mir begegnet, in meinen Zuständen der Depression und Gehobenheit u. ä. Ich selbst erfahre nicht einmal mein Ich in Abgesetztheit, sondern bin dabei immer der Umwelt verhaftet. (GA 60, S. 13) 443

Die bereits erwähnte These, dass sich das Selbst-Verständnis im Umgehen mit dem besorgten Seienden und den Mit-Existierenden vollzieht, wird nun ergänzt: Dieses Umgehen mit der Welt ist immer durch eine Stimmung geprägt: Ich verstehe mich aufgrund meines gestimmten Umgangs mit der Welt. Dies bedeutet, dass das Dasein, Vgl. GA 26, S. 273. In SZ drückt Heidegger diese Idee so aus: »In der Befindlichkeit ist das Dasein immer schon vor es selbst gebracht, es hat sich immer schon gefunden, nicht als wahrnehmendes Sich-vor-finden, sondern als gestimmtes Sichbefinden.« (SZ, S. 135).

442 443

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

insofern es in der Welt ist, diese Welt hat und in diesem Die-Weltdahaben, hat es gleichzeitig sich selbst. Wie Heidegger in der Vorlesung vom Sommersemester 1924 schreibt: »In-der-Welt-sein heißt in gewisser Weise die Welt dahaben. Nicht nur die Welt wird gehabt, sondern das Dasein hat sich selbst in der Befindlichkeit.« 444 Im intentionalen Umgehen richtet sich das Dasein nicht nur auf die Seienden, dieses Auf-die-Seiende-Gerichtetsein ist gleichzeitig, aufgrund der existenzialen Befindlichkeit, ein Sich-auf-sich-selbst-richten. Dies bedeutet, dass das Intentionalsein nicht unidirektional, sondern bidirektional ist. Die Selbsterfahrung gründet sich im Sich-irgendwie-im-besorgenden-Umgehen-Befinden. Im Umgang wird das Dasein stets in einer bestimmten Weise gestimmt, weil das Dasein immer von seiner Welt betroffen ist. Heidegger stellt fest, dass das, dem in der Welt begegnet wird, immer das Dasein betrifft: Die Befindlichkeit weist den Charakter des Betroffenwerdens auf 445. Der phänomenale Tatbestand, welcher auf diesen Charakter hinweist, sagt Heidegger, ist alltäglich als Gestimmtsein erkennbar. So wird die erste These in SZ ontologisch wie folgt formuliert: In der Gestimmtheit ist immer schon stimmungsmäßig das Dasein als das Seiende erschlossen, dem das Dasein in seinem Sein überantwortet wurde als dem Sein, das es existierend zu sein hat. (SZ, S. 134)

Hier zeigt Heidegger einer Verknüpfung zwischen Faktizität und Existenzialität. Unter Faktizität versteht Heidegger »nicht die Tatsächlichkeit des factum brutum eines Vorhandenen, sondern ein in die Existenz aufgenommener, wenngleich zunächst abgedrängter Seinscharakter des Daseins.« 446. Die Faktizität ist ein Existenzial des Daseins. Mit ihr möchte Heidegger darauf hinweisen, dass der Mensch, obwohl er gewissermaßen auch wie die Tiere und die Sachen als ein factum brutum (bloße Materie) in der ›Welt der natürlichen GA 18, S. 271. Vgl. SZ, S. 137. Siehe auch GA 20, S. 350 f. In diesem Sinne kann ergänzt werden, wie Heidegger es in der Vorlesung von Wintersemester 1929/1930 macht, dass das Gestimmtsein Anderer auch die eigene Selbst- und Welterfahrung beeinflusst (vgl. GA 29/30, S. 99–101). Heidegger geht einen Schritt weiter und hält fest, dass die Stimmung »das Wie unseres Miteinander-Daseins [ist].« (Ebd., S. 100). Die eigene Stimmung und die Stimmung Anderer machen laut Heidegger aus, wie wir zusammen in der Welt sind. Der (soziale) Horizont (in dem das Dasein seine Welt und sich selbst versteht) ist dementsprechend durch Stimmungen sozial konstituiert. 446 SZ, S. 135. 444 445

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Dinge‹ ›da‹ ist, eine besondere Weise dieses ›Da‹ zu sein aufweist, nämlich als verstehendes sich-befindendes Seiendes. Das Dasein ist sein ›Da‹ immer in einer bestimmten Art und Weise aufgrund dieses Sichbefindens. Kurz: Das Dasein ist ein geworfener Entwurf, d. i., es entwirft sich auf faktische Möglichkeiten immer aus seinem aktuellen faktischen Möglichsein. Phänomenologisch betrachtet bedeutet dies, dass das Gerichtetsein nicht neutral ist, sondern gestimmt: das Dasein entwirft sich aus Möglichkeiten aufgrund seines faktischen Gestimmtseins. Dies betrifft die zweite These: Das Verstehen und die Befindlichkeit sind verbunden. Diese These wird durch die Anzeige der ›Geworfenheit‹ ausgedrückt. Diese Anzeige weist darauf hin, dass das Dasein immer sein ›Da‹ (seine Situation) ist und deswegen sein Selbst-Verständnis und sein Entwurf von diesem jeweiligen ›Da‹ abhängig sind 447. Damit wird angezeigt, dass Verstehen und Befindlichkeit ›gleichursprünglich‹ sind, oder wie Heidegger es in SZ sagt: »Befindlichkeit hat je ihr Verständnis« und das »Verstehen ist immer gestimmtes.« 448 So könnte man Heidegger paraphrasieren und sagen: Insofern das Dasein befindlich ist, ›weiß‹ es, woran es mit ihm selbst faktisch-existenzial ist. Obwohl Heidegger es nicht erwähnt, weist der Einfluss der Faktizität auf die Existenzialität darauf hin, dass der Leib einen bestimmten Möglichkeitshorizont öffnet: Die Welt wird anders erschlossen, wenn man klein, groß, dünn, dick, gesund, krank, u. a. ist, auch wenn ein Organ fehlt, versagt oder nicht richtig funktioniert usw. 449 In diesem Sinne ist der Leib auch ein Existenzial des Daseins (der mit der Faktizität zu tun hat). Die Bedeutsamkeit der Welt wird durch den Leib erschlossen; die Intentionalität ist körperlich bedingt 450. Vgl. Ebd. Die Geworfenheit zeigt die Faktizität der Überantwortung an, d. i., sie weist darauf hin, dass das Dasein sein muss, und zwar aufgrund seiner Faktizität. 448 SZ, S. 142. 449 Das Fehlen der Problematik der Leiblichkeit in SZ (und in Heideggers Denken überhaupt) wurde stark kritisiert (siehe z. B. Aho, 2009; Johnson, 2016b). Dennoch wird hier argumentiert, dass die Notion der Faktizität notwendigerweise die Notion der Leiblichkeit beinhaltet, und zwar nicht als fatum brutum (bzw. Körper), sondern als intentionales Zentrum (bzw. Leib). Dieses Zentrum erschließt allerdings die Welt primär weder als eine natürliche Welt noch als eine (intersubjektive) objektive Welt (wie bei Husserl, vgl. Hua I), sondern als eine hermeneutische (faktisch-existenziale) Welt. 450 Phänomenologische Untersuchungen dieses Phänomens findet man bei Husserl (siehe Hua IV, Zweiter Abschnitt, Drittes Kapitel) und bei Merlau Ponty, 1966. 447

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

Nun lässt sich aus diesen Behauptungen ableiten, dass der Entwurf von der Geworfenheit beeinflusst wird, und, dass die Situation aufgrund des Worumwillens (des Entwerfens) des Daseins erschlossen wird. Mit Anschluss daran lässt sich die These entwickeln, dass nicht nur die Selbsterfahrung durch die Welterfahrung modifiziert wird, sondern auch die Welterfahrung durch die Selbsterfahrung transformiert werden kann. Hier kommt die dritte These ins Spiel. Die Analyse Heideggers zeigt nicht nur, dass das ›Da‹ das Entwerfen des Daseins bestimmt, sondern auch, dass die Faktizität des jeweiligen Daseins dieses ›Da‹ bzw. die jeweilige Bedeutsamkeit modifizieren kann. Diese These wird sehr klar in der Abhandlung Der Begriff der Zeit ausgeführt, in der Heidegger erklärt, dass die jeweilige Ausgelegtheit und die jeweilige Bedeutsamkeit der Welt die Erfahrung zwar einrahmen, aber nicht bestimmen und, dass sich das jeweilige Dasein immer ›irgendwie‹ (aufgrund seiner individuellen Faktizität) befindet und die bedeutsame Welt aus diesem Grund erschließt 451. In SZ findet sich eine ontologische Formulierung dieser Idee: »Die Gestimmtheit der Befindlichkeit konstituiert existenzial die Weltoffenheit des Daseins.« 452 Nun kann aber diese These noch erweitert werden: Die Erfahrung der Welt ist immer durch die Faktizität beeinflusst. Obwohl Heidegger über die Faktizität des Daseins in Zusammenhang mit der Struktur der Befindlichkeit spricht, welche auf die ontischen Stimmungen und das Gestimmtsein des Dasein hinweist 453, muss diesbezüglich gesagt werden, dass die gesamte faktische Determiniertheit des menschlichen Daseins (das Dasein ist irgendwann und irgendwo geboren 454, es (be)findet sich in einem gewissen Alter, es hat ein gewisses Geschlecht, eine Nationalität, eine Erziehung, es Vgl. GA 64, S. 32 f. SZ, S. 137. 453 Vgl. ebd., S. 134. 454 In Gegensatz zu Hannah Arendt (in The human condition), welche an Heideggers Daseinsanalytik kritisiert, dass die Geburt als ein Ereignis interpretiert wird und dass es einen Vorrang des ›Sein zum Tode‹ gibt, betont Raffoul, dass »Geworfenheit der ontologische Name für die Geburt ist.« (Raffoul, in Raffoul; Pettigrew, 2002, S. 209. Eigene Übersetzung). Heidegger charakterisiert das Dasein als ein ›zwischen‹ zwischen Geburt und Tod, wo weder der Tod noch die Geburt als Ereignisse interpretiert werden sollen, sondern als etwas, das das Dasein, sofern es existiert, immer ist (vgl. SZ, S. 373 f.). Anhand dieser Interpretation kann gesagt werden, dass die Faktizität (bzw. die Geworfenheit) die ganze Determiniertheit des Seienden nennt, dessen Sein ein Möglichsein ist. 451 452

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

spricht eine gewisse Sprache, hat gewisse physikalische, kulturelle, psychologische Charakteristiken, ist allein oder mit anderen 455 usw.) bestimmt, wie das Dasein in der Welt ist. Im Hämmern erschließt man den Hammer nicht nur in Bezug auf die Tätigkeit und das Ziel (Worumwillen), sondern auch in Bezug auf die eigene Faktizität. Zum Beispiel: Dieser Hammer ist zu schwer für mich, um damit zu hämmern, vielleicht könntest du mit ihm hämmern, da du stärker bist als ich. Der Hammer ist dann für mich unbrauchbar und erscheint mir nicht als Zuhanden, sondern z. B. als ein Hindernis 456 und nur aus diesem Grund erscheint mir die andere Person als Helfer usw. Stimmungen sind dennoch sehr besondere Phänomene 457, die sehr deutlich zeigen, inwiefern die Faktizität des Daseins seine Welterfahrung verändern kann 458. Die Analyse der Lektüre eines Buchs kann hier als Beispiel dienen. Das alltägliche Erlebnis dieser Situation zeigt, dass das Lesen eines Buchs aufgrund unserer Haltung sehr unterschiedlich erfahren werden kann: Wenn uns langweilig ist, scheint das Lesen ›öde‹ oder ›nervtötend‹ ; wenn wir gestresst oder verbittert sind, kann das Lesen ›schwer‹, oder ›unsinnig‹ werden; wenn wir begeistert sind, kann es aber herrlich sein. Das Lesen und das gelesene Buch werden in jedem Fall anders erschlossen. Nicht nur das, die ganze Situation (das Buch, das Lesen, ich Selbst, mein Leib, die Leute, die in der Bibliothek neben mir sitzen usw.) wird aufgrund der beEs ist auch interessant, dass, wie Schmid zeigt, die Intentionalität aufgrund des gemeinsamen Lebens (des Wir) modifiziert wird, was bedeutet, dass die Welt bzw. die jeweilige Situation anders erschlossen wird, wenn das Dasein mit anderen ist. Siehe Schmid, 2012. 456 Heidegger analysiert die verschiedene Modi einer Nicht-Zuhandenheit des Zeugs: Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit (vgl. SZ, § 16). Hier muss noch ein Modus ergänzt werden: die Unbrauchbarkeit: Wenn das Zeug sich nicht an meine Faktizität anpasst, obwohl es da ist, nicht kaputt ist und benötigt wird. Wichtig ist, dass dieser Modus des Zeugs auf einen Charakter meines Seins hinweisen kann, nämlich auf die Abhängigkeit von Anderen, um mit den innerweltlichen Seienden umzugehen. 457 In der Vorlesung vom Sommersemester 1924 analysiert Heidegger die πάθηLehre Aristoteles und legt fest, dass die πάθη die Grundmöglichkeiten sind, »in denen sich das Dasein über sich selbst primär orientiert, sich befindet.« (GA 18, S. 262). In der Vorlesung vom Wintersemester 1929/1930 geht Heidegger einen Schritt weiter und definiert die Stimmungen als die Grundweise des Da-seins (bzw. Inseins) und des Miteinanderseins (bzw. Mitseins) (vgl. GA 29/30, S. 100–101). 458 Zum Beispiel: »In [der Verstimmung] wird das Dasein ihm selbst gegenüber blind, die besorgte Umwelt verschleiert sich, die Umsicht des Besorgens wird mißleitet.« (SZ, S. 136). 455

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

stimmten Stimmung erschlossen. In diesem Sinne schreibt Heidegger: »Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf… allererst möglich.« 459 Dies zeigt einen neuen Aspekt der Intentionalität. Die Intentionalität ist nicht mehr nur als Verstehendes/Auslegendes, sondern auch als gestimmt (und weit als faktisch bestimmt) dargestellt. Die Analyse der Befindlichkeit trägt so in SZ zwei implizite phänomenologische Thesen: 1. Die Intentionalität ist nicht unidirektional, sondern bidirektional 460, d. i., die Selbst- und Welterfahrungen beeinflussen sich gegenseitig. 2. Zur Intentionalität gehört nicht nur ein Verständnis dessen, worauf das Dasein sich richtet, sondern auch die Modifikationsmöglichkeit dieses Verständnisses (und damit der Erfahrung) aufgrund des Sich-in-einer-Weise-Befindens. Friedrich-Wilhelm von Herrmann nennt dies die ›zweifache Dimensioniertheit des Da‹ und erklärt: »das Da, in dem das existierende Seiende geworfen ist, ist zugleich das Da, die Erschlossenheit der Welt, die das nichtdaseinsmäßige Seiende umschließt.« 461 Die Art und Weise, in der das Dasein da ist, modifiziert dieses Da. Es gibt eine innerliche Verbindung zwischen Existenzialität, Faktizität und Welterschließung. Heidegger drückt dies so aus: Sofern Dasein faktisch existiert, versteht es sich in diesem Zusammenhang des Um-willen seiner selbst mit einem jeweiligen Um-zu. Worinnen das existierende Dasein sich versteht, das ist mit seiner faktischen Existenz ›da‹. SZ, S. 137. Husserl betont diesen Charakter der Intentionalität in Ideen II, wo er festhält, dass die Intentionalität in Bezug auf beide Polen modifiziert wird (vgl. Hua IV, S. 105 f.). In einem intentionalen Erlebnis werden beide, sowohl das Ich, als auch das Objekt, von einander beeinflusst. So redet er über eine ›doppelte Radiation‹ der Intentionalität: z. B. wenn man ein Objekt erforscht, affektiert man das Objekt: man durchdringt das Objekt, man untersucht seine Teile, eignet es sich an. Aber in diesem Erlebnis betrifft das Objekt auch das Ich: es regt den Forscher an, es fesselt ihn usw. (vgl. ebd., S. 106). Das Erlebnis, sagt Husserl, besteht aus zwei Polen: das Ich und das Objekt. Beide Pole determinieren sich gegenseitig. Husserl stellt dann fest, dass »Ich – Akt – Gegenstand wesensmäßig zusammen [gehören]« (ebd., S. 107). Husserl überwindet so die Notion eines (aktiven) konstituierenden Subjekts und eines (passiven) konstituierten Objekts. Obwohl diese Notion schon in Husserls frühen Schriften zu finden ist, sieht man in Ideen II einen Bruch (vgl. Zahavi, 2009, S. 78). Ricoeur schreibt darüber: »We begin with the image of Ideas I whereby all thinking is a ›ray from the ego‹. The ego radiates ›through‹ its acts. Ideas II completes the image so that the radiation ›from‹ the ego is indicated by a counter-radiation that issues from the objects.« (Ricoeur, 1967, S. 53). 461 Vgl. Herrmann, v., 2008, S. 31. 459 460

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Das Worinnen des primären Selbstverständnisses hat die Seinsart des Daseins. Dieses ist existierend seine Welt. (SZ, S. 364)

Die Entfaltung der Welt und die Erschließung der Seienden um einer Möglichkeit des jeweiligen (situativen) Daseins willen, konstituieren das Sein des Daseins in einer gleichursprünglichen Weise. Nun wird das Dasein in die Welt geworfen, somit ist das Dasein sowohl existent als auch faktisch. Das Verstehen und damit die Existenzialität zeigen, dass zum Dasein eine Freiheit gehört, und zwar in der Form einer Transzendenz. Die Befindlichkeit und damit die Faktizität zeigen dann, dass diese existenziale Freiheit auch faktisch ist, und zwar mit dem Charakter der Nichtigkeit. Da die Transzendenz immer die Transzendenz eines faktischen Daseins ist, so Heidegger, entsteht die Freiheit aus dem geworfenen Sein-bei (innerweltlich begegnenden Seienden) 462. In SZ erkennt Heidegger diesen Aspekt der Freiheit im Laufe der Diskussion über das ›Schuldigsein‹ bzw. Grundsein des Daseins, d. i. über die (Unmöglichkeit einer) Selbstständigkeit des Intentionalseins des Daseins (vgl. SZ, § 58). Dort behauptet Heidegger, dass das Sein des Daseins eine Nichtigkeit beinhaltet, und zwar in dreifacher Hinsicht: Erstens ist das Dasein in einer Nichtigkeit begründet, insofern es sich als Seinkönnen immer für etwas entscheiden muss, aber jede Entscheidung, die es trifft, das ›Nichtgewählthaben‹ einer anderen Möglichkeit bedeutet: »Die Freiheit aber ist nur in der Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen.« 463 Zweitens meint die Nichtigkeit, dass der Entwurf in einer Faktizität eingerahmt ist, welche das Dasein selbst ist, aber nicht selbst wählen kann. Heidegger sagt dann, dass das Dasein »nicht durch es selbst, sondern an es selbst aus dem Grunde [entlassen wird], um als dieser zu sein« 464 – aber, nur, wenn es sich seine Nichtigkeit aneignet. Die Befindlichkeit öffnet das Dasein hin in Richtung seiner Geworfenheit Vgl. GA 9, S. 174–175. SZ, S. 285. 464 Ebd., S. 284–285. Dieser Sinn der Freiheit wurde schon im Befindlichkeitsparagraphen von SZ unter dem Begriff ›Überantwortetsein‹ behandelt (vgl. ebd., S. 135). Von Herrmann erklärt diesbezüglich: »In der Gestimmtheit erschließt sich dem existierenden Seienden, daß es ihm ›in seinem Sein überantwortet wurde‹, d. h. ihm übergeben ›als dem Sein, das es existierend zu sein hat‹, das es zu übernehmen und zu vollziehen hat. Das existierende Seiende gibt sich nicht selbst das Sein, sondern dieses wird ihm gegeben, um es als übergebenes im Existieren zu vollziehen.« (Herrmann, v., 2008, S. 30). 462 463

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

und dies ist die Bedingung der Möglichkeit, um sich die eigene Nichtigkeit (und damit den Entwurf) anzueignen. Drittens ist die Existenz von einer Neigung zur Uneigentlichkeit, d. i. von einer Privation seines eigenen Seinkönnens bestimmt. Die Freiheit des Daseins ist dann, so Heidegger, ›nichtig‹ bzw. negativ 465. In Vom Wesen des Grundes (1928) hält Heidegger fest, dass der geworfene Sinn der Freiheit auch darauf hinweist, dass die Welt, in die das Dasein geworfen ist, die Freiheit einschränkt: Wird jedoch die Transzendenz im Sinne der Freiheit zum Grunde erstlich und letztlich als Abgrund verstanden, dann verschärft sich damit auch das Wesen dessen, was die Eingenommenheit des Daseins im und vom Seienden genannt wurde. Das Dasein ist – obzwar inmitten von Seiendem befindlich und von ihm durchstimmt – als freies Seinkönnen unter das Seiende geworfen. […] Solche Ohnmacht (Geworfenheit) aber ist nicht erst das Ergebnis des Eindringens von Seiendem auf das Dasein, sondern sie bestimmt dessen Sein als solches. (GA 9, S. 174–175)

Der Begriff Freiheit bekommt hier eine neue Bedeutung. Das Dasein ist in eine Situation geworfen und muss sich aus dieser Situation entwerfen, es ist ein, so Heidegger, »geworfener Entwurf« 466. Das Dasein ist dann nicht ›frei‹ von seiner faktischen Situation. Es ist jedoch frei, sich diese Situation anzueignen. Später wird diese These normativ interpretiert: Das Dasein kann seine Verantwortlichkeit nicht wählen, dennoch kann es sich für diese Verantwortlichkeit verantwortlich machen. Die zweite Charakteristik der Freiheit weist auf das Verhältnis zwischen Existenzialität und Faktizität hin. γ.

Horizontal gemeinsames Intentionalsein: Rede als Existenzial

Heidegger beschreibt das Intentionalsein bzw. die Erschlossenheit des Daseins durch die Anzeigen ›Verstehen/Auslegung‹ und ›Befindlichkeit‹ 467. Das Intentionalsein ist dann, wie es dargelegt wurde, ein Sich-auf-etwas-Richten, welches das, worauf es sich richtet, versteht und auslegt, und zwar in Bezug auf die Existenzialität und auf die Faktizität des jeweiligen Daseins. Nun will Heidegger mit dem ExisVgl. SZ, S. 285. Vgl. ebd. 467 »Die fundamentalen Existenzialien, die das Sein des Da, die Erschlossenheit des In-der-Welt-seins konstituieren, sind Befindlichkeit und Verstehen.« (SZ, S. 160). 465 466

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

tenzial der Rede darauf hinweisen, dass diese Intentionalität nicht verstreut, sondern immer artikuliert ist. »Die Rede ist die bedeutungsmäßige Gliederung der befindlichen Verständlichkeit des Inder-Welt-seins.« 468 Das, was in der Rede artikuliert wird, ist der Sinn – Sinn verstanden als die Gliederung des bedeutsamen Horizonts bzw. des Bedeutungsganzen 469. Mit der Rede wird gezeigt, dass das Intentionalsein des Daseins ein horizontales ist: Das, was gestimmt und bestimmt verstanden und ausgelegt wird, artikuliert sich in einem (Bedeutungs)Horizont. In diesem Sinne weist die Rede-Anzeige primär weder auf das Sprechen noch auf die Sprache hin, sondern auf die Struktur, welche diese Phänomene ermöglicht 470. Nun sind Sprache und Sprechen wichtige Phänomene, die das Intentionalsein des Daseins erklären können. Laut Heidegger müssen beide, Sprache und Sprechen, anders als sonst verstanden werden. Die Sprache ist nach Heidegger die ontische Konkretion der Artikulation der Erschlossenheit. Heideggers Interpretation der Beziehung zwischen Rede und Sprache streitet mit zwei traditionellen Thesen über ›den Ursprung der Sprache‹, nämlich: 1. »die Sprache [sei] aus den bloßen Affektlauten entstanden, daß die Affektlaute der Furcht, der Angst, der Überraschung, die primären Äußerungsarten der Ursprung der Sprache seien.« 2. »[D]er Ursprung der Sprache liege in den Nachahmungslauten, d. h. in dem lautlichen Abmalen dessen, was in der Welt vorfindlich ist, im Sprechen.« 471 Laut Heidegger missverstehen beide Thesen das Phänomen der Sprache, und damit der Rede, insofern sie das Insein nicht als schon sprachlich artikuliert konzipieren. Im Gegensatz zu diesen Ansätzen hält Heidegger fest: [D]as Primäre ist das Sein in der Welt, d. h. das besorgende Verstehen und Sein im Bedeutungszusammenhang, welchen Bedeutungen nun erst vom Dasein selbst her Verlautbarung, Laute und lautliche Mitteilung zuwächst. Nicht Laute bekommen Bedeutung, sondern umgekehrt, die Bedeutungen werden in Lauten ausgedrückt. (GA 20, S. 287) 472. SZ, S. 162. Vgl. ebd., S. 161. 470 Vgl. ebd., S. 163. Heidegger schreibt: »Das existenzial-ontologische Fundament der Sprache ist die Rede.« (Ebd., S. 161). 471 Vgl. GA 20, S. 287–288. 472 In SZ drückt Heidegger diese Idee so aus: »Den Bedeutungen wachsen Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen.« (SZ, S. 161). 468 469

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

Die Sprache wird also als die Äußerung der Rede bzw. des artikulierten Inseins verstanden. Das Insein geschieht als Rede und seine Konkretion ist die Sprache im Sprechen. Das Sprechen muss auch in Bezug auf das Insein verstanden werden. In der Abhandlung Der Begriff der Zeit charakterisiert Heidegger das Sprechen als ein ›Die-WeltHaben‹ 473 und in der Aristoteles-Vorlesung vom Sommersemester 1924 als ein ›Dahaben‹ 474. Sprechen ist kein Werkzeug für den Umgang mit der Welt, sondern λέγειν 475, eine ›Grundweise des In-derWelt-seins‹, nämlich das Offenbarwerden 476. Das Sprechen eignet sich das Da an und erschließt die Welt. Doch Sprechen ist nicht ein Akt, der in der Immanenz des Daseins geschieht, umgekehrt, Sprechen ist, betont Heidegger, immer Sprechen mit Anderen in einer (Mit-)Welt 477. Laut Heidegger ist »[d]as Miteinander-reden […] die Grundweise des Miteinander-seins-in-der-Welt.« 478 Sprechen ist als Mitteilen definiert: »Mitteilen heißt: die anderen und sich mit den anderen in solches In-der-Welt-sein bringen und darin halten.« 479 Nun hält Heidegger in SZ fest, dass Mitteilen bzw. Mitteilung zusammen mit dem Beredeten (bzw. dem Worüber der Rede), dem Geredeten als solchem und der Bekundung 480 zur Struktur der Rede gehört. Die Welterschließung als Rede hat den Charakter des ›Sichaussprechens‹ 481. Das, was ausgesprochen wird, ist das Insein des Daseins, d. i. die Weise, in der das Dasein in der Welt existiert. Das Dasein spricht sich aus und bekundet so, wie es ihm in der Welt geht: Das Gestimmtsein des jeweiligen Daseins bekundet sich, so Heidegger, »im Tonfall, [in] der Modulation, im Tempo der Rede, ›in der Art Vgl. GA 64, S. 30. Vgl. GA 18, S. 52. 475 Siehe auch den Unterschied zwischen φωνή und λόγος (vgl. ebd., S. 52 ff.) 476 Vgl. GA 64, S. 27. 477 Vgl. ebd., S. 27–28. 478 Ebd., S. 28. 479 Ebd., S. 30. Siehe auch SZ, S. 155; 162; GA 20, S. 362 f. In der Vorlesung vom Sommersemester 1927 heißt es: »Ein Dasein teilt sich sich aussprechend dem anderen mit, heißt: aussagend etwas aufweisend teilt es mit dem anderen Dasein dasselbe verstehende Verhältnis zu Seiendem, worüber ausgesagt wird. In der Mitteilung und durch sie kommt ein Dasein mit dem anderen, dem Adressaten, in dasselbe Seinsverhältnis zu dem, worüber die Aussage geht, wovon die Rede ist.« (GA 24, S. 299). 480 Vgl. SZ, S. 162. 481 Vgl. Ebd. Heidegger schreibt: »Das Ausgesprochene ist gerade das Draußensein, das heißt die jeweilige Weise der Befindlichkeit (der Stimmung), von der gezeigt wurde, daß sie die volle Erschlossenheit des In-Seins betrifft.« (Ebd.). 473 474

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

des Sprechens‹« 482, in der Mimik, in der Bewegung des Leibes u. ä. 483 In diesem Sichaussprechen und Bekunden spricht das Dasein über seine Welt(-Erfahrung) zu jemandem 484. Die Mitteilung des Diskurses bzw. des Geredeten kann an den Anderen oder auch an das eigene Dasein gerichtet werden. Sie ist immer ein dynamisches Das-jeweilige-Insein-Teilen mit Anderen 485. Diese Mitteilung meint nicht eine bloße Übertragung oder einen Austausch von Information. Eine solche Definition interpretiert die Kommunikation nicht aus der Struktur des In-der-Welt-seins und nach Heidegger muss sich der Sinn der Mitteilung aus dieser Struktur ergeben. In Bezug auf das In-der-Welt-sein ist die Mitteilung, wie Heidegger in der Analyse der Aussage feststellt, ›Mitsehenlassen‹ 486. Nun muss hier die Aristoteles-Interpretation von 1924 in Erinnerung gebracht werden, um diese Bestimmung richtig zu verdeutlichen. In der Aristoteles-Vorlesung argumentiert Heidegger, dass der λόγος als λέγειν τι κατὰ τινος 487, d. i. als die Erschließung der Welt als Etwas interpretiert werden muss. Der λόγος ist so als die Grundbestimmung des menschlichen Daseins interpretiert. Heidegger stellt fest, dass der λόγος die συμφέρον, d. i. den Zuhandenseinscharakter der Welt durch das Besprechen erschließt. Die συμφέρον stehe im Blick und der λόγος teile es den Anderen mit. Heidegger schreibt: Ich mache dem anderen Mitteilung, ich habe mit dem anderen, der andere mit mir, sofern wir etwas durchsprechen, die Welt da – κοινωνία der Welt. Ebd. In Bezug auf Heideggers Erweiterung der Konzeption der Sprachlichkeit sagt Gadamer: Sprachlichkeit ist »[a]lles, was etwas zu verstehen geben kann. […] In Wahrheit ist ›Rhetorik‹ der Gesamtbegriff für all das, was mit dem Anderen zusammenhängt.« (Gadamer, H-G. Gespräch mit Ansgar Kemmann am 04. 12. 2001. S. 453). Siehe auch: Gadamer, WuM, S. 361 ff. In der Vorlesung vom Sommersemester 1924 betont Heidegger mit Aristoteles, dass die πάθη (also das Gestimmtsein) durch die Leiblichkeit zur Sprache kommen (vgl. GA 18, S. 202–203). Zu einer phänomenologischen Untersuchung dieses Tatbestandes siehe Merleau-Ponty, 1966, §§ 34–35. 484 So ist das Hören-auf, so Heidegger, sowohl »das existenziale Offensein des Daseins als Mitsein für den Anderen« (siehe auch GA 20, S. 367) als auch »die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen, als Hören der Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt.« (SZ, S. 163). 485 Diesen Charakter des λόγος findet Heidegger in der griechischen Interpretation: »Jedes Sprechen ist, vor allem für die Griechen, ein Sprechen zu einem oder mit anderen, mit sich selbst oder zu sich selbst. […] Sprechen mit anderen über etwas.« (GA 18, S. 17). 486 Vgl. SZ, S. 155. 487 Vgl. GA 18, S. 60. 482 483

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

Sprechen ist an ihm selbst Mitteilen und als Mitteilung nichts anderes als κοινωνία. (GA 18, S. 61) 488.

Mitteilung ist κοινωνία der Welt, d. h. Erschließung des Bewandtnisganzen bzw. Welterschließung. Doch als sprechendes Mitsein ist diese eine Mit-Erschließung der Welt 489. So zeigen die ontischen Konkretionen der Rede, nämlich die Sprache und das Sprechen, wie der Horizont (der Intentionalität) zu konzipieren ist. Der Verständnishorizont (des jeweiligen Inseins) wird durch das Sprechen mit dem Anderen geteilt. Der Andere erschließt dann die geteilte Welt und teilt sie dem Anderen mit usw. Die miterschlossene Welt ist eine Mitwelt. Das Bedeutungsganze (der Horizont) wird dann gemeinschaftlich konstituiert und geöffnet. Heidegger zeigt mit der Rede und ihren ontischen Konkretionen, dass die Welterschließung gemeinschaftlich ist. Dies bedeutet, dass die Welt nicht nur in Bezug auf die Existenzialität (Verstehen) und auf die Faktizität (Befindlichkeit) des Daseins, sondern auch auf seine Verfallenheit, d. i. auf den öffentlichen Möglichkeitshorizont bzw. auf die alltägliche Ausgelegtheit (des faktischen Lebens) erschlossen wird. Laut Heidegger wird der Möglichkeitshorizont, in dem das Dasein sich selbst versteht, von der Öffentlichkeit gegeben 490. Der Intentionalhorizont ist nicht ein privater Horizont, sondern ein öffentSiehe auch GA 18, S. 98 ff. Die Erschließung der Welt ist uns gemeinsam und nicht, weil wir alle bloße Beobachter dieser Erschließung sind, sondern weil wir miteinander (in der Welt) als erschließende Seiende sind. Die Welterschließung bzw. die Wahrheit, so Heidegger in der Vorlesung vom Wintersemester 1928/1929, muss in Zusammenhang mit dem Miteinandersein verstanden werden (vgl. GA 27, S. 105 ff.). Die Wahrheit (bzw. Unverborgenheit des Seienden) ist das Gemeinsame, so Heidegger, das wir teilen. 490 Vgl. SZ, S. 129. In diesem Sinne ist ›das Man‹ bzw. die Öffentlichkeit, wie Dreyfus argumentiert, die Bedingung der Möglichkeit der Bedeutsamkeit und der Verständlichkeit (vgl. Dreyfus, 1991, S. 161; Siehe auch GA 20, S. 255 ff.). Crowell verknüpft hier und schreibt: »what makes up the significance of the world into which I am geared is not some content that belongs to my consciousness, in terms of which I represent the world; rather, it belongs to the ›public‹, the always historically and culturally particular social practices of those among whom I find myself. I conduct myself as ›one‹ does in the roles I adopt, and in telling myself and others what I am up to, I speak as one does: »the ›One‹ itself articulates the referential context of significance« (GA 2, S. 172/129/167).« (Crowell, 2013, S. 201–202). An dieser Stelle muss angemerkt werden, wie auch Dreyfus (1991, S. 145) und Schatzki (in Dreyfus; Wrathall, (Hrsg.), 2005, S. 240) betonen, dass das Man das ist, was eine gemeinsame Welt zwischen dem Dasein und dem Anderen erschafft. Das existenziale Man weist die Tendenz zur durchschnittlichen Erschließung der Welt (bezüglich durchschnittlicher 488 489

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licher, weil das Sprechen bzw. der λόγος das Fundament des Man ist 491. Der λόγος ist die Weise, so die Vorlesung von 1924, in der das menschliche Dasein in der Welt mit Anderen ist 492 und auch in der das Dasein in der Öffentlichkeit sich verliert. So stellt Heidegger in der Abhandlung Der Begriff der Zeit desselben Jahres fest: Mitteilung ist als Miteinanderbesprechen die Weise, in der ›man‹ mit anderen die besorgte Welt ›teilt‹ und hat. Dieses Haben der Welt besagt: besorgend in ihr aufgehen. Mitteilen heißt: die anderen und sich mit den anderen in solches In-der-Welt-sein bringen und darin halten. (GA 64, S. 30. Eigene Betonung)

Der artikulierte Horizont ist ein öffentlicher Horizont. So wird eine implizite phänomenologische These vorgestellt: Das Dasein (bzw. Inder-Welt-sein) versteht das, worauf es sich richtet, und zwar aufgrund der Existenzialität (Entwurf), der Faktizität (Gestimmtsein) und der Verfallenheit, d. h. aufgrund des öffentlich geöffneten Horizonts des alltäglichen Existierens 493. Dieser neue Aspekt des Intentionalseins verweist auch auf eine neue Seite der Freiheit des Daseins. Mit dem Verstehen wurde vorerst gezeigt, dass das Dasein transzendent frei ist, insofern es in der Welt als entwerfendes Seiendes (um seiner Selbst willen) ist. Mit der Befindlichkeit wurde darauf hingewiesen, dass der Entwurf ein geworfener Entwurf ist. Die Beziehung zwischen Existenzialität und Faktizität suggeriert, dass die Freiheit negativ ist: Obwohl das Dasein seinen (faktischen) Grund nicht wählen kann, kann es sich für die Aufgabe entscheiden, sich diesen Grund anzueignen. Nun zeigt die Rede an, dass das Dasein in der Welt in einer Weise ist, in der es das Bedeutungsganze der verstehenden gestimmten Intentionalität artikuliert, und dass es auf das Seiende gerichtet ist, in einer solchen Weise, dass es das Seiende sowohl entdecken als auch verdecken kann. Heidegger stellt fest, dass die griechische Grundbestimmung ζῷον Möglichkeiten) auf. Die gemeinsame, erschlossene Welt gründet sich in dieser Tendenz. 491 Der Träger des Man, so Heidegger, sei das Sprechen. In der Sprache habe das Man seine Herrschaft (GA 18, S. 64). 492 Vgl. GA 18, S. 61. 493 Es geht hier nicht um eine Modifikation der individuellen Intentionalität, wenn das Dasein faktisch mit anderen in einer besonderen Weise umgeht. Hier ist eine ursprüngliche Bestimmung der ›individuellen‹ Intentionalität angezeigt, nämlich dass die ›individuelle‹ Intentionalität schon einen gemeinschaftlichen Charakter mitträgt.

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§ 12 Die erste Charakterisierung des Intentionalseins: die Erschlossenheit

λόγον ἔχον nicht primär auf das Vernünftig-Sein des Menschen (animal rationale), sondern auf ein ursprüngliches Phänomen hinweist. Dass das Dasein spricht, so Heidegger, besagt, »daß dieses Seiende ist in der Weise des Entdeckens der Welt und des Daseins selbst.« 494 Der λόγος muss als Entdecktsein (ἀληθεύειν) verstanden werden: Das Wahrsein des λόγος als ἀπόφανσις ist das ἀληθεύειν in der Weise des ἀπόφαίνεσθαι: Seiendes – aus der Verborgenheit herausnehmend – in seiner Unverborgenheit (Entdecktheit) sehen lassen. (SZ, S. 219)

Im Sprechen ist das Dasein in der Wahrheit. Die Rede als Artikulation des Verstehens, und dies als λόγος ἀποφαντικὸς 495, d. i. als Entdecktsein, zeigt, dass die Transzendenz nichts anderes ist, als das Seiende in der Wahrheit oder Unwahrheit frei lassen. Dieses Frei-Lassen (oder Sein-Lassen) kann falsch interpretiert werden, 1. wenn man es als eine bewusste Handlung, die 2. moralisch beurteilt werden kann, d. i. als etwas Gewünschtes, interpretiert. Frei-Lassen ist ein formaler Begriff, welcher auf den Vollzug des Daseins als Erschlossenheit hinweist. Es ist der Ausdruck, welchen Heidegger benutzt, um die Erschließung des Seienden im besorgten Umgehen anzuzeigen: In § 18 SZ 496 wird gesagt, dass das Dasein das Zuhandensein in seinem Sein (Bewandtnis) sein lässt, wenn das Dasein es im besorgten Umgang erschließt, weil im Umgang mit der Welt das Zuhandensein immer als Verweisung erschlossen wird. Das Sichrichten-auf des Daseins artikuliert das, worauf es sich richtet, und zwar in der Wahrheit oder Unwahrheit 497. Das primär Gerichtetsein ist modal: Die Existenz vollzieht sich in den Seinsmodi der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit und diese konstituieren den Horizont des Selbst- und Weltverstänsnisses. In diesem Sinne ist die Modalität mit der Transzendenz gleichursprünglich. Die Welterschließung ist modal, und zwar auf grund der Modalität der Existenz (bzw. des Verstehens). Heidegger schreibt in der Vorlesung vom Wintersemester 1927/1928: Das menschliche Dasein, das eine Welt hat, ist ein Seiendes, dem es um seine eigene Existenz geht, so zwar, daß es sich selbst wählt oder sich der Wahl begibt. Die Existenz, die je unser Sein mit ausmacht, nicht aber allein

494 495 496 497

SZ, S. 165. Dazu siehe Sheehan, 1988. SZ, S. 84–85. Vgl. ebd., S. 220–222.

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bestimmt, ist Sache unserer Freiheit, und nur Seiendes, das sich entschließen kann und zu sich so oder so entschlossen hat, kann eine Welt haben. Welt und Freiheit stehen als Grundbestimmungen menschlicher Existenz im engsten Zusammenhang. (GA 25, S. 20)

Das Frei-lassen der Welt ›durch‹ λόγος ist immer auslegend (λόγος ist λόγος ἀποφαντικὸς) und demzufolge wird die Welt immer modal erschlossen: Sie wird entweder ›in der Wahrheit‹ oder ›in der Unwahrheit‹ erschlossen. Dies zeigt die Beziehung zwischen der modalen Erschließung der Welt und dem modalen Aspekt der Existenz (bzw. des Seinkönnens), anders gesagt, das Verhältnis zwischen Existenzialität und Verfallenheit.

§ 13 Das Intentionalsein des Daseins als ein Ganzes: Die Sorge Wie schon erwähnt wurde, ist die Sorge der Begriff, welchen Heidegger seit den frühen Freiburger Vorlesungen benutzt, um die Intentionalität in ihrer ursprünglichen Form anzuzeigen 498. Heidegger kommt in SZ zu dieser Bestimmung durch die Analyse der In-derWelt-sein-Struktur in zwei Schritten: Erstens zeigte die Analyse der Welt, dass sich das Dasein im Umgang mit der Welt, welche sowohl Um- als auch Mit- und Selbstwelt ist, ständig auf Seiende, auf Existierende und auf sich selbst richtet. Die Bedingungen für diese verschiedenen Erfahrungsmöglichkeiten des Intentionalseins wurden mit den Begriffen ›Besorgen‹, ›Fürsorge‹ und ›Selbstsorge‹ formal angezeigt. Heidegger will dann eine Anzeige vorschlagen, welche auf diese Anderen als ein Ganzes hinweisen kann 499. Zweitens zeigte die Analyse der Weise, in der das Dasein in der Welt ist, dass das Dasein sich auf Seiende, auf Existierende und auf sich selbst als ein verstehendes faktisches verfallendes Seiendes richtet. Die Enthüllung der Seinsmomente der Existenzialität, Faktizität und Verfallenheit, so Heidegger in §§ 39 und 41 SZ, erfordert eine Modifikation der ersten vorgeschlagenen formalen Anzeige, nämlich des In-der-Weltseins, um auf die ›Ganzheit des Strukturganzen‹ des Daseins hinzuweisen 500. Aus diesen Gründen schlägt Heidegger die Sorgeanzeige 498 499 500

Vgl. GA 61, S. 98. Vgl. SZ, S. 193. Siehe ebd., S. 181.

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§ 13 Das Intentionalsein des Daseins als ein Ganzes: Die Sorge

vor. Die formale Definition der Sorge redet: Das Sein des Daseins ist ein »Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden).« 501 Als Ganzheit des Strukturganzen beinhaltet diese Definition die drei Momente (d. h. mitabhängige Stücke eines Ganzen) der Existenzialität, Faktizität und Verfallenheit: 1. Das ›Sich-vorweg-sein‹-Moment verweist auf das Existenzialsein des Daseins: »Dasein ist immer schon ›über sich hinaus‹« 502, d. h., das Dasein ist Entwerfendes. Das Dasein wurde zuerst mit der Anzeige ›Existenz‹ (Jemeinigkeit und Zusein) formal angezeigt. Dies hat darauf hingewiesen, dass dieses Seiende ein solches ist, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, und zwar als Seinkönnen: Das Dasein entwirft sich auf seine Möglichkeiten und damit ist das Dasein diese Möglichkeiten. Das Dasein konstituiert sich selbst in diesem Sich-Entwerfen auf Möglichkeiten (in der Welt): Das Dasein wird nicht immanent, sondern transzendent konstituiert. 2. Das ›Schon-sein‹-Moment zeigt die Faktizität des Daseins an. Als Entwerfendes ist das Dasein schon in einer Welt, und zwar in einer bestimmten Weise: Das Dasein wurde in seine Situation geworfen (d. i., es kann diese Situation nicht selbst wählen) und muss aus dieser Situation (Grund) heraus existieren, d. h., es muss der Grund seiner Transzendenz sein (d. i. Nichtigkeit). Heidegger sagt: »Existenzialität ist wesenhaft durch Faktizität bestimmt.« 503 Nicht nur wird die Existenzialität von der Faktizität bedingt, sondern auch umgekehrt: Die Analysen der Welt haben gezeigt, dass »das Verweisungsganze der Bedeutsamkeit, als welche die Weltlichkeit konstituiert, ›festgemacht‹ in einem Worumwillen [ist].« 504 Was bedeutet, dass die Existenzialität das faktisch In-der-Welt-sein konditioniert. 3. Schließlich zeigt das ›Sein-bei…‹-Moment die Verfallenheit des Daseins: Als faktisch-entwerfendes Seiendes ist das Dasein in der Welt, wo es mit den Seienden umgeht. Im Umgehen mit den besorgten Seienden versteht sich das Dasein selbst in Bezug auf seine Tätigkeit und auf die erschlossene Welt dieser Tätigkeit. Die Umwelt ist immer Mitwelt, und die Möglichkeiten des Mit-der-WeltUmgehens sind immer öffentlich. Das Dasein versteht sich selbst 501 502 503 504

Ebd., S. 192. Ebd. Ebd. Ebd.

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auch in Bezug auf diese öffentlichen Möglichkeiten. Das Sich-Entwerfen auf Möglichkeiten aus der geworfenen Situation ist ›verfallen‹, d. h., es vollzieht sich immer bei Seienden und mit Existierenden, denen das Dasein begegnet (d. i. frei-lässt) und die den Möglichkeitshorizont konstituieren. Die Sorge verweist demzufolge, als Ganzheit des Strukturganzen, auf die drei Bedeutungen des Freiseins: Transzendenz, Nichtigkeit und Frei- (in der Wahrheit oder Unwahrheit)-Lassen. Nun betont Heidegger, dass die Sorge eine existenziale Auffassung des Seins des Daseins und keine existenzielle Möglichkeit (wie z. B. Besorgnis oder Sorglosigkeit) ist. Sie meint auch nicht einen isolierten Bezug auf das Selbst. Heidegger führt dann aus: Die Sorge bedeutet nichts anderes als Besorgen (bei den Seienden) und Fürsorge (für die Existierenden) 505. Dies wird klar, wenn man das ›Sein-bei…‹-Moment sieht und sich daran erinnert, dass das Sichrichten-auf (das Selbst) immer gestimmt und gemeinsam-horizontal ist. Mit diesen zwei Anmerkungen will Heidegger auf den apriorischen Charakter der Sorge hinweisen. Die Sorge ist die Bedingung der Möglichkeit bzw. die Struktur des Erfahrens und Verhaltens 506. Jeder (ontische) Akt, jedes Verhalten und jede Tendenz des Daseins, als existenzielle Möglichkeiten dieses Seienden, gründen sich auf die existenziale Struktur der Sorge und weisen so in sich selbst diese Struktur aus 507. Für die vorliegende ethische Interpretation bedeutet dies, dass das moralische und das ethische Verhalten in Bezug auf die Sorgestruktur analysiert werden müssen. Es verstärkt auch die erste Intuition, dass es bei der ethischen Problematik um das Intentionalsein des Daseins geht. Fazit: Die Sorge drückt das Intentionalsein des Daseins aus und fasst die Momente der Existenzialität (verstehendes Intentionalsein), der Faktizität (gestimmtes und faktisch-bestimmtes Intentionalsein) und der Verfallenheit (gemeinsam-horizontales Intentionalsein) als Ganzes zusammen. Die Untersuchung eines Sinns, welcher dieser Ganzheit eine Einheit gibt, ist nach Heidegger eine Untersuchung der Zeitlichkeit des Daseins. Siehe die Fußnote Nr. 419 der vorliegenden Arbeit. Vgl. SZ, S. 193. 507 Siehe Heideggers Analyse des Wollens, des Wünschens, des Hanges und des Dranges in SZ, S. 194–196. 505 506

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§ 14 Der ursprüngliche Sinn des Intentionalseins: Die Zeitlichkeit

§ 14 Der ursprüngliche Sinn des Intentionalseins: Die Zeitlichkeit In der Beschreibung der Erschlossenheit des Daseins wurde eine zweifache Dimension aufgewiesen. Von Herrmann beschreibt die Erschlossenheit als eine ›in sich zweifach dimensionierte Erschlossenheit‹, in der sowohl »die horizontale Erschlossenheit der Welt« als auch die »selbsthaft-ekstatische Erschlossenheit des In-seins« erkannt werden 508. Damit ist festgestellt, dass die Erschlossenheit des Daseins sowohl einen Horizont (Welt) als auch eine bestimmte Offenheit zu diesem Horizont (Insein) hat. Der Erschlossenheit des Daseins entspricht die Entdecktheit der Welt. Das intentionale Sichrichten-auf hat das Sichzeigen bzw. Sichentdecken der verschiedenen umgehenden Seienden (in ihrer Bedeutsamkeit) als ›Korrelat‹ 509 bzw. ›Woraufhin‹ (wie Heidegger es nennt). Dieses ›Woraufhin‹ gehört zum Intentionalsein des Daseins (als Inder-Welt-sein) 510. Die Entdecktheit der Seienden »gründet«, so Heidegger, »in der Erschlossenheit des Verweisungsganzen der Bedeutsamkeit.« 511 Das Korrelat des Intentionalseins des Daseins ist kein bloßer ›Weltstoff‹ bzw. keine ›pure Dingvorhandenheit‹, sondern eine Bewandtnisganzheit bzw. eine bedeutsame Welt 512, d. i. die Seienden in ihrem Sein. Dies besagt: Das Korrelat hat nicht die Seinsart eines einzelnen Objekts, sondern eines Horizonts, d. h. das (erfahrene) Seiende weist sich als bedeutsam in einer Bedeutungsganzheit auf. Laut Heidegger gibt es für das Dasein Seiende nur, weil sich die Existenz selbst als Seinsverständnis vollzieht. Dies bedeutet: Nur wenn es Dasein bzw. Seinsverständnis gibt, kann es Seiende geben 513. Anders gesagt: Es gibt eine erfahrene (gelebte) Welt, nur wenn es ein erfahrendes (lebendiges) Seiendes (welches diese Erfahrung als Erfahrung von etwas Bedeutsames verstehen kann) gibt. Dieses Verständnis der ›Realität‹ (d. h. des Korrelats), so Heidegger, kann nur

Vgl. Herrmann, v., 2008, S. 47. Siehe auch Dastur, in Macann (Hrsg.), 2007a. Vgl. SZ, S. 85. 510 Vgl. ebd., S. 86 f. 511 Ebd., S. 210. 512 Vgl. SZ, S. 85. »Das Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis ist das Phänomen der Welt.« (Ebd., S. 86). 513 Vgl. SZ, § 43 insbes. S. 212; Siehe auch: GA 26, S. 195. 508 509

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in Bezug auf die Sorgestruktur richtig aufgefasst werden 514, was bedeutet, dass die Korrespondenz zwischen Dasein und Realität (d. i. zwischen Intentionalsein und intentionalem Korrelat) in dieser Struktur ausgewiesen werden muss. Die Sorge wird als Strukturganzheit des Seinsganzen des Daseins gedeutet. Sie muss folglich auf diese Korrespondenz hinweisen, d. h., sie muss zeigen, dass zum Intentionalsein des Daseins sowohl die horizontale Erschlossenheit der Welt als auch die selbsthaft-ekstatische Erschlossenheit des Inseins gehören 515. Die Sorgedefinition besagt: »Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden).« 516 Innerhalb der Klammern weist die Anzeige auf den intentionalen Horizont hin und zeigt mit den Ausdrücken ›Sich-vorweg (sein)‹, ›Schon-sein-in‹ und ›Sein-bei‹ die Weise an, in der sich das Dasein auf diesen Horizont bezieht. Die Definition der Sorge drückt dementsprechend die transzendentale Dynamik aus, die das Dasein ist. Die Ermöglichung dieser Dynamik bzw. Korrespondenz, d. i. des intentionalen Verhältnisses wird mit dem Begriff Zeitlichkeit ausgedrückt. In der Vorlesung vom Sommersemester 1927 schreibt Heidegger dazu: Weil die Zeitlichkeit die Grundverfassung des Seienden ausmacht, das wir Dasein nennen, zu welchem Seienden als Bestimmung seiner Existenz das Seinsverständnis gehört, und weil die Zeit den ursprünglichen Selbstentwurf schlechthin ausmacht, ist in jedem faktischen Dasein, wenn anders es

Vgl. SZ, S. 212. Heidegger zeigt hier, dass die Notion der Realität in Bezug auf das Intentionalsein des Daseins (d. i. das In-der-Welt-sein) interpretiert werden muss, und wenn man sie so versteht, zeigt sich die Realität als Welt, als das Worin des Inseins, oder anders gesagt als das Worauf des Intentionalseins (vgl. ebd., § 43). Diese phänomenologische These wird auch mutatis mutandis von Husserl vertreten. Nach Husserl zeigt sich die (ideale) Realität als Sinneseinheit (oder Bedeutungszusammenhang). Er drückt dieselbe Idee so aus: »Eine absolute Realität gilt genau so viel wie ein rundes Viereck. Realität und Welt sind hier eben Titel für gewisse gültige Sinneseinheiten, nämlich Einheiten des ›Sinnes‹, bezogen auf gewisse ihrem Wesen nach gerade so und nicht anders sinngebende und Sinnesgültigkeit ausweisende Zusammenhänge des absoluten, reinen Bewußtseins.« (Hua III/1, S. 120). Wie Husserl richtig betont, muss das Problem der Realität (Wirklichkeit) in Bezug auf das Intentionalsein (Intention und Horizont) interpretiert werden, damit es phänomenologisch konzipiert und ausgearbeitet werden kann (vgl. Hua I, S. 86). 515 In der Abhandlung Der Begriff der Zeit schreibt Heidegger: »Das Dasein ist immer auf etwas aus, das es in die Sorge gestellt hat.« (GA 64, S. 44. Eigene Betonung). Das Intentionalsein (auf etwas gerichtet sein) hat immer einen Horizont. 516 SZ, S. 192. 514

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§ 14 Der ursprüngliche Sinn des Intentionalseins: Die Zeitlichkeit

existiert, je schon Sein enthüllt, und das heißt: Seiendes erschlossen bzw. entdeckt. (GA 24, S. 453)

In SZ schreibt er: In ihr [d. i. in der zeitlichen Sorge] gründet die volle Erschlossenheit des Da. Diese Gelichtetheit ermöglicht erst alle Erleuchtung und Erhellung, jedes Vernehmen, ›Sehen‹ und Haben von etwas. Die ekstatische Zeitlichkeit lichtet das Da ursprünglich. (SZ, S. 350–351)

Heidegger schlägt die Zeitlichkeit als eine neue formale Anzeige vor, um die Sorge in ihrem ursprünglichen Sinn anzuzeigen. In § 65 von SZ definiert Heidegger die Zeitlichkeit als den Sinn der Sorge. Die Zeitlichkeit ist das, was die Ganzheit der Sorge ermöglicht 517. Dies bedeutet auch, dass sie die Möglichkeit des Bewendenlassens begründet 518. Die Analyse der Zeitlichkeit liefert die ursprüngliche Form sowohl des Sichrichten-auf (Intentionalität) als auch des Woraufhin (des intentionalen Korrelats, d. i. der Welt) 519. Laut Heidegger ist die ursprüngliche Zeit die (strukturelle) Zeit des Daseins. Die Zeitlichkeit-Anzeige weist auf diese Zeit hin. In der Vorlesung vom Sommersemester 1928 zählt Heidegger die Charakteristiken dieser ursprünglichen Zeit auf. Diese Charakteristiken können folgendermaßen zusammengefasst werden: 1. Die Zeit hat einen ekstatischen Charakter. 2. Die Zeit hat einen Horizontcharakter. 3. Die Zeit zeitigt. 4. Die Zeit ist die ursprüngliche Struktur des Daseins. 5. Die Zeit trifft das Dasein als In-der-Welt-sein 520. Der ekstatische Charakter der Zeit ist laut Heidegger die Weise, in der die Zeit transzendiert, d. i. die Weise, in der das Dasein zeitlich in der Welt bei Seienden ist, nämlich als ›Gewärtigen‹, ›Behalten‹ und ›Gegenwärtigen‹ 521, oder formal gesagt: Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart. Existenzial interpretiert sind diese die gründenden Momente der Sorge (des Draußenseins): »Das Sich-vorweg gründet in der Zukunft. Das Schon-sein-in… begründet in sich die Gewesenheit.

Vgl. ebd., S. 325–326. Ebd., S. 353. 519 Den Sinn der Sorge herauszustellen bedeutet dann, so Heidegger, »den der ursprünglichen existenzialen Interpretation des Daseins zugrundeliegenden und sie leitenden Entwurf so verfolgen, daß in seinem Entworfenen dessen Woraufhin sichtbar wird.« (SZ, S. 324). Siehe auch GA 24, S. 405 ff. 520 Vgl. GA 26, S. 256. 521 Vgl. ebd., S. 260 ff. 517 518

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Das Sein-bei… wird ermöglicht im Gegenwärtigen.« 522 Heidegger nennt diese Momente ›Ekstase‹ 523. Die Zeitlichkeit zeitigt bzw. vollzieht sich in der Einheit dieser Ekstasen: Die Zeitlichkeit zeitigt sich in jeder Ekstase ganz, das heißt in der ekstatischen Einheit der jeweiligen vollen Zeitigung der Zeitlichkeit gründet die Ganzheit des Strukturganzen von Existenz, Faktizität und Verfallen, das ist die Einheit der Sorge-struktur. (SZ, S. 350)

Sowohl in der Vorlesung von 1928 als auch in SZ definiert Heidegger die Momente der Zeitlichkeit im Gegensatz zu dem alltäglichen (›vulgären‹) Verständnis der Zeit 524. Die Zeitlichkeit drängt sich nicht der Sorge auf, sie zeigt sich schon in der Sorgestruktur (Sich-vorwegschon-sein-in als Sein-bei). Heidegger sagt: In der Sorgedefinition zeigen ›vor‹ und ›schon‹ die Zukunft und die Gewesenheit jeweils an, doch weder als ein ›Noch-nicht-jetzt‹ noch als ein ›Jetzt-nichtmehr‹ 525. Diese Interpretation der Zeit in Bezug auf das Jetzt legt ontologisch sowohl 1. das Dasein als etwas Vorhandenes in der Zeit als auch 2. die Zeit als eine Kette von ›Jetztmomenten‹ (Jetzt-Fluss) 526 aus. Beide Interpretationen treffen laut Heidegger nicht das Sein des Daseins: Sie interpretieren die Zeit und das Dasein als getrennte Seiende. Die Zeit wird als ›Weltzeit‹ ausgelegt und das Dasein wird als ein innerzeitliches Seiendes verstanden. Die Kritik ist ähnlich der zuvor erwähnten Kritik an dem ontologischen Verständnis eines weltlosen Subjekts. Eine Interpretation des Daseins und der Zeit als getrennte Seiende legt das Dasein als ein zeitloses Seiendes dar, welches (aufgrund seiner Weltzugehörigkeit) entweder Zeit hat oder in der Zeit geschieht. Laut Heidegger sind diese Interpretationen nicht arbiträr, sie gründen in den Weisen, in denen das Dasein zeitlich ist, d. i. in der Zeitigung 527 der Zeit. Im Umgang mit der besorgten Welt braucht das Dasein sich selbst, es braucht Zeit, es rechnet (seinen Umgang) mit der Zeit. Die ›vulgäre‹ Auslegung der Zeitlichkeit gründet in der Erfahrung der Zeit der Welt: Wir erfahren Objekte ›in einer SZ, S. 327. Mit diesem Ausdruck will Heidegger darauf hinweisen, dass die Zeitlichkeit »das ursprüngliche ›Außer-sich‹ an und für sich selbst« ist (SZ, S. 329). 524 Vgl. GA 26, S. 259 ff.; SZ, S. 325 ff. Zu Heideggers Zeitbegriff siehe Kisiel, 1983. 525 SZ, S. 327. 526 Vgl. ebd., S. 338; 406 ff.; 421 ff. 527 »Zeitigung ist die freie Schwingung der ursprünglichen ganzen Zeitlichkeit; Zeit erschwingt und verschwingt sich selbst.« (GA 26, S. 268). 522 523

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§ 14 Der ursprüngliche Sinn des Intentionalseins: Die Zeitlichkeit

Zeit‹, die wir errechnen können, und wir schließen daraus, dass wir selbst, so wie die Objekte, ›in der Zeit‹ sind. Heidegger schreibt: Das umsichtig-rechnende Besorgen entdeckt zunächst die Zeit und führt zur Ausbildung einer Zeitrechnung. […] Das innerweltliche Seiende wird so als ›in der Zeit seiend‹ zugänglich. […] Die an ihr zunächst ontisch gefundene ›Zeit‹ wird die Basis der Ausformung des vulgären und traditionellen Zeitbegriffes. Die Zeit als Innerzeitlichkeit aber entspringt einer wesenhaften Zeitigungsart der ursprünglichen Zeitlichkeit. (SZ, S. 333) 528

Aufgrund der zeitlichen Struktur des Seins des Daseins hat dieses Seiende die Möglichkeiten sowohl der Zeiterfahrung als auch der Erfahrung von zeitlichem Seiendem 529. So kann Heideggers These, dass sich die ›Weltzeit‹ in der Zeitlichkeit des Daseins bzw. in der Bedingung der Möglichkeit der Zeiterfahrung gründet, verstanden werden: Die Weltzeit ist nur, weil es Seinsverständnis bzw. Dasein gibt, welches zeitlich ist 530. Laut Heidegger gründet sich diese Interpretation in der alltäglich uneigentlichen Zeitigung der Zeitlichkeit. Die Zeit als Weltzeit, und damit als Rechnungszeit, ist nicht ein Charakter des daseinsmäßigen Seienden (siehe SZ, §§ 69, 71; 79–81). 529 »[N]ur mit der Zeitigung der Zeitlichkeit, mit dem Geschehen von Welteingang gibt es Zeit im vulgären Sinne, und nur sofern Welteingang geschieht und sonach innerweltliches Seiendes für Dasein offenbar wird, gibt es auch innerzeitiges Seiendes, solches das ›in der Zeit‹ verläuft.« (GA 26, S. 272). 530 Siehe SZ, §§ 78–80. Auch GA 64, S. 119. So könnte man sagen, dass der Fehler der traditionellen ontologischen Zeitanalyse ist, festzustellen, dass die Zeiterfahrung (die durch das zeitliche Sein des Daseins ermöglicht wird) in der Weltzeit gründet (vgl. SZ, § 81). Husserl begründete eine ähnliche These, als er in seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1905) die Zeit als Struktur des Bewusstseins und des Erlebnisses ausgelegte. Die ›Weltzeit‹ ist für Husserl durch die epoché interklammer gestellt, sodass die Analyse sich auf die Zeitobjekte und auf die zeitliche Struktur des Erlebnisses konzentrieren kann. Husserls erforscht die Zeitobjekte, wie z. B. eine Melodie, um anzuzeigen, dass das Erlebnis eines zeitlichen Objektes ebenfalls zeitlich ist (vgl. Hua X, S. 23 ff.). Zu diesem Erlebnis gehört eine Urimpression, die zugleich eine Retention (als Erinnerung) von vorherigen Impressionen mitträgt (vgl. ebd., S. 30 f.). Diese (Wahrnehmung und Erinnerung) sind aber nicht zwei verschiedene Akte. Husserl stellt fest, dass zu einer (›aktuellen‹) Wahrnehmung diese retentionale Struktur gehört (vgl. ebd., S. 35). Nun erkennt Husserl (1917/1918), dass zu dieser Struktur (Urimpression-Retention) auch ein Horizont (welcher aus Erwartungen konstituiert ist) gehört (vgl. ebd., S. 52 f.; Hua I, §§ 18–19, S. 82; zum Begriff des Horizonts in Husserls Phänomenologie siehe Fußnote Nr. 65 der vorliegenden Arbeit). Jede Wahrnehmung ›erfüllt‹ mit Erwartungen das, was nicht ›aktuell‹ wahrgenommen ist. Die intentionale Struktur des Bewusstseins ist so zeitlich (Retention, Urimpression und Protention) (vgl. Hua X; I, § 18–20; III/1, §§ 81–82). Siehe auch Hua XXXIII. Zur Kritik Heideggers an Husserls Zeitanalyse siehe GA 26, S. 263–264. 528

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Die Zeit des Daseins ist laut Heidegger nicht. Es ist kein Seiendes (welches vom Dasein getrennt ist), sondern, wie Heidegger in der Vorlesung vom Sommersemester 1925 sagt: »Dasein zeitigt qua Zeit sein Sein.« 531 Zeit in diesem Sinne »ist das, was das Sich-vorweg-sein-imschon-sein-bei, d. h. was das Sein der Sorge möglich macht.« 532 Die Zeit ist kein Seiendes, sondern die Seinsweise bzw. Vollzugsweise des Existierens. Laut Heidegger ist das Dasein dasjenige Seiende, das den Zeithorizont konstituiert, sodass den innerweltlichen Seienden zeitlich begegnet werden kann. Das Dasein kann diesen Horizont konstituieren, nur weil es selbst zeitlich ist. Die Zeit und die Ekstasen müssen in Bezug auf die Ergebnisse der In-der-Welt-sein-Analyse interpretiert werden. Heidegger schreibt in der Vorlesung von 1928: Gewärtigen besagt: sich selbst aus dem eigenen Seinkönnen verstehen; […] Dieses im Vorweg liegende Auf-sich-zu aus der eigenen Möglichkeit ist der primäre, ekstatische Begriff der Zukunft. […] Dieses Auf-sich-zukommen aber erstreckt sich als solches nicht etwa auf eine momentane Gegenwart meiner, sondern auf das Ganze meines Gewesenseins. Genauer – und das ist unsere These: diese Gewesenheit zeitigt sich nur aus und in der Zukunft. […] Und erst in der ekstatischen Einheit von Zukunft und Gewesenheit zeitigt sich das Gegenwärtigen. (GA 26, S. 266–267)

Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des Intentionalseins des Daseins (des ›Außer-sich an und für sich selbst‹): ›Auf-sich-zu‹, ›Zurück auf‹ und ›Begegnenlassen von‹ 533. Die intentionale Begegnung von Seienden vollzieht sich in einem dreifachen Bezug zum Worumwillen 534, zu dem jeweiligen konkreten (faktischen) Möglichkeitshorizont und zu den situativ erschlossenen Seienden. Die Seinsstruktur des Daseins ermöglicht die Zeiterfahrung, weil sie zeitlich ist: Das Dasein ist zukünftig, insofern es immer über sich hinaus existiert; d. i., insofern es sich auf MöglichGA 20, S. 442. Ebd. 533 Vgl. SZ, S. 328–329. 534 Heidegger argumentiert, dass die Zukunft in der Zeitigung Vorrang hat, weil sowohl die Gewesenheit als auch die Gegenwart auf dem Worumwillen des Daseins gründen. Er schreibt: »Die Zeitlichkeit zeitigt sich primär aus der Zukunft. Das besagt: das ekstatische Ganze der Zeitlichkeit und damit die Einheit des Horizonts ist primär aus der Zukunft bestimmt. […] [Dies bedeutet, dass] die Welt […] sich primär aus dem Umwillen zeitigt. Dieses Umwillen ist je das Umwillen des Willens, der Freiheit, d. h. des transzendierenden Zu-sich-selbst-seins.« (GA 26, S. 273). 531 532

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§ 14 Der ursprüngliche Sinn des Intentionalseins: Die Zeitlichkeit

keiten entwirft. Dieser Entwurf gründet immer in seiner Faktizität, und somit in den gewesenen Möglichkeiten, die das Dasein ›gewesen ist‹. Die Faktizität bzw. das Gewesensein ist nicht etwas, das das Dasein war und nicht mehr ist, sondern das, was das Dasein in seinem Entwurf immer noch trägt. Zukunft und Gewesenheit, oder anders gesagt, ein geworfener Entwurf ist allerdings nur in einer Welt, worin Seienden begegnet werden kann. Die Gegenwart ist nicht ein formales Jetzt, welches von einem anderen formalen Jetzt gefolgt wird. Sie ist vielmehr Situation, d. i. geöffnete Welt bezüglich des jeweiligen Worumwillens und des jeweiligen Sichbefindens des jeweiligen Daseins. Das Dasein ist stets in-der-Welt und so immer horizontal-transzendent. Zur Zeitlichkeit gehört ein Horizontcharakter. Laut Heidegger muss ›Horizont‹ hier als Umschluss verstanden werden. Damit ist gemeint, dass der Horizont nicht auf einen Akt bezogen ist. Der Horizont ›ist‹, so Heidegger, die Ekstema der Ekstasen, er ›zeitigt‹ mit den Ekstasen 535. Heidegger schreibt: »Die ekstematische Einheit des Horizonts der Zeitlichkeit ist nichts anderes als die zeitliche Bedingung der Möglichkeit der Welt und ihrer wesenhaften Zugehörigkeit zur Transzendenz.« 536 Nun stellt Heidegger damit drei Punkte fest: 1. Die Ekstase sind horizontal, d. h., dass die Transzendenz ekstatisch-horizontal ist; 2. Welt (d. i. Horizont) gibt es nur für ein zeitkonstituierendes Seiendes; 3. Die Konstitution des Horizonts (Heidegger nennt sie ›Welteingang‹ 537) wird durch die Zeitigung der Zeitlichkeit ermöglicht. In diesem ursprünglichen Sinn kann gesagt werden, dass die Welt nicht ›ist‹, oder, dass die Welt ›Nichts‹ ›ist‹: Die Welt ›ist‹ kein Seiendes, sondern die Welt zeitigt als Horizont 538. Heidegger untersucht diesen Horizontcharakter der Zeitlichkeit in § 69, c. SZ. Er führt drei Hauptthesen ein: 1. »Die existenzial-zeitliche Bedingung der Möglichkeit der Welt liegt darin, daß die Zeitlichkeit als ekstatische Einheit so etwas wie einen Horizont hat.« 539 Vgl. GA 26, S. 269. Ebd. 537 Vgl. GA 26, S. 270. »Und nur wenn [der Welteingang] geschieht, kann Seiendes als Seiendes sich offenbaren.« (Ebd., S. 274). 538 In diesem Sinne nennt Heidegger die Welt das nihil originarium (vgl. GA 26, S. 272). Seit dem Kriegsnotsemester von 1919 hält Heidegger diese These mit dem Ausdruck ›die Welt weltet‹ fest (vgl. GA 56/57, § 14). 539 SZ, S. 365. 535 536

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

2. Zu den Ekstasen gehört ein ›Wohin‹ der Entrückung (d. i. ein ›horizontales Schema‹). 3. »Der ekstatische Horizont ist in jeder der drei Ekstasen verschieden.« 540 Dazu argumentiert Heidegger: Das Schema der Zukunft des Daseins ist das Umwillen seiner, das Schema der Gewesenheit ist das Wovor der Geworfenheit bzw. das Woran der Überlassenheit und das Schema der Gegenwart ist das Um-zu 541. Die Einheit dieser Schemata beschreibt die Welt bzw. das Woraufhin des Intentionalseins. Die Welt, so Heidegger, ist aufgrund der Zeitigung der Zukunft und der Gewesenheit 542. Dies bedeutet, dass die Erschlossenheit (und Entdeckung) der Seienden möglich ist, weil das Dasein sich auf Möglichkeiten aus seiner Faktizität entwirft. Die existenziellen Möglichkeiten eines Verhaltens mit Seienden (d. i. praktisches Besorgen und theoretisches Besorgen) »setzen schon Welt voraus« 543: Die »Welt [ist] transzendent« 544: In der horizontalen Einheit der ekstatischen Zeitlichkeit gründend, ist die Welt transzendent. Sie muß schon ekstatisch erschlossen sein, damit aus ihr her innerweltliches Seiendes begegnen kann. […] Mit der faktischen Existenz des Daseins begegnet auch schon innerweltliches Seiendes. Daß dergleichen Seiendes mit dem eigenen Da der Existenz entdeckt ist, steht nicht im Belieben des Daseins. Nur was es jeweils, in welcher Richtung, wie weit und wie es entdeckt und erschließt, ist Sache seiner Freiheit, wenngleich immer in den Grenzen seiner Geworfenheit. (SZ, S. 366)

Die Welt gehört zum Sein des Daseins: Das Intentionalsein ist nicht nur ekstatisch, sondern auch horizontal, d. h., die Transzendenz ist Transzendenz sowohl des Daseins als auch der Welt. Es ist nicht so, dass das Dasein transzendiert und dann eine Welt entdeckt, sondern vielmehr so, dass das Dasein als horizontales Seiendes, d. i. als Welt transzendiert.

Ebd. Vgl. ebd. 542 Wie Pöggeler behauptet, »[ist] [d]er Horizont aber nicht etwas, das man willkürlich entwerfen könnte. Das seinsverstehende Dasein ist, wie ›Sein und Zeit‹ darlegt, als entwerfendes geworfen; erst Geworfenheit und Entwurf zusammen eröffnen in ihrer Artikulation Horizonte.« (Pöggeler, 1980, S. 143). 543 SZ, S. 365. 544 Ebd., S. 366. 540 541

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§ 14 Der ursprüngliche Sinn des Intentionalseins: Die Zeitlichkeit

α.

Die drei Korrelate des Intentionalseins: Selbst-, Mit- und Umwelt

Heideggers Phänomenologie hält fest, dass das Korrelat eines intentionalen Umgehens nie ein (intentionales) Objekt, sondern eine Welt ist. Ein intentionales Objekt ist der Korrelatmodus eines defizienten 545 intentionalen Verhaltens, nämlich des Theorisierens (der Kontemplation, des Bestimmens etc.). Im praktischen Umgehen bzw. im Leben ist das Korrelat (das Woraufhin bzw. Worin des Lebens) die Welt. In der Vorlesung vom Wintersemester 1920/1921 schreibt Heidegger: Sehen wir die faktische Lebenserfahrung nur nach der Richtung des erfahrenen Gehalts an, so bezeichnen wir das, was erfahren wird – das Erlebte –, als ›Welt‹, nicht als ›Objekt‹. ›Welt‹ ist etwas, worin man leben kann (in einem Objekt kann man nicht leben). Die Welt kann man formal artikulieren als Umwelt (Milieu), als das, was uns begegnet, wozu nicht nur materielle Dinge, sondern auch ideale Gegenständlichkeiten, Wissenschaften, Kunst etc. gehören. In dieser Umwelt steht auch die Mitwelt, d. h. andere Menschen in einer ganz bestimmten faktischen Charakterisierung: als Student, Dozent, als Verwandte, Vorgesetzte etc. – nicht als Exemplare der naturwissenschaftlichen Gattung homo sapiens u. ä. Endlich steht auch das Ich-Selbst, die Selbstwelt, in der faktischen Lebenserfahrung. […] Man kann aber die Phänomene nicht schroff voreinander abgrenzen, als losgelöste Gebilde betrachten, nach ihrem gegenseitigen Verhältnis fragen, sie in Gattungen und Arten einteilen usw. Das wäre schon eine Verunstaltung, ein Abgleiten in Erkenntnistheorie. (GA 60, S. 11)

Eine wichtige phänomenologische These kann nun aufgestellt werden: Da das ursprüngliche Gerichtetsein ein Worumwillen ist, ist das ursprüngliche Korrelat kein Objekt, sondern eine Welt 546. Diese Welt ist, wie Heidegger betont, kein Seiendes, sie ›ist‹ (bzw. vollzieht sich als) ein Bedeutungshorizont. Deswegen sagt Heidegger: Die Welt ist nie, sondern sie weltet 547. Die Welt ›weltet‹ in verschiedenen WeiZu diesem Begriff bei Heidegger siehe Hartmann, 1974. Bezüglich dieser These schreibt Sheehan: »Here is Heidegger’s transformation of the transcendental correlation of Husserl’s phenomenology: no longer a correlation of cognitive noesis and noema, but rather one of lived experience on the one hand and modalities of world (i. e. lived meaning) on the other.« (Sheehan, Heidegger on Phenomenology, S. 316; zitiert in Imdahl, 1997, S. 134, Fußnote Nr. 270). 547 GA 9, S. 164. Diese These wurde schon seit dem Kriegsnotsemester 1919 vertreten (vgl. GA 56/57, § 14). 545 546

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sen bezüglich des gerichteten Seienden 548. Heidegger unterscheidet analytisch zwischen Selbst-, Mit- und Umwelt. Diese Unterscheidung ist theoretisch und vollzieht sich nicht in dem Seienden: Es ist nicht so, dass sich das Dasein in einem ersten Moment in einer inneren (Selbst)Welt bzw. in der geschlossenen Sphäre der Selbstheit erfährt und sich danach einer äußeren Welt mit anderen Menschen und Dingen öffnet, es ist vielmehr so, dass die Selbstheit, wie schon gesagt wurde, von der Um- und Mitwelt abhängt 549, mit anderen Worten, wird sie in einer Beziehung zur Welt konstituiert 550. Obwohl die Welt theoretisch in diese drei Welten unterteilt werden kann, wird sie im faktischen Leben als eine Ganzheit erfahren 551. Das, was die Einheit der Welt ermöglicht, ist das ekstatisch-horizontale Sein des Daseins. Die Zeitlichkeit und die Zeitigung dieser Zeitlichkeit ist das, was laut Heidegger die ›Unabgehobenheit‹ dieser Welten produziert 552. Heidegger erkennt sehr früh (in den frühen Freiburger Vorlesungen), dass die Sorge, als Verweisungssein des faktischen Lebens, unterschiedliche Weisungen bedingt, dieselben, die in ihren ›Ausprägung‹ enthüllen, dass die gelebte Welt aus verschiedenen Momenten besteht. Heidegger nennt diese Momente ›Sorgenwelten‹ 553. Die Sorgenwelten werden abhängig von dem besorgten Seienden eingesetzt. Die Unterscheidung zwischen Selbst-, Mit- und Umwelt ist dann, obwohl theoretisch, keine Caprice, sondern eine Forderung der intentionalen Struktur des Lebens selbst. Die »Unterscheidung nimmt den Sinn aus der Ausprägung (dem Möglichkeits- und Zeitigungscharakter) der Sorgenweise, die selbst verschieden motiviert sein kann.« 554 Doch bedeutet dies nicht, dass sie als drei »absolut ausgegrenzte Wirklichkeitsbereiche« verstanden werden sollen 555. Wie an anderer

Im Natorp Bericht schreibt Heidegger: »Die Welt artikuliert sich nach den möglichen Sorgensrichtungen als Umwelt, Mitwelt und Selbstwelt.« (GA 62, S. 352). 549 Vgl. GA 58, S. 33 ff.; GA 60, S. 13; GA 61, S. 98; GA 63, S. 102 ff. 550 Vgl. GA 9, S. 157. 551 De Lara erklärt: »[…] im faktischen Lebensvollzug [sind] Um-, Mit- und Selbstwelt miteinander – und außerdem auch jeweils mit einem Bezugs- und Vollzugssinn gleichsam verschmolzen.« (De Lara, 2008, S. 47). 552 Vgl. GA 61, S. 95. 553 Heidegger schreibt: »Das volle Leben, es je in einer Welt, kann in ausgeprägten Weisungen sich vollziehen. Mit der Ausprägung der Weisungen des Sorgens kommt es zur Abhebung je besonderer Sorgenwelten.« (GA 61, S. 94). 554 GA 61, S. 94. 555 Vgl. ebd. 548

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§ 14 Der ursprüngliche Sinn des Intentionalseins: Die Zeitlichkeit

Stelle bereits erwähnt, ist die Wirklichkeit des Daseins die Welt als Ganzes. Nun ist die Welt, wenn die Sorge von dem Selbst motiviert ist, d. h., wenn die bestimmte erfahrende Bedeutsamkeit diejenige ist, die auf das Selbst als Korrelat einer Erfahrung in der Welt fällt, eine Selbstwelt 556. In so einem Ansatz soll weder die Selbstwelt mit dem ›Ich‹ identifiziert werden 557 noch das Ich als Substanz verstanden werden 558. Aber Letzteres meint auch nicht, dass die Erfahrung kein ›Zentrum‹ aufweist. Es besagt vielmehr: Das faktische ›Ich-Zentrum‹ konstituiert sich selbst aus der gelebten Welt als Zentrum der Erfahrung und erlegt sich der Welt nicht als ›schon konstituierte Substanz‹ auf. Wie vorher erwähnt wurde, geschieht eigentlich die Selbsterfahrung durch die Welterfahrung und das Ich konstituiert sich in Bezug auf die Mit- und Umwelt 559: Dies Sich-Selbst-Erfahren ist nicht theoretische ›Reflexion‹, ist nicht ›innere Wahrnehmung‹ u. ä., sondern selbstweltliche Erfahrung, weil das Erfahren selbst einen weltlichen Charakter hat, bedeutsamkeitsbetont ist, so zwar, daß die eigene erfahrene Selbstwelt faktisch gar nicht mehr von der Umwelt abgehoben ist. (GA 60, S. 13) 560

Das Worumwillen als primäres Gerichtetsein zeigt, dass das Dasein zunächst kein Ich-Pol ist, der sich einem intentionalen Objekt auf-

Eine vollständige Darstellung der Selbstwelt findet man in Hoffmann, 2005, S. 197–206. 557 GA 61, S. 94. 558 De Lara betont: »Das faktische Ich ist keine feste In-stanz bzw. Sub-stanz, die alle ihre Gehalte ausdrücklich bestimmt. Das Selbst der Erfahrung ist gerade im Gegenteil eine, wie Heidegger es ausdrückt, ›labile Zuständlichkeit‹ (Vgl. GA 58, S. 39; 57; 59 ff.; 64), die in diesen Gehalten lebt und die sich aus ihnen versteht.« (De Lara, 2008, S. 51). 559 Schon früh in seinen Untersuchungen erkannt Heidegger, dass das faktische Leben sich in Bezug auf die Andere und auf die besorgten Seienden versteht, da das Selbst sich nicht durch eine Reflexion, sondern durch die Welterfahrung versteht und da diese erfahrende Welt Um- und Mitwelt ist. In diesem ontischen Tatbestand gründet die ontologische These des Man. Zur Behandlung dieser These in den frühen Freiburger Vorlesungen siehe z. B. GA 62 B, S. 358 u. GA 63, S. 31 f.; 85. 560 De Lara erklärt: »Das Selbst erfährt sich also in der faktischen Lebenserfahrung als Selbstwelt […]. In dieser Erfahrung [der Welt] begegnen nicht nur andere Menschen und umhafte Gegenstände und Gegenden als bedeutsame Welt, sondern auch das erfahrende Selbst begegnet zunächst auf diese Weise, als Selbstwelt.« (De Lara, 2008, S. 50). Siehe auch: GA 61, S. 95; De Lara, 2008, S. 50–51, Fußnote Nr. 66; Rodríguez, 1996, S. 62 u. Rodríguez, 1997b, S. 80. 556

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

erlegt. Der Begriff Selbstwelt weist auf die Erfahrung des Selbst, welche immer von der Welt motiviert wird, hin: »Selbstwelt ist die Welt, in der ich mir weltmäßig begegne, in der ich irgendwie mit dabei bin, mitgenommen werde, in der etwas mir ›passiert‹, worin ›ich‹ wirke.« 561 Die Selbstwelt ist gleichzeitig Umwelt und Mitwelt, oder anders gesagt, mit der Selbstwelt sind auch Mit- und Umwelt ›da‹ 562. Im besorgenden Umgehen in der Welt geht das Dasein bei Seienden mit anderen Existierenden um. Heidegger hält fest, dass beide, Mit- und Umwelt, in der Selbstwelt zentriert sind: Mitmenschen, die ›mit‹ mir, ›mit denen ich‹ selbst lebe […]. Ich führe jemanden in der jetzigen Dunkelheit nach Hause; esse mit ihm zu Mittag; ich leihe ihm ein seltenes Buch; ich schreibe Briefe, telefoniere; ich trage dieses Kleid für den Anderen, für eine Abendgesellschaft, für ›ins Theater‹. (GA 58, S. 56) 563

Mit Hilfe all dieser Spezifikationen kann man das Ich als ›Zentrum‹ verstehen 564, d. h. als Selbstleben: als, wie De Lara erklärt, »dasjenige, in dem jeder Erfahrungsgehalt zentriert, d. h. dasjenige, das nicht nur die selbstweltlichen, sondern alle Gehalte erfährt.« 565 Ich-Zentrum meint hier kein isoliertes Ich, welches dem Erfahrenden gegenübersteht (d. i. Ich-Pol). Das Ich ist immer in-der-Welt bzw. situativ: [D]ie Lebenswelt, die Umwelt, Mit- und Selbstwelt ist gelebt in einer Situation des Selbst. […] Die Lebenswelt bekundet sich in den und den Weisen in und für eine jeweilige Situation der Selbstwelt. Diese labile, fließende Zuständlichkeit der Selbstwelt bestimmt als Situationscharakter immer das ›Irgendwie‹ der Lebenswelt. (GA 58, S. 62)

Die Selbstwelt weltet dann immer als Umwelt. Deswegen argumentiert Heidegger, dass »das ›Um‹ die kategoriale Determination von GA 61, S. 95–96. Vgl. GA 61, S. 94. 563 Siehe auch GA 61, S. 96. 564 De Lara schreibt: »Die Welt, in der das faktische Leben lebt, die es jeweils ist, ist wie gesagt immer seine jeweilige Welt, d. h. eine, wo alles immer für es bedeutet. […] Das erfahrende Selbst ist also nicht nur Gehalt der faktischen Lebenserfahrung, sondern auch dasjenige, dem jeder dieser Gehalte irgendwie zumute ist, für das diese irgendwie bedeutsam sind, d. h. dasjenige, das sich zu jedem Gehalt dieser Erfahrung irgendwie bezieht.« (De Lara, 2008, S. 51–52). 565 De Lara, 2008, S. 224–225. 561 562

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§ 14 Der ursprüngliche Sinn des Intentionalseins: Die Zeitlichkeit

Welt [ist], in der sorgendes Leben lebt« 566. Mit der ›Um‹-Anzeige weist Heidegger auf den Verweisungscharakter des Lebens hin: Das Leben bezieht sich immer auf sich selbst, auf die Anderen und auf die Seiende 567. Das Selbst, die Anderen und die Seienden als Welt d. i. als ursprüngliches Korrelat des Lebens haben die Charaktere der Bedeutsamkeit und der Bekundung 568. Sie sind nicht Objekte, sondern relationale (horizontale) bekundende Bedeutsamkeiten. Das Ich ist primär in der Beziehung zu Anderen und zu Seienden: Ich verstehe mich als Sohn, Autor, Lehrer usw. Diese (Selbst-)Welt drückt sich aber als Mitwelt aus: Ich bin Sohn meiner Mutter, ich schreibe für einen Leser, ich diskutiere mit den Studenten. Die Anderen (und mit ihnen auch das Ich) erscheinen in dieser Beziehung, wie Heidegger sagt, nicht als »Exemplare der naturwissenschaftlichen Gattung homo sapiens«, sondern »in einer ganz bestimmten faktischen Charakterisierung« 569 In dieser (praktischen) Beziehung erscheinen die Dinge als bedeutsame Zeuge, die das praktische Milieu bzw. den praktischen Kontext konstituieren und in dem die zwischenmenschliche Beziehung stattfindet: Das Katheder ist, so wurde bereits erwähnt, der »Platz für den Lehrer« 570. Diese Beziehungen werden vom faktisch bedingten Entwurf bzw. von der Zeitlichkeit ermöglicht. Nur, weil ich mich auf die Möglichkeit des Lehrens entwerfe, kann es so etwas wie ›meinen Platz im Vorlesungssaal‹ und ›meine Studenten‹ geben. Das (geworfene) Worumwillen, so wurde argumentiert, konstituiert die Wirklichkeit und so die Welten, in denen man lebt. Die Analyse des Intentionalseins kommt mit dem folgenden Ergebnis zum Ende: Das Dasein ist kein weltloses zeitloses bzw. horizontloses Seiendes, es ist vielmehr immer sein Horizont, und zwar als verstehendes (zukünftiges) bestimmtes (gewesenes) und gemeinsamhorizontal-konstituiertes (situationelles: gegenwärtiges) Intentionalsein. Das Selbst-Verständnis (das Sich-auf-das-Selbst-Richten) konstituiert sich aus diesem Intentionalsein. Die Frage nach dem Wer der Alltäglichkeit (und so des alltäglichen ethischen Verständnisses) ist eigentlich nur zu beantworten, wenn man sie gleichzeitig als eine

566 567 568 569 570

GA 61, S. 129. Vgl. GA 58, S. 33 ff.; GA 61, S. 98; GA 63, S. 102 ff. Vgl. De Lara, 2008, S. 48–49. GA 60, S. 11. Eigene Betonung. GA 56/57, S. 70–73.

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Frage nach dem Wie dieses Wer bzw. als eine Frage nach dem Intentionalsein versteht.

§ 15 Die erreichte hermeneutische Situation: das Intentionalsein und die Problematik des Ethischen Die vorliegende Arbeit interpretiert das Verständnis des Ethischen in Bezug auf die Struktur des In-der-Welt-seins. Der Vorgriff und die Vorsicht drehen sich um die Problematik der Transzendenz. Die ἔθος-ἦθος Anzeige hat die Aufgabe, die Intepretation dieser Problematik mit der Problematik des Verständnisses des Ethischen in Verbindung zu bringen: Ziel der Untersuchung ist es, die transzendentale Dynamik zwischen dem transzendierenden Seienden (d. i. dem Dasein) und dem transzendierten Horizont (d. i. Welt) zu analysieren und das Verständnis des Sinn des Ethischen in dieser Dynamik zu erklären. Die Struktur (In-der-Welt) (-sein) weist auf ein Seiendes hin, welches in einem Horizont (In-der-Welt-; ἔθος) in einer bestimmten Art und Weise existiert (-sein; ἦθος). Die Analysen des Intentionalseins in Bezug auf die Daseinsontologie dienen als Erklärung dieser ›Art und Weise‹. Diese Erklärung begann mit einer Charakterisierung des Daseins als Existierendes und entwickelte sich, durch die Analysen des Intentionalseins in Kap. 1 dieses Teils, zu einem Verständnis dieser Existenz als eine ekstatisch-horizontale Existenz. Dieses Verständnis wird im Folgenden unter dem Begriff Freiheit zusammengefasst. Heidegger betont, dass die Freiheit des Daseins nicht primär kausal als das Ursache-Sein der eigenen Haltung (d. i. Spontanität) interpretiert werden darf 571. Freiheit soll vielmehr durch die Begriffe Heidegger steht einem Kasualverständnis der Freiheit kritisch gegenüber. Damit kritisiert er eine lange Tradition, die mit Kant zu ihrem Höhepunkt gelangte. Wie Leibniz, beginnt Kant die Freiheitsproblematik aus dem principium rationis sufficientis und damit aus einer Naturnotwendigkeit heraus (vgl. Kant, KrV, S. A 542/B 570). In diesem Zusammenhang steht das Problem des Kausaldeterminismus. Laut Kant ist die Lösung dieses Problems, dass die Freiheit in der Fakultät der Vernunft liegt und, da diese sich a priori vollzieht, nicht im Widerspruch zum empirischen Determinismus steht. Die Freiheit ist kein ›Phänomen‹ und deswegen ist sie nicht von den sensiblen Bedingungen determiniert. »Die Vernunft ist also die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint.« (Ebd., S. A 553/B 581). Die Kausalität der Vernunft bedingt keine zeitliche Reihenfolge, und so handelt die reine Vernunft »mithin frei, ohne in der Kette der Naturursachen, durch äußere

571

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§ 15 Die erreichte hermeneutische Situation

Transzendenz, Nichtigkeit und Frei-(in der Wahrheit)-Lassen verstanden werden. In den Analysen des erschließenden Moments des Verstehens wurde argumentiert, dass Freiheit primär als Transzendenz ausgelegt werden sollte und dass Transzendenz nicht als das Verlassen der Immanenz, sondern als die untrennbare Beziehung zwischen Seinkönnen und Welterschließung interpretiert werden sollte. Außerdem wurde argumentiert, dass sie die Bedingung alles Verhaltens und jedes Verhältnisses zu den Seienden ist. Diese zwei Thesen werden von Heidegger unter dem Begriff Worumwillen bzw. Umwillen subsumiert. In der Abhandlung Vom Wesen des Grundes heißt es:

oder innere aber der Zeit nach vorhergehende Gründe, dynamisch bestimmt zu sein, und diese ihre Freiheit kann man nicht allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen ansehen, (denn dadurch würde das Vernunftvermögen aufhören, eine Ursache der Erscheinungen zu sein,) sondern auch positiv durch ein Vermögen bezeichnen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, so, daß in ihr selbst nichts anfängt, sondern sie, als unbedingte Bedingung jeder willkürlichen Handlung, über sich keine der Zeit nach vorhergehende Bedingungen verstattet, indessen daß doch ihre Wirkung in der Reihe der Erscheinungen anfängt, aber darin niemals einen schlechthin ersten Anfang ausmachen kann.« (Ebd., S. A 553–554/B 581–582). Kant versteht so die Freiheit in Bezug auf die Kausalthese: die Freiheit ist einerseits absolute Spontanität, andererseits ist sie Selbstbestimmung oder Autonomie des Willens. Heidegger kritisiert Kants Ansatz und sagt, dass diese Freiheit nichts anderes als eine bestimmte Form der natürlichen Kausalität ist. Heidegger lehnt ein Kausalverständnis der Freiheit ab (vgl. GA 31, S. 191–192). Laut Heidegger leitet sich die Kausalität von der Freiheit ab und nicht andersherum (ebd., S. 303). Er führt zwei Gründe an, um zu argumentieren, dass der Kausalansatz nicht mit der menschlichen Freiheit kongruiert: 1. Eine ursächliche Erklärung der Freiheit interpretiert das Dasein als etwas Vorhandenes (vgl. ebd., S. 163). 2. Eine Ursache ist nur verständlich, weil es bereits ein Seinsverständnis gibt und die Freiheit »ist die Bedingung der Möglichkeit der Offenbarkeit des Seins von Seiendem, des Seinsverständnisses.« (vgl. ebd., S. 302– 303). Zur Heideggers Diskussion des kantischen Freiheitsbegriffs siehe: Schalow, en Raffoul; Pettigrew, 2002, S. 31 ff.; Esposito, 2004; Moyse, 1992, S. 112 ff. Heideggers Notion der Freiheit ändert sich in der Entwicklung seiner Philosophie. Eine vollständige Darlegung dieses Begriffs übersteigt den Rahmen dieser Arbeit, jedoch kann erwähnt werden, dass sich drei Hauptgedanken durch die verschiedenen Transformationen ziehen: 1. Man darf die Freiheit nicht in Zusammenhang mit dem Kausalitätsansatz verstehen bzw. in Zusammenhang mit dem Willen. 2. Die Freiheit ist keine Eigenschaft des Daseins, sondern gehört zur Seinsart dieses Seienden (in SZ; GA 26), zur Offenheit des Seins, zur Lichtung des Seins (vgl. GA 9, S. 187 ff.; GA 31; GA 42, S. 10–11). 3. Die Freiheit ist mit der Wahrheit verbunden (GA 31, S. 134 f.; GA 7, S. 24–25; GA 9, S. 187 ff.). Dazu siehe Rodríguez, 2006, S. 124; Inwood, 1999, S. 75–76; Guignon, 2011; Dallmayr, 1984; Nancy, 1996, S. 46–54; Golob, 2014. HanPile, 2013; Nichols, 2000; Jaran, 2010; Tietjen, 1997.

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Alle Verhaltungen sind in der Transzendenz verwurzelt. Jener ›Wille‹ aber soll als und im Überstieg das Umwillen selbst ›bilden‹. Was nun aber seinem Wesen nach so etwas wie das Umwillen überhaupt entwerfend vorwirft und nicht etwa als gelegentliche Leistung auch hervorbringt, ist das, was wir Freiheit nennen. Der Überstieg zur Welt ist die Freiheit selbst. Demnach stößt die Transzendenz nicht auf das Umwillen als auf so etwas wie einen an sich vorhandenen Wert und Zweck, sondern Freiheit hält sich – und zwar als Freiheit – das Umwillen entgegen. In diesem transzendierenden Sichentgegenhalten des Umwillen geschieht das Dasein im Menschen, so daß er im Wesen seiner Existenz auf sich verpflichtet, d. h. ein freies Selbst sein kann. […] Freiheit allein kann dem Dasein eine Welt walten und welten lassen. Welt ist nie, sondern weltet. (GA 9, S. 163–164)

Hier macht Heidegger sehr deutlich, dass das Worumwillen die ›Urform‹ des Transzendierens ist; jedes intentionale Verhalten ist eine Form des Umwillens. Freiheit als Umwillen ist Transzendenz bzw. ein Überstieg zur Welt. Dies geschieht, wie schon erwähnt, in der Art und Weise eines Seinkönnens, welches eine Selbstbeziehung aufweist. In der Abhandlung betont Heidegger ebenfalls, dass die Freiheit die »Ermöglichung von Bindung und Verbindlichkeit überhaupt« ist 572. In der Freiheit bindet sich das Dasein an sich selbst und an die Welt, d. i. an die Seienden und an die anderen Existierenden. Heidegger schreibt diesbezüglich in der Vorlesung vom Sommersemester 1928: Die Freiheit macht das Dasein im Grunde seines Wesens ihm selbst verbindlich, genauer: gibt ihm selbst die Möglichkeit der Bindung. Das Ganze der im Umwillen liegenden Bindung ist die Welt. Gemäß dieser Bindung bindet sich das Dasein an ein Seinkönnen zu sich selbst als Mitseinkönnen mit Anderen im Seinkönnen bei Vorhandenem. Selbstheit ist die freie Verbindlichkeit für und zu sich selbst. (GA 26, S. 247)

Darüber hinaus wird in der Vorlesung klar, dass die Freiheit nicht nur die Beziehung zwischen Seinkönnen und Welterschließung umfasst, sondern auch bestimmt, dass diese Beziehung immer in Verbindung mit einem Verständnis des Selbst zu sehen ist. Laut Heidegger ist die Freiheit »Freiheit zum Grunde«, und dies besagt: »Freisein ist Sichverstehen aus dem eigenen Seinkönnen […] in den Grundmöglichkeiten des transzendierenden Daseins, im Mitseinkönnen mit Anderen, im Seinkönnen bei Vorhandenem, im je faktischen existenziellen

572

GA 9, S. 164. Siehe auch SZ, S. 247.

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§ 15 Die erreichte hermeneutische Situation

Seinkönnen zu sich selbst.« 573 Die Freiheit bzw. die Transzendenz muss demnach als die Einheitliche Beziehung zwischen Seinkönnen, Welterschließung und Selbstverständnis aufgefasst werden. Selbstverständnis ist allerdings, so wurde schon mehrmals argumentiert, Weltverstädnis. Das Dasein existiert als ein Grund (bzw. ein ›Spielraum‹, d. i. Welt), in dem nicht nur eine Beziehung zu sich selbst, sondern auch zu anderen Existierenden und zu innerweltlichen Seienden ermöglicht wird. Die Sorge bezieht sich auf das Selbst, auf die Anderen und auf die innerweltlichen Seienden und konstituiert aus dieser Beziehung heraus die Selbst-, die Mit- und die Umwelt. Die Welt ›ist‹ nicht etwas Vorhandenes, sondern sie weltet: Sie geschieht in der Form eines Horizonts bzw. als das Worauf des Transzendierens. Sie ist der Horizont, in dem nicht nur das Tun, sondern auch das Denken und das Verstehen geschehen. Letzteres wird in der Vorlesung 1928 deutlich betont: Die Freiheit konstituiere den Sinn, welcher die Erschließung von Etwas als Etwas ermöglicht, und zwar aufgrund der Möglichkeiten, sich für dieses Etwas entscheiden zu können und diese Entscheidung begründen zu können 574. Sie bildet den möglichen Horizont, um nach einem Grund zu suchen (um nach einem Warum zu fragen) und eine Antwort vorschlagen zu können (um mit einem Darum zu antworten, d. h. zu begründen) 575. So bildet die Freiheit den Horizont eines Verständnisses der Verantwortung. Deswegen benennt Heidegger die Freiheit als das ›Urphänomen des Grundes‹ oder den ›Grund des Grundes‹ 576. Aus diesen Bestimmungen wird klar, dass die Freiheit nicht eine existenzielle Möglichkeit des Daseins ist. Sie ist, so erklärt Franco Volpi, die Bedingung der Möglichkeit, sich für etwas zu entscheiden. Das Dasein existiert, wie in § 9 SZ argumentiert wird, als ein Seiendes, welches sein eigenes Sein vollziehen muss. In diesem Sinne sagt Volpi, dass die Freiheit gleichzeitig die ontologische Verpflichtung ist, sich immer für (etwas) entscheiden zu müssen 577. Freiheit ist die

GA 26, S. 276–277. Heidegger schreibt: »Das Umwillen aber ist nichts Freischwebendes, sondern es zeitigt sich in der Freiheit. Die Freiheit als ekstatisches Sich-entwerfen auf das eigene Seinkönnen versteht sich aus diesem und hält sich zugleich dieses als Verbindlichkeit vor. Sie ist somit der Ursprung von so etwas wie Grund.« (GA 26, S. 276). 575 Vgl. GA 26, S. 276. 576 Vgl. Ebd., S. 276–277. 577 Vgl. Volpi, 2012, S. 102–103 573 574

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1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

Transzendenz eines Seienden, dessen Sein einen Aufgabencharakter aufweist. Der Aufgabecharakter ist laut § 58 SZ negativ, insofern sich das Dasein aus einem Grund heraus auf Möglichkeiten entwerfen muss, welchen es selbst nicht begründen (bzw. entscheiden) kann. Die Transzendenz muss in Zusammenhang mit der Nichtigkeit verstanden werden. Das Dasein muss sich für Möglichkeiten entscheiden, welche es und den Horizont der Erschließung der Welt bestimmen. Die Begründungen, die durch den Umwillen ermöglicht werden, sind auch von dem (faktischen) Grund bestimmt, welchen das Dasein nicht wählen kann. Heidegger schreibt in SZ: Grund-seiend, das heißt als geworfenes existierend, bleibt das Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück. Es ist nie existent vor seinem Grunde, sondern je nur aus ihm und als dieser. (SZ, S. 284).

Die Freiheit in ihrer Verbindung mit der Nichtigkeit bzw. mit dem Grundsein ist dann nicht als Freisein von (der Faktizität) zu interpretieren, sondern als die Transzendenz eines faktisch bedingten Seienden. Dies wurde in den Analysen des erschließenden Moments der Befindlichkeit deutlich, die zeigten, dass die gesamte faktische Determiniertheit des Daseins sein In-sein beeinflusst und bestimmt. In diesen Analysen wurde dann die Freiheit in dreierlei Hinsicht als negativ bezeichnet: 1. Die Wahl einer Möglichkeit bedeutet das NichtWählen einer anderen. 2. Die Faktizität bestimmt und beeinflusst die Existenzialität und diese vollzieht sich als eine Aneignung derselben. 3. Zur faktischen Existenzialität gehört auch Verfallenheit, d. h. eine Tendenz zur Uneigentlichkeit. In den Analysen des Verstehens wurde gesagt, dass zum Verstehen zwei Referenzialitäten gehören und dass Heidegger auf diese Referenzialitäten mit den Begriffen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit hinweist. Eigentlichkeit ist ein Verständnis des Selbst und der Welt, dessen Bezug das eigene Seinkönnen ist. Uneigentlichkeit ist ein Selbst- und Weltverständnis, dessen Bezug die (Um-/Mit-)Welt ist, d. h. die innerweltlichen Seienden, mit denen man umgeht, und die öffentlichen Möglichkeiten, die im Miteinandersein hervorgebracht werden (dies wird im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit weiter ausgeführt). Die Transzendenz muss dementsprechend in Zusammenhang mit dieser Referenzialität verstanden werden, und zwar in zwei Hinsichten: 1. Das transzendierende Seiende ist modal und 2. der transzendierte Horizont wird modal erschlossen. Diese Thesen 178 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 15 Die erreichte hermeneutische Situation

stellen eine Verknüpfung zwischen der Transzendenz und der Wahrheit her. Transzendieren bedeutet Seiende frei bzw. sein lassen, und zwar in der Wahrheit oder Unwahrheit. Das heißt: Die Transzendenz ist sowohl entdeckend als auch verdeckend. Die Analysen der Rede haben gezeigt, dass das Verstehen immer auslegend ist und in der Sprache artikuliert wird. Dieser Aspekt der Transzendenz wurde nicht hinreichend erklärt und wird deswegen im nächsten Kapitel thematisiert. Dort wird gezeigt, dass die Modalität der Welterschließung in einer Modalität des Verständnisses gründet. Hier kann vorerst eine einheitliche formale Definition der Freiheit vorgeschlagen werden: Die Freiheit des Daseins ist die Transzendenz dieses Seienden in der Form des Worumwillens. In der Freiheit werden die Seiende aufgrund der Modalität dieses Worumwillens als wahrhaftig oder unwahrhaftig erschlossen. Die Freiheit des Daseins ist die Bedingung der Möglichkeit für die Entdeckung der Welt, für die Erschließung des Da und für jedes intentionales Verhältnis mit Seiendem 578. Aus diesem Grund ist die modale Freiheit als die (erste) Bedingung der Möglichkeit einer Erfahrung des Ethischen aufzufassen 579. Die vorliegende Untersuchung hat durch die Analyse des Intentionalseins des Daseins bzw. der Freiheit einen wesentlichen Aspekt des erfahrenden Seins des Daseins dargestellt. In der Vorhabe steht nun das Dasein als das modal freie Seiende. Die Analysen suggerieren, dass es das Ethische nur für ein modal freies Seiendes geben kann, oder formal gesagt: Freiheit und Modalität sind Bedingungen des ethischen Verständnisses. Die Problematisierung des ›Ichs‹, welche als Ausgangspunkt für die Problematik des Ethischen gedient hat, hat drei Hauptergebnisse geliefert: Vgl. SZ, S. 366. Rodríguez schreibt: »Das Worumwillen zeigt sich als die ontologische Bedingung der Möglichkeiten sowohl einer egoistischen als auch einer altruistischen moralischen Haltung, da nur ein Seiendes, welches genötigt ist, sich in Bezug auf sich selbst zu verhalten, sich entweder als absolutes Zentrum seines Lebens auslegen kann, oder sich in den Dienst Anderer stellen kann.« (Rodríguez, 2015b, S. 179. Eigene Übersetzung). Wie Rodríguez später in seinem Text betont, zeigt Heideggers Interpretation der Person bei Kant in der Vorlesung vom Sommersemester 1927, dass laut Heidegger das Worumwillen als die Bedingung der Möglichkeit der personalitas moralis gesehen werden soll. Siehe dazu ebd., S. 209 ff. insbes. 214 f.

578 579

179 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

1. Die Frage nach der Selbstheit des Daseins ist eine Frage nach seinem Intentionalsein. Das Ich ist kein ›weltloses‹ und ›zeitloses‹ bzw. kein horizontloses Seiendes. Die Selbstheit, so Heidegger, muss existenzial verstanden werden, d. h. in Bezug auf die Sorge 580. Das ›Ich‹ hält, so Heidegger, »die Ganzheit des Strukturganzen« zusammen 581. Das ontische Ich, d. i. das Ich, welches sich als ›Ich‹ identifizieren kann, »meint das Seiende, das je ich bin als ›Ich-bin-in-einerWelt‹.« 582 Die Selbstheit des Ichs ist seine Transzendenz bzw. seine modale Freiheit 583. Wenn die ethische Untersuchung die Erfahrung des Ethischen konzipieren möchte, muss sie mit dem Begriff der modalen Freiheit anfangen: Nur ein negativ transzendentes, wahrhaftes, entscheidendes Seiendes kann ethisch verstehen. 2. Es gibt im Dasein keine Intention ohne Horizont. Die Sorge umfasst die intentionalen Momente der Existenzialität, Faktizität und Verfallenheit; sie weist auf die Richtungen des Gerichtetseins hin: Sichrichten-auf das Selbst (Selbstsorge), Sichrichten-auf den Anderen (Fürsorge) und Sichrichten-auf das innerweltliche Seiende (Besorgen) und zeigt die konstituierten Horizonte dieses Sichrichtensauf, nämlich Selbstwelt, Mitwelt und Umwelt. Das Sichrichten-auf, und so auch das Woraufhin, werden durch die Existenzialität, die Faktizität und die Verfallenheit bestimmt und modifiziert. Die Freiheit ist Transzendenz, Nichtigkeit und In-der-Wahrheit-sein: Das Dasein ist in der Welt als Erschließendes, als in einer Situation Entscheidendes (Verantwortliches) und als Wahrhaftes. Seine Horizonte werden so als erschlossen, möglich (beeinflussend) und freigelassen (entdeckt oder verdeckt) konstituiert, und zwar in einer modalen Art und Weise: Das Dasein richtet sich auf etwas und versteht dieses etwas in Bezug auf seine Möglichkeiten, welche wiederum entweder in Bezug auf das eigene Seinkönnen oder in Bezug auf die (Um-/Mit)Welt verstanden werden. Die Erschließung und das Verständnis dieses Etwas hängen von der Entfaltung des Horizontes in Bezug auf die entweder angeeigneten oder nicht angeeigneten Möglichkeiten des Daseins ab. 3. Das Intentionalsein des Daseins ist stets modal: Zum Dasein gehören die Seinsmodi der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit und Vgl. SZ, S. 318. Ebd., S. 317. 582 Ebd., S. 321. 583 Die ontischen Charaktere der ›Substanzialität‹, ›Simplizität‹ und ›Personalität‹ (vgl. Kant, KrV. S. A 348 ff.) gründen sich laut Heidegger in der Seinsart des Ich-binin-der-Welt (vgl. SZ, S. 318 u. 323). 580 581

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§ 15 Die erreichte hermeneutische Situation

diese bilden die Horizonte des Verständnisses. Das Dasein zeitigt d. h. es existiert in verschiedenen Weisen und so wird sein Horizont anders erschlossen bzw. verstanden. Die Existenz ist immer je meine. Die Selbstheit setzt eine modale Beziehung zum eigenen Selbst voraus. Heidegger macht dies im Sommersemester 1927 deutlich: [D]as Dasein hat eine eigentümliche Selbigkeit mit sich selbst im Sinne der Selbstheit. Es ist so, daß es in irgendeiner Weise sich zu eigen ist, es hat sich selbst, und nur deshalb kann es sich verlieren. Weil zur Existenz die Selbstheit gehört, d. h. das ›Sich-zueigen-sein‹ in irgendeiner Weise, kann das existierende Dasein eigens sich selbst wählen und primär von hier aus seine Existenz bestimmen, d. h. es kann eigentlich existieren. Es kann sich aber auch in seinem Sein durch die Anderen bestimmen lassen und primär in der Vergessenheit seiner selbst uneigentlich existieren. (GA 24, S. 242–243) Der Ausgangspunkt der Untersuchung, das Ich, wird jetzt als Ich-bin-in-einer-Welt aufgefasst und dieses Ich-bin wird als modal interpretiert. Die Untersuchung muss nun den moralischen Horizont, in dem dieses Ich existiert, untersuchen. Wie konstituiert sich und wie zeigt sich dieser moralische Horizont? Die Erforschung des Ichs hat die Frage nach dem Horizont aufgeworfen (Vorsicht). Der Vorgriff wird durch diese Erklärungen erweitert: Unter Dasein wird jetzt das modal freie ekstatisch-horizontale Seiende verstanden. Der Verständnishorizont der Problematik beinhaltet nicht nur die Frage des Ethischen, sondern auch die Fragen nach dem Selbst, nach dem Intentionalsein und nach dem Horizont. Die Untersuchung muss dann sowohl den Horizont als auch die Weise, in der dieser Horizont angeeignet wird, erforschen. Die Erweiterung des Vorgriffs verändert die Vorsicht der Untersuchung wesentlich: Das Dasein existiert zunächst in einer Welt, in der das Ethische schon ›irgendwie‹ verstanden wird. Wie wird dieser Horizont konstituiert? Wie wird das Ethischen in diesem Horizont verstanden? Warum sollte man überhaupt nach dem Ethischen fragen, wenn man das Ethische alltäglich schon ›irgendwie‹ versteht? Auf den ersten Blick scheint das Ethische die Konkretion der öffentlichen Ausgelegtheit zu sein. Aufgrund der modalen Freiheit kann man üblicherweise sagen (bzw. begründen): ›Ich bin schuldig‹. Aus demselben Grund kann man dann fragen: ›Warum?‹ Darauf folgen die Antwort und die Frage: ›Weil ich etwas gemacht habe, das im alltäglichen Miteinandersein nicht gemacht werden sollte‹. ›Warum sollte man das nicht tun?‹ Weil die gesellschaftlichen Normen es ver181 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

1 · Das Intentionalsein des Daseins und die ethische Problematik

bieten‹. Die Enthüllung der Freiheit ermöglicht es sowohl die Verbindung zwischen Verständnis und Verständnishorizont herauszuarbeiten als auch diese Problematik nicht als eine ontische Problematik der Laune, sondern als eine ontologische Problematik des Intentionalseins zu interpretieren. Die Antwort ›das soll man nicht tun‹ weist nicht auf eine Laune (auf den Willen) des Befragten hin, sondern auf ein intentionales Problem (auf die Referenzialität des Worumwillens bzw. des situierten Verständnisses). Die ἔθος-Anzeige dieser Arbeit hat von Anfang an suggeriert, dass zum Verständnis des Ethischen ein Horizont gehört. Die Beschreibung des Intentionalseins hat das Wie des Verhältnisses zwischen diesem Horizont und dem Dasein offengelegt. Der Horizont wird von jemandem angeeignet. Ich bewerte, handle, verstehe (in Bezug auf den moralischen Horizont). Das Selbst dieses Selbst-Verständnisses, so haben die Analysen gezeigt, ist als Man-Selbst zu denken. Es ist ein Selbst, welches intentional ist und sich so aus seinem öffentlichen Horizont heraus versteht. Doch es ist auch ein modales Selbst, welches seinen Horizont konstituieren und modifizieren kann. Das, was zuvor von der ἦθος-Anzeige angezeigt wurde, ist durch die Analyse des Intentionalseins klarer geworden. Bevor die Arbeit die Konstitution des moralischen Horizonts untersuchen kann, muss sie das Wie dieser Konstitution weiter analysieren, d. h. sie muss die Beziehung zwischen Transzendenz und Wahrheit weiter erforschen. Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit dieser Analyse.

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Kapitel 2. Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

Die Problematik des Ethischen wurde als eine Problematik des Intentionalseins bzw. als eine Problematik des Verstehens erkannt. Die Untersuchung des Verständnisses des Ethischen beginnt mit der ›selbstverständlichen‹ Idee, dass wir das Ethische alltäglich ›irgendwie‹ verstehen. Dieses ›irgendwie‹ wurde bis jetzt allerdings nicht thematisiert. Die Thematisierung muss mit der Erkenntnis beginnen, dass dieses ›irgendwie‹ zwei Aspekte aufweist: Es zeigt einerseits, dass wir zunächst über einen noch nicht geklärten Sinn des Ethischen verfügen und anderseits, dass dieser Sinn in irgendeiner Art und Weise konstituiert wird. Die Forschungsfrage ist ›Wie verstehen wir zunächst das Ethische?‹ Die ›Wie-Frage‹ weist hier auf diese zwei Aspekten hin. Während das vorliegende Kapitel sich mit dem zweiten Aspekt des ›irgendwie‹ beschäftigt, thematisiert der zweite Teil der Arbeit den ersten Aspekt. Die hier gestellte Frage ist demnach keine Frage nach den ontischen Variablen des Verstehens, sondern eine Frage nach der ontologischen Konstitution des Intentionalseins und ihrer Auswirkung auf das Verständnis des Ethischen. Im Folgenden wird das Intentionalsein des Daseins in seinem Verdeckend- und Verstellend-Sein analysiert. Darüber hinaus wird nach dem Zusammenhang zwischen diesem Sein und dem Ethischen gefragt.

§ 16 Das Intentionalsein als Wahrsein Die Analyse des Intentionalseins hat auf einen komponierten Begriff der Freiheit hingewiesen: Das Dasein ist frei, insofern es als ein negatives, modales, transzendentes Seiendes existiert. Das Dasein ist negativ aufgrund seiner Nichtigkeit bzw. Faktizität; es ist modal und transzendent aufgrund seines Seinkönnens bzw. seiner Existenzialität, letzteres, weil es die Welt in Bezug auf Möglichkeiten, zwischen denen es wählen muss, erschließt. Die Struktur der Freiheit ist dann 183 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

eine einheitliche Struktur, welche sich in der Analyse des Intentionalseins fragmentarisch gezeigt hat. Die heideggersche Analyse des Sinns des Wahrheitsphänomens kann zur Klärung eines einheitlichen Sinns der Freiheit beitragen 584. Insofern das Dasein ein freies Seiendes ist, ist es sowohl als Entdeckendes als auch als Verdeckendes in der Welt. Das Dasein, so Heidegger, »ist gleichursprünglich in der Wahrheit und Unwahrheit.« 585 Mit dem Begriff ›Wahrheit‹ meint Heidegger nicht das Phänomen der adaequatio (Übereinstimmung), sondern das Verhältnis zwischen der Entdecktheit der Welt und dem Entdeckendsein des Daseins: Erschlossenheit 586. Das Wahrheitsproblem ist also in Zusammenhang mit der Fundamentalontologie zu verstehen 587. In § 44, a SZ diskutiert Heidegger den traditionellen Begriff der Wahrheit und untersucht einen fundamentaleren Begriff dieses Phänomens. Das Wesen der Wahrheit wird traditionell in der Aussage untersucht und als adaequatio intellectus et rei definiert 588. Heidegger ist der Meinung, dass diese Definition nicht fundamental, sondern fundiert ist 589. Nach Heidegger ist diese Definition zwar nicht falsch, jedoch trifft sie das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit nicht. Eine Definition der Wahrheit als Übereinstimmung setzt eine Es ist bekannt, dass Heidegger die Verknüpfung zwischen Wahrheit und Freiheit in seinem Text Vom Wesen der Wahrheit (1930) ausarbeitet. In der vorliegenden Arbeit wird dieser Text nicht berücksichtigt, da der dort dargestellte Sinn der Wahrheit nicht mit dem Sinn der Wahrheit in SZ übereinstimmt. In SZ definiert Heidegger die Wahrheit als die Erschlossenheit (des Daseins): die Verbindung zwischen Entdeckung (entdeckend-sein) und Entdecktheit (entdeckt-sein) (vgl. SZ, S. 220 ff.). In Vom Wesen der Wahrheit ist die Wahrheit Unverborgenheit des Seins. Die Wahrheit als ontologische Wahrheit wird als die »Enthülltheit des Seins« interpretiert (GA 9, S. 131), was die Entdecktheit des Seienden (ontische Wahrheit) ermöglicht. Zu einer Darstellung des Wahrheitsbegriffs in den verschiedenen Momenten der Philosophie Heideggers siehe: Gethmann, 1974a.; Shin, 1993; Aurenque, 2011, Kap. V. Zum Sinn der Wahrheit in Vom Wesen der Wahrheit siehe Herrmann, v., 2002. 585 Vgl. SZ, S. 219 ff. 586 Vgl. ebd., S. 220. 587 Vgl. SZ, S. 213. Laut Heidegger ist die ursprüngliche Wahrheit das Sichzeigen des Seienden als Wahrhaftiges. Das Sichzeigen ist nur in der Erschlossenheit (in dem Gelichtetsein) des Daseins möglich (vgl. ebd., S. 219 f.). Vergleiche diese Definition mit den Begriffen 1. u. insbes. 3. der Wahrheit, die Husserl in Hua XIX/2, S. 561– 652 definiert. Zu einer vollständigen Darstellung des Wahrheitsbegriffs bei Husserl und Heidegger siehe Tugendhat, 1970. Dazu siehe auch Dahlstrom, 1994a. 588 Siehe Thomas v. Aquin, Quaest. disp. de veritate, qu. I, art. 1. Siehe SZ, S. 214– 215. 589 Vgl. auch GA 20, S. 69 ff.; GA 24, S. 296; GA 9, S. 130; GA 26, S. 157 ff.; 280–281. 584

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§ 16 Das Intentionalsein als Wahrsein

Subjekt-Objekt Dynamik 590 voraus. Eine solche Dynamik wurde schon früh (vgl. SZ, § 13) als ein defizienter Modus des Inseins erkannt. In derselben Art und Weise in der Heidegger argumentiert, dass das Erkennen ein fundierter Modus des ursprünglichen besorgten Inseins ist, argumentiert er, dass die Möglichkeit einer Übereinstimmung zwischen der Aussage und dem Seienden eine Entdeckung des Seienden voraussetzt 591. In diesem Sinne sagt er: »Wahrsein (Wahrheit) der Aussage muss verstanden werden als entdeckendsein.« 592

Die ursprüngliche Interpretation der Wahrheit, d. i. das ἀληθεύειν impliziert keine Subjekt-Objekt-Dynamik. Laut Heidegger ist diese Dynamik dem griechischen Denken eigentlich fremd, wie er es in der Vorlesung vom Sommersemester 1924 ausdrückt (vgl. GA 18, S. 56–57). 591 Vgl. SZ, S. 218. 592 SZ, S. 218. Hier muss auf die Kritik Tugendhats verwiesen werden: In SZ stellt Heidegger drei Bedeutungen von Wahrheit dar. 1. Eine Aussage ist wahr, wenn sie das Seiende entdeckt, wie es an ihm selbst ist (vgl. ebd.). 2. Eine Aussage ist wahr, wenn sie eine Identität ausdrückt: Das ›wie es an ihm selbst ist‹ ist in ›an ihm selbst‹ enthaltet. 3. »Wahrsein (Wahrheit) der Aussage muß verstanden werden als entdeckendsein.« (Ebd.). Dies bedeutet, so Tugendhat, dass die Aussage wahr ist, wenn sie das Seiende entdeckt. Mit dieser letzten Variation entfernt sich Heidegger von Husserl (vgl. Tugendhat, in Macann (Hrsg.), 2007c, S. 82 ff.). Tugendhats Kritik liegt daran, dass in diesem letzten Schritt der Sinn der Wahrheit verloren geht: Wahrheit ist nicht mehr die Entdeckung von etwas, wie es an ihm selbst ist, sondern vielmehr die Entdeckung selbst. Dieser Begriff der Wahrheit, so Tugendhat, verstellt das Problem der Wahrheit (Tugendhat, 1970, S. 260. Dazu siehe auch: Dahlstrom, 1994a, S. 394 ff.). Laut Tugendhat kann dieses Problem gelöst werden, wenn man ›entdecken‹ (etwas erschließen als das, was es ist) im Gegensatz zu ›verdecken‹ (etwas erschließen als das, was es nicht ist) versteht. Dennoch zeigt dies, dass Heidegger den Begriff ›entdecken‹ bzw. ἀποφαίνεσθαι zweideutig anwendet, um einerseits die Entdeckung von etwas zu bezeichnen und andererseits auf die Entdeckung von etwas, wie es ist, hinzuweisen (vgl. Tugendhat, in Macann (Hrsg.), 2007c, S. 84–85). Die zweite Option bringt die Problematik nochmals in Zusammenhang mit der Identität; doch der Sinn der Wahrheit wird erweitert: Wahrheit wird nicht mehr nur auf kognitive Intentionen bezogen, sondern auf praktische, dynamische Beziehungen. So könne Heidegger, erklärt Tugendhat, die Definition der Wahrheit der Aussage in einem neuen Schritt auf jedes Entdecken erweitern (vgl. ebd., S. 88). An dieser Stelle kritisiert Tugendhat allerdings, dass Heidegger dem Wort Wahrheit einfach eine neue Bedeutung gebe, anstatt eine Erweiterung des spezifischen Konzepts der Wahrheit anzubieten. In der Gleichsetzung von Wahrheit und Selbstgegebenheit, so Tugendhat, werde die nötige ›hermeneutische Situation‹, um das Wahrheitsproblem zu verstehen, verstellt und ginge verloren (vgl. ebd., S. 89). Obwohl Tugendhats Kritik treffend ist, vergisst er laut Hodge, dass für Heidegger die Problematik der Wahrheit nicht eine bloße Frage nach der Erkenntnis ist, sondern eine Frage nach der Identität und nach dem Grund (purpose) 590

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

Dieser Punkt wird von Heidegger sehr deutlich in der Vorlesung vom Sommersemester 1928 in der Diskussion um den Begriff der Wahrheit bei Leibniz erklärt. Laut Heidegger ist die Wahrheit bei Leibniz, genau so wie in der philosophischen Tradition, Adäquation. Sie hat ihren Ort im Urteil. Urteil bedeutet »Zusammengehörigkeit von Subjekt und Prädikat, von Begriffen, Vorstellungen« 593. In diesem Sinne ist die Wahrheit, so Heidegger, die »Gültigkeit einer Vorstellungsverbindung«, d. h. »Übereinstimmung des im urteilenden Denken Gedachten mit dem Worüber, dem Gegenstand« 594. Angesichts dieser traditionellen Definition der Wahrheit als adaequatio schlägt Heidegger seine Definition der Wahrheit vor, welche zurückgeht auf den griechischen Begriff von ἀ-λήθεια bzw. Ent-hüllung. Er argumentiert in der Vorlesung: Das, was sich an der Aussage zunächst gibt, ist das, worüber sie aussagt. […] [W]ir fassen die Aussage als Aussage über… […] Es ergibt sich, daß wir im Nachvollziehen der Aussage […] nicht erst uns gleichsam in die Seele des Aussagenden versetzen und dann aus dieser heraus uns auf irgendeine Weise auf den besagten Gegenstand draußen beziehen – sondern wir verhalten uns immer schon zu den seienden Dingen um uns. Das Aussagen bringt nicht erst die Beziehung zustande, sondern umgekehrt: Die Aussage ist erst möglich auf der Basis des schon immer latenten Verhaltens zum Seienden. Das aussagende Ich, das Dasein ist immer schon ›bei‹ dem Seienden, worüber es aussagt. […] Aussagen über… ist nur möglich auf der Basis eines Umganges mit… (GA 26, S. 157–158)

Damit es eine Übereinstimmung zwischen Gedachtem und Worüber geben kann, muss zuerst eine Erschließung des Worübers geschehen, die sich als Umgang vollzieht 595. In diesem Sinne schließt Heidegger aus, dass sich die Wahrheit der Aussage im Sein-bei gründet: Wenn Wahrheit Übereinstimmung, Angleichung an Seiendes bedeutet, dann ist offenbar dies aussagende Sichanmessen darin fundiert, daß wir im Umgang mit dem Seienden gleichsam mit diesem schon übereingekommen sind, daß Seiendes, das wir selbst nicht sind, womit wir aber irgendwie umgehen, als Seiendes für uns enthüllt ist. […] Die Wahrheit der Aussage ist ursprünglicher verwurzelt, und zwar im Schon-sein-bei […]. (GA 26, S. 158) des Daseins (vgl. Hodge, 1995, S. 194 f.), anders gesagt, es ist eine Frage nach der Erschlossenheit und ihren Modi. 593 GA 26, S. 154. 594 Ebd. 595 Siehe auch SZ, S. 223–226.

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§ 16 Das Intentionalsein als Wahrsein

Die Wahrheit ist dann nicht etwas, das im Leben geschieht, sondern ein Charakter des Lebens selbst. Laut Heidegger ist das Sein-bei ›wahrhaftig‹ bzw. »enthüllend« 596. Die primäre Wahrheit ist dementsprechend als die Erschlossenheit, d. h. als die Beziehung zwischen der Entdecktheit der Welt und dem Entdeckendsein des Daseins zu interpretieren. Wahrheit ist, sagt Heidegger, »ein Begegnenlassen.« 597 Entdecktheit der Welt gibt es nur für ein entdeckendes Seiendes. Heidegger erreicht diese Bedeutung der Wahrheit durch eine Interpretation von Aristoteles Begriff ἀληθεύειν 598. In der Vorlesung vom Wintersemester 1924–1925 erklärt Heidegger, dass das ἀληθεύειν nicht eine existenzielle Möglichkeit des Daseins, sondern die Seinsart dieses Seienden ist 599. In Bezug auf Aristoteles Nikomachische Ethik (insbes. VI u. X), betont Heidegger, dass das Dasein verschiedene Weisen hat, in der Welt zu sein und diese Welt zu entdecken. Fünf Grundformen des Entdeckendseins bzw. des ἀληθεύειν werden genannt: τέχνη, ἐπιστήμη, φρόνησις, σoφíα und νοῦς 600. Laut Aristoteles hat die σoφíα Vorrang vor den anderen Formen des Entdeckendseins, doch nach Heidegger ist die φρόνησις der ursprüngliche Modus des ἀληθεύειν 601. Heidegger versteht die φρόνησις als Umsicht, d. i. als das praktische Sichrichten-auf Seiende 602. Die primäre Erschließung der Welt geschieht nicht in der kontemplativen, sondern in der praktischen Einstellung. Darüber hinaus erklärt GA 26, S. 159. Ebd. 598 Siehe: GA 19, S. 15–27. Vgl. Sheehan, 2015a, S. 133 ff. 599 In SZ schreibt Heidegger: »Wahrsein als entdeckend-sein ist eine Seinsweise des Daseins.« (SZ, S. 220). 600 Vgl. GA 19, §§ 3–9. Siehe auch: GA 22, S. 311–312, Nachschrift Mörchen. Dazu siehe: Volpi, 2012. 601 Vgl. GA 19, S. 47. Obwohl Aristoteles laut Heidegger die Seinsart der φρόνησις richtig konzipiert hat, tendiert er diesem zufolge dazu, das Sein des Daseins in Bezug auf das vorhandene Seiende zu verstehen. Aristoteles hält die σoφíα für die höchste Form des ἀληθεύειν, so Heidegger, aufgrund eines Verständnisses des Seins als Präsenz. Der Gegenstand der σoφíα ist weder der Mensch noch sein Akt (da beide wandelbar sind), sondern das Ewige und Unbewegliche (vgl. ebd., § 25). Heidegger schreibt: »Erst von hier aus, aus der ganz bestimmten und klaren Vorherrschaft des Sinnes von Sein als Immersein, wird der Vorrang der σoφíα verständlich.« (Ebd., S. 178. Siehe auch: S. 137). Siehe dazu Vigo, 2008, S. 134 ff.; 225–228; Elm, 2007. 602 Vgl. GA 62, S. 376–377; GA 19, S. 163–167. Bernasconi behauptet richtig, dass Heidegger die φρόνησις mit vier verschiedenen Grundbestimmungen des Daseins verknüpft, nämlich mit der Umsicht, dem Verstehen, der Entschlossenheit und dem Gewissen (vgl. Bernasconi, 1990, S. 130). 596 597

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

diese Erschließung das Erschließende Seiende in seinem Sein. Im Unterschied zu den anderen Formen des ἀληθεύειν ist laut Heidegger die τέλος der φρόνησις das Dasein selbst, und zwar als Möglichsein 603. Heidegger argumentiert, dass dieser Modus des ἀληθεύειν dem Dasein erlaubt, sein eigenes Sein transparent bzw. durchsichtig zu machen 604. Dies bedeutet, dass sich das Dasein im praktischen Umgang mit der Welt (Umsicht, φρόνησις) selbst als enthüllendes Seiendes versteht. Die Wahrheit (ἀλήθεια) muss in diesem Zusammenhang (als ἀληθεύειν) verstanden werden: Um sagen zu können, dass eine Aussage über einen Sachverhalt richtig oder falsch ist, müssen wir in der Lage sein, mit dem Sachverhalt so umzugehen, dass wir den Sachverhalt enthüllen (erfahren) können und uns in dieser Enthüllung als enthüllende bzw. wahrhafte Seiende verstehen können. Kurz: Es gibt ›Wahrheit‹ (als Adäquation) nur für ein Seiendes, welches nicht nur den Sachverhalt enthüllen kann, sondern sich auch in dieser Enthüllung als Wahrheit-Verstehendes versteht. So ist die ursprüngliche Wahrheit in SZ als Erschlossenheit definiert: [D]ie Entdecktheit des innerweltlichen Seienden gründet in der Erschlossenheit der Welt. Erschlossenheit aber ist die Grundart des Daseins, gemäß der es sein Da ist. […] mit und durch sie ist Entdecktheit, daher wird erst mit der Erschlossenheit des Daseins das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit erreicht. (SZ, S. 220–221)

In diesem Sinne ist nach Heidegger die Wahrheit nichts anderes als Freiheit (Intentionalsein). Nun muss hier daran erinnert werden, dass die Freiheit modal ist. Heidegger sagt: »Sofern das Dasein wesenhaft seine Erschlossenheit ist, als erschlossenes erschließt und entdeckt, ist es wesenhaft ›wahr‹. Dasein ist ›in der Wahrheit‹« 605 Er ergänzt: »Das Dasein ist, weil wesenhaft verfallend, seiner Seins-verfassung nach in der ›Unwahrheit‹.« 606 Beide Thesen, nämlich ›das Dasein ist in der Wahrheit‹ und ›das Dasein ist in der Unwahrheit‹ sind ontologische Thesen. Dies bedeutet: Sie urteilen nicht über ontische Aspekte oder Verhältnisse des Daseins, sondern beschreiben die Seinsart dieses Seienden. Das Dasein ist in sich selbst sowohl wahrhaftig bzw. erschließend als auch

603 604 605 606

Vgl. GA 19, S. 49 ff.; Taminiaux, in Raffoul; Pettigrew, 2002, S. 19–20. Vgl. GA 19, S. 50; 52; Vigo, 2008, S. 217. SZ, S. 221. Ebd., S. 222.

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§ 16 Das Intentionalsein als Wahrsein

unwahrhaftig bzw. verschließend 607. Laut Heidegger ist das Dasein sowohl in der Wahrheit als auch in der Unwahrheit, insofern es ein geworfener Entwurf ist 608, mit anderen Worten: insofern es eine von der Faktizität bestimmte Existenz (bzw. eine negative Transzendenz) ist. Die Thesen der Wahrheit und Unwahrheit werden von zwei Argumenten gestützt: 1. Das Dasein erschießt Seiende, doch sofern das Dasein nicht das ›Ganze‹ erschließen kann, weil es ein faktisches (eingeschränktes) Seiendes ist, liegt in dieser Erschließung etwas, das nicht erschossen wurde. Heidegger sagt: »Zur Faktizität des Daseins gehören Verschlossenheit und Verdecktheit.« 609 Dies bedeutet, dass zu jeder Erschließung ein Rahmen gehört, der durch die Faktizität auferlegt wird: Die Wahrheit ist gleichzeitig Unwahrheit. 2. Die Erschließung ist immer horizontal. Insofern das Dasein verfallen ist, versteht es die Welt und sich selbst zunächst und zumeist durch die öffentliche Ausgelegtheit 610. Insofern das Dasein faktisch eingeschränkt ist, kann es nicht alles direkt erfahren und deswegen braucht es das öffentliche Verständnis. Jedes Verständnis beinhaltet dann gleichzeitig direkte und indirekte Erfahrungen des Phänomens. Diese indirekte Erfahrung erschließt nicht das Seiende, sondern das, was über das Seiende gesagt wurde. In diesem Sinne ist das Dasein gleichzeitig in der Wahrheit (bzw. in der direkten Erfahrung des Seienden) und in der Unwahrheit (bzw. im Gerede). Letzteres weist auf das hin, was hier das Problem des Scheins genannt wird. Im Folgenden wird dieses Problem erklärt.

»Aber nur sofern Dasein erschlossen ist, ist es auch verschlossen; und sofern mit dem Dasein je schon innerweltliches Seiendes entdeckt ist, ist dergleichen Seiendes als mögliches innerweltlich Begegnendes verdeckt (verborgen) oder verstellt.« (SZ, S. 222). 608 Vgl. SZ, S. 223. 609 Ebd., S. 222. Das Dasein ist wesentlich in der Unwahrheit, in der Täuschung, Falschheit, ψεῦδος (vgl. GA 17, S. 35). 610 Campbell fasst drei Aspekte dieses In-der-Unwahrheit-seins aufgrund des λόγος zusammen: »First, speaking is always about something. […] What is said is different from that about which is said. There is always something concealed within what is said, and that concealment is deception. Secondly, that concealment is itself concealed. […] Thirdly, Dasein always speaks from within a particular context. Its speaking is tained by opinion and prejudice.« (Campbell, 2007, S. 64). 607

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

§ 17 Schein und Verdeckung Bevor sich die Arbeit dem Problem des Scheins widmen kann, müssen zunächst die Begriffe Schein und Verdeckung erklärt werden. Wie im Methodenteil erwähnt wurde, stellt Heidegger fest, dass ein φαινόμενον das ist, »was sich zeigt« 611. Laut Heidegger gibt es kein Seiendes, das sich nicht schon ›irgendwie‹ zeigt, d. h., Seiende haben die Seinsart des Sichzeigens, sie sind Phänomene. In der Vorlesung vom Wintersemester 1923/1924 schreibt er: Φαινόμενον bedeutet das Daseiende selbst und ist eine Seinsbestimmung und so zu fassen, daß der Charakter des Sichzeigens ausdrückt wird. Τά φαινόμενα kann durch τά ὄντα vertreten werden und ist dasjenige, das immer schon da ist, das im nächsten Augenaufschlag begegnet. (GA 17, S. 14)

Seiende können sich auf verschiedene Weisen zeigen. Das Sichzeigen, so wie es nicht ist, nennt Heidegger Schein 612. Dies bedeutet nicht, dass der Schein sich nicht zeigt, sondern dass es »eine Modifikation von φαινόμενον im ersten Sinn ist.« 613 Schein ist die »Prätention des Offenbaren, aber es gerade nicht sein« 614 und die »Modifikation des Offenbaren, Offenbares, das es zu sein prätendiert, aber nicht ist.« 615 Dies besagt, dass »[d]er Schein nicht Phänomen in diesem privativen Sinne [ist]; er hat den Charakter des Sichzeigens, aber das, was sich zeigt, zeigt sich nicht als das, was es ist« 616. Schein ist ein Modus des Phänomens: Das Seiende zeigt sich, und als Sichzeigendes (d. i. als Phänomen) kann es sich als das zeigen, was es nicht ist. Kurz: Es gibt drei Aspekte des Scheins zu betonen. Erstens hat der Schein den Charakter des Sichzeigens. Zweitens ist das Sichzeigen (ans Licht kommen) ein Sichverhüllen (das GA 20, S. 111; SZ, S. 28; GA 17, S. 6; 9. Vgl. GA 20, S. 111. 613 Ebd., siehe auch: SZ, S. 29. 614 GA 20, S. 111–112. 615 GA 20, S. 113. Laut Heidegger ist dies der Unterschied zum Phänomen als Erscheinung. Während die Erscheinung die Darstellung von etwas ist, das sich nicht selbst zeigt, ist der Schein eine Art und Weise des Sichzeigens, in der das Phänomen sich als das zeigt, was es nicht ist. Heidegger drückt diesen Unterschied so aus: »während Erscheinung gerade die Darstellung des wesenhaft gerade nicht Offenbaren ist. Schein geht so immer zurück auf Offenbares und schließt die Idee des Offenbaren in sich.« (Ebd.). 616 GA 20, S. 113. 611 612

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§ 17 Schein und Verdeckung

Phänomen kommt als das ans Licht, was es nicht ist). Drittens ist dieses Sichzeigen eine Privation. Privation bedeutet hier und in der vorliegenden Arbeit eine Verdeckung und/oder Verstellung des Seins des sich zeigenden Seienden 617. Heidegger schreibt in der Vorlesung vom Sommersemester 1925: Phänomen ist nichts, wohinter noch etwas wäre, genauer: bezüglich des Phänomens kann überhaupt nicht nach einem Dahinter gefragt werden, weil das, was es gibt, gerade das Etwas an ihm selbst ist. Wohl aber kann das, was an ihm selbst aufweisbar ist und ausgewiesen werden soll, verdeckt sein. (GA 20, S. 118)

Das Phänomen kann sich wohl zeigen, doch als das, was es nicht ist. Es kann dementsprechend gesagt werden: In der Entdeckung liegt die Möglichkeit der Verdeckung: Die Verdeckung ist eine modifizierte Weise der Entdeckung. Heidegger stellt sowohl in der Vorlesung von 1925 als auch in SZ fest, dass die Modi, in denen das Phänomen verdeckt werden kann, vielfältig sind: 1. Verborgenheit: »Einmal kann ein Phänomen verdeckt sein in dem Sinne, daß es überhaupt noch unentdeckt ist, über seinen Bestand gibt es keine Kenntnis und Orientierung.« 618 2. Verschüttung: »Ein Phänomen kann ferner verschüttet sein. Darin liegt: Es war zuvor einmal entdeckt, verfiel aber wiederum einer Verdeckung. Diese ist keine totale, sondern das zuvor Entdeckte ist noch sichtbar, wenngleich nur als Schein.« 619 3. Verstellung: Die Verschüttung kann auch die Form einer Verstellung haben. Ein Phänomen kann verstellt werden, wenn es in Bezug auf das, was es nicht ist, verstanden wird und wenn dieses Verständnis vorgibt, das eigentliche Verständnis des Phänomens zu sein. Heidegger betont hier in einer Art Kritik an den Systemphilosophien, dass die Phänomene manchmal verstellt werden könnten, um sie zu einem System zu adaptieren 620. Man kann diese These erweitern und sagen: Phänomene können verstellt werden, um mit Ideologien, Kulturen, Religionen, u. ä. bzw. mit Ideensysteme zusammenzupassen. Mit dem Begriff Privation wird in Zusammenhang mit dem Sein des Daseins, d. h. mit dem Seinkönnen kein Mangel (von etwas Vorhandenem) gemeint, sondern die Verstellung oder Verdeckung einer Möglichkeit, die (ursprünglich) zum Seinkönnen gehört. Siehe auch Fußnote Nr. 997 der vorliegenden Arbeit. 618 Ebd., S. 119; SZ, S. 36. 619 GA 20, S. 119; SZ, S. 36. 620 Vgl. GA 20, S. 119; SZ, S. 36; insbes. GA 63, S. 40–43. 617

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

Nun sind für die vorliegende Untersuchung die zwei letzten Formen der Verdeckung besonders relevant. Die Verstellung präsentiert den Schein (das Sichzeigen des verschüttenden Phänomens als das, was es nicht ist) als das Sein des Phänomens. Das Verständnis des Phänomens bezieht sich nicht mehr auf das Phänomen selbst, sondern auf den Schein. Problematisch ist, dass dieses ›scheinbare‹ Verständnis als Grund für die Systembildung benutzt wird. Deswegen sagt Heidegger: Verstellung ist die häufigste und gefährlichste Art, weil hier die Möglichkeiten der Täuschung und der Mißleitung besonders groß sind. Die ursprünglich gesehenen Phänomene werden entwurzelt, ihrem Boden entrissen und bleiben in ihrer sachmäßigen Herkunft unverstanden. (GA 20, S. 119; SZ, S. 36)

Die Möglichkeit des scheinbaren Sichzeigens, welche ein wesentlicher Zug des Phänomens ist, ist die Bedingung der Möglichkeit einer Verstellung, d. i. der Entwurzelung eines Phänomens. Dennoch ist der Schein keine Negation des Phänomens: Schein ist das Sichzeigen eines Phänomens, welches vorher entdeckt wurde, aber jetzt verschüttet ist. Doch in diesem Sichzeigen (als das, was es nicht ist) äußert sich ein Hinweis auf das, was entdeckt wurde. Dies bedeutet für Heidegger: »Wie viel Schein jedoch, soviel ›Sein‹.« 621 Der Schein ist so eine Privation und als solches verweist er auf das Phänomen ›in seiner sachmäßigen Herkunft‹. Problematisch ist, dass die Verstellung vorgibt, das richtige Verständnis des Phänomens zu sein und dies bedeutet, dass der Hinweis nur erscheint, wenn man nach ihm sucht. Es ist wichtig zu betonen, dass die Verdeckung nicht das Seiende, sondern sein Sein betrifft. Heidegger schreibt diesbezüglich: Was aber in einem ausnehmenden Sinne verborgen bleibt oder wieder in die Verdeckung zurückfällt oder nur ›verstellt‹ sich zeigt, ist nicht dieses oder jenes Seiende, sondern, wie die voranstehenden Betrachtungen gezeigt haben, das Sein des Seienden. (SZ, S. 35)

Nur in diesem Sinne kann es verständlich sein, dass das Sichzeigen eines Phänomens gleichzeitig einer Verdeckung desselben ist. Kurz: Im das Sichzeigen eines Phänomens ist die Verdeckung seines Seins möglich. Laut Heidegger liegt die Möglichkeit der Verdeckung in der besonderen Weise begründet, in der das Dasein in der Welt ist, näm-

621

SZ, S. 36; siehe auch GA 20, S. 189.

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§ 18 Das Intentionalsein als Verdeckendes: Das Verfallen

lich im λόγος 622. In einer Diskussion des aristotelischen Begriffs ψεῦδος (Falschheit), sowohl in der Vorlesung vom Wintersemester 1923/ 1924 623 als auch in den Vorlesungen vom Sommersemester 1924 und Wintersemester 1924/1925, zeigt Heidegger auf, dass die Möglichkeit des ψεῦδος im λόγος ἀποφαντικός, d. i. in der Als-Struktur des Verständnisses, liegt. Im Wintersemester 1924/1925 schreibt er: Weil nämlich dieser λόγος [d. i. λόγος ἀποφαντικός] ein solches Aufzeigen ist, daß er das, worüber er spricht sehen läßt als etwas, besteht die Möglichkeit, daß es durch das ›als‹ verstellt wird, […]. (GA 19, S. 182–183) 624.

Das Schema ›Etwas als Etwas‹, so Heidegger in SZ, gestaltet nicht nur die prädikativen Akte, sondern es »ist schon in der Struktur des vorprädikativen Verstehens vorgezeichnet.« 625 Das intentional Sichrichten-auf ist auslegend. Daraus lässt sich schlussfolgern: Die Möglichkeit der Verdeckung gründet sich in dem Intentionalsein des Daseins. Heidegger hat diese These ontologisch in SZ unter den Titel ›Verfallen‹ diskutiert.

§ 18 Das Intentionalsein als Verdeckendes: Das Verfallen In § 28 von SZ stellt Heidegger das Dasein als das ›erleuchtete‹ Seiende dar 626. Damit möchte er darauf hinweisen, dass das Dasein der Ort ist, in dem sich die Seiende zeigen können. Das Dasein ist das intentionale Seiende: Zu seinem Intentionalsein (Erschlossenheit) gehört ein intentionales Korrelat (die Entdeckung der Seienden). Als ›Lichtung‹ kann das Dasein die Seiende ›ans Licht bringen‹ oder aber sie ›in der Dunkelheit verbergen‹. Wie schon erwähnt wurde, kann das Sichzeigen der Seienden die Art und Weise des Scheins und der Verdeckung annehmen. Die Bedingung hierfür ist die Erschlossenheit des Daseins selbst. In den Paragraphen über die Verfallenheit in SZ Dazu siehe Campbell, 2007. Laut Heidegger gründen sich die Möglichkeiten der Täuschung und der Falschheit (ψεῦδος) sowohl im Wahrnemen (αἴσθησις) als auch im Reden (λόγος). Diese Möglichkeiten gründen sich ihrerseits im Unterscheiden (κρίνειν) bzw. in der apophantischen Struktur des Inseins (λόγος ἀποφαντικός) (vgl. GA 17, S. 20 ff.; Campbell, 2007, S. 62). 624 Siehe auch GA 18, S. 280. 625 SZ, S. 359. 626 Vgl. ebd., S. 133. 622 623

193 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

(§§ 35–37) wird die alltägliche Seinsart des ›In-Seins‹ beschrieben. § 38 beschäftigt sich mit dem Verfallen als Bewegung, d. i. als Tendenz des In-der-Welt-seins 627. Dort schreibt Heidegger über das Verfallen das Folgende: [D]as Dasein ist zunächst und zumeist bei der besorgten ›Welt‹. Dieses Aufgehen bei… hat meist den Charakter des Verlorenseins in die Öffentlichkeit des Man. Das Dasein ist von ihm selbst als eigentlichem Selbstseinkönnen zunächst immer schon abgefallen und an die ›Welt‹ verfallen. Die Verfallenheit an die ›Welt‹ meint das Aufgehen im Miteinandersein, sofern dieses durch Gerede, Neugier und Zweideutigkeit geführt wird. (SZ, S. 175)

Diese Beschreibung hilft der vorliegenden Arbeit, drei Hauptaspekte des Verfallens hervorzuheben: 1. Das Verfallen ist mit dem In-der-Welt-sein gleichursprünglich. Dies bedeutet, wie Jacques Taminiaux richtig betont, dass »die ursprüngliche Intentionalität, als besorgendes Verhältnis zur [Um-/ Mit-]Welt, von einer Tendenz begleitet wird, die selbst intentional ist, nämlich, sich mit der Welt zu identifizieren und sich auf diese Weise von sich selbst zu lösen.« 628 Das Verfallen ist die konstitutive Tendenz (Hang) 629 (des Intentionalseins) sich aus der erschlossenen Welt auszulegen und zu verstehen. Diese Tendenz gehört zum Sein-bei… Eine theologische Interpretation dieser und anderer ontologischer Bestimmungen ist wohl möglich und in der Entwicklung der Fundamentalontologie nachvollziehbar. Dazu siehe Anelli, 2008; Fischer; Herrmann, v. (Hrsg.), 2007; Hodge, 1995, S. 198. Heidegger selbst erkennt in dem Vortrag Phänomenologie und Theologie (1927) die Nähe zwischen philosophischer und theologischer Begrifflichkeit an, er stellt jedoch fest, dass die Philosophie die korrektive Funktion hat, die Erfahrungen, die diese Begriffe enthalten, formal anzuzeigen, ohne an den ontischen existenziellen (religiösen) Gehalt dieser zu appellieren (vgl. GA 9, S. 45–78, insbes. S. 66). Man findet in Jung, 1990, S. 113–149 eine Analyse dieses Vortrags. Eine ontologisch-formale Interpretation (ohne theologischen Gehalt) ist auch möglich und wird hier durchgeführt. Hier soll das Verfallen nicht als eine abwertende Qualität des Daseins, von der es sich befreien soll, verstanden werden. Das Verfallen ist ein positiver Charakter der Seinsstruktur des Daseins. In diesem Sinne stimme ich mit dem Ansatz Sandus zu, welcher das Verfallen als eine Dynamik des Seins des Daseins beschreibt (vgl. Sandu, in Thonhauser (Hrsg.), 2017). Siehe ebenfalls Sandus Paper, um eine genetische Revision des Begriffs in der frühen Freiburguer Vorlesungen zu finden. 628 Taminiaux, in Raffoul; Pettigrew (Hrsg.), 2002, S. 14. Eigene Übersetzung. Siehe auch GA 62, S. 356, wo Heidegger das Verfallen als ein »intentionales Wie« charakterisiert. 629 In der Abhandlung Der Begriff der Zeit schreibt Heidegger: »Sofern das Dasein als Sein dieses Sichmitnehmenlassen von der Welt besorgt, ist das Insein durch den Hang 627

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§ 18 Das Intentionalsein als Verdeckendes: Das Verfallen

2. Das Verfallen als Tendenz bzw. Hang hat eine dreifache Dimension. Dies wird in der Abhandlung Der Begriff der Zeit deutlich ausgedrückt: Das Abfallen des Daseins von ihm selbst im Verfallen an die Welt zeitigt den Zerfall des Inseins in die Öffentlichkeit, die Einebnung auf das ›Man‹ und das Verschwinden in ihm. (GA 64, S. 41) 630

Die Erschlossenheit des Daseins (des In-der-Welt-seins) hat drei mögliche Bezugspunkte: das Selbst, die anderen Existierende und die innerweltlichen Seienden. Das Verfallen, als eine Tendenz der Erschlossenheit, teilt diese Bezugspunkte. Im Verfallen wird der Bezug zum eigenen Selbst zerbrochen. Heidegger beschreibt diese Bewegung als Abfallen-von-ihm-selbst. Da das Dasein Insein und Mitsein ist, ist diese Bewegung gleichzeitig ein Verfall in der Umwelt und ein Zerfall in der Mitwelt. Dies besagt: Das Verfallen beschreibt die Tendenz des Daseins, sich selbst (und die Welt) in Bezug auf die besorgten Seienden und auf die in der Öffentlichkeit vom Man eröffneten Möglichkeiten zu verstehen. In der Erklärung des Verhältnisses zwischen Selbstverständnis und Erschlossenheit wurde argumentiert, dass die Weise, in der das Dasein sich selbst versteht, die Weise verändert, in der es die Welt versteht bzw. erschließt: Das Selbstverständnis modifiziert das Inund Mitsein. Aus dieser These lässt sich ableiten, dass die Tendenz des Daseins zum Verfallen, d. h. sich aus der (Um-, Mit-)Welt heraus zu verstehen, seine Realität (d. i. sein Erfahren und das, was erfahren wird) konstituiert. Das Verfallen in SZ ist kein Moralproblem, sondern ein Problem des Intentionalseins, genauer ein Problem der Referenzialität desselben. 3. Das verfallende In- und Mitsein wird maßgeblich durch Gerede, Neugier und Zweideutigkeit beeinflusst. Die Erklärung dieses letzten Punktes erfordert eine Beschreibung jede einzelnen dieser Termini.

zum Aufgehen in der Welt bestimmt.« (GA 64, S. 41). Hier ist zu betonen, dass das Verfallen (und mit ihm das Gerede, die Neugier und die Zweideutigkeit) kein psychologisches Phänomen ist (es ist keine Versuchung (temptation), wie Dreyfus argumentiert: vgl. Dreyfus, 1991, S. 229–237), sondern eine Tendenz der Existenz (eine Tendenz des Verständnisses). 630 Siehe auch GA 62, S. 356.

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

α.

Das Gerede und das Problem des Scheins

Die Begriffe ›Gerede‹, ›Neugier‹ und ›Zweideutigkeit‹ sollen nicht in einem ontisch-abwertenden Sinne interpretiert werden. Sie haben eine positive ontologische Bedeutung: Sie beschreiben die Weise, in der sich die Erschlossenheit des durchschnittlichen Daseins zunächst vollzieht. Obwohl man die Interpretation des Geredes auf den ontischen Aspekt des Sprechens reduzieren könnte 631, weist dieser Begriff hauptsächlich auf die ontologische Artikulation (bzw. die Rede) des durchschnittlichen auslegenden Verständnisses hin. Das Gerede, schreibt Heidegger, »[konstituiert] die Seinsart des Verstehens und Auslegens des alltäglichen Daseins.« 632 Das Gerede ist ein Modus des Intentionalseins. Es ist die artikulierte Weise, in der das alltägliche Dasein die Seienden (sich selbst eingeschlossen) versteht. Was ist jedoch die Dynamik zwischen Gerede und Sprache? Die Sprache (als solche) ist die Bedingung dieses verfallenden Verstehens, insofern die Sprache dem Dasein die Möglichkeit gibt, die Sachen ohne einen direkten Bezug zu ihnen, sondern nur in Bezug auf Diskurse, zu verstehen. Dieses verfallende Verstehen manifestiert sich allerdings immer in der Sprache und kann die Form eines ›grundlosen‹ Sprechens annehmen. Dieses sprachliche Phänomen ist eigentlich das, was uns als phänomenaler Tatbestand (und Evidenz) der intentionalen Modifikation des Intentionalseins dient. Nun legt Heidegger das Intentionalproblem des Geredes so dar: Das so in der Ausgesprochenheit schon hinterlegte Verständnis betrifft sowohl die jeweils erreichte und überkommene Entdecktheit des Seienden als auch das jeweilige Verständnis von Sein und die verfügbaren Möglichkeiten und Horizonte für neuansetzende Auslegung und begriffliche Artikulation. […] Sichaussprechende Rede ist Mitteilung. Deren Seinstendenz zielt darauf, den Hörenden in die Teilnahme am erschlossenen Sein zum Beredeten der Rede zu bringen. Gemäß der durchschnittlichen Verständlichkeit, die in der beim Sichaussprechen gesprochenen Sprache schon liegt, kann die mitgeteilte Rede weitgehend verstanden werden, ohne daß sich der Hörende in ein ursprünglich verstehendes Sein zum Worüber der Rede bringt. Man versteht nicht so sehr das beredete Seiende, sondern man hört schon nur auf das Geredete als solches. Dieses wird verstanden, das Worüber nur ungefähr, 631 632

Vgl. z. B. Gelven, 1989, S. 107–108. SZ, S. 167.

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§ 18 Das Intentionalsein als Verdeckendes: Das Verfallen

obenhin; man meint dasselbe, weil man das Gesagte gemeinsam in derselben Durchschnittlichkeit versteht. (SZ, S. 168. Eigene Betonung) 633.

Dieses Problem kann formal wie folgt interpretiert werden: Im mitteilenden Miteinandersein gründet die Möglichkeit eines Verständnisses, welches sich nicht mehr auf die Sache selbst (d. i. auf das Worüber der Rede 634), sondern auf das, was über diese Sache gesagt wurde (d. i. auf das Geredete), richtet. Das, was gesagt wurde, ersetzt die Sache selbst und stellt sich dar, als ob es die Sache selbst wäre. In der Konsequenz hat das Dasein, welches sich auf das Geredete richtet, nicht mehr das Bedürfnis sich auf das Beredete selbst zu richten, weil es das Beredete durch das Geredete ersetzt hat und beide verstanden hat, als ob sie dasselbe wären 635. Anders gesagt: In der verfallenden Erschlossenheit kann das Phänomen sich als das, was es nicht ist, zeigen. Dieser Entdeckung hat die Seinsart des Scheins; sie ist ein Sichzeigen, welches verdeckt. Dieses Problem der verfallenden Erschlossenheit wird hier das Problem des Scheins genannt. Heidegger unterscheidet vier problematische Aspekte des Geredes: 1. Die Verdeckung des Seins des Seienden: Die Rede, die zur wesenhaften Seinsverfassung des Daseins gehört und dessen Erschlossenheit mit ausmacht, hat die Möglichkeit, zum Gerede zu werden und als dieses das In-der-Welt-sein nicht so sehr in einem gegliederten Verständnis offenzuhalten, sondern zu verschließen und das innerweltlich Seiende zu verdecken. (SZ, S. 169. Eigene Betonung)

2. Die Bildung einer oberflächlichen Verständlichkeit: Das Seiende wird ›verstanden‹, ohne eine direkte Erfahrung. Das Gerede, das jeder aufraffen kann, entbindet nicht nur von der Aufgabe echten Verstehens, sondern bildet eine indifferente Verständlichkeit aus, der nichts mehr verschlossen ist. (SZ, S. 169) 636

Heidegger formuliert dieses Problem nochmals in der Analyse der Wahrheit der Aussage. Siehe SZ, S. 224. 634 Heidegger schreibt: »[D]as Sprechen [wird] im Alltag ohne ursprüngliche Aneignung des ›Worüber‹ [des Redens] vollzogen.« (GA 64, S. 29). 635 Unsere Forschung über die in der Sophistici Elenchi von Aristoteles dargestellten Fehlschlüsse der Argumentation suggeriert, dass der Fehler in einer Überlegung darin liegt, dass man das, was über das Phänomen gesagt wurde, annimmt, als ob es das Phänomen selbst wäre. Das, was dort ›die trügerische Überlegung‹ genannt wurde weist darauf hin, dass man das Phänomen aus dem Geredeten und nicht aus einer adäquaten Unterscheidung heraus bedacht hat (vgl. Ledesma Albornoz, 2017). 636 Siehe auch GA 64, S. 29. 633

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

3. Die Entwurzelung des Verstehens: Das Dasein braucht sich nicht mehr auf die Seiende zu richten, um sie zu ›verstehen‹. Das im Gerede sich haltende Dasein ist als In-der-Welt-sein von den primären und ursprünglich-echten Seinsbezügen zur Welt, zum Mitdasein, zum In-Sein selbst abgeschnitten. (SZ, S. 170) 637

Diese Entwurzelung zeigt zwei Aspekte des verfallenden Verstehens auf, nämlich, dass im alltäglichen Umgehen, so § 37 in SZ, ein Horizont der Zweideutigkeit eröffnet wird, und, dass das durchschnittliche Dasein die alltägliche Impression hat, das beredete Seiende völlig zu verstehen. 4. Ein Verständnis des Selbst, dessen Bezug die öffentliche Ausgelegtheit ist: Das Dasein ist auch Selbstsorge (d. h. in der Welterfahrung versteht sich das Dasein als ein Selbst). Im mitteilenden Miteinandersein versteht sich das Dasein in Bezug auf den öffentlichen Verständnishorizont. Das alltägliche ›Man‹ versteht die Welt und sich selbst aus der jeweiligen Ausgelegtheit heraus 638. So determiniert die jeweilige Ausgelegtheit das Intentionalsein des Daseins 639. Das, was man über die Welt und über das Selbst sagt, entspringt dem Horizont des Welt- und Selbstverständnisses. Dies bedeutet, dass die Welt- und Selbsterfahrung von der jeweiligen öffentlichen Ausgelegtheit bestimmt und geleitet werden. Dieser Aspekt des Intentionalseins wurde schon in der Beschreibung des faktischen horizontalen Charakters des Intentionalseins erwähnt. Hier erscheint aber ein zweiter Aspekt des Problems des Scheins, nämlich, dass das Dasein nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst in Bezug auf das Geredete versteht. Hier wird die enge Beziehung deutlich, die zwischen der Tendenz des Daseins, seine Möglichkeiten in Bezug auf die Öffentlichkeit zu verstehen (das existenzial Man) und der Tendenz, die Welt in Bezug auf die Ausgelegtheit zu verstehen (das Gerede), besteht. Im Gerede entwickelt sich ein Verständnishorizont, in dem es keine Auslegung des Phänomens mehr gibt, sondern nur die bloße Repetition der jeweiligen AusSiehe auch: GA 64, S. 36. Heidegger schreibt: »Im Ausgesprochenen liegen aber dann je schon Verständnis und Auslegung. Die Sprache als die Ausgesprochenheit birgt eine Ausgelegtheit des Daseinsverständnisses in sich.« (SZ, S. 167). 639 Heidegger sagt: Die Ausgelegtheit »regelt und verteilt die Möglichkeiten des durchschnittlichen Verstehens und der zugehörigen Befindlichkeit.« (SZ, S. 167– 168). 637 638

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§ 18 Das Intentionalsein als Verdeckendes: Das Verfallen

gelegtheit. Dies ist die genaue Verbindung zwischen Man und Gerede. Heidegger schreibt in Der Begriff der Zeit: Das Gerede kann aber nunmehr als die Verwahrungsart der Auslegung verstanden werden. Im Gerede wird die Auslegung freischwebend, sie gehört allen und stammt von keinem. Im Gerede verhärtet sich die Auslegung zur Ausgelegtheit. Das bei der Geburt ›zur Welt gekommene‹ Dasein wächst in solcher Ausgelegtheit auf und in eine solche hinein. Die Ausgelegtheit trägt eine Selbstauslegung des Daseins bei sich. Sie zeichnet das ›was sich für einen gehört‹, ›wie man sich benimmt‹, ›wie man sich in den jeweiligen Lagen zu benehmen hat‹ vor. (GA 64, S. 34–35. Eigene Betonung)

Das Gerede, wie das Man, gehört zum Sein des Daseins. Es ist laut Heidegger »die Seinsart des Miteinanderseins selbst« 640. Es konstituiert den Grund nicht nur des trivialen Mitteilens, sondern auch des praktischen und theoretischen Wissens 641. Die Wissenschaften und das Wissen entwickeln sich aus dem vorherigen Wissen (d. h. aus dem, was über die Sachen gesagt wurde). Das Gerede ist dann kein negativer Aspekt des menschlichen Seins, sondern ein neutraler Aspekt des Inseins, welcher sowohl die Bildung des Wissens als auch die Verdeckung des Seins zulässt. β.

Das alltägliche Gerichtetsein: Die Neugier

Insofern das Dasein das erschließende Seiende ist, ist es schon immer auf sich selbst, auf die anderen Existierende und auf das innerweltliche Seiende gerichtet. In der Analyse des Verstehens wurde dieses Gerichtetsein ›Sicht‹ genannt und primär als Worumwillen charakterisiert. Die Sicht ist das Gerichtetsein, welches schon irgendwie das, worauf es sich richtet, in Bezug auf die Möglichkeiten des Daseins versteht und auslegt. Mit dem Begriff ›Neugier‹ bezeichnet Heidegger den alltäglichen Modus der Sicht.

SZ, S. 177. Eigene Betonung. Das Gerede ist nötig, um einen gemeinsamen Verständnishorizont zu erschaffen, in dem das Dasein sowohl praktische als auch theoretische (wissenschaftliche) Erkenntnisse begründen und entwickeln kann. Wir alle können nicht alle Phänomene ursprünglich untersuchen und/oder erfahren und deswegen brauchen wir das Geredete, um etwas über ›das Phänomen‹ wissen zu können. Die neuen Forschungen der Botanik gründen sich beispielweise auf das voruntersuchte Ergebnis der Photosynthese.

640 641

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Laut Heidegger hat die traditionelle Ontologie das Phänomen der Neugier als eine Tendenz zum Sehen interpretiert. Aristoteles schreibt: »πάντες ἄντρωποι τοῡ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει.« (Arist. Met. A, 1, 980a21). Heidegger interpretiert: »Im Sein des Menschen liegt wesenhaft die Sorge des Sehens.« 642 Dieses Sehen beschränkt sich nicht auf die Fähigkeit der Augen. In Rückgriff auf Augustinus 643 argumentiert Heidegger, dass dieses ›Sehen‹ jedes enthüllende Sichrichten-auf (etwas) meint 644. So verstanden ist dieses Sehen die Bedingung der Möglichkeit alles untersuchenden Verhaltens und aller wissenschaftlichen Erkenntnis 645. Neugier wird in diesem Zusammenhang als θαυμάζειν interpretiert 646. Nun argumentiert Heidegger, dass das Sehen alltäglich die Form eines Sehens »nur um zu sehen« verkörpert 647. Das Sichrichten-auf (die Welt) hat zunächst und zumeist die Form, sagt Heidegger in der Abhandlung Der Begriff der Zeit, eines ›Sichmitnehmenlassen von der Welt‹ 648. In SZ sagt er: Sie [d. i. die Neugier] sucht das Neue nur, um von ihm erneut zu Neuem abzuspringen. Nicht um [die Seiende] zu erfassen und um wissend in der Wahrheit zu sein, geht es der Sorge dieses Sehens, sondern um Möglichkeiten des Sichüberlassens an die Welt. (SZ, S. 172)

Laut Heidegger hat diese Form der Neugier nichts mit dem θαυμάζειν zu tun. Sie sind sogar Gegensätze. Die Charakteristiken dieser alltäglichen Form der Neugier sind das Unverweilen in dem, was erschlossen wurde, die Zerstreuung und die Aufenthaltslosigkeit. Mit der ersten Charakteristik beschreibt Heidegger die Unruhe und Aufregung des alltäglichen Daseins, »das immer Neue und den Wechsel des Begegnenden« zu suchen 649. Das neugierige Dasein verweilt nicht bei etwas, es ist vielmehr, so Heidegger, ›überall und nirgends‹, es springt von Seiendem zu Seiendem. Deswegen sagt Heidegger, dass dieses Sichrichten-auf nicht ein Versuch ist, das Seiende zu enthüllen, sondern vielmehr ein »Wissen, aber lediglich um gewußt zu haSZ, S. 171. Augustinus, Confessiones, lib. X. cap. 35. 644 Vgl. SZ, S. 171–172. 645 So argumentiert Heidegger in GA 64, S. 38 f. 646 Laut Platon (Theätet., 155 c–d) und Aristoteles (Met., 982b11 ff.) ist z. B. das θαυμάζειν (Erstaunen) die philosophische bzw. wissenschaftliche Einstellung. 647 SZ, S. 172. 648 Vgl. GA 64, S. 38. 649 SZ, S. 172. 642 643

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§ 18 Das Intentionalsein als Verdeckendes: Das Verfallen

ben.« 650 Die Neugier ist eine Zerstreuung zwischen den Seienden. Diese Zerstreuung beschreibt dann dieses Sichrichten-auf das Seiende, nur, um von ihm aus zu ›einem neuen‹, welches noch nicht ›völlig‹ verstanden wurde, zu springen. Diese Dynamik wird von Heidegger Aufenthaltlosigkeit genannt. Das neugierige In-der-Welt-sein ist überall und nirgends: Das Dasein »[entwurzelt] sich ständig« 651. An diesen Charakteristika zeigt sich, dass Neugier und Gerede gleichursprünglich (und konstitutiv) sind 652. So kommt Heidegger zu dem Schluss: »Die Neugier, der nichts verschlossen, das Gerede, dem nichts unverstanden bleibt, geben sich, das heißt dem so seienden Dasein, die Bürgschaft eines vermeintlich echten ›lebendigen Lebens‹.« 653 γ.

Die Zweideutigkeit des Verstehens

Den Kern des Phänomens der Zweideutigkeit findet man in den ersten Zeilen des § 37 SZ: Wenn im alltäglichen Miteinandersein dergleichen begegnet, was jedem zugänglich ist und worüber jeder jedes sagen kann, wird bald nicht mehr entscheidbar, was in echtem Verstehen erschlossen ist und was nicht. Diese Zweideutigkeit erstreckt sich nicht allein auf die Welt, sondern ebensosehr auf das Miteinandersein als solches, sogar auf das Sein des Daseins zu ihm selbst. (SZ, S. 173. Eigene Betonung)

Hier werden drei Hauptaspekte dieses Phänomens dargestellt. Erstens beschreibt die Zweideutigkeit die Unmöglichkeit, zwischen dem, was in Bezug auf die direkte Erfahrung des Phänomens verstanden wurde und dem, was in Bezug auf das, was über das Phänomen gesagt wurde, zu unterscheiden. Zweitens ist die Zweideutigkeit nicht etwas Gelegentliches 654, sondern eine konstitutive Tendenz des Verstehens insofern das Dasein Mitsein ist. Drittens erstreckt sich die ZweideutigEbd. Ebd., S. 173. 652 Ebd. 653 Ebd. 654 Sie ist ebenso wenig etwas, dass das Dasein wählen kann. Sie ist, wie das Gerede, ein Konstitutivum des Miteinanderseins: »Dabei ist zu beachten, daß die Zweideutigkeit gar nicht erst einer ausdrücklichen Absicht auf Verstellung und Verdrehung entspringt, daß sie nicht vom einzelnen Dasein erst hervorgerufen wird. Sie liegt schon im Miteinandersein als dem geworfenen Miteinandersein in einer Welt.« (SZ, S. 175). 650 651

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keit sowohl auf das Selbstverständnis als auch auf das Weltverständnis und das Verständnis der anderen Existierenden. Die Zweideutigkeit des Verstandenen kann doppelt sein: »Alles sieht so aus wie echt verstanden, ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht, oder es sieht nicht so aus und ist es im Grunde doch.« 655 Einerseits kann das Phänomen aus dem alltäglichen Diskurs heraus verstanden werden (uneigentliches Verständnis), andererseits kann das Phänomen in einer eigentlichen Weise verstanden werden. Die Zweideutigkeit liegt darin, dass man zwischen diese zwei Verständnisformen nicht mehr unterscheiden kann. Das, was diese beiden problematischen Verstehensweisen entzerren kann, ist der direkte Bezug zum Phänomen bzw. die Evidenz. Nun ist die Zweideutigkeit ein Phänomen des Verstehens bzw. der Auslegung. Sie »hat sich schon im Verstehen als Seinkönnen, in der Art des Entwurfs und der Vorgabe von Möglichkeiten des Daseins festgesetzt.« 656 Die Zweideutigkeit bietet dem Dasein Möglichkeiten, die kein Fundament haben oder besser gesagt, deren Fundament das Gerede ist. Gerede und Neugier formen den gemeinsamen Verständnishorizont, welcher aufgrund der Entwurzelung zweideutig ist und die Zweideutigkeit dieser Ausgelegtheit »gibt das Vor-weg-bereden [des Geredes] und neugierige Ahnen für das eigentliche Geschehen aus« 657. Das primäre Gerichtetsein (d. i. das Umwillen) wird von diesem Horizont beeinflusst. Deswegen sagt Heidegger, dass »[d]as Verstehen des Daseins im Man sich daher in seinen Entwürfen ständig hinsichtlich der echten Seinsmöglichkeiten [versieht].« 658 Man kann die Zweideutigkeit sehr deutlich am Phänomen der Nachrichten erklären. Alltäglich informiert man sich durch die Nachrichten über Ereignisse, die man nicht direkt erfahren kann. Man kann z. B. über ein Problem in einem fernen Land, welches man nie besucht hat, worüber man vorher nichts anders gehört hat, wovon man nichts weiß, etwas hören und sich trotzdem sofort fühlen, als ob man das Problem besser als alle andere verstehe. Man kann auch Mitleid für Leute empfinden, die man nicht kennt, genauso wie man sie verurteilen kann. Man denkt, dass man das Problem kennt, doch 655 656 657 658

SZ, S. 173. Ebd. Ebd., S. 174. Ebd.

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§ 19 Das Sein der Aussage und das Problem des Scheins

man hat keine direkte Erfahrung desselben: In den Nachrichten ersetzt das Geredete (der Diskurs) das Phänomen, sodass der Zuhörer die Illusion hat, das Phänomen selbst zu erfahren. Man weißt nicht mehr, wo genau die Nachricht endet und das Phänomen selbst anfängt. Die Zweideutigkeit ist immer anwesend und verstärkt sich, wenn man eine andere Nachricht hört, die das Gegenteil über das Problem berichtet. Ohne die direkte Erfahrung der Wahrheit des Gegenstandes, kann man dem, was man hört, nicht vertrauen. In der direkten Erfahrung des Phänomens liegt jedoch auch Zweideutigkeit. Jede Erfahrung wird vor dem Horizont einer alltäglichen Ausgelegtheit erfahren. Das mögliche Verständnis schwankt folglich immer zwischen der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit.

§ 19 Das Sein der Aussage und das Problem des Scheins Die Analyse des verfallenden Intentionalseins hat gezeigt, dass in der Beziehung zwischen Verständnis und Sprache die Möglichkeit einer nicht direkten Erfahrung des Phänomens eröffnet wird und dass diese scheinbare Erfahrung des Phänomens das Problem einer Verstellung und Verdeckung des Phänomens selbst bewirken kann. Diese Beziehung wurde von der Seite des Intentionalseins untersucht. Nun ist es aber nötig, sie aus dem Blickwinkel der Sprache zu analysieren. Im Folgenden wird die sprachliche Äußerung der Auslegung (die Aussage) und ihre Verknüpfung mit dem Problem des Scheins dargestellt. α.

Das Sein der Aussage

Es wurde gesagt, dass die Möglichkeit der Verstellung im λόγος ἀποφαντικός bzw. im auslegenden Verständnis gründet und im Mitteilen zum Problem wird. Im diesem Sichherumsprechen, Gerede, verliert das Ausgesprochene seinen Boden mehr und mehr. Durch dieses Gerede, Weitergesprochenwerden ohne Rückgang auf die ausgesprochene Sache wird das Gerede dazu kommen, das, was eigentlich gemeint ist, zu verdecken und zu verstellen. […] Schon das Mitteilen ist in gewissem Sinne ein Irreführen, wenn auch unausdrücklich und unabsichtlich. (GA 18, S. 276)

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

In der Beschreibung der Auslegung wurde festgehalten, dass die Ausdrücklichkeit der Auslegung die Struktur eines ›Etwas als Etwas‹ hat: Das erschließende Seiende wird bezüglich einer Möglichkeit des Daseins als Etwas ausgelegt 659. Zum Beispiel wird dieser Tisch als Schreibtisch durch die Möglichkeit des Schreibens erschlossen. Dieses ›Als‹ der Auslegung wurde als existenzial-hermeneutisches ›Als‹ bezeichnet und von dem apophantischen ›Als‹ der Aussage unterschieden, welches in dem ersten gründet 660. Der sprachliche Ausdruck des Verstehens (und der Auslegung) liegt dann primär in der Aussage. Insofern die Analyse des Geredes gezeigt hat, dass das Problem des Scheins in der innigen Verbindung zwischen Verständnis und Sprache liegt, ist es notwendig, dass die vorliegende Untersuchung das Phänomen der Aussage angeht, um dieses Problem weiter zu klären. Paragraph 33 von SZ und § 17, b und c, der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie (SS, 1927) widmen sich eben dieser Aufgabe. Dort stellt Heidegger fest, dass eine Aussage die ausdrückliche Artikulation des Sinns dessen ist, was (in der Welt) verstanden/ausgelegt wurde. Laut Heidegger hat die Aussage die »charakteristische Doppelbedeutung, daß sie Aussagen und Ausgesagtes besagt.« 661 Aussagen als Akt ist ein intentionales Verhalten des Daseins und immer auf ein Seiendes bezogen. Wie bereits dargelegt wurde, argumentiert Heidegger, dass die intentionale Struktur des Erfahrens nicht nur von intentio-intentum konstituiert ist, sondern dass Letzteres immer schon in einer (bestimmten) Weise verstanden/ ausgelegt wird. Zu jedem intentionalen Akt gehört ein Seinsverständnis dessen, worauf sich der Akt richtet 662. Aus diesem Grund muss das, was die Aussage ausdrückt, zuerst aufgezeigt bzw. verstanden, erschlossen, enthüllt werden. Der intentionale Akt des Aussagens gründet in der Erschließung des Seienden. Heidegger schreibt: [J]ede intentionale Beziehung in sich [hat] ein spezifisches Seinsverständnis des Seienden, worauf sich die intentionale Verhaltung als solche bezieht. Damit etwas ein mögliches Worüber für eine Aussage soll sein können, muß es für die Aussage schon irgendwie als Enthülltes und Zugängliches vorgegeben sein. Die Aussage enthüllt nicht primär als solche, sondern sie 659 660 661 662

Vgl. SZ, S. 149–150. Vgl. ebd., S. 153–154. GA 24, S. 295. Vgl. ebd., S. 100–101.

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§ 19 Das Sein der Aussage und das Problem des Scheins

ist immer schon ihrem Sinne nach auf vorgegebenes Enthülltes bezogen. Damit ist schon gesagt, daß die Aussage als solche nicht Erkenntnis im eigentlichen Sinne ist. Seiendes muß als Enthülltes vorgegeben sein, um als mögliches Worüber einer Aussage zu dienen. […] Das intentionale Verhalten im Sinne des Aussagens über etwas gründet seiner ontologischen Struktur nach in der Grundverfassung des Daseins, die wir als In-derWelt-sein kennzeichneten. Nur weil Dasein in der Weise des In-der-Weltseins existiert, ist ihm mit seiner Existenz Seiendes enthüllt, so daß dieses Enthüllte möglicher Gegenstand einer Aussage werden kann. (GA 24, S. 296)

Dies bedeutet, dass zur Aussage die intentionale Beziehung zu der Erscheinung des Seienden gehört. Das Strukturmoment der Aussage, die diese Beziehung anzeigt, ist die Aufzeigung. Heidegger schreibt: »Die Grundstruktur der Aussage ist Aufzeigung dessen, worüber sie aussagt« und betont, dass das, worüber die Aussage spreche d. i. das Gemeinte, nicht eine Vorstellung, sondern das Seiende selbst sei 663. Dies bedeutet, dass der intentionale Akt des Aussagens nicht ein verkapselter Akt der Vernunft ist, sondern ein Modus des In-der-Weltseins (d. i. ein Transzendieren). Nun hat die Aussage nach Heidegger drei Momente, die ihre Struktur bedingen: das primäre Moment ist die Aufzeigung. Mehr als ein wörtlicher Ausdruck eines Sachverhaltens meint es die Bedingung der Möglichkeit jedes Ausdrucks. Nach Heidegger ist die Aufzeigung die ursprüngliche Bedeutung des griechischen λόγος ἀποφαντικὸς, d. i. »Seiendes von ihm selbst her sehen lassen.« 664 Dieser apophantische Charakter der Aussage nennt Heidegger Ausweisung. Das Moment der Aufzeigung in seinem Ausweisungscharakter wird als ›primär‹ oder als ›gründlich‹ bezeichnet, weil »[a]lle [weitere] Momente der Aussage durch die apophantische Struktur bestimmt [werden].« 665 Es muss etwas Enthülltes geben d. i. etwas, das verstanden wird, um darüber sprechen zu können 666. Das zweite Moment der Aussage ist die Prädikation. Doch diese Prädikation soll nicht als die Zusammensetzung von zwei Wörter bzw. Vorstellungen verstanden werden. Die Struktur Subjekt-Prädikat muss in Bezug auf das Aufzeigungsmoment bzw. auf den Aus-

663 664 665 666

GA 24, S. 297. SZ, S. 154; GA 24, S. 297. GA 24, S. 298. Vgl. ebd., S. 297.

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

weisungscharakter der Aussage interpretiert werden 667. Es wurde gesagt, dass das Ausgesagte das Seiende selbst ist. Das Seiende wird aber nicht abstrakt, sondern im praktischen Umgang verstanden. Das Ausgesagte ist dann das erlebte Seiende. Die Prädikation gründet sich in der Aufzeigung bzw. Ausweisung 668. Doch eine Aussage ist kein Erlebnis, sondern das ›Auseinanderlegen‹ eines Erlebnisses 669. Im Erleben wird das Seiende so und so erlebt bzw. es wird als Etwas verstanden und d. h., es wird in einer besonderen Art und Weise bestimmt. Das Aussagen schränkt die Erfahrung des Seienden ein, um eine Bestimmtheit dieses erlebten Seienden ausdrücklich offenbar zu machen 670. Das ›Resultat‹ des Aussagens, d. i. die Aussage selbst, enthält eine Bestimmung des erlebten Seienden und drückt sie aus, z. B. ›der Hammer ist zu schwer‹. Die Auseinanderlegung ist immer bestimmend. So argumentiert Heidegger, dass zum Sinn der apophantisch-verstehenden Prädikation Auseinanderlegung und Bestimmung gehören 671. Schließlich nennt Heidegger die Mitteilung als das dritte Moment der Aussage. Die Aussage, so Heidegger, »ist Mitsehenlassen des in der Weise des Bestimmens Aufgezeigten.« 672 Mitteilen bzw. Mitsehenlassen, wie bereits erwähnt wurde, bedeutet, mit den Anderen die eigene Welt zu teilen. Als Ausdruck des Inseins vermittelt die Mitteilung die öffentliche Auslegung (der Welt). Das Mitsehenlassen der Aussage ist dann eine Mitteilung der durch die Auslegung erschlossenen Welt. Heidegger kommt zur Definition des Aussage-Phänomens: »Aussage ist mitteilend bestimmende Aufzeigung.« 673 Das Erschlossene, die Ausweisung des Seienden, wird (durch einen eingeschränkten Blickwinkel des Erfahrenden) in einer bestimmten Möglichkeit determiniert und so geteilt, d. i. für andere zugänglich gemacht.

Deswegen besagt Heideggers Ansatz der ursprünglichen Wahrheit als das Selbstzeigen des vom Dasein erschlossenen Seienden (siehe SZ, § 44), dass die traditionelle Definition der Wahrheit als adaequatio d. i. Wahrheit im Urteil, in einem ursprünglichen Umgang mit (dem Seienden) gründet (vgl. GA 26, S. 157–160). 668 Vgl. SZ, S. 154–155. 669 Vgl. GA 24, 298. 670 Vgl. SZ, S. 155. 671 GA 24, S. 298. 672 SZ, S. 155. 673 Ebd., S. 156. 667

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§ 19 Das Sein der Aussage und das Problem des Scheins

β.

Das ontologische Verhältnis zwischen Aussage und Auslegung

Die Analyse der In-der-Welt-sein-Struktur hat gezeigt, dass die Seienden in einem bedeutsamen Horizont ›als‹ etwas (im praktischen Umgehen) erschlossen werden 674 und dass die kontemplative Einstellung eine fundierte (defiziente) Einstellung des primären Inseins ist 675. Dies bedeutet, dass das Dasein das Seiende im alltäglichen Umgehen mit der Welt ›als‹ Zuhandenes erschließt und in dieser Erschließung die Möglichkeit der Kontemplation desselben in seinen Eigenschaften (›als‹ Vorhandenes) besteht. Beide Möglichkeiten gründen sich in möglichen Modi des Inseins (φρόνησις und θεωρία). Die Aussage ist eine Möglichkeit der Sprache, d. i. der Äußerung des artikulierten Verständnisses bzw. der Rede. Diese Äußerung kann »als innerweltlich Seiendes wie ein Zuhandenes« oder als »vorhandene Wörterdinge« auftreten 676, letzteres z. B. in der Linguistik. Grundsätzlich ist hier anzumerken, dass die Aussage ontisch gesehen ein separates Seiendes ist, welches unabhängig sowohl von dem aussagenden Dasein als auch von dem Seienden, von dem es ausgesprochen wurde, ist. Als Beispiel diene die Aussage: ›Dieser Mann hat das Geld gestohlen‹. Diese Aussage ist anders und unabhängig von der Person, die sie ausgesprochen hat, aber auch von dem Mann, der des Diebstahls beschuldigt wird, sowie von der Handlung selbst und den involvierten Objekten (hier das Geld). In dem Moment, in dem das Dasein ›etwas über etwas‹ äußert, teilt es eine Bestimmung von etwas Gezeigtem mit. Diese mitgeteilte Bestimmung ist von diesem Moment an ein getrenntes und unabhängiges Seiendes 677. Insofern die Aussage das Aufgezeigte determiniert, wird dieses nicht mehr in seinem praktischen ›als‹ erschlossen, es ist vielmehr in einer Hinsicht aus der bestimmenden (theoretisch-kontemplativen) Eistellung he-

Vgl. ebd., §§ 15–18. Vgl. ebd., § 13. 676 Ebd., S. 161. 677 Hier muss beachtet werden, dass diese These den λόγος nicht als etwas Vorhandenes interpretiert. Heidegger bringt eine solche Interpretation mit der traditionellen Ontologie in Verbindung (vgl. SZ, S. 159). Hier ist nicht gemeint, dass das in der Rede artikulierte Verständnis ein innerweltliches Seiendes ist, sondern dass die Äußerung dieses Verständnisses bzw. das Resultat des intentionalen Aktes des Aussagens ein innerweltliches Seiendes ist. Diese These stimmt, wie hier gezeigt wird, mit den phänomenalen Tatbeständen überein, welche die phänomenologische Analyse Heideggers liefert. 674 675

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

raus determiniert 678. Das praktische ›als‹ des Seienden, von dem man spricht, wird unterbrochen, sodass eine Bestimmung dieses selben ›als‹ in seinen Eigenschaften vollzogen werden kann. Heidegger argumentiert, dass in diesem Modus des »So-und-so-vorhandensein[s]«, welchen das Seiende in theoretischer Einstellung vollzieht, sich die Möglichkeit des »Zugang[s] zu so etwas wie Eigenschaften« öffnet 679. Heidegger schreibt: »das [praktische] ›Als‹ wird in die gleichmäßige Ebene des nur Vorhandenen zurückgedrängt. Es sinkt herab zur Struktur des bestimmenden Nur-sehen-lassens von Vorhandenem.« 680 Wichtig ist dabei, dass die Aussage als Phänomen immer eine gewisse Verstellung dessen meint, was sie bestimmt. Dies, weil die Aussage niemals das Aufgezeigte in seiner Gesamtheit ersetzen kann. Aus dem oben Gesagten folgt die These: Das apophantische ›Als‹ kann niemals dem existenzial-hermeneutischen ›Als‹ gleichkommen. Mit anderen Worten, die von der Äußerung getragene Bestimmung kann niemals vollständig ersetzen, was im Insein verstanden/interpretiert wurde 681. Die Aussage ist jedoch nicht etwas, das ›aus dem Nichts‹ entsteht, sondern sie drückt vielmehr einen Sinn aus und kommuniziert ihn, und zwar den Sinn des Ausgezeigten. Da die Aussage die explizite Artikulation des Verstandenen/Ausgelegten ist, argumentiert Heidegger, dass sie die Vorstruktur der Auslegung teilt. Die Auslegung vollzieht sich innerhalb eines HoriVgl. SZ, S. 61 ff. SZ, S. 158. Selbstverständlich gibt es andere Arten von Aussagen, die nicht theoretisch-kontemplativ sind (in dem Sinne, dass sie keine Eigenschaften des Seienden erläutern) (vgl. ebd.). Es ist jedoch für alle Aussagen zutreffend, dass sie das Ausgesprochene in einer Hinsicht bestimmen und so die Totalität des Aufgezeigten auf die Bestimmung reduzieren, wodurch die Möglichkeit der Abwesenheit des Aufgezeigten geschaffen wird. 680 SZ, S. 158. 681 Diese These soll nicht missgedeutet werden: Es ist nicht gemeint, dass die Aussage und der Akt des Aussagens nicht dem ›Ding an sich‹ gleichkommen können, und dies, weil sie das Ding immer durch die Seinsart der Erkenntnisfakultät bestimmen. Eine solche These gründet sich auf eine Interpretation des Subjekts als erkennendes Subjekt und des Objekts als erkennbares Objekt: Sie ist deshalb eine These der Vorstellung. Es soll an dieser Stelle vielmehr klargemacht werden, dass die Aussage als konkrete Bestimmung, dem Insein (in denen sich das Seiende schon ›als etwas‹ zeigt) nicht gleichkommen kann. Die These: ›das apophantische Als kommt dem existenzial-hermeneutischen Als nicht gleich‹ ist eine These der Konkretion des Verständnisses. Sie ist nicht eine These der Kenntnis. In dieser These gibt es kein ›Ding an sich‹ (und so auch keine Vorstellung desselben). 678 679

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§ 19 Das Sein der Aussage und das Problem des Scheins

zonts, zu dem eine Vorhabe, eine Vorsicht und einen Vorgriff gehören. Diese Struktur zeigt sich in der Definition der Aussage, die Heidegger liefert: Die Aussage ist eine Aussage von etwas, das sich aufzeigt. Es ist nur möglich, etwas Aufgezeigtes zu bestimmen. Daher hat die Aussage bereits etwas, das sich in der Vorhabe zeigt. Sobald sie etwas bestimmt, reduziert die Aussage das Aufgezeigte auf einen bestimmten Aspekt: »Im bestimmenden Ansetzen liegt ferner schon eine ausgerichtete Hinblicknahme auf das Auszusagende.« 682 Zur Aussage gehört eine Vorsicht, welche immer etwas in einer Weise bestimmt. Nun hat das im Insein Bestimmte (das existenzial-hermeneutische ›Als‹) die Möglichkeit, durch die Äußerung explizit gemacht zu werden, oder nicht. Wenn das existenzial-hermeneutische ›Als‹ geäußert wird, dann konkretisiert es sich als ein innerweltliches Seiendes, das etwas kommuniziert. Heidegger erläutert weiter, dass die ausgesagte Bestimmung mitteilt. Was wird mitgeteilt? Das, was mitgeteilt wird, ist der Sinn. In der Mitteilung ›gehört‹ dieser Sinn jedoch nicht mehr zu dem Seienden (von dem man aussagt: d. i. zur Welt), sondern zu den mitteilenden Seienden. Das Mitgeteilte ist das Insein des mitteilenden Daseins 683. Dies führt zu zwei Problemen: 1. Der mitgeteilte Sinn und der vor-prädikative Sinn sind nicht dasselbe: das apophantische ›Als‹ kommt nicht dem existenzial-hermeneutischen ›Als‹ gleich. 2. Das Insein vollzieht sich in der öffentlichen Ausgelegtheit. Beide Probleme weisen auf die Erschließung der Möglichkeit des Geredes hin 684, weil der mitgeteilte Sinn ein Sinn des (erfahrenden) Seienden ersetzt und die Mitteilung als der Horizont des Verstehens (des Seienden) etabliert wird: Die Erfahrung des Seienden wird durch das ›Sprechen‹ ersetzt und das Beredete wird durch das ›Geredete‹ ersetzt. Diese beiden Probleme weisen zudem darauf hin, dass zur Aussage ein Vorgriff gehört. Das Seiende wird aus einem Horizont verstanden/ausgelegt, der zuvor durch die Erfahrung gegeben wurde. So sind der Ausdruck, die Mitteilung und die Bestimmung von diesem Horizont aus gegeben. Heidegger sagt hierzu: »Zur Aussage als bestimmender Mitteilung gehört jeweils eine bedeutungsmäßige Arti-

682 683 684

SZ, S. 157. Vgl. GA 64, S. 30; SZ, S. 162. Vgl. SZ, S. 168.

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

kulation des Aufgezeigten, sie bewegt sich in einer bestimmten Begrifflichkeit« 685. Damit wird das fundierte Verhältnis zwischen der Aussage in ihrer Auslegung und der Mit-Bestimmung ihrer Vorstruktur deutlich. Die Aussage ist die linguistische Äußerung des Verstandenen/ Ausgelegten und trägt damit die Abhängigkeit des Vor-Horizonts, in dem eine Auslegung möglich ist. Dies zeigt, dass in der inneren Struktur der Aussage, und damit der Sprache, die Möglichkeit der Verdeckung und Verstellung liegt. γ.

Die Aussage und das Problem des Scheins

Auf der Grundlage von Heideggers Definition der Aussage kann eine weitere Analyse stattfinden, welche einen ersten Zugang zum Problem des Scheins ermöglicht. Die Analyse der Aussage zeigt, dass jede Aussage von einem ›Woher‹ beginnt, d. h. von der Bestimmung, die von dem ausgewiesenen Seienden gemacht wurde. Dieses ›Woher‹ ist schon immer durch den beschränkten Blick, durch den das Seiende erschlossen wurde, bestimmt. Dies bedeutet, dass die Möglichkeit der Mitteilung sich immer im Rahmen eines Ersatzes des von der Bestimmung erschlossenen Seienden befindet. Jede Aussage sagt etwas aus (nach Heidegger gibt es ein Geredetes). Das, was gesagt wurde, ist die Bestimmung. Im Sagen bzw. Sprechen liegt die Möglichkeit, gehört zu werden. Jede Aussage trägt die Möglichkeit eins ›An-jemanden‹ (d. i. Mitteilung). Diese/dieser ›jemand‹ erschließt die Aussage in ihrer Innerweltlichkeit. Dies bedeutet, dass jedes Verständnis einer Aussage schon eine neue bestimmte Erschließung (ein neues ›Woher‹) ist. Dieses neue ›Woher‹ hat selbst die Möglichkeit der Mitteilung: So öffnet sie sich die Möglichkeit einer Kette von ›Aussagen‹, in der das ursprüngliche erschlossene Seiende (das Beredete) jedes Mal verdeckt wird. In ihrer Innerweltlichkeit ersetzt die Aussage das erschlossene Seiende jedes Mal. So öffnet die λόγος gleichursprünglich die Möglichkeiten der MitErschließung der Welt und der Mit-Verdeckung der Welt. Dies kann anhand eines Beispiels illustriert werden. Man könnte zu Anderen sagen: ›der Stift ist leicht‹. Als Subjekt des Prädikats wird das Sichzeigen des Stifts schon in einer besonderen Hinsicht, hier 685

Ebd., S. 157.

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§ 19 Das Sein der Aussage und das Problem des Scheins

durch das Gewicht, bestimmt bzw. eingeschränkt. Diese Hinsicht wird in Bezug auf den bestimmten Umgang mit dem Stift (z. B. im Schreiben) ausgelegt. Dieser Sinn kann (mit-)geteilt werden. In der Mitteilung versteht der Andere den Sinn des Stifts im bestimmten Umgang z. B. im Schreiben. Der Andere versteht die Leichtigkeit des Stifts (z. B. als nützlich) ohne sie selbst erfahren zu haben. Wenn der Zweck sich ändert, variieren die Bestimmung und die Auslegung, z. B. wenn man den Stift benutzt, um die Seiten eines Buches zu halten, erscheint der Stift ›nutzlos‹, weil er zu leicht dafür ist. Der Andere muss den Stift nicht erfahren, um ihn schon in dieser Art und Weise zu verstehen. Heidegger schreibt: Das Dasein braucht sich nicht in ›originärer‹ Erfahrung vor das Seiende selbst zu bringen und bleibt doch entsprechend in einem Sein zu diesem. Entdecktheit wird in weitem Ausmaße nicht durch je eigenes Entdecken, sondern durch Hörensagen des Gesagten zugeeignet. (SZ, S. 224)

Hier müssen drei Hauptaspekte betont werden: Erstens ist die Ausweisung eines Seienden in einem Verständnishorizont des Inseins, nämlich die öffentliche Auslegung, gegeben. Zweitens zeigt sich die Bestimmung als vielfältig und relativ: Dasselbe Seiende kann in unendlichen Weisen bestimmt werden, je nachdem, woher die Bestimmung kommt (d. i. in Bezug auf welche existenzielle Möglichkeit es interpretiert wird). Drittens bedingt die Mitteilung die Möglichkeit einer nicht-direkten Erfahrung des Seienden durch einen Interpretierenden, welcher das Seiende in Bezug auf das, was von dem Seienden gesagt wurde, versteht. Mit anderen Worten öffnet die Mitteilung die Möglichkeit des Geredes: In der Mitteilung ersetzt die Bestimmung eines Phänomens das Phänomen selbst. Diese Idee wird wie folgt von Heidegger ausgedrückt: Die Aussage teilt das Seiende im Wie seiner Entdecktheit mit. Das die Mitteilung vernehmende Dasein bringt sich selbst im Vernehmen in das entdeckende Sein zum besprochenen Seienden. Die ausgesprochene Aussage enthält in ihrem Worüber die Entdecktheit des Seienden. Diese ist im Ausgesprochenen verwahrt. Das Ausgesprochene wird gleichsam zu einem innerweltlich Zuhandenen, das aufgenommen und weitergesprochen werden kann. (SZ, S. 224. Eigene Betonung)

Hier legt Heidegger fest: Erstens enthält die Aussage in ihrer Mitteilung das Wie der Bestimmung. Zweitens wird dieses enthaltene ›Wie‹ (d. i. das Woher der Bestimmung) im Ausgesprochenen verwahrt. Drittens kann das Dasein, welches die Aussage gehört und 211 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

verstanden hat, das enthalte ›Wie‹ der Bestimmung, ohne Bedürfnis der direkten Erfahrung des Phänomens weitersagen. Im Paragraphen des Geredes zeigt Heidegger, dass die Substitution des Phänomens durch das Geredete, im Miteinandersein aufgrund der Möglichkeiten des Weiterredens und des Nachredens ihren autoritativen Charakter gewinnt 686. Weiterreden und Nachreden sind Arten des Geredes. Sobald man etwas über etwas gesagt hat, kann man dieses gesagte Etwas teilen. Das geteilte Etwas kann dann nachgesagt werden und so weitergeredet werden. Je mehr das Dasein sich auf das Geredete, statt auf das Phänomen richtet, desto stärker ist die Substitution. Das Dasein kann sehr wohl über das Phänomen sprechen, ohne sich auf das Phänomen zu beziehen, sondern nur auf das, was über das Phänomen gesagt wurde. Das ausgelegte Gesagte ist selbst ein Phänomen, dessen Seinsart der Schein ist. Das Geredete scheint das Phänomen bzw. die Erfahrung des Phänomens zu sein. Hier wird das Problem deutlich: Wenn die heideggersche These ›das Dasein ist sowohl in der Wahrheit als auch in der Unwahrheit‹ 687 befolgt wird, bedeutet dies, dass es die Möglichkeit gibt, dass die mittgeteilte Aussage das Verborgensein (oder den Schein) des Seienden enthält, wenn das Wie der Bestimmung und nicht das Seiende selbst als Bezug dient. Dies eröffnet die Möglichkeit des Wiedersprechens des Scheins wodurch der Schein wiederum fortbesteht und an Stärke gewinnt. Heidegger ist der Meinung, dass »[d]ie Öffentlichkeit in sich die Anweisung zu einem bestimmten Begegnenlassen der Welt [verwahrt].« 688 Dies bedeutet, dass das intentionale Korrelat bzw. die Realität von der Öffentlichkeit (d. i. von der öffentlichen, existenziellen Möglichkeit des Gerichtetseins bzw. des Umwillens) bestimmt wird. Diese Realität ist in der Aussage enthalten, wird verwahrt und weitergesprochen – so konstituiert sich die Realität des Miteinanderseins: Das charakterisierte Phänomen der Öffentlichkeit ist die alltägliche Seinsweise der Entdecktheit. Die Öffentlichkeit regelt unsichtbar und hartnäckig die Ansprüche und Bedürfnisse des Miteinander-in-der-Welt-seins. (GA 64, S. 34)

686 687 688

Vgl. SZ, S. 168. Vgl. ebd., S. 220 ff. GA 64, S. 35.

212 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 20 Die inhärenten Schwierigkeiten in der Sprache

Diese Öffentlichkeit ist, wie Heidegger in SZ festhält, die spezifische Erschlossenheit des Man 689. Durch diese Analyse wird klar, dass das Verständnis von etwas aufgrund unseres Miteinanderseins die Form eines Scheins aufweisen kann. Der Sinn eines Phänomens bleibt zweideutig, bis man die Möglichkeit der direkten Erfahrung dieses Etwas hat. Die Verstellung, die Verdeckung und die Zweideutigkeit gehören zur Sprache bzw. zum auslegenden Miteinandersein.

§ 20 Die inhärenten Schwierigkeiten in der Sprache, welche die Untersuchung eines Phänomens erschweren. Die bisherigen Analysen hatten zum Ziel, folgende These zu entwickeln und zu festigen: In der Mitteilung bestehen die Möglichkeiten des Irrtums im Verstehen und der Verstellung des Phänomens. An dieser Stelle stellt sich die Frage: Wie ist dann eine phänomenologische Untersuchung möglich, wenn es unweigerlich zum Leben dazugehört, Phänomene zu verstellen und verdecken? In der hermeneutisch-phänomenologischen (bzw. ontologischen) Erforschung eines Phänomens müssen drei Hauptmöglichkeiten des Irrtums beachtet und verhindert werden. Francisco de Lara 690 benennt diese Möglichkeiten ›Illusion der Nähe‹, ›ontologische Illusion‹ und ›analytische Illusion‹. Die philosophische Methode, mit deren Hilfe diese Irrtumsmöglichkeiten vermeiden werden können, ist die Interpretation, die sich durch das methodische Mittel der formalen Anzeige immer wieder auf das Phänomen selbst richtet. Im Folgenden werden die Illusionen und die Rolle der formalen Anzeige in der Vermeidung dieser Illusionen dargestellt. Die Illusion der Nähe beschreibt den Irrglauben, das Phänomen verstanden zu haben, obwohl als Bezugspunkt nur das dient, was von ihm gesagt wird. Diese Illusion ist sowohl bei der Auseinandersetzung mit alltäglichen Themen nachweisbar als auch bei der Behandlung wissenschaftlicher Themen. De Lara schreibt hierzu: Wenn wir sagen wollen, was etwas ist, versuchen wir es nicht immer aus unserer direkten Erfahrung heraus, […] im Gegenteil, wir verwenden oft entweder das, was schon darüber gesagt wurde, oder nehmen dies sogar als 689 690

Vgl. SZ, S. 167. De Lara, 2012.

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

Grundlage unserer Betrachtung. In diesen Fällen fragen wir uns nicht, wie und aus welchem Winkel das fragliche Phänomen beleuchtet wird, aufgrund welcher Überlegungen und mit welchen methodischen Ansprüchen es auf diese Weise gesehen wird. Wir hören nicht nur auf, das Phänomen zu sehen, wir erfahren auch nicht die Standpunkte, von denen aus es in einer bestimmten Weise gesehen wurde; vielmehr nehmen wir die Ergebnisse solcher Überlegungen als einen unzweifelhaften Gewinn an und akzeptieren ihn ohne weiteres als Ausdruck des Phänomens. (De Lara, 2012, S. 24. Eigene Übersetzung)

Diese Illusion bezieht sich auf die Ergebnisse der Analyse des Geredes. Das Scheinproblem vollzieht sich in der Sprache; es liegt in der Tatsache begründet, dass ›wir alle‹ einen Zugang zum Gesagten haben, sodass das Gerede die Möglichkeit eröffnet, »alles ohne vorgängige Zueignung der Sache [zu verstehen].« 691 Es verursacht das, was Heidegger eine ›Unterlassung‹ der Beziehung zu den Sachen selbst nennt. Es hemmt, unterdrückt und verzögert diese Unterlassung in der Forschung in »jedes neue Fragen [nach dem Phänomen] und alle Auseinandersetzung [mit dem Phänomen]« 692. Das Gerede hat in Bezug auf die Forschung eine doppelte Wirkung: Einerseits wird ein Bezug zum Phänomen verhindert. Andererseits wird der interpretatorische Horizont verstellt oder bleibt unbemerkt. Anders gesagt, werden sowohl Vorhabe als auch Vorsicht und Vorgriff zweideutig verstanden. Aus diesem Grund sind keine weiteren Untersuchungen möglich. Von dieser Unterlassung kann sich das Dasein nicht befreien. Aus diesem Grund muss die Untersuchung dieses (doppelte) Hindernis in jedem Schritt umgehen bzw. bei Seite räumen, und das ist, wie in dem Methodenteil erklärt wurde, die Aufgabe der formalen Anzeige. Die formale Anzeige muss sicherstellen, dass die Interpretation stets das Phänomen im Blick behält. Sie muss gleichzeitig eine ständige Überarbeitung fordern, die sicherstellt, dass die Interpretation nicht vom Geredeten, sondern vom Phänomen selbst geleitet wird. Die ontologische Illusion weist laut De Lara auf die Tendenz der Sprache hin, über ein implizites Verständnis des Seinscharakters der Dinge zu verfügen, ohne diesen Charakter aus dem Phänomen selbst zu gewinnen. De Lara schreibt:

691 692

SZ, S. 169. Ebd.

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§ 20 Die inhärenten Schwierigkeiten in der Sprache

Diese Illusion besteht darin, alles, worüber gesprochen wird, in ein Schema einzufügen, in dem bestimmte ontologische Kategorien dominieren, insbesondere die des Objekts oder der Substanz (De Lara, 2012, S. 25. Eigene Übersetzung)

Die heideggersche Philosophie zeichnet sich gerade durch den Versuch aus, dieser Illusion zu begegnen. In SZ bringt Heidegger diese Anstrengung zum Ausdruck, wenn er sagt: Es bedarf der ungebrochenen Disziplin der existenzialen Fragestellung, soll nicht doch zuletzt die Seinsart des Daseins sich für den ontologischen Blick in einen, wenngleich ganz indifferenten Modus der Vorhandenheit verkehren. (SZ, S. 343)

Heidegger stellt fest, dass diese Illusion, genau wie die vorherige, auf der Seinsart des Daseins beruht: Heidegger argumentiert, dass das Dasein sich selbst aus dem (besorgten) Seienden heraus versteht/auslegt, was bedeutet, dass es sich zunächst und zumeist als etwas Vorhandenes versteht 693. Die Begriffe, die das Sein der Seienden beschreiben wollen, müssen so ausgearbeitet sein, dass sie selbst nicht die erste Unterlassung sind, auf die sie zugreifen können. Um die ontologische Illusion zu vermeiden, muss sich die Untersuchung auf das Seiende richten, sodass alle Begriffe aus diesem Bezug heraus entstehen. Im Fall des Daseins z. B., argumentiert Heidegger, muss sich die ontologische Untersuchung auf das Dasein richten, sodass alle Explikate ›im Hinblick auf seine Existenzstruktur‹ gewonnen werden 694. Diese Aufgabe muss, wie in SZ (vgl. § 9), von einer formalen Anzeige übernommen werden. Die Notionen von Substanz und Präsenz werden in der heideggerschen Philosophie ständig in Frage gestellt. Aus dieser Auseinandersetzung stammen u. a. die Problematiken der Vergegenständlichung des faktischen Lebens 695, des ontotheologischen Irrtums 696,

Vgl. GA 62, S. 356 ff.; SZ, S. 460; GA 24, S. 384. Vgl. SZ, S. 44. 695 Siehe GA 56/57; 58; 60. 696 Dreyfus betont, dass dieser Irrtum der traditionellen Ontologie darin besteht, das Sein entweder als eine Substanz oder als ein anderes Seiendes (esse supremum) zu begreifen. Dieser Irrtum wird Ontotheologie genannt und führt dazu, die Seiende als selbstständige oder als von einem selbstständigen Seienden abhängig zu begreifen (vgl. Dreyfus, 1991, S. 12). Siehe auch: Thomson, 2011. 693 694

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

der Interpretation der Wirklichkeit als res 697 (als Summe von Vorhandenem). Heidegger argumentiert, dass die Existenzialien das konzeptuelle Ergebnis der direkten Adressierung des Daseinsphänomens sind. Sie kommen aus dem Phänomen selbst heraus. Sie sind keine vorformulierten Begriffe, die dem Phänomen auferlegt werden. Die formale Anzeige erlaubt es plastische (formbare und veränderbare) Begriffe zu gestalten, sodass das Phänomen sie immer neu begründen kann oder sie als ›unzulänglich‹ ausweisen kann. Schließlich haben wir die analytische Illusion, die unseren Blick auf die Möglichkeit des Irrtums in der theoretischen Konzeption des Phänomens richtet. Wie De Lara betont: Da die Sprache die Form einer Artikulation von Teilen bzw. einer Beziehung zwischen unterschiedlichen Elementen hat, passiert es leicht, dass die Unterscheidungen und die Artikulation, die benutzt werden, um die Sachen zu thematisieren, für die Sachen selbst gehalten werden. (De Lara, 2012, S. 25. Eigene Übersetzung)

Hier sind sowohl das Problem des Nominalismus als auch das Problem der theoretischen Trennung eines Phänomens gemeint. Die Sprache tendiert dazu, für eigentlich ›unabhängige Teile‹ alle Unterscheidungsmerkmale des Phänomens zu nehmen und sie dann als die artikulierte Kongregation verschiedener und verwandter Teile darzustellen. Die Präzision, ein Phänomen zu bestimmen und (theoretisch) seine ›Teile‹ zu abstrahieren und zu unterscheiden, ohne zu ignorieren, dass sie ohne das Phänomen als Ganzes nicht gedacht werden können, geht auf so bemerkenswerte Persönlichkeiten in der Geschichte der Philosophie zurück wie Boethius und Thomas von Aquin 698. Der Unterschied zwischen unabhängigen Teilen und Momenten erreicht einen Höhepunkt mit Husserls III logischen Untersuchung 699. Dies zeigt die philosophische Bemühung, gegen diese Heidegger legt fest, dass in der traditionellen Ontologie »die Seinsauslegung zunächst ihre Orientierung am Sein des innerweltlichen Seienden [nimmt]. Dabei wird das Sein des zunächst Zuhandenen übersprungen und zuerst das Seiende als vorhandener Dingzusammenhang (res) begriffen. Das Sein erhält den Sinn von Realität. Die Grundbestimmtheit des Seins wird die Substanzialität. Dieser Verlegung des Seinsverständnisses entsprechend, rückt auch das ontologische Verstehen des Daseins in den Horizont dieses Seinsbegriffes.« (SZ, S. 201). 698 Dazu siehe: Wippel, 1984, Kapitel IV. insbes. S. 81. 699 Dazu siehe Fußnote Nr. 242 der vorliegenden Arbeit. 697

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§ 21 Die erreichte hermeneutische Situation

Tendenz der Sprache vorzugehen. Heidegger stimmt diesem Ansatz zu und erklärt z. B. in SZ, dass die Momente in der Struktur des Inder-Welt-seins nicht als unabhängige Teile interpretieren werden dürfen 700. Die formale Anzeige eröffnet die Möglichkeit der theoretischen Unterscheidung von konstitutiven Momenten des gleichen Phänomens, wobei anerkannt wird, dass diese Unterscheidung rein theoretisch ist. Außerdem erlaubt sie die Modifikation der Begriffe, wenn die theoretischen Unterscheidungen nicht mehr mit dem Phänomen übereinstimmen. Eine hermeneutisch-phänomenologische Untersuchung muss Sorge tragen, dem Phänomen treu zu bleiben, besonders gegenüber der strukturellen Tendenz des Daseins (das zur Sprache gehört), die Phänomene zu verbergen. Die formale Anzeige ist die Methode der ständigen Selbstreflexion zugunsten des Ursprungs des Phänomens. Da die Forschung sich innerhalb der Sprache bewegt, ist sie für die verschiedenen Illusionen anfällig, und es ist die Aufgabe der Philosophie, verstanden als hermeneutische Phänomenologie, diese Schwierigkeiten der Sprache durch ihre Methode zu sehen und anzugehen. Die vorliegende Untersuchung muss dementsprechend stets die Aufgabe im Blick behalten, jede erreichte Bestimmung (des Sinns des Ethischen und/oder des ethischen Seins des Daseins) phänomenologisch zu rechtfertigen bzw. phänomenologisch zu überprüfen.

§ 21 Die erreichte hermeneutische Situation: Das Problem des Scheins und die Problematik des Ethischen Die vorliegende Untersuchung dreht sich um das Verständnis des Ethischen. Welche Information haben die Analysen des Intentionalseins und des Scheinproblems zu dieser Forschung beigetragen? In der Einleitung dieses Teils der Arbeit wurde gesagt: Das Ethische erscheint im ethischen Ereignis, welches aus einem Ich, einem Anderen und einem Akt besteht. Die Analyse des Intentionalseins lieferte die wesentliche Struktur des menschlichen Verhaltens, die Art der Konstitution des Selbst und der Welt. Hier wurde auch betont, dass im Erfahren etwas mitverstanden wird. Das, was im ethischen Ereignis mitverstanden wird, ist das Ethische. Man versteht das, was ethisch 700

Vgl. SZ, S. 53.

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2 · Das Intentionalproblem bzw. das Problem des Scheins

ist ›irgendwie‹. Doch die Analyse des Scheinproblems zeigte, 1. dass das Verständnis zunächst und zumeist zweideutig ist, 2. dass das, was man versteht, die Form eines Scheins aufweisen kann, 3. dass man etwas ›verstehen‹ kann, obwohl man sich nicht auf dieses besondere etwas, sondern auf den Diskurs darüber richtet, und 4. dass das Verständnis ›entwurzelt‹ werden kann und dass dementsprechend das Bedürfnis, sich auf die Sachen zu richten, um eine Bestimmung zu überprüfen, verloren geht. Nun ist die Problematik, wenn sie mit dem Verständnis zu tun hat, eine Problematik der Referenzialität: Versteht man alltäglich das Ethische in Bezug auf das Ethische oder in Bezug auf einen Diskurs? Versteht man alltäglich das Ethische oder seinen Schein? Wie in § 10 der vorliegenden Arbeit argumentiert wurde, hängt die Problematik der Referenzialität mit der Problematik der Seinsmodi des Daseins (Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit) zusammen. Die Analysen der Freiheit zeigten, dass es das Ethische nur für ein Seiendes gibt, welches in seinem Sein frei ist. Dies bedeutet, dass es ein Verständnis des Ethischen nur für ein seinsverstehendes bzw. transzendentes Seiendes gibt. Doch diese Freiheit ist modal und dies bedeutet, dass das Ethische sowohl enthüllt als auch verstellt (und verdeckt) werden kann. Das Verfallen und das Gerede als Tendenz des Intentionalseins und die modale Form der Uneigentlichkeit sind aus diesem Grund Probleme der Ethik. In der Vorhabe steht ein verstehendes Seiendes, dessen Seinsart sowohl eine Enthüllung als auch einer Verdeckung des Verstandenen ermöglicht. Es wird nach dem Verständnis des Ethischen in einem neuen Verständnishorrizont bzw. Vorgriff gefragt: Die Formulierung des Scheinproblems legt nahe, dass die vorliegende Untersuchung nicht nur nach dem alltäglichen Verständnis des Ethischen, sondern auch nach der Seinsart dieses Verständnisses fragen sollte. Der Bereich, in dem man das Ethische alltäglich versteht d. i. der Moralitätsbereich, muss analysiert werden, um eine erste Antwort auf die Fragen zu erhalten. Doch der Versuch einer Antwort muss in Einklang mit den Ergebnissen des ersten Teils dieser Arbeit sein. Dies bedeutet, dass die Untersuchung versuchen muss, sich auf das Phänomen selbst und nicht auf einen Schein desselben zu richten.

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ZWEITER TEIL: Das alltägliche Verständnis des Ethischen, das Problem der Versicherung eines ursprünglichen Sinns des Ethischen und die Erfahrung der ethischen Appellation

Einführung in den zweiten Teil Die vorherigen Analysen haben ergeben, dass zwei Bedingungen erfüllt werden müssen, um das Ethische erfahren zu können: 1. Das Seiende, welches das Ethische erfährt, muss transzendent bzw. frei sein. Die Seinsart dieses Seienden wurde als Sorge definiert und der Sinn dieser Seinsart als Zeitlichkeit. Diese Definition weist darauf hin, dass zum Sein dieses Seienden die Konstitution eines Horizonts gehört. Die Seinsart dieses Seienden wurde als ein ›Intentionalsein‹ beschrieben, d. i. als die Einheit aus einer Seinsweise (Intention: Worumwillen) und einem Horizont (Welt). Sowohl die Selbsterfahrung (Selbstbeziehung) als auch die Erfahrung des Anderen, der innerweltlichen Seienden und Ereignisse überhaupt setzen diese Seinsart voraus. Die Erfahrung des Ethischen ist nur von einem freien, transzendenten Seienden möglich. 2. Es wurde weiterhin deutlich, dass diese Freiheit immer modal ist, was bedeutet, dass dieses Seienden in einer bestimmten Weise mit dem Horizont umgehen muss. Dieser Umgang heißt für das daseinsmäßige Seiende: Entscheiden. Da das Sein des Daseins die Form einer 219 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Zweiter Teil

Aufgabe aufweist, entscheidet sich das Dasein, als freies Seiendes, nicht nur für etwas, sondern auch für sich selbst (als Entscheidendes bzw. Verantwortliches). Freiheit und Modalität sind Bedingungen für einen ›ethischen‹ Horizont, einen ›ethischen‹ Umgang und für die Verantwortung. Was das Ethische ist, ist damit noch nicht geklärt worden, doch es ist klar, dass das ethisch erfahrende Seiende das Ethische irgendwie versteht, insofern es frei in einem ethischen Horizont als entscheidendes Seiendes transzendiert. Sind somit alle Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung des Ethischen erklärt worden? Freiheit und Modalität sind Bedingungen einer Erfahrung überhaupt. Doch die vorliegende Arbeit interessiert insbesondere die Erfahrung des Ethischen. In den folgenden Analysen der alltäglichen Erfahrung des Ethischen wird gezeigt werden, dass man das Ethische alltäglich in Bezug auf die moralischen Normen versteht und dass diese Erfahrung die Erfahrung einer Grenze ist. Die Möglichkeit, eine Grenze zu erfahren, gründet in einem Sein, welches sich in einer normativen Art und Weise vollzieht. Die terminologische Auffassung dieses normativen Charakters der modalen Freiheit ist Ziel dieser Arbeit. Nun wird das ›Wie‹ des Verständnisses der Grenze zuerst in Bezug auf den jeweiligen Horizont des Moralischen untersucht und bestimmt. Doch das Ergebnis des Scheinproblems motiviert die Untersuchung außerdem, eine Überprüfung dieser Bestimmung vorzunehmen. Die Forderung einer phänomenologischen Überprüfung führt dazu, dass sich die Untersuchung nicht nur auf die Erfahrung der Norm, sondern auch auf eine andere Erfahrung richtet, welche den genauen Sinn des Verständnisses einer Grenze erklären kann, und zwar mit positiv methodischem Wert. Der zweite Teil dieser Arbeit wird von den folgenden Forschungsfragen geleitet: Wie versteht das Dasein alltäglich das Ethische? Wie versteht sich das Dasein selbst als ethisches Seiendes? Was ist die Bedingung einer Erfahrung des Ethischen? Wie kann man diese Bestimmung phänomenologisch absichern? Bei der Beantwortung dieser Fragen wird wie folgt vorgegangen: Im Kap. 1 wird (§ 22) der Begriff des Moralitätsbereichs erklärt, (§ 23) der Bezug des alltäglichen ethischen Verständnisses in diesem Bereich, d. i. die prohibitive moralische Norm erforscht, (§ 24) das Verhältnis zwischen dem alltäglichen Dasein und der moralischen Norm untersucht, (§ 25) die Bewegung des (uneigentlichen) Existierens im Moralitätsbereich analysiert, und die Problematik der Er220 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Einführung in den zweiten Teil

setzung des Ethischen dargestellt. Kap. 1 endet (§ 26) mit einer Darstellung der erreichten hermeneutischen Situation und der neuen Fragestellung der Untersuchung. Im Kap. 2 geht es um die Problematik der Versicherung der erreichten Bestimmung aus Kap. 1. Hier wird (§ 27) die moralische Norm als ein Seiendes dargestellt, dessen Sein die Art und Weise des Zeugnisses aufweist. In § 28 wird der Verweisungscharakter des Zeugnisses dargestellt und sein methodischer Wert problematisiert. § 29 folgt dieser Argumentationsrichtung und untersucht den Wahrheitscharakter des Zeugnisses. All dies führt schließlich dazu, dass die Untersuchung die moralische Norm als ungewissen Bezug des Ethischen erkennt (§ 30). Sobald klar ist, dass die Erfahrung der moralischen Norm nicht den ursprünglichen Sinn des Ethischen liefern kann, (Kap. 3) wird nach einem methodischen Zugang zu diesem Sinn gefragt. (§ 31) Die Erfahrung der Bezeugung wird hier als adäquater methodischer Zugang zum Sinn eines zweideutig-verstandenen Phänomens dargestellt. In § 32 wird Heideggers Nutzung der Bezeugung dargestellt, um Klarheit zu erlangen, sowohl über das Phänomen der Bezeugung als auch über seinen methodischen Nutzen. Daraufhin (§ 33) werden die Ergebnisse der Analysen Heideggers dargestellt und die Bezeugung als möglicher Zugang zum ursprünglichen Sinn des Ethischen vorgeschlagen. Kap. 4 beschäftigt sich mit der Analyse der Erfahrung der Irregularität als Bezeugung der Möglichkeit eines neuen Sinns des Ethischen. Hier wird zunächst (§ 34) die Erfahrung der Irregularität beschrieben und diese wird dann (§ 35) als Bezeugung eines Rufs des Ethischen interpretiert. Hier wird der ursprüngliche Sinn des Ethischen bzw. der Grenze erfasst und mit dem Sinn, welcher aus der Erfahrung der prohibitiven moralischen Norm resultiert, kontrastiert. Darüber hinaus wird die Erfahrung der Apellation des Ethischen auf das normative Sein des Daseins hinweisen und damit eine begriffliche Auffassung dieses Seins ermöglichen. In § 36 werden die positiven Modi der Fürsorge und ihre Sichtarten in Bezug auf den erreichten hermeneutischen Horizont analysiert. Schließlich werden alle Erkenntnisse zusammengeführt und es wird ein Begriff vorgeschlagen, welcher die Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung des Ethischen vereint.

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Kapitel 1. Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen in Bezug auf die moralische Norm

Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, das alltägliche Verständnis des Ethischen zu analysieren. Dieses Verständnis wurde mit dem Selbstverständnis in Zusammenhang gebracht. Die vorherigen Analysen haben die Art und Weise, in der das Dasein versteht, dargestellt. Die Aufgabe des vorliegenden Kapitels ist die Beschreibung sowohl des Bereichs, in dem das Dasein alltäglich das Ethische versteht, als auch der Weise, in der das Ethische in diesem Bereich alltäglich verstanden wird. Die existenziale Struktur des Man und die existenzielle Selbstauslegung (nämlich das Man-Selbst) wurden bereits dargestellt. In diesem Kapitel soll das Verhältnis zwischen der existenzialen Struktur des Man, dem existenziellen Man-Selbst und dem Bereich, in dem das Dasein das Ethische versteht, phänomenologisch untersucht werden. Dazu muss zunächst eine Abgrenzung des Begriffs des Moralitätsbereichs vorgenommen werden. In dieser Abgrenzung wird ein besonderes Verhältnis zwischen dem alltäglichen Verständnis des Ethischen und der moralischen Norm aufgewiesen. Durch die Analyse dieses Verhältnisses wird ein Sinn des Ethischen erreicht. Dieser Sinn hängt allerdings vom Bezug auf die moralische Norm ab und deswegen müssen sowohl das Sein der moralischen Norm als auch das Verhältnis zwischen ihr und dem Man-Selbst untersucht werden. Ist dies erklärt worden ist, kann die Frage gestellt werden, ob der erreichte Sinn des Ethischen ursprünglich ist oder ob er aus der dargestellten uneigentlichen Tendenz des Existierens entsteht.

§ 22 Die Abgrenzung des Begriffs des Moralitätsbereichs und das alltägliche Verständnis des Ethischen Im Methodenteil wurde das Dasein als ein solches Seiendes formal angezeigt, welches innerhalb eines Verständnishorizonts des Ethi222 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 22 Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

schen ist und stets zwischen den Möglichkeiten dieses Horizonts entscheiden muss. Im Methodenteil wurde ebenso gesagt, dass der faktische Bereich dieses Umgangs ›Moralitätsbereich‹ genannt wird. Es wurde auch gesagt, dass das Dasein in diesem Bereich in einer normativen Art und Weise (die Moralität) existiert. Die Analyse dieses Bereichs ist dann die Analyse der ontisch-moralischen Ebene, welche als Evidenz für die weiteren ontologischen Analysen dient. Obwohl diese ersten Bestimmungen sehr theoretisch sind und aus methodischen Gründen gemacht wurden, weisen sie auf keine Abstraktion hin, sondern auf einen faktischen Aspekt des Lebens, nämlich auf den Bereich der sozialen Dynamik des Daseins. Nun muss dieser Bereich, insofern er ›faktisch‹ ist, in der Alltäglichkeit des Daseins erkennbar sein. Der gesellschaftliche Aspekt des Daseins wurde in der Geschichte der Philosophie schon früh als ein wesentlicher Aspekt dieses Seienden erkannt. So hat Aristoteles über den Menschen als politisches bzw. gesellschaftliches Lebewesen (ζῷον πολιτικόν) gesprochen 701. Bezüglich dieser Bestimmung betont Heidegger in seiner Vorlesung vom Sommersemester 1924, dass sie nicht nur als eine Bestimmung des ontischen Miteinanderseins des Daseins verstanden werden soll, sondern auch als eine Seinsbestimmung dieses Seienden. Vor diesem Hintergrund konzipiert Heidegger diese Seinsbestimmung in Zusammenhang mit der Grundbestimmung ζῷον λόγον ἔχον 702. Die Interpretation Heideggers dieses Zusammenhangs in der Vorlesung von 1924 weist einerseits darauf hin, dass das Verständnis bzw. die Welterschließung immer mit anderen Existierenden (aufgrund von Sprache und Kommunikation bzw. Mitteilung) geschieht und andererseits, dass das Miteinandersein immer ein Verständnis dieses Seins (mit Anderen) ist. Das Dasein ist faktisch mit Anderen, es handelt in dem besorgten Miteinander-Umgehen (in der Welt) und beurteilt seine eigenen Siehe Arist. Pol. I, 2. Laut Aristoteles ist der Mensch nicht das einzige gesellschaftliche Lebewesen (ζῷον πολιτικόν). Andere gesellschaftliche Lebewesen sind z. B. Bienen, Wespen, Ameisen, u. ä. (vgl. Arist. Hist. an., I 487b33–488a10). Das, was den Menschen von diesen Tieren unterscheidet, ist, dass er λóγος hat. Mit dem λóγος, erklärt Höffe, bildet der Mensch den Sinn von gut und schlecht, gerecht und ungerecht und kann eine (moralische, politische, gesetzliche) Gemeinschaft darauf gründen (vgl. Arist. Pol., I a 1253a7–18. Siehe Höffe, 2005, S. 620–621). Dies bedeutet, dass der λóγος das gesellschaftliche Leben moralisch macht. 702 Zur Abhängigkeit von den Grundbestimmungen ζῷον λόγον ἔχον und ζῷον πολιτικόν nach Heidegger siehe GA 18, S. 43 ff.; besonders S. 47 f. 701

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Handlungen und Beurteilungen und die der Anderen. Es ist klar, dass nicht alle Handlungen (und Beurteilungen) des Daseins moralisch beurteilbar sind, doch es ist auch unbestreitbar, dass es eine moralische Dimension des Handelns und Beurteilens gibt. Im Existieren in der Welt bewegt sich das Dasein schon immer in einem moralischen Bereich. Das Handeln als solches setzt ein Verständnis dieses Bereichs voraus. Eine Handlung ist seit Aristoteles in Zusammenhang mit dem freien Willen (ἑκούσιος) und der überlegten Unterscheidung (προαίρεσις) zu verstehen 703. Etwas wird von Jemandem, der es tun kann und sich dafür entschieden hat, getan. Eine Handlung unterscheidet sich dann von einem Geschehen, insofern die Handlung ein Seiendes voraussetzt, dessen Seinsart das Möglichsein ist, d. h. ein Seiendes, welches sich für etwas entscheiden kann, und zwar in einer bestimmten Art und Weise 704. Heidrun Hesse erklärt: Während Geschehnisse einfach einzutreten pflegen oder auch nicht, kann von Handlungen nur die Rede sein, wo handelnde Subjekte, Akteure, in den Lauf der Dinge eingreifen, indem sie ein bewußtes Vorhaben zu verwirklichen suchen. Eine Handlung ist daher etwas, was der/die jeweils Handelnde prinzipiell auch hätte unterlassen und an dessen Stelle er/sie auch etwas anderes hätte tun können. (Hesse, in Düwell; Hübenthal; Werner (Hrsg.), S. 396)

Der schon beschriebene Begriff der modalen Freiheit des Daseins erfüllt diese Bedingungen. In diesem Sinne sind Handlungen in Bezug auf ein Seiendes zu verstehen, welches die Möglichkeit der Entscheidung hat und damit die Verantwortung für seine Entscheidungen trägt. Die existenzielle Möglichkeit der Verantwortung gründet sich im Freisein des Daseins und ist ausschlaggebend für die Zugehörigkeit zum Moralitätsbereich 705. Jemand ist verantwortlich für etwas, nur insofern ein/eine Betrachter/in (der/die ein/eine Außenstehende/r, oder auch man selbst bzw. das Gewissen sein kann) ihn/sie als verantwortlich dafür hält. Das Phänomen des Beurteilens kann dementsprechend Auskunft über den Moralitätsbereich geben.

Vgl. Arist. Eth. Nic., 1109b30 ff. Siehe auch 1139a. ff. Der Aspekt des Möglichseins ist, wie schon Aristoteles angemerkt hat, mit der faktischen Situation verbunden (vgl. Arist. Nic. Eth., 1110a4 ff.). 705 Die Geschichte der Philosophie hat gezeigt, dass keines dieser Phänomene (Moralität, Verantwortung und Freiheit) ohne die anderen konzipiert werden kann. 703 704

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§ 22 Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

(Be-)Urteilen kann auf verschiedene Weisen verstanden werden. (Be-)Urteilungen können sowohl Beschreibungen einer Tatsache sein: deskriptive Urteile, wie z. B. X hat ein Gemälde gestohlen; als auch Bewertungen einer Tatsache: Werturteile, wie z. B. das, was X gemacht hat, ist falsch. Letztere können sowohl moralisch, wie z. B. X ist ›ein Verbrecher‹ und deshalb eine ›böse‹ Person, als auch nichtmoralisch bzw. ästhetisch sein, wie z. B. das gestohlene Gemälde ist ›wertvoll‹, ›gut‹, ›schön‹, ein ›Meisterwerk‹, u. ä. 706 Die deskriptiven Urteile werden in der Erkenntnistheorie als Beschreibungen eines allgemeinen Sachverhaltes oder eines Einzelfalls definiert, welche die sprachliche Form eines Aussagesatzes haben und sich in Bezug auf den konkreten Sachverhalt oder Einzelfall entweder als wahr oder falsch erweisen können 707. Die Werturteile werden laut Hans Albert durch drei Aspekte definiert: Erstens sind es Urteile, die ein Faktum entweder als positiv oder negativ bewerten; zweitens sind es Urteile, deren Bewertungen gleichzeitig ein normatives Prinzip in sich tragen, das für sich Gültigkeit beansprucht; drittens sind es Urteile, die aufgrund der positiven/negativen Bewertung und des normativen Prinzips eine präskriptive Erwartung aufweisen 708. Die Möglichkeit des moralischen Werturteilens liegt im Verantwortungscharakter des beurteilenden, freien Seienden begründet. Dies bedeutet, dass ein Werturteil, wie z. B. was er/sie gemacht hat, ist ›falsch‹, nur verständlich ist, wenn es ein freies entscheidendes Seiendes gibt, welches seine Entscheidung ›irgendwie‹ getroffen hat. Eine Handlung kann als ›moralisch‹ verstanden werden, insofern sie von einem freien, entscheidenden und verantwortlichen Seienden durchgeführt wurde. Schon Aristoteles’ Begriff προαίρεσις beschreibt, dass der Wille einen Grund haben muss, um sich für etwas zu entscheiden. Dies zeigt sich schon in der Seinsbestimmung der Freiheit (Transzendenz: Umwillen; Nichtigkeit: Verantwortlichkeit). Die Entscheidung und die Verantwortung verknüpfen das Handeln mit einem normativen Prinzip: man soll so und so handeln, weil … Das Sollen impliziert immer ein Prinzip und erlegt eine präskriptive Erwartung auf. Das moralische Handeln ist ein Handeln, das sich auf eine normative Sphäre bezieht. Man versteht ›irgendwie‹ die HandVgl. Kirchner et al., 2013, S. 730. Vgl. Brugger; Schöndorf, 2010, S. 531. 708 Vgl. Albert, in Albert; Topitsch, (Hrsg.), 1971, S. 200–236. Siehe auch: Weber, 1988, S. 489. 706 707

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lung als moralisch und nur aus diesem Grund kann sie beurteilt werden. Nun konzentriert sich die vorliegende Untersuchung auf die moralische Dimension des Handelns und Beurteilens 709. Doch hier muss beachtet werden, dass eine ontologische Untersuchung nicht die spezifischen und konkreten Handlungen und Beurteilungen des moralischen Daseins erforscht, sondern die Weise, in der sich diese spezifischen und konkreten Handlungen und Beurteilungen vollziehen. Wie ist das Dasein zunächst und zumeist moralisch in der Welt? Die bisherige Analyse der Öffentlichkeit suggeriert eine formale Antwort: Das Dasein handelt und beurteilt, wie man handeln und beurteilen soll. Der gesellschaftliche Aspekt des Daseins zeigt sich faktisch in der Weise des Man 710. Das Dasein richtet sein Handeln Das Miteinandersein besteht auch aus Politik, Ökonomie und Gesetzt (Recht). Diese Aspekte des Miteinanderseins können allerdings im Rahmen dieser Arbeit nicht analysiert werden. 710 Vgl. GA 18, S. 63–64. Heideggers Analyse des gesellschaftlichen Aspekts des Existierens wurde vielfach kritisiert. Siehe: Levinas, 1961; Löwith, 1981, S. 9–197; Theunissen, 1965; Carr, 1991; Benedikt, in Papenfuss; Pöggeler (Hrsg.), 1991, S. 217–225; Luckner, 1997, S. 54; Demmerling, in Rentsch (Hrsg.), 2001, S. 96; McGuire; Tuchanska, 2000, S. 67; Olafson, 1999, S. 101. Während Theunissen (ebenso wie Hannah Arendt) argumentiert, dass in Heideggers Analysen nur der negative Aspekt des gesellschaftlichen Miteinanderseins analysiert wird, stellt Carr z. B. fest, dass die heideggerschen Analysen keine Sozialphilosophie liefern. Unter ›Sozialphilosophie‹ versteht Carr »eine explizit ausgeführte philosophische Reflexion über das Soziale als solches, d. h. über das Zusammenleben der Menschen und die Bedingungen seiner Möglichkeit.« (Carr, 1991, S. 236). Olafson stellt fest, dass die Analyse Heideggers keine »adäquate Anerkennung der Implikationen der wechselseitgen Präsenz [liefert], welche die vielfältige Natur unser Ek-sistenz mit sich bringt.« (Olafson, 1999, S. 101. Eigene Übersetzung). McGuire und Tuchanska argumentieren ihrerseits, dass Heideggers Ansatz ›monadisch‹ ist und dass deswegen in seiner Ontologie keine Beziehung zwischen dem Dasein und dem Anderen zu finden ist (McGuire; Tuchanska, 2000, S. 67). In diese Richtung geht auch Tugendhats Argument, dass die Analyse Heideggers keine Erklärung der »institutionelle[n] gesellschaftliche[n] Zusammenhänge« bietet (Tugendhat, 1979, S. 229). Carr vertritt die Meinung, dass »[e]s nicht [genügt], über das Individuum zu sprechen, um zu verstehen, wie Individuen zueinanderstehen und miteinander – und gegeneinander – leben. Und es genügt auch nicht, über soziale Einheiten wie Volk, Staat, usw. zu reden, wie es Heidegger manchmal tut, vor allem in den politischen Reden der Rektoratszeit, um zu wissen, wie sich das Individuum zu diesen Einheiten verhält.« (Carr, 1991, S. 237). Carr geht noch weiter und sagt, dass es in Heidegger keine Sozialphilosophie gibt, und wenn es eine gäbe, diese totalitär wäre (vgl. ebd., S. 243). Eine tiefergehende (ontologische) Diskussion dieses Themas findet man in Schatzki, in Dreyfus; Wrathall (Hrsg.), 2005. Siehe insbes. S. 236–238; 245 f. 709

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im Moralitätsbereich am normativen Prinzip aus, welches das Man vorschreibt. Man soll in einer gewissen Art und Weise handeln und beurteilen. In diesem Sinne ist das normative Prinzip des Handelns und Beurteilens nicht etwas Persönliches, sondern etwas Gesellschaftliches, d. h. etwas, das sich auf die gesellschaftliche Sphäre der Existenz bezieht 711. Es ist eine allgemeine Idee des Richtigen bzw. dessen, was man vom Anderen ›normalerweise‹ erwartet 712. Das Dasein, welches in Bezug auf ›persönliche‹ Prinzipien handelt und beurteilt, wird selbst in Bezug auf die gesellschaftlichen Prinzipien moralisch beurteilt und behandelt. Diese Art der Einebnung reduziert die persönlichen Prinzipien auf Prinzipien, welche von der Gesellschaft als die Wahren und Richtigen verstanden werden. Diese Prinzipien kommen nicht ›aus dem Nichts‹, sie haben ihre Basis vielmehr im gesellschaftlichen Charakter des Lebens. Anders gesagt, basiert das Verständnis des Sollens auf der Öffentlichkeit des Man: Heidegger selbst unterstützt diese These, wenn er darauf hinweist, dass das Man bestimmt, was man tun und nicht tun ›soll‹, und dementsprechend festlegt, was man für ›gut‹ oder ›schlecht‹ hält 713. In diesem Sinne ist eine Art von Normativität im Moralitätsbereich zu finden. Wie Steven Crowell und Pierre Keller erkennen, bezieht sich diese Normativität auf unsere praktischen Identitäten (bzw. sozialen Rollen) 714. Man erwartet z. B. eine bestimmte Haltung von einem/ einer Polizist/in, von einem/einer Lehrer/in, von einem/einer Sohn/ Tochter usw. Diese Erwartung, die mit den sozialen Rollen verbunden ist, ist die Basis der Normativität des Moralitätsbereichs. Darüber hinaus gründen die individuellen existenziellen Möglichkeiten (welches Diese These stimmt mit der naturalistischen Hypothese Tomasellos überein, dass der (primitive) Sinn des Guten und Bösen von der sozialen (kulturellen) Sphäre geleitet wird. Tomasello führt an, dass sich die kulturelle Konvention des Homo sapiens sapiens aus der ›kollektiven Intentionalität‹ herleitet und dass sich der Sinn des Guten und des Bösen von dieser kulturellen Konvention ableiten lässt (vgl. Tomasello, 2016, S. 5; 121 ff.). 712 Laut Benedict ist eine Idee des Richtigen (des Guten) synonym mit einer Idee des Normalen. Das, was in einer Gesellschaft richtig ist, ist manchmal das, was für diese Gesellschaft normal ist. Laut Benedict sind beide Formen kulturell bedingt (vgl. Benedict, in Moser; Carson (Hrsg.), 2001, S. 80–89). »The concept of the normal is properly a variant of the concept of the good. It is that which society has approved.« (Ebd. S. 87). 713 Vgl. SZ, S. 127. 714 Vgl. Crowell, in Polt (Hrsg.), 2005; 2013, S. 169 ff.; Keller, 1999, S. 238 ff. 711

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ein Dasein von den Anderen unterscheidet) in »einer gewissen Durchschnittlichkeit dessen, was Brauch ist, […] was man gelten und nicht gelten läßt« 715, wie Heidegger deutlich in der Abhandlung Der Begriff der Zeit ausdrückt. Das Man bzw. die Tendenz des Daseins sich auf eine öffentliche Ausgelegtheit zu richten, um sich selbst und die Welt zu verstehen, begründet den Moralitätsbereich. Der Moralitätsbereich kann so als der Bereich der durchschnittlichen moralischen Geltung definiert werden, in der sich der (Ge-) Brauch 716 gründet. Der Begriff ›Moralitätsbereich‹ bezeichnet dann den faktischen Bereich, in dem das Dasein, in Bezug auf das öffentlich wirksame Prinzip des alltäglichen moralischen bzw. bewertenden Verständnisses des Miteinanderseins, handelt und beurteilt. Der Moralitätsbereich ist der Bereich, in dem das Dasein etwas als ›das Ethische‹ verstehen kann. Es wurde gesagt, dass die existenzielle Möglichkeit der Verantwortung (d. h. sich die eigenen Entscheidungen anzueignen) die Bedingung der Möglichkeit des Moralitätsbereichs ist. Heidegger argumentiert aber, dass das Selbst der Alltäglichkeit das Man-Selbst sei und dass dieses Selbst sich seine Möglichkeiten nicht aneigne, sondern das tue, was Alle tun würden. Diese ›Alle‹ seien ein Niemand und als solches, sagt Heidegger, nehme es dem Dasein die Verantwortlichkeit ab 717. Wie können diese zwei Thesen zusammenpassen? GA 64, S. 27. Eigene Betonung. Wie im Methodenteil erwähnt wurde, kann das Ethische aufgrund seiner etymologischen Bedeutung mit (Ge-)Brauch gleichgesetzt werden. Das Präfix ›ge-‹ wird hier betont, um einen kollektiven Charakter zu markieren. Zwischen anderen Bedeutungen deutet das Präfix ›ge-‹ in der deutschen Sprache einen kollektiven bzw. öffentlichen Charakter des Nomens an: »Ge- gemeingerm. unbetontes Präfix […]. Die Bedeutung geht im Germ. von dem Begriff des Zusammenseins, der Zusammengehörigkeit, der Vereinigung aus. […] Die Herkunft des Präfixes ist nicht geklärt. Semantische Berührung besteht mit dem Präfix lat. com- (s kon-) und der Präposition lat. cum ›mit, zusammen mit, zugleich mit‹ sowie mit damit verwandtem griech. koinós (κοινός) ›gemeinsam‹ (aus * κομιός ›miteinander gehend‹) […].« (Pfeifer,1993a, S. 403–404). 717 Vgl. SZ, S. 127. Siehe dazu Kellner, 2007, S. 199. Es ist interessant, dass diese ontologische Beschreibung Heideggers eine Übereinstimmung mit dem psychologischen Begriff der Deindividuation aufweist. Zimbardo war der erste, der experimentell gezeigt hat, dass sich Personen, die über Anonymität verfügen, von der Verantwortung ihrer Handlungen distanzieren. Es wurde erwiesen, dass Deindividuation (d. h. nicht als ein Individuum erkennbar sein) die Personen dazu motivieren kann, Sachen zu machen, die sie niemals gemacht hätten, wenn sie sich für diese Sachen persönlich hätten verantworten müssen. Es wurde deutlich, dass es eine Korrelation zwischen Deindividuation und Verringerung des Verantwortungsgefühls gibt (vgl. 715 716

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Das existenziale Man ist die Basis, so Heidegger, sowohl des ManSelbst als auch des eigentlichen Selbst 718. Das eigentliche Selbst ist ›das eigens ergriffene Selbst‹, d. h. das Selbst, welches sich selbst in Bezug auf angeeignete Möglichkeiten versteht. Es kann gesagt werden, dass das Dasein sein ethisches Sein im Moralitätsbereich sowohl in Bezug auf angeeignete Möglichkeiten als auch in Bezug auf nicht angeeignete Möglichkeiten verstehen kann, mit anderen Worten: Es kann sich in diesem Bereich sowohl als verantwortlich als auch als nicht verantwortlich verstehen. Im ersten Fall macht sich das Dasein die Moral zu Eigen, während es in Letzterem lediglich dem Man folgt und dessen Moral übernimmt, ohne diese zu hinterfragen 719. In beiden Fällen besteht Verantwortlichkeit, d. i. die konstitutive Forderung, sich für etwas entscheiden zu müssen und diese Entscheidung als eigen zu verstehen. Im ersten Fall jedoch ist diese aktiv in der Form der existenziellen Verantwortung ausgedrückt, während sie im zweiten Fall passiv als bloße Konformität (Anpassung an die Möglichkeiten, die vom Man gegeben werden) ausgedrückt ist. Um diese These zu begründen, muss hier klar zwischen Verantwortung und

Zimbardo, 1969). Dies gilt sowohl für Einzelpersonen (z. B. ›Internet Troll‹) als auch für Mitglieder einer Gruppe (z. B. ›Hooligans‹). Obwohl die Experimente Zimbardos (und seiner Nachfolger), den Einfluss der Deindividuation auf die (impulsive) Überschreitung normierter Verhaltenseinschränkungen untersuchen, wäre es auch sehr interessant zu erforschen, welchen Einfluss die Deindividuation auf die kritische Fähigkeit hat, die Gründe, den Wert und die Konsequenzen eines gruppeninternen Verhaltenskodex zu bewerten. Kurz gesagt: Es wäre wichtig, nicht nur die Wirkung der Deindividuation auf die Überschreitung von Verhaltensnormen zu erforschen, sondern auch herauszufinden, wie sie sich auf die (akritische) Zustimmung und Unterstützung von Verhaltensnormen auswirkt und inwieweit dies dann eine Verringerung des Verantwortungsgefühls bewirken kann. 718 Vgl. SZ, S. 129. 719 Luckner beschreibt die Uneigentlichkeit des Man-Selbst als ein sich Überlassen an Sitten, Regeln und Gebräuche (Luckner, in Rentsch (Hrsg.), 2001, S. 155). Dreyfus (1991, S. 3) und Crowell (2013, S. 202) nennen dies ›mindless coping‹. Es muss erkannt werden, dass der Uneigentlichkeit des Man, aufgrund der normativen Dimension der sozialen Rollen, eine Art ›Verantwortung‹ anhaftet (vgl. Keller, 1999, 238 ff.). Dennoch ist diese ›Verantwortung‹ normkonform, d. h. sie besteht aus der Erfüllung der sozialen Erwartungen und nicht aus der Aneignung der eigenen Verantwortlichkeit. Heidegger stellt fest, dass das Man dem Dasein die Verantwortlichkeit abnimmt: Dieses ›Abnehmen‹ geschieht in der Form einer Verstellung der Verantwortung. Die vorliegende Arbeit bezeichnet die Aneignung der Verantwortlichkeit als Verantwortung. Die ›Verantwortung‹ die zur normativen Dimension der sozialen Rollen gehört, wird Konformität oder Anpassung an die Norm genannt.

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Verantwortlichkeit unterschieden werden 720. Die Unterscheidung wurde nicht von Heidegger getroffen, aber sie erscheint in der Forschungsliteratur und konstituiert einen wichtigen Aspekt der Analyse der Normativität des Daseins. Die Verantwortlichkeit, wie François Raffoul richtig argumentiert, hat mit dem traditionellen Begriff (Accountability) nichts zu tun 721. Der Begriff Verantwortlichkeit muss weder in Bezug auf den Begriff ›Subjekt‹ noch auf den Begriff ›Freier Wille‹ (Kausalität) verstanden werden, sondern in Bezug auf die formalen Anzeigen ›Jemeinigkeit‹ und ›Zusein‹ 722. Die Anzeige ›Verantwortlichkeit‹ weist auf eine existenziale Konstitution des Seins des Daseins hin, nämlich auf das Grundsein, d. h. auf den situierten Selbstbezug des Seinkönnens (ontologische Ebene). Wenn Heidegger in SZ sagt, dass das Man dem Dasein seine Verantwortlichkeit abnimmt, meint er, dass das man den Selbstbezug des Seinkönnens ›unterbricht‹. Die Verantwortung muss ihrerseits als eine existenzielle Möglichkeit des Daseins interpretiert werden und gründet deswegen in der existenzialen Konstitution der Verantwortlichkeit 723. Diese Anzeige weist auf die existenzielle/ontische Möglichkeit der Aneignung sowohl der eigenen Entscheidungen als auch des Entscheiden-Müssens hin (ontische Ebene). Die Verantwortung vollzieht sich im Moralitätsbereich, d. h. im Bereich der Normativität und hat deswegen mit der Accountability zu tun 724. Aufbauend auf diese Unterscheidung kann argumentiert werden, dass sich die Verantwortlichkeit des Man-Selbst zunächst in einer solchen Art und Weise manifestiert, dass diese für es selbst verdeckt bleibt. Man braucht ein Prinzip, welches unterscheidet und darüber informiert, was man tun soll und was man nicht tun soll. Dieses Prinzip ist dementsprechend der Verständnispunkt des Moralischen. Die Frage ist an dieser Stelle: Wie versteht man alltäglich das, was moralisch und richtig ist? Wenn man im Alltag eine Pflicht (bzw. das Sollen) begründen muss, wiederholt man das Sprichwort: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu« 725, oder beSiehe mehr dazu in §§ 24; 32, β u. γ; 33 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Raffoul, in Roffoul; Pettigrew (Hrsg.), 2002. 722 Vgl. ebd., S. 206 f. 723 Hodge schreibt: »Responsibility presupposes responsiveness.« (Hodge, 1995, S. 198). 724 Vgl. Crowell, 2013, S. 209. 725 Samuel Singer: Thesaurus proverbiorum medii aevi. Band 2, Berlin 2001, S. 43 ff. Siehe verschiedene Formen dieser Regel in: Die Bibel: Tob. 4,15; Mt. 7,12; Lk. 6,31, 720 721

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§ 23 Das alltägliche Verständnis des Ethischen

zieht sich auf eine religiöse Lehre: man soll nicht lügen, weil es in den zehn Geboten steht. Es ist klar, dass unsere heutigen Gesellschaften nicht religiös- und/oder werthomogen sind und dass es eine Pluralität von möglichen Bezügen gibt, um das Ethische zu verstehen, doch allgemein kann gesagt werden, dass es in jeder Gesellschaft moralische Normen gibt und dass diese dem öffentlichen Verständnis des Richtigen entsprechen. Die moralischen Normen tragen die normativen Prinzipien des Moralitätsbereichs in sich und dienen als Bezug des ethischen Verständnisses. Die Analyse des Moralitätsbereichs wird von der heideggerschen These geleitet, dass der alltägliche Horizont des Verstehens durch das Man bzw. durch die Tendenz, sich und die Welt in Bezug auf die öffentlichen Möglichkeiten zu verstehen, konstituiert wird. In Übereinstimmung mit dieser These wird suggeriert, dass das Verständnis des Ethischen in Bezug auf die jeweilige Idee des Richtigen geschieht, und dass diese Idee aus der Öffentlichkeit heraus entsteht und ihren Ausdruck in den moralischen Normen findet. Im Folgenden soll dieser Bezug analysiert werden. Dafür werden die Seinsart der moralischen Norm und ihre Beziehung mit dem alltäglichen Dasein analysiert.

§ 23 Das alltägliche Verständnis des Ethischen und dessen Bezug auf die moralischen Normen im Moralitätsbereich Moralische Normen sind generalisierte Anweisungen, welche Handlungen leiten und regulieren und als Grundlage für die Beurteilung dieser und anderer Handlungen dienen 726. Diese Handlungsanweisungen können entweder in der Art eines Kodex explizit ausgedrückt werden oder sich implizit in tradiertem Wissen, in Sitten, in kulturellen Erwartungen etc. manifestieren. Doch wie Konrad Ott richtig betont, »[müssen die] Normen durch Normsätze ausgedrückt werden Die Tora: Gebot der Nächstenliebe (Lev. 19,18); Konfuzius’ Gespräche (A.12,2 oder A.15,24); die hinduistischen Texte Mahabharata 13,113,8. Zu Ausdrucksformen der sogenannten Goldenen Regel in verschiedene Kulturen und Religionen siehe: Neusner, J.; Chilton, B. (Hrsg.), 2008. 726 Vgl. Ott, in Düwell; Hübenthal; Werner, (Hrsg.), 2011, S. 474. »Anerkannte Normen konstituieren berechtige Erwartungen. Damit sind Normen auch Maßstäbe für Beurteilung einzelner Handlungen und für die Angemessenheit bzw. die ›Rationalität‹ moralischer Gefühle angesichts eigener oder fremder Handlungen.« (Ebd., S. 475).

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können.« 727 Der alltägliche Sinn des Ethischen kann folglich die Form eines Diskurses haben. Mit ›Diskurs‹ ist hier ein Seiendes gemeint, welches die Seinsart einer Aussage hat und als bedeutsamer Bezugspunkt für die Bestimmung und die Beurteilung eines Phänomens herangezogen wird. Wie an anderer Stelle bereits gesagt wurde, zeigte die Analyse Heideggers, dass Diskurse ideale Gegenstände sind, mit denen das Dasein in der (Um-)Welt umgeht und welche einen Teil des Horizonts, in dem das Dasein ausgelegt wird, konstituieren. In diesem Sinne sind Diskurse nicht nur Seiende in Modus loquendi, sondern vielmehr implizite oder explizite Ausdrücke eines jeweiligen Verständnisses bzw. einer jeweiligen Ausgelegtheit. Eine hermeneutisch-phänomenologische Analyse der moralischen Norm besteht darin, eine Analyse der Weise (des Wie), in der dieses Seienden in seinem normativen Sein verstanden wird, durchzuführen. Es geht um das Phänomen bzw. um die Art und Weise, in der sich die moralische Norm (als das Ethische) zeigt. Drei Thesen werden hier vertreten: 1. Die moralischen Normen sind innerweltliche Seiende, die zunächst die Seinsart des Verbots aufweisen. 2. Der Verbotscharakter der moralischen Normen weist auf ein ›Nicht‹ hin, welches die Seinsart eines innerweltlichen Seienden hat und dem Dasein auferlegt wird. 3. Das Dasein versteht alltäglich das Ethische und sein ethisches Sein in Bezug auf die konkreten Diskurse, die im Moralitätsbereich in der Form der moralischen Normen zu finden sind. Es werden drei Schritte ausgeführt: Erstens wird das Sein der moralischen Normen als Aussage zusammen mit ihrem Verbotscharakter dargestellt. Zweitens wird argumentiert, dass dieser Charakter die Artikulation einer Grenze meint, welche einem nicht daseinsmäßigen Seienden entstammt und dem Dasein universell auferlegt wird. Drittens wird das Verhältnis zwischen der moralischen Norm, dem existenzialen Man und der Tendenz des Daseins zum Verfallen analysiert. α.

Der allgemeine Begriff der Norm und die Skizze eines Begriffs der moralischen Norm

Zunächst scheint es offensichtlich, dass eine moralische Norm die Seinsart einer Norm aufweist. Aus diesem Grund ist es nützlich, eine 727

Ott, in Düwell; Hübenthal; Werner, (Hrsg.), 2011, S. 475. Eigene Betonung.

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§ 23 Das alltägliche Verständnis des Ethischen

Erklärung der allgemeinen Form einer Norm vorzunehmen, um das Sein dieses Seienden zu verstehen. Georg Henrik von Wright liefert eine solche Erklärung 728. Laut Wright kann die Struktur der Norm in sieben Komponenten unterteilt werden: 1. Normtypus: Normen können technische, epistemische, konventionelle, rechtliche oder moralische Normen sein. 2. Normcharakter: Eine Norm hat einen bestimmten Charakter. In Bezug auf diesen Charakter kann die Norm ein Gebot (man soll etwas tun), ein Verbot (man soll etwas nicht tun), eine Erlaubnis (man darf etwas tun) oder ein Recht (man hat das Recht etwas zu tun) sein. 3. Adressatenkreise: Normen sind immer an jemanden adressiert. Eine Norm kann als universell bezeichnet werden, wenn sie an alle moralischen Akteure gerichtet ist. Doch das Spektrum der Adressaten kann auch in Bezug auf ein Kriterium (z. B. Alter, Hierarchie, Kultur, Religion, Gesellschaften, u. ä.) eingeschränkt werden: Die Norm ist dann partikulär. 4. Normspezifikationen: Jede Norm hat verschiedene Spezifikationen, die den Rahmen, indem sie regulieren darf, bestimmen, z. B. Bereiche (Medizin, Ökonomie, u. ä.), Bedingungen, kulturelle Traditionen etc. 5. Ausnahmenklausel: In den verschiedenen sozialen Dynamiken erschienen manchmal Konflikte zwischen zwei oder mehreren Normen, zwischen Normen und Pflichten, Normen und Werten, Normen und Glaube u. a. Diese Konflikte werden manchmal durch eine Klausel, welche eine Ausnahme von der Norm darstellt, gelöst. Obwohl eine Norm beispielsweise diktieren kann, dass man nicht lügen soll, darf man trotzdem lügen, wenn aufgrund dieser Lüge jemand geschützt oder gerettet werden kann. Doch die Möglichkeit einer Ausnahme liegt nicht in der Norm, sondern in ihrer Interpretation begründet: Die Norm ›man soll nicht lügen‹ kann auch als obligatorisch und universell verstanden werden und in diesem Sinne akzeptiert sie keine Ausnahme 729. Wenn eine Ausnahme von der Norm akzeptiert werden soll, um Dilemmata zu lösen, muss diese Ausnahme begründet werden und nicht als ›selbstverständlich‹ oder als eine egoistische Präferenz verstanden werden. Die Begründung der Möglichkeit einer Ausnahme ist die Fundamentierung der (allgemeinen) Gültigkeit der Siehe Wright, 1979; Ott in Düwell; Hübenthal; Werner, (Hrsg.), 2011, S. 475–479. Zum Beispiel hat in der Ethik Kants die Befolgung einer Norm einen höheren Wert, als das Ergebnis ihrer Nichteinhaltung, auch wenn letzteres als gewünscht bezeichnet werden könnte. Zu Kants Ansatz des moralischen Problems der Lüge siehe: Kant, AA VIII, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, S. 425–430). Siehe mehr dazu in der Fußnote Nr. 958 in der vorliegenden Arbeit.

728 729

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Norm selbst. 6. Sanktionsbestimmung: Jede Norm bringt nach Wright eine Konsequenz bzw. eine Strafe ihres Verstoßes mit sich. Die Art und Weise dieser Strafe und ihr Maß sind von verschiedenen Variablen abhängig (sie sind kulturell, geschichtlich, u. dgl. abhängig). Der Verstoß gegen dieselbe Norm kann in verschiedenen Kulturen oder in verschiedenen Epochen (einer selben Kultur) unterschiedliche Sanktionen zur Folge haben. 7. Normautorität: Damit eine Norm auferlegt werden kann und jemand in ihrem Namen bestraft werden kann, ist es nötig, dass die Auferlegung und die Bestrafung durch eine Autorität legitimiert werden. Die Gültigkeit einer Norm liegt in der intersubjektiven Akzeptanz derselben, und diese Akzeptanz bezieht sich auf das, was die Norm begründet, d. i. auf ihr Prinzip 730. Dieses Prinzip erlangt seine Legitimation in Rückbezug auf eine Autorität. Eine Autorität kann eine Person, eine Institution, eine Tradition, ein religiöses Buch, u. ä. sein. In Bezug auf Wrights Erklärung der strukturellen Komponenten einer Norm kann eine formale Definition der moralischen Norm vorgenommen werden: Die moralische Norm ist eine universell adressierte bzw. auferlegte Aussage, die durch eine Autorität legitimiert wird. Sie hat den Charakter eines Verbots und befiehlt eine obligatorische Handlungsanweise, deren Überschreitung bzw. NichtBefolgung eine Bestrafung nach sich zieht. Eine moralische Norm diktiert, wie man sich nicht im Moralitätsbereich verhalten soll. Dieser formale Begriff muss noch durch die Erklärung seiner Komponenten entformalisiert werden. Diese Entformalisierung muss hermeneutisch-phänomenologisch, d. i. in Bezug auf das Phänomen und auf seinen Verständnishorizont, durchgeführt werden. β.

Das Sein der prohibitiven moralischen Norm und das alltägliche Verständnis des Ethischen

Im alltäglichen Miteinandersein versteht das Dasein das, was getan werden soll, in Bezug auf moralische Normen und verhält sich des-

Ott erklärt: »[Man] kann Normen durch Rekurs auf Werte [, wie z. B. Leben, Frieden, Freiheit, Glück, Pietät, u. ä.] rechtfertigen. Normen können auch durch höherstufige inhaltliche Prinzipien wie Gerechtigkeit und Menschenwürde oder prozedural durch die Legitimität ihrer In-Geltung-Setzung gerechtfertigt werden.« (Ott, in Düwell; Hübenthal; Werner, (Hrsg.), 2011, S. 474).

730

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§ 23 Das alltägliche Verständnis des Ethischen

wegen in Rückbezug auf diese. Man lernt sie im Elternhaus, in der Schule, durch die Medien etc. Man versteht sich selbst in Bezug auf diese Normen. Man beurteilt sich selbst und Andere durch sie. Man gibt sie weiter und fühlt sich betroffen, wenn jemand sie überschreitet. Man geht mit moralischen Normen um und versteht sie ›irgendwie‹. Nun ist die Frage: Was genau versteht man unter moralischen Normen? Was sind sie? Zunächst zeigt sich die moralische Norm als Aussage: Man spricht sie aus, liest, hört oder schreibt sie. Ihr phänomenales Sein weist die Form einer Aussage auf. Diese Seinsart wird in der vorliegenden Arbeit Aussagesein genannt. Eine Betrachtung dieses Seins ist demzufolge ein guter Ausgangspunkt für die Analyse. In der vorangegangenen Analyse des Seins einer Aussage wurde dieses Sein so definiert: »Aussage ist mitteilend bestimmende Aufzeigung.« 731 Wenn die moralische Norm die Seinsart einer Aussage aufweist, muss gefragt werden: Welche Aufzeigung bringt sie zum Ausdruck? Wie bestimmt sie das Aufgezeigte? Mit welchem Mittel und in welcher Form kommuniziert sie das Bestimmte? Es wurde gezeigt, dass die Frage nach der Aufzeigung, der Bestimmung und der Mitteilung einer Aussage gleichzeitig die Frage nach dem konkretisierten Verständnis (d. i. Auslegung) ist, d. h. die Frage nach ihrer Vorhabe, ihrer Vorsicht und ihrem Vorgriff. Hier soll das Aussagesein der moralischen Norm in Bezug auf all diese Aspekte analysiert werden. Zuerst muss die folgende Frage gestellt werden: Welche Aufzeigung bestimmt und teilt die moralische Norm mit? Die Aufzeigung ist aber kein Was, sondern ein Wie. Es muss also gefragt werden: Wie zeigt sich das Ethische in der moralischen Norm? ›Man soll nicht lügen‹, ›man soll nicht töten‹ etc. Diese Normen sind keine Gebote; sie haben zunächst die Form eines Verbots. Das in dem Verbot beinhaltete Sollen ist kein Vorschlag, sondern ein Befehl. Beide, Gebot und Verbot, haben aber den Charakter des Befehls. Während das Gebot jedoch diktiert, was getan werden soll, erlegt das Verbot das auf, was nicht getan werden soll und noch wichtiger, dieses ›Nicht‹, welches das Sollen begleitet, schließt immer die Möglichkeit einer Bestrafung mit ein 732.

SZ, S. 156. Vgl. Pierer, H. (1997). Universal-Lexikon. Altenburg, 1857–1865, Band 18, S. 451.

731 732

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1 · Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

Das, was in dem Verbot aufgezeigt wird, ist das ›Nicht‹. ›man soll nicht töten‹, ›man soll nicht lügen‹ etc. Was bedeutet dieses ›Nicht‹ ontologisch? Die Norm ›man soll nicht töten‹ drückt eigentlich die Beschränkung der Möglichkeit des Tötens aus. In dem Verbot hat das ›Nicht‹ den Charakter einer Einschränkung. Eine Einschränkung ist immer eine Einschränkung von (etwas). Einschränkung ›des Diebstahls‹, ›des Angriffs‹, ›des Tötens‹ usw. Dieses von… stellt die Einschränkung nicht als ein vorhandenes ›Ding‹ vor, sondern als die Möglichkeit einer Beschränkung einer Seinsmöglichkeit des Daseins 733. Diese Einschränkung gibt den moralischen Bewertungen einen Grund: Die Norm bestimmt etwas als ›gerecht‹, ›gut‹, ›erwünscht‹ und man beurteilt (bzw. versteht) in Bezug auf diese Bestimmung: ›Er/sie ist ein guter, gerechter Mensch, weil er/sie die Norm befolgt hat bzw. weil er/sie nicht gemacht hat, was verboten war‹. Dies bedeutet, dass das Ethische zunächst in Bezug auf die moralische Norm verstanden wird, und zwar als diktiertes Nicht. Das Ethische zeigt sich irgendwie, und die Norm weist auf diese Aufzeigung hin. Das, was (in der Erfahrung der moralischen Norm) als phänomenaler Tatbestand vorliegt, ist aber nicht das Ethische selbst, sondern das, was in der Norm ›abgebildet‹ wird. Eine Aussage weist auf die Aufzeigung selbst hin, doch ist selbst nicht das Aufgezeigte. Das ›Nicht‹ des Verbots entsteht nicht aus dem Dasein, sondern ist dem Dasein auferlegt. Die moralische Norm teilt die Aufzeigung einer Einschränkung von Seinsmöglichkeiten mit. Diese Einschränkung ist allerdings durch eine Auferlegung bestimmt. Das in der Vorhabe der moralischen Norm ›Gehaltene‹ ist eine Einschränkung (von Seinsmöglichkeiten), die sich in der Form einer Auferlegung zeigt. Welche Seinsart weist diese Auferlegung auf? Im Verbot wird dem Dasein das ›Nicht‹ auferlegt. Dieses ›Nicht‹ hat die Seinsart eines innerweltlichen Seienden. Es ist ein idealer Gegenstand, eine Aussage. Die Einschränkung hat nicht die Seinsart des Verbots, sondern das Verbot weist die Seinsart der Einschränkung auf. Daher steht die Einschränkung in der Vorhabe des Verbots und kann als etwas bestimmt werden. Die Einschränkung wird gerade auf die Art des Verbots festgelegt (und damit reduziert): Die Norm bestimmt die Einschränkung auf die Art eines innerweltlichen ›Nicht‹. Nun ist die Das Möglichsein des Daseins ist wesentlich beschränkt. Heidegger nennt diesen Charakter ›Nichtigkeit‹ (siehe SZ, S. 283 ff.). In den moralischen Normen wird auf diesen Charakter in einem bestimmten normativen Sinn hingewiesen.

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§ 23 Das alltägliche Verständnis des Ethischen

Frage: Wenn das ›Nicht‹ des Verbots nicht aus dem Dasein heraus entsteht, sondern die Seinsart eines innerweltlichen, auferlegten Seienden hat, warum versteht man alltäglich dieses ›Nicht‹ als etwas, das man befolgen soll? Alltäglich konstatiert man, dass die Einschränkung im Verbot einen normativen Charakter hat. Man versteht die Norm genau als das, was man obligatorisch tun sollte. Aus welchem Grund versteht man dieses Sollen als normativ, d. i. als Verbot und nicht als Vorschlag? Das ›Nicht‹ des Verbots markiert eine Grenze, die im Fall einer Überschreitung nach einer Bestrafung fordert. Bestrafungen können verschiedene Formen annehmen (z. B. direkte oder indirekte physische, psychologische, rechtliche Konsequenzen, Mangel an Belohnung usw.). Bestrafungen können direkt oder indirekt, öffentlich und markant oder getarnt und subtil sein 734. Sie passen sich der Situation an, sie sind anpassungsfähig. Obwohl die Bestrafung sich ändern kann, bleiben in ihr sowohl der Grund, aus dem sie ausgeübt wurde (nämlich die Überschreitung der Grenze bzw. des Nicht) und der Grund, aus dem sie moralisch gefordert wird, konstant. Diese Gründe weisen auf die Legitimierung der Bestrafung hin. Eine Bestrafung ist nur moralisch, wenn sie moralisch legitim ist. Wie legitimiert sich die Bestrafung? Alltäglich bestätigt sich, dass der Grad der ›Wirkung‹ eines Verbots von dem ›Grad‹ der Autorität, die sie ausstrahlt, abhängt. Das Verbot ›verlass das Haus nicht‹ wird nicht auf die gleiche Art und Weise verstanden, wenn es von einem Freund ausgesprochen wird oder von der Vaterfigur/Mutterfigur vorgeschrieben wird. Ebenso hat das Verbot mehr Wirkung, wenn es vom Staat verhängt wird, z. B. in einem Ausnahmezustand. Die normative Wirkung des Verbots liegt nicht nur in der Bestrafung, sondern in der Legitimierung der Autorität. In diesem Sinne ist das Verbot keine Bedrohung bzw. keine Auferlegung ohne Legitimität (und mit möglicher Bestrafung). Das Verbot muss die Möglichkeit einer Bestrafung als legitim darstellen. Als der Inquisitor, z. B., dem christlichen Volk befahl, die Ketzer, die unter ihnen waren, auszuliefern, formuliert er seine Rede nicht als Drohung, sondern ›legitimiert‹ sie im Namen der Monarchie, der Kirche und Gottes 735. Aufgrund dieser Dazu siehe die Analyse der Entwicklung der Ausübung von Macht in Foucault, 2016. 735 Siehe z. B. Kamen, 2014, S. 232: »At the end of the sermon or the creed, the inquisitor or his representative would hold a crucifix in front of the congregation and ask 734

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Legitimierung folgten die Gläubigen dem Befehl, ohne ihn zu hinterfragen. Das Verbot ist kein Vorschlag und keine Bedrohung. Es wird zunächst als ein legitimer Befehl verstanden. Woher erhält das Verbot seine Autorität zu bestrafen? Eine Legitimation ist ein gegebener Grund für etwas. Nun muss man, um legitim bestraft zu werden, zuerst beurteilt werden. Eine Beurteilung bezieht sich, wie bereits erwähnt wurde, auf einen Urteilspunkt (bzw. auf ein Prinzip). Die Norm ist selbst ein Urteilspunkt, wenn man sagt: ›man soll das nicht tun, weil es verboten ist‹. Doch die moralische Norm als Urteilspunkt beinhaltet bereits etwas, was sie selbst nicht ist, nämlich eine Idee, die ihr Gültigkeit verleiht: gewöhnlich die Idee des Richtigen. Die Norm ›man soll nicht töten‹ legt das ›Nicht‹ in einem impliziten Bezug zum Richtigen auf: Das Richtige ist ›nicht‹ zu töten. Das Verbot markiert dann eine Grenze zwischen ›dem Richtigen‹ und ›dem Falschen‹, zwischen dessen, was ›wünschenswert‹ ist und dessen, was ›unerwünscht‹ ist usw. Um diese Grenze zu markieren, muss man schon eine ›Idee‹ des Richtigen haben. Ist die Idee des Richtigen in sich legitim oder erhält sie Legitimität von einem anderen Seienden? Wenn die Idee des Richtigen ein außerweltliches, selbstständiges Seiendes wäre, welches über dem Sein ›schwebte‹, wäre sie aus sich selbst heraus legitim 736. Wenn sie im Gegenteil ein innerweltliches everybody to raise his right hand, cross himself and repeat after the inquisitor a solemn oath to support the Inquisition and its ministers.« Im Fall der spanischen Eroberung Südamerikas, z. B., war der Befehl, etwas im Namen der Könige, der Kirche oder Gottes zu unternehmen, nicht legitim, insofern die indigene Bevölkerung diese Namen nicht als legitime Autoritäten anerkannt hat. Es war vielmehr eine Bedrohung, weil die Wirkung des Befehls in der möglichen Bestrafung lag. Dieses Phänomen kann sehr gut in den Chroniken nachgewiesen werden. Dazu siehe z. B. Martínez Peláez, 1976. 736 In der Vorlesung vom Sommersemester 1924 bezeichnet Heidegger eine solche Interpretation der Idee des Guten (des Richtigen) (Platos ἀγαθὸν καθόλου) als ›Unsinn‹ und ›nutzlos‹ (vgl. GA 18, S. 305 f.; 374). Heidegger stellt fest, dass das ἀγαθόν kein ›Wert‹ ist, sondern »eine besondere Weise des Daseins desjenigen Seienden, mit dem wir es selbst in der πρᾶξις zu tun haben, orientiert auf den καιρός.« (ebd., S. 305). Der apriorische Sinn des ἀγαθόν ist laut Heidegger ein Irrtum, weil Aristoteles gezeigt hat, dass »[e]s kein ἀγαθὸν καθόλου [gibt], ἀγαθόν ist, was es ist, immer als πρακτόν« (Arist. Eth. Nic. I, 4, 1096a26 ff.; GA 18, S. 306). Heidegger schreibt: »Es gibt kein Gutes, das über dem Sein schwebte, sofern ›gut‹ die Bestimmung des Weltdaseins ist, der Welt, mit der ich es zu tun habe. Das ἀγαθὸν καθόλου wäre demnach ein Gutes, das überhaupt kein Sein hat.« (GA 18, S. 306). Da »πρᾶξις immer ›diese da‹ als jeweilige [ist]«, ist laut Heidegger das Gute immer aus dem Da

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§ 23 Das alltägliche Verständnis des Ethischen

Seiendes wäre, würde das bedeuten, dass sich ihre Bedeutung bzw. ihr Sein, wie die Weltanalysen gezeigt haben, im ausgelegten (geschichtlich-öffentlichen) 737 Horizont gründet. Die phänomenologisch-hermeneutische Forschung kann nicht dogmatisch die Existenz eines nichterfahrbaren bzw. a-phänomenalen Bereichs postulieren, in dem die Idee des Richtigen in ihrer Selbstständigkeit liegen könnte. Die Forschung sollte sich dann auf die Alltäglichkeit des Daseins beziehen und die phänomenalen Tatbestände hervorheben, die erfahrbar sind. Es ist klar, dass man die ›Existenz‹ eines nichterfahrbaren Bereichs phänomenologisch weder ›verneinen‹ noch ›bejahen‹ kann. Seine ›Existenz‹ ist phänomenologisch undifferenzierbar und damit unbedeutend und irrelevant. Die Untersuchung muss sich dementsprechend auf die phänomenalen Tatbestände beschränken. Die ›Idee‹ des Richtigen zeigt sich als ein idealer Gegenstand, welcher zur bedeutenden Umwelt des Daseins gehört. Sie ist ein Diskurs. Zunächst und zumeist versteht das Dasein sein Verhalten und (moralisches) Urteilen in Bezug auf diese (idealen) Seienden. Man hat eine Idee dessen, was man sein will; eine Idee, wie das Leben gelebt werden soll; eine Idee, wie man philosophieren, arbeiten, lieben soll usw. Diese Ideen sind nicht unweltliche Seiende, sondern innerweltliche Konkretionen der öffentlichen Ausgelegtheit. Als Diskurs kann die Idee des Richtigen nicht das Fundament der Legitimation des Verbots sein, weil sie selbst in etwas anderen gründet. Worin gründet die Idee des Richtigen und mit ihr der normative Charakter der moralischen Norm? Um Autorität zu haben, muss die Idee des Richtigen öffentlich und allgemein akzeptiert werden. Die moralische Norm ist eine Aussage. Als Aussage hat sie ein ›Woher‹ (eine Herkunft), etwas Gesagtes und ein ›zu Wem‹. Das, was gesagt wird, ist das Nicht. Nun stimmen im Moralitätsbereich das ›Woher‹ (im καιρός) bestimmt (ebd., S. 306). Dies bedeutet, dass das ἀγαθόν nicht als ἀγαθὸν καθόλου, sondern als ἀγαθὰ καθ’ αὑτά verstanden werden soll (vgl. Arist. Nic. Eth., I, 4, 1096b8 ff.), d. i. in Bezug auf das Individuum, in seiner Individualität. Genau wie mit der ethischen Tugend (Arist. Eth. Nic., II 5, 1106a26–b7; II 6,1107a1) muss das Gute in Bezug auf das jeweilige Dasein interpretiert werden und so ist das Gute gut für das praktische Dasein (ἀνθρώπινον ἀγαθόν) und ist so nicht a priori, sondern in der Situation »je ein anderes« (vgl. GA 19, S. 136). Zur Interpretation Heideggers des ἀγαθόν bei Platon und Aristoteles siehe Pearson, 1995. 737 Die Idee des Richtigen kann auch von sozialen, institutionellen oder kulturellen Strukturen (soziale und religiöse Praktiken) legitimiert werden. Aber diese werden auch vom öffentlichen Kontext legitimiert. Die letzte Begründung ist das Man: die Seinstendenz des Daseins, sich in Bezug auf einen öffentlichen Horizont zu verstehen.

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und das ›zu Wem‹ des moralischen Verbots überein: Beide sind das Selbst des öffentlichen Daseins. ›Wir alle‹ sind diejenigen, die das moralische Verbot bestätigen und predigen und ›wir alle‹ verstehen uns in Bezug auf die Norm als moralische Akteure. Dieses ›Alle‹, zeigte die heideggersche Analyse des alltäglichen Selbst, ist ein ›Niemand‹ ; es hat die Seinsart des Man. ›Man soll nicht töten‹ : Das Sollen des Verbots legitimiert sich in dem Sein des Man. Anders gesagt: Der normative Charakter der prohibitiven moralischen Norm gründet in der Öffentlichkeit des Man. Die Moral, die Normen und die Idee des Richtigen bekommen ihren normativen Charakter durch das Man, d. h. durch die allgemeine Akzeptanz des Befehls. Regeln gelten nur so lange, wie sie von der Mehrheit der Handlungsgemeinschaft anerkannt und befolgt werden. Sie sind somit Produkt einer gemeinsamen freien Willensentscheidung, und solange sie als solches bestätigt werden, sind sie sinnvoll. (Pieper, 2007, S. 44)

Das Fundament der Moral (als normative Sitte bzw. ἔθος verstanden) ist die Macht der öffentlichen Meinung 738. ›Man soll nicht töten, weil man es nicht tun soll‹. Die Legitimität der prohibitiven moralischen Norm gründet in der öffentlichen Ausgelegtheit 739. Die jeweilige öffentliche Ausgelegtheit diktiert den Sinn der jeweiligen Idee des Richtigen und damit der jeweiligen Moral. Die Legitimität der Norm und der Idee des Richtigen weist keinerlei Selbstständigkeit auf, sondern umgekehrt, sie gründet in der reinen Abhängigkeit vom geschichtlich-öffentlichen Kontext. Doch dies bedeutet nicht, dass die Autorität der moralischen Norm beschränkt ist, vielmehr ist sie, da sie im Man gründet, absolut. Dies, weil sie von der Kultur, von den sozialen Rollen, von den Sitten, von den Religionen usw. auferlegt wird. Dies verursacht, dass man den Normen folgt, ohne zu versuchen, sie zu begründen (weil sie in der Öffentlichkeit so dargestellt Kirchner sagt z. B.: »Im Unterschied zum Recht steht hinter der Sitte nicht die organisierte Zwangsgewalt des Staates, wohl aber die Macht der öffentlichen Meinung […].« (Kirchner et al., 2013, S. 608). 739 Heidegger legt dies in der Abhandlung Der Begriff der Zeit nahe: siehe GA 64, S. 87. Olafson vertritt eine ähnliche These in Olafson, 1999, S. 3. Das Dasein existiert in einem normativen Kontext als ein interpretierendes Seiendes. Eine Norm ist immer eine ausgelegte Norm, d. h.: Der normative Kontext ist nicht neutral, sondern wurde immer in einer Hinsicht ausgelegt (und erscheint dementsprechend angesichts dieser Auslegung). Die Gültigkeit der (ausgelegten) Norm ist dennoch, wie Crowell richtig erkennt, universal, insofern die Ausgelegtheit zunächst vom Man geleitet wird (vgl. Crowell, 2013, 201 f.; siehe Fußnote Nr. 490 der vorliegenden Arbeit). 738

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§ 23 Das alltägliche Verständnis des Ethischen

werden, als wären sie schon begründet). Man folgt ihnen, weil man es soll. Das Sollen ist absolut, insofern es sich auf die öffentliche Meinung und auf den öffentlichen modus vivendi bezieht. Dieses absolute Sollen verhindert die Verantwortlichkeit des Daseins: Man verhält sich gemäß den moralischen Normen, ohne für sie verantwortlich zu sein. Heidegger sagt: Das Man entzieht dem Dasein seine Verantwortlichkeit 740. Niemand begründet die Normen, doch alle benutzten sie und jeder nimmt sie als begründet (bzw. als legitim) hin. Die Norm ist ›normativ‹, solange man sie verwendet und sie als in sich selbst gültig versteht. Dies bedeutet, dass ihre Gültigkeit sowohl in der Verdeckung ihres relativen Charakters als auch in der Verdeckung der Verantwortlichkeit des Daseins liegt. In diesem Sinne bekommt die moralische Norm die Kategorie des ›Wahren‹ : Das, was nicht in Frage gestellt werden kann. ›Wir alle‹ halten sie für objektiv gültig und sie wird objektiv gültig in der allgemeinen, subjektiven Zustimmung 741. Dieser Wahrheitscharakter zeigt sich einerseits als eine Entwertung der verbotenen Möglichkeiten: Die Norm gibt das Richtige vor und bestimmt alles, was nicht mit ihr übereinstimmt, notwendigerweise als unrichtig. Dies kann man mit der klassischen Formulierung principium tertii exclusi ausdrücken. Andererseits zeigt sich der Wahrheitscharakter als universell gültig. Im Gegensatz zum Befehl »Halte Sie!«, der sich auf das Hier und Jetzt beschränkt, wird eine moralische Norm allgemein befohlen. Das Verbot ›man darf nicht töten‹ wird nicht gesondert verhängt, sondern seine Befolgung wird zu jeder Zeit und an jedem Ort gefordert. Die Normen ›man darf SZ, S. 127. Eine naturalistische Hypothese der Objektivität der Moral kann hier am Beispiel von Tomasello formuliert werden: Das Individuum identifiziert sich mit einer Gruppe und mit der Kultur dieser Gruppe, um seine Möglichkeiten zu Überleben zu verbessern. Die Legitimität der Moral gründet auf dieser Identifikation: Das Individuum identifiziert sich mit der Gruppe und als Mitglied dieser Gruppe, es fühlt sich als ›Co-Autor‹ ihrer Kultur. Die moralische Identität des Individuums gründet auf diesem Gefühl. Da jedes Individuum diese Identifikation erfährt, wird die Kultur als eine Kultur des ›Wir‹ verstanden. Wir sind diejenigen, die die Kultur und damit die Moral fundieren: Die Objektivität der Moral gründet dann in unserem Bedürfnis, unsere Entscheidungen mit dem Kollektiv (d. h. mit den anderen Koautoren der Kultur) zu rechtfertigen (vgl. Tomasello, 2016, S. 6). Das existenziale ›Man‹ hilft, das Selbstverständnis dieses Individuums als ›Teil‹ des Kollektivs bzw. des ›Wir‹ und die Rolle des Individuums bezüglich der Verantwortung der Gründung der Moral ontologisch zu verstehen.

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nicht töten‹, ›man darf nicht lügen‹ usw. bedeuten soviel wie ›man soll niemals töten‹, ›man soll niemals lügen‹ usw. ›Töte nicht‹ ist eine universelle moralische Norm, die allgemein befohlen wird 742. So ist es offensichtlich, dass der Befehl das Mittel ist, durch welches die prohibitive moralische Norm mitgeteilt wird, und dass das, was mitgeteilt wird, in der Form der Universalität mitgeteilt wird. Der Vorgriff, mit dem die prohibitive moralische Norm zur Auslegung kommt, ist die Universalität. Die Vorstruktur der prohibitiven moralischen Norm kommt jetzt als eine Grenze (Vorhabe) in den phänomenologischen Blick, die in Bezug auf ein innerweltliches Seiendes, welches nicht das Dasein selbst ist, bestimmt wird (Vorsicht) und, die durch den universalen Befehl mitgeteilt wird (Vorgriff). Das Aussagesein der prohibitiven moralischen Norm kann so ausgedrückt werden: Die Grenze zeigt sich als von der Öffentlichkeit legitimiert, wird als Verbot bestimmt und wird in der Form der Universalität mitgeteilt. Die erste formale Definition der moralischen Norm, die in Bezug auf Wrights Erklärung der Komponenten einer Norm vorgestellt wurde, ist jetzt zu einer ontologischen Definition geworden.

§ 24 Das Sein des Man und die prohibitive moralische Norm Moral kann als eine Reihe von Richtlinien, Gebräuchen und Sitten definiert werden, die als Bezug für die öffentliche Auslegung des Gewünschten dient. Nun ist es offensichtlich, dass diese existenziellen Möglichkeiten (Richtlinien, Gebräuche, Sitten) auf dem existenzialen Man gründen: Sie beziehen sich auf die Tendenz des Daseins, sich in ein soziales Umfeld einzufügen und sind nur in einem sozialen Milieu bedeutend. Formal könnte gesagt werden, dass das Sein des Man (d. i. die Öffentlichkeit) das Fundament der Moral ist. Eine solche (ontologische) These beurteilt aber nicht den Wert der Moral, sie weist vielmehr darauf hin, dass sowohl ein Moralkodex als auch die moralischen Werte nur in einer Öffentlichkeit bedeutend sein können. Die Moral drückt sich alltäglich durch moralische Normen und Werte aus, mit denen das Dasein umgehen muss. Dieser Umgang Diese Universalität kann wohl auf eine bestimmte Gesellschaft (eine bestimmte Kultur usw.) beschränkt werden. Sie ist trotzdem als universell zu verstehen, insofern alle Mitglieder dieser bestimmten Gesellschaft (bzw. Kultur) von ihr betroffen sind.

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§ 24 Das Sein des Man und die prohibitive moralische Norm

wird als Moralität bezeichnet und der Bereich, in dem dieser Umgang geschieht, wird Moralitätsbereich genannt. Moral, Moralität und Moralitätsbereich können ohne einen Bezug zum Man nicht verstanden werden. Dieser Bezug wird in diesem Paragraphen untersucht. Das Sein des Man wurde von Heidegger als Öffentlichkeit (Abständigkeit, Durchschnittlichkeit und Einebnung) definiert. Um die gerade erwähnte These zu verstärken, muss darauf hingewiesen werden, dass sich diese drei Aspekte der Öffentlichkeit in der Dynamik der Moralität (bzw. gegenüber der moralischen Norm) zeigen. Im Moralitätsbereich hört (und sagt) man ständig: ›man soll das und das tun‹, ›man soll und man soll nicht‹. Die Pflicht bzw. das Sollen wird schon immer vom Man auferlegt. Die Pflicht, welche die Norm erfordert, ist Pflicht für das Man. In der Auferlegung der Pflicht ist die (Möglichkeit der) Verantwortung nicht mitgegeben. Selbst wenn die Norm sagt ›du sollst nicht …‹, wird dieses individuelle ›Ich‹ als ›Man‹ verstanden: ›Ich soll das tun, weil man es so tut‹. Das Selbst der Alltäglichkeit zeigt sich hier nochmals als das ManSelbst. Das implizite ›Man‹ als ›Subjekt‹ der moralischen Norm macht den durchschnittlichen Charakter derselben sichtbar. Man könnte einen Schritt weitergehen und argumentieren, dass sich die praktische Vernunft im Man gründet. Crowell argumentiert z. B., dass die (praktische) Deliberation (Überlegung) vom Man geleitet wird. Er betont, dass sich die Deliberation innerhalb der situationellen Welt der Normen und Regeln vollzieht und dass diese Welt die Welt des Man ist. Crowell schreibt: »Ich überlege, wie ich mich unter den Maßstäben der praktischen Identität verstehe« 743. Er kommt zu folgender Erkenntnis: Während nur ein Individuum überlegen kann, überlege ich nicht als mein eigenes Selbst. Vielmehr sind die Gründe, die ich anführe, und die Beweise, die ich für herausragend halte, üblicherweise diejenigen der derzeitigen kulturellen, historischen Zusammensetzung des Man. (Crowell, 2013, S. 203. Eigene Übersetzung) 744

Im Natorpbericht betont Heidegger diesbezüglich, dass in der Alltäglichkeit das Verhalten und die Entscheidungen des jeweiligen Daseins Crowell, 2013, S. 203. Eigene Übersetzung. »While only an individual can deliberate, then, I do not deliberate as my ownmost self. Rather, the reasons I adduce and the evidence that I find salient will normally be those typical of the current cultural, historical composition of the One.« (Crowell, 2013, S. 203).

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1 · Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

von den Traditionen und den Sitten geleiten werden. Das Man, sagt er, ist dasjenige, das faktisch das Leben des Individuums lebt 745. In dem Seinscharakter der Öffentlichkeit, so Heidegger in SZ, liegt die ›nächste‹ Ständigkeit des Daseins 746. In einer Fußnote der Abhandlung Der Begriff der Zeit lässt Heidegger verstehen, dass die Moral mit dem »Ausbleiben der Entscheidung« in Zusammenhang steht 747. In SZ schreibt er: »Dem Man geht es in seinem Sein wesentlich um [die Durchschnittlichkeit] […] dessen, was sich gehört, was man gelten läßt und was nicht, dem man Erfolg zubilligt, dem man ihn versagt.« 748 Dies hat eine große Wirkung in einem normativen Sinne. Crowell erkennt richtig, dass das Verständnis eines/einer verantwortlichen Akteurs/Akteurin nicht in der Zugehörigkeit zu einem Moralitätsbereich liegt, sondern in der Weise, in der er/sie in diesem Bereich existiert. Anders gesagt, ist das jeweilige Dasein nicht verantwortlich, nur weil es zu einem normativen Kontext gehört, sondern es ist verantwortlich, insofern es sich dafür entscheidet. Die Anerkennung der Verantwortung ist aber im Moralitätsbereich nicht nötig, da die Durchschnittlichkeit das ›gewünschte‹ Verhalten leitet. Das Dasein, welches sich in einem gegebenen moralischen Kontext bewegt, so Crowell, kann nicht nur in Anbetracht der Normen (in light of norms), sondern auch (und zunächst) normkonform (in accord with norms) handeln 749. Da das Dasein akritisch tun kann, was man ihm vorschreibt, braucht es keine Gründe für seine Handlungen anzugeben: Die (öffentliche) Pflicht hat es geleitet und so hat das Dasein nicht das Bedürfnis, Verantwortung für sein Verhalten und seine Entscheidungen zu übernehmen. Die Beschreibung der Durchschnittlichkeit hilft zu erkennen, dass die Weise, in der sich das Dasein auf die Normen richtet und in der das Dasein Gründe für seine Entscheidungen angibt, zunächst und zumeist von dem sozialen Kontext beeinflusst (wenn nicht determiniert) wird. Die Seinsart der moralischen Normen ist von diesem Faktum bestimmt.

In dem Natorpbericht erklärt Heidegger, dass das Leben immer von ›uneigentlicher‹ Tradition und Gewöhnung geleitet wird (vgl. GA 62, S. 358). 746 Vgl. SZ, S. 128. 747 Vgl. GA 64, S. 56, Fußnote Nr. 45. 748 SZ, S. 127. 749 Crowell, 2013, S. 207. 745

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§ 24 Das Sein des Man und die prohibitive moralische Norm

Es ist nicht nur so, dass die moralische Norm einen durchschnittlichen Charakter aufweist, sondern auch, dass sie eine Durchschnittlichkeit verschafft. Normen sind nur gültig, wenn alle Mitglieder einer (bestimmten) Gesellschaft sie annehmen und damit auch akzeptieren, von ihnen ›reguliert‹ zu werden. Unter der Norm wird das Individuum als Teil der Gesellschaft verstanden. Diese Durchschnittlichkeit geht paradoxerweise mit einer Abständigkeit einher und die ›Regulation‹ (durch die Norm) funktioniert nur aufgrund dieser: Es wurde oben erwähnt, dass die moralische Norm bestrafend ist. Das Verbot erwirbt und erhält seine Herrschaftsgewalt nur insofern, als die Überschreitung der Grenze eine Bestrafung mit sich bringt. Nun kann gefragt werden: Wer bestraft denjenigen/diejenige, der/die die Norm überschreitet? Heidegger argumentierte, dass das Dasein immer bestrebt ist, sich vom Anderen zu distanzieren. Ist nicht die Norm genau etwas, das für einen Abstand von den Anderen sorgen kann? 750 Da die Öffentlichkeit zu einer Einebnung des Möglichen tendiert, sucht das alltägliche Dasein sich von den Anderen zu differenzieren und in diesem Versuch erlegt es dem Anderen die durchschnittlichen Möglichkeiten bzw. das, was öffentlich akzeptiert wurde, auf. Heidegger wirft folgende These auf: »[D]as Dasein steht als alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit der Anderen.« 751 Die Regulierung (bzw. die Anwendung der Norm) ist also eine Art der Beherrschung. Diese zeigt sich deutlich im Phänomen des moralischen Beurteilens. Im Beurteilen erschafft die moralische Norm einen Abstand zwischen dem Beurteiler und dem Beurteilten 752. Der Beurteiler beherrscht den Beurteilten, insofern er die Norm bzw. den legitimen Urteilspunkt benutzt, um über den Beurteilten zu bestimmen: Der Beurteiler stellt eine Bestimmung zur Verfügung, um den Beurteilten zu verstehen. Wenn Andere den Beurteilten zu verstehen versuchen, müssen sie sich nicht mehr auf ihn richten, um ihn zu verstehen. Der Bezug auf die Bestimmung reicht aus, damit man den Anderen versteht. Der Beurteiler hat einen ersetzenden Diskurs erschaffen, und, da er die Autorität der Norm ›auf seiner Seite‹ hat, wird dieser Diskurs zur Kategorie ›des Wahren‹ erhöht. Darüber

Hier ist das Beispiel der Inquisition sehr treffend. Dazu siehe Kamen, 2014, S. 226 ff. 751 SZ, S. 126. Siehe auch GA 20, S. 387. 752 Es kann sein, dass der Beurteiler und der Beurteilte dieselbe Person sind. Dieser Fall stellt das Phänomen der Introjektion der Moralität vor: das moralische Gewissen. 750

245 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

1 · Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

hinaus kann man den Anderen durch die ›legitimierte‹ Bestrafung weiter beherrschen, sobald man ihn beurteilt bzw. bestimmt hat. Die Bestrafung sucht aber den Bestraften ›zurück auf den richtigen Weg zu bringen‹. Die Abständigkeit sucht nochmals eine Durchschnittlichkeit. Hier zeigt sich die Dynamik der Einebnung. In der Spannung zwischen Durchschnittlichkeit und Abständigkeit gründen die soziale Konformität und Homogenität. Einebnung gibt es sowohl in der Moralitätsdynamik als auch in dem Sein der Norm selbst. Es wurde argumentiert, dass die Norm als objektiv präsentiert werden muss d. h. als etwas, das nicht in Frage gestellt werden kann, um eine legitime Bestrafung anzubieten: Sie muss sich mit dem Charakter der Nicht-Relativität darstellen. Diese Darstellung ist nicht etwas Offensichtliches oder etwas, das man freiwillig tut, es ist vielmehr etwas, das seinen Ursprung in der sozialen Dynamik hat. Das Man stellt die Nicht-Relativität der Norm als etwas bereits Bekanntes und das Offensichtliche dar. Daher ist die Norm unbestreitbar. Die Norm ist gleichwohl ein innerweltliches Seiendes und ist daher in die Geschichte integriert 753. Um die Objektivität zu behalten, muss sich die Norm an die Geschichte bzw. die Situation anpassen. Der Einebnungscharakter der Norm zeigt sich in ihrer Suche nach Anpassung an die verschiedenen Szenarien, Umstände, Kulturen usw. Objektivität, Anpassung und Straffähigkeit bilden die Seinsart der moralischen Norm als Universalität 754. Sie stimmen mit Laut Heidegger haben die innerweltlichen Seienden die Seinsart der Weltgeschichtlichkeit, d. h. sie sind geschichtlich, insofern sie zur Welt eines Daseins gehören (vgl. SZ, S. 381). Die Gültigkeit der Normen (Werte, Ideen des Richtigen, Diskurse etc.) ist relativ in Bezug auf die jeweilige Welt. Normen sind kontextrelational und aus diesem Grund sind sie relativ. Zur Relativität der Moral (der Normen, der Ideen des Richtigen, der Tugenden, der Werte) siehe: Moser; Carson (Hrsg.), 2001, Zweiter Teil, S. 69 ff. Zur Relativität der Tugenden in den drei größeren monotheistischen Religionen siehe: Ferrari; Kiesel (Hrsg.). 2016. 754 Normen (im Allgemeinen) bestimmen immer eine bestimmte dynamische Region des Lebens: ein Spiel, eine Methode, eine Interaktion usw. Moralische Normen bestimmen ebendiesen Moralitätsbereich. So wie eine Norm in einem Spiel ›das Wünschenswerte‹ in diesem Spiel bestimmt und daher Universalitätscharakter erhält (solange man dieses Spiel spielen will, muss man diese Normen befolgen), bestimmt die moralische Norm ›das Wünschenswerte‹ bezüglich der menschlichen Interaktion. Sie bestimmt universell das, was getan und beurteilt werden soll. Die Tatsache, dass die moralische Norm vom ›Da‹ abhängig ist, ist kein Argument gegen die Tendenz der Norm zur Universalität. Im Gegenteil, diese Tendenz wird offensichtlich aufgrund des Widerstreits zwischen den verschiedenen Konzeptionen des Wünschenswerten (die in verschiedenen Situationen entstehen). 753

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§ 25 Die Bewegung des Verfallens und der Moralitätsbereich

der Seinsart des Man als Durchschnittlichkeit, Einebnung und Abständigkeit überein. Das Verständnis des Ethischen in Bezug auf die moralische Norm ist dann nicht willkürlich, sondern gründet auf der alltäglichen Art und Weise des Miteinanderseins. Man versteht das Ethische in Bezug auf die moralische Norm. Die Norm ist, wie bereits argumentiert wurde, nicht das Ethische, sondern eine Aussage, die das Ethische als Grenze in der Vorhabe enthält. Das Verständnis eines Phänomens durch den Bezug auf das, was über es gesagt wurde, wurde als ein verfallendes Verständnis (d. i. Gerede) definiert. Das Verfallen, wie gesagt, ist nicht etwas, das zum Leben kommt, sondern eine Tendenz des Lebens selbst. Verfallen ist, so legt Heidegger fest, eine Bewegung des Lebens. Nun muss diese Bewegung analysiert und die verfallende Bewegtheit der moralischen Norm und des Moralitätsbereichs dargestellt werden.

§ 25 Die Bewegung des Verfallens und der Moralitätsbereich Der vorliegende Paragraph verfolgt die Ziele 1. einer Darstellung der Bewegtheit des Verfallens, 2. einer Interpretation dieser Bewegtheit in Bezug auf die moralische Norm und den Moralitätsbereich, und 3. einer Analyse der ›Ersetzung‹ (sowohl des ethischen Seins des Daseins als auch der Andersheit), welche aufgrund des alltäglichen Verständnisses des Ethischen geschieht. Die folgenden Analysen dienen der Untermauerung der folgenden These: Das Verständnis des Ethischen in Bezug auf die moralische Norm ist keine willkürliche Entscheidung des Daseins, sondern gründet in der Bewegtheit (in der Dynamik) des Moralitätsbereichs, welche mit der Bewegtheit des Verfallens übereinstimmt. α.

Die Bewegtheit des Verfallens

›Verfallen‹ ist laut Heidegger »ein ontologischer Bewegunsbegriff« 755, welcher die dynamische Dimension der (uneigentlichen) Existenz beschreibt. Er nennt diese Bewegung in § 38 von SZ ›Absturz‹. Die AbSZ, S. 180. Heidegger entwickelt seinen Begriff der (Lebens)Bewegung durch eine Interpretation von Aristoteles’ Begriff κίνησις (ἐνέργεια) (vgl. GA 62, S. 351 ff.; GA 18, §§ 25–28). Dazu siehe Bernet, 2007, Shehaan, 2015a.

755

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1 · Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

sturzbewegung besteht laut Heidegger aus Versuchung, Beruhigung, Entfremdung und Sichverfangen. Das Verfallen ist nach Heidegger eine Grundart des Seins der Alltäglichkeit. Verfallenheit bedeutet, »bei der besorgten Welt« zunächst und zumeist sein 756. In der Erklärung des Seins des Daseins als Sorge wurde gesagt, dass dieses Seiende immer bei innerweltlichen Seienden ist, und zwar in der Art und Weise eines Besorgens. Doch Heidegger verknüpft dieses Sein bei… mit einem Sein mit…(Anderen) und sagt: »Dieses Aufgehen bei… hat meist den Charakter des Verlorenseins in die Öffentlichkeit des Man.« 757 Die Darstellung des Verfallens hat gezeigt, dass es zugleich ein Abfallen (des Daseins von sich selbst), ein Verfallen (an die Welt) und ein Zerfall (in die Öffentlichkeit) ist. Dies verknüpft die Verfallenheit, als Grundbewegtheit des Lebens, mit der Uneigentlichkeit (d. i. mit einem Seinsmodus des Existierens). Uneigentlichkeit, sagt Heidegger in § 38 SZ, ist ein Modus des Inseins des Daseins, welcher die Art und Weise des ›Nicht-es-selbst-seins‹ aufweist 758. Dieses ›Nichtsein‹ ist keine Behauptung eines ›Nicht-da-seins‹ oder eines ›Daseins‹, welches nicht die Seinsart des Inseins hat. Dieses ›Nicht-esselbst-sein‹ gründet in der Tatsache, dass das Dasein in der Welt bei Seienden mit Anderen ist und zunächst in der (Um-/Mit-)Welt verfällt: Es versteht sich selbst nicht in Bezug auf sein eigenes Seinkönnen, sondern in Bezug auf die besorgten Seienden und auf die öffentlichen Möglichkeiten des Miteinanderseins 759. Dieses Verständnis nennt Heidegger uneigentliches Verständnis. Dazu schreibt er z. B. in der Vorlesung vom Sommersemester 1927: Das faktische Dasein kann sich primär aus dem begegnenden innerweltlichen Seienden her verstehen, es kann seine Existenz primär nicht aus sich selbst, sondern aus den Dingen und den Umständen und von den Anderen bestimmen lassen. Es ist das Verstehen, das wir das uneigentliche Verstehen nennen […]. ›Uneigentlich‹ heißt hier nicht, es sei kein wirkliches Verstehen, sondern es meint ein solches Verstehen, worin das existierende Dasein primär sich nicht aus der eigensten selbstergriffenen Möglichkeit versteht. (GA 24, S. 395)

756 757 758 759

SZ, S. 175. Ebd. Vgl. ebd., S. 176. Siehe auch ebd., S. 58.

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§ 25 Die Bewegung des Verfallens und der Moralitätsbereich

Da das Dasein seine Welt ist und seine Welt zugleich Um-, Mit- und Selbstwelt ist, kann es sich selbst (und die Welt) in Bezug auf die Seienden, auf den Anderen oder auf sein eigenes Sein verstehen. Während die zwei ersten Möglichkeiten Uneigentlichkeit genannt werden, bezeichnet Heidegger die letzte als Eigentlichkeit. Das uneigentliche Verständnis kann, so zeigt Heidegger, die Weise modifizieren, in der das Dasein ist. Die Analysen des Man und des Geredes haben gezeigt, dass das Dasein in einer öffentlichen Ausgelegtheit existiert. Heidegger betont jetzt, dass in ihr das Dasein »ihm selbst die Möglichkeit vorgibt, sich im Man zu verlieren« 760. Hier wird eine ontologische These sichtbar: Das Man ist das existenziale Fundament des Miteinanderseins und aus diesem Grund tendiert das Dasein dazu, sich existenziell dazu verleiten zu lassen, innerhalb der öffentlich eröffneten Möglichkeiten zu bleiben. Kurz gesagt: Das In-/Mitsein tendiert zur Uneigentlichkeit. Das verfallende Inder-Welt-sein ist, sagt Heidegger, versucherisch. Es sei versucherisch, weil es dem Dasein eine »Sicherheit, Echtheit und Fülle aller Möglichkeiten« des Seinkönnens biete 761. Die Analyse des Geredes, der Neugier und der Zweideutigkeit zeigten auch, dass dieses verfallende Verständnis dem Dasein den Eindruck gibt, alle Dinge zu wissen und sie in ihrer Vollständigkeit zu kennen. Das Dasein befindet sich, so drückt Heidegger diese Idee aus, ›zu Hause‹ in der Welt, weil es schon ›alles‹ versteht. Das Dasein muss sich nicht mehr auf die Seienden richten, um sie erfahren und verstehen zu können. Es ›kennt‹ schon die Seienden, weil es schon ›alles‹ über sie gehört hat. Heidegger schreibt: Die Selbstgewißheit und Entschiedenheit des Man verbreitet eine wachsende Unbedürftigkeit hinsichtlich des eigentlichen befindlichen Verstehens. (SZ, S. 177)

Die Tatsache, dass sich das Dasein nicht direkt auf die Sachen richten muss, um sie zu verstehen, beunruhigt das Dasein nicht, ganz im Gegenteil: Das alltägliche Insein ist selbst beruhigend: In ihm muss sich das Dasein seine Möglichkeiten zunächst nicht aneignen, weil sie schon öffentlich gegeben sind und in der Art und Weise des Man entschieden werden können.

760 761

SZ, S. 177. Ebd. Eigene Betonung.

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1 · Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

So versteht sich das Dasein selbst in Bezug auf die öffentliche Ausgelegtheit (bzw. in Bezug auf die eröffneten Möglichkeiten). Das verfallende Verständnis stellt dem Dasein die öffentlich eröffneten Möglichkeiten als die ›echten und authentischen‹ Möglichkeiten vor und verdeckt dem Dasein so die (Meta-)Möglichkeit, sein eigenes Seinkönnen wählen zu können. Das Verständnis der Bedeutung des Existierens (d. h. in einer solchen Weise zu sein, in der das eigene Sein vollzogen werden muss) wird dann verborgen. Das Dasein versteht sich selbst nicht mehr als eigenes Seinkönnen, es versteht sich in Bezug auf das, was in der Öffentlichkeit über die Existenz und ihre Möglichkeiten gesagt wurde. Dies bewirkt, wie schon erwähnt wurde, eine Verdeckung der Verantwortlichkeit des Daseins. In diesem Sinne, argumentiert Heidegger, ist das verfallende In-der-Welt-sein zugleich entfremdend. Dieses Sichverstehen in Bezug auf die Welt und auf die öffentlichen Möglichkeiten ist eine (Meta-)Möglichkeit des Daseins selbst. Das Dasein selbst (nicht ein anderes Seiendes) verführt sich, beruhigt sich und entfremdet sich von seinem eigenen Seinkönnen. Das Dasein verfängt sich, so Heidegger, in sich selbst (in der Uneigentlichkeit). Die Uneigentlichkeit ist demzufolge nicht etwas, das dem Dasein auferlegt wird, sondern etwas, das das Dasein sich selbst gegeben hat. Das Dasein verliert sich selbst in der Uneigentlichkeit. Die Entfremdung besagt also nicht, dass »das Dasein ihm selbst faktisch entrissen [wird]« 762, sondern dass es sich in sich selbst verfängt, insofern es sich selbst aus dem verfallenden Verständnis versteht. Versuchung, Beruhigung, Entfremdung und Sichverfangen charakterisieren den Absturz. Mit diesem Bewegungsbegriff versucht Heidegger laut De Lara auszudrücken, dass das Verfallen eine Form des Zuseins, d. i. ein Modus des Mit-dem-eigenen-Selbst-zu-tun-zuHabens ist. De Lara schreibt: »Das Dasein reagiert auf das Problem, das für sich selbst ist, indem es vermeidet, Verantwortung für sich selbt zu übernehmen.« 763 Heidegger drückt diese Idee so aus: »Die Bewegungsart des Absturzes in die und in der Bodenlosigkeit des uneigentlichen Seins im Man reißt das Verstehen ständig los vom Entwerfen eigentlicher Möglichkeiten […].« 764

762 763 764

Ebd., S. 178. De Lara, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 166. Eigene Übersetzung. SZ, S. 178.

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§ 25 Die Bewegung des Verfallens und der Moralitätsbereich

Diese Tendenz zur Uneigentlichkeit, die die Bewegung des Verfallens begleitet, wird auch als eine Art Bewegung charakterisiert, die Heidegger Wirbel nennt. Damit will Heidegger betonen, dass eine existenziale bzw. strukturelle Tendenz die existenziellen bzw. faktischen Möglichkeiten des Daseins bestimmt. Heidegger schreibt: »Das Verfallen bestimmt nicht nur existenzial das In-der-Welt-sein. […] [D]as Dasein, solange es ist, was es ist, [bleibt] im Wurf und [wird] in die Uneigentlichkeit des Man hineingewirbelt.« 765 Die existenziale Tendenz zum Verfallen führt faktisch zum uneigentlichen Verständnis und dies zu einer uneigentlichen Ausgestaltung der Welt und des Selbst (d. h. der Wirklichkeit). Da die Welt sowohl Umwelt als auch Mitwelt ist, hat das Dasein bezüglich der Uneigentlichkeit auch die Möglichkeit, sich in Bezug auf das besorgte Seiende zu verstehen. Diese Art von Verständnis kann als ›Widerschein der Welt‹ charakterisiert werden. Dieser ›Widerschein‹ bedeutet, wie Heidegger in der Vorlesung von Sommersemester 1927 betont, dass das Dasein und das besorgte Seiende weder dasselbe sind, noch dasselbe werden, sondern dass das besorgte Seiende das Dasein motiviert, eine Welt zu gestalten, die als Bezugspunkt für sein Selbstverständnis gilt 766. Die gelebte Welt erscheint als Welt (als bedeutsam) in Bezug auf das besorgte Seiende. Als Beispiel nennt Heidegger den Schuster, welcher seine Welt in Bezug auf den Schuh (und das Besorgen des Schuhmachens) bildet: Der Tisch erscheint als Arbeitstisch, das Leder als Schuhsohle, die Anderen als Mitarbeiter, Kunden etc. Gegenüber dieser Welt versteht sich der Schuster als Schuhmacher. Dieses uneigentliche Verständnis verdeckt laut Heidegger den eigentlichen Charakter des Seins des Daseins (nämlich das Seinkönnen), insofern die Möglichkeiten des Schuhmachens vom Man geleitet sind 767.

Ebd., S. 179; siehe auch GA 20, S. 388. Vgl. GA 24, S. 227; 244. 767 Olafson drückt es so aus: »Wenn wir dem Man folgen, erzeugen wir eine Lebensweise, die implizit bestimmte Komponenten unseres eigenen Seins leugnet« (Olafson, 1999, S. 35. Eigene Übersetzung). 765 766

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1 · Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

β.

Die Bewegtheit des ›sich in Bezug auf die moralische Norm Verstehens‹

Nun ist es interessant, diese Feststellung in Bezug auf den Moralitätsbereich weiterzudenken. Daraus können drei Hauptbemerkungen abgeleitet werden: 1. Das Dasein wird zunächst im Bezug auf die moralische Norm ›moralisch‹, d. h. das Dasein bildet seine moralische Identität in Bezug auf die Normen und die jeweilige Idee des Richtigen: Genauso wie beim Beispiel des Schusters, ist der ›moralische Akteur‹ selbst weder die Moral noch die moralische Norm, doch sind die moralische Norm und der durchschnittliche Umgang mit ihr das, was für ihn eine moralische Welt und eine moralische ›Identität‹ bilden. Alle Ereignisse, Handlungen, Meinungen, und jedes Verhalten werden für das uneigentliche Verständnis in Bezug auf die Norm moralisch bedeutsam. Die Konsequenz dieser moralischen Identitätsbildung wird später weiterverfolgt (siehe γ). 2. Diese Konstitution des moralischen Akteurs weist eine Kreisbewegung auf: Die These des Scheinproblems, im Zusammenhang mit dem Beispiel des Schusters, zeigt, dass das Dasein die Seienden in Bezug auf das versteht/auslegt, was über sie gesagt wurde, und dementsprechend mit diesen so verstandenen Seienden umgeht. Demzufolge versteht sich das Dasein selbst in Bezug auf dieses Umgehen und in Bezug auf die so verstandenen Seienden. Das Problem liegt darin, dass dieser Umgang beide Auslegungen bzw. Verständnisse legitimiert. Dieses Problem wird auch im Moralitätsbereich sichtbar: Die moralische Norm legitimiert den ›moralischen Wert‹ des Urteils und des Verhaltens des Daseins, welches sich in Bezug auf die Normen versteht und so handelt und beurteilt. Die Norm geht der Handlung und dem Urteil voraus, um sie bewerten zu können. Im Bewerten stellt sich die Norm als wahrhaft und objektiv dar und folglich versteht sich das in Bezug auf die Norm verstandene Dasein selbst (in diesem Bezug) als moralisch, gewünscht, gerecht etc. Kurz: Das Dasein versteht sich als moralisch in Bezug auf die Norm; die Norm wird so als ›der legitime Bezug‹ des Moralischen verstanden. Das Verhalten in Bezug auf dieses Verständnis legitimiert dieses Verhalten und diese Legitimation legitimiert diesen Bezug. 3. Das Dasein entscheidet nicht über diese Identitätsbildung. Sie gehört zur verfallenden Tendenz des Miteinanderseins. Anders gesagt: Die Bewegung des Moralitätsbereich stimmt mit der verfallen252 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 25 Die Bewegung des Verfallens und der Moralitätsbereich

den Bewegung überein. Dies ist die Hauptthese des vorliegenden Paragraphen und muss demnach gründlich analysiert werde. Die in der vorliegenden Arbeit dargestellte Interpretation der prohibitiven moralischen Norm hat gezeigt, dass die Norm eine Tendenz zur Durchschnittlichkeit, zur Abständigkeit und zur Einebnung hat, insofern sie den Charakter der Universalität aufweist. Der öffentliche Charakter der moralischen Norm wurde zum Charakter einer ›Wahrheit‹ homologiert, welcher mit dem ›Nicht‹ eine Grenze markiert und alles als ›negativ‹ bezeichnet, was diese Grenze überschreitet. Das ›Nicht‹ begründet den bestrafenden Charakter der Norm. Letztere wird durch die Öffentlichkeit des Man legitimiert. In der Analyse von SZ wurde außerdem festgestellt, dass das Gerede und die Zweideutigkeit dem verfallenden Verständnis des Man Sicherheit garantieren: Das, was ›man‹ weiß, ist das, was man mit Sicherheit für ›wahr‹, ›real‹, ›wertvoll‹ etc. hält. Im Folgenden wird gezeigt, dass sich dieser Charakter der Sicherheit auch im öffentlichen Sein der Norm wiederfindet. Es muss daran erinnert werden, dass diese Sicherheit keine Gewissheit ist: Sie weist keine Evidenz auf 768. Es wurde gezeigt, dass die Wahrheit der Aussage in der Übereinstimmung zwischen dem Ausgesagten und der direkten Erfahrung des Besagten liegt. Das Gerede erschafft allerdings Sicherheit in der Übereinstimmung zwischen dem Ausgesagten und einem Diskurs über das Besagte. Anders formuliert: Das, was gesagt wird, gründet sich in dem, was gesagt wurde. Der Diskurs richtet sich auf und gründet in einem anderen Diskurs: Diese Dynamik kann als eine ›Diskurskette‹ bezeichnet werden. Nun ist in diesem Bezug die primäre Beziehung mit der (Um-, Mit- und Selbst-)Welt behindert. Heidegger drückt diese Idee so aus: »Das Gerede erschließt dem Dasein das verstehende Sein zu seiner Welt, zu Anderen und zu ihm selbst, doch so, daß dieses Sein zu… den Modus eines bodenlosen Schwebens hat.« 769 Daraus folgt, dass die Leere das Fundament für die Sicherheit des verfallenden Verstehens ist. In dem verfallenden Verständnis gibt es keine ›Wahrheit‹, weil der Bezug zum Aufgezeiten bzw. Beredeten fehlt. Was sagt dies über den Moralitätsbereich aus? Im Alltag ist man sich sicher, dass man etwas tun soll, weil die Norm es so sagt. Das Verständnis des Ethischen richtet sich nicht auf das situative Ereignis, 768 769

Dazu siehe weiter im zweiten Teil, Kap. 2 der vorliegenden Arbeit. SZ, S. 177.

253 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

1 · Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

sondern auf die Norm und ist sicher, dass die Norm das Ethische aufweist. Man muss sich nicht überlegen, was gemacht werden sollte. Man muss sich nicht über die Lage informieren. Man muss die moralische Dilemata nicht bedenken, in besonderen Fällen treten diese für die betreffende Person gar nicht mehr ein. Man muss sich einfach auf die moralische Norm beziehen und so handeln, wie sie es diktiert, ganz so, als wäre es sicher, dass sie ›das Ethische‹ vorschreibt. Die Analysen des Aussageseins der Norm zeigten wohl, dass die Norm die Aufzeigung des Ethischen trägt. Doch sie haben auch darauf hingewiesen, dass sich das Ethische in der Norm als das zeigt, was es nicht ist, nämlich als ein innerweltliches Seiendes, das auferlegt wird, bevor das ethische Ereignis eintritt 770. Die Leere des Moralitätsbereichs hat die Seinsart der Privation. Diese Leere, die sich als Sicherheit, Echtheit und Fülle zeigt, kommt mit der Tatsache einher, dass das Dasein kein eigentliches Verständnis des Ethischen braucht. Warum sollte man nach dem Ethischen fragen, wenn man schon sicher ist, dass das Ethische das ist, was die Norm uns zu verstehen gibt? Diese Sicherheit zeigt, dass zur Moralität eine Tendenz zum Verfallen gehört. Anders gesagt: Das Verständnis des Ethischen im Moralitätsbereich ist zunächst und zumeist ein Verständnis, dessen Fundament nicht das Ethische, sondern die Leere (eines Diskurses) ist. Daraus kann geschlossen werden, dass die Bewegtheit (bzw. die Dynamik) des Moralitätsbereichs mit der verfallenden Bewegtheit übereinstimmt. Diese Übereinstimmung muss allerdings erforscht werden. Der Charakter der Sicherheit der moralischen Norm führt zu einem versucherischen Charakter der Moralität in einem doppelten Sinne: Da die Moral sich als ›wahr‹, ›gut‹, ›sicher‹ darstellt, lädt sie das Dasein ein, die Norm zu befolgen, wenn es diese Attribute für sich selbst beanspruchen möchte. Darüber hinaus bestraft sie das Dasein, welches sie überschritten hat, mit der Zuschreibung der Antonyme dieser Attribute (und auch mit der jeweiligen öffentlichen Strafe für Es scheint, dass eine Ethik, welche Universalien postuliert (als eine Deontologie), niemals die berühmte humesche Dichotomie zwischen einem ›Sein‹ und einem ›Sollen‹ überschreiten kann. Der Grund dafür ist, dass der Wert nicht in der Tatsache selbst liegt; sie geht ihr voraus. Im Gegensatz dazu kann eine situative Ethik diese Dichotomie in Frage stellen. Eine situative Ethik setzt voraus, dass die Tatsache selbst einen wertenden Sinn aufweist: das Ereignis kommuniziert uns einen Sinn des Ethischen.

770

254 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 25 Die Bewegung des Verfallens und der Moralitätsbereich

dieses Verhalten). In beiden Fällen ist das Dasein schon immer der Moral unterworfen und muss sie in jedem Fall annehmen oder leugnen. Es kann also gesagt werden, dass das Man-Selbst als Geworfenes dazu verführt wird, sich der Moral zu unterwerfen. Dies stellt gleichzeitig eine Beruhigung für das durchschnittliche Dasein dar: Die Moral als ein Wie der Seinsmöglichkeiten, d. i. als Norm dessen, was man tun oder nicht tun soll, beruhigt das Dasein, indem sie ihm bereits die Möglichkeiten vorstellt, die ›man‹ wählen oder nicht wählen sollte. Sobald man das Ethische in Bezug auf die moralische Norm versteht, ist ›alles in Ordnung‹. Das (Man-)Selbst wird zugunsten seiner Ruhe dazu gedrängt, sich der Moral zu unterwerfen und zu leben, wie es die Norm vorgeschrieben hat. In diesem Sinne weist die Moralität auch Entfremdung auf: Im Moralitätsbereich ist das Dasein ›gut‹, ›gerecht‹ bzw. ethisch, insofern es die Norm befolgt. Das Dasein versteht sich selbst als ethisch in Bezug auf die Norm. Das Dasein gibt sich selbst die Norm als Bezug seines ethischen Seins und so verhindert es, sich auf die Situation zu richten und sie zu evaluieren und sich so die Norm (mit der Situation als ›Kriterium‹) anzueignen (Aneignung, die man als Unterscheidungsvermögen und Kritik kennt), d. i. die Norm aufgrund des Verständnisses des Ethischen auszulegen. Der tertii exclusi-Charakter der Norm verpflichtet das Dasein dazu, entweder für das in der Norm diktierte ›Richtige‹ oder gegen es zu sein. In diesem Sinne erhält derjenige/diejenige, der/die gegen die Norm handelt, von dem konstitutiven ›Nicht‹ die Qualifizierungen von unerwünscht, ungut, ungerecht usw. Die versucherischen und beruhigenden Charaktere der Norm entfremden das Dasein von der Möglichkeit, sich dafür zu entscheiden, was die Norm im Voraus für es entschieden hat. Hier erkennt man den zeitlichen Charakter der Norm: Die Norm ist eine Projektion, die schon im Voraus das bestimmt, was sie zu regeln versucht. Das, was mit der Norm eröffnet wird, wird schon mit einer Bestimmung eröffnet. Das ›Nicht‹, welches das bestimmt, was die Norm anspricht, ist gleichzeitig ein ›Bereits‹. Dies besagt, dass das normierte Phänomen (d. i. das ethische Ereignis), welches aufgrund seines faktischen (und geschichtlichen) Charakters relativ zu der Lage (es bezieht sich auf die Lage) ist, bereits moralisch (als ›gut‹ oder ›böse‹) bestimmt wird, noch bevor es ›ist‹. Die moralische Norm schreibt z. B. vor: ›Du sollst nicht lügen‹. Derjenige/diejenige, der/die lügt, verstößt gegen die Norm. Er/Sie ist unmoralisch. Die Möglichkeit des Lügens wird schon im Voraus als nicht wünschenswert ver255 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

1 · Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

standen. Die Lage, in der diese Person gelogen hat, ist für die Norm irrelevant, weil sie das Lügen bereits zu jeder Zeit und in jedem Fall als falsch bestimmt hat. Die Norm, die dem Phänomen vorausgeht, weist in ihrem Charakter die Negation der situativen Abhängigkeit des Phänomens auf und muss aus diesem Grund so vorgestellt werden, als ob sie auf ›etwas‹, das dem Phänomen vorausgeht, gründet. Die ethischen Theorien, die ihre Ansätze auf einer apriorischen Kondition gründen, stehen vor dem philosophischen Problem, die Seinsart dieses Apriori begründen zu müssen. Der Grund muss ebenfalls begründet werden. Eine Norm, die dem situativen Phänomen vorausgeht, kann nur auf etwas Unsituatives (z. B. auf ein universelles Ideal oder auf ein esse supremum) gründen. Dieser Grund kann sicher sein, jedoch nicht gewiss 771. Diese Sicherheit besteht allerdings aus dem Mangel eines (kontextualisierten) Phänomens, welches für die Überprüfung der Bestimmung notwendig ist. In einer solchen Sicherheit wird die Möglichkeit des In-Frage-gestellt-Werdens verhindert. Der Sicherheitscharakter gründet, wie oben erläutert, in der Leere der öffentlichen Ausgelegtheit. Nun wird hier erwiesen, dass der zeitliche Charakter der Norm mit dieser Sicherheit zu tun hat und dass dadurch der Bezug auf das Ethische erschwert wird. Dies, weil ›das Ethische‹ bereits verstanden wird, bevor es ist. Die Norm verdeckt den Bezug auf die Erscheinung des Ethischen. Die Norm zeigt demnach eine doppelte Bewegung der Entfremdung: Einerseits verdeckt sie den Bezug zum ethischen Sein des Daseins 772; andererseits nimmt sie dem Dasein die Möglichkeit, sich (in kritischer und differenzierter Weise) selbst für die situativen Möglichkeiten zu entscheiden. Nun weist diese Negation des Phänomens und der Lage auf die Diskurskette hin: Ein Diskurs wird aufgrund eines anderen Diskurses angenommen oder abgelehnt. Der Dogmatismus in der Ethik gründet in diesem Aspekt der Moralität. Eine hermeneutisch-phänomenologische Ethik sollte nach dem ursprünglichen Phänomen fragen und sich nicht auf das beziehen, was über dieses Phänomen gesagt wird. Nicht einmal die Summe der Diskurse (dessen, was gesagt wird, und dessen, was gesagt wurde) kann das Phänomen in seinem vollen Sinn ersetzen 773. Diesen Scheincharakter Zur Gewissheit siehe § 29 der vorliegenden Arbeit. Dazu siehe weiter in §§ 35; 37 der vorliegenden Arbeit. 773 Diese These wurde schon in einem allgemeineren Sinne von der Phänomenologie vertreten und deswegen ist die Evidenz das Prinzip aller phänomenologischen For771 772

256 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 25 Die Bewegung des Verfallens und der Moralitätsbereich

findet man auch in der Moralität: Die Moralität sucht Gewissheit und Gültigkeit in der Sicherheit (und Leere) der öffentlichen Ausgelegtheit. Durch die versucherischen, beruhigenden und entfremdenden Charakteristiken des Moralitätsbereichts verfängt sich das Dasein in seinem Moralsein, in der Befolgung der Norm. Die Norm umschließt das Dasein nicht nur in einer Bewegung des Selbstbezugs der Norm, sondern auch in einer Bewegung des Bezugs auf das Wünschenswerte (bzw. auf die Idee des Richtigen), welches in der sozialen Praxis, im Glauben, in den Sitten, kurz: in den (öffentlichen) Seinsmöglichkeiten wurzelt. Zusammenfassend wurde eine Übereinstimmung zwischen der Bewegung des Moralitätsbereichs und derjenigen des Verfallens festgestellt. Es wurde auch gezeigt, dass dieses ›Verfallen‹ ein Gerichtetsein auf etwas ist, das einen Diskurs als Bezug aufweist. Diesbezüglich möchte die vorliegende Interpretation darauf hinweisen, dass diese Dynamik das Verständnis des Ethischen (und des ethischen Seins des Daseins) verdeckt und dass sie die gleiche Bewegung des ›Wirbels‹ aufweist, d. i. ein »ständige[s] Losreißen von der Eigentlichkeit« und ein »Hineinreißen in das Man« 774. Diese Charakterisierung zeigt das Man-Selbst als dasjenige, welches sich im Moralitätsbereich bewegt und dessen moralische Identität in Verbindung mit der moralischen Norm gebildet wird. Als Man-Selbst versteht das Dasein uneigentlich (bzw. ohne Aneignung) das Ethische in Bezug auf die moralische Norm. Die Konstitution des alltäglichen Selbst und des Bereichs des ethischen Verständnisses begrenzen das Verständnis des Ethischen auf das Verständnis des Richtigen, welches im Voraus durch die moralische Norm vorgeschrieben wurde. In diesem Sinne konstituiert die als bestrafende, objektive, anpassungsfähige, vorausgehende und sichere charakterisierte Norm, d. h. die universale Norm den Grund der Moralität (sie sind der Bezugspunkt des alltäglichen Verständnisses des Ethischen). Fragen bezüglich der Begründung dieses Grundes und des möglichen Problems des Relativismus 775 sollten schung. Heidegger drückt diese These sehr deutlich in SZ aus, wenn er argumentiert, dass das Dasein nicht sein eigenes Sein verstehen kann, wenn es sich auf die verschiedenen Daseinsauslegungen und nicht auf sein eigenes Seinkönnen richtet (vgl. SZ, S. 178). Diese These wird auch in § 10 SZ vertreten. 774 SZ, S. 178. 775 Relativismus heißt »die Bestreitung des Vorhandenseins allgemein und absolut gültiger sittlicher Werte und Normen zugunsten einer an die geschichtliche Entwick-

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1 · Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

hier außen vor bleiben und in einer Untersuchung des Grundes der Ethik ausgearbeitet werden. γ.

Die Ersetzung des ethischen Seins des Daseins und der Andersheit des Anderen

An dieser Stelle muss gefragt werden, wie sich das Dasein selbst und wie es die Anderen als ethische Akteure auffasst, wenn es das Ethische in Bezug auf die prohibitive moralische Norm versteht. Es wurde bereits gesagt, dass der Bezug auf die Norm, dem Dasein seine Verantwortlichkeit nimmt. Die Notwendigkeit eines Bezuges auf die Situation, sie zu bewerten und zu verstehen, was in dieser Situation das Richtige wäre, wird durch die Sicherheit der Norm ersetzt. Die moralische Norm befiehlt uns das Richtige, bevor wir es erfahren können, und ihre Darstellung als das, was universell befolgt werden soll, verhindert jeden Versuch, das Richtige in der Situation zu erfahren. Mit der Ersetzung der Notwendigkeit, sich auf die Situation zu richten, um das Ethische zu verstehen, geschieht eine Ersetzung des ethischen Seins des Daseins. ›Ethisches Sein‹ bedeutet, ontisch gesehen, die Möglichkeit eines In-dem-Moralitätsbereich-Seins aufgrund der konstitutionellen Verantwortlichkeit: die Konstitution des Selbstverständnisses des ethischen Akteurs. Das normkonforme Handeln und/oder Überlegen wird aufgrund der Ersetzung zur Hauptweise, in der sich das Dasein als ethischer Akteur versteht. Diese These muss begründet werden. lung der einzelnen Völker und Kulturen gebundenen zeitlich beschränkten Geltung, Verschiedenheit und Wandelbarkeit.« (Kirchner et al, 2013, S. 564). Das philosophische Problem des Moralrelativismus kann: 1. in einer empirischen Wahrnehmung des Unterschieds zwischen den Glaubensrichtungen und Maßstäben verschiedener Individuen, Kulturen und Gesellschaften bezüglich moralischer Probleme gründen (deskriptiver Relativismus), 2. in der Analyse der Reaktion des moralischen Akteurs auf die Anforderung der moralischen Prinzipien (Moral-Anforderung Relativismus) gründen, d. i. wie bezieht sich der Akteur (psychologisch, emotional etc.) auf die Prinzipien, 3. in der Analyse der Dynamik zwischen den moralischen Prinzipien und den moralischen Akteuren in einem bestimmten Kontext gründen (normativer Relativismus) und 4. in einer Analyse der Seinsart der moralischen Prinzipien selbst gründen (metaethischer Relativismus) (vgl. Moser; Carson (Hrsg.), 2001, S. 1–4, auch Brand, in Moser; Carson (Hrsg.), 2001, S. 25–31). Zum Unterschied zwischen einem strengen und einem mäßigen Relativismus siehe Düwell; Hübenthal; Werner (Hrsg.), 2011, S. 498.

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§ 25 Die Bewegung des Verfallens und der Moralitätsbereich

In der Analyse der Öffentlichkeit schreibt Heidegger: [Die Öffentlichkeit] regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht. Und das nicht auf Grund eines ausgezeichneten und primären Seinsverhältnisses zu den ›Dingen‹, nicht weil sie über eine ausdrücklich zugeeignete Durchsichtigkeit des Daseins verfügt, sondern auf Grund des Nichteingehens ›auf die Sachen‹, weil sie unempfindlich ist gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit. Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus. (SZ, S. 127. Eigene Betonung)

Hier werden drei Thesen sichtbar: 1. Die Öffentlichkeit regelt zunächst das Welt- und Selbstverständnis. 2. Dieses Verständnis bezieht sich nicht auf das Phänomen, d. h., es ist uneigentlich. 3. Dieses Verständnis stellt sich als ursprünglich und eigentlich dar, obwohl es keine direkte Beziehung zum Phänomen hat. Diese drei Thesen können in Bezug auf das alltägliche Verständnis des Ethischen interpretiert werden: 1. Die vorangegangenen Analysen haben gezeigt, dass die Öffentlichkeit die Legitimität der in der moralischen Norm kommunizierten Idee des Richtigen konstituiert. Die Öffentlichkeit diktiert dem Dasein, was richtig und unrichtig ist, und zwar als ob dies selbstverständlich bzw. ›wahr‹ wäre. Sie regelt die Auslegung des Richtigen und dementsprechend die Auslegung des Ethischen. Das Dasein, welches das Richtige in Bezug auf die Norm versteht, legt sich selbst als ›ethischen Akteur‹ in diesem Bezug aus. 2. Dieses Verständnis ist allerdings uneigentlich, d. h., es richtet sich nicht auf das Richtige, sondern auf die jeweilige Idee des Richtigen, die in der moralischen Norm zu finden ist. Was auch immer das Richtige ist, es kann gesagt werden, dass es in der Situation (im ethischen Ereignis) erscheint. Man kann das Richtige in Bezug auf die Situation oder in Bezug auf die Idee des Richtigen verstehen, z. B. kann man jemanden als ›gerecht‹ bezeichnen, weil er/sie etwas in einer konkreten Situation gemacht hat, oder, weil er/sie die Norm befolgt hat. Für diese zweite Möglichkeit ist es nicht wichtig, was die Situation fordert. Solang er/sie die Norm befolgt hat, hat er/sie richtig gehandelt. 3. Diese Bezeichnung ist allerdings nicht willkürlich, sondern wird von dem universellen Charakter der moralischen Norm gefordert. Insofern sich die Norm als universal bzw. wahr darstellt, ist für das Verständnis des ›Richtigen‹ die Erfahrung des ethischen Phänomens (und des ethischen Seins bzw. der Verantwortlichkeit) nicht 259 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

1 · Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

mehr nötig, und so wird das Bedürfnis nach dieser Erfahrung ignoriert. Daher versteht sich das Dasein selbst als ›ethisch‹, insofern es die Norm befolgt. Hier wird eine Kreisbewegung sichtbar: Einerseits versteht sich das Dasein in seinem normkonformen Handeln/Urteilen als ethisch; andererseits versteht es die Norm als Bezugspunkt, da seine Selbstauslegung in Bezug zur Norm geschehen ist. Diese Zirkularität zeigt, dass die Legitimierung der Norm kein fundiertes Fundament hat: Die Leere, welche in der Bewegung des Verfallens analysiert wurde, ist der Grund für diesen Bezug. Im Alltag sagt man z. B. ›man soll das nicht tun‹ und wenn nach dem Grund dafür gefragt wird, antwortet man bloß: ›weil man das nicht tun soll‹ oder ›weil die Norm es so diktiert‹. Das Warum ist hier ein Schein. Die Verantwortung des Daseins wird so verdeckt: Es sieht so aus, als ob man Gründe für seine Handlungen und Urteile angibt, dennoch sind diese Gründe nur ein Nachgeben in dem, was von der Norm bestimmt wurde. Mit der Verstellung der Verantwortung des Daseins wird seine Verantwortlichkeit, d. i. der Selbstbezug des Seinkönnens verdeckt (und umgekehrt). Insoweit das Dasein ›das ethische Ereignis‹ in Bezug auf die moralische Norm evaluiert bzw. auslegt, versteht es sich selbst gleichzeitig als moralisch, obwohl es sich nicht als verantwortlich aufgefasst hat. Die Verantwortlichkeit des Daseins ist so durch diesen Bezug verdeckt bzw. verstellt. Eine Entfremdung der Verantwortlichkeit ist nicht nur in Bezug auf die Öffentlichkeit des Man möglich, sondern auch in Bezug auf die moralische Norm. Nun versteht das Dasein nicht nur sich selbst, sondern auch den Anderen als ethischen Akteur in Bezug auf die moralische Norm. Heideggers Analysen des verfallenden Verständnisses des Anderen stellen die folgenden Thesen auf: Diese Seinsart der Erschlossenheit des In-der-Welt-seins [d. i. das Verfallen] durchherrscht aber auch das Miteinandersein als solches. Der Andere ist zunächst ›da‹ aus dem her, was man von ihm gehört hat, was man über ihn redet und weiß. Zwischen das ursprüngliche Miteinandersein schiebt sich zunächst das Gerede. Jeder paßt zuerst und zunächst auf den Andern auf, wie er sich verhalten, was er dazu sagen wird. Das Miteinandersein im Man ist ganz und gar nicht ein abgeschlossenes, gleichgültiges Nebeneinander, sondern ein gespanntes, zweideutiges Aufeinander-aufpassen, ein heimliches Sich-gegenseitig-abhören. Unter der Maske des Füreinander spielt ein Gegeneinander. (SZ, S. 174–175. Eigene Betonung)

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§ 25 Die Bewegung des Verfallens und der Moralitätsbereich

Hier sind zwei Hauptthesen hervorzuheben: 1. Zunächst versteht das Dasein den Anderen in Bezug auf das, was von ihm gesagt wird. 2. Im Miteinandersein versucht das Dasein sich von den Anderen zu differenzieren (Abständigkeit) und das Gerede ist dabei hilfreich: Man redet über den Anderen, man versteht den Anderen in Bezug auf das, was über ihn gesagt wird, und man ersetzt ihn durch dieses Verständnis. Das Phänomen des moralischen Beurteilens dient als phänomenaler Tatbestand dieser These. Der Beurteiler beurteilt den Beurteilten und so wird die Möglichkeit eines Verständnisses des Beurteilten in Bezug auf das, was über ihn gesagt wurde, ermöglicht. Eine dritte Person kann dann den Beurteilten verstehen (erfahren), ohne das Bedürfnis zu haben, sich auf ihn zu richten. Diese dritte Person kann dann das Gesagte erhalten, verwahren und weitersprechen. Die Phänomene der Gerüchte und des (mit jemandem) Angebens bestätigen diese Möglichkeit. Das Ergebnis dieses Verständnisses ist eine Verdeckung des Seins des Anderen. Die Mitsein-Anzeige hat darauf hingewiesen, dass dem Anderen, und mit ihm seiner Andersheit, unmittelbar in seinem Sein begegnet wird. Jedoch zeigen diese ontischen Tatbestände, dass diese Unmittelbarkeit zunächst und zumeist unterbrochen wird, wenn das Dasein den Anderen in Bezug auf (d. i. durch) die Diskurse versteht. Die uneigentliche Erschlossenheit erschließt so den Anderen in der Art und Weise der Diskurse und so verschließt sie die Unmittelbarkeit der (symmetrischen) Begegnung zwischen mir und den Anderen als Andere. Wir verstehen zunächst die Anderen in Bezug auf den moralischen Wert ihrer Handlungen, und wir verstehen diesen Wert in Bezug auf die moralischen Normen: ›Es ist ein böses Kind, weil es gelogen hat und man nicht lügen soll‹. Mit dem moralischen Urteil ersetzen wir den Anderen durch einen Diskurs und gleichzeitig erschweren wir es anderen auslegenden Seienden, den Anderen in Bezug auf ihn selbst zu verstehen. Beide, die Ersetzung des ethischen Seins des Daseins und die Ersetzung des Seins des Anderen, gründen in der Tendenz des Daseins zu verfallen, d. i. in der Tendenz, die Phänomene in Bezug auf Diskurse zu verstehen. Die moralische Norm als Diskurs dient dem Verständnis des Ethischen. Die Mitteilung, welche die Grundweise des Miteinanderseins ist, ermöglicht das Gerede, d. h., sie eröffnet die Möglichkeit, das Besagte in Bezug auf das Gesagte zu verstehen. Im Moralitätsbereich heißt das: Man kann das Ethische in Bezug auf 261 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

1 · Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

die moralische Norm verstehen. Diese Referenzialität des Verstehens auf das Gesagte und nicht auf das Phänomen des Ethischen verbindet die moralische Norm mit dem Scheinproblem und konstituiert die Verdeckung des ethischen Seins des Daseins. Was bedeutet es, dass das ethische Sein des Daseins verdeckt wird? Was verbirgt die Norm aufgrund ihrer prohibitiven Art? Es wurde bereits gesagt, dass das Verbot ein ›Nicht‹ auferlegt. Gerade das, was unter das Verbot fällt, ist der ursprüngliche Charakter der Grenze, des ›Nicht‹. Das Verbot birgt selbst (in der Art der Privation) das (verstellte) Verständnis eines primären Phänomens: die Grenze bzw. das ›Nicht‹, das aus dem Dasein selbst kommt und dem Dasein nicht in der Form eines innerweltlichen Seienden auferlegt wird. Die Untersuchung muss dementsprechend das ›Nicht‹ bzw. die Grenze in der Vorhabe halten und nach einem methodischen Zugang fragen, der uns das Phänomen selbst vor Augen führen kann.

§ 26 Die erreichte hermeneutische Situation: der erreichte Sinn des Ethischen und die Umwandlung der Fragestellung Durch die Analysen des Moralitätsbereichs wurden zwei Hauptkonklusionen erreicht: 1. Wir gehen alltäglich mit moralischen Normen um und benutzen sie in unseren ›ethischen‹ Überlegungen, für unsere Werturteile, für die Regulation unseres Verhaltens usw. Eine moralische Norm diktiert z. B. ›man soll nicht lügen‹. Was wird hier verstanden? Das ›Nicht‹ markiert eine Grenze, die das Richtige vom Unrichtigen unterscheidet. Diese Grenze wird allerdings nicht in Bezug auf das ethische Ereignis (auf die Situation) formuliert, sondern geht dem Ereignis voraus und wird auferlegt, bevor das Ereignis entsteht. Das Dasein versteht das Ethische zunächst durch die Erfahrung der prohibitiven moralischen Norm, und zwar als eine auferlegte Grenze, die im Voraus universell befohlen wird. Die Norm ›man soll nicht lügen‹ wird, wie oben bereits erwähnt, universell, d. h. zu jeder Zeit und in jedem Fall befohlen. Problematisch ist hierbei, wie die Analysen des Geredes und des Scheinproblems suggeriert haben, dass jedes Verständnis zweideutig ist und dass es die Möglichkeit einer Ersetzung des Besagten geben kann.

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§ 26 Die erreichte hermeneutische Situation

2. Dieses Verständnis des Ethischen in Bezug auf die Norm ist nicht etwas Willkürliches, sondern gründet vielmehr in der Dynamik des Moralitätsbereichs, welche wiederum in der existenzialen Tendenz des Daseins gründet, sein Selbst und die Welt in Bezug auf (nicht angeeignete) Diskurse zu verstehen. In diesem Zusammenhang wurde dargestellt, dass die Bewegung des Moralitätsbereichs mit der Bewegung des Verfallens übereinstimmt und dass es deswegen für das Dasein ›schwierig‹ ist, das Ethische, sich selbst und die Anderen (als ethische Seiende) alltäglich anders zu verstehen, als in Bezug auf die moralische Norm. Die vorliegende Untersuchung fragt sowohl nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung (bzw. eines Verständnisses) des Ethischen als auch nach der konkreten Erfahrung (bzw. nach dem konkreten Verständnis) des Ethischen. Die leitende Frage im ersten Teil dieser Untersuchung war die Frage nach den Bedingungen einer Erfahrung des Ethischen. Es wurde festgestellt, dass die Bedingungen für eine Erfahrung (überhaupt) die Freiheit und die Modalität des Daseins sind. Diese Bestimmungen haben die Analyse des konkreten (faktischen) Umgangs im Moralitätsbereich geleitet, sodass eine (erste) Antwort auf die Frage nach dem alltäglichen Verständnis des Ethischen getroffen werden konnte: Das Ethische wird zunächst in der Erfahrung der prohibitiven moralischen Norm verstanden. Die Untersuchung klammert zurzeit die Frage nach den Bedingungen einer Erfahrung des Ethischen aus und hält den erreichten Sinn des Ethischen als eine universell auferlegte Grenze in der Vorhabe. An dieser Stelle muss an die in § 20 dieser Arbeit betonte Bemerkung erinnert werden, dass zu jeder (ontologischen) Untersuchung die Möglichkeit der Illusion bzw. des Irrtums (in der Bestimmung des Sinns des Phänomens) gehört. Die sprachliche Sphäre, die zum Moralitätsbereich gehört und in der das Ethische schon als etwas verstanden bzw. ausgelegt wird, kann zu einem Irrtum in der phänomenologischen Untersuchung führen. Es könnte sein, dass es eine Illusion ist, das Ethische in Rückbezug auf die moralische Norm (auf eine Aussage) in seiner ursprünglichen Art und Weise verstehen und auffassen zu können. Es könnte ebenfalls sein, dass wir der Illusion verfallen sind, dass die Bestimmung des Sinns des Ethischen, die in Bezug auf die Universalität (der Norm) getroffen wurde, als etwas Un-situatives mit dem Sein des Ethischen übereinstimmt. Es könnte schließlich auch sein, dass wir uns irren, wenn wir das Ethische und das ethische Sein des Daseins getrennt und unabhängig von der 263 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

1 · Der Moralitätsbereich und das alltägliche Verständnis des Ethischen

Situation (von dem ethischen Ereignis) konzipieren. Wie kann man sich in Rückbezug auf phänomenologische Arbeitsweisen von diesen möglichen Illusionen frei machen? Man muss kritisch bleiben und die Bestimmung mit der direkten Erfahrung des Ethischen vergleichen. Folgendes muss bezüglich des in der Vorhabe gehaltenen Sinns gefragt werden (Vorsicht): 1. Wurde dieser Sinn aus der Erfahrung des Ethischen oder aus der Erfahrung eines Diskurses (eines Gesagten) des Ethischen abgeleitet? 2. Ist der erreichte Sinn ursprünglich d. h. aus einem eigentlichen Verständnis des Ethischen gewonnen? 3. Kann dieser Sinn überprüft werden? 4. Wie kann die Untersuchung sich des Sinns des Ethischen nicht mit Sicherheit, sondern mit Gewissheit versichern? Diese neuen Fragestellungen bewegen sich im Verständnishorizont (Vorgriff) der Wahrheit. Die Problematik ist eine methodische bzw. phänomenologische Problematik, d. h. eine Frage nach der Möglichkeit einer gewissen Erkenntnis des Ethischen. Diese Problematik wird dem Gegenstand nicht auferlegt, sondern wird von ihm selbst verlangt. Kurz: Ein Sinn des Ethischen wurde erreicht und jetzt muss gefragt werden, wie sich die Untersuchung dieses Sinns phänomenologisch versichern kann.

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Kapitel 2. Der methodische Wert einer moralischen Norm für eine phänomenologische Untersuchung des Ethischen

Die Erfahrung der moralischen Norm wurde als die alltägliche Erfahrung des Ethischen dargestellt. Im Zuge dieser Erfahrung versteht man das Ethische als ein auferlegtes ›Nicht‹ bzw. als eine auferlegte Grenze, welche von der Norm universell befohlen wird. Der Sinn des Ethischen als universell auferlegte Grenze wurde in Bezug auf die moralische Norm gewonnen. Die Analyse des Intentionalseins und des Scheinproblems haben dennoch gezeigt, dass das, was zunächst verstanden wird, das Phänomen in seinem Sichzeigen als das, was es nicht ist, sein kann. Aus diesem Grund muss gefragt werden: Sollte sich eine phänomenologische Untersuchung des Ethischen mit den bis jetzt erlangten Ergebnissen zufrieden stellen und an diesem Punkt aufhören? Diese Frage kann sowohl negativ als auch positiv dogmatisch beantwortet werden. Doch um eine begründete (philosophische) Antwort geben zu können, muss der methodisch-phänomenologische Wert der moralischen Norm für die Untersuchung des Ethischen erforscht werden. Dafür ist es nötig, die Art des Aussageseins einer moralischen Norm zu erkennen und ihren methodischen Wert zu analysieren und zu problematisieren. Im Folgenden werden diese zwei Aufgaben ausgeführt.

§ 27 Die moralische Norm als Zeugnis Die Seinsart der moralischen Norm wurde als eine Aussage definiert. Nun muss grefragt werden: Welche Art des Aussageseins? Es gibt verschiedene Arten von Aussagen: Beschreibungsaussagen, Bestätigungsaussagen, Zeugnisse etc. Jede Aussageart weist einen bestimmten methodischen Wert für eine Untersuchung auf. Eine Symptombeschreibung hat einen methodischen Wert für die medizinische Diagnose: Die Beschreibung registriert die Symptome, die auf eine mögliche Ursache verweisen. In der vorliegenden phänomenologi265 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

2 · Der methodische Wert einer moralischen Norm

schen Untersuchung des Ethischen muss nach der Aussageart der moralischen Norm und nach ihrem methodischen Wert für diese Untersuchung gefragt werden. Die moralische Norm sagt etwas über etwas aus. Sie sagt, z. B. ›man soll nicht lügen‹. In dieser Aussage wird auf ein ›Nicht‹ bzw. auf eine Grenze verwiesen. Die Form dieses Verweises ist der prohibitive absolute Befehl, welcher das Nicht als universell darstellt. Dies führt dazu, dass man die Grenze vor dem Erlebnis des ethischen Ereignisses versteht. In diesem Verständnis ›fehlt‹ das Ethische, dennoch wird es verstanden. Daraus lässt sich die These ableiten: Die moralische Norm äußert etwas über etwas, das ›fehlt‹. Doch um dieses etwas äußern zu können, muss man dieses etwas ›irgendwann‹ erfahren haben. Man weiß nicht, ›wer‹ es erfahren hat oder ›wann‹ dies geschehen ist, trotzdem lernt man die moralischen Normen als Zeugnisse des Ethischen. Es bleibt zu beantworten, was genau ein Zeugnis ist und inwiefern moralische Normen das Aussagesein eines Zeugnisses aufweisen. Der erste Zugang zum Phänomen des Zeugnisses ist die alltägliche Bedeutung des Wortes. In der heutigen deutschen Sprache versteht man unter ›Zeugnis‹ im alltäglichen Sprachgebrauch ein Dokument, welches etwas bescheinigt oder abbildet. Das Zeugnis weist allerdings auch eine juristische Bedeutung auf, welche im heutigen alltäglichen Sprachgebrauch kaum noch präsent ist, da z. B. bei Gericht nicht (mehr) gesagt wird, dass ein Zeuge ein Zeugnis abgibt, sondern davon gesprochen wird, dass er/sie ›eine Aussage macht‹. Die somit scheinbar überholte Bedeutung des ›Zeugnis abgeben‹ ist jedoch der ursprüngliche Sinn des Wortes Zeugnis. Das deutsche Wort ›Zeugnis‹ wurzelt im Wort ›Zeug‹, was ursprünglich ›ziehen‹ bedeutete und sich später zu ›Mittel zum Ziehen‹ weiterentwickelte. Aus diesem letzten Sinn wurden Bedeutungen wie Mittel, Gerät, Stoff, Vorrat abgeleitet 776. Das deutsche Wort ›Zeuge‹, teilt die gleiche Wurzel wie Zeug und Zeugnis (mhd. [ge] ziuc), es gehört zu der Gruppe von Wörtern, die mit dem Verb ziehen verbunden sind. So ist ein Zeuge ursprünglich jene Person, die zum Gericht gezogen wird 777. Ein Zeugnis wird von einem Zeugen gemacht. Das Vgl. Duden, 2007, Herkunftswörterbuch, S. 946. »Zeuge: […] Es bedeutete ursprünglich ›das Ziehen‹, dann speziell ›das Ziehen vor Gericht‹, schließlich ›die vor Gericht gezogene Person‹.« (Duden, 2007, Herkunftswörterbuch, S. 946).

776 777

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§ 27 Die moralische Norm als Zeugnis

Verb zeugen bedeutet ›Zeugnis ablegen‹ und steht in Zusammenhang mit bezeugen, was beglaubigen, bestätigen heißt (durch die Wurzel mhd. ziugen, ahd. ge-ziugōn) und mit dem Verb überzeugen (mhd. überziugen) verwandt ist, dessen ursprünglicher Sinn ›vor Gericht durch Zeugen überführen‹ ist 778. In der alltäglichen Bedeutung des Wortes bleibt der ursprüngliche juristische Kontext erhalten. Das Wort Zeugnis, im Latein testimonium, testis, stammt aus dem griechischen μάρτυς (oder seine anderen Formen: μάρτυρος, μαῖτυς), welches eine wichtige Rolle im griechischen Recht gespielt hat: Es bedeutet entweder, vor Gericht auszusagen oder etwas mit der Anwesenheit bestätigen oder zertifizieren 779. Im griechischen Rechtskontext beinhaltet die Rolle des Zeugnisses drei Akte: Erfahren/Bestimmen, Erinnern, Aussagen 780. Eine Tatsache wird erfahren und später aus dem Gedächtnis vor Gericht gebracht. Die Erinnerung (μνήμη) hat die fundamentale Aufgabe, das Erfahrene bis zu seiner späteren Kommunikation ›zu bewahren‹. Warum sollte die Erinnerung das Erfahrene behalten? Das Erfahrene muss behalten werden, denn nach seiner Erfahrung ist es abwesend und bleibt nur im Gedächtnis der Person, die es erfahren hat, in einer bestimmten Weise ›vorhanden‹ 781. Ein Zeugnis zu geben bedeutet, Duden, 2007, Herkunftswörterbuch, S. 947. Seit dem XVIII Jhd. Bedeutete es, »jemanden mit Beweisen dazu bringen, etwas als wahr, richtig, notwendig anzuerkennen.« (Ebd.). 779 »Dès les origines le témoignage a joué dan le droit et la vie des Grecs un rôle considérable, soit que le témoin dépose en justice, soit qu’il valide et certifie un acte par sa présence« (Saglio, 1912, S. 146). 780 Vgl. Saglio, 1912, S. 146. 781 Husserl beschreibt den Akt des Erinnerns als einen Akt der Vergegenwärtigung. In der Erinnerung ist die Urimpression (die Urempfindung) zwar nicht mehr vorhanden, dennoch ist die Identifikation (bzw. die Beziehung) mit dem zuvor erfahrenen Gegenstand gegenwärtig im Bewusstsein. In diesem Sinne ist eine Erfüllung möglich, »indem wir sozusagen sprungweise uns in die Vergangenheit durch Wiedererinnerung zurückversetzen und nun intuitiv die Vergangenheit uns wieder vergegenwärtigen im Fortschritt bis auf das Jetzt.« (Hua X, Beilage III, S. 106). Sowohl in dem (originären) Akt (z. B.) des Wahrnehmens als auch in dem Akt des Erinnerns ist die Identifikation die gleiche. Ich nehme wahr und erinnere mich an z. B. die gleiche Tasse Die ›reale‹ Tasse ist zwar nicht mehr vor mir, aber ihr ›Phantasma‹ ist reell (immanent) im Bewusstsein: In der Erinnerung, so stellt Husserl fest, kommt der (wahrgenommene) Gegenstand (und seine Zeit) zur Gegebenheit (ebd., §§ 27; 42). Normalerweise wird die Identifikation (in der Erinnerung) aufbewahrt und man könnte (relativ) sicher sein, dass die Tasse so war wie man sie in Erinnerung hat. Dennoch kann man nicht 778

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2 · Der methodische Wert einer moralischen Norm

etwas von etwas sagen, das im Augenblick der Äußerung nur in der Erinnerung des Zeugen vorhanden ist. Vor Gericht ausgesagt, wird das Testimonium als etwas ›Wahres‹ angeboten, als eine Erinnerung, die (durch Erinnern) die Aufzeigung des Erfahrenen aufrechterhält. Die Aufzeigung selbst kann dem Gericht nicht vorgelegt werden, nur die erinnerte Bestimmung kann kommuniziert werden. Erfahren ist selbst Bestimmen, da das erfahrene Seiende aus einer bestimmten Erfahrung heraus erschlossen wird. Das, was in der Erinnerung getragen wurde und vor Gericht als ›wahr‹ angeboten wird, ist die Bestimmung von etwas Erfahrenem. Diese Bedeutung stimmt mit der aktuellen Bedeutung des Wortes ›Zeugnis‹ überein: Ein Zeugnis ist ein geschriebenes Dokument, das etwas bestätigt, das ein Dritter nicht selbst erfahren kann. Zum Beispiel erhalten Schüler/innen ein Zeugnis über ihre schulischen Leistungen, die ihre Eltern nicht selbst erfahren können und nur durch das Zeugnis zur Kenntnis nehmen können. Man könnte daraus schließen, dass unter Zeugnis eine Aussage verstanden wird, die etwas über etwas (das von dem Aussagenden erfahren wurde) aussagt und dieses etwas als wahr darstellt, unter der Bedingung, dass das, worüber geredet wird, für den Zuhörer nicht im Moment der Mitteilung erfahrbar ist. Die Wahrheit oder Falschheit der Aussage bezieht sich in diesem Fall nicht auf das Erfahrene, gerade weil es nicht möglich ist, es zu erfahren. Die vorliegende Arbeit bestimmt die moralische Norm als ein Zeugnis des Ethischen: Die Norm sagt etwas über das Ethische (gibt uns etwas über das Ethische zu verstehen), nämlich, dass das Ethische eine universell auferlegte Grenze ist. Das Ethische selbst kann allerdings nicht (im Bezug auf die moralische Norm) erfahren werden, da der projektive Charakter der Norm den Bezug zum ethischen Ereignis verhindert. Derjenige/Diejenige, der/die das Ethische in Bezug auf die Norm versteht, versteht die mitgeteilte Bestimmung des Ethigewiss sein, dass dies so ist, da die Erinnerung zu einer ›bloßen‹ Phantasie mutieren könnte, welche dem Erfahrenen (bzw. ›der Wirklichkeit‹) nicht entspricht (vgl. ebd., § 22). Es muss demgemäß erkannt werden, dass es Fälle gibt, in denen die Identifikation verstellt oder zerstört werden kann, wenn man z. B. etwas Traumatisches erlebt und sich danach nicht mehr daran erinnern kann oder wenn man aufgrund des Schocks eine falsche ›Erinnerung‹ (bzw. eine ›bloße‹ Phantasie) entwickelt. Darüber hinaus ist die Erinnerung, so wird seit der Forschung von Loftus und Palmer (1974) allgemein anerkannt, nicht zuverlässig (z. B. vor Gericht), da sie leicht beeinflusst und betrogen werden kann.

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§ 28 Der Verweisungscharakter des Zeugnisses und sein methodischer Wert

schen als ob sie das Ethische selbst wäre. Dies, weil sie als das Wahre dargestellt wird. An dieser Stelle muss dann gefragt werden: Kann diese Bestimmung und mit ihr der erreichte Sinn des Ethischen überprüft werden? Um diese Frage beantworten zu können, muss die vorliegende Arbeit den methodischen Wert eines Zeugnisses analysieren.

§ 28 Der Verweisungscharakter des Zeugnisses und sein methodischer Wert Um den methodischen Wert eines Zeugnisses zu analysieren, kann sich die vorliegende Arbeit auf Heideggers hermeneutische Phänomenologie beziehen. Es muss zunächst erkannt werden, dass Heidegger sich in begrenztem Umfang mit dem Phänomen des Zeugnisses beschäftigt, obwohl es ein wichtiges methodisches Element seiner Analyse ist. Die Gründe für die Begrenzung der Thematisierung dieses Seienden liegen, so Heidegger in der Vorlesung vom Sommersemester 1925 (im Rahmen einer Erläuterung der Seinsart der Welt, d. i. der Bedeutsamkeit), erstens darin, dass eine Analyse des Zeugnisses eine Analyse der Bedeutsamkeit voraussetze und zweitens darin, dass eine Analyse des Zeugnisses eine eigene Forschung erfordere, die nicht in den Rahmen seiner Arbeit passe 782. Dennoch bieten Heideggers Analysen wichtige Hinweise auf den methodischen Wert dieses Seienden an. In SZ benutzt Heidegger das Zeugnis auf methodische Weise, indem er es als Hinweis auf das vorontologische Verständnis der Sorge darstellt (siehe SZ, § 42). Er zitiert eine Fabel von Hyginus über die Cura als »die Bewährung der existenzialen Interpretation des Daseins als Sorge« 783. Versucht Heidegger dieses Zeugnis als ›Beweis‹ der Gewissheit seiner Analysen zu verwenden? Die Antwort ist negativ. Heidegger stellt kategorisch fest, dass die »Beweiskraft [dieses Zeugnisses] ›nur geschichtlich‹ ist« 784. Dies bedeutet weder, dass die Interpretation nicht ›ursprünglich‹ ist, noch, dass sie etwas ›berichtet‹, das in der Vergangenheit vorhanden war und jetzt nicht mehr vorhanden ist. Es bedeutet vielmehr, dass der methodische Wert des Zeugnisses 782 783 784

Vgl. GA 20, S. 275. Siehe auch SZ, S. 77. Vgl. SZ, S. 196. Ebd., S. 197.

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2 · Der methodische Wert einer moralischen Norm

in SZ darin besteht, eine historische Aussage zu sein, die ein (bestimmtes) Verständnis des Phänomens beinhaltet, welche mit den Bestimmungen, die aus der direkten Erfahrung des Phänomens heraus erhalten wurden, verglichen werden muss. Dies suggeriert, dass der methodische Wert des Zeugnisses nicht die Bestätigung und Überprüfung einer Bestimmung ist, sondern vielmehr ein Bezug, mit dem man die Bestimmungen vergleichen kann, die man aus der direkten Erfahrung des Phänomens erlangt hat. Das Zeugnis dient dann als Bezug für einen Vergleich, wenn man die Bestimmungen eines Phänomens schon aus der direkten Erfahrung dieses Phänomens erhalten hat. Ist dies der einzige methodische Wert des Zeugnisses? Eine Antwort auf diese zweite Frage kann sowohl in der Vorlesung vom Sommersemester 1925 (§ 23, c) als auch in SZ (§§ 15 u. 17) gefunden werden, wo Heidegger den Verweisungscharakter eines innerweltlichen Seienden thematisiert. Heideggers Analysen bieten die folgenden relevanten Ergebnisse für die vorliegende Problematik: 1. Das spezifische Um-zu des Zeichens ist das Zeigen und »ontische[s] Zeigen gründet in der Struktur der Verweisung« 785. 2. Verweisen ist die Seinsart aller zuhandenen Seienden und gründet in der Seinsart der Welt, d. i. in der Bedeutsamkeit 786. 3. Zum Dasein gehört eine Tendenz, Zeichen zu stiften, um »sich die jeweilige Umwelt für die Umsicht melden zu lassen.« 787. 4. Das Zuhandensein des Zeichens macht die Umsicht ausdrücklich zugänglich. 5. Die Zeichen sind auf zwei verschiedene Arten gestiftet worden: a. als bloßes Zum-Zeichen-nehmen und b. als Herstellen eines Zeichendinges 788. Erstere sind Seiende, die den Charakter des Zeigens aufweisen, obwohl sie nicht als Zeichending hergestellt, erschaffen, entworfen u. dgl. wur-

Vgl. GA 20, S. 280. In SZ wird gesagt: »Zeichen sind aber zunächst selbst Zeuge, deren spezifischer Zeugcharakter im Zeigen besteht.« (SZ, S. 77). Heidegger betont, dass jedes zuhandene Seiende die Seinsart der Verweisung hat; die zeigenden Seienden jedoch, insofern ihr Um-zu das Zeigen ist, haben einen besonderen Charakter, der sie von anderen unterschiedet und sie damit zu den adäquaten Phänomenen für die Untersuchung des Verweisungscharakter des Zuhandenen und des Phänomens der Bedeutsamkeit macht (vgl. ebd., S. 78–79). 786 GA 20, S. 279. »[A]lles Zeichensein, alles Sein von Quelle, Zeugnis und dergleichen [gründet] darin daß es so etwas wie eine Welt gibt –Welt, deren Begegnis- und Seinsart die Bedeutsamkeit ist, […].« (Ebd., S. 291). 787 SZ, S. 80. Siehe auch GA 20, S. 281. 788 Vgl. GA 20, S. 281–283. 785

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§ 28 Der Verweisungscharakter des Zeugnisses und sein methodischer Wert

den, z. B. der Südwind 789. Letztere sind Seiende, die hergestellt wurden, um etwas zu zeigen, z. B. Verkehrssignale, Sturmball usw. Der Unterschied zu den vorherigen besteht darin, dass sich der Zeigenscharakter dieser Seienden in ihrem Hergestelltwerden gründet. Heidegger analysiert das Phänomen des (historischen) Zeugnisses in diesem Zusammenhang ausdrücklich. Er vergleicht ein Zeugnis mit einem zum Zeichen genommenen Seienden, nämlich mit einem Steinbeil. Ein Steinbeil kann, so Heidegger, »eine Umwelt als gewesene anzeig[en]«. Solche Seiende nennt man ›Überreste‹ 790. Nun wurde weiter oben festgestellt, dass das Zeugnis ein Seiendes ist, welches auf eine Bestimmung verweist, die nicht mehr erfahren werden kann. Was ist der Unterschied zwischen einem Zeugnis und einem Überrest? Während das Zeugnis die Seinsart der Aussage hat, weist der Überrest die Seinsart eines (physischen) Dinges auf. In der alltäglichen Sprache könnte man zwar sagen, dass ein Steinbeil ein ›Zeugnis einer alten Kultur‹ ist, dennoch verstellt eine solche Aussage die Seinsart dieser Seienden. Das alltägliche Verständnis irrt aber nicht darin, den Zeigenscharakter in beide Phänomenen zu erkennen: Beide Phänomene verweisen auf etwas Gewesenes. Heidegger wählt die Pergamentrolle als Beispiel eines Zeugnisses für seine Analysen 791. Das Pergament ist, »wie das Beil, ein Überrest aus einer früheren Zeit, aus der Zeit, in der sie beschrieben wurde.« 792 Das Pergamentding kann als Überrest verstanden werden, doch gleichzeitig auch als Zeugnis, wenn durch es etwas (sprachlich) mitgeteilt wird. Die Verweisung eines Zeugnisses, so Heidegger, ist mitteilend 793. Das, was mitgeteilt wird, ist eine Rede, d. i. ein artikuliertes Verständnis. Aus diesem Grund teilt das Zeugnis ein gewesenes Insein mit. Das Zeugnis teilt die (ausgelegte) Bestimmung von etwas Erlebtem bzw. von einer Aufzeigung mit. In diesem Sinne kann gesagt werden, dass das Zeugnis nicht nur als Bezug eines Vergleichs

Es gibt Seiende, welche, obwohl sie als Zeichen genommen werden, hergestellt sind. Ein hergestelltes Seiendes, z. B. ein Steinbeil kann auf eine gewesene Welt hinweisen, obwohl es nicht zum Zeigen hergestellt wurde (vgl. SZ, S. 80; GA 20, S. 289). Dies, weil die innerweltlichen Seienden, aufgrund ihrer Weltzugehörigkeit, geschichtlich sind (vgl. SZ, S. 381). 790 GA 20, S. 289. 791 Vgl. ebd., S. 290–291. 792 Ebd., S. 290. 793 Ebd. 789

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2 · Der methodische Wert einer moralischen Norm

dient, sondern auch als Hinweis: Der methodische Charakter eines Zeugnisses ist die mitteilende Verweisung auf etwas Gewesenes. Das Zeugnis verweist auf eine Erfahrung. Der Sinn eines Zeugnisses gründet im Insein. Heidegger sagt: »Die Seinsmöglichkeit der Quelle gründet nicht primär darin, daß es Pergament gibt, und daß man schreiben kann, sondern darin, daß so etwas war wie das Mitgeteilte und Bezeugte.« 794 Das Entscheidende, um das Zeugnis als Quelle (für Wissen, für historische Forschung, für das Verständnis von etwas Gewesenem usw.) bezeichnen zu können, »ist das verstehende Seinsverhältnis zu dem bezeugten Gewesenen.« 795 Jede Auslegung des Zeugnisses, so Heidegger, hängt von der primären Erschließung (bzw. von dem Verständnis) des Bezeugenden ab. Das Zeugnis verweist dementsprechend auf die gewesene Erfahrung. Problematisch ist, dass die Verweisung verstellend sein kann, insofern das Zeugnis (als Aussage), wie in § 19 der vorliegenden Arbeit argumentiert wurde, nicht das Bezeugende mitteilt, sondern eine Bestimmung des Bezeugenden. Das Verständnis dieser mitgeteilten Bestimmung ist aus zwei Gründen zweideutig: Das Bezeugende wird einmal von dem Zeugen in einer Hinsicht bestimmt und dann ein zweites Mal von dem Zuhörer (oder Leser). Dies bedeutet, dass der Zugang zur ursprünglichen Erfahrung durch eine doppelte Bestimmung beschränkt wird. Obwohl das Zeugnis auf das Bezeugende verweist, tut es dies immer durch eine Einschränkung der Erfahrung. Hier eröffnet sich die Möglichkeiten der Verstellung und der Verdeckung. Dies wird noch problematischer, wenn man nicht unterscheiden kann, ob das Zeugnis ein Zeugnis von einem Bezeugenden oder von einem anderen Zeugnis ist: »Die niedergelegte Rede selbst kann nun wiederum Erzählung sein und Bericht aus Mitteilung über das, was erzählt wird, oder aber das Mitgeteilte kann aus ursprünglicher Zeugenschaft gegeben sein.« 796 Obwohl das Zeugnis aufgrund seines Verweisend-Seins methodisch als Verweisung einer gewesenen Erfahrung benutzt werden kann, ist diese Nutzung problematisch, da es beim Zeugnis sowohl die Möglichkeit einer direkten Verweisung auf das erfahrene Phänomen als auch die Möglichkeit einer indirekten Verweisung gibt, die 794 795 796

Ebd. Ebd. Ebd.

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§ 29 Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses

auf ein anderes Zeugnis (welches wiederum diese zwei Möglichkeiten aufweist) verweist. Im Folgenden soll deshalb problematisiert werden: Wie kann man gewiss sein, dass das Zeugnis auf das Phänomen selbst verweist? Oder anders gesagt: Was ist der Wahrheitscharakter des Zeugnisses?

§ 29 Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses Die vorliegende Arbeit zielt darauf ab, sich des erreichten Sinns des Ethischen, welcher in der Erfahrung einer moralischen Norm gewonnen wird, zu versichern. Das Zeugnis wird untersucht, da die vorliegende Arbeit die moralische Norm als ein Zeugnis des Ethischen definiert hat. Die Frage, die die vorliegenden Analysen leitet, ist methodischer Natur: Der Sinn des Ethischen wurde durch die Erfahrung eines Zeugnisses gewonnen. Kann die phänomenologische Untersuchung des Ethischen auf diesen Gewinn vertrauen? Der methodische Charakter des Zeugnisses wurde als eine mitteilende Verweisung bestimmt. Das Zeugnis verweist auf ein gewesenes Insein bzw. auf eine gewesene Erfahrung, die von dem Zuhörer im Moment der Mitteilung nicht erfahren werden kann. Nun ist diese Verweisung problematisch, insofern das Zeugnis die Möglichkeit des Scheins birgt. Aus diesem Grund muss nach dem Wahrheitscharakter des Zeugnisses gefragt werden. Um den Wahrheitscharakter des Zeugnisses erklären zu können, ist allerdings eine kurze Darstellung des betreffenden theoretischen Rahmens dieser Problematik notwendig. Im Folgenden werden die phänomenologischen Bedeutungen der Wahrheit einer Aussage, der Evidenz, der Erfüllung und der Überprüfung dargestellt. α.

Wahrheit einer Aussage, Evidenz, Erfüllung und Überprüfung

Die heideggerschen Analysen haben gezeigt, dass eine Aussage eine sprachliche Äußerung einer Auslegung von einem oder mehreren Seienden ist. Laut Heidegger soll die Aussage nicht als eine ›Vorstellung‹ des Dinges oder des Sachverhaltes interpretiert werden. Eine solche Interpretation setzt ein Verständnis des Daseins als ein ›erkennendes Subjekt‹ und der Welt als eine Mannigfaltigkeit von ›Dingen an sich‹ voraus, die nur in einem begrenzten Aspekt erkannt werden 273 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

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können. In dieser Interpretation kann das, was sich zeigt d. i. die Erscheinung, erfahren werden, aber nicht als das, was es ist, sondern nur insofern es ›Phänomen‹ wird, d. i. eine Vorstellung 797. In § 44 SZ argumentiert Heidegger gegen diesen Ansatz. Er argumentiert, dass das Aussagen nicht ein Vorstellen, sondern »ein Sein zum seienden Ding selbst« ist 798. Das Aussagen, so Heidegger, zeige und entdecke das Seiende in seiner Selbigkeit. Doch wenn das so ist, wie kann diese These mit der vorher erwähnten These: das apophantische Als kann niemals dem existenzial-hermeneutischen Als gleichkommen 799 übereinstimmen? Es wurde bereits erwähnt, dass die Aussage, als konkrete Äußerung des Verständnisses, ein innerweltliches Seiendes ist, welches unabhängig von und anders als das ausgelegte Seiende ist. Die Aussage trägt den Sinn des Seienden, nicht als Vorstellung, sondern als Verweisung. Der Sinn der Aussage kann sich ändern, doch sie verweist immer ›irgendwie‹ auf das ausgelegte Seiende (sogar im Modus des Scheins, d. i. privatio). In dieser Verweisung liegt das Wahrsein der Aussage: Wenn die Aussage zum Aufgezeigten passt, so wird sie als eine wahre Aussage bezeichnet; wenn nicht, wird sie als eine falsche Aussage betrachtet. Die Aussage ist jedoch bestimmend. Sie bestimmt das Seiende in einer Hinsicht: Das, was in der Aussage wahr oder falsch ist, ist nicht das aufgezeigte Seiende, sondern die Bestimmung. Daraus kann man schließen, dass die Aussage die bestimmende Erfahrung der Aufzeigung mitträgt. Eine Aussage kann wahr, wenn der Sinn des Aufgezeigten entdeckt wird, oder falsch sein, wenn der Sinn des Aufgezeigten verdeckt wird. Sowohl Wahrheit als auch Unwahrheit gründen auf der Aufzeigung (Dynamik zwischen der Entdecktheit der Welt und der Entdeckendsein des Daseins 800). Das aufgezeigte Seiende kann allerdings, wie die Analysen des Verfallens gezeigt haben, in der Art und Weise der Verborgenheit erschlossen werden. Das Dasein bzw. seine Erschlossenheit ist das, was ›verfälscht‹. In der Analyse des Wahrseins des Daseins wurde

Heidegger kritisiert die Intentionalität Brentanos in diesem Aspekt. Er argumentiert, dass sie einen Bezug auf eine Vorstellung und nicht auf die Sachen selbst voraussetzt (vgl. GA 26, S. 168). 798 SZ, S. 218. 799 Siehe § 19, β der vorliegenden Arbeit. 800 Vgl. SZ, S. 220 ff. Siehe § 16 der vorliegenden Arbeit. 797

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§ 29 Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses

erwähnt, dass das Dasein in der Unwahrheit aufgrund seiner Faktizität und seiner Verfallenheit ist. Hier wird diese These deutlicher. Die Aussage äußert eine Auslegung, die ihren Bezug in der öffentlichen Ausgelegtheit aufweist. Nun ist die Aussage immer Aussage von etwas und in einer Hinsicht. Die Aussage teilt eine Bestimmung mit. Folglich ist die Aussage anders als und unabhängig vom ausgelegten Seienden, obwohl in ihr die Selbigkeit des Seienden (als Verweisung) beinhaltet ist 801. Die Aussage teilt eine Bestimmung des Seienden mit und dies bedeutet, dass sie das Seiende nicht in seiner möglichen Mannigfaltigkeit mitteilt. Auf diese Mannigfaltigkeit des Möglichen wird allerdings verwiesen. Wenn man sagt ›Paul ist ein guter Freund‹, teilt man eine bestimmte Möglichkeit Pauls mit, aber nicht sein Möglichsein. In dieser Aussage wird allerdings ›irgendwie‹ auf das Möglichsein dieses Seienden verwiesen (nur ein Seiendes, dessen Sein das Möglichsein ist, kann verschiedene Möglichkeiten haben, wie z. B. ›ein/e gute/r bzw. schlechte/r Freund/in‹ zu sein). In der Verweisung der Aussage liegt das Wahrsein dieser Letzteren. Dies bedeutet, dass in der Erfahrung des Verwiesenen die Möglichkeit der Überprüfung der Wahrheit der Aussage (d. i. der Übereinstimmung zwischen Bestimmung und Aufzeigung) liegt. Heidegger schreibt: Diese bewährt sich darin, daß sich das Ausgesagte, das ist das Seiende selbst, als dasselbe zeigt. Bewährung bedeutet: sich zeigen des Seienden in Selbigkeit. Die Bewährung vollzieht sich auf dem Grunde eines Sichzeigens des Seienden. Das ist nur so möglich, daß das aussagende und sich bewährende Erkennen seinem ontologischen Sinne nach ein entdeckendes Sein zum realen Seienden selbst ist. (SZ, S. 218)

Diese These ist sehr wichtig für die Phänomenologie. Man findet sie auch mutatis mutandis in der Phänomenologie Husserls. Eine kurze Darstellung der Begriffe Erfüllung, Wahrheit einer Aussage (bzw. Adäquation oder Übereinstimmung), Überprüfung (oder Bestäti-

Heidegger ist sich der phänomenologischen Erkenntnis bewusst, dass es zum Sein der Wahrnehmung gehört, die Totalität des Seienden nicht wahrnehmen zu können, da »das wahrgenommene Seiende sich je immer nur in einer bestimmten Abschattung [zeigt].« (GA 20, S. 65). Dies kann auch über sinnkonstituierende Akte gesagt werden. Heidegger erklärt, dass die Erfüllung ›endgültig und durchgängig‹ ist, »wenn auf der Seite des Vermeinens alle Partialintentionen erfüllt und auf der Seite des Erfüllung gebenden Anschauens dieses die ganze Sache in ihrer Totalität präsentiert.« (Ebd., S. 66).

801

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2 · Der methodische Wert einer moralischen Norm

gung) und Evidenz in der husserlschen Phänomenologie kann dementsprechend behilflich sein, um unsere Thematik zu erläutern. Laut Husserl ist das Erlebnis selbst immer ein Erfüllungsprozess, d. h. eine Synthesis von der Intention und der Anschauung: Die Intentionen (Bedeuten, Meinen, Begriffen etc.) werden von anschaulichen Erlebnissen erfüllt 802. Die Erfüllung ist ein Bewusstseinsakt, welcher nicht mittelbar, sondern unmittelbar vollzogen wird. Erfüllung ist ein Akt der Intuition, welcher den Gegenstand »direkt vor uns hin« stellt 803. Die Wahrnehmung und jedes Erlebnis haben dann die Form einer Erfüllung: Von einer Sache wird ein Aspekt wahrgenommen bzw. erlebt (d. i. präsentiert) und dieser Akt wird von einer Appräsentation (der nicht gegenwärtig erfahrenen Aspekte) begleitet, welche sich mit einer weiteren Wahrnehmung erfüllt. Erkenntnisakte, so Husserl, vollziehen sich auch als erfüllende Akte. Ein Akt des Bedeutens (und sogleich andere Intentionen) findet seine Erfüllung nur in der Anschauung dieses Dinges. Husserl sagt: »Der Akt des puren Bedeutens findet in der Weise einer abzielenden Intention seine Erfüllung in dem veranschaulichenden Akte.« 804 In der Anschauung bzw. der direkten Erfahrung eines Phänomens erleben wir die Bestimmung als begründet und nicht mehr als bloß

Vgl. Hua XIX/2, S. 572. Vgl. ebd., S. 597. 804 Hua XIX/2, S. 566. Husserl legt fest, dass die signifikativen Akte die schwächste Erscheinungsweise konstituieren. Dies, weil solche Akte den Gegenstand zwar meinen können, jedoch ohne eine Anschauung desselben anzubieten. Den Akten, die sich auf das Gemeinte (Repräsentation, Bild, Wort etc.) richten, fehlt der direkte Bezug zum (gegenwärtigen) Gegenstand. Nur eine direkte Erfahrung (und das ist für Husserl die Wahrnehmung) kann den Gegenstand selbst »in eigener Person« präsentieren (vgl. ebd., S. 646 f.; siehe auch Hua III/1, S. 90 f.; Über Leermeinen siehe auch GA 20, S. 52 ff.). Die Bedeutungsintentionen solcher Akte erschaffen allerdings eine Bedeutungserfüllung (vgl. Hua XIX/1, S. 56). Es wäre dann ein Fehler zu denken, dass diese Akte keine Evidenz aufweisen; jedoch ist es richtig zu sagen, dass diese Evidenz keine Gültigkeit außerhalb der Sphäre des Bedeutens, d. i. des Diskurses überprüft. Die Vorstellung eines Gottes beweist z. B. nicht die Existenz eines äußerlichen (realen) Gottes, sondern nur des vorgestellten Gottes als ›Vorstellung‹. Husserl sagt: »der intentionale Gegenstand [existiert], so existiert nicht bloß die Intention, das Meinen, sondern auch das Gemeinte« (ebd., S. 439), aber genau als Gemeintes. In dem Fall eines Diskurses existiert der intentionale Gegenstand, das Geredete, im intentionalen Akt (im Reden), aber damit ist nicht geprüft, dass diese Meinung etwas Reales meint. Man kann kein transzendentales Wissen darüber bilden und es bleibt ungültig bis man (real) erfährt, was im ersten Fall gemeint wurde. Siehe auch Hua II, S. 70; I, S. 95. 802 803

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§ 29 Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses

Gedachtes. In der Anschauung (und in dem Verhältnis zur Bestimmung) liegt, so Husserl, die Möglichkeit des Erkennens 805. Bedeuten (als Denken an etwas) ist nicht Erkennen: Die Qualität des Gedachten entscheidet nicht über seine Gültigkeit: »In dem rein symbolischen Wortverständnis wird ein Bedeuten vollzogen (das Wort bedeutet uns etwas), aber es wird nichts erkannt.« 806 Nur eine Anschauung kann Evidenz über das Gedachte geben. Husserl nennt dieses Erfüllungsbewusstseins ›phänomenologische Einheit‹ 807, insofern das Gemeinte (das Bedeutende) zusammen mit seiner Evidenz aufgefasst wird. So werden sowohl die ›Identität‹ und das ›Identitätsbewusstsein‹ als auch die Adäquation (Übereinstimmung), d. i. die Erfüllungseinheit ermöglicht 808. Dies soll nun näher beleuchtet werden. Die Erfüllung ermöglicht die Erkenntnis, weil sie die Wahrheit als adaequatio, d. i. die Überprüfung einer Korrelation zwischen einer Bestimmung und einem Sachverhalt erlaubt. Husserl entwickelt diese These in seiner VI logischen Untersuchung 809. Hier zeigt Husserl, dass es zwei Varianten der Erfüllung gibt: Während in Akten wie dem Imaginieren eine ›Repräsentation‹ (ein Bild) des Gegenstands die Erfüllung dieser Akten ermöglicht, gibt sich im Wahrnehmen (und direkt erfahrenden Akten) der Gegenstand selbst in seinem absoluten Sinne 810. In beiden intentionalen Akten vollzieht sich eine Erfüllung, und sobald diese vollständig ist, redet die Phänomenologie von Adäquation: Repräsentierender und repräsentierter Inhalt sind hier [in der vollständigen Erfüllung] identisch eines. Und wo sich eine Vorstellungsintention durch diese ideal vollkommene Wahrnehmung letzte Erfüllung verschafft hat, da hat sich die echte adaequatio rei et intellectus hergestellt: das Gegenständliche ist genau als das, als welches es intendiert ist, wirklich ›gegenwärtig‹ oder ›gegeben‹ ; […]. (Hua XIX/2, S. 647)

Die Adäquation wird phänomenologisch als die Korrelation zwischen dem, was intendiert wurde, und dem, was erlebt bzw. erfahren wurde, definiert: 805 806 807 808 809 810

Vgl. Hua XIX/2, S. 566 f. Ebd., S. 566. Vgl. Ebd., S. 567. Vgl. Ebd., S. 568. Hua XIX/2, II Teil, erster Abschnitt, Kap. 5. Vgl. ebd., S. 646–647.

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der intellectus ist hier die gedankliche Intention, die der Bedeutung. Und die adaequatio ist realisiert, wenn die bedeutete Gegenständlichkeit in der Anschauung im strengen Sinne gegeben und genau als das gegeben ist, als was sie gedacht und genannt ist. (Hua XIX/2, S. 648)

Der Unterschied zwischen einem imaginativen Akt und einem Akt des Wahrnehmens ist allerdings, dass dieser Letzte aufgrund einer ›reinen Wahrnehmung‹, d. i. einer ›objektiven vollständigen Wahrnehmung‹ erfüllt werden muss 811, wenn er adäquat sein will. Nur die direkte Erfahrung (Anschauung) des Gegenstandes kann eine Korrespondenz zwischen der Bestimmung und dem Gegenstand überprüfen. Imagination, wie auch Aussagen ohne Korrespondenz (d. i. »auf Grund der bloßen Begriffe« 812) üben, so Husserl, nicht eine eigentliche Erfüllung aus, d. i. sie stellen nicht eine ›korrespondierende‹ Anschauung dar 813. Mit diesem theoretischen Hintergrund kann auf die Analyse des Zeugnisses zurückgekommen werden. Die letzte These suggeriert, dass in einem Zeugnis, in welchem aufgrund seines Seins keine direkte Erfahrung des Aufgezeigten möglich ist, die Erfüllung verhindert wird. Das Zeugnis als Aussage teilt eine Bestimmung mit, die nicht mit dem Bestimmten kontrastiert werden kann. Es wurde erwähnt, dass jede Aussage bestimmend ist. Charakterisieren sich alle Aussagen durch das Fehlen der Anschauung? Die Antwort ist negativ. Bestimmen, erklärt Husserl, ist ein setzender Akt 814: Die Bestimmung (das Intendierte) kann entweder mit dem angeschauten Gegenstand identifiziert werden (Identifizierung) oder beide können nicht übereinstimmen (Unterscheidung) 815. Obwohl es eine Unterscheidung gibt, ermöglicht diese eine Korrektion der Bestimmung in direktem Bezug auf den anschaulichen Gegenstand,

Husserl erklärt: »Wir merken hier folgendes an. Da die lezte Erfüllung [die des Wahrnehmungaktes] schlechterdings nichts von unerfüllten Intentionen einschließen darf, muß sie auf Grund einer reinen Wahrnehmung erfolgen; eine objektiv vollständige Wahrnehmung, die sich aber in der Weise einer kontinuierlichen Synthesis unreiner Wahrnehmungen vollzieht, kann ihr nicht genügen.« (Hua XIX/2, S. 649). 812 Vgl. Hua XIX/2, S. 649. 813 Vgl. Ebd. Siehe auch: »[W]ir [können] des Wirklichseins nur sicher sein durch die rechte oder wahre Wirklichkeit selbstgebende Synthesis der evidenten Bewährung.« (Hua I, S. 95). 814 Vgl. Hua XIX/2, S. 650. 815 Vgl. ebd., S. 575. 811

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weil sie auf den anschaulichen Gegenstand hinweist 816. Problematisch wird es, wenn der anschauliche Gegenstand ›fehlt‹ und weder eine Identifizierung noch eine Unterscheidung möglich ist, wie z. B. im Fall des Zeugnisses. In solchen Fällen ist die Möglichkeit der Bestätigung bzw. Überprüfung nicht vorhanden. Husserl schreibt: Die Bestätigung (Überprüfung) »bezieht sich ausschließlich auf setzende Akte im Verhältnis zu ihrer setzenden Erfüllung und letztlich zu ihrer Erfüllung durch Wahrnehmungen« 817. Diese Bestätigung vollzieht sich in der Form eines Kontrasts, welcher die Wahrnehmung bzw. die direkte Erfahrung des Sachverhaltes mit der vorgeschlagenen Bestimmung vergleicht. Eine Bestätigung muss dann 1. eine Bestimmung, 2. einen Sachverhalt, welcher ›in einer Weise‹ bestimmt wird, und 3. eine Erfahrung dieses Sachverhaltes, welche die Bestimmung akkreditieren oder ablehnen kann, überprüfen. Wenn letzteres vorhanden ist, redet die Phänomenologie von Evidenz 818. [W]ir [sprechen] von Evidenz, wo immer eine setzende Intention (zumal eine Behauptung) ihre Bestätigung durch eine korrespondierende und vollangepaßte Wahrnehmung, sei es auch eine passende Synthesis zusammenhängender Einzelwahrnehmungen, findet. (Hua XIX/2, S. 651)

Die höhere Stufe der Evidenz, nämlich die Evidenz im ›erkenntniskritisch prägnanten Sinne‹ vollzieht sich, wenn die Erfüllungssynthesis der Intention »die absolute Inhaltsfülle, die des Gegenstandes selbst, gibt.« 819 In einer solchen Evidenz ist »[d]er Gegenstand nicht bloß gemeint, sondern, so wie er gemeint ist und in eins gesetzt mit dem Meinen, im strengsten Sinn gegeben […].« 820 In der Evidenz kommen beide, Akt (Meinen) und Gegenstand (Gemeintes), zusammen und stimmen miteinander überein. Dies ist nach Husserl der Sinn der Wahrheit (einer Aussage) 821.

Vgl. ebd., S. 576–578. »Bei jedem Wiederstreit liegt also in gewisser Weise auch partielle Übereinstimmung und partieller Widerstreit vor.« (ebd., S. 577). 817 Ebd., S. 650. 818 Dazu siehe: Ströker, 1978. 819 Hua XIX/2, S. 651. 820 Ebd. 821 Zu Husserls Begriff der Wahrheit (und der Evidenz) siehe Palette, in Gander (Hrsg.), 2010, S. 304–305; Mlinar, in Gander (Hrsg.), 2010, S. 104–106). 816

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Die Evidenz ist dementsprechend das Erlebnis der vollständigen Übereinstimmung zwischen Gemeintem und Gegebenem, d. i. der Wahrheit der Aussage (Adäquation) 822. Dieser phänomenologische Ansatz 823 wirft das Problem des methodischen Wertes des Zeugnisses auf. Er zeigt, dass der Kern der Problematik darin liegt, dass von einem Zeugnis keine Erkenntnis gewonnen werden kann, da in einem Zeugnis das Bestimmte nicht mehr für die (Evidenz-)Erfahrung da ist und dementsprechend die Wahrheit der Aussage nicht überprüft werden kann. Ein Zeugnis wird dann als eine Äußerung definiert, zu dessen Wesen die Abwesenheit des Besagten im Moment der Überprüfung des Gesagten gehört. In Folgenden wird diese These weiter begründet. β.

Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses und die korrelative Seinsart des Daseins gegenüber diesem Seienden

Wenn zum Wesen der Zeugnisaussage eine Abwesenheit des Besagten im Moment der Überprüfung gehört, muss gefragt werden, welcher konkrete Wahrheitscharakter (und damit welcher methodische Wert für eine phänomenologische Untersuchung) das Zeugnis aufweist. Es wird nicht nach der ontischen Wahrheit oder Falschheit eines bestimmten Zeugnisses gefragt, sondern nach der Bedingung der Wahrheitsmöglichkeit in diesem Seienden überhaupt. Die ursprüngliche Wahrheit, so wurde es in § 16 der vorliegenden Arbeit dargestellt, ist das Verhältnis zwischen der Entdecktheit der Welt und dem Entdeckendsein des Daseins. Aus diesem Grund muss nicht nur Vgl. Hua XIX/2, S. 652. In seiner Vorlesung vom Sommersemester 1925 erkennt Heidegger die Evidenz als eine der Hauptnotionen der Phänomenologie, welche auch das ontologische Problem zu stellen hilft. Er schreibt über die Evidenz: »Evidenz ist ein bestimmter intentionaler Akt und zwar der Identifizierung des Vermeinten und Angeschauten; […].« (GA 20, S. 67). In der Identifizierung, sagt er, wird die Selbigkeit (des Gemeinten) erfahren (ebd., S. 66). Erfüllung besagt, so Heidegger: »Gegenwärtighaben des Seienden in seinem anschaulichen Gehalt, so zwar, daß sich an ihm das zuvor nur leer Vermeinte als in den Sachen gegründet ausweist.« (Ebd.). Ausweisen (Bestätigen/Überprüfen) bedeutet laut Heidegger dementsprechend zu zeigen, dass es Evidenz gibt und die Erfüllung geschehen ist, anders gesagt, die Identifizierung zwischen dem Vermeinten und dem Ausgeschauten aufzuweisen.

822 823

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§ 29 Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses

nach dem Wahrheitscharakter des Zeugnisses gefragt werden, sondern auch nach der korrelativen Seinsart des Daseins gegenüber diesem Seienden. Im Folgenden werden diese zwei Fragen näher beleuchtet. Ein Zeuge äußert sich, wie bereits erwähnt wurde, ›vor Gericht‹ bzw. er/sie teilt jemandem etwas mit. Er/Sie sagt etwas über etwas, das für den Zuhörer im Moment der Mitteilung nicht mehr vorhanden (›da‹) ist. Was vor Gericht gebracht wird, ist nichts anderes, als das, was nicht mehr anwesend ist. Wenn es für die Erfahrung des Zuhörers ›anwesend‹ wäre, wäre die Aussage dieses Etwas kein Zeugnis, sondern eine mitgeteilte Betrachtung oder Beschreibung. In einer Betrachtungsaussage beziehen sich, im Gegensatz zum Zeugnis, die Bestimmungen direkt auf die Anwesenheit des Phänomens und sind überprüfbar. Im Fall des Zeugnisses ist die Möglichkeit des Bezugs zum Phänomen für die Überprüfung verhindert. Die Abwesenheit des Phänomens lässt die Möglichkeiten der Wahrheit und Falschheit in der Aussage (d. h. adaequatio) unbestimmt. In solchen Fällen, in denen das Besagte abwesend ist, bezieht sich die Evaluation der (ontischen) Wahrheit oder Falschheit des Zeugnisses nicht auf die direkte Erfahrung des Besagten, sondern 1. entweder auf den/die Zeuge/in und auf das Zeugnis selbst: man evaluiert, wer die Aussage gemacht hat (Autorität und Zuverlässigkeit), warum und wie die Aussage gemacht wurde (Kontext), was in ihr ausgesagt wird (glaubwürdiger Gehalt) und an wen die Aussage gerichtet ist (Überzeugung des Zuhörers); 2. auf andere Aussagen (Text- und Sprachbeweise); 3. oder auf andere innerweltliche Seienden, die nicht die Seinsart der Aussage aufweisen (materielle Beweise). Problematisch ist aber, dass die Wahrheit einer Aussage in der Verweisung auf das Besagte liegt und die Möglichkeit der Überprüfung dieser Wahrheit in der Erfahrung der Evidenz liegt: Durch das Zeugnis hat man dennoch eine Verweisung auf andere Seiende, die nicht das Besagte selbst sind. Die Möglichkeit auf eine Verweisung auf das Besagte besteht allerdings auch. Trotzdem ist eine Überprüfung nicht möglich. Eine Aussage, die nicht überprüfbar ist, kann (im strengen Sinne) weder wahr noch falsch sein. Der Wahrheitscharakter einer solchen Aussage ist die Unüberprüfbarkeit. Dies ist der Wahrheitscharakter des Zeugnisses, da zu ihm die Abwesenheit des Besagten im Moment der Überprüfung des Gesagten gehört. Eine solche Aussage kann allerdings als wahr dargestellt werden, wie im Fall des Zeugnisses. Wenn dies so ist, und die Aussage kollek281 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

2 · Der methodische Wert einer moralischen Norm

tiv für wahr gehalten wird, bekommt die unüberprüfbare Aussage den Wahrheitscharakter der konventionellen Gültigkeit. Heidegger thematisiert diesen Wahrheitscharakter kurz in der Vorlesung vom Wintersemester 1923/1924 824. Heidegger sagt, dass der Wahrheitscharakter der konventionellen Gültigkeit in der öffentlichen Zustimmung gründet. Die konventionelle Gültigkeit ist, so Heidegger, die öffentliche Seinsart der Wahrheit. Er schreibt: Gültigkeit ist ein Charakter des ausgesprochenen Satzes, der fertigen Erkenntnis, sofern sie öffentlich orientiert ist. Gültigkeit ist die Art und Weise, wie die Wahrheit öffentlich da ist. Dieser eigentümliche Aspekt, in dem die Wahrheit öffentlich besteht, ist so geartet, daß er schon die Wahrheit aus der Hand gegeben hat. (GA 17, S. 98. Eigene Betonung)

Diese These besagt, dass in der konventionellen Gültigkeit die direkte Erfahrung des entdeckten Seienden durch die Zustimmung der Öffentlichkeit ersetzt wird und es somit nicht mehr notwendig ist, die in der Aussage mitgeteilte Bestimmung als ›wahr‹ oder ›falsch‹ zu ›bestätigen‹. Aussagen, welche die Seinsart des Zeugnisses aufweisen, wie die moralischen Normen, können zwar nicht überprüft werden, dennoch aufgrund der öffentlichen Zustimmung für wahr gehalten werden. Man hält die moralischen Normen für wahr, obwohl man ihren Wahrheitsgehalt nicht überprüfen kann. Die Wahrheit der Aussage ›man soll nicht lügen, weil lügen nicht richtig ist‹ kann nur im Kontrast mit der bestimmten Situation (in der man lügt) überprüft werden, dennoch hält man diesen Befehl (aufgrund seines universellen Charakters) für legitim und wahr, bevor die Situation entsteht. Die konventionelle Gültigkeit, als ein Modus des Wahrseins eines Seienden, impliziert eine korrelative Seinsart des Daseins bzw. ein bestimmtes In-der-(Un-)Wahrheit-sein. Wie existiert das Dasein Es muss betont werden, dass die Gültigkeit einer Aussage sowohl in ihrer reinen logischen Form als auch in der Konvention liegen kann. Heidegger redet nur über Gültigkeit in allgemeinem Sinne. Doch an dieser Stelle ist es nötig, die (in der vorliegenden Arbeit genannte) konventionelle Gültigkeit von der logischen Gültigkeit bzw. Richtigkeit zu unterscheiden. Letztere besagt die folgerichtige Deduktion aus gegebenen Prämissen. Gültigkeit ist nicht mit dem Wahrheitsgehalt der Begriffe verbunden. Sie meint einfach die formale Übereinstimmung zwischen der Konklusion und den Prämissen. Im Unterschied zum Begriff der Wahrheit, ist die Richtigkeit »meist mehr auf die formale Übereinstimmung mit den Gesetzen der Logik als auf die materiale, inhaltliche Übereinstimmung des Urteils mit dem Sachverhalt oder Gegenstand bezogen.« (Kichner et al., 2013, S. 572).

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§ 29 Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses

in der (Un-)Wahrheit gegenüber Seienden, die konventionell gültig sind? Die Darstellung der unüberprüfbaren Aussage als etwas Wahres öffnet die Seinsmöglichkeit des Daseins, diese Aussagen für wahr zu halten, obwohl sie weder wahr noch falsch sein können. In den Analysen der Bewegtheit des Verfallens und des Moralitätsbereichs (§ 25, α u. β der vorliegenden Arbeit) wurde suggeriert, dass die Öffentlichkeit dem Dasein eine Sicherheit (die Welt und sich selbst zu verstehen) bietet, insofern das Dasein sich in die öffentliche Ausgelegtheit flüchtet. Eine solche Sicherheit, wurde argumentiert, ist keine Gewissheit. In § 52 SZ bezeichnet Heidegger das Für-wahr-Halten, welches in der öffentlichen Zustimmung gründet, als ›unangemessene Gewissheit‹ und erklärt, dass diese ›Art von Gewissheit‹ das Gesagte als das Besagte auslegt und deswegen den Charakter der Verdecktheit aufweist. Sie, so Heidegger, »hält das, dessen sie gewiß ist, in der Verdecktheit.« 825 In diesem Sinne ist das Für-wahr-Halten von etwas, dessen Wahrheitscharakter die Unüberprüfbarkeit ist, eine Art und Weise der Verdeckung: In einem solchen In-der-(Un-)Wahrheitsein verdeckt das Dasein sowohl den Wahrheitscharakter der unüberprüfbaren Aussage, als auch die Notwendigkeit des Bezugs auf das Besagte, um es zu verstehen. Darüber hinaus verdeckt das Dasein seinen eigenen Modus des In-der-Wahrheit-seins. Das Dasein kann nicht gewiss sein, ob eine unüberprüfbare Aussage wahr oder falsch ist, es kann höchstens glauben oder überzeugt sein, dass die Aussage wahr oder falsch ist. Glauben und Überzeugung sind die möglichen Seinsmodi des In-der-(Un-)Wahrheit-seins gegenüber einer unüberprüfbaren Aussage wie dem Zeugnis. Um den Glauben und die Überzeugung zu erklären, muss man diese Möglichkeiten im Gegensatz zur Gewissheit verstehen. Eine Erklärung der Gewissheit als Modus des In-der-Wahrheit-seins ist dementsprechend notwendig. Heidegger erwähnt in SZ das Phänomen der Gewissheit sowohl in Bezug auf das Phänomen des Todes (vgl. § 52) als auch auf die existenzielle Möglichkeit der Entschlossenheit (vgl. § 62) 826. An der wichtigsten Stelle, in der Heidegger über die Gewissheit redet, heißt es: SZ, S. 257. Die Gewissheit wird auch an anderen Stellen in Heideggers Texten diskutiert, beispielsweise im Wintersemester von 1923–1924. Diese Vorlesung beschäftigt sich mit der Gewissheit, aber Gewissheit wird in dieser Vorlesung anders als in SZ verstanden, nämlich als Anpassung zur Methode. Hier kritisiert Heidegger die kartesische Tradition (in der Husserl eingeschlossen ist). Er argumentiert, dass in dieser Tradition die

825 826

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2 · Der methodische Wert einer moralischen Norm

Eines Seienden gewiß-sein besagt: es als wahres für wahr halten. Wahrheit aber bedeutet Entdecktheit des Seienden. Alle Entdecktheit aber gründet ontologisch in der ursprünglichsten Wahrheit, der Erschlossenheit des Daseins. Dasein ist als erschlossen-erschließendes und entdeckendes Seiendes wesenhaft ›in der Wahrheit‹. Gewißheit aber gründet in der Wahrheit oder gehört ihr gleichursprünglich zu. Der Ausdruck ›Gewißheit‹ hat wie der Terminus ›Wahrheit‹ eine doppelte Bedeutung. Ursprünglich besagt Wahrheit soviel wie Erschließendsein als Verhaltung des Daseins. Die hieraus abgeleitete Bedeutung meint die Entdecktheit des Seienden. Entsprechend bedeutet Gewißheit ursprünglich soviel wie Gewißsein als Seinsart des Daseins. In einer abgeleiteten Bedeutung wird jedoch auch das Seiende, dessen das Dasein gewiß sein kann, ein ›gewisses‹ genannt. (SZ, S. 256. Eigene Betonung)

Hieraus lassen sich drei Hauptthesen ableiten: (1) Die Gewissheit gründet in der ursprünglichen Wahrheit und aus diesem Grund (2) hat sie eine doppelte Bedeutung: a. einen ursprünglichen Sinn als eine Seinsart des Daseins: Gewiss-sein; b. eine fundierte Bedeutung als Seinsart des gewissen Seienden. Dies besagt, dass (3) die Gewissheit aus dem Verhältnis zwischen dem Gewiss-sein des Daseins und dem gewissen Seienden besteht. Gewissheit bedeutet dementsprechend sich eines gewissen Seienden gewiss-sein. Diese drei Thesen lassen sich in einer grundlegenden These zusammenfassen: Gewissheit besteht sowohl aus dem Für-wahr-Halten eines in der Wahrheit erschlossenen Seienden als auch aus der Bewahrung des In-derWahrheit-seins (des Daseins) bzw. der Möglichkeit der direkten Erfahrung des für wahr gehaltenen Seienden für die Überprüfung. Man kann nur Gewissheit von etwas Wahrem bzw. Erfahrbarem haben. Zum Beispiel kann der/die Richter/in in einem Gericht sich der Unschuld oder der Schuld einer Person nicht gewiss sein; er/sie kann höchstens von ihrer Schuld oder Unschuld überzeugt sein (wenn die Zeugnisse (Aussage), materiellen Beweise u. dgl. darauf hinweisen). Gewiss-Sein ist, das gewisse Seiende für gewiss zu halten bzw. das wahre Seiende für wahr zu halten. Heidegger sagt: »Die ausdrückliche Zueignung des Erschlossenen bzw. Entdeckten ist das Gewißsein.« 827

Gewissheit als die Anpassung des Phänomens an ein geregeltes System verstanden wird, und dass dies zu einer Behinderung des direkten Bezuges zum Phänomen führt (vgl. GA 17, S. 221 ff.). 827 SZ, S. 307.

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§ 29 Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses

Heidegger betont in der Vorlesung von Wintersemester 1923/ 1924: Zur Wahrheit gehört nicht nur die Zugangsbereitschaft, sondern auch die Möglichkeit, das Begegnen des Seienden in seiner Ursprünglichkeit zu erhalten; die Umgangsursprünglichkeit, sofern nämlich das Seiende, das wir uns angeeignet haben, eben auf Grund des sich abschleifenden Besitzes immer wieder verloren geht. (GA 17, S. 98)

Die Gewissheit gründet sich in der Wahrheit. Anders gesagt: Die direkte Erfahrung des erschlossenen Seienden ermöglicht die Gewissheit. Zur Wahrheit gehören aber sowohl die Möglichkeit, den ursprünglichen Bezug zum Seienden zu bewahren, als auch die Möglichkeit, diesen Bezug zu verlieren. Es wird deutlich, dass zum Wesen der Gewissheit die Anwesenheit des bestimmten Seienden in seiner Ursprünglichkeit für die Kontrastierung und Überprüfung gehört. Dies trifft nicht auf die Seinsarten des Glaubens und der Überzeugung zu. Strenggenommen bedeutet Glauben, im Lateinischen crēdere, ›das Vertrauen auf (etwas) setzen‹ (sich dem Schutz von… anvertrauen, Geheimnisse an… anvertrauen, Vertrauen in… haben, sich verlassen auf… usw.) 828. Es kann auch bedeuten: »als wahr annehmen, die Realität oder Existenz von… annehmen, eine bestimmte Meinung vertreten, sich (etwas) vorstellen« 829. Im Alltag bedeutet der Glaube die Andeutung der Wahrheit oder Falschheit einer Aussage, wenn die Möglichkeit einer Überprüfung dieser Andeutung unmöglich oder nicht präsent ist. Es ist eine Andeutung und keine Bestimmung, weil im Glauben die Möglichkeit erhalten bleibt, dass das Geglaubte falsch sein kann. Wenn man sagt: ›ich glaube, dass es regnen wird‹, meint man, dass man nicht weiß, ob es regnen wird, aber dass man davon ausgeht, dass es so sein wird. Obwohl es danach aussieht, erkennt man trotzdem, dass es genausogut auch nicht regnen könnte. Glauben ist eine Art und Weise, in der (Un-)Wahrheit (oder anders gesagt: als (Un-)Wahrhaftes) zu sein. Man findet in all diesen Bedeutungen einen doppelten Sinn, der zur (ursprünglichen) Wahrheit gehört: Glauben als Seinsart des Daseins und das Geglaubt-Sein des geglaubten Seienden 830. Zwischen der Seinsart des glaubenden Vgl. Oxford Latin Dictionary, 1968, S. 455–456. Ebd., S. 456. Eigene Übersetzung. 830 Das Glauben und der Glaube sind Phänomene und können als solche phänomenologisch analysiert werden. Der Gegenstand, auf den sich dieses Verhalten richtet (das, 828 829

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2 · Der methodische Wert einer moralischen Norm

Daseins und der Seinsart des geglaubten Gegenstandes gibt es eine Synergie. Man kann weder an etwas Gewisses glauben noch sich etwas gewiss sein, dessen Seinsart keine Überprüfung ermöglicht. Die Seinsart des geglaubten Gegenstandes behindert sozusagen (in der Art der Privation) die Gewissheit. Heidegger schreibt über das Phänomen der Überzeugung in § 52 SZ folgendes: Ein Modus der Gewißheit ist die Überzeugung. In ihr läßt sich das Dasein einzig durch das Zeugnis der entdeckten (wahren) Sache selbst sein verstehendes Sein zu dieser bestimmen. Das Für-wahr-halten ist als Sich-inder-Wahrheit-halten zulänglich, wenn es im entdeckten Seienden selbst gründet und als Sein zu so entdecktem Seienden hinsichtlich seiner Angemessenheit an dieses sich durchsichtig geworden ist. Dergleichen fehlt in der willkürlichen Erdichtung, bzw. in der bloßen ›Ansicht‹ über ein Seiendes. (SZ, S. 256. Eigene Betonung)

In diesem Zitat werden vier Thesen sichtbar: 1. Die Überzeugung ist ein Modus der Gewissheit. 2. In der Überzeugung versteht das Dasein die Phänomene in Bezug auf das Zeugnis und nicht durch eine direkte Erfahrung des Besagten. 3. Gewissheit (d. i. das wahre Seiende für wahr halten) ist nur möglich, wenn die Möglichkeit der Rückkehr zum entdeckenden Seienden besteht und damit die Möglichkeit der Überprüfung offenbleibt. 4. Sowohl in der ›willkürlichen Erdichtung‹ als auch in der bloßen ›Ansicht‹ fehlt die Möglichkeit der Überprüfung.

was geglaubt wird), kann jedoch nicht unabhängig von dieser Seinsweise des Daseins verstanden werden. Das Wahrsein des Geglaubten ist nicht unabhängig vom Akt des Glaubens. Zum Beispiel macht der Glaube an einen Gott den geglaubten Gegenstand, nur als Gegenstand des Glaubens zugänglich. In einer phänomenologischen Analyse des Glaubens und/oder seines Gegenstandes kann die These ›Gott ist ein unabhängiger Gegenstand dieses Glaubens‹ oder ›die Existenz Gottes ist unabhängig von einem bestimmten Akt des Daseins‹ nicht phänomenologisch festgestellt werden. Daher kann gesagt werden, dass die theologische Philosophie den Glauben und nicht Gott zum Gegenstand haben sollte, weil etwas wie ›Gott‹ kein Gegenstand einer theoretischen Erfahrung bzw. kein Phänomen sein kann. Das Göttliche sollte seine Objektivität als Korrelat des Glaubensaktes nehmen, Heidegger drückt es so aus: »Das Heilige darf nicht als theoretisches Noema –auch nicht als irrational theoretisches [als etwas, das nicht gedacht werden kann] – zum Problem gemacht werden, sondern als Korrelat des Aktcharakters ›Glauben‹, welcher selbst nur aus dem grundwesentlichen Erlebniszusammenhang des historischen Bewußtseins heraus zu deuten ist.« (GA 60, S. 333). Eine phänomenologische Analyse Gottes und anderer Glaubens-Gegenstände muss mit der Anerkennung des Korrelatsseins dieser Gegenstände beginnen und sie nur als Korrelat dieses Aktes untersuchen.

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§ 29 Der Wahrheitscharakter des Zeugnisses

Aufgrund der bis jetzt dargelegten Beschreibungen kann festgehalten werden, dass die Überzeugung eine privative Art und Weise der Gewissheit ist: In ihr ist das überzeugende Seiende nicht gewiss und das Daseins kann der Bestimmung nicht gewiss sein, weil die Überprüfung der Bestimmung nicht möglich ist. Die Überzeugung ist die Seinsart des Daseins bezüglich des überzeugenden Seienden, oder, was gleich ist, bezüglich des Seienden, dessen Wahrheitscharakter auf die konventionelle Gültigkeit beschränkt ist. In der Überzeugung überlässt sich das Dasein dem öffentlichen Modus der Wahrheit. ›Überzeugt zu sein‹ bedeutet ontologisch, eine Aussage (einen ›Diskurs‹), welche den Wahrheitscharakter der Unüberprüfbarkeit aufweist, für wahr zu halten, ohne die Möglichkeit des Falschliegens (und damit die Notwendigkeit einer Rückkehr zur Aufzeigung für die Überprüfung) zu erkennen. Das Seiende, welches von der Aussage bestimmt wurde, ist für die Überprüfung abwesend, dennoch versteht man das Seiende durch das Zeugnis. Während Gewissheit bedeutet, das wahre Seiende (welches sich in seiner Wahrheit zeigt) für wahr zu halten, bedeutet die Überzeugung eine Privation der (ursprünglichen) Wahrheit, da ihr die Aufzeigung des Seienden für die Überprüfung fehlt, d. i. ihr fehlt die Möglichkeit, über die Wahrheit oder Falschheit des Für-wahr-Gehaltenen zu entscheiden. Obwohl es hier keine Möglichkeit zur Überprüfung gibt, hält die Überzeugung die unangemessen ›gewisse‹ Aussage für wahr. In diesem Sinne unterscheidet die Überzeugung nicht zwischen Wahrheit und willkürlicher Erdichtung, da sie beide gleichmacht, wenn sie den notwendigen Charakter der Überprüfung, welcher über die Wahrheit der überzeugenden Aussage entscheiden kann, missachtet. Nicht jede Aussage, in der die Möglichkeit der Überprüfung fehlt, ist eine willkürliche Erdichtung. So verhält es sich beispielsweise bei Zeugnissen, bei denen der Charakter von Wahrheit oder Falschheit unbestimmt bleibt. Dies wird erst dann zum Problem, wenn das Zeugnis als ›wahr‹ dargestellt wird, ohne auf die Notwendigkeit einer Überprüfung einzugehen – in diesem Fall würde ein Zeugnis vergleichbar mit einer Erdichtung. Es ist klar, dass im Glauben und in der Überzeugung die Möglichkeit der Überprüfung nicht präsent ist – trotzdem wird die Aussage für wahr oder falsch gehalten. Beide sind in diesem Sinne privative Modi der Gewissheit. Der Unterschied zwischen Glauben und Überzeugung ist: während im Glauben die Möglichkeit des Falsch287 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

2 · Der methodische Wert einer moralischen Norm

liegens erkannt wird, wird sie im Überzeugt-Sein nicht erkannt. Die Überzeugung stellt die überzeugende Aussage dementsprechend als eine gewisse Aussage bzw. als eine begründete (und überprüfbare) Aussage dar. Beide Modi des In-der-(Un)Wahrheit-seins richten sich auf das Seiende, dessen Seinsart die Unüberprüfbarkeit ist. Dennoch sind sie verschiedene Modi, insofern das überzeugte Dasein nicht nur überzeugt ist, dass eine unüberprüfbare Aussage wahr oder falsch ist, sondern auch, dass diese Überzeugung die Seinsart der Gewissheit aufweist. Mit anderen Worten, Überzeugt-Sein ist die Überzeugung von der ›Gewissheit‹ dessen, was nur geglaubt werden kann. So kann besser verstanden werden, wenn Heidegger feststellt, dass das Zeugnis keine Gewissheit, sondern höchstens eine Überzeugung liefern kann 831. In Hinblick auf diese Beschreibungen kann gesagt werden, dass der Wahrheitscharakter des Zeugnisses die Unüberprüfbarkeit ist und dass die Art und Weise, in der das Dasein in der (Un-)Wahrheit gegenüber diesem Seienden ist, entweder das Glauben oder das Überzeugt-Sein ist. Im Glauben erkennt das Dasein, dass das, woran es glaubt, auch falsch sein kann. In der Überzeugung ist diese Möglichkeit der Anerkennung des Falschliegens nicht gegeben. Überzeugtsein bedeutet: Sich auf die unüberprüfbare Aussage richten und bei dem scheinbaren Wahrsein dieses Seienden bleiben, ohne diesen scheinbaren Charakter zu problematisieren. Ein Zeugnis, welches als universell und wahr verstanden wird, wie im Fall der moralischen Norm, wird nicht geglaubt, sondern man ist davon überzeugt, dass es wahr ist. Die vorliegende Arbeit definiert dementsprechend die moralische Norm als ein Zeugnis, dessen Wahrheitscharakter die Unüberprüfbarkeit ist. In Rückbezug auf diese Definition wird die folgende formale These vorgeschlagen: Das Dasein existiert gegenüber der moralischen Norm in einer bestimmten Art und Weise des Wahrseins, nämlich dem Überzeugt-sein. Diese These muss begründet werden.

831

Vgl. SZ, S. 256.

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§ 30 Die erreichte hermeneutische Situation

§ 30 Die erreichte hermeneutische Situation: Die moralische Norm als ungewisses Zeugnis des Ethischen und die erneute Umwandlung der methodischen Fragestellung Eine Aussage ist unterschiedlich und unabhängig von der Aufzeigung, die sie bestimmt und mitteilt. In ihr hat die mitgeteilte Bestimmung die Möglichkeit, sowohl den Bezug auf die Aufzeigung für die Überprüfung zu bewahren als auch die Möglichkeit, diesen Bezug zu verlieren. Ein Zeugnis ist eine Aussage, die diese letzte Möglichkeit aufweist. Die moralische Norm ist eine Aussage und als solche ist sie unabhängig und unterschiedlich von der Aufzeigung, die sie bestimmt hat. An dieser Stelle muss erklärt werden, inwiefern sie die Aussageart eines Zeugnisses aufweist. In den vorangegangenen Analysen (§ 23, β) wurde festgestellt, dass die prohibitive moralische Norm die Bestimmung einer Einschränkung mitteilt. Als nächstes wird versucht, den Wahrheitscharakter der moralischen Norm herauszuarbeiten, um beantworten zu können, ob die erfahrene Einschränkung in dem Moment verfügbar ist, in dem die prohibitive moralische Norm ihre Bestimmung mitteilt. Die phänomenologische Verifikation des Wahrheitscharakters der moralischen Norm wird das Verständnis der Art und Weise ermöglichen, in der die Einschränkung in der Norm erfahren wird. Es wurde argumentiert, dass die prohibitive moralische Norm ein ›Nicht‹ vermittelt. Dieses ›Nicht‹ wird in Bezug auf die Idee des Richtigen, d. h. in Bezug auf ein innerweltliches Seiendes verstanden und bestimmt. Man hört und man sagt: ›Man soll nicht töten, weil töten nicht richtig ist‹. Die vorherigen Analysen haben darauf hingewiesen, dass die Idee des Richtigen ihre Legitimität aus der öffentlichen Ausgelegtheit erhält, insofern sie ein ideales innerweltliches Seiendes ist. Das, was richtig ist, wird ›allgemein‹ als ›wünschenswert‹ verstanden; Es ist das, was man vom man ›erwartet‹. Obwohl die Legitimität der moralischen Norm öffentlich (d. i. von der jeweiligen Ausgelegtheit abhängig) ist, wird sie als universal dargestellt. In § 25 der vorliegenden Arbeit wurde festgestellt, dass diese Universalität eine Sicherheit aufweist: Man ist sicher, dass etwas ›richtig‹ ist, weil die Norm es diktiert. Im erwähnten Paragraphen wurde geäußert, dass diese Sicherheit keine Gewissheit ist, da ihr Fundament nicht das Phänomen selbst, sondern ein Diskurs ist: Sicherheit ist die Übereinstimmung 289 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

2 · Der methodische Wert einer moralischen Norm

zwischen dem Ausgesagten und einem Diskurs über das Besagte. Nach den Analysen der Gewissheit, des Glaubens und der Überzeugung ist deutlicher geworden, dass diese Sicherheit (die das versucherische Verfallen anbietet) keine Gewissheit, sondern eine Art der Überzeugung ist. Man ist sicher, dass man nicht lügen soll. Warum? Weil die Norm es so sagt. Das verfallende Verständnis (d. i. das Gerede) hält das, was man über das Phänomen sagt, für das Phänomen selbst. Das Phänomen ist in diesem Verständnis abwesend und der Bezug des Verständnisses ist der Diskurs über dieses Phänomen. Das Fundament ist hier nur Schein. Die Abwesenheit der Aufzeigung in der moralischen Norm hat zwei Gründe: Einerseits geht die moralische Norm dem jeweiligen ethischen Ereignis voraus. Andererseits teilt sie eine Verweisung eines gewesenen Ereignisses mit. Ein Ereignis ist allerdings ein Phänomen, dessen Seinsart gerade die Unmöglichkeit ist, zur Überprüfung erneut erfahren zu werden. Ein Ereignis kann nur für das erfahrende Dasein wahr (oder falsch) sein. Seine Mitteilung setzt die Unmöglichkeit der direkten Erfahrung eines Zuhörers voraus. Obwohl die in der moralischen Norm mitgeteilte Aufzeigung im Moment der Überprüfung abwesend ist, wurde gezeigt, dass sie auf etwas verweist. Die Verweisung ist letztendlich der methodische Wert eines Zeugnisses. Worauf verweist die moralische Norm? Sie verweist auf eine Grenze, die im Ereignis verstanden wird. Sie verweist auf diese Grenze jedoch als das, was sie nicht ist, nämlich als etwas Unsituatives. Die Grenze wird so verstanden, jedoch ohne ihren situativen Charakter. In der Mitteilung der moralischen Norm ist dann nicht nur das Ereignis abwesend, sondern auch die Grenze. Die Grenze ist abwesend, weil man sie in Bezug auf einen Schein versteht. Sie wird nicht als eine Antwort auf das Ereignis verstanden, sondern als eine Auferlegung. In der prohibitiven moralischen Norm wird die Grenze zwar erkannt und auf sie verwiesen, aber nicht in ihrem ursprünglichen Sinn. Die moralische Norm ist der alltägliche Hinweis auf das Phänomen der Grenze. Sie dient allerdings nicht als Mittel einer Erforschung des ursprünglichen Sinns des Ethischen, weil 1. sie zwar auf den Sinn des Ethischen verweist, jedoch im Modus des Scheins und weil 2. sie keine Gewissheit über die Bestimmung dieses Sinns geben kann. Eine Untersuchung des Ethischen kann sich demnach nicht auf die moralische Norm beziehen, um das Ethische in seinem ursprünglichen Sinn zu verstehen. In die Vorhabe der vorliegenden 290 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 30 Die erreichte hermeneutische Situation

Interpretation wurde das Ethische gebracht, doch nur als Schein. Die Interpretation hält den Sinn des Ethischen als Grenze in der Vorhabe, dennoch fragt sich, wie kann dieser Sinn überprüft werden? Anders gesagt: Wie kann die Untersuchung das Ethische in seinem ursprünglichen Sinn vor den Blick bringen? Die Untersuchung beschäftigt sich dementsprechend mit einer neuen methodischen Frage (Vorsicht): Wie kann der Sinn des Ethischen aufgefasst werden, und zwar mit Gewissheit? Die Bestimmung der Sicherheit als eine Art der Überzeugung stützt die im vorherigen Paragraphen vorgeschlagene These: Das Dasein existiert gegenüber der moralischen Norm in einer bestimmten Art und Weise des Wahrseins, nämlich dem Überzeugt-sein. Es ist jetzt klar, dass das Dasein die mitgeteilte Bestimmung der moralischen Norm für wahr hält und so nicht erkennt, dass dieses Führwahr-Halten verdeckend ist. Es muss dann überlegt werden: Da das Dasein zur verfallenden Art und Weise der Gewissheit tendiert und folglich zunächst in der Überzeugung (der moralischen Norm) existiert, und da gezeigt wurde, dass die hermeneutisch-phänomenologische Untersuchung des Verständnisses des Ethischen keine Gewissheit über die in der moralischen Norm mitgeteilte Bestimmung gewinnen kann, wird das Bedürfnis nach einer Erfahrung offensichtlich, welche die (alltägliche) Überzeugung unterbricht und so die Möglichkeit bietet, genau das zu verstehen, was in der Überzeugung der moralischen Norm zunächst verdeckt bleibt, nämlich den ursprünglichen Sinn des Ethischen. Welche Erfahrung bietet eine solche Möglichkeit? Während Kapitel 3 des vorliegenden Teils dieser Arbeit sich mit der Frage nach einem gewissen Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens beschäftigt, übernimmt Kapitel 4 die Aufgabe, eine Erfahrung darzustellen, die das alltägliche Überzeugt-sein-von (der moralischen Norm) unterbricht und den ursprünglichen Sinn des Ethischen zugänglich macht.

291 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Kapitel 3. Der methodische Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens

Durch die Erfahrung des Ethischen in Bezug auf die moralische Norm wurde ein Sinn des Ethischen erreicht, den die Untersuchung als universell auferlegte Grenze bestimmt hat. Zwei Problemen könnten allerdings die Untersuchung behindern: 1. Die moralische Norm verweist zwar auf das Ethische, aber in der Form des Scheins. 2. Obwohl die erreichte Bestimmung des Sinns des Ethischen in Bezug auf die moralische Norm gewonnen wurde, kann sie nicht überprüft werden. Die vorliegende phänomenologische Untersuchung zielt dennoch darauf ab, den Sinn des Ethischen zu erfassen, und zwar mit Gewissheit. Dementsprechend werden zwei Fragen die folgenden Analysen leiten: 1. Wie kann eine phänomenologische Untersuchung einen gewissen Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens gewinnen? Und spezifischer für die vorliegende Untersuchung: 2. Wie kann man sich des ursprünglichen Sinns des Ethischen phänomenologisch versichern und auf ihn zugreifen? Während sich Kapitel 3 dieser Arbeit mit der ersten Frage beschäftigt, entwickelt Kapitel 4 die Problematik der zweiten Frage. Im Folgenden werden die Erfahrung der Bezeugung als adäquater methodischer Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens sowie die hermeneutisch-phänomenologische Nutzung Heideggers dieser Erfahrungsart dargestellt.

§ 31 Die Erfahrung der Bezeugung als adäquater methodischer Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens im Rahmen einer phänomenologischen Untersuchung Die Möglichkeit der Erkenntnis liegt in der Möglichkeit der Gewissheit, die nur durch eine Überprüfung zu erreichen ist. Überprüfen ist die daseinsmäßige Seinsmöglichkeit sich auf das Besagte richten zu können, um den Wahrheitscharakter des Gesagten zu evaluieren. In 292 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 31 Die Erfahrung der Bezeugung als adäquater methodischer Zugang

der Zeugnisaussage werden sowohl die Möglichkeiten der Übereinstimmung (Identifizierung) als auch der Nichtübereinstimmung (Unterscheidung) zwischen der Aussage und der Aufzeigung erschwert, weil die Anschauung ›fehlt‹ und dies bedeutet, dass die Möglichkeiten der Überprüfung und der Erkenntnis nicht gegeben sind. Die vorliegende Untersuchung möchte den Sinn des Ethischen erfassen, und zwar in einer phänomenologischen bzw. gewissen Art und Weise. Diese Aufgabe kann nicht mit der Analyse der Erfahrung des Ethischen in Bezug auf die moralische Norm durchgeführt werden. Dies, weil die moralische Norm das Aussagesein des Zeugnisses aufweist. Sie kann zwar auf das Ethische hinweisen, so wurde durch die Analysen suggeriert, doch sie kann nicht als Überprüfung einer Bestimmung gelten. Nun muss die Untersuchung sich fragen, wie sie Gewissheit über den Sinn des Ethischen gewinnen kann. Heideggers Analysen in SZ schlagen eine mögliche Antwort auf diese Frage vor. Heidegger führt eine hermeneutisch-phänomenologische Analyse dessen durch, was man bezeugende Erfahrungen nennen kann, um seine vorherigen analytischen Bestimmungen zu überprüfen. Dies legt nahe, dass die Bezeugung die mögliche Erfahrung sein könnte, die in einer Untersuchung des Ethischen phänomenologisch dabei helfen könnte, den ursprünglichen Sinn des Ethischen zu verstehen. Nun muss zuerst definiert werden, was eine bezeugende Erfahrung ist, bevor die exemplarische Nutzung Heideggers dieser Erfahrungen dargestellt werden kann. Unter ›bezeigen‹ versteht man den Akt des »zu erkennen geben, zeigen; einem Gefühl Ausdruck geben« 832, »zum Ausdruck bringen, kundtun« 833. Dies kann sowohl in der Form einer Aussage als auch in der Form einer nicht aussagenden Äußerung geschehen (z. B. durch Stimmungen). Die naturale Sprache unterscheidet nicht zwischen Bezeugung und Zeugnis. Hier wird eine philosophische (nicht philologische) Eingrenzung des Begriffs durchgeführt. Während ein Zeugnis eine Aussage ist, d. h. etwas Unabhängiges und Verschiedenes von dem Besagten, und den Wahrheitscharakter der Unüberprüfbakeit aufweist (was bedeutet, dass das Besagte im Moment der Mitteilung der Bestimmung nicht direkt erfahren werden kann, um die Wahrheit oder Falschheit dieser Bestimmung zu bestätigen), versteht die vorliegende Untersuchung unter Bezeugung 832 833

Duden, 1993, Bd. 1, S. 523. Wahrig, 1985, S. 678.

293 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

3 · Der methodische Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens

eine besondere Erfahrung, die auf den konkreten Sinn des Erfahrenen sowie auf die Bedingungen der Möglichkeit des Erfahrens verweist. Diese Erfahrungen sind besonders, weil in ihnen direkt miterfahren bzw. mitverstanden wird, was zunächst (im durchschnittlichen Verständnis) verstellt oder verdeckt (z. B. in Bezug auf einen Diskurs) bleibt. Die bezeugende Erfahrung ist laut Heidegger eine solche, die sowohl sich als auch »das Bezeugende als solches« und »das in ihm Bezeugte« finden lässt 834. In der Bezeugung gibt es eine Korrelation zwischen dem Bezeugenden und dem Bezeugten. Beide werden in dieser Korrelation direkt erfahren, obwohl sich nur eines unmittelbar als das zeigt, was es ist. Obwohl Zeugnis und bezeugende Erfahrung in ihrem Sein verweisend sind, bietet die bezeugende Erfahrung der phänomenologischen Untersuchung Gewissheit in den Bestimmungen, insofern sie ermöglicht, die Bestimmungen direkt mit der Aufzeigung zu kontrastieren und zu überprüfen. Dies, weil in der Bezeugung das, was bestimmt wurde (d. i. das Besagte), direkt und nicht in Bezug auf einen Diskurs (d. i. auf das Gesagte) erfahren wird. Sowohl das Zeugnis als auch die Bezeugung sind verweisend, der Unterschied liegt darin, dass das Zeugnis auf etwas verweist, das nicht (im Moment) erfahren werden kann, während die Bezeugung auf etwas verweist, das entweder aktuell erfahren wird oder durch eine aktuelle Erfahrung mitverstanden wird. Die Notwendigkeit einer methodischen Nutzung einer Erfahrung, um eine Bestimmung zu überprüfen, entsteht aus den Ergebnissen des Verfallens: Ein gewisser Zugang ist nötig, da das Verständnis des Daseins als zweideutig charakterisiert wurde. Heidegger zeigt mit seinen Analysen der Erfahrungen der Angst, des Todes und des Gewissensrufs, dass ein gewisser Zugang zu den Seinsstrukturen des Daseins möglich ist, und zwar nicht durch eine Modifikation des Bewusstseins und durch Reflexion, sondern durch besondere (alltägliche) Erfahrungen. Unter diesem Gesichtspunkt gibt es in der heideggerschen Phänomenologie, wie bereits im Methodenteil erwähnt wurde, keine ›Reduktion‹ im husserlschen Sinne der Klammerung der Wirklichkeit der Welt, sondern vielmehr eine ›ontologische Reduktion‹, die durch besondere Erfahrungen eine »Rückführung des phänomenologischen Blickes von der wie immer bestimmten Erfassung des Seienden auf das Verstehen des Seins […] dieses Seienden« 834

SZ, S. 267, Notiz des Hüttenexemplars.

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§ 31 Die Erfahrung der Bezeugung als adäquater methodischer Zugang

erschafft 835, und zwar, so muss hinzugefügt werden, ohne die Verstellung eines indirekten Bezuges (d. h. ohne die Verstellung des Geredes). Kurz: Die Erfahrung der Bezeugung hilft der phänomenologischen Analyse, die Seinsstrukturen des verstehenden (erfahrenden) Daseins in ihre Ursprünglichkeit zugänglich zu machen. Dieser Zugang gründet nicht in einem reflexiven Akt, der den erlebten Charakter des Lebens verstellen könnte, sondern im praktischen Leben bzw. in einer alltäglichen Erfahrung – diese Erfahrungen können zwar alltäglich sein, aber nicht durchschnittlich. Die Bezeugung ist dementsprechend eine gelebte Erfahrung, die Evidenz hervorbringen kann, und, insofern sie thematisiert wird, die Möglichkeit der Überprüfung der formal angezeigten Bestimmungen anbietet. Es muss daran erinnert werden, dass laut Heideggers phänomenologischen Ansatzes jede Erfahrung nicht nur aus intentio und intentum, d. h. aus einem intentionalen Akt und einem intentionalen Korrelat (welches nicht unbedingt die Art und Weise der Gegenständlichkeit aufweisen muss) besteht, sondern auch aus einem Verständnis der Momente dieser Relation und der Relation in sich. In Übereinstimmung mit dieser These und durch die Verknüpfung mit der These der Modalität des Verständnisses kann festgestellt werden, dass in jeder Erfahrung sowohl das Erfahrende (d. i. das Intentionalsein) als auch das Erfahrene (d. i. Korrelatsein) (mit)verstanden werden, und zwar in verschiedenen Graden von Durchsichtigkeit. Die bezeugenden Erfahrungen sind besondere Erfahrungen, in denen der Grad von Durchsichtigkeit besonders hoch ist 836. Die hermeneutisch-phänomenologische Aufgabe besteht im Erkennen solcher Erfahrungen und in ihrer methodischen Nutzung als Zugangserfahrungen zu den (erforschten) Phänomenen, um die formal-angezeigten Bestimmungen zu überprüfen. Nun ist klar, dass Aussagen immer die Möglichkeit der Verstellung beinhalten und dass dewegen diese Erfahrungen GA 24, S. 29. Zum Beispiel wird in der heideggerschen Analyse der Erfahrung des Todes argumentiert, dass in der durchschnittlichen Erfahrung des Todes als unpersönliches Ereignis sowohl das Erfahrene (d. i. den Tod) als auch das Erfahrende (d. i. das Dasein) verstellt werden. Im Gegensatz dazu werden in der bezeugenden Erfahrung der Möglichkeit des Sterbens (d. i. Sein-zum-Tode) das Dasein als persönliches, faktisches, endliches Seinkönnen und der Tod als die eigenste Möglichkeit, die jede daseinsmäßige Möglichkeit begleitet, ursprünglich erkannt. In dieser bezeugenden Erfahrung wird ein durchsichtiges Verständnis sowohl der Seinsart des Erfahrenden als auch des Erfahrenen gewonnen. Siehe dazu unten § 32, β der vorliegenden Arbeit.

835 836

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3 · Der methodische Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens

nicht auf Aussagen, sondern auf die jeweilige existenziale Situation des Erfahrens gerichtet sind. In der Bezeugung sind sowohl Bezeugende als auch Bezeugte gegeben bzw. werden direkt erfahren. Im folgenden Paragraphen wird Heideggers Nutzung dieser Art der Erfahrung dargestellt, um Klarheit sowohl über den Sinn der Bezeugung und der bezeugenden Erfahrung als auch über die Art und Weise zu gewinnen, in der die vorliegende Untersuchung diese Art Erfahrungen phänomenologisch benutzen muss, um den ursprünglichen Sinn des Ethischen zu erforschen. Darüber hinaus wird die hermeneutische Situation erreicht, in der die vorliegende Untersuchung über den existenzial normativen Charakter des Daseins forschen kann.

§ 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung Heidegger benutzt die exemplarischen Phänomene der Angst 837, des Todes 838 und des Gewissensrufs 839, um auf ein ursprüngliches Verständnis des eigenen Seins des Daseins zuzugreifen. Hier bedeutet Bernet interpretiert die Angst als eine Art ›phänomenologische Reduktion‹, die den nötigen Standpunkt für eine durchsichtige Konzeption des Seins des Daseins schafft. Siehe Bernet, in Kisiel u. van Buren (Hrsg.), 1994, S. 245–267. 838 Pedersen argumentiert, dass genauso, wie die phänomenologische Reduktion die natürliche Einstellung zum Phänomenologischen verändert und somit die Strukturen des Bewusstseins deutlich sichtbar macht, auch der Tod als das Phänomen interpretiert werden kann, das eine Änderung des (Modus des) Existierens erschafft, welche uns die Strukturen des Seins des Daseins in einer eigentlichen Art und Weise verstehen lässt. Siehe Pedersen, in Rese (Hrsg.), 2010. 839 Der Ruf des Gewissens ist ein Zugangsphänomen zum Selbtsseinkönnen (vgl. SZ, S. 267 ff.). Vigo erklärt, dass die Zugangsphänomene sowohl eine praktische als auch eine theoretische Durchsichtigkeit des Selbst erschaffen können (letzteres ist möglich, aber nicht notwendig). Vigo schreibt: »[der Tod und das Gewissen] sind Zugangsphänomene, in denen das Dasein sich durchsichtig als ›Seinkönnen‹ für sich selbst machen kann. […] Einerseits liegt die Bezeugungsfunktion der Phänomene des ›Sein zum Tode‹ und des ›Gewissens‹ in der Ebene, die zur ›Wahrheit der Existenz‹ gehört. Dies, weil es in beiden Fällen um Phänomene geht, die zur Ebene des faktischen Lebensvollzugs gehören. Andererseits bewegt sich die phänomenologische Klärung, die sich thematisch mit der Funktion dieser Phänomene beschäftigen möchte, auf der Ebene, die zur ›phänomenologischen Wahrheit‹ als besonderer Modus der ›transzendentalen Wahrheit‹ gehört, die sich wiederum auf die ›transzendentalen Erkenntnis‹ bezieht.« (Vigo, in Rodríguez (Hrsg.), 2015, S. 272. Eigene Übersetzung). Die Erfahrung des Gewissensrufs kann, wie Keane betont, eine phänomenologische Einstellung 837

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§ 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung

›ursprünglich‹ nichts anderes als bezüglich des Phänomens selbst, ohne die Verstellung des Geredes. In SZ spielt die Bezeugung dieser Phänomene zwei Rolle: Ersten verweisen diese Phänomene auf den ursprünglichen Sinn der existenzialen Strukturen der Existenzialität, der Faktizität und der Verfallenheit. Zweitens weisen sie auf die existenzielle Möglichkeit eines Selbstbezuges bzw. einer Eigentlichkeit hin. 1. Die Analysen der Verfallenheit und des uneigentlichen Verstehens (bzw. des Geredes) haben gezeigt, dass das Dasein sich selbst, andere Existierende und die Welt in Bezug darauf versteht, was über diese Phänomene öffentlich gesagt bzw. ausgelegt wurde. In dieser Dynamik wird das Verständnis ›entwurzelt‹. Heidegger schlägt in SZ bestimmte exemplarische Phänomene vor, welche diese Entwurzelung unterbrechen und den Bezug zum analysierten Phänomen wiedergewinnen können. Diese methodische Vorgehensweise wurde als Bezeugung bezeichnet. Bezüglich der ontologischen Problematik wurde argumentiert, dass das Verständnis des Daseins zweideutig ist: Man kann nicht deutlich zwischen dem unterscheiden, was man ursprünglich verstanden hat und dem, was man in Bezug auf den öffentlichen Diskurs verstanden hat. Da das Sein des Daseins als Sorge (Existenzialität, Faktizität und Verfallenheit) definiert wurde, muss gefragt werden: Ist das Verständnis dieses Seins als Sorge ursprünglich? Die methodische Nutzung des Zeugnisses (Hyginus Fabel) in SZ bietet eine Bewährung des Vorverständnisses dieser Bestimmung, doch wie bereits argumentiert wurde, kann diese Bewährung der phänomenologischen Untersuchung keine Gewissheit verschaffen. Heidegger benutzt daraufhin die Erfahrungen der Angst, des Todes und des Gewissensrufs, um die Seinsbestimmungen der Verfallenheit, der Existenzialität und der Faktizität in Bezug auf das Phänomen selbst (d. i. auf das Dasein) zu überprüfen. 2. In § 54 SZ erklärt Heidegger, dass die methodische Nutzung der Bezeugung bezüglich der Frage nach einem Selbstseinkönnen des Daseins notwendig ist, insofern es im Dasein eine Tendenz zum Man-

hervorrufen; Sie schafft genau das, was Heidegger in der Vorlesung 1927 unter ›phänomenologischer Reduktion‹ versteht, nämlich »die Rückführung des phänomenologischen Blickes von der wie immer bestimmten Erfassung des Seienden auf das Verstehen des Seins […] dieses Seienden.« (GA 24, S. 29). Vgl. Keane, in Rese (Hrsg.), 2010.

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3 · Der methodische Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens

Selbst gibt, die die Möglichkeit einer Eigentlichkeit ständig verdeckt. Heidegger schreibt: Weil [das Dasein] aber in das Man verloren ist, muß es sich zuvor finden. Um sich überhaupt zu finden, muß es ihm selbst in seiner möglichen Eigentlichkeit ›gezeigt‹ werden. Das Dasein bedarf der Bezeugung eines Selbstseinkönnens, das es der Möglichkeit nach je schon ist. (SZ, S. 268)

Da das Dasein sich selbst zunächst und zumeist in der Weise des Man (d. i. der Uneigentlichkeit) zeigt, muss der methodische Zugang zur Eigentlichkeit dieses Seienden durch eine bezeugende Erfahrung erfolgen, welche auf die konkrete Möglichkeit eines Selbstseinkönnens ohne Verstellung verweist. Heidegger macht diese Bemerkung am Anfang der Gewissensanalyse, doch es ist eindeutig, dass sie sich auf die drei bezeugenden Phänomene (Angst, Tod, Ruf des Gewissens) bezieht. Kurz: In der Erfahrung der bezeugenden Phänomene wird es für das Dasein möglich, (1) eine Durchsichtigkeit seines eigenen Seins zu gewinnen, (2) die Möglichkeit einer Aneignung dieses Seins zu erfahren, (3) die Zweideutigkeit des Verständnisses zu überwinden und (4) die erreichten Bestimmungen in Bezug auf die direkte Erfahrung des Phänomens zu überprüfen. Im Folgenden wird die Vorgehensweise jeder dieser bezeugenden Phänomene dargestellt. Für die vorliegende Arbeit ist diese Darstellung aus drei Gründen wichtig: 1. Sie überprüft phänomenologisch (d. h. mit Evidenz) die Bestimmungen Heideggers, die den Vorgriff dieser Arbeit bilden. 2. Sie zeigt, wie die Bezeugung operiert und dass diese eine Methode zur Erreichung und Überprüfung von Bestimmugen ist. 3. Sie hebt darüber hinaus wesentliche Aspekte des normativen Seins des Daseins hervor, welche für die Konzeptualisierung der Bedingung der Möglichkeit einer ethischen Erfahrung hilfreich sind.

α.

Die Erfahrung der Angst als Bezeugung des In-der-Welt-seins als solches und der Möglichkeit einer eigentlichen Existenz

Die Angst ist eine Stimmung, d. i. eine Weise, in der sich das Dasein in der Welt befindet. Die Analysen des Intentionalseins haben gezeigt, dass das Gestimmtsein auf dem Existenzial der ›Befindlichkeit‹ gründet und, dass das ursprüngliche Gerichtetsein des Daseins (d. i. das Worumwillen) immer gestimmt ist: Die Faktizität des Daseins 298 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung

beeinflusst dementsprechend die Weise, in der sich das Dasein um seinetwillen auf andere Seiende richtet. Die Analysen der Angst in SZ beschreiben eine bestimmte Art und Weise, in der Welt zu sein. In § 30 SZ erklärt Heidegger die Struktur eines Gestimmtseins durch die Analyse der Stimmung der Furcht. Dort macht Heidegger klar, dass sich eine Stimmung in drei Momente unterteilen lässt: 1. Die Stimmung ist immer auf etwas gerichtet. Sie weist ein Korrelat auf. Gestimmtsein ist immer Gestimmtsein durch…(etwas). Die Furcht z. B. hat, so Heidegger, ein Wovor, nämlich das Bedrohliche. Die Analysen der Furcht und der Angst zeigen, dass das Korrelat nicht notwendigerweise ein Objekt sein muss. Es kann die Seinsart der Innerweltlichkeit, des Mitdaseins, des Selbst, oder einer Möglichkeit aufweisen. 2. Das Gestimmtsein als solches: Jede Stimmung ist nur verständlich als Intention 840, d. h. als eine Art und Weise des Existierens. Hier erklärt Heidegger, dass die Stimmung nicht eine Charakteristik des Inseins ist, sondern dass sie das Insein selbst konstituiert, anders gesagt, dass das Insein stets gestimmt ist. Das Dasein erschließt die Welt, so wurde bereits argumentiert, durch die Stimmungen. Heidegger drückt diese Idee in der Furchtanalyse mit dem Ausdruck aus: die Furcht fürchtet, d. h. die Stimmung Furcht vollzieht sich nur in einem Gestimmtsein bzw. im Fürchten und dieses Fürchten ist das, was die Welt erschließt. Dieser Moment ist das »sich-angehen-lassende Freigeben« 841 von etwas, von dem sich das Insein beeinflussen lässt. Daraus kann geschlossen werden, dass dasselbe Seiende in verschiedenen Weisen erschlossen werden kann, und das Dasein dementsprechend in verschiedenen Weisen beeinflussen kann 842. Die Erschließung des beeinflussenden Seienden geschieht zusammen mit dem Gestimmtsein bzw. mit dem Einfluss. Dies bedeutet, dass die Erschließung immer schon auslegend und gestimmt ist 843. 3. Zum Gestimmtsein gehört auch ein Verständnis des Seins Die Intention soll hier nicht als ein Akt des Bewusstseins interpretiert werden, sondern als eine Weise des Existierens (d. h. jedes Gerichtetsein-auf etwas). 841 In der Analyse der Furcht schreibt Heidegger: »Das Fürchten selbst ist das sichangehen-lassende Freigeben des so charakterisierten Bedrohlichen.« (SZ, S. 141). 842 Dieser phänomenologische Tatbestand wurde auch von Husserl thematisiert. Siehe Hua IV, S. 105 ff. 843 In der Vorlesung vom Wintersemester 1923/1924 thematisiert Heidegger in Anlehnung an Aristoteles diese Simultanität zwischen dem Gestimmtsein und der Erschießung des beeinflussenden Seienden in Zusammenhang mit der Analyse der Wahrheit (bzw. des Inseins). Er schreibt: »Wenn wir […] ein Erfreuliches oder Betrübliches vernehmen, dann ist das Vernehmen ein Sprechen, das die Dinge als etwas 840

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3 · Der methodische Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens

des (erfahrenden) Seienden, welches von dem Korrelat betroffen ist. Heidegger benutzt den Ausdruck ›das Worum‹ (der Furcht), um diesen Moment anzuzeigen. Im Fürchten werden sowohl das Bedrohliche als auch das Gefährdete erschlossen. In diesem Sinne kann man um sein eigenes Leben oder um den Anderen fürchten. Gestimmtsein ist kein privates Erlebnis der Seele, sondern eine Art und Weise mit den Anderen in der Welt zu sein 844. Nun fällt auf, dass im Gestimmtsein etwas mitverstanden wird. Heidegger schreibt bezüglich der Furcht: »Die Furcht enthüllt immer, wenn auch in wechselnder Ausdrücklichkeit, das Dasein im Sein seines Da.« 845 Im Gestimmtsein wird das Intentionalsein irgendwie mitverstanden, d. h., zum Gestimmtsein gehört ein Verständnis des existenzialen Grundes dieses Gestimmtseins. Jede Intention, so wurde bereits argumentiert, weist ein Verständnis auf. Dieser Moment ist einerseits ein Hinweis darauf, dass das, was das Dasein beeinflusst, es als Existierendes (d. h. in seinem Möglichsein) beeinflusst, und dass dieser Einfluss die Stimmung gestaltet, andererseits weist es darauf hin, dass in dem Einfluss das Beeinflustwerden mitverstanden wird. Ich fürchte z. B. eine Schlange, weil ihr Gift mich töten kann. Die Intention ›fürchten‹ ist gerichtet auf etwas (auf eine Schlange) und macht die Beziehung dieses Gestimmtseins zur Existenz verständlich (z. B. die Schlange kann mir weh tun). Hier wird mitverstanden, dass Ich in der Welt bei innerweltlichen Seienden bin (und dass dieses Sein von diesen Seienden betroffen wird). Heidegger analysiert in § 40 SZ die Struktur der Angst. Durch seine Analyse kommt Heidegger zu drei Hauptschlussfolgerungen: 1. Die Erfahrung der Angst bezeugt die Welt als Welt (und so auch das Gerichtetsein in seinem ursprünglichen Sinn als Worumwillen) und dies modifiziert die Referenzialität des Verständnisses. 2. Die Erfahrung der Angst bezeugt die Gleichursprünglichkeit der Existenzialität, der Faktizität und der Verfallenheit. 3. In der Erfahrung der auffaßt (κατάφασις oder ἀπόφασις). Das Vernehmen ist, wenn uns etwas Erfreuliches begegnet, schlagartig. Dabei ist das Vernehmen und das sehende Sichfreuen eins. In der Mitte ist dieses einheitliche Vernehmen da (τῇ μεσότητι) (Arist. De anima. Γ 6, 431a11).« (GA 17, S. 41). Das ursprüngliche Vernehmen wird als αἴσθησις κατὰ συμβεβηκός definiert und weist darauf hin, dass das Dasein etwas immer schon mit einem Sinn vernimmt (vgl. ebd., S. 8–9). 844 Heidegger erklärt dies in der Vorlesung vom Wintersemester 1929/1930 (vgl. GA 29/30, S. 99–101). 845 SZ, S. 141.

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§ 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung

Angst erfährt sich das Dasein als eigenes Seinkönnen und damit ergibt sich die existenzielle Möglichkeit einer Eigentlichkeit. Die erste These basiert auf der Analyse des Wovor (des Korrelats) der Angst. Heidegger legt fest, dass das Wovor der Angst das Inder-Welt-sein als solches ist 846. Um diese These zu untermauern, unterscheidet Heidegger zwischen dem Wovor der Angst und der Furcht. Während die Furcht sich vor einem innerweltlichen Seienden (d. i. vor dem Bedrohlichen) fürchtet 847, ängstigt sich die Angst vor dem Insein bzw. dem Intentionalsein selbst. In der Erfahrung der Angst sind drei Aspekte erkennbar: 1. Das Wovor der Angst hat nicht den Charakter von etwas, das eine bestimmte Seinsmöglichkeit des Daseins beeinflussen könnte. Es ist nichts Innerweltliches. 2. In der Angst bleibt das Wovor unbestimmt. Diese Unbestimmtheit lässt einerseits »faktisch unentschieden, welches innerweltliche Seiende droht«, und besagt andererseits, »daß überhaupt das innerweltliche Seiende nicht ›relevant‹ ist.« 848 Aus diesem Grund stellt Heidegger fest, dass in der Angst die Welt »den Charakter völliger Unbedeutsamkeit« hat 849. Nun ist diese Aussage Heideggers keine ontische These über die Gleichgültigkeit gegenüber den Seienden, sondern eine ontologische These, die besagt, dass in der Erfahrung der Angst die Referenzialität des Verstehens modifiziert wird: Das Dasein versteht sich selbst, die Welt und die Anderen nicht mehr in Bezug auf die öffentlichen Möglichkeiten (d. i. auf die Mitwelt) und/oder auf die besorgenden Seienden (d. i. auf die Umwelt), sondern in Bezug auf sich selbst als das Seiende, das es ist, nämlich In-der-Welt-sein. Dies, weil die Welt nur als Bezugspotenzial (ohne Gehalt) erscheint. 3. Das Wovor der Angst ist kein innerweltliches Seiendes und hat deswegen keine Bewandtnis. Das Wovor hat dann den Charakter des ›Nirgends‹. Dies besagt laut Heidegger nicht, dass in der Angst die Welt fehlt, sondern umgekehrt, dass »das innerweltliche Seiende an ihm selbst so völlig belanglos ist, daß auf dem Grunde dieser Unbedeutsamkeit des Innerweltlichen die Welt in ihrer Weltlichkeit sich einzig noch aufdrängt.« 850 Genau wie Heidegger in § 16 SZ zeigt, dass die (bezeugenden) Erfahrungen der Auffälligkeit, der Aufdringlichkeit oder der

846 847 848 849 850

Vgl. ebd., S. 186. Vgl. ebd., S. 140 f. Ebd., S. 186. Ebd. Ebd., S. 187.

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3 · Der methodische Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens

Aufsässigkeit des besorgenden Seienden auf das Sein dieses Seienden (d. i. auf die Zuhandenheit) hinweisen, zeigt er jetzt, dass die bezeugende Erfahrung der Angst, d. i. die Erfahrung einer ›Furcht‹ vor ›nichts Weltlichem‹ darauf hinweist, dass sich das Dasein auf etwas richtet, und zwar nicht nur auf die Welt (als eine Bedeutungsganzheit), sondern auch auf sich selbst. In der Erfahrung der Angst wird nicht nur der konkrete Sinn des ›Sich-ängsten-vor‹ deutlich, sondern auch die daseinsmäßige Struktur der ›Lebensverweisung‹. Diese drei Aspekte der Erfahrung der Angst führen Heidegger zu dem Schluss, dass in der Angst die Welt als Welt erscheint 851. Nun bedeutet dies nicht, dass die Angst die Weltlichkeit der Welt als theoretisches Wissen explizit darstellt. Es bedeutet vielmehr, dass sich das Verstehen auf das In-der-Welt-sein bzw. auf das Dasein als solches (und nicht auf die ›Welt‹ der besorgenden Seienden und des Miteinanderseins) bezieht. Hier verknüpft sich die erste These mit der zweiten und dritten. Diese Verknüpfung gründet laut Heidegger darin, dass in der Angst das Wovor und das Worum übereinstimmen. Heidegger erklärt, dass die Angst sich nicht um eine konkrete und bestimmte Möglichkeit des Daseins, die das besorgende Seiende als Bezug hat, sondern um das eigene Seinkönnen des Daseins ängstigt. Er schreibt: Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der ›Welt‹ und der öffentlichen Ausgelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-seinkönnen. […] Mit dem Worum des Sichängstens erschließt daher die Angst das Dasein als Möglichsein […]. (SZ, S. 187–188)

Die Besonderheit der Angst ist, dass in ihr die Welt als Welt erscheint. Die Analyse der Auffälligkeit des Zeugs (vgl. SZ, § 16) hat gezeigt, dass sich in der Abwesenheit des innerweltlichen Seienden die Welt als Welt (als Bewandtnisganzheit bzw. Bedeutsamkeit) zeigt. Nun ist die Angst eine ›ausgezeichnete Stimmung‹, insofern in ihr das Sichrichten des Daseins auf die ›Welt‹ (bzw. auf die innerweltlichen Seienden) zerbrochen wird und demnach, in der Auffälligkeit des innerweltlichen Seienden (im Wovor dieser Stimmung), die Erscheinung der Welt als Welt ermöglicht wird. Das ›Fehlen‹, das ›Zerbrechen‹ u. ä. ermöglichen ein Verständnis dessen, was fehlt; dessen, was zerbrochen wurde usw. Das ›Nichts‹ (des Wovor der Angst) bringt demnach ein Verständnis der (fehlenden) Welt mit – nicht als Summe von Seienden, sondern als Bedeutsamkeit. Darüber hinaus liefert es auch ein Verständnis dessen, was die Erscheinung der (fehlenden) Seienden ermöglicht, nämlich ein Verständnis des In-derWelt-seins (nur für ein transzendentes Seiendes können die transzendierten Seienden ›fehlen‹). So wird auf implizite Weise eine Durchsichtigkeit der Struktur gewonnen.

851

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§ 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung

In der Erfahrung der Angst wird auf das Intentionalsein hingewiesen, und zwar sowohl als Gerichtetsein-auf als auch als faktischexistenzial bedingt: In dieser Erfahrung wird der ursprüngliche Sinn des Gerichtetseins, d. i. das Worumwillen, bezeugt. Die Angst gilt als exemplarische, bezeugende Erfahrung, so lässt Heidegger verstehen, weil das ›In-der-Welt-sein als solches‹ sowohl ihr Wovor als auch ihr Worum konstituiert. Die Übereinstimmung des Wovor und des Worum suggeriert laut Heidegger, dass die Angst eine ›ausgezeichnete Befindlichkeit‹ ist, weil sie die Gleichursprünglichkeit von Existenzialität, Faktizität und Verfallenheit bezeugt. In der bezeugenden Erfahrung der Angst erweist sich das Dasein als Möglichsein; die Angst weist auf seine Existenzialität hin. Diese Erfahrung verweist aber auch auf die Faktizität und die Verfallenheit des Existierens. Dies einerseits, weil die Angst als Stimmung die Geworfenheit des Daseins darlegt: Das Dasein ist existenzial, insofern es faktisch ist. Im Akt des Sichängstens versteht sich das Dasein als faktisch in einer Welt, die sich in der Unbedeutsamkeit als Welt zeigt. In dieser Stimmung wird das Insein anders verstanden. Andererseits fühlt sich das Dasein in der Erfahrung der Angst ›unheimlich‹. Diese Unheimlichkeit verweist auf den heimlichen bzw. vertrauten Charakter des alltäglichen, öffentlichen Inseins in der Art und Weise des Man-Selbst (Verfallenheit) 852. Die Bezeugung der Gleichursprünglichkeit der Momente der Sorge weist auch auf die existenzielle Möglichkeit einer Eigentlichkeit hin. Heidegger schreibt: Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für… (propensio in…) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist. (SZ, S. 188)

Die Verweisung auf die Eigentlichkeit ist in Zusammenhang mit der Heimlichkeit (Vertrautheit des Inseins) und der Unheimlichkeit zu verstehen 853. Laut Heidegger flieht das verfallende Dasein vor sich selbst in die Welt der innerweltlichen Seienden und der Öffentlichkeit. Das, was die Angst als ausgezeichnete Stimmung definiert, ist, dass sie die zwei Bezüge des verfallenden Selbstverständnisses, näm852 853

Vgl. SZ, S. 188–189. Vgl. ebd., S. 188 ff.

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3 · Der methodische Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens

lich den Bezug auf die Anderen und auf die innerweltlichen Seienden, zerbricht und den Bezug auf das eigene Selbst ermöglicht. In der Abhandlung Der Begriff der Zeit sagt Heidegger, dass sich das Dasein in der Angst in der ›Abwesenheit der Helle‹ und in einem ›Alleinsein‹ befindet 854. Dieser Metapher stellt das Zerbrechen des Bezuges zur Um- und Mitwelt dar: Das Dasein kann in der Dunkelheit nicht mehr sehen und es scheint, als seien die Dinge nicht mehr ›da‹. Im Alleinsein sind die Andere nicht mehr ›da‹ vorhanden. Der Bezug des Verstehens wird durch ein ›Nichts‹ ersetzt. Heidegger schreibt: »Die Angst ist das Sichbefinden vor dem Nichts« 855. In dieser Erfahrung versteht sich das Dasein nicht mehr in Bezug auf die (Um-/Mit-) Welt. Deswegen fühlt sich das Dasein unheimlich. Die Umheimlichkeit, so Heidegger, »ist die privative Seinsart des ›zu Hause‹« 856, also des vertrauten Inseins. ›Privativ‹ bedeutet hier privatio, d. h. eine Möglichkeit, die aktuell nicht vollzogen wird, aber die vollzogen werden kann bzw. eine Möglichkeit, die zum Sein des spezifischen Seienden gehört. Dies bedeutet, dass das Dasein zunächst und zumeist in der Weise des Verfallens bzw. der Heimlichkeit existiert, aber dass zu seinem Sein auch die Möglichkeit gehört, in der Weise der Unheimlichkeit (bzw. als selbstreferent) zu existieren. Heidegger betont in der Abhandlung, dass das Sein des Daseins gerade in der Angst als modales Seinkönnen erscheint: Das Dasein geht zunächst besorgend in seiner Welt auf und lebt im ›Man‹. D. h. es kann uneigentlich sein, es kann sich von der Welt her bestimmen lassen und kann wieder innerhalb einer Umwelt verschiedene Besorgensweisen wählen. Es kann sich an die Welt verlieren und sich dabei vergreifen, es kann aber auch sich selbst wählen und sich dafür entscheiden, jedes Besorgen unter eine ursprüngliche Wahl zu stellen. (GA 64, S. 43–44) 857

Da die Erfahrung der Angst die selbstreferente Struktur des Möglichseins aufweist, bezeugt sie die Möglichkeit einer Eigentlichkeit (d. i. die Möglichkeit eines Bezuges, dessen Fokus das eigene Möglichsein und nicht die (Um-/Mit-)Welt ist). Die Erfahrung der Angst (unter anderen bezeugenden Erfahrungen) ist allerdings nicht etwas, dass das Dasein wählt, sondern etwas, das ihm widerfährt und das Vertrauen des alltäglichen Umgangs unterbricht und dem Dasein die 854 855 856 857

Vgl. GA 64, S. 42. Ebd. Ebd. Siehe auch SZ, 188 ff.

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§ 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung

Möglichkeit präsentiert, es selbst zu sein. Ontologisch gesehen ist diese Erfahrung die Erfahrung einer nicht alltäglichen Referenzialität des Selbstverständnisses und des Verständnisses der Welt. Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit sind in diesem Sinne keine Möglichkeiten, die das Dasein wählen kann. Sie sind Metamöglichkeiten, d. h. Seinsmodi, aus denen das Dasein etwas auswählt. Das Dasein tendiert zur Uneigentlichkeit und existiert zunächst in ihr, weil die (Um-/Mit-) Welt und der Umgang mit ihr es so fordern. Die Eigentlichkeit wird dann nicht gewählt, sondern durch besondere Erfahrungen und nur in besonderen Situationen ermöglicht, in denen der Bezug auf die Um-/Mit-Welt unterbrochen wird. Nun benutzt Heidegger den Begriff ›Vereinzelung‹ nicht nur, um auf die Erfahrung der Bezeugung der Gleichursprünglichkeit der Momente der Sorge hinzuweisen, sondern auch, um auf die korrelativ bezeugende Möglichkeit einer Eigentlichkeit zu verweisen. Er sagt: »Die Angst vereinzelt und erschließt so das Dasein als ›solus ipse‹.« 858 Dieser ›Solipsismus‹ darf nicht ontisch als die Isolation eines ›Subjektdinges‹ verstanden werden, sondern 1. als die Modifikation der Referenzialität, in der der Bezug des Verstehens nicht mehr die Welt, sondern das eigene Sein ist 859, und auch 2. als die ontische Möglichkeit eines Sich-selbst-wählen-Könnens. Letzteres, weil das Verständnis das Selbst als seinen Bezug erlangt. Heidegger betont hier das Ergebnis der Erfahrung der Angst auf ontologischer und ontischer Ebenen: Ontologisch gesehen führt sie eine Modifikation des Verstehens herbei; ontisch eröffnet sie die (Meta-)Möglichkeit, die eigenen Möglichkeiten auszuwählen und sich in Bezug auf diese angeeigneten Möglichkeiten und nicht in Bezug auf die öffentlichen Möglichkeiten zu verstehen. Die Eigentlichkeit, wenn sie als diese Modifikation der Referenzialität verstanden wird, bezeichnet keine bestimmte Möglichkeit (sie ist keine Authentizität), sondern eine BeEbd., S. 188. Zu einer Kritik der Vereinzelung als eine Art Solipsismus siehe Arendt, 1990, S. 37). 859 Die Angst setzt den Weltbezug in Klammern und ermöglicht eine Selbstbeziehung. So könnte die Angst als eine Art Epoché verstanden werden. Hier muss man jedoch vorsichtig sein. Die husserlsche Epoché ist ein mittelbarer theoretischer Akt der Einklammerung des Wirklichkeitskoeffizients der Welt. Die Angst ist eine unmittelbare Stimmung, welche die Besonderheit der Ermöglichung der Selbstbeziehung aufweist. In diesem Sinne ist die Angst eine Bezeugung, d. i. eine Erfahrung, die auf die ursprünglichen Strukturen des Erfahrens und des Erfahrenden verweisen kann, wenn sie methodisch (mittelbar theoretisch) analysiert wird. 858

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3 · Der methodische Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens

wegung, und zwar eine Bewegung gegen das Verfallen: Während die Bewegung des Verfallens das Dasein von seinem Sein entfremdet und es motiviert, sich selbst und die Welt in Bezug auf die (Um-/Mit-) Welt zu verstehen, ermöglicht die Erfahrung der Angst (und somit jede vereinzelnde Erfahrung) eine Anerkennung des eigenen Seins als eigenes Seinkönnen und eröffnet die Möglichkeit eines (Selbst-/ Welts-)Verständnisses, dessen Bezug dieses Seinkönnen ist 860. Die Angst ist nicht das einzige Phänomen, das Heidegger benutzt, um auf den ursprünglichen Sinn der Sorge und den Selbstbezug der Existenz zu verweisen. Im Folgenden sollen die Phänomene des Verständnisses des Todes und des Gewissensrufs dargestellt werden. β.

Die Erfahrung des Todes als Bezeugung des Sinns der Sorge und des eigenen Seinkönnens

Die Erfahrung des (Verständnisses des) Todes bzw. des ›Sein zum Tode‹ wird in SZ als bezeugende Erfahrung des Ganzseins und des ursprünglichen Sinns der Existenz konzipiert. Die Analyse des Phänomens des (Verständnisses des) Todes fängt in § 46 SZ mit der Anmerkung einer scheinbaren Inkonsistenz in den Analysen des Daseins an: Einerseits erfordert eine hermeneutisch-phänomenologische Interpretation des Daseins, dass dieses Seiende in seiner Ganzheit interpretiert wird; andererseits wurde das Sein des Daseins als Sorge definiert, d. i. als ein »Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)« 861. Das ›SichvorDiese ontologische Interpretation der Eigentlichkeit ermöglicht eine ontische Interpretation der derselben. Eine solche ontische Interpretation findet man beispielsweise bei Carman. Carman stellt fest, dass Heideggers Begriff ›Eigentlichkeit‹ aus zwei Aspekten besteht: 1. Entschlossenheit (inspiriert von Aristoteles φρόνησις), diese soll so verstanden werden: »openly facing up to the unique concrete ›situation‹ (Situation) in which one finds oneself […] (SZ, S. 300). […] Resoluteness thus consists in a kind of focused engagement with things, and with others.« 2. Vorlaufen in den Tod (inspiriert von Kierkegaards ›Glaube‹): »Forerunning into death, then, means being ready, willing, and able to embrace a particular and essentially fragile set of possibilities, even as they tend to dissolve by their own inertia.« (Carman, in Dreyfus; Wrathall (Hrsg.), 2005, S. 291–292). Im nächsten Kapitel der vorliegenden Arbeit werden diese zwei Aspekte unter dem Begriff Verantwortung (ontischer Ausdruck der angeeigneten Verantwortlichkeit) zusammengefasst. 861 SZ, S. 192. Eigene Betonung. 860

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§ 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung

weg‹-Moment dieser Struktur, sagt Heidegger, impliziert eine »ständige Unabgeschlossenheit« 862 und daraus folgt die Frage: Wie ist im Dasein dann eine Ganzheit möglich? In diesem Zusammenhang kommt die Analyse des Todes ins Spiel 863. Laut Heidegger gründet diese Inkonsistenz in einem falschen Verständnis des Todes. Heidegger argumentiert, dass man den Tod alltäglich als ein ›Ereignis‹ versteht, d. i. als etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt des Lebens geschieht und dessen Ende bedeutet. Diese Konzeption gründet sich laut Heidegger sowohl im biologischen Verständnis des Todes als Ableben, d. i. als die Beendigung der lebensnotwendigen organischen Funktionen 864 als auch in der öffentlichen Ausgelegtheit, welche den Tod als etwas Unpersönliches und Noch-nicht-Vorhandenes auslegt 865. Im Gegensatz dazu interpretiert Heidegger den Tod als Sterben, d. i. als Prozess, Verlauf 866. Heidegger schlägt die formale Anzeige ›Sein zum Tode‹ 867 (bzw. ›Sein zum Ende‹ 868) vor, um auf diesen Prozess hinzuweisen. Das, was damit angezeigt wird, ist, dass das Leben (das Existieren) eine ständige Erfahrung des Lebens selbst als Endliches ist. Anders gesagt, ist ›Sein zum Ende‹ eine Seinsweise des Daseins, nämlich Existieren im Verständnis der eigenen Endlichkeit. Tod, Sterben, Sein zum Tode und Sein zum Ende sind Ausdrücke, die Heidegger benutzt, um auf das wesentliche Verständnis der Sterblichkeit bzw. der Endlichkeit des Lebens hinzuweisen, welches sich im Laufen des Lebens vollzieht. In der Erfahrung des Lebens erfährt sich das Dasein als sterblich bzw. als endlich 869. Kurz: Die Erfahrung des Ebd., S. 236. Vgl. SZ, § 45. Heidegger versucht das Dasein (strukturell) als Ganzes zu zeigen. Eine Interpretation dieser Aufgabe Heideggers angesichts Husserls Lehre von den Ganzen und Teilen (Hua XIX/1, III) findet sich in Øvergessen, 1998, Kap. IX. 864 Vgl. SZ, S. 247. 865 Vgl. ebd., S. 253; GA 20, S. 432; 435–438. 866 Vgl. SZ., S. 247. 867 Vgl. ebd., S. 234. 868 Vgl. ebd., S. 245. 869 Insofern das Dasein nur seine eigene Existenz erfahren kann, kann es den Tod bzw. die Endlichkeit seiner Existenz nicht in Bezug auf die Andere erfahren. Laut Heidegger kann das Dasein den Tod des Anderen nur als Ereignis erfahren (vgl. SZ, § 47). Der Tod des Anderen werde als Ableben und nicht als Sterben verstanden. Carman drückt diese Idee so aus: Das Dasein kann den Tod des Anderen nur in einer Perspektive der dritten Person (third-person point of view) bzw. als Beobachter erfahren. So wird der Tod als Ereignis verstanden. Die Perspektive der ersten Person (first-person point of view) erlaubt es mir hingegen, den Tod als etwas Eigenes zu verstehen, d. i. als Er862 863

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Todes ist nicht eine Erfahrung des Endes des Lebens, sondern eine Erfahrung des Lebens als Endliches; der Tod ist so ein positiver Aspekt des Lebens selbst 870. In diesem Sinne sagt Heidegger: »Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist.« 871 Mit der Erfahrung der Endlichkeit werden zwei Aspekte der Existenz bezeugt: Erstens wird die Existenz als Mögliches dargestellt und zweitens wird dieses Möglichsein als etwas Persönliches erkannt 872. Anders gesagt, hilft die Erfahrung des Todes bzw. die Erfahrung der Sterblichkeit dem Dasein, sich als möglich und je meines zu verstehen: Der Tod weist einerseits auf die Erfahrung der Endlichkeit als etwas Eigenes hin, und andererseits auf das Existieren als etwas, dass jedes Dasein selbst übernehmen muss. Der Tod eröffnet das Dasein als Existenz: Jemeinigkeit und Zusein. Durch die Analysen des Todes erfasst die heideggersche Untersuchung das Dasein als eigenes Möglichsein. Deswegen ist der Tod, so argumentiert Heidegger, die ›äußerste‹ Möglichkeit: Sie verweist auf

möglichung meiner Möglichkeiten bzw. als die Endlichkeit meines Entwurfs (vgl. Carman, in Dreyfus; Wrathall (Hrsg.), 2005, S. 290–291). Levinas argumentiert im Gegensatz dazu, dass die Phänomenalität des Todes des Anderen reicher ist. Levinas zeigt, dass es möglich ist, den Tod des Anderen als Möglichkeit und nicht nur als Ereignis zu verstehen. Laut Levinas ist die Erfahrung des Anderen als Anderer eine Erfahrung der Möglichkeit, diesen Anderen ermorden zu können. Die Erfahrung des Anderen ist genau eine Erfahrung desselben als Sterblichen. Hier wird der Tod als Möglichkeit eines Möglichseins erfahren bzw. verstanden. Laut Levinas ist dann die Erfahrung des Anderen eine Erfahrung der Zeit (eigentlich die ursprüngliche Erfahrung der Zeit und deswegen die Konstitution der Transzendenz. Vgl. Levinas, 1976, S. 436 f.; Levinas, 2003). 870 In diesem Sinne sagt Heidegger in der Abhandlung Der Begriff der Zeit, dass in dem eigentlichen Verständnis des Todes (er nennt es ›das Vorlaufen zu dem Vorbei‹) das Dasein »in das Nochdasein seiner selbst [zurückgeworfen wird].« (GA 64, S. 117). Es ist auch wichtig zu betonen, dass laut Heidegger eine der schlimmsten Ergebnisse des verfallenen Verständnisses die Dissoziation des Todes und des Lebens ist, weil das Leben so nicht völlig verstanden wird (vgl. GA 62, S. 358 f.; SZ, S. 254). 871 SZ, S. 245. 872 In diesem Sinne entspricht der Tod, wie Blattner darauf hinweist, den von Jaspers beschriebenen Grenzsituationen (siehe dazu Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, S. 229 ff.). Der Tod, schreibt Blattner, »enthüllt die Grenzen der Existenz«. Die Grenzesituation des Todes »ist wo die Endlichkeit unseres Seins die Fähigkeit, zu sein, herausfindet.« (Blattner, 2009, S. 149. Eigene Übersetzung. Siehe auch Blattner, 1994). Heidegger selbst verknüpft seine Forschung mit Jaspers Konzept der Grenzsituation (vgl. SZ, S. 249, Fußnote Nr. 1; GA 64, S. 48, Fußnote Nr. 2). Siehe auch Kisiel, 2002, S. 153 ff.

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das Dasein in seinem zeitlichen Sinne: Die Endlichkeit 873. Damit ist die Sorge als Ganzheit verständlich geworden, und zwar nicht als die Vereinigung von Wirklichkeiten, sondern als Zeitlichkeit (der ursprüngliche Sinn der Sorge). Die bezeugende Erfahrung des Todes bzw. der Endlichkeit (1) verweist auf die Sorge in ihrer ursprünglichen Einheit und (2) verdeutlicht diese Einheit als Zeitlichkeit: Das Dasein kann sich um sich selbst, um die Anderen und um die innerweltlichen Seienden sorgen, weil es sich auf Möglichkeiten entwerfen kann, die nur für ein endliches Seiendes da sind. Diese Erfahrung bezeugt letztlich das Intentionalsein als endlich und deswegen zeitlich 874. Die Endlichkeit (das Sein zum Ende) kann jedoch in verschiedenen Modi erlebt werden. Das Dasein kann sich selbst (als endlich) entweder eigentlich oder uneigentlich verstehen. In SZ wird festgestellt, dass das uneigentliche Verständnis des Todes dieses Phänomen einerseits als etwas auslegt, das noch nicht passiert ist, aber später passieren wird, und andererseits als etwas Unpersönliches betrachtet, das zu allen und zu niemandem gehört 875. Dieses Verständnis verhüllt laut Heidegger den ursprünglichen Sinn des Todes (d. i. das Sein zum Ende bzw. die Endlichkeit) und damit den zeitlichen Charakter des Daseins als Möglichsein 876. Es wird auch darauf hingewiesen, dass das eigentliche Verständnis bzw. die eigentliche Erfahrung des Todes (als bezeugende Erfahrung) auch eine andere existenzielle Möglichkeit fördern kann, nämlich die Möglichkeit eines Verständnisses, welches sich weder auf die besorgenden Seienden noch auf die öffentlichen Möglichkeiten, sondern auf das eigene Seinkönnen bezieht. Heidegger nennt diese Art des Verstehens »Vorlaufen in die Möglichkeit« 877. Dieses ›Vorlaufen‹ in die Möglichkeit (der Endlichkeit) bedeutet nicht, den Tod zu verwirklichen, im Gegenteil es bedeutet, das Existieren in Bezug auf das Mögliche (aufgrund der Endlichkeit) zu verstehen 878. Über diesen bezeugenden Charakter des Todes kann man in SZ sehr deutlich lesen: Vgl. SZ, S. 258–259; GA 64, S. 115 ff. Heidegger argumentiert, dass sich das Dasein in der Erfahrung des Todes (d. i. des eigenen Seins als Sein-zum-Tode) als endlich zeitigt (vgl. SZ, S. 329–330). 875 Vgl. SZ, S. 253. 876 Vgl. ebd., S. 253 ff. 877 Vgl. ebd., S. 262. 878 Vgl. GA 20, S. 439. 873 874

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Der Tod als Möglichkeit gibt dem Dasein nichts zu ›Verwirklichendes‹ und nichts, was es als Wirkliches selbst sein könnte. Er ist die Möglichkeit der Unmöglichkeit jeglichen Verhaltens zu…, jedes Existierens. Im Vorlaufen in diese Möglichkeit wird sie ›immer größer‹, das heißt sie enthüllt sich als solche, die überhaupt kein Maß, kein mehr oder minder kennt, sondern die Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz bedeutet. (SZ, S. 262)

Jede Möglichkeit des entwerfenden Daseins bringt die Möglichkeit der Unmöglichkeit dieses Seinkönnens mit sich. Der Mensch kann ›in jedem Moment‹ aufhören, zu leben. In diesem unbestimmten ›in jedem Moment‹ öffnet sich der zeitliche Horizont des Lebens und die Erfahrung des (Verständnisses des) Todes ist die Erfahrung dieses Faktums. Die Erfahrung des (Verständnisses des) Todes kann in diesem Sinne dem Dasein sein Intentionalsein bzw. seine Freiheit vor Augen führen. Dieses ontologische Verständnis wird von der ontischen Möglichkeit der eigentlichen Existenz begleitet. Laut Heidegger kann sich das Dasein in diesem Verständnis »je schon [dem Man] entreißen.« 879 Nicht nur wird verstanden, dass das Dasein in der Alltäglichkeit im Man verloren ist, sondern auch, dass diese Verlorenheit aufgehoben und so das Seinkönnen angeeignet werden kann. Heidegger stellt fest, dass das eigentliche Verständnis den Tod als die eigenste und unbezügliche Möglichkeit auslegt und dass diese Auslegung darauf hinweist, dass zu der Individualität des Daseins eine Verantwortung für sich selbst gehört: »Das Vorlaufen in die unbezügliche Möglichkeit zwingt das vorlaufende Seiende in die Möglichkeit, sein eigenstes Sein von ihm selbst her aus ihm selbst zu übernehmen.« 880 Diese Unbezüglichkeit, so Heidegger, vereinzelt das Dasein. Diese Vereinzelung, wie im vorherigen Paragraphen erklärt wurde, ist keine Einkapselung, sondern »eine Weise des Erschließens des ›Da‹« 881. Dies bedeutet, dass das Dasein im ›Vorlaufen‹ die besorgenden Seienden, die anderen Existierenden und sich selbst aus dem Bezug des eigenen Seinkönnens heraus erschließt. Heidegger schreibt: Das Dasein ist eigentlich es selbst nur, sofern es sich als besorgendes Sein bei… und fürsorgendes Sein mit… primär auf sein eigenstes Seinkönnen, nicht aber auf die Möglichkeit des Man-selbst entwirft. (SZ, S. 263) 879 880 881

SZ, S. 263. Ebd., S. 263–264. Ebd., S. 263.

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Die Erfahrung des Todes erschafft so eine Modifikation in der Referenzialität des Verstehens, d. i. des Erschließens. Der Bezug ist nicht mehr das alltägliche Seiende oder die öffentliche Möglichkeit, sondern die eigene Endlichkeit und damit die Verantwortung für den eigenen Entwurf 882. Diese Erfahrung ermöglicht es dem Dasein, es selbst zu sein. Was bedeutet es aber in der Weise ›des eigenen Selbst‹ zu sein? Das ›eigene Selbst‹ ist, so wurde bereits erwähnt, eine Modifikation des Man 883. Dies bedeutet, wie Rodríguez erklärt, dass sein Eigenes zu sein, nur aus einer Wiedergewinnung dessen, was das Man ausgelassen hat, bestehen kann 884. Dies ist die Wiedergewinnung der Wahl 885, sich für die eigenen Möglichkeiten zu entscheiden. Die Eigentlichkeit kann nicht gewählt werden. Sie geschieht in den bezeugenden Erfahrungen. Sie eröffnet allerdings die Wahl eigener Möglichkeiten. Laut Heidegger zeigt sich die Möglichkeit des Todes auch als unüberholbar. Das verfallende Verständnis des Todes, so Heidegger, bietet dem Dasein Trost und Beruhigung und verhüllt so das Sein zum Ende 886. Anstatt zu fliehen, eignet sich das vorlaufende Dasein die Unüberholbarkeit des Todes an und wird »frei für sie.« 887 Heidegger schreibt: Das vorlaufende Freiwerden für den eigenen Tod befreit von der Verlorenheit in die zufällig sich andrängenden Möglichkeiten, so zwar, daß es die faktischen Möglichkeiten, die der unüberholbaren vorgelagert sind, allererst eigentlich verstehen und wählen läßt. (SZ, S. 264)

Zu sein in der Weise des eigenen Selbst bedeutet, sich als ›Selbst‹ in Bezug auf das eigene Möglichsein und nicht in Bezug auf die öffentliche Ausgelegtheit zu verstehen und sich so für die eigenen Möglichkeiten als eigene entscheiden. Nun ist der Tod laut Heidegger nicht nur eine eigenste, unbezügliche, unüberholbare, sondern auch eine gewisse Möglichkeit. Die Gewissheit des vorlaufenden Verständnisses des Todes liegt darin,

882 883 884 885 886 887

Siehe auch SZ, S. 329–330; GA 29/30, S. 425–426; GA 20, S. 440–441. Vgl. SZ, S. 267. Vgl. Rodríguez, 2015b, S. 186. Vgl. SZ, S. 268. Vgl. ebd., S. 253 ff. Ebd., S. 264.

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den eigenen Tod als eigenes für wahr zu halten 888. »Tod ist je nur eigener. […] Im Vorlaufen kann sich das Dasein erst seines eigensten Seins in seiner unüberholbaren Ganzheit vergewissern.« 889 Das vorlaufende Verständnis vereinzelt, befreit, macht verantwortlich und zeigt dem Dasein die Wahrheit seines Seins (als gewiss endlich). Darüber hinaus, insofern das Vorlaufen den Tod als unbestimmt auslegt, weist diese Auslegung durch eine ständige Bedrohung (die nicht die Seinsart der Innerweltlichkeit, sondern des Daseins selbst aufweist) darauf hin, dass die Existenz endlich ist. Zusammenfassend: Die Erfahrung der Endlichkeit zeigt nicht nur die Struktur des Erfahrenden (die Sorge), sondern auch den konkreten Sinn dieser Struktur (die Zeitlichkeit). Die Erfahrung verweist auch auf den modalen Charakter dieser Zeitlichkeit und damit auf die existenziellen Möglichkeiten der Eigentlichkeit und der Verantwortung. Schließlich erleuchtet sie den ursprünglichen Sinn des Sterblich-Seins: In der Erfahrung der Endlichkeit zeigt sich der Tod in seinem ursprünglichen Sinn, nämlich als »die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins« 890. Die methodische Nutzung der Erfahrung des (Verständnisses des) Todes als Bezeugung in SZ ist somit sehr deutlich. Dennoch sind diese Erfahrungen des Todes und der Angst nicht die einzigen, die Heidegger benutzt, um seine phänomenologischen Bestimmungen zu überprüfen. Diese Überprüfung erreicht ihren Höhepunkt in der Analyse der Erfahrung des Gewissensrufs.

Der konkrete Sinn der Gewissheit des Todes kann nur durch die (bezeugende) Erfahrung einer Stimmung zugänglich gemacht werden. Heidegger argumentiert: Während es Stimmungen gibt, die sich auf das verfallende Verständnis des Todes als Ereignis beziehen und so den Sinn der Gewissheit des Todes verstellen (z. B. das Beruhigt-sein (vgl. SZ, S. 253–254) oder das Gefürchtet-sein (vgl. ebd., S. 254–255)), gibt es auch Stimmungen (wie die Angst (aufgrund der Vereinzelung)) die dazu geeignet sind, um auf den konkreten Sinn der Gewissheit des Todes zu verweisen (vgl. ebd., S. 264 ff.). 889 SZ, S. 265. 890 Ebd., S. 258–259. 888

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γ.

Die Erfahrung des Rufs des Gewissens als Bezeugung der Nichtigkeit (bzw. des Grundseins) des Daseins und des situationell-individuellen Charakters des Selbstseinkönnens

Die letzte bezeugende Erfahrung, welche in SZ analysiert wird, ist die Erfahrung des Gewissensrufs. Laut Heidegger verweist die Erfahrung des Gewissensrufs auf den Grundcharakter des Existierens und, genau wie die Angst und der Tod, auf die konkrete situationell-individuelle Metamöglichkeit der Eigentlichkeit 891. Die Analysen (SZ, § 55) beginnen mit der Anmerkung, dass sich das Gewissen faktisch als Ruf ausdrückt. Der Ruf des Gewissens ist, argumentiert Heidegger, eine Art und Weise der Rede. Dieser Ruf gibt »etwas zu verstehen«, bzw. er erschließt und muss deswegen als ein Modus der Erschlossenheit interpretiert werden 892. Als Modus der Rede weist der Ruf des Gewissens einen/eine Rufer/in (bzw. einen/ eine Mitteilende/n), einen/eine Angerufene/n (bzw. einen/eine Adressaten/in) und einen Inhalt auf. Heidegger beginnt die Analyse des Rufs des Gewissens als Rede (SZ, § 56) mit der Behauptung, dass es unbestreitbar jedoch auch unbestimmt ist, dass in dieser Erfahrung der/die Angerufene das Dasein selbst ist 893. Das Dasein ist aber, das haben die vorherigen Analysen festgestellt, ein modales freies Seiendes, welches sich selbst bezüglich der durchschnittlich besorgenden Alltäglichkeit versteht. Dementsprechend legt Heidegger das Man-Selbst (d. i. die Weise, in der sich das Dasein alltäglich selbst versteht) als das fest, welches faktisch den Ruf alltäglich entweder erhört oder ignoriert. Der Gewissensruf, so Heidegger, ruft das Man-Selbst. Nun fragt sich Heidegger, »woraufhin es angerufen [wird]?« Und antwortet: »[a]uf das eigene Selbst.« 894 Damit will er darauf hinweisen, dass sich das Dasein durch das Erhören des Rufs auf sich selbst beziehen kann, und zwar nicht in Bezug auf die öffentliche Ausgelegtheit. In der Erfahrung des Rufs erscheint nochmals das Phänomen der Vereinzelung, welches das In-der-Welt-sein nicht aufhebt, sondern ein In-der-Welt-(selbst)-sein erschafft 895. Siehe dazu Vigo, in Rodríguez (Hrsg.), 2015. Zur Darstellung der Analyse Heideggers dieses Phänomens siehe Stähler, 2010. 892 SZ, S. 270. 893 Vgl. ebd., S. 272. 894 Ebd., S. 273. 895 Vgl. ebd. 891

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Nun macht die Erfahrung des Angerufen-Werdens deutlich, dass das jeweilige Dasein das Angerufene ist, doch in dieser Erfahrung bleibt der Rufer völlig unbestimmt. Für Heidegger sind diese Unbestimmtheit und Unbestimmtbarkeit positive phänomenale Tatbestände, die bekunden, »daß der Rufer einzig aufgeht im Aufrufen zu…« 896. Dies bedeutet ontologisch, dass der Rufer untrennbar von dem Ruf ist, und, dass er immer in der Weise des Rufens ist. Die alltägliche Erfahrung des Hörens dieses Rufs weist darauf hin, dass es das Dasein selbst ist, was sich ruft 897. Wenn dem so ist, dass Rufer/in und Angerufene/r beide dasselbe Dasein sind, muss noch nach dem ontologischen Unterschied zwischen den Seinsweisen dieser zwei gefragt werden. Der Ruf des Gewissens, erklärt Heidegger, ist nicht etwas, das das Dasein willentlich ausführt: »Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.« 898 Dieser Tatbestand, so Heidegger, muss in Bezug auf die Daseinsanalyse interpretiert werden, weil die Erfahrung des Gewissensrufs eine daseinsmäßige Erfahrung ist. Die Analysen der Angst und der Unheimlichkeit haben suggeriert, dass sich das Dasein in Bezug auf besondere Erfahrungen selbst verstehen kann, ganz ohne Bezug auf die besorgenden Seienden und die öffentlichen Möglichkeiten der Alltäglichkeit. In diesem Verständnis gibt sich das Dasein etwas zu verstehen, nämlich seine Selbigkeit. Heidegger argumentiert, dass es so auch mit der Erfahrung des Gewissensrufs ist und, dass dieses nahelegt, dass der/die Rufer/in »das Dasein in seiner Unheimlichkeit, das ursprüngliche geworfene In-der-Welt-sein als Un-zuhause, das nackte ›Daß‹ im Nichts der Welt [ist].« 899

Ebd., S. 275. Ebd. 898 SZ, S. 275. In der (christlich) theologisch-religiösen Tradition wird die Stimme des Gewissens mit der Stimme Gottes im Menschen gleichgesetzt: »[E]s wurde in der Tradition metaphorisch dargestellt als innere Stimme, die in ihrem Warnen, Fordern, Richten als die Stimme Gottes im Menschen gehört wird.« (Kirchner et al., 2013, S. 262–263). Ein solcher Ansatz muss aber die Seinsart Gottes, des Menschen (als ens creatum), der heiligen Stimme und des ›in‹ (dem Menschen) erklären. Eine solche Erklärung unterscheidet sich von der Daseinsanalytik in ihrer Methode und ihrem Gegenstand. Laut Heidegger muss die Seinsart des/der Rufers/in in Bezug auf die Daseinsanalytik interpretiert werden, da der Ruf des Gewissens ein Phänomen des Daseins ist (vgl. SZ, S. 275–276). 899 SZ, S. 276–277. 896 897

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§ 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung

Der/die Rufer/in ist dementsprechend nichts ›Innerweltliches‹, sondern das eigene Sein, welches sich in der Unterbrechung des alltäglichen vertrauten Umgehens mit der Welt als Bezug seines eigenen Könnens zeigt. Während der/die Angerufene das Man-Selbst ist, ist der/die Rufer/in das eigene Selbst, welches in der Vereinzelung bezeugt wird. Darüber hinaus zeigt laut Raffoul die Spannung zwischen dem eigenen Selbst, welches ruft, und dem Man-Selbst, welches angerufen wird, eine Andersheit (alterity) im eigenen Sein des Daseins. Nur in der Erfahrung dieser Spannung kann das Selbst als (formaler) Selbstbezug erfahren werden. Das Selbst ist nicht, so erklärt Raffoul, der ›Autor‹ des Rufs des Gewissens, es ist aber auch nicht das Angerufene, sondern es manifestiert sich als der Ruf 900. Hier gilt die Erfahrung des Gewissensrufs als Bezeugung des Selbstbezuges und Überprüfung der Jemeinigkeit-Anzeige. Nun da Rufer/in und Angerufene/r erkannt worden sind, muss sich die Analyse nach dem Inhalt des Gewissensrufs fragen. Was sagt der Ruf aus? Heidegger antwortet: »Streng genommen – nichts.« 901 Der Gewissensruf hat zwar die Seinsart der Rede, aber nicht die Form einer Aussage. In ihm wird ›nichts‹ ausgesprochen, aber dies bedeutet nicht, dass in ihm nichts verstanden wird. Bezüglich der vorangegangenen Erklärungen dieser Arbeit bedeutet dies, dass im Ruf des Gewissens das Verstandene eine Bezeugung des Beredeten und kein Zeugnis desselben ist. Anders gesagt, wird im Ruf das Beredete (als Inhalt) völlig und direkt verstanden. Direkt, weil der Ruf als Bezeugung auf das Phänomen verweist, ohne sich auf einen Diskurs zu beziehen. Nun muss noch klargestellt werden, worauf verwiesen wird? Heidegger schreibt: »Dem angerufenen Selbst wird ›nichts‹ zu-gerufen, sondern es ist aufgerufen zu ihm selbst, das heißt zu seinem eigensten Seinkönnen.« 902 Der Ruf weist auf das eigentliche Selbstseinkönnen hin. Der Ruf informiert das Dasein nicht über Weltereignisse und hat auch nicht die Form eines inneren Dialogs. Er hat vielmehr die Seinsart eines Hinweises: Er richtet das Verständnis auf das eigene Seinkönnen 903. In diesem Hinweis wird aber etwas verstanden.

Raffoul, in Raffoul; Pettigrew (Hrsg.), 2002, S. 215. SZ, S. 273. 902 Ebd. 903 Laut Heidegger ist das Schweigen die Weise, in der sich der Ruf zu verstehen gibt (vgl. SZ, S. 273). Damit drückt Heidegger aus, dass sich der Ruf nicht auf öffentliche 900 901

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3 · Der methodische Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens

Was genau gibt der Ruf zu verstehen? Um diese Frage zu beantworten, appelliert Heidegger phänomenologisch an die alltägliche Erfahrung des Hörens bzw. Verstehens dieses Rufs. Heidegger beginnt die ontologische Forschung über den Inhalt des Rufs des Gewissens in § 58 SZ mit der Erklärung, dass das Wozu des Aufrufens nicht auf eine bestimmte existenzielle Möglichkeit des Daseins reduziert werden darf, weil sich der Ruf des Gewissens als eine Modifikation der Erschlossenheit (bzw. der Richtung des Verstehens) gezeigt hat. Das Wozu des Aufrufens, d. i. das, was hier der Inhalt des Rufs genannt wird, muss vielmehr als Bedingung der Möglichkeit des je faktisch-existenziellen Seinkönnens interpretiert werden 904. Die Reduktion des Inhalts auf eine existenzielle Möglichkeit, z. B. auf das, was (nicht) gemacht werden soll, verdeckt laut Heidegger seinen ursprünglichen Sinn 905. Anders gesagt: Die Identifizierung des Rufs des Gewissens mit einem moralischen Sollen (bzw. mit einer moralischen Pflicht) verstellt dieses Phänomen und seinen Inhalt 906. Eine solche Interpretation reduziert den normativen Charakter der Existenz auf die Anpassung an die öffentliche Moral. Diese uneigentliche Normativität ist jedoch nicht die einzige, die zum Dasein gehört. Zum Dasein gehört auch eine andere Normativität, die vom Ruf des Gewissens als Grundsein bezeugt wird 907. Die vorherigen Analysen des Moralitätsbereichs haben jedoch gezeigt, dass das durchschnittliche Dasein ›den Ruf des Ethischen‹ in Bezug auf die moralische Norm versteht. Die Stimme des Man (und Diskurse bezieht, sondern vielmehr (durch Schweigen) das Gerede der Alltäglichkeit beschwichtigt und so den Selbstbezug der Existenz ermöglicht. 904 Vgl. SZ, S. 280. 905 Wie Geniusas erkennt, ist die Stimme des Man diejenige, die das Dasein dazu bewegt, das vom Ruf ausgedrückte Sollen (d. i. die Verantwortlichkeit), auf eine bestimmte Möglichkeit des Moralischen (bzw. auf das moralische Sollen) zu reduzieren (vgl. Geniusas, 2009). 906 Vgl. SZ 2, S. 280. Rodríguez erklärt, dass die ontologische Interpretation des Gewissens die moralische bzw. normative Dimension des konkreten Gewissens nicht vollständig erfasst. Laut Rodríguez muss die existenziale Interpretation durch die ›vulgare‹ Interpretation des Gewissens ergänzt werden (vgl. Rodríguez, 2015b, S. 195–196). Für die vorliegende Arbeit bedeutet dies, dass die Normativität der Existenz (bzw. des situierten Seinkönnens) die Normativität des Moralitätsbereichs nicht ersetzen kann und dass Letztere nicht auf die Normativität der Existenz reduziert werden kann (obwohl sie ihre Bedingung der Möglichkeit ist). Das Dasein bewegt sich vielmehr zwischen beide Normativitäten. Beide Normativitäten bilden die moralische Dimension des Lebens. Siehe dazu § 35 der vorliegenden Arbeit. 907 Dies betont auch Ruoppo. Siehe Ruoppo, 2017, S. 206 ff.

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§ 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung

nicht des Gewissens) ist diejenige, die uns diktiert, was man (nicht) machen soll. In Bezug darauf argumentiert Heidegger, dass die Untersuchung des Inhalts des Rufes zwar von der alltäglichen Gewissenserfahrung geleitet werden muss, aber nicht im alltäglichen Gerede stehen bleiben darf. Diesem Gedankengang folgend, fängt Heidegger die Analyse mit der Beobachtung an, dass die alltägliche Erfahrung des Gewissensrufs die Erfahrung einer Schuld ist. Wie ist diese Schuld ontologisch existenzial zu verstehen? Die hermeneutisch-phänomenologische Vorgehensweise erkennt, dass das öffentliche Geredete auf das Beredete (d. h. auf den ursprünglichen Sinn des Phänomens) verweisen kann, obwohl die Möglichkeit des Scheins (d. h. der Verstellung des ursprünglichen Sinns) vorhanden bleibt 908. Die Interpretation des Phänomens muss sich dementsprechend auf das Phänomen selbst richten, um die Verweisung (als treffend oder verstellend) zu überprüfen. Das Sich-auf-das-Phänomen-Richten kann, so haben die methodischen Anmerkungen nahegelegt, von einer formalen Anzeige geleitet werden. Bezüglich des Schuldsphänomens wählt Heidegger die Anzeige ›ich bin schuldig‹, da er eine intime Beziehung zwischen ›Schuldig (sein)‹ und dem Ich (bin) erkennt 909. Mit dieser Anzeige wird angezeigt, 1. dass die Schuld immer Schuld von jemandem ist, und 2. dass aus diesem Grund die Schuld nicht als etwas Universelles, sondern in Bezug auf den situativen und persönlichen Charakter des Existierens verstanden werden soll. Laut Heidegger versteht man die Schuld alltäglich als Produkt eines Akts. Die Schuld wird nicht als etwas, das ich bin, verstanden, sondern als etwas, das ich werde. Man versteht das Schuldigsein entweder als ›Schulden haben‹ (man ist jemandem etwas schuldig), als ›schuld sein an‹ (d. i. als Ursache-Sein von etwas oder VeranlassungSein für etwas) oder als ›sich schuldig machen‹ (d. h. »durch das Schuldhaben an einem Schuldenhaben ein Recht verletzen und sich strafbar machen«) 910. Hier wird das Schuldigsein auf die existenzielle Möglichkeit reduziert, bei Seienden mit Anderen zu sein. Dieses

Heidegger geht so in der Analyse des Gewissens vor. Er schreibt: »[I]n jedem Fehlsehen liegt mitenthüllt eine Anweisung auf die ursprüngliche ›Idee‹ des Phänomens.« (SZ, S. 281). 909 Vgl. SZ, S. 281. 910 Vgl. ebd., S. 281–282. 908

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Schuldigwerden (an Anderen) verstellt laut der gegebenen Anzeige den ursprünglichen Sinn des Schuldigseins. Die Anzeige ›Ich bin schuldig‹ weist auf die Inkonsistenz dieser Interpretation hin: Das Dasein versteht sich als schuldig in Bezug auf die Andere und auf die Welt, und so wird der Bezug auf das Selbst verdeckt. Laut Heidegger ist es deswegen nötig, das Schuldigsein als eine Konstitution des Ich-bin, d. i. des jeweiligen Daseins (bzw. als Bedingung für das faktische Verhalten, welches das Dasein ›schuldig macht‹), zu interpretieren. Um auf das strukturelle Schuldigsein hinzuweisen, schlägt Heidegger eine formale ›Idee‹ von schuldig (sein) vor, welche die Interpretation des Schuldigseins in Bezug auf das eigene Sein des Daseins zurückführt: »Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein – das heißt Grundsein einer Nichtigkeit.« 911 In diese formale Idee schließt Heidegger die Charaktere des Mangels (durch ein Nicht bestimmt sein) und des Grundseins mit ein, auf die die existenziellen Möglichkeiten des ›Schulden-Habens‹ und des ›Schuldig-Seins-an‹ hingewiesen haben. Mit Anschluss an diese Idee lässt sich die These entwickeln, dass das Dasein nicht schuldig wird, sondern in seinem Sein schuldig ist. Dies bedeutet, dass der Sinn des Mangels und der Sinn des Grundes in Bezug auf das Sein des Daseins interpretiert werden müssen. In den Analysen des Intentionalseins wurde gesagt, dass der Entwurf des Daseins ein geworfener Entwurf ist, d. h., dass das existenzielle Sich-auf-Möglichkeiten-Entwerfen immer aus und von der Faktizität beeinflusst und bestimmt wird. Heidegger drückt diese These im Schuldparagraphen mit Genauigkeit aus: »[Das Dasein] ist nie existent vor seinem Grunde, sondern je nur aus ihm und als dieser.« 912 Hier wird nachdrücklich bemerkt, dass das Dasein seine Faktizität nicht wählen kann und dennoch all seine Entscheidungen von dieser Faktizität bestimmt sind. Grund-sein bedeutet als geworfenes zu existieren. So ist das Grundsein die existenziale Konstitution des Daseins, in der die Existenzialität gründet 913. Ebd., S. 283. Ebd., S. 284. 913 Der Begriff des ›Grundes‹ bei Heidegger wurde in der Forschungsliteratur, so erklärt Crowell, auf verschiedene Weisen interpretiert. Zum einen wurde der Grund als das interpretiert, was unerreichbar ist, d. i. das, was sich das transzendentale Subjekt nicht begründen kann und in dem es aber trotzdem selbst begründet ist (Gethmann); zum anderen wurde es als Kosmos oder Natur (das ›Übermächtige‹, vgl. GA 26, S. 13) gesehen; außerdem wurde es als Sprache und Tradition (Gadamer), oder als Hinter911 912

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§ 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung

Nun ist klar, dass dieses Grundsein negativ ist: »Grundsein besagt demnach, des eigensten Seins von Grund auf nie mächtig sein.« 914 Diese Nichtigkeit des Grundes ist nach Heidegger dreifach. Die drei Aspekte der Nichtigkeit wurden schon in den Analysen der negativen Freiheit erwähnt, doch hier ist es wichtig, sie nochmals in Erinnerung zu rufen. 1. Nichtigkeit der Wahl: Das Dasein ist existent und muss sich für Möglichkeiten entscheiden. Doch immer, wenn es sich für eine Möglichkeit entscheidet, entscheidet es sich gleichzeitig dafür, andere Möglichkeiten nicht zu wählen. Kurz: Im Wählen muss das Dasein gleichzeitig auf Möglichkeiten verzichten. 2. Nichtigkeit des (Grund)Seins: Das Sein des Daseins ist ein Möglichsein und muss zwischen seinen Möglichkeiten entscheiden, d. h. es muss Grund sein. Dennoch kann sich das Dasein weder dafür entscheiden, nicht entscheiden zu müssen (d. h. es kann nicht der Grund dieses (Grund-) Seins sein), noch kann es das Woher dieser Entscheidungen bestimmen (aufgrund seiner Geworfenheit). In diesem Sinne sagt Heidegger: »[d]er Entwurf selbst [ist] wesenhaft nichtig.« 915 Das Dasein kann seinen Grund nicht wählen, doch alle seine Entscheidungen werden von diesem Grund beeinflusst und bestimmt. 3. Tendenz zur Uneigentlichkeit: Die Analysen haben gezeigt, dass zum Sein des Daseins eine Neigung gehört, in der Uneigentlichkeit zu verfallen. Das grundpraktiken, die zu einem sozio-kulturellen Milieu gehören (Dreyfus), ausgelegt etc. (vgl. Crowell, 2013, S. 206). Es kann gesagt werden, wie schon in der Analyse der Befindlichkeit und der Faktizität festgestellt wurde, dass dieser Begriff als der Standpunkt (d. i. als das Woher) interpretiert werden muss, von dem aus das Dasein entscheiden (bzw. existenzial sein) muss. Dies beinhaltet jede qualitative Charakteristik des jeweiligen Daseins: physische, psychologische, emotionale, sozio-kulturelle und sprachliche Charakteristiken, und zwar in einem persönlichen, individuellen und situationellen Sinne. 914 SZ, S. 284. 915 SZ, S. 285. Da es Existenzialität und Faktizität nur in einer Welt (d. h. bei Seienden und mit anderen Existierenden) gibt, ist das Dasein wesentlich Verfallenheit. Nun bedeutet dies nicht, wie Agamben nahelegt, dass es einen Vorrang der Uneigentlichkeit gibt und dass deswegen eine Aneignung (der Existenz) unmöglich ist (vgl. Agamben, 1988, S. 74). Es ist vielmehr, wie Heidegger in der Analyse der Nichtigkeit zeigt und auch Raffoul hervorhebt, dass die Aneignung negativ ist (vgl. Raffoul, in Raffoul; Pettigrew (Hrsg.), 2002, S. 211–212). Raffoul schreibt: »Das, was ich mir aneignen muss, ist das, was mir nie gehören kann, das, was mich meidet, das, was immer vor mir geflohen sein wird (what will always have escaped me).« (ebd. Eigene Übersetzung). Das Dasein ist verantwortlich (in einem ontologischen Sinne), so folgert Raffoul, »weil es in eine Existenz geworfen ist, welcher es eine Antwort geben muss.« (ebd.).

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Dasein existiert zunächst und zumeist als Privation seines eigenen Seinkönnens. Es wird deutlich, dass sich diese drei Aspekte der Nichtigkeit auf die drei Momente der Sorge beziehen: Entwurf (Existenzialität), Geworfenheit (Faktizität) und Verfallenheit. Für Heidegger bedeutet dies einerseits, dass die Sorge selbst negativ ist, und andererseits, dass »[d]as Gewissen sich als Ruf der Sorge [offenbart]« 916. Letzteres, weil im Ruf des Gewissens auf die drei Aspekte der Sorge hingewiesen wird. Heidegger schreibt: [D]er Rufer ist das Dasein, sich ängstigend in der Geworfenheit (Schonsein-in…) um sein Seinkönnen. Der Angerufene ist eben dieses Dasein, auf-gerufen zu seinem eigensten Seinkönnen (Sich-vorweg…). Und aufgerufen ist das Dasein durch den Anruf aus dem Verfallen in das Man (Schon-sein-bei der besorgten Welt). (SZ, S. 277)

Durch die bezeugende Erfahrung des Gewissensrufs wird auf die Sorge in ihrem ursprünglichen negativen Sinne verwiesen. Heidegger schreibt: Der Anruf ist vorrufender Rückruf, vor: in die Möglichkeit, selbst das geworfene Seiende, das es ist, existierend zu übernehmen, zurück: in die Geworfenheit, um sie als den nichtigen Grund zu verstehen, den es in die Existenz aufzunehmen hat. Der vorrufende Rückruf des Gewissens gibt dem Dasein zu verstehen, daß es – nichtiger Grund seines nichtigen Entwurfs in der Möglichkeit seines Seins stehend – aus der Verlorenheit in das Man sich zu ihm selbst zurückholen soll, das heißt schuldig ist. (SZ, S. 287)

Die Erfahrung des Gewissensrufs erlaubt dem Dasein sein Sein als Grundsein zu verstehen und dies bezeugt gleichzeitig seinen situativ-individuellen Charakter. In diesem Sinne darf die Nichtigkeit nicht als eine Privation der Verantwortung verstanden werden, im Gegenteil, sie ermöglicht den Selbstbezug des Möglichseins und damit die Verantwortung. Crowell sagt mit Recht: »Was der Ruf des Gewissens mir zu verstehen gibt, ist, dass das, was ich niemals in meine Macht bringen kann, das, was mich außerhalb meiner Reichweite begründet, dennoch meine Möglichkeit ist.« 917 Nur weil das Dasein begründet ist (in der vorliegenden Arbeit bedeutet dies: in SZ, S. 277. »[W]hat the call of concience gives me to understand is that that which I can never get in my power, that which grounds me beyond my reach, is nevertheless my possibilitiy.« (Crowell, 2013, S. 208).

916 917

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einem Moralitätsbereich begründet ist), und aus diesem Grund heraus entscheiden muss, kann es verantwortlich (accountable) sein, d. i., kann es Gründe für seine Entscheidungen anführen. Nach Crowell ist dementsprechend der normative Aspekt des heideggerchen Schuldigseins (bzw. Grundseins), dass es im Hören des Rufs möglich ist, die Ich-Perspektive (first person point of view) einzunehmen und damit nicht nur verantwortlich zu sein für das, was man tut, sondern auch für die Gründe, aus denen man es tut 918. In diesem Sinne betont Crowell, dass »für Heidegger das Gewissen nicht eine Art ›private Vernunft‹ (private reason) ist, sondern eine ontologische Bedingung für die Unterscheidung zwischen externen und internen Gründen, d. i. zwischen einem quasi-mechanischen Konformismus und einer Verpflichtung, auf die Normativität von Normen zu reagieren.« 919 Heideggers Argumentation besteht darin, dass sich das Dasein selbst alltäglich in Bezug auf das, was man sagt, bzw. bezüglich des Geredes, versteht und so seine Verantwortlichkeit und damit seine Individualität und situationelle Entscheidung verstellt. Laut Heidegger ist die Erfahrung des Gewissensrufs die Erfahrung, welche den ›Lärm‹ des alltäglichen Geredes unterbrechen kann und das Dasein sich selbst hören lässt 920. Als ›Unterbrechung‹ hat der Ruf des Gewissen zwei verschiedene Bedeutungen: 1. Er hat einen störenden Sinn: Der Ruf unterbricht die öffentliche Ausgelegtheit und bietet die existenzielle Möglichkeit der Modifikation des Man-Selbst zum eigentlichen Selbstsein als »Nachholen einer Wahl«. 2. Er hat den gleichursprünglichen Sinn eines Leitens: Laut Heidegger bedeutet Vgl. Crowell, in Polt (Hrsg.), 2005, S. 128 ff.; 2013, S. 209; 211–213; 222; 224–225. In diesem Sinne stellt Crowell fest, dass für Heidegger die Basis der Handlungsfähigkeit (agency) nicht die φρόνησις (wie bei Aristoteles) ist, sondern das Gewissen (Crowell, 2013, S. 283). Das Gewissen ist nicht die Fähigkeit, sich auf Normen zu beziehen, sondern es ist selbst normativ. Es ist normativ insofern es dem Dasein erlaubt, sich auf kritische Art und Weise auf den (öffentlichen) normativen Kontext zu beziehen, d. h. mit Charakter bzw. anhand eines Kriteriums (vgl. ebd., S. 292). Problematisch ist, dass dieses Kriterium zunächst vom Man gegeben wird (vgl. ebd.). In diesem Sinne besteht die Eigentlichkeit aus einer Auseinandersetzung mit dem normativen Kontext und aus einer Aneignung dieses Kontextes in Übereinstimmung mit meinen eigenen Möglichkeiten. Siehe auch Carman, in Dreyfus; Wrathall (Hrsg.), 2005, S. 291. 919 »For Heidegger, conscience is not itself a kind of private reason but an ontological condition for distinguishing between external and internal reasons, between a quasimechanical conformism and a commitment responsive to the normativity of norms.« (Crowell, 2013, S. 203–204). 920 Vgl. SZ, S. 271. 918

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›Nachholen einer Wahl‹ gleichzeitig ein »Wählen dieser Wahl«. Der Ruf des Gewissens modifiziert den leitenden Bezug des Verstehens zum eigentlichen Selbstsein und bietet die Möglichkeit, sich selbst als Entscheidendes zu wählen. Die Modifikation der Referenzialität, die in der Befindlichkeit der Angst und im Verständnis des Todes erkannt wurde, wird im Ruf des Gewissens artikuliert. In der Erfahrung des Rufs, in Crowells Worten, »verzichtet das Dasein auf alle Beschreibungen der dritten Person (third-person identifying descriptions)« und bezieht sich auf sich selbst als erste Person (first-person) 921. Diese ›erste Person‹ ist aber nicht nur als Akteur (als Subjekt der Handlung) (ontisch) zu verstehen, sondern als der ontologische Punkt des Selbstverständnisses und des eigenen Seinkönnens. Die Verantwortlichkeit, die laut Heidegger vom Man verstellt wird, wird hier ›sozusagen‹ entdeckt und erlebt, und dies nicht als Verantwortung für etwas, sondern als Verantwortlichkeit, d. h. als Grund der Verantwortung. Der Grund der Verantwortung ist nichts anderes als der situierte Selbstbezug des Seinkönnens. Raffoul erklärt diese Idee wie folgt: »Verantwortlichkeit ist nicht im Subjektsein (subjectness) begründet, sondern konstituiert das Selbst als dasjenige, welches angerufen wird.« 922 Anders gesagt, erfährt sich das Dasein in der Erfahrung des Angerufen-werdens primordial nicht als moralisches Subjekt (als Subjekt der Verantwortung), sondern als ein Selbst, dessen Sein Zusein ist (als Fundament der Verantwortung). Hierin gründet die Verantwortung und damit die Moralität. Aufgrund dieser Erfahrung der Verantwortlichkeit kann sich das Dasein jedoch ursprünglich als moralischer Akteur verstehen, indem es nicht nur (wie es zunächst im Moralitätsbereich geschieht) Normen folgen soll, sondern diese Normen auch begründen muss. In dieser Erfahrung ändert sich die Referenzialität des Selbstverständnisses und das Dasein versteht sich selbst weder in Bezug auf die besorgten Seiende, noch in Bezug auf die öffentliche Ausgelegtheit, sondern vielmehr in Bezug auf die eigene Verantwortlichkeit: d. h. dass es sein muss und dass es für dieses ›Zusein‹ verantwortlich ist. Das Dasein versteht sich selbst in dieser bezeugenden Erfahrung als eigenes Seinkönnen, als das Seiende, dessen Sein eine Erschließung der Welt um seiner selbst willen ist. Heidegger schreibt: 921 922

Crowell, 2013, S. 181–184. Eigene Übersetzung. Raffoul, in Raffoul; Pettigrew (Hrsg.), 2002, S. 207.

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»Das Gewissen offenbart sich demnach als eine zum Sein des Daseins gehörende Bezeugung, in der es dieses selbst vor sein eigenstes Seinkönnen ruft«. 923 Mit der Anerkennung der ›ersten-Person‹ ist, so betont Crowell, weder das ›Man-Selbst‹, noch das ›eigene Selbst‹ gemeint, sondern das Selbst (bzw. die Selbst-Beziehung) als (ontologische) Bedingung der Möglichkeit von beiden 924. Die Verantwortlichkeit gehört zum modalen Sein des Daseins und nicht zu einem spezifischen (ontischen) Modus dieses Seienden. Aus diesem Grund kann das Dasein sowohl verantwortlich als auch nicht-verantwortlich sein, weil das Seinkönnen strukturell selbstbezogen ist. An dieser Stelle kann gefragt werden: Wie vollzieht sich diese Verantwortlichkeit faktisch existenziell? Anders gesagt: Wie entscheidet sich das Dasein dafür, verantwortlich zu sein? Die Analysen der Alltäglichkeit haben gezeigt, dass die Verantwortlichkeit zunächst und zumeist durch das Man verdeckt wird 925. Dies bedeutet, dass sich das durchschnittliche Dasein selbst versteht, ohne Bezug auf seine Verantwortlichkeit, sondern in Bezug auf das moralisch Gewünschte. Diesbezüglich schreibt Heidegger in § 54 SZ: Mit der Verlorenheit in das Man ist über das nächste faktische Seinkönnen des Daseins – die Aufgaben, Regeln, Maßstäbe, die Dringlichkeit und Reichweite des besorgend-fürsorgenden In-der-Welt-seins – je schon entschieden. Das Ergreifen dieser Seinsmöglichkeiten hat das Man dem Dasein immer schon abgenommen. (SZ, S. 268) Die Verständigkeit des Man kennt nur Genügen und Ungenügen hinsichtlich der handlichen Regel und öffentlichen Norm. Verstöße dagegen verrechnet es und sucht Ausgleiche. Vom eigensten Schuldigsein hat es sich fortgeschlichen, um desto lauter Fehler zu bereden. (SZ, S. 288)

Während in den Analysen der Öffentlichkeit suggeriert wurde, dass das durchschnittliche Dasein sich die Verantwortlichkeit seiner Existenz nicht aneignet, zeigen die Analysen des Gewissensrufs, dass das Dasein auch die Möglichkeit hat, sich als verantwortlich zu verstehen. Der Ruf gibt dem Dasein zu verstehen, dass es ein eigenes geworfenes Seinkönnen bzw. ein (modal) freies Seiendes ist. In diesem Sich-als-frei-Verstehen befreit sich das Dasein (von der UnSZ, S. 288 Cowell, 2013, S. 183. Siehe auch S. 298 ff. 925 Heidegger schreibt: das Man, »nimmt […] dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab« (SZ, S. 127). 923 924

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eigentlichkeit). In diesem Sinne wird nach Luckner in SZ eine »normativ-ethische Differenz zwischen einem Ist (der Alltäglichkeit) und einem Soll (der Eigentlichkeit)« erkennbar 926. Die existenzielle Möglichkeit der Verantwortung wird laut Heidegger nur durch die existenzielle Bereitschaft zum Angerufenwerden (d. i. zur Bezeugung des Schuldigseins) ermöglicht. Luckner schreibt: »Denn das, was das Gewissen durch seinen ›Ruf‹ artikuliert, ist für uns nur verbindlich, ja, betrifft uns überhaupt nur, wenn wir es als eine maßgebliche Instanz eigens anerkennen« 927. Heidegger nennt diese Bereitschaft ›Gewissen-haben-wollen‹ 928. Gewissen-haben-wollen ist die existenzielle Möglichkeit des Daseins, sich als eigenes, geworfenes Seinkönnen verstehen zu wollen. Nur in diesem Wollen »kann [das Dasein] verantwortlich sein.« 929 Mit dieser These möchte Heidegger darauf hinweisen, dass nur in einer Aneignung des Sichselbst-für-etwas-Entscheidens sich das Dasein selbst als verantwortlich verstehen kann. So ist die Verantwortlichkeit für das eigene Dasein erst da. All dies bestätigt, was die Analysen des Moralitätsbereichs schon suggeriert haben, nämlich, dass die Moralität auf der Verantwortlichkeit bzw. auf dem normativen Charakter des Grundseins gründet. Heidegger drückt diese These so aus: Seiendes, dessen Sein Sorge ist, kann sich nicht nur mit faktischer Schuld beladen, sondern ist im Grunde seines Seins schuldig, welches Schuldigsein allererst die ontologische Bedingung dafür gibt, daß das Dasein faktisch existierend schuldig werden kann. Dieses wesenhafte Schuldigsein ist gleichursprünglich die existenziale Bedingung der Möglichkeit für das ›moralisch‹ Gute und Böse, das heißt für die Moralität überhaupt und deren faktisch mögliche Ausformungen. (SZ, S. 286) 930

Das Schuldigwerden und so auch die Moralität setzen das Schuldigsein voraus: Nur ein Seiendes, dessen Sein es ihm ermöglicht, sich für etwas in einer bestimmten Art und Weise und in einer bestimmten Luckner, in Waldenfels u. Därmann (Hrsg.), 1998, S. 75. Ebd., S. 76. 928 Vgl. SZ, S. 288. 929 Ebd. 930 Wie Geniusas richtig betont, »müssen die moralischen Konnotationen des Rufs des Gewissens in Klammern gesetzt werden, damit diese wirklich enthüllend sein kann: Der Ruf muss in Abwesenheit jeglicher Art von Gesetzen und sogar in Abwesenheit von zwischenmenschlichen Beziehungen gehört werden.« (Geniusas, 2009, S. 64. Eigene Übersetzung). 926 927

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§ 32 Heideggers hermeneutisch-phänomenologische Nutzung der Bezeugung

Situation zu entscheiden, kann als verantwortlich und so öffentlich als ›schuldig‹ verstanden werden. Schließlich muss die Bezeugung des situationell individuellen Charakters des Seinkönnens erklärt werden. Die Erfahrung des Gewissensrufs hat sich als eine bezeugende Erfahrung herausgestellt, welche auf den Negativ- und Grundcharakter des Seins des Daseins (d. i. auf das Schuldigsein) hinweist. Dieser Hinweis trifft auch die wesentliche Verantwortlichkeit des Daseins, die in der Öffentlichkeit ständig verstellt und verdeckt wird. Der Ruf bringt, so Heidegger, das Dasein, vor sein eigenstes Seinkönnen. In diesem Sinne ist der Ruf, so argumentiert Heidegger, nicht nur negativ, sondern auch positiv 931. Der Ruf ist eine »ausgezeichnete Rede des Daseins«, welche »dem Dasein allererst den Entwurf seiner selbst auf sein eigenstes Seinkönnen [ermöglicht]« 932. Hier wird der situativ-individuelle Charakter des eigenen Seinkönnens betont. Alfred Denker formuliert es wie folgt: Das Gewissen »ruft das Dasein, damit es der Forderung seiner eigenen einzigartigen Situation folgt und seinen eigenen Entwurf wählen kann. Der Ruf zeigt dem Dasein keine universelle Idee der Eigentlichkeit. […] Im Gegenteil ruft er das Dasein zu seiner individuellen Existenz. (Denker, 2000, S. 68. Eigene Übersetzung)

Obwohl die Tendenz zum Man zunächst und zumeist den ursprünglichen Sinn des Seinkönnens verstellt, zeigt Heidegger, dass es exemplarische, bezeugende Erfahrungen gibt, die auf diesen Sinn hinweisen und die Verantwortlichkeit und existenzielle Möglichkeit der Verantwortung vor Augen führen können. Nun muss die vorliegende Untersuchung aus der erreichten hermeneutischen Situation heraus nach dem ursprünglichen Sinn des Ethischen fragen. Zunächst muss allerdings diese Situation weiter erarbeitet werden.

Heidegger schreibt: »Ob der Ruf gleich nichts zur Kenntnis gibt, so ist er doch nicht nur kritisch, sondern positiv; er erschließt das ursprünglichste Seinkönnen des Daseins als Schuldigsein. Das Gewissen offenbart sich demnach als eine zum Sein des Daseins gehörende Bezeugung, in der es dieses selbst vor sein eigenstes Seinkönnen ruft.« (SZ, S. 288). 932 SZ, S. 277. 931

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§ 33 Die erreichte hermeneutische Situation: Verantwortlichkeit und die Bezeugung als möglicher Zugang zum Ethischen Die Absicht des vorliegenden Teils ist doppelt: Einerseits hat die Arbeit darauf abgezielt, die alltäglichen Erfahrungen des Ethischen zu beschreiben (§ 2 der vorliegenden Arbeit). Andererseits hat sie sich die Aufgabe vorgenommen, sich des durch die Erfahrung der moralischen Norm erreichten Sinns des Ethischen phänomenologisch zu versichern (§ 26 der vorliegenden Arbeit). Diese zwei Aufgaben sind in einer hermeneutisch-phänomenologischen Untersuchung untrennbar verbunden, da es nicht um eine Beschreibung eines ›Dinges‹ geht, sondern um die Beschreibung einer Sinnbildung. Der untersuchte Sinn soll nicht bloß als ein von einem Kontext getrenntes ›Ding‹ dargestellt werden, sondern er muss in seinem Verständnishorizont problematisiert werden. In Zusammenhang mit der Enthüllung des Verständnisses als zweideutig und der Möglichkeit der Verstellung, hat sich das Problem der Auffassung des Sinns ergeben. Es wurde gezeigt, dass ein Zeugnis keine gewisse Erkenntnis anbieten kann. Dennoch wurde auch gezeigt, dass das Zeugnis einen methodischen Wert aufweist, nämlich: Verweisen und Bekräftigen. So wurde suggeriert, dass das Zeugnis als Hinweis methodisch genommen werden soll. Dieser Hinweis muss zugleich auf das Phänomen als auch auf die Notwendigkeit einer Rückkehr zur Aufzeigung hinweisen, sodass eine Überprüfung erfolgen werden kann. Diese Bedingungen müssen aufgrund der zugehörigen Verstehensmöglichkeiten der Zweideutigkeit und des Scheins erfüllt werden. Eine solche Nutzung des Zeugnisses wurde von Heidegger in SZ durchgeführt, wo er Hyginus Fabel und Senecas Epistel 124 933 nicht als Argumente ›ad verecundiam‹, um das Sein des Daseins zu bestimmen, darstellt, sondern als Bekräftigung der Bestimmungen, die er durch eine Analyse des Phänomens (d. i. des Daseins) selbst erreicht hat. In dieser Gedankenrichtung wurde argumentiert, dass die moralische Norm als Zeugnis, d. i. als Hinweis und nicht als Bestätigung des Sinns des Ethischen interpretiert werden sollte. Die moralische Norm weist, so wurde gezeigt, auf den Sinn des Ethischen hin, doch in der Form des Scheins: Sie verdeckt den situativen Charakter des Ethischen, d. i. genau das, was uns daraufhin ermöglicht, etwas in 933

Vgl. SZ, S. 197; 199.

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§ 33 Die erreichte hermeneutische Situation

einer bestimmten Lage als ›richtig‹ zu spüren. Die erregende Frage hier ist: Was kann die Untersuchung unternehmen, um den ursprünglichen Sinn des Ethischen zugänglich zu machen? Bezüglich dieser Frage wurde die Nutzung einer besonderen Erfahrung suggeriert, die uns den Sinn des Ethischen in seiner Ursprünglichkeit vor Augen führen könnte. Bevor eine solche Erfahrung gesucht werden konnte, war es nötig, die methodische Nutzung solcher Erfahrungen, die die vorliegende Arbeit bezeugende Erfahrungen nennt, zu analysieren. Das vorliegende Kapitel hatte dementsprechend die praktische Erklärung der phänomenologischen Nutzung einer bezeugenden Erfahrung durch die Darstellung von Heideggers Nutzung solcher Erfahrungen zum Ziel. Heideggers Nutzung der bezeugenden Erfahrungen hat gezeigt, dass es möglich ist, auf den ursprünglichen Sinn eines Phänomens, einer Möglichkeit und/oder des Seins des Erfahrenden mit Gewissheit (d. i. direkt) durch eine bestimmte Erfahrung zu verweisen. Diese direkte Verweisung, die durch die exemplarischen Erfahrungen der Angst, des Todes und des Gewissensrufs geschieht, ermöglicht die Überprüfung der ontologischen Bestimmungen der Verfallenheit, Existenzialität und Faktizität. Die Angst, so wurde gezeigt, ist eine außergewöhnliche Befindlichkeit, die auf das Intentionalsein in seinem Horizontalcharakter und somit in seinem verfallenen Charakter verweist. Das Sein zum Tode ist ein Phänomen des Verstehens, welches auf das Seinkönnen, d. i. auf die ursprüngliche Form des Gerichtetseins (Existenzialität) hinweist. Schließlich ist der Ruf des Gewissens ein Phänomen der Rede, welches auf die Faktizität als Grundlage der Existenz, d. i. auf den situativen Charakter des Seinkönnens verweist. Mit den Analysen dieser Erfahrungen hat Heidegger den Sinn des Seins des Daseins zur phänomenologischen Überprüfung gebracht: Das Dasein ist transzendent und modal aufgrund seiner Endlichkeit. Der Sinn des daseinsmäßigen Seins ist die Zeitlichkeit, die durch diese Erfahrungen gewiss geworden ist. Nicht nur die alltägliche Erfahrung hat auf die Existenzialität, Faktizität und Verfallenheit in ihrem zeitlichen Sinne hingewiesen, sondern diese Bestimmungen wurden in der direkten Erfahrung direkt überprüft. Ich verstehe mich als existenzial, faktisch und verfallend in den Erfahrungen der Angst, des Todes und des Rufs. Die Analyse dieser Erfahrungen erleuchtet die Zeitlichkeit als etwas, das nicht unpersonell ist, sondern das in einem Individuum inkarniert. Das Dasein ist Seinkönnen (Entwurf) bzw. Existenzialität und 327 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

3 · Der methodische Zugang zum ursprünglichen Sinn eines Phänomens

Konkretion (Geworfenheit) bzw. Faktizität 934. Die Zeitlichkeit des Daseins ist nicht etwas Abstraktes, sondern sie inkarniert im faktisch individuellen Dasein. Die Endlichkeit ist situativ. In diesem Sinne haben die Erfahrungen der Angst, des Todes und des Gewissensrufs auch auf die existenzielle Möglichkeit der Eigentlichkeit hingewiesen: Ein Modus des Verständnisses, dessen Bezug nicht die Mit-/Umwelt, sondern die eigene Existenz ist. Das Dasein, welches im Modus der Eigentlichkeit existiert, versteht sich als endlich und gleichzeitig als situiert. Nun haben die Analysen Heideggers nicht nur dabei geholfen, die Nutzung einer bezeugenden Erfahrung zu verstehen, sondern auch den normativen Charakter der Existenz zu erkennen. Sie zeigen einerseits, dass der Sinn der Sorge die Zeitlichkeit ist und dass diese situiert und individuell ist, und andererseits, dass diese Situiertheit und Individualität normativ sind, und zwar nicht aufgrund einer auferlegten moralischen Norm, sondern aufgrund des Selbstbezuges, der für die Existenz wesentlich ist. Dieser normative Charakter der Existenz, welcher durch die Vereinzelung bezeugt ist, kann in der vorliegenden Untersuchung dabei helfen, den ursprünglichen Sinn des Ethischen aufzufassen. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle eine Darstellung stattfinden. Die Erfahrungen der Angst, des Todes und des Rufs haben nicht nur die zuvor vorgeschlagenen Bestimmungen überprüft, sondern auch auf das hingewiesen, was Heidegger Vereinzelung nennt 935. Wie bereits erwähnt, ist die ›Vereinzelung‹ nicht eine Erfahrung, in der sich das Dasein der Mit- und Umwelt entzieht, sondern vielmehr eine Erfahrung, in der der Bezug des Selbst- und Weltverständnisses von der öffentlichen Ausgelegtheit entfernt wird. In den Erfahrungen der Angst, des Todes und des Rufs, so zeigt Heidegger, versteht sich das Dasein in Bezug auf sein eigenes Seinkönnen, auf seine eigene Situation: »Vereinzelung besagt nicht, sich auf seine Privatwünsche versteifen, sondern frei sein für die faktischen Möglichkeiten der jeweiligen Existenz.« 936 Dieser Selbstbezug in der Form eines Bezuges zur jeweiligen Existenz ermöglicht, erklärt Heidegger in der Vorlesung vom SomIn diesem Sinne redet Heidegger über das Dasein als ein ›Zwischen‹ (Geburt und Tod) (vgl. SZ, § 72). Dazu siehe Raffoul, in Raffoul; Pettigrew (Hrsg.), 2002, S. 210. 935 Siehe jeweils SZ, S. 187 f.; 263; 280 u. 307. 936 GA 24, S. 408. 934

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§ 33 Die erreichte hermeneutische Situation

mersemester 1927, eigentlich dem Dasein, sich (als ein ›Ich‹) auf ein ›Du‹ zu richten 937. Diese These wird im Sommersemester 1928 weiterverfolgt: Nur weil das Dasein aufgrund seiner Selbstheit sich selbst eigens wählen kann, kann es sich einsetzen für den Anderen, und nur weil das Dasein in Sein zu sich selbst überhaupt so etwas wie ›selbst‹ verstehen kann, kann es wiederum schlechthin auf ein Du-selbst hören. (GA 26, S. 245) 938

Dies bedeutet, dass das Intentionalsein des Daseins situativ-personell ist, und nur in Korrespondenz mit einem solchen Intentionalsein kann sich ein Anderer als Anderer zeigen. Der Andere wird in dieser Dynamik als ein anderes Selbst erkannt. Die Vereinzelung ist dann nicht die existenzielle Möglichkeit der Entfernung von den Anderen, sondern die Bedingung der Möglichkeit der Individuation (principium individuationis) 939 und dementsprechend der Ich-Du-Dynamik 940. Mit der Erfahrung der Vereinzelung überprüft sich die vorherige Bestimmung der ›Selbstheit‹ des Daseins und es wird darüber hinaus klar, dass nur ein Seiendes, welches in der Art und Weise einer Selbstheit existiert, sich auf sich selbst und auf die Anderen als Individuen richten kann. Nur in solchem Existieren kann etwas als ›Verantwortung‹ verständlich werden und deswegen argumentiert Heidegger, dass die Erfahrung der Vereinzelung (bezüglich der Erfahrung des Ebd. Siehe auch GA 64, S. 82. 939 Vgl. SZ, S. 265 f.; GA 64, S. 82. Dieses existenziale Individuationsprinzip darf nicht mit dem scholastischen principium individuationis (siehe auch Arist., Met. VII, 1034a5), d. i. mit einer Referenz zur Materie verwechselt werden. In der Scholastik ist die Materie das, was zwei Sachen von einander unterscheidet, wenn sie die gleiche Form aufweisen (vgl. Brugger; Schöndorf, 2010, S. 223). Es darf ebenso wenig als die Totalität der vorhandenen Entität (d. h. die Sammlung der qualitativen (formellen) und quantitativen (materiellen) Eigenschaften), wie bei Leibniz, interpretiert werden. Das Individuationsprinzip muss angesichts der Daseinsanalytik ausgelegt werden, d. h. in Bezug auf die Charakterisierung des Daseins als Sorge. Das so interpretierte Individuationsprinzip ist der ermöglichte Verständnisbezug auf das eigene Seinkönnen, den das Dasein durch die Erfahrung der Vereinzelung erreicht. 940 Weder das Ich noch das Du müssen als ›eingekapselte‹ Subjekte interpretiert werden. Heidegger sagt in der Vorlesung vom Sommersemester 1927: Das Ich(Subjekt)Du(Subjekt)-Verhältnis ist ein »Solipsismus zu Zweien« (GA 24, S. 394). Diese IchDu-Beziehung, als ontische Beziehung, soll als ein Verhältnis zwischen zwei Existierenden interpretiert werden, die in der Welt, in der Art und Weise des In-der-Weltseins, miteinander sind. 937 938

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Gewissensrufs) dem Dasein seine Verantwortlichkeit enthüllen kann. Nur wenn das Dasein den Ruf des Gewissens versteht, so Heidegger, »kann es verantwortlich sein.« 941 Anders gesagt: Nur wenn es sich als ein Selbst versteht, kann es seine Entscheidungen verantworten. Dieser situierte Selbstbezug, der dem Grund für die Anerkennung des Anderen als Anderer dient, begründet den Moralitätsbereich. In den Überlegungen über den Moralitätsbereich wurde argumentiert, dass ein solcher Bereich nur aufgrund der Freiheit und Verantwortlichkeit verständlich werden kann: Man kann als ›moralisch‹, ›unmoralisch‹ bzw. ›gut‹, ›böse‹ etc. ausgelegt werden, nur weil man etwas (mit Absicht) entscheiden kann und sich für diese Entscheidungen verantwortlich machen soll (weil sie ihm gehören). Dieser Selbstbezug wurde unter dem Begriff ›Verantwortlichkeit‹ zusammengefasst. In diesem Sinne wird mit dem Begriff Verantwortlichkeit, wie Joanna Hodge richtig erkennt, auf eine ursprüngliche Ebene hingewiesen, in der die moralischen Prinzipien, Werte, Normen u. a. gründen 942. Die Verantwortlichkeit ist, da sie der Selbstbezug eines Möglichseins ist, die Bedingung der Möglichkeit aller moralischen Möglichkeiten. Nun zeigen die Erfahrungen der Angst, des Todes und des Rufs, dass diese Verantwortlichkeit enthüllt werden kann und in der Form der Verantwortung faktisch ausgedrückt werden kann, sobald das Dasein seinen Verständnisbezug modifiziert. Von Anfang an hat die vorliegende Arbeit die Problematik des Verständnisses des Ethischen mit der Analyse des Selbst zusammengebracht. In dieser Analyse wurde festgestellt, dass sich das Dasein als ein Selbst zunächst in der Art und Weise des Man-Selbst versteht. In dieser Form der Selbigkeit wurde eine Art von Normativität erkannt, nämlich die Normativität, die sich auf die sozialen Rollen und Normen bezieht. Nun haben die bezeugenden Erfahrungen der Angst, des Todes und des Gewissensrufs darauf hingewiesen, dass zum Dasein auch die Möglichkeit gehört, sein Selbst anzueignen. Dies suggeriert, dass das ›Ich‹ auch als verantwortlich gegenüber dem Anderen im ethischen Ereignis existieren kann. Da die Aneignung der Verantwortlichkeit sich immer in der Welt bei Seienden und mit anderen Existierenden vollzieht, ist das Für-sich-selbst-verantwortlichSein (Being-responsible-for-oneself), wie Raffoul richtig argumen-

941 942

SZ, S. 288. Vgl. Hodge, 1995, S. 202

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§ 33 Die erreichte hermeneutische Situation

tiert, gleichzeitig ein Für-Andere-verantwortlich-Sein (Being responsible-for-others) 943. In diesem Sinne muss hervorgehoben werden, dass die Anerkennung der jeweiligen Situation und die Auseinandersetzung mit dieser Situation wichtige (wenn nicht die wichtigsten) Aspekte der eigentlichen Erschlossenheit (d. i. der Eigentlichkeit) sind. Heidegger drückt diese Idee aus, wenn er den Augenblick als die eigentliche Zeitigung der Gegenwart in SZ bestimmt 944. Mit ›Augenblick‹ weist Heidegger auf eine Erschließung der jeweiligen Welt (bzw. Situation) hin, welche nicht nur in Bezug auf die eigenen Möglichkeiten geschieht, sondern auch eine Durchsichtigkeit der zeitlichen Struktur des eigenen Daseins schafft. Die Eigentlichkeit ist kein innerer Zustand, sondern eine Beziehung zur Welt und dies bedeutet: eine Beziehung zu den Anderen. Hier wird eine neue Art von Normativität erkannt 945, welche sich auf das eigene Seinkönnen und auf die Situation bezieht. Die Vereinzelung ermöglicht die existenzielle Verantwortung: Das Verständnis ist auf das eigene Seinkönnen zurückgeführt, sodass das Dasein für dieses Seinkönnen Verantwortung übernehmen kann. Verantwortlich-sein für etwas ist nur verständlich aufgrund der Vereinzelung. Anders gesagt: Das Dasein kann sich nur für etwas verantwortlich machen, insofern es sich selbst als ein Individuum auslegt, dessen Sein ein Seinkönnen ist und dessen Seinkönnen persönlich angenommen werden soll. Nur wenn sich das Dasein sein eigenes Seinkönnen aneignet, so drückt es Charles Guignon aus, kann

Raffoul, in Raffoul; Pettigrew (Hrsg.), 2002, S. 213. Vgl. SZ, S. 338; GA 24, S. 407 f. Diese Betonung der Situation ist etwas, das Heidegger von Aristoteles übernimmt. In seiner Auseinandersetzung mit der Nikomachischen Ethik bemerkt Heidegger, dass die φρόνησις eine besondere Art des Erschließens (des ἀληθεύειν) ist, welche eine Durchsichtigkeit des eigenen Daseins schafft (vgl. GA 19, S. 52), insofern sie die πρᾶξις (in der Welt mit Anderen) erschließt (vgl. GA 19, S. 140; 146). Die Handlung hat, bemerkt Heidegger, ihre τέλος im καιρός, d. i. im Augenblick (GA 18, S. 188 ff.). In dieser Erschließung können die Welt und das eigene Sein durchsichtig werden. Das, was in der φρόνησις bzw. ἀρετή angeeignet wird, ist die Situation, und zwar in Bezug auf die eigenen Möglichkeiten (d. i. προαίρεσις, vgl. GA 18, S. 145–146). 945 Dazu siehe auch Golob, 2014, Kap. 5–6. Luckner beschreibt dies mit dem Imperativ »Erkenne den rechten Augenblick, Deine eigensten Möglichkeiten zu ergreifen!« (Luckner, in Waldenfels u. Dämmann (Hrsg.), 1998, S. 79). Dieser Imperativ zeigt, dass die Eigentlichkeit nicht als ein dauerhafter Zustand interpretiert werden darf, sondern, dass sie (in der Form der existenziellen Entschlossenheit) als die Forderung gewisser Situationen verstanden werden sollte. 943 944

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es verantwortlich für seine Entscheidungen sein und nicht nur als verantwortlich für diese Entscheidungen gehalten werden 946. Das Seinkönnen ist dann personell: Zur Struktur des Seins des Daseins gehört diese ›ontologische‹ Verantwortlichkeit. Hier erscheint ein Sollen, welches dem Dasein nicht auferlegt wird, sondern das aus der Individualität und Situiertheit des eigenen Seinkönnens hervorgeht. Das Dasein ist ein normatives Seiendes, und zwar sowohl als ein Seiendes, welches die öffentlich gegebenen Normen verstehen kann und sich in Bezug auf diese regulieren kann, als auch als verantwortlich, d. h. als ein Seiendes, welches sein eigenes Entscheiden begründen kann. Die Erfahrung der Verantwortlichkeit erlaubt dem Dasein eine Wandlung vom ersten Verständnis zum zweiten. Crowell drückt diese Idee so aus: Die Verantwortung transformiert ein Lebewesen, welches von sozialen Normen begründet wird, zu einem Grund der Verpflichtung – zu einem Seienden, welches die Normen ›begründet‹, insofern es Gründe für diese gibt. (Crowell, 2013, S. 187. Eigene Übersetzung) 947.

Es geht um die modale Trennung zwischen Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit bezüglich der Handlungssphäre. Luckner schreibt: Von Uneigentlichkeit personalen Daseins kann immer dort gesprochen werden, wo eine Person sich in ihrem Handeln auf das verläßt, was gemäß Regeln, Sitten und Gebräuchen üblich oder auch geboten bzw. verboten ist; hier haben wir es also mit Unselbständigkeit und Konformität kurz: dem Normalzustand des alltäglichen Daseins zu tun. Eigentlichkeit hat also weniger mit dem zu tun, was eine Person unternimmt, als vielmehr damit, wie, auf welche Weise sie dies unternimmt. Sie existiert eigentlich, wenn ihr Leben einen ›Sinn‹ hat, eine Richtung aufweist und dies aus einer Selbstbestimmung und ›Selbständigkeit‹ (SZ, S. 303) heraus. (Luckner, in Rentsch (Hrsg.), 2001, S. 154–155)

Die Verantwortung ist demzufolge eine Weise, im Moralitätsbereich zu sein 948. Als verantwortlich bestimmt sich das Dasein selbst als dasGuignon, 2011, S. 87. »Responsibility transforms a creature who is ›grounded‹ by social norms into a ground of obligation – one who ›grounds‹ norms by giving grounds, that is, reasons.« (Crowell, 2013, S. 187). 948 Wie Crowell feststellt, bedeutet die Eigentlichkeit nicht die Vernichtung, sondern die Aneignung des normativen Kontexts (bzw. der öffentlichen Normen und praktischen Identitäten). Diese Aneignung besteht aus einer persönlichen Einstellung diesem Kontext gegenüber (vgl. Crowell, 2013, S. 300 ff.). Crowell schreibt: »[A]uthen946 947

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§ 33 Die erreichte hermeneutische Situation

jenige, das sich selbst bestimmen soll: Die uneigentliche Selbstständigkeit, d. i. das Man-Selbst wandelt sich zu einem Selbst, welches sich für seine Entscheidungen bzw. für seine Existenz verantwortlich macht. Dies konstituiert die Erfahrung des eigenen Sollens. Die Beschaffenheit dieses Sollens wird demnach nur durch die Unterbrechung des öffentlichen auferlegten Sollens des Man ermöglicht. In Der Begriff der Zeit schreibt Heidegger bezüglich der Vereinzelung und des (eigentlichen) Verständnisses des Todes: ›Man‹ kann nicht mehr das ›Man‹ sein, die anderen für einen sich einsetzen und für sich wählen lassen. Die Verdeckungsmöglichkeit des ›Man‹ zerfällt. Der Weg zur Flucht in die Verantwortungslosigkeit des ›Niemand‹ wird abgebrochen. (GA 64, S. 53)

Nur mit der Unterbrechung der Referenzialität auf das Man kann das Dasein sich seine Entscheidungen aneignen und sich als für sie verantwortlich verstehen. Während das Selbstverständnis in Bezug auf die Öffentlichkeit dem Dasein den wesentlichen normativen Charakter seines Seinkönnens verdeckt, kann die Erfahrung der Vereinzelung ihm bezeugen, dass zu seinem Sein, da es ein modales Seinkönnen ist, eine Verantwortlichkeit gehört: Eine Verantwortlichkeit, die ignoriert werden kann, aber dessen es sich nicht entledigen kann. Hier ist es auch wichtig zu betonen, dass das Man nicht nur eine Aneignung der Verantwortlichkeit verhindert, sondern auch ein Erleben der Situation. Heidegger schreibt in SZ: Dem Man(selbst) ist »die Situation wesenhaft verschlossen.« 949 Bedeutet dies, dass dem Man-selbst das ›Hier und Jetzt‹ verweigert wird? Um diese Frage zu beantworten, muss zuerst definiert werden, was hier mit dem Wort ›Situation‹ gemeint ist. Ontologisch betrachtet bezeichnet die Situation nicht »ein[en] vorhandene[n] Rahmen, in dem das Dasein vorkommt«, es bedeutet vielmehr einen Möglichkeitshorizont, der dem Dasein verständlich wird, wenn es sich als eigenes Seinkönnen auffasst 950. Das Man, so Heidegger, »kennt nur die ›allgemeine Lage‹«, es »verliert sich an die nächsten ›Gelegenheiten‹ und bestreitet das Dasein aus der Verrechnung der ›Zufälle‹, die es, sie verkennend, für die

ticity is […] an existential condition in which I act in light of the fact that I am responsible for the normative force of the norms in light of which I act.« (Crowell, 2013, S. 294). 949 SZ, S. 300. 950 Vgl. ebd.

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eigene Leistung hält und ausgibt.« 951 Für das Man-selbst ist die Situation in ihrem Möglichkeitscharakter nicht da, sie erscheint zunächst bloß als ein ›Hier und Jetzt‹, in dem man sich befindet und mit dem man umgeht. Demnach kann gesagt werden, dass die Verhinderung der Verantwortlichkeit gleichzeitig eine Verhinderung des Erlebens der Situation ist, und umgekehrt. Nur eine Bezeugung des eigenen Seinkönnens, argumentiert Heidegger, kann das Dasein »in die Situation vorruf[en]« 952, d. h. kann dem Dasein den Möglichkeitscharakter der jeweiligen Lage verständlich machen. Die Aneignung des Grundseins (bzw. der Verantwortlichkeit), so wird in § 60 von SZ suggeriert, ist immer in Zusammenhang mit der Situation auszulegen. Dies verhält sich so, weil die Eigentlichkeit kein psychologischer Aspekt oder Zustand des Daseins ist, sondern eine besondere Art und Weise der Erschlossenheit bzw. des Inseins. Dank dieser Ergebnisse kann der zuvor genannte Seinsbegriff des Daseins aufgegriffen und ausgewertet werden. Die konstitutive Verantwortlichkeit des Daseins wurde schon (SZ, § 9) mit den Anzeigen Zusein und Jemeinigkeit angedeutet 953. Nun wurde mit der bezeugenden Erfahrung der Angst, des Todes und des Gewissensrufs diese Bestimmung überprüft und die existenzielle bzw. ontische Möglichkeit der Verantwortung erkannt. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies, dass mit diesen bezeugenden Erfahrungen ein tieferes Verständnis der ἦθος-Anzeige gewonnen wurde. Es wurde angezeigt, dass das Dasein als Entscheidendes in einem moralischen Horizont ist, und jetzt wird klar, 1. dass es entweder als eigentlich bzw. als verantwortlich oder als un-eigentlich bzw. nichtverantwortlich existieren kann, 2. dass diese Modifikation der Referenzialität nicht durch eine Umwandlung der BewusstseinseinstelEbd. Ebd. 953 Diese normative Sphäre des Seins des Daseins wird von Heidegger in der Interpretation der personalitas moralis bei Kant (in der Vorlesung vom Sommersemester 1927) betont. Dort setzt Heidegger das moralische Gefühl (d. i. die Achtung für das Gesetz) mit der Interpretation des Daseins als ein Seiendes in Zusammenhang, welches sich sein Sein aneignen muss und in diesem Selbstbezug sein eigenes Selbst anerkennt (vgl. GA 24, S. 185 ff.). Heidegger schreibt: »Die Achtung offenbart die Würde, vor der sich und für die sich das Selbst verantwortlich weiß. In der Verantwortlichkeit enthüllt sich erst das Selbst, und zwar das Selbst nicht in einem allgemeinen Sinne als Erkenntnis eines Ich überhaupt, sondern das Selbst als je meines, das Ich als das jeweils einzelne faktische Ich.« (Ebd., S. 194). Siehe dazu Rodríguez, 2015b, S. 205 ff. Siehe insbes. S. 207–208. 951 952

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§ 33 Die erreichte hermeneutische Situation

lung, sondern durch eine besondere (vereinzelnde) Erfahrung geschieht, und 3. dass diese Modifikation den Verständnishorizont und dadurch den in ihm verstandenen Sinn abändert, was bedeutet, 4. dass die Situation in ihrem Möglichkeitscharakter erfahren werden kann. Damit wird die Bestimmung des Daseins als freies modales Seiendes deutlicher und in einer vollständigen Art und Weise gezeigt. Nun wird dementsprechend ein Seiendes in die Vorhabe gebracht, dessen (Intentional-)Sein den Sinn der Zeitlichkeit als situativ-personelle Zeitlichkeit hat und in seinem eigenen Sein normativ ist. Mit diesem erreichten Verständnishorizont (Vorgriff) soll die vorliegende Arbeit den Blick zurück auf den Moralitätsbereich richten und eine alltägliche Erfahrung suchen, die uns diesen konstitutiven normativen Charakter vor Augen führen kann. Nur im Blick auf diesen Charakter kann der ursprüngliche Sinn des Ethischen erfasst werden, und zwar mit phänomenologischer Gewissheit. Es wurde argumentiert, dass die Befolgung der moralischen Norm, da sie sich im Man gründet, dem Dasein seine Verantwortlichkeit entzieht. In Bezug hierauf und in Verknüpfung mit der erreichten hermeneutischen Situation werden im nächsten Kapitel folgenden Fragen von zentraler Bedeutung sein (Vorsicht): Gibt es eine Erfahrung, in der das Dasein für seine situative Reaktion gegenüber dem ethischen Ereignis Verantwortung übernimmt und nicht einfach dem Befehl der prohibitiven moralischen Norm folgt? Da die Umwandelung des Selbstverständnisses die Welterfahrung modifiziert, werden der Möglichkeitshorizont und der Verständnishorizont des Daseins transformiert, wenn es sich selbst als verantwortlich versteht? Im folgenden Kapitel wird die alltägliche Erfahrung des Ethischen unter diesem neuen Aspekt analysiert. Dies mit dem Ziel, eine bezeugende Erfahrung zu finden, die uns den Sinn des Ethischen in seiner Ursprünglichkeit vor Augen führen kann.

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Kapitel 4. Die Erfahrung der Irregularität und die Erfahrung der Appellation des Ethischen

Die vorliegende Untersuchung hat die Absicht, die alltägliche Erfahrung des Ethischen zu analysieren. Die bis jetzt durchgeführten Analysen haben nahegelegt, dass das durchschnittliche Dasein das Ethische in Bezug auf die prohibitive moralische Norm erfährt bzw. versteht; anders gesagt, dass die Erfahrung des Ethischen zunächst mit der Erfahrung der Anpassung an die Norm übereinstimmt und, dass das Richtige und/oder das Gerechtfertigte zunächst das ist, was die Norm diktiert. Nun kann die Aufgabe dieser Untersuchung nicht hinreichend erfüllt werden, ohne den Blick zu schärfen und zu erkennen, dass es Situationen bzw. Ereignisse gibt, in denen unser Verständnis des Ethischen nicht mit dem Befehl der Norm übereinstimmt; in denen das, was wir unter ›richtig‹ verstehen, dem Befehl der Norm widerspricht. Solche Erfahrungen suggerieren, dass zum (alltäglichen) Verständnis des Ethischen auch die Möglichkeit eines anderen Bezuges, außerhalb der moralischen Norm bzw. der jeweiligen Idee des Richtigen, gehört. Das folgende Kapitel beschäftigt sich sowohl mit der Beschreibung dieser Erfahrungen als auch mit der Frage nach dem ›alternativen‹ Bezug des ethischen Verständnisses. Nur wenn diese zwei möglichen Erfahrungen analysiert worden sind und der ursprüngliche Sinn des Ethischen erkannt wurde, kann die Untersuchung mit einer einheitlichen Erklärung der Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung des Ethischen enden.

§ 34 Die Beschreibung der Erfahrung der Irregularität Die Analysen der Schuld und des Gewissensrufs haben gezeigt, dass zum Dasein eine Normativität gehört, die sich nicht in der Normativität der moralischen Norm gründet, sondern in der eigenen Existenz. Daraus folgt, wie Saulius Geniusas erkennt, dass »es einen Kon336 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 34 Die Beschreibung der Erfahrung der Irregularität

flikt gibt zwischen ethischer Normativität, welche auf der Uneigentlichkeit gründet, und ethischer Motivation, deren Quelle die Eigentlichkeit ist.« 954 Einerseits gibt es die Moral (bzw. die ›ethische‹ Normativität), die vom Man bestimmt ist 955 und andererseits gibt es die Verantwortung (bzw. die ethische Motivation), die nur in der Anerkennung des eigenen situativen Seinkönnens ermöglicht wird 956. Dies legt nahe, dass es eine Nichtübereinstimmung zwischen öffentlicher Normativität und eigener Verantwortung gibt und dass diese im modalen Sein des Daseins gründet. Anders gesagt: Sobald das Dasein als eigenes oder als uneigenes existieren kann, kann es das Ethische entweder in Bezug auf die moralische Norm und die jeweilige Moral, oder in Bezug auf seine situierte Verantwortung verstehen. Die von der vorliegenden Untersuchung genannte Erfahrung der Irregularität gründet auf dieser Nichtübereinstimmung und ist ihr existenzieller Ausdruck. Das Phänomen der Irregularität kann formal als ein Widerspruch zwischen dem Befehl der prohibitiven moralischen Norm (und/oder der jeweiligen Moral) und dem eigenen Verständnis dessen, was ›richtig‹ ist, definiert werden. Die Erfahrung dieses Phänomens ist dementsprechend die Erfahrung der Unvereinbarkeit oder Kontradiktion zwischen dem, was die moralische Norm diktiert (und die öffentliche Ausgelegtheit für richtig hält), und dem, was wir selbst für richtig halten, wenn wir uns als verantwortlich verstehen. Die existenzielle Möglichkeit der Verantwortung befähigt sowohl die Möglichkeit, die Irregularität zu erfahren, als auch die Möglichkeit, dieses Phänomen zu erkennen und zu analysieren. Dies, weil die existenzielle Möglichkeit der Verantwortung nötig ist, um den Widerspruch zwischen dem öffentlichen Befehl und dem eigenen ›Gefühl‹ dessen, was richtig ist, spüren zu können. Nur jemand, der Verantwortung für die existenziale Tatsache übernimmt, dass er/sie Geniusas, 2009, S. 69. Eigene Übersetzung. Eine solche Spannung zwischen der Normativität der Norm und der eigenen Normativität ist der Ethik nicht fremd. Pieper z. B. schreibt: »Eine geltende Moral bzw. eine moralische Regel kann aus Moralität in Frage gestellt oder negiert werden.« (Pieper, 2007, S. 39). Darüber hinaus hat Aristoteles selbst diese Spannung erkannt, z. B. wenn er argumentierte, dass der Mensch gegen die Gewonheit (und d. h. gegen die Normativität, die zu ihr gehört) handeln könne, wenn die Vernunft ihn dazu auffordere (vgl. Arist. Pol., VII 13, 13332b6–8). 955 Vgl. SZ, S. 127 f. 956 Vgl. ebd., S. 288. 954

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

immer entscheiden muss und dass diese Entscheidungen ihm/ihr gehören und deswegen begründet werden müssen (bzw. existenziale Verantwortlichkeit), kann die Irregularität spüren 957. Jemand, der/ die sich immer dem moralischen Befehl anpasst, kann diese Erfahrung nicht machen, weil für ihn/sie ›das Richtige‹ immer das ist, was die Norm diktiert, und dementsprechend ist die Inkongruenz zwischen dem Befehl und dem Gefühl des Richtigen für sein/ihr Verständnis nicht vorhanden. Ontologisch gesehen, ist die Möglichkeit einer Modifikation der Referenzialität des Verstehens unerlässlich, um das Ethischen nicht nur in Bezug auf die moralische Norm, sondern auch in Bezug auf das eigene bzw. situativ-personelle Seinkönnen zu verstehen. Analytisch gesehen, erweitert die Enthüllung der Verantwortlichkeit und der Verantwortung den interpretativen Blick und bringt das Phänomen der Irregularität vor Augen. An dieser Stelle verlangt eine hermeneutisch-phänomenologische Untersuchung danach, dieses Phänomen in der Alltäglichkeit erkennen zu lassen. Ein erstes alltägliches Beispiel wurde schon in der Geschichte der Philosophie thematisiert. Schon Augustinus von Hippo und nach ihm Immanuel Kant haben das Beispiel der Lüge im moralischen Feld benutzt, um auf eine problematische Irregularität hinzuweisen, die unsere Befolgung der Norm gefährden könnte. Obwohl das Beispiel hilft, das Phänomen zu erklären, kann sich die vorliegende Arbeit nicht auf diese Autoren beziehen, da beide Autoren ethische Systeme vertreten, die das eigene Gefühl des Richtigen beVon einem naturalistischen Standpunkt aus gesehen, wie er bei Tomasello herauszulesen ist, erklärt sich die Möglichkeit der moralischen Dilemmata (und damit der Erfahrung der Irregularität) durch einen Konflikt zwischen unseren verschiedenen Moralitätsarten, die auf kognitiv-psychologischen Prozessen beruhen. Tomasello argumentiert, dass sich die moralischen Dilemmata aus dem Konflikt zwischen 1. einer (primitiven) sympathetischen Moralität, 2. einer Moralität der Kollaboration (mit spezifischen Individuen) und 3. einer kollektiven Moralität (in der alle anderen gleich wertvoll sind) herleiten lassen (vgl. Tomasello, 2016, S. 6–7). Diese zwei letzten gründen auf einer höheren Stufen der Abstraktion des Sinns des Richtigen: Das Richtige wird nicht mehr von einer vis-à-vis Erfahrung (d. h. gegenüber dem situierten Anderen) geleitet, sondern von kulturell ausgemachten und (sozial-)objektiven Normen (vgl. ebd., S. 92 ff.). Die in dieser Arbeit vertretene hermeneutisch-phänomenologische Erläuterung erklärt die Möglichkeit einer problematischen Dimension der Moralität (und damit die Erfahrung der Irregularität) durch die Beschreibung ihrer ontologischen Basis. Der ontologische Grund für diese Möglichkeit ist die Modalität der Referenzialität des Verständnisses des moralischen Akteurs, sowie die existenziale Verantwortlichkeit, die sowohl die Verantwortung als auch die Befolgung der Norm ermöglicht.

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§ 34 Die Beschreibung der Erfahrung der Irregularität

sänftigen, um des Befehls der Norm willen 958. Das Dilemma der Lüge lässt sich wie folgt darstellen: Was sollte jemand tun, der/die einem/einer Fremden in seinem Haus Asyl gegeben hat, weil dieser/diese von jemandem gesucht Zum Ansatz Augustinus’ siehe: Contra mendacium 15, 31. Siehe dazu Basse (Hrsg.), 2018, S. 957 ff. Zur Analyse der Hypothese des Gastgebers bei Augustinus siehe dem genannten Buch S. 74 ff. Zu Kants Ansatz siehe: Kant, AA VIII, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, S. 425–430. Zur Geschichte und zur Problematik dieses Problems siehe: Catalán, 2015. Augustinus’ Ansatz exemplifiziert die Position des Absolutismus, welche der Norm den Wert der Universalität zuschreibt und sie damit über das menschliche Leben stellt. Diese Position opfert die Situiertheit des menschlichen Lebens um der Norm (d. i. um eines innerweltlichen Seienden) willen. Augustinus schreibt: »Was der Wahrheit widerspricht, kann nicht gerecht sein; jede Lüge widerspricht aber der Wahrheit; also kann keine Lüge gerecht sein.« (Contra mendacium, 15, 31). Und: »Wenn man einem Menschen nicht mit Unzucht zu Hilfe kommen darf, die der Keuschheit widerspricht, wird man ihm auch nicht mit einer Lüge zu Hilfe kommen dürfen, die der Wahrheit widerspricht.« (Ebd., 19, 38; siehe auch De Mendacio 13, 22). Als Fundament für diese Maxime gibt Augustinus (und andere Absolutisten) den heiligen Befehl: Wir müssen um jeden Preis das Mandat Gottes aufrechterhalten (vgl. ebd., 15, 26). Das Lügen verstößt gegen ein Gebot Gottes. Es ist eine Sünde, dementsprechend wird es in jedem Fall (bzw. universell) verboten. Die Universalität der Norm legitimiert sich weder in Bezug auf das gemaßregelte Seiende (d. i. den Mensch) noch in Bezug auf das maßregelnde Seiende (d. i. die Norm), sondern in Bezug auf ›das Fundament von Beiden‹, nämlich das ens supremum. Kant seinerseits argumentiert: »Weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehen werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird« (Kant, AA VIII, S. 427). Die Grundlage für den Ansatz Kants ist in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zu finden. Laut Kant soll man nicht lügen, weil man in jedem Fall so handeln sollte, als ob die Maxime dieses Handelns verallgemeinert werden könnte (Ethik des kategorischen Imperativs) (vgl. GMS, S. 402 f.). Zu lügen würde dann bedeuten, dass man die Lüge als universell gewünschten Maßstab fordert, was bedeuten würde, dass das Vertrauen verloren gehen würde, was wiederum eine Gesellschaft auflösen würde. Also ist es zu bevorzugen, nicht zu lügen (vgl. ebd., S. 422). Man soll dementsprechend laut Kant nur aufgrund der Verallgemeinbarkeit der Maxime handeln (objektive Ursachen) und subjektive Ursachen vermeiden. Für Kant, wie Landweer richtig betont, ist nur das ›genuin moralisch‹, »was frei von allen Neigungen, also auch frei von Gefühlen ist« (Landweer, in Düwell; Hübenthal; Werner (hrsg.), 2011, S. 368; siehe Fußnote Nr. 168 der vorliegenden Arbeit). Das, was die (ethische) Situation in mir hervorruft und das, was mich motiviert, zu beurteilen und zu handeln, ist laut Kant nicht genuin moralisch, da es moralisch bzw. ethisch ist, dem Gesetz aus Pflicht zu folgen (vgl. GMS, S. 441). In einem solchen Ansatz ist die Erfahrung der Irregularität nicht etwas, das uns das Ethische verstehen lässt, sondern etwas, dass das Ethische verstellt und verdeckt: Während ›objektive‹ Ursachen moralisch sind, sind laut Kant ›subjektive‹ Ursachen (wie Gefühle) das,

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

wird, der ihn/sie töten möchte, wenn es plötzlich an der Tür klopft und der/die Verfolger/in nach dem/der Fremden fragt? Sollte der moralischen Norm ›man darf nicht lügen‹ gefolgt werden und die Wahrheit gesagt werden oder sollte die Norm übergangen werden und gelogen werden, damit der/die Mörder/in diese Person nicht schaden kann? Was, wenn es der Fall wäre, dass es nicht um einen Fremden gehen würde, sondern der/die Mörder/in fragen würde, ob der/die Hausherr/in allein zu Hause sei, wenn in Wahrheit seine/ihre Kinder oben schlafen? Sollte dieser/diese dann lügen oder den/die Mörder/in zu den Kindern führen? Nun kann dieses Beispiel zunächst willkürlich erscheinen, aber sowohl historische Situationen wie die Verfolgung von Ungläubigen, Juden und Ketzern in der Inquisition, die Sklaverei und die Verfolgung von Juden und Minderheiten durch die Nazis als auch Kriegssituationen zeigen es als faktisch plausibel. Die Nachrichten von Leuten, die ihr eigenes Leben riskieren, um jemanden zu retten, obwohl der jeweilige (moralische) Befehl dagegen ist, zeigen, dass die Inkongruenz zwischen der jeweiligen Moral und/oder den jeweiligen Normen und dem, was die Leute für richtig halten, wenn sie sich für die Situation verantwortlich machen, ein positives Phänomen ist, welches eine Irregularität im ethischen Verständnis dieser Leute bewirkt. Diese Beispiele und andere wie die Eugenik im antiken Sparta, die Tradition der Kindstötung und der Menschenopfer in verschiedenen Kulturen, die Kriegsmoral, die weibliche Genitalverstümmelung u. a. zeigen auch, dass der Verzicht, dem Anderen Schaden zu zufügen, nicht unbedingt mit der Befolgung des moralisch Gewünschten übereinstimmt 959.

was ›das Richtige‹ verstellt (das, was den Willen verderben kann) (vgl. ebd., S. 414). Die Universalität bei Kant (im Gegensatz zum Ansatz Augustinus) ist also nicht etwas, das im Voraus auferlegt wird, sondern etwas, dass die Vernunft in der Situation fordert, dennoch wird diese Situation aufgrund der Möglichkeit einer Universalisierung und dementsprechend nicht aufgrund ihres individuellen Charakters erfahren und ausgelegt. 959 Es geht hier nicht um eine Bewertung dieser Praktiken, sondern um die Betonung, dass man durch die Befolgung einer Moral die Existenz Anderer schädigen kann. Diese Nichtübereinstimmung zwischen Norm und ›dem Richtigen‹ gegenüber Anderer ermöglicht die Erfahrung der Irregularität. Unsere jeweilige Moral stimmt mit der Moral dieser Beispiele nicht überein und dementsprechend können wir die Irregularität in diesem Sinne nicht selbst erfahren. Hier wird lediglich die ontologische Basis für die Möglichkeit der Irregularität beschrieben. Eine historische Forschung über

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§ 34 Die Beschreibung der Erfahrung der Irregularität

Diese These findet sich auch in SZ wieder. Im Rahmen der Schuldanalysen schreibt Heidegger: Das so bestimmte ›sich schuldig machen‹ in der Rechtsverletzung kann aber zugleich den Charakter haben eines ›Schuldigwerdens an Anderen‹. Das geschieht nicht durch die Rechtsverletzung als solche, sondern dadurch, daß ich Schuld habe daran, daß der Andere in seiner Existenz gefährdet, irregeleitet oder gar gebrochen wird. Dieses Schuldigwerden an Anderen ist möglich ohne Verletzung des ›öffentlichen‹ Gesetzes. (SZ, S. 282)

Die existenzielle Möglichkeit des Schuldigwerdens an Anderen, so lässt sich der Text verstehen, stimmt nicht mit der Verletzung des ›öffentlichen‹ Gesetzes überein. ›Öffentlich‹ muss hier in Bezug auf die Seinsanalysen des Man in SZ (§ 27) interpretiert werden. In diesem Sinne bedeutet ›öffentliches Gesetz‹ soviel wie sozial bedingter Verhaltenskodex. Hier erkennt Heidegger, dass das Schuldigwerden an Anderen nicht auf der Übertretung des moralisch Gewünschten gründet, sondern auf der Gefährdung der Existenz des Anderen. Außerdem macht er deutlich, dass die Existenz des Anderen ohne Übertretung des moralisch Gewünschten geschädigt werden kann. Heidegger erklärt allerdings nicht, was diese Gefährdung der Existenz Anderer ausmacht. Dennoch kann eine formale Antwort aus SZ heraus suggeriert werden: In SZ wird argumentiert, dass die Existenz die Form ist, in der das Dasein ist, und dass sowohl Existenzialität als auch Faktizität und Verfallenheit (Welterschließung und Weltumgang) das Sein des Daseins (bzw. die Sorge) konstituieren. Daraus kann geschlossen werden, dass sich eine solche Gefährdung auf eine oder auf alle von diesen Sphären des daseinsmäßigen Seins bezieht 960. Die Existenz des Anderen zu beschädigen kann dementMenschen, die gegen diese Praktiken innerhalb ihrer Kulturen gekämpft haben, kann allerdings als Zeugnis dienen. 960 Heidegger definiert den Begriff ›Schuldigwerden an Anderen‹ formal wie folgt: »Grundsein für einen Mangel im Dasein eines Anderen, so zwar, daß dieses Grundsein selbst sich aus seinem Wofür als ›mangelhaft‹ bestimmt. Diese Mangelhaftigkeit ist das Ungenügen gegenüber einer Forderung, die an das existierende Mitsein mit Anderen ergeht.« (SZ, S. 282). Bezüglich dieser Definition sind die folgenden Punkte nicht gerklärt: 1. was bedeutet hier genau ›Mangel‹ ? 2. Welcher ist der genaue Sinn dieser ›Forderung‹, die an das existierende Mitsein mit Anderen gestellt wird? 3. Woraus besteht dieses ›Ungenügen‹ gegenüber dieser Forderung? Heidegger antwortet nicht auf diese Fragen und erkennt, dass »[e]s dahingestellt [bleibe], wie solche Forderungen entspringen, und in welcher Weise auf Grund dieses Ursprungs ihr Forderungs- und Gesetzescharakter begriffen werden muß.« (Ebd.). Diese Fragen können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht beantwortet werden, doch sie sollten für

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

sprechend bedeuten: In einer solchen Art und Weise handeln, dass der Entwurf, die (physische, psychische, emotionelle u. ä.) Faktizität und/ oder die Weltkonstitutionsfähigkeit des Anderen betroffen sind, und zwar in einer solchen Art und Weise, dass der Andere seinen Entwurf nicht mehr vollführen kann, wie er es vor dieser Handlung tun könnte. Die Tatsache, dass man dem öffentlichen Verhaltenskodex folgen kann und auf diese Weise ›Schuldig an Anderen‹ werden kann, zeigt, dass das Miteinandersein wesentlich ›ethisch‹ ist und dass die Möglichkeit, die Irregularität zu erfahren, zum Miteinandersein gehört. Diese Irregularität erscheint auch in unserem Alltag und bezieht sich nicht nur auf unsere private Sphäre, sondern auch auf die politischen und gesetzlichen Sphären unserer Gesellschaft. Die heutzutage moralische Norm ›man soll die Meinung und Redefreiheit aller Anderen respektieren‹ fungiert als Beispiel. Schon Karl Popper hat sich gefragt, ob eine Gesellschaft, die die Toleranz fordert, auch gegenüber der Intoleranz tolerant sein sollte 961. Das von Popper genannte Toleranz-Paradoxon ist eine Auswirkung der Erfahrung der Irregularität: Es gibt Situationen, in denen gefühlt wird, dass es das Richtige wäre, eine zukünftige Untersuchung des Grundes der Ethik nicht aus den Augen verloren werden. Nun kann es erwähnt werden, dass andere philosophischen Untersuchungen versucht haben, die Frage nach der Forderung des Mitseins mit Anderen zu beantworten. Ein nennenswertes Beispiel ist die Arbeit von Emmanuel Levinas (siehe Levinas, 2016d, S. 78 ff.; 203 ff. und insbes. S. 215–220). In seinen Untersuchungen hat Levinas einige fundamentale Phänomene hervorgehoben, die sich auf die Frage nach der ›wesentlichen‹ Forderung des Mitseins mit Anderen beziehen, nämlich: 1. Das Antlitz (le visage), Phänomen der Nicht-Reduzierbarkeit und Vulnerabilität des Anderen, welches die Forderung »tu ne commettras pas de meurtre« ausdrückt (vgl. Levinas, 2016d, S. 211–220; 2016b, S. 143 ff.). Dieses Phänomen wird von der ›Idee des Unendlichen in uns‹, d. h. von der Unfähigkeit, die Andersheit auf die Selbstheit zu reduzieren (bzw. Totalisierung der Unendlichkeit), formal angezeigt (vgl. Levinas, 2016d, S. 78). Die Idee des Unendlichen wird ihreseits von dem Miteinandersein bezeugt. Levinas schreibt: »L’idée de l’infini se produit dans l’opposition du discours, dans la socialité.« (vgl. ebd., S. 215). 2. Das Phänomen der Unähnlichkeit (l’inégalité) (vgl. ebd., S. 281 ff.), d. i. die Asymmetrie zwischen dem Selbst und dem Anderen, welche die Andersheit erscheinen lässt (vgl. Levinas, 2003, S. 55; 2016d, S. 236 ff.). 3. Das Phänomen der Verantwortung (responsabilité) (vgl. Levinas 2016b, S. 179 ff.; 2016c, S. 91–98), d. i. eine Verantwortung, die nichts mit der Befolgung der moralischen Norm zu tun hat, sondern mit der Antwort auf die Forderung des Antlitzes. Eine phänomenologische Erforschung des Grundes der Ethik sollte sich mit diesen Phänomenen auseinandersetzen. 961 Vgl. Popper, 1971, S. 265.

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§ 34 Die Beschreibung der Erfahrung der Irregularität

intolerante Diskurse nicht zu tolerieren. Es wird gespürt, dass die anti-demokratische Rede in einer Demokratie nicht toleriert werden sollte. Xenophobe Aussagen, rassistische Reden, religiös-extremistische Standpunkte, sexistische Rhetorik usw. predigen Intoleranz, warum sollten sie dann ihrerseits toleriert werden? 962 Solche Diskurse können nicht nur unter Privatpersonen stattfinden, sondern auch von politischen Akteuren und Parteien geführt werden und können so große Auswirkungen auf die politische und gesetzliche Sphäre einer Gesellschaft haben. Sie können z. B. beeinflussen, was in der Schule gelehrt wird, was in der Öffentlichkeit erlaubt ist, welche ökonomischen und sozialen Bereiche finanziert werden usw. Als Bürger einer säkularen Wissens-Gesellschaft kann ich mich beispielsweise fragen, warum ich tolerieren sollte, dass politische Entscheidungen hinsichtlich der Erziehung und Bildung auf der Grundlage von unwissenschaftlichen Glaubenssätzen beeinflusst werden? 963 Ich kann mich auch fragen, warum ich Diskurse und politische Gruppen in meiner und in anderen Gesellschaften akzeptieren sollte, wenn sie für eine Ungleichheit zwischen Menschen sorgen? Popper argumentiert, dass solche intoleranten Ansätze zuerst mit vernünftigen Argumenten bekämpft werden sollten, jedoch erkennt er, dass es vernünftig wäre, eine drastischere Maßnahme zu ergreifen, wenn diese Ansätze dazu anleiten, der Vernunft ihre Legitimation zu entziehen, um des (xenophobischen, rassistischen, religiösen, sexistischen usw.) Diskurses willen. Die Frage nach dem Sollen in den genannten (und anderen) Fällen kann hier nicht gestellt werden. Es kann allerdings nicht verneint werden, dass es im Alltag solche Diskurse und deren politische und gesellschaftliche Auswirkungen gibt und, dass diese zu Nonkonformität gegenüber der Toleranz-Norm auf Seiten von vernünftigen, verantwortlichen Menschen führen kann.

Aktuelle Beispiele sind die ›anti-immigration‹ und ›white supremacy‹-tolerante Rethorik des Presidenten der USA, D. Trump; die Hassakte von ›white supremacy‹ Gruppen in den USA (z. B. Charlottesville in August 2017. Zur White-supremacy in der USA und der Steigerung der white supremacy Rede siehe CNN Artikel: »In 2008, there was hope. In 2018, there is hurt. This is America’s state of hate.« Von Mallory Simon and Sara Sidner, November 29, 2018). Auch die Hassakte von Neonazi- und rechtsextremen Gruppen in Deutschland (z. B. in Chemnitz im August und September 2018), Spanien, Frankreich u. a. sind Beispiele hierfür. 963 Siehe z. B. Artikel 12, Absatz 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg, in der steht: »Die Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe […] zu erziehen.« 962

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

Ein sehr treffendes und eindrückliches Beispiel hierfür ist die weibliche Genitalverstümmelung, die noch heutzutage in verschiedenen Orten in Afrika praktiziert wird, um einer Tradition (und um deren Ziele) willen 964. Sollte ich tolerant gegenüber dieser kulturellen Tradition sein und diese Praxis als vertretbar akzeptieren, obwohl die Situation dieser Frauen (mangelnde Hygiene in der Praxis, Gesundheitsprobleme als Folge der Praxis, Unkenntnis über die Ursachen ihrer Gesundheitsprobleme, Verhinderung des sexuellen Orgasmus usw.) mich völlig erschüttert? Sollte ich sie akzeptieren, weil man die Ausdrücke einer Kultur respektieren und tolerieren soll?

Dazu siehe Kopelman, in Moser; Carson, 2001, S. 307 ff. Einige Länder, in denen die weibliche Genitalverstümmelung, obwohl sie illegal ist, aufgrund der Tradition noch praktiziert wird, sind Äthiopien, Sudan, Somalia, Sierra Leone, Kenia, Tanzania, Zentralafrikanische Republik, Tschad, Gambia, Liberia, Mali, Senegal, Eritrea, Elfenbeinküste, Obervolta, Mauretanien, Nigeria, Mosambik, Botsuana, Lesotho und Ägypten (vgl. ebd., S. 307). Kopelman berichtet, dass Frauen innerhalb dieser Kulturen diese Sitte stützen, obwohl sie die psychologischen und physischen Schwierigkeiten, die dieser Eingriff nach sich zieht, erlebt haben und kennen. Zum Beispiel hat eine Forschung (Ntiri, 1993) gezeigt, dass 92 % der somalischen Frauen diese Operation für ihre Töchter wünschen (zitiert in Kopelman, in Moser; Carson, 2001, S. 311). Viele Frauen, suggeriert El Dareer (1982) (siehe Kopelman, in Moser; Carson, 2001, S. 311), ignorieren ihre eigene Situation, und denken, dass die Gesundheitsschwierigkeiten, die sie nach dem Eingriff haben, nicht Ursache der Zirkumzision sind, und im Gegensatz dazu denken, dass diese Schwierigkeiten schlimmer wären, wenn sie diesen Eingriff nicht gehabt hätten. Kopelman berichtet: »Drs. Koso-Thomas, El Dareer, and Abdalla agree that people in these countries support female circumcision as a good practice, but only because they do not understand that it is a leading cause of sickness or even death for girls, mothers, and infants, and a major cause of infertility, infection, and maternal-fetal and marital complications.« (Ebd., S. 315). Das Problem hat viel mit Unwissen zu tun, und dieses mit religiöser ond kultureller Konformität. Hier sieht man, dass es der Fall sein kann, dass der Diskurs so internalisiert wird, dass der/die Erfahrende seine/ihre eigene Situation ignorieren kann, um des Diskurses willen. Die Forschungen, die Kopelman darstellt, zeigen, dass der Diskurs um die Notwendigkeit der weiblichen Zirkumzision folgende Hauptargumente hat: »it (1) meets a religious requirement, (2) preserves group identity, (3) helps to maintain cleanliness and health, (4) preserves virginity and family honor and prevents immortality, and (5) furthers marriage goals including greater sexual pleasure for men.« (Ebd., S. 314). Die Bewertung der Validierung dieser Argumente führt uns in der Debatte des kulturellen Relativismus. Ein Ansatz, wie der Kopelmans, zeigt dennoch, dass es mit Vernunft (und Wissenschaft) möglich ist, sich innerhalb der zu bewertenden fremden Kultur zu bewegen und sie ›von Innen‹ und in Bezug auf ihre eigenen Ziele zu kritisieren, obwohl man zu einer anderen Kultur gehört (vgl. ebd., S. 314–317).

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§ 34 Die Beschreibung der Erfahrung der Irregularität

Diese Beispiele weisen auf eine zweite Bedingung für die Fähigkeit hin, die Irregularität erfahren zu können: Nur jemand, der/die sich auf das (situative) Phänomen richtet, kann die Irregularität erfahren, denn die Inkongruenz setzt den Bezug auf das Phänomen voraus. Menschen, die dem Diskurs den Vorrang geben bzw. die das Phänomen in Bezug auf das verstehen, was über dieses Phänomen gesagt wird (Gerede), erfahren keine Irregularität, denn die Inkongruenz (zwischen Diskurs und Situation des Phänomens) kann nur aufgrund des Bezuges zum situativen Phänomen erscheinen. Das Gerede, dies hat Heidegger gezeigt, verhindert diesen Bezug (Entwurzelung des Verstehens). Dieser Punkt ist sehr wichtig, um andere zeitgenössische Diskussionen, wie z. B. die Diskussion über die Abtreibung und über die reproduktiven Rechte der Frauen, zu verstehen. Wenn der Embryo in Bezug auf ideologische Diskurse verstanden wird und als ein Lebewesen mit dem Wert der menschlichen Würde gesehen wird, steht man einem Dilemma gegenüber: soll man der moralischen Norm ›man darf nicht töten‹ folgen und die Frau zwingen, mit der Schwangerschaft fortzufahren, ungeachtet ihrer Situation und ihres Willens, obwohl es der Fall sein könnte, dass ihre eigene physische und/oder psychische Gesundheit dabei gefährdet werden; oder sollten die konkrete Situation und der Wille der Frau beachtet werden und die Entscheidung in Bezug auf diese Gesichtspunkte getroffen werden, obwohl dies die Übertretung des moralischen Befehls bedeuten würde? 965

An diesem Beispiel lässt sich die Abhängigkeit zwischen Diskurs (Aussage ohne Evidenz) und Verständnis eines Phänomens (Gerede) verdeutlichen. Die Diskussion um die Legalisierung der Abtreibung kreist um die Prämissen, dass der Embryo ›ein Mensch sei‹, dass ›er eine Seele habe‹ usw. ›Menschheit‹, ›Seele‹ usw. sind aber religiöse Diskurse, die ihre Legitimität in anderen Diskursen (z. B. in dem Diskurs einer Ähnlichkeit zwischen Mann und Gott) finden (Diskurskette). Die faktische Situation der Frau (die abtreiben will) wird aufgrund des Diskurses ignoriert. Der Diskurs ersetzt, wie zuvor erwähnt wurde, den Anderen und seine Situiertheit. Dies ist problematisch, nicht nur, weil die Andersheit des Anderen verstellt wird, sondern auch, weil sich die Diskussionen und Debatten nicht mehr auf die Phänomene richten, sondern auf die Diskurse. Diskurse (und mit ihnen Ideologien) sind gefährlich, weil sie unsere moralische Urteilskraft leiten können: Sie können die Situiertheit (und die Andersheit) des Beurteilten verstellen und eine unversöhnliche Bresche zwischen Beurteilten und Beurteiler herstellen (religiöse, ethnische, politische Konflikte, Rassenkonflikte usw.).

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

Politische und legale Debatten werden von dieser Irregularität angefacht 966. Die Irregularität dringt auch in den Kern der gesetzlichen Sphäre vor, nämlich in die Logik des Gesetzes. In der Rechtsphilosophie hat z. B. Gustav Radbruch eine ›Formel‹ vorgeschlagen, die die Verhinderung der Anwendung eines Gesetzes fordert, wenn dieses Gesetzt inkongruent mit ›der Gerechtigkeit‹ ist 967. Gesetzessicherheit (d. h. die Forderung des Gesetzes), so Radbruch, gründet in Gerechtigkeit und diese ist immer zu bevorzugen. Die Tatsache, dass es Länder gibt, die die Abtreibung legalisiert haben, spricht dementsprechend nicht gegen das Phänomen der Irregularität, im Gegenteil, sie beweist, dass es eine Irregularität gab, und dass diese behandelt wurde. Unsere Urteilssphäre ist auch von der Irregularität betroffen. Wir spüren eine ›Irregularität in unseren Gefühlen‹ 968 z. B., wenn wir jemanden sehen, der bestraft wird, weil er die Norm übertreten hat, obwohl wir glauben, dass seine Gründe dafür gerecht waren und dass er deswegen nicht bestraft werden sollte. Dies trifft beispielsweise zu, wenn wir von jemandem hören, der bestraft wurde, weil er eine Apotheke ausgeraubt hat, weil er keine andere Möglichkeit hatte, die Medizin für seinen schwer kranken Sohn zu besorgen. Nun können an dieser Stelle drei Schlussfolgerungen gezogen werden: 1. Die Erfahrung der Irregularität setzt eine mögliche InkonDie Ablehnung des Antrags auf Legalisierung der Abtreibung in Argentinien am 09 August 2018 hat beispielsweise gezeigt, dass die Anpassung an die jeweilige Idee des Richtigen in einem katholisch-konservativen Kontinent wie Südamerika die Appellation des Ethischen (und den wissenschaftlichen Beweis) überstimmen kann. Obwohl das Gefühl des Richtigen, das viele Leute gespürt haben (und durch Demonstrationen ausgedrückt haben), gesetzlich ignoriert wurde, haben die Diskussion und die Stimme der Menschen die Erfahrung einer Nonkonformität gegenüber der jeweiligen Moral und damit eine Erfahrung der Irregularität sichtbar werden lassen. 967 Radbruch, 1946, S. 105–108. Siehe dazu: Paulson; Dreier, 1999, S. 245. 968 Adam Smith beschreibt in seinem Buch The Theory of moral Sentiments die Schwierigkeit, die unser Gewissen und unsere moralische Urteilskraft (the impartial Spectator) in verschiedenen Situationen erfahren. Er nennt diese Schwierigkeit ›Irregularität in unseren Gefühlen‹. Laut Smith erfahren wir diese Irregularität, wenn unsere Urteile über die Konsequenz eines Verhaltens oder eines Aktes (bzw. über ein Ereignis) nicht mit unseren Urteilen bezüglich der Gründe (the design) für dieses Verhalten oder Akt übereinstimmen (vgl. TMS II.ii.4; iii.). Während die erstgenannten Urteile sich laut Smith aus einer Sympathie mit der von dem Akt betroffenen Person herleiten lassen, gründen die anderen auf einer Sympathie mit dem Akteur (und seinen Gründen). Siehe dazu Sayre-McCord, 2010. Zum Einfluss des Zufalls auf unsere moralische Urteilskraft nach Smith siehe Ledesma Albornoz, 2018. 966

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§ 35 Die Forderung einer Antwort zum ethischen Ereignis

gruenz zwischen dem jeweiligen moralischen Befehl und dem eigenen Gefühl des Richtigen voraus. Diese Inkongruenz ist aber nicht etwas dem Dasein Fremdes, sondern gründet auf dem modal-freien Sein dieses Seienden. 2. Die dargestellten Beispiele haben deutlich gezeigt, dass die Betonung der situativen Komponente eines Ereignisses das ist, was die Irregularität hervorruft. Diese ›Betonung‹ wird, so wurde bereits an anderer Stelle festgehalten, zunächst von der prohibitiven moralischen Norm verdeckt 969. Dies aufgrund des zeitlichen Charakters der prohibitiven moralischen Norm: die Projektion (die Norm bestimmt im Voraus, was sie regelt). Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass diese Projektion das Dasein von seinem ethischen Sein entfremdet: Sie verdeckt die existenziale Verantwortlichkeit (und damit die existenzielle Verantwortung) und den situativen Bezug, die nötig sind, um das Ethische ursprünglich zu verstehen. 3. Die Irregularität bezeugt eine Inkongruenz zwischen zwei verschiedenen Referenzialitäten, die nötig sind, um das Ethische zu verstehen. Demzufolge kann gesagt werden, dass sie der Ausdruck einer Heterogenität der Normativität des Daseins ist und dementsprechend auf diese Normativitäten hinweist. Darüber hinaus bietet sie mit der Erfahrung der Referenzialitäten die Möglichkeit einer Überprüfung des Sinns des Ethischen. Im Folgenden soll der ursprüngliche Sinn des Ethischen angesichts dieser Ergebnisse erforscht werden. Nur, wenn die Untersuchung einen ursprünglichen Sinn des Ethischen erreicht, kann sie das ethische Sein des Daseins (ursprünglich) konzipieren.

§ 35 Die Forderung einer Antwort zum ethischen Ereignis, der ursprüngliche Sinn des Ethischen und das ethische Sein des Daseins Es wurde bereits argumentiert, dass die Irregularität eine Inkongruenz zwischen zwei verschiedenen Referenzialitäten (bzw. Normativitäten) bezeugt, die nötig sind, um das Ethische zu verstehen. Nun muss in einem weiteren Schritt gefragt werden, was diese Inkongruenz ausmacht. Die Bedingung der Möglichkeit dieser Inkongruenz, so wurde bereits gezeigt, ist die existenzielle Möglichkeit der Verant969

Siehe § 25 der vorliegenden Arbeit.

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

wortung (die auf der existenzialen Verantwortlichkeit gründet). Wir können die Inkongruenz nur spüren, weil wir uns aufgefordert fühlen, auf das Dilemma zu antworten. Im Folgenden wird diese Bedingung mit der Absicht analysiert, einen ursprünglichen Sinn des Ethischen herauszuarbeiten. Verantwortlich-sein bedeutet die Situation zu beachten, und auf sie zu antworten 970. Im Alltag wird das Dasein mit Umständen konfrontiert, die von ihm eine ethische Antwort fordern: Es muss sich ständig in verschiedenen Szenarien für etwas entscheiden und folglich erfahren, dass diese Entscheidungen Wirkungen und Einfluss sowohl auf die eigene Lage und auf zukünftige Entscheidungen als auch auf die Lage und Existenzialität anderer Existierende haben 971. Entscheiden zu müssen gehört zur Seinsart des Daseins und dies bedeutet, dass es im Moralitätsbereich nicht unparteiisch bleiben kann. Die eigene Erfahrung dieser Forderung ›etwas wählen zu müssen‹ konstituiert das Selbst als moralischen Akteur. ›Akteur‹ bedeutet allerdings nicht ›Subjekt‹, sondern Existierende in einer Welt. Die Konstitution der Handlungsfähigkeit dieses Akteurs ist, da das Dasein als Entscheidendes immer mit Anderen in der Welt ist, etwas Öffentliches. Das Mitsein ist das, was das Dasein dazu bringt, seine Entscheidungen begründen zu müssen. Nur, weil es andere Existierende bzw. Entscheidende gibt, können diese bestimmten Entscheidungen mir gehören. Dies besagt, erstens, dass im Miteinandersein die Anderen das Dasein für verantwortlich halten, und zweitens, dass das Verständnis des eigenen Verantwortlich-Seins sowohl durch die Erfahrung des Entscheiden-Müssens als auch durch die soziale Auslegung bedingt ist. Das Ethische ist dann nicht etwas, das gewählt werden kann, sondern etwas, das die öffentliche Existenz bestimmt: Existieren ist ›ethisch‹. Man muss in der sozialen Sphäre des ethischen als Jemand teilnehmen, der/die handeln kann und dieses Handeln begründen soll. Das Seinkönnen ist faktisch (öffentlich) von der Normativität Im alltäglichen Sprachgebrauch wird unter Verantwortung »die Praxis des Füretwas-Rede-und-Antwort-Stehens« verstanden (Werner, in Düwell; Hübenthal; Werner (Hrsg.), 2011, S. 541). 971 In SZ findet man einen Hinweis, dass der eigene Worumwille den Worumwillen Anderer impliziert, oder wie Blattner es ausdrückt, dass »unsere Worumwillen miteinander verbunden sind« (Blattner, 2009, S. 66. Eigene Übersetzung). Heidegger schreibt: »[a]ls Mitsein ›ist‹ daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer.« (SZ, S. 123). Es kann dementsprechend gesagt werden, dass die Situation, in der sich meine Seinsmöglichkeiten entfalten, immer die Anderen (als Existierende) mit einbezieht. 970

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§ 35 Die Forderung einer Antwort zum ethischen Ereignis

geprägt. Das Dasein kann, da es Mitsein ist, weder in einer a-ethischen Sphäre noch in der sozialen Sphäre in einer a-ethischen Art und Weise existieren. Das Leben ist ethisch und ethisches Leben ist immer öffentliches Leben und umgekehrt. Damit wird gesagt, dass das Ethische einen wesentlichen Teil des Existierens konstituiert. Die Verantwortlichkeit (d. i. die Verantwortung, die das Dasein gegenüber seinem eigenen Seinkönnen hat) drückt sich öffentlich auch als Verantwortlich-sein (mit und für Andere in einer und für eine Situation) aus. Verantwortlich-sein muss dementsprechend nicht ontologisch als eine Entscheidung, sondern als ein Aufgefordertwerden zu antworten interpretiert werden. ›Aufgefordert zu werden‹ bedeutet nicht unbedingt, die richtige Antwort zu geben, es bedeutet vielmehr antworten zu müssen 972. Dies besagt, dass das Dasein nicht wählen kann, auf die Forderung zu antworten; doch es kann und muss sich dafür entscheiden, in welche Art und Weise es antwortet. Wie ist diese Forderung zu charakterisieren? Die Analysen des Daseins legen nahe, die ›Forderung nach einer Antwort‹ weder als ein auferlegtes innerweltliches Seiendes (wie die moralische Norm) noch als ein Modus der Fürsorge zu interpretieren. Letzteres, weil es der Fall sein kann, dass niemand da ist, der eine Antwort fordert, und trotzdem das ›Gefühl‹ entsteht, es bestehe eine Forderung zu antworten. Die Forderung wird dementsprechend verständlicher, wenn sie als eine Disposition des eigenen Daseins gesehen wird, d. h. eine Art und Weise, sich in der Welt zu befinden. Aus diesem Grund und in Bezug auf die Analyse der Struktur des Gestimmtseins 973 muss diese Intention (dieses Aufgefordetwerden) sowohl ein Korrelat als auch ein (bezeugtes) Mitverständnis aufweisen.

Rodríguez drückt diese Idee so aus: »Die ontologische Verantwortlichkeit qualifiziert die Handlung nicht als moralisch: dass eine Handlung als eine eigene Möglichkeit angenommen wird, macht sie weder moralisch gut noch impliziert es, dass sie im Voraus gut oder vorzuziehen ist. Es ist klar, dass eine moralische Pflicht ist, […] was sie ist, unabhängig davon, ob ich sie mir aneigne.« (Rodríguez, 2015b, S. 189. Eigene Übersetzung). 973 Siehe § 32, α der vorliegenden Arbeit. 972

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

α.

Der ursprüngliche Sinn des Ethischen und das Korrelat des von dem ethischen Ereignis Aufgefordertwerdens

Das Korrelat der Forderung lässt sich formal als ein ›ethisches Ereignis‹ bezeichnen 974. Wie soll dieses ›Ereignis‹ angesichts der Ergebnisse von SZ interpretiert werden? Ein Ereignis ist für das Dasein immer ein gelebtes Ereignis und als solches sollte es ontologisch weder als etwas, das im Da des Daseins vorhanden ist, noch als die Gesamtheit vorhandener Seienden interpretiert werden. Es sollte ebenso wenig als ein bestimmter Punkt in Zeit und Raum, in dem sich das Dasein als ein vorhandenes Ding befindet, verstanden werden. Den Ergebnissen von SZ zufolge, soll das Ereignis als der Ausdruck der (jeweiligen) Welt des (jeweiligen) Daseins interpretiert werden 975. Es ist das jeweilige Da. Anders gesagt, ist es die Begebenheit der Welt als Welt bzw. als Bedeutsamkeit in einer bestimmten Situation. Die existenzielle Verantwortung setzt einen intentionalen sozialen ›Akteur‹, eine Intention, ein intentionales Korrelat und einen moralischen Horizont voraus. In Anlehnung an Höffe definiert Werner die Struktur der Verantwortung als folgende: »Jemand (Subjekt) ist für etwas (Gegenstand) vor oder gegenüber jemandem (Instanz) aufgrund bestimmter normativer Standards (Normhintergrund) – prospektiv – verantwortlich.« (Werner, in Düwell; Hübenthal; Werner (Hrsg.), 2011, S. 543; Höffe, 1993, S. 23). In der vorliegenden Interpretation weist der intentionale Gegenstand (d. i. das Korrelat), hier das ethische Ereignis, die Form eines Horizonts (d. i. Welt) auf. Dieser Horizont ist in der Praxis als moralisch konstituiert bzw. ausgelegt. Die Instanz dieser Verantwortung gründet in dem Selbstbezug des VerantwortlichSeins, d. h., das Dasein muss entscheiden und sich seine Entscheidungen aneignen. Die Eigentlichkeit setzt die Rechtfertigung der Entscheidungen voraus, und dies in Bezug auf die Situation, welche, da das Insein Mitsein ist, immer sozial ist (im Sinne von Bedeutungen, Standpunkte, Ideale usw.). Demzufolge rechtfertigt das verantwortliche Dasein seine Entscheidungen nicht, wenn es bloß sagt, dass das, was es getan hat oder bewertet hat, richtig ist, weil das die Weise ist, in der man handeln/ beurteilen soll, sondern es muss seine Entscheidungen selbst begründen. Ich muss rechtfertigen, warum ich dies in dieser bestimmten Situation gemacht habe und/oder beurteilt habe. Der Urteilspunkt dieser eigenen Rechtfertigung bleibt aber unbestimmt und wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht erforscht. Dies muss jedoch Gegenstand einer Untersuchung des Grundes der Ethik sein. 975 In SZ legt Heidegger nahe, dass das Ereignis in Bezug auf das geschichtliche Geschehen, und das Geschehen in Bezug auf die Geschichtlichkeit bzw. Zeitlichkeit des Daseins interpretiert werden müssen (vgl. SZ, S. 379). Heidegger argumentiert, dass die Gegenstände, die auf ein gewesenes Ereignis hinweisen, eigentlich nicht auf eine vergangene Zeit und auf einen vergangenen Ort hinweisen, sondern auf eine gewesene Welt (vgl. ebd., S. 380 f.). In diesem Sinne lässt sich das Ereignis als Welt interpretieren. 974

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§ 35 Die Forderung einer Antwort zum ethischen Ereignis

Diese Welt (die Selbst-, Mit- und Umwelt ist), so haben die Untersuchungen des Intentionalseins ergeben, ist immer eine ausgelegte Welt. Das Ereignis wird dann niemals neutral erschlossen, sondern immer in Bezug auf eine Ausgelegtheit. Die Form, in der das Dasein die Forderung erfüllt bzw. auf sie antwortet, gründet sich in dieser Ausgelegtheit, d. h. gründet in der Art und Weise, in der sich das Ereignis verstehen lässt. Um sich für etwas verantwortlich zu machen, muss man dieses ›Etwas‹ als etwas auslegen, wofür man sich verantwortlich machen kann (und soll). Die Analysen des ›Wer‹ der Alltäglichkeit (d. i. des Man-Selbst) haben allerdings darauf hingewiesen, dass das durchschnittliche Dasein das Ereignis zunächst in Bezug auf die öffentliche Ausgelegtheit versteht, und dass dieses Verständnis die Verantwortlichkeit des Daseins verdeckt. Das Korrelat der Forderung wird im durchschnittlichen Existieren als das verstanden, wofür ich mich nicht verantwortlich machen soll, d. h. als das, was ich mir nicht aneigne und worauf ›alle und niemand‹ antworten müssen. Aus diesem Grund wird die Forderung zunächst als das verstanden, was sie nicht ist (bzw. als Schein), nämlich als Ablehnung zu antworten. Wie antwortet man auf die Forderung eines nicht angeeigneten Ereignisses? Man bezieht sich auf die moralische Norm und die jeweilige Idee des Richtigen. Die Antwort ist dann die Befolgung des moralisch Gewünschten. Die Erfahrung dieses Antwortens, so wurde bereits argumentiert, verweist schon auf einen Sinn des Ethischen. Das Verhältnis zur Norm, obwohl es die Verantwortlichkeit verdeckt, weist (im Modus der Privation) auf ein Verständnis einer ›Grenze‹ hin: Das ›Nicht‹ der prohibitiven moralischen Norm ist sowohl der Ausdruck einer Grenze (man soll nicht …) als auch die Auferlegung eines (innerweltlichen) Sollens, welches die Verantwortlichkeit verdeckt und die Möglichkeit der Verantwortung verhindert. In der Verweisung auf die Norm lässt sich das Ethische als Grenze verstehen. Man soll dieses und jenes nicht tun. Die Norm geht allerdings dem Ereignis voraus und bestimmt die Grenze ohne Bezug auf das Ereignis: ›Man soll nicht lügen‹ zu jeder Zeit und in jedem Fall. Die Grenze wird dementsprechend in der Verweisung auf die Norm als unsituativ (bzw. als universal) verstanden. Mit der Verweisung auf die Norm wird ein Sinn des Ethischen erreicht. Jedoch haben die Analysen des Scheinproblems gezeigt, dass der Sinn eines Phänomens zunächst verstellt und/oder verdeckt werden kann. Wie kann die vorliegende Untersuchung sich des Sinns des 351 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

Ethischen versichern? Etwa durch die Erfahrung der moralischen Norm? Darauf haben die Analysen der Seinsart der moralischen Norm als Zeugnis negativ geantwortet: In der moralischen Norm ›fehlt‹ das Ethische, obwohl irgendwie darauf verwiesen wird. Die Bestimmung des Sinns des Ethischen als ›unsituative Grenze‹ kann der phänomenologischen Untersuchung dementsprechend keine Gewissheit bieten. Der erreichte Sinn kann sowohl ursprünglich als auch in der Form des Scheins aufgefasst worden sein. Deswegen hat die vorliegende Arbeit sich weiter gefragt: Wie kann die Untersuchung die Bestimmung des Sinns des Ethischen phänomenologisch überprüfen? Wie kann der Sinn des Ethischen vor Augen gebracht werden, und zwar mit (phänomenologischer) Gewissheit? Es lässt sich anhand der Ergebnisse der Analyse des Phänomens der Irregularität zweifelsfrei belegen, dass die geforderte Antwort auf das ethische Ereignis auch in der Form einer Aneignung der Verantwortlichkeit geschehen kann. Der wesentliche normative Charakter der Existenz (d. i. die Verantwortlichkeit) drückt sich existenziell als Verantwortung aus, wenn das Dasein sich auf sein eigenes Seinkönnen bezieht, um sich selbst und die Welt zu verstehen. Mit der Verantwortung wird an das Dasein selbst appelliert, eine eigene Antwort auf das Ereignis zu geben. In diesem Sinne wird das Ereignis in Bezug auf das eigene Seinkönnen erschlossen bzw. ausgelegt. Diese Interpretation gründet auf der in der Analyse des Intentionalseins gehaltene These: Die Weise, in der sich das Dasein selbst versteht, modifiziert die Art und Weise, in der es die Welt versteht, oder anders gesagt: das Selbstverständnis modifiziert das Weltverständnis. In § 25, β der vorliegenden Arbeit wurde argumentiert, dass das Dasein zunächst sich selbst in Bezug auf die jeweilige Moral (bzw. in Bezug auf die Idee des Richtigen und die moralische Norm) als moralischen Akteur versteht. Die moralische Identität des Daseins, so wurde festgelegt, wird zunächst in diesem Bezug konstituiert, und zwar als nicht verantwortlich. Das durchschnittliche Dasein versteht sich nur im Rahmen der Befolgung der Moral als normativ. Nun wurde mit der Erfahrung der Irregularität darauf hingewiesen, dass das Dasein diese moralische Identität modifizieren kann, insofern es sein normatives Sein in Bezug auf sein eigenes situiertes Seinkönnen versteht. Die verstandene Normativität ist nicht mehr die Befolgug der Moral, sondern die Aneignung der konstitutionellen Verantwortlichkeit. Das Dasein versteht sich als eigenes situiertes Seinkönnen und kann, so haben die Analyse der Schuld gezeigt, seinen Grund begrün352 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 35 Die Forderung einer Antwort zum ethischen Ereignis

den, d. h. sich seine Situation aneignen und sich aus dieser Aneignung heraus auf die geöffneten Möglichkeiten entwerfen. In einer solchen Aneignung charakterisiert sich die moralische Identität des Daseins durch die Verantwortung: Das Dasein versteht sich als verantwortlich für…(die Situation, in der die Verantwortlichkeit angeeignet wurde). In Hinblick auf die These der Modifikation des Weltverständnisses kann an dieser Stelle gefragt werden: Wie wird das Korrelat der Forderung in der Aneignung der Verantwortlichkeit verstanden? Die sofortige Antwort lautet: Es wird als das verstanden, wofür ich mich verantwortlich machen soll. Das Ereignis muss allerdings hier nicht als Objekt eines bestimmten intentionalen Aktes verstanden werden, sondern als der Horizont eines Entscheiden-Müssens. Dahingehend ist der Sinn des so erschlossenen Ereignisses ein Sollen, welches aus der Situation heraus entsteht. Wenn sich das Selbst als verantwortlich versteht, erscheint das Ereignis als ein situiertes Sollen 976. Die Untersuchung kommt zu einem wichtigen phänomenologischen Ergebnis: Die Erfahrung eines verantwortlichen Antwortens bezeugt die Appellation eines situierten Sollens. Diese These wird durch die obengenannte Erfahrung der Irregularität unterstützt, weil sie die Appellation des situierten Sollens voraussetzt und sie als direkte Erfahrung sichtbar werden lässt. Anders formuliert: In der Erfahrung der Irregularität wird diese Appellation immer und unbedingt miterfahren bzw. mitverstanden. Das Dasein ist dasjenige, an das appelliert wird. Wozu wird es aufgefordert? Genau wie mit dem Ruf des Gewissens ist diese Appellation eine Form der Rede, die nicht die Seinsart der Aussage hat. Als Form der Rede gibt sie etwas zu verstehen. Diese Appellation gibt allerdings nichts ›Konkretes‹ zu verstehen, sondern widerspricht formal dem, was die moralische Norm auferlegt hat. Bedeutet dies z. B., dass sie zu verstehen gibt, dass man zu jeder Zeit und in jedem Fall lügen soll, wenn die moralische Norm diktiert, dass man nicht lügen soll? Nein. Sie ist zwar formal, aber immer situationsabhängig. Die Appellation widerspricht der von der moralischen Norm auferlegten universellen Grenze und lässt die mögliche Situationsabhängigkeit des Richtigen erscheinen. Sie ermöglicht demzufolge den Gebrauch Miyasaki vertritt eine ähnliche These, nämlich, dass in der heideggerschen Analyse des Schuldigseins eine ethische Verpflichtung gefunden werden kann, die dem Dasein nicht auferlegt wird, sondern die aus dem eigenen Dasein heraus entsteht (vgl. Miyasaki, 2007).

976

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

der situierten Vernunft und die Suche nach Kriterien für die Evaluation einer bestimmten Situation. Wenn der Mörder fragt, ob jemand zu Hause sei, und die Kinder da sind, gibt mir die erfahrene Nonkonformität gegenüber der Norm ›man soll nicht lügen‹ zu verstehen, dass ich in dieser bestimmten Situation lügen sollte. Anders gesagt, sie gibt zu verstehen, dass ich die Norm aufgrund des situierten Sollens übertreten sollte; dass das Sollen der Situation dem von der Norm auferlegten Sollen vorzuziehen ist. Ein Nicht bzw. eine Grenze entsteht aus der Situation und widerspricht dem auferlegten Nicht der prohibitiven moralischen Norm. Die Begrenzung der von der moralischen Norm universell auferlegten Grenze hat zur Folge, dass das ethische Ereignis als das erscheint, was es ist, und dies ermöglicht dem Dasein, es in seiner Singularität und Situiertheit zu evaluieren. Die Evaluation der Situation besteht nicht aus einer Ablehnung der Norm, sondern aus den Möglichkeiten, die Norm aufgrund der Forderung der Situation abzulehnen oder anzunehmen. Nur so kann das Dasein verantwortungsbewusst werden, indem es seine Handlungen und Urteile begründet. Wie wird dann das Ethische in einer solchen Erfahrung verstanden? In dieser Erfahrung der Appellation bezeugt sich (mit Gewissheit) ein neuer Sinn des Ethischen als situierte Grenze: Ich soll der moralischen Norm (und/oder der jeweiligen Moral) (nicht) folgen, weil die Situation es so fordert. Die Situation stellt eine Grenze dar, welche ich mir aneignen kann, um meine Werturteile und mein Verhalten kritisch, d. i. mit einem angemessenen Grund, zu bewerten und zu bestimmen. Diese Bezeugung bringt die Bestimmung des Sinns des Ethischen mit Gewissheit in den phänomenologischen Blick, weil sie auf die direkte Erfahrung des Ethischen hinweist. Das Ethische wird in der Erfahrung des Aufgefordertwerdens miterfahren bzw. mitverstanden und in der Erfahrung der Irregularität direkt aufgefasst. Die Grenze entsteht aus der konkreten jeweiligen Situation und lässt sich als situierte Grenze erfahren. Das ursprüngliche Nicht entsteht, wie Heidegger gezeigt hat, aus der Nichtigkeit des Seins des Daseins (bzw. aus der Verantwortlichkeit) heraus. Nur insofern das Dasein eine Grenze versteht, welche aus seinem situierten Seinkönnen entsteht, kann es das auferlegte Nicht der moralischen Norm verstehen. Dass das situierte Sollen die Basis für das auferlegte Sollen der Norm ist, bedeutet allerdings nicht, dass es nur eine mögliche Erfahrung des Ethischen gibt. Im Gegensatz dazu bedeutet dies, dass die alltägliche Erfahrung des Ethi354 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 35 Die Forderung einer Antwort zum ethischen Ereignis

schen sowohl aus dem privativen als auch aus dem ursprünglichen Sinn des Ethischen besteht. Wenn sich das Verständnis auf die Norm richtet, um das Ereignis zu verstehen, wird das Ethische als Anpassung an das auferlegte Nicht ausgelegt. Wenn sich das Verständnis auf die Situation richtet, wird das Ethische als situierte Nonkonformität gegenüber (oder kritische Auseinandersetzung mit) dem auferlegten Nicht und als Beantwortung der situierten Forderung des Ereignisses verstanden. Die ethische Erfahrung bewegt sich zweideutig zwischen beide Bedeutungen 977. Die Möglichkeit, diese zwei Referenzialitäten gleichzeitig zu erfahren, macht die Erfahrung der Irregularität zur privilegierten Erfahrung. Sie bringt die zwei Bedeutungen des Ethischen deutlich in den phänomenologischen Blick. Eine Unterscheidung zwischen den zwei Referenzialitäten des Richtigen kann schon in Heideggers Interpretation von Aristoteles gefunden werden. Im Sommersemester 1924 (GA 18, S. 76 ff.) legt Heidegger dar, dass es bei Aristoteles einen Unterschied zwischen einer Haltung gibt, die sich auf das öffentlich Gewünschte bezieht, und einer Handlung, die für sich selbst eingenommen wird bzw., die das eigene situierte Sein(-können) als Bezug aufweist. Wichtig ist, so merkt Heidegger an, dass in beiden Fällen das ἀγαθόν anders ist. Laut Heidegger hat die Handlung, die sich auf das Öffentliche bezieht, die τιμή (d. i. die soziale Anerkennung, den Ruf) als Zweck (τέλος). Die τιμή ist eine Möglichkeit des Miteinanderseins, nämlich: ›Unter-anderen-Angesehensein‹. In dieser Handlung wird das ἀγαθόν nicht als ἀγαθόν οἰκεῖον (d. i. als das Gute selbst) ausgelegt, sondern als etwas, was das Dasein von den Anderen bekommt. Heidegger erklärt: »Die anderen haben das ἀγαθόν und schenken es mir, können es mir aber auch versagen.« (Ebd., S. 78). Aus diesem Grund sagt Heidegger, dass das ἀγαθόν der τιμή »nicht meinem Sein als solchen [gehört]« und dass die τιμή kein »bei mir ›zu Hause‹«, »bei meinem Sein und auf Grund dessen« ist (ebd.). Im Gegensatz dazu ist das ἀγαθόν einer Handlung, die sich auf das eigene Sein bezieht, ein ἀγαθόν οἰκεῖον. Hier handelt es sich um die ἀρετή, die laut Heidegger nicht mit ›Tugend‹, sondern mit ›Eignung‹ übersetzt werden sollte (vgl. GA 22, S. 91; siehe auch den Nachschrift Mörchens in GA 22, S. 249–250). Nun ist die φρόνησις laut Heidegger gleichbedeutend mit ἀρετή (in der φρόνησις gibt es »nur den Ernst der bestimmten Entscheidung« (GA 19, S. 54; vgl. Fußnote Nr. 944 der vorliegenden Arbeit)). Heidegger argumentiert in der Vorlesung vom Sommersemester 1926, dass sowohl die φρόνησις als auch die ἀρετή ein Wissen »um sich selbst in jeweiliger Lage, Umständen« bezeichnen (GA 22, S. 91). Nun erklärt Heidegger, dass es ἀρετή nur gibt, wenn das eigene Sein der Zweck der Handlung ist. Mit diesem Unterschied wird betont, dass die (ethische) Handlung sowohl das Soziale bzw. das Öffentliche als auch das Eigene als Bezug (d. i. κριτήριον, vgl. GA 18, S. 74–75) haben kann. Das Dasein, welches bezüglich seines eigenen Seins handelt, ist der φρόνιμος (vgl. GA 19, S. 48 f.): φρόνιμος ist das Dasein, welches sein eigenes Seinkönnen und die Situation dieses Seinkönnens für sich selbst durchsichtig macht (vgl. ebd., S. 50). Hier werden die zwei verschiedenen Bedeutungen des Sollens deutlich.

977

355 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

β.

Das von dem Ereignis Betroffene und das mitverstandene ethische Sein des Daseins

Die Erfahrung des Aufgefordertwerdens hat nun auch darauf hingewiesen, dass das Dasein als modales Selbst dasjenige ist, das aufgefordert wird. Zu jedem Gestimmtsein, so wurde argumentiert, gehört ein Verständnis des von dem Korrelat Betroffenen, und zwar in einer solchen Art und Weise, dass die Bedingung dieses Betroffenwerdens bezeugt wird. Aus diesem Grund zielt der vorliegende Paragraph darauf ab, die bis jetzt enthüllten Bedingungen der Möglichkeit einer ethischen Erfahrung durch die bezeugende Erfahrung des Aufgefordertwerdens zu überprüfen und zu erforschen, ob noch etwas notwendig ist, um das Ethische erfahren bzw. verstehen zu können. In der Erfahrung der Forderung zu antworten ist das Aufgefordete das von dem Ereignis betroffene Selbst. Zu dieser Erfahrung gehört ein Verständnis dieses Selbst, und zwar als Aufgefordertes. Es muss nun gefragt werden: Was ist der Grund, warum ich/man mich/ sich aufgefordert fühle/fühlt? Was wird in diesem Aufgefordertwerden mitverstanden? Formal kann gesagt werden: Der Grund dieses Sich-aufgefordert-Fühlens und das, was in dieser Intention mitverstanden wird, ist das ethische Sein des Daseins. Diese These muss analysiert werden. Das Aufgefordertwerden bezeugt das Dasein in der Ganzheit seiner Existenz: Es erschließt das Dasein (1) als ein Seiendes, dessen Sein darin besteht, eine Aufgabe zu realisieren (Zusein); (2) als ein Seiendes, dessen Sein personell ist (Jemeinigkeit), und (3) als ein Seiendes, welches immer in einem bestimmten praktischen Kontext ist (In-derWelt-sein). Die Forderung gibt mir zu verstehen, dass ich ein Ereignis erschließen kann und dass ich auf dieses Ereignis entweder in der Form einer Befolgung der Norm oder einer Verantwortungsübernahme für die Situation antworten muss. Das Ereignis fordert mich auf, zu antworten. Dieses ›Ich‹ konstituiert sich als Selbst, so wurde gezeigt, entweder in Bezug auf die besorgende öffentliche Welt (Man-Selbst), oder in Bezug auf die Erfahrung seiner situierten individuellen Endlichkeit (eigentliches Selbst). Hinsichtlich der Referenzialität des Selbstverständnisses modifiziert sich die Erfahrung des Aufgefordertwerdens und des Antwortens: ›Ich muss antworten‹ kann dementsprechend einerseits soviel bedeuten wie das Ereignis betrifft ›alle‹ (und niemand) und ›alle‹ (und niemand) müssen darauf antworten; anderer356 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 35 Die Forderung einer Antwort zum ethischen Ereignis

seits betrifft das Ereignis mich und ich muss darauf antworten. In der Erfahrung des Aufgefordertwerdens wird dann die Modalität des Selbstbezuges bezüglich der Freiheit (Transzendenz), d. i. bezüglich der erschlossenen Situation bezeugt. Diese Modalität der Erschließung der Situation und des Verständnisses bezüglich dieser Erschließung, konstituieren zusammen mit der Forderung, die Situation zu erschließen, und eine gewisse Einstellung gegenüber dieser Situation einnehmen zu müssen, den normativen Charakter der Existenz: die Verantwortlichkeit. An dieser Stelle wird nach dem Grund dieser Forderung gefragt. Das Dasein ist ein situiertes Seiendes, welches auf diese Situation antworten muss. Es muss darauf antworten, weil zu seinem Sein das Verständnis einer Situation und eines Nicht bzw. einer Grenze gehören. Es ist die Situation, so wurde argumentiert, die eine Grenze bezeugt. Mit der Forderung nach einer Antwort wird eine Grenze bezeugt, die dem Dasein nicht auferlegt wird, sondern die aus ihm selbst heraus entsteht. Dieses Sich-in-Bezug-auf-die-Situation-Begrenzen ist ontologisch gesehen das ethische Sein des Daseins. Begrenztsein ist der Begriff, der hier vorgeschlagen wird, um das Sein eines Seienden anzuzeigen, welches stets in der Form eines Verständnisses eines Sichselbst-Begrenzens existiert. Anders gesagt: Dieser Begriff weist auf den normativen Charakter hin, welcher zum Sein des Daseins gehört. Das Dasein bzw. die modale Freiheit ist normativ: Das Dasein ist ein verstehendes Seiendes und sein Verstehen ist modal, d. h. es versteht sich selbst und die Welt entweder eigentlich in Bezug auf sein eigenes situiertes Seinkönnen oder uneigentlich in Bezug auf die innerweltlichen Seienden und die öffentlichen Möglichkeiten des Miteinanderseins. Nun kann das Dasein sein eigenes normatives Sein modal verstehen: Das Dasein kann sich als (Grund der) Verantwortlichkeit (die zum eigenen Seinkönnen gehört und die immer in Bezug auf die Situation erscheint) eigentlich verstehen, wenn es sein normatives Sein in Bezug auf die Forderung der Situation auffasst. Es kann sich ebenfalls als ›moralisch‹ uneigentlich verstehen, wenn es sich in Bezug auf die jeweilige Idee des Richtigen auslegt, die aus der Öffentlichkeit heraus entsteht und ihren Ausdruck in den moralischen Normen findet. Das Dasein ist Seinkönnen und Seinkönnen ist, so wurde argumentiert, immer situiert. Nun wird in der Situation das Möglichsein des Daseins beschränkt, und zwar in Bezug auf eine Grenze, die entweder von der moralischen Norm und der jeweiligen Idee des 357 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

Richtigen auferlegt werden kann oder die von der Situation gefordert wird. Als Seinkönnen ist das Dasein immer schon Begrenztsein. Das Dasein existiert als ethisches Seiendes ›zwischen‹ der Universalität des moralischen Befehls und der Situiertheit der Verantwortung. Das Dasein ist dieses ›zwischen‹ in der Form eines Sich-selbst-Begrenzens. Die Befolgung (der Norm bzw. Konformität) und die Aneignung (der Verantwortung für die Situation) sind beides mögliche Antworten auf die Forderung des ethischen Ereignisses, welches nur aufgrund des modalen freien Begrenztseins verstanden werden kann. Beide gründen in der Tatsache, dass es im Sein des Daseins nicht die Möglichkeit gibt, nicht zu antworten. Daraus folgt, dass das Mitverstandene in der Erfahrung des Aufgefordertwerdens das Begrenztsein ist. Das Begrenztsein erscheint dementsprechend, zusammen mit der Freiheit und der Modalität, als eine Bedingung der Möglichkeit einer Erfahrung des Ethischen. Zum Sein des Daseins gehören zwei Normativitäten: Einerseits gehört zu diesem Sein die Möglichkeit, sich für seine Verantwortlichkeit verantwortlich zu machen und seinen moralischen bzw. ethischen Horizont aus dieser Erfahrung heraus zu bestimmen. Anderseits gehört zu ihm auch die Möglichkeit, sich in Bezug auf die öffentliche Idee des Richtigen zu regulieren (welche sich in der Kultur, in den Sitten, sozialen Rollen usw. findet) und somit seine Verantwortlichkeit zu verstellen. Während die zweite Normativität zeigt, dass das Dasein in einem normativen Milieu existiert, weist die erste Normativität darauf hin, dass es die zweite Normativität entweder konformistisch internalisieren oder sich aneignen bzw. begründen kann. Die Dynamik zwischen dem normativen, freien, modalen Sein des Daseins und den zwei normativen Verständnishorizonten (Moral und Situation) ist das, was uns ein Verständnis des Ethischen ermöglicht, und zwar in den zwei beschriebenen Sinnen. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer ethischen Erfahrung erhält eine Antwort: Um das Ethische erfahren bzw. verstehen zu können, muss das erfahrende Seiende ein solches Sein aufweisen, (1) welches frei (bzw. transzendent) ist, und so eine bedeutsame und betreffende Situation erschließen kann, (2) welches begrenzt ist, und deswegen diese Situation als die Forderung einer Grenze verstehen kann, und (3) welches modal ist, und sich so auf diese Situation (und auf diese Forderung) in einer bestimmten Art 358 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

§ 36 Die Analysen der positiven Modi der Fürsorge

und Weise (d. i. entweder in der Form der Konformität mit der jeweiligen Moral und ihrer Befolgung oder in der Form der Verantwortung für diese Forderung) beziehen kann. Freiheit, Modalität und Begrenztsein sind die Bedingungen, das Ethische erfahren bzw. verstehen zu können. Mit diesem Ergebnis werden die zwei Hauptziele der vorliegenden Untersuchung erreicht. Die Arbeit kann allerdings nicht beendet werden, bevor gezeigt wird, wie die erreichten Ergebnisse genutzt werden können, um ethische Probleme zu analysieren. Zunächst beschäftigt sich die Arbeit mit dem in § 25, γ erwähnten Problem der Verdeckung des Seins des Anderen.

§ 36 Die Analysen der positiven Modi der Fürsorge und der Sicht dieser Modi aus der erreichten hermeneutischen Situation heraus Zu Anfang der Behandlung der Problematik der vorliegenden Arbeit wurde festgehalten, dass die Weise, in der wir den Anderen verstehen, von der Art und Weise abhängt, in der wir uns unser eigenes Sein aneignen 978. Durch die Bezeugung der Vereinzelung und der Verantwortlichkeit wurde erwiesen, dass die Referenzialität des Selbstverständnisses modifiziert werden kann. Die Analyse der Modifikation des Selbstverständnisses hat bis jetzt gezeigt, wie das Dasein das ethische Ereignis ›in einem neuen Licht‹ verstehen bzw. erleben kann. Da sich das Verantwortlich-Sein auf den Anderen bezieht, ist es notwendig, die Auswirkung dieser Modifikation angesichts des Verständnisses des Anderen zu analysieren. In § 25, γ der vorliegenden Untersuchung wurde suggeriert, dass durch den Bezug auf die moralische Norm sowohl das ethische Sein des Daseins als auch die Andersheit des Anderen verstellt werden. Der ursprüngliche Sinn des Ethischen wurde durch die Erfahrungen der Irregularität und des Aufgefordertwerdens zugänglich gemacht und damit wurde das ethische Sein des Daseins enthüllt. Im folgenden Paragraphen wird die Beziehung zum Anderen mit Hilfe des erreichten Sinns des Ethischen thematisiert. In § 26 SZ beschreibt Heidegger die zwei extremen (positiven) Modi der Fürsorge, nämlich die springend-beherrschende Fürsorge 978

Siehe § 10 der vorliegenden Arbeit.

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

und die vorspringend-befreiende Fürsorge. Über die springend-beherrschende Fürsorge schreibt er: Sie kann dem Anderen die ›Sorge‹ gleichsam abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle setzen, für ihn einspringen. Diese Fürsorge übernimmt das, was zu besorgen ist, für den Anderen. Dieser wird dabei aus seiner Stelle geworfen, er tritt zurück, um nachträglich das Besorgte als fertig Verfügbares zu übernehmen, bzw. sich ganz davon zu entlasten. In solcher Fürsorge kann der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese Herrschaft auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben. (SZ, S. 122)

Nach Raffoul erlaubt diese Beschreibung die Charakterisierung der springend-beherrschenden Fürsorge als ›uneigentliche Fürsorge‹ in drei Aspekten: 1. Diese Fürsorge behandelt den Anderen, als wäre er etwas Zuhandenes. 2. Heidegger beschreibt die Ersetzung des Anderen als eine uneigentliche Beziehung mit den Anderen. 3. Diese Fürsorge nimmt dem Anderen seine Sorge und Verantwortlichkeit ab. Diese Fürsorge nimmt dem Anderen die Möglichkeit ab, sich für sein eigenes Sein verantwortlich zu machen 979; die Jemeinigkeit des Anderen wird, so Helmuth Vetter, entlastet 980. Im Gegensatz zu diesem Modus der Fürsorge beschreibt Heidegger die vorspringend-befreiende Fürsorge wie folgt: [Die vorspringend-befreiende Fürsorge] [vorausspringt] [den Anderen] in seinem existenziellen Seinkönnen, nicht um ihm die ›Sorge‹ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben. Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden. (SZ, S. 122)

Dieser Modus der Fürsorge wird in Kontrast zum anderen als der eigentliche Modus der Fürsorge bezeichnet. Im Gegensatz zum uneigentlichen Modus erkennt diese den Anderen als verantwortlich an und lässt ihn frei werden, d. h. hilft ihm, (wie in einer mäeutischen Dynamik) diese Verantwortlichkeit zu übernehmen. Die Dynamik ist hier nicht eine vertikale, hierarchische Beziehung, wie im ersten beschriebenen, beherrschenden Modus, sondern vielmehr eine horizontale Beziehung, in der der Andere als das verstanden wird, was er ist. Die Absicht dieses Paragraphen ist es, den ontologischen Grund 979 980

Vgl. Raffoul, in Raffoul; Pettigrew, 2002, S. 217. Vetter, 2014, S. 84.

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§ 36 Die Analysen der positiven Modi der Fürsorge

für diese zwei möglichen Beziehungen mit dem Anderen zu analysieren. Es wird gefragt: Worin besteht der wesentliche Unterschied zwischen diesen Modi der Fürsorge? Was bedeutet es, ontologisch gesehen, dem Anderen die Sorge abzunehmen? Was bedeutet es, in einem ontologischen Sinne, dem Anderen die Sorge zurückzugeben? Bedeutet dies vielleicht, den Anderen entweder in seinem Sein (d. h. als Seiendes, dessen Sein die Sorge ist) oder als Schein (d. h. als etwas, was er nicht ist, nämlich als ein Zeug oder als das, was bleibt, wenn sein Möglichsein auf das reduziert wird, was er unternimmt 981) zu verstehen? An einer anderen Stelle der vorliegenden Arbeit (§ 12, α) wurde das Gerichtetsein (des Verständnisses) erklärt 982. Zum Verstehen, so wurde erwähnt, gehört ein Gerichtetsein auf (etwas). Heidegger nennt dies Sicht. Die Sicht des besorgenden Verstehens ist laut Heidegger die Umsicht. Das Präfix ›um‹ betont einen bestimmten transzendentalen (bzw. zeitlichen) Aspekt der Verständlichkeit dieser Sicht, nämlich die Gegenwart. Die Gegenwart, haben die Analysen der Zeitlichkeit erklärt, darf nicht als Jetzt-Punkt, sondern als Entfaltung der besorgenden Seienden interpretiert werden 983. Das ›Um‹ in ›Umsicht‹ stellt dementsprechend die Weise heraus, in der die innerweltlichen Seiende verstanden bzw. erfahren werden, nämlich als Seiende, die nur in einer Verweisungsganzheit (bezüglich einer Möglichkeit des Daseins) verständlich sind (Bewandtnis) 984. Im besorgenden Umgang, so Heidegger, lässt das Dasein die Seienden sein (Bewendenlassen) 985, dies bedeutet, das Dasein versteht die Seiende in ihrem Sein (Zuhandenheit). Kann es eine Parallele zwischen der Umsicht und der Sicht geben, die sich auf den Anderen richtet? In § 26 von SZ erläutert Heidegger direkt nach der Erklärung der positiven Modi der Fürsorge, dass das Verstehen auch auf den Anderen gerichtet sein kann, und zwar sowohl in den positiven Modi der In der uneigentlichen Fürsorge wird der Andere nicht in seinem Sein verstanden, sondern in Bezug auf das Besorgen. Dies besagt, in den Worten von Rodríguez: »[der Andere] wird nicht als ein mögliches Selbst [verstanden], sondern als derjenige, welcher durch das definiert ist, was er unternimmt, […]« (Rodríguez, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 134. Eigene Übersetzung). Hodge argumentiert, dass in der springend-beherrschenden Fürsorge eine Anerkennung des Unterschieds zwischen der Sorge und der besorgenden Welt fehlt (vgl. Hodge, 1995, S. 200). 982 Siehe § 12, α der vorliegenden Arbeit. 983 Siehe § 14 der vorliegenden Arbeit. 984 Vgl. SZ, §§ 15; 18. 985 Ebd., S. 84. 981

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

Rücksicht und Nachsicht als auch in den defizienten Modi der Rücksichtlosigkeit und des Nachsehens 986. Obwohl diese Modi der Sicht fundamental für das Verständnis der Fürsorge sind, haben weder Heidegger noch die Heideggerforschung diese Begriffe ausreichend erklärt. In Folgenden wird versucht, diese Begriffe zu erläutern und sie in Verbindung mit der Beschreibung des Verständnisses des Ethischen zu bringen. Die Interpretation dieser Begriffe muss sowohl von ihrer wörtlichen Bedeutung als auch vom Sinn der Sicht-Anzeige in SZ geleitet werden. Rücksicht ist die deutsche Übersetzung (18 Jh.) des lateinischen Wortes respectus 987 und hat dieselbe formale Bedeutung: respecere; rückwärts-sehen 988. Nachsicht kann formal soviel wie Vorsicht bedeuten 989, nämlich vorwärts-sehen 990. Diese formalen Bedeutungen stimmen allerdings nicht mit dem heutigen alltäglichen Sprachgebrauch überein. Beide Wörter repräsentieren im natürlichen Sprachegebrauch ontische Möglichkeiten des Daseins: Nachsicht bedeutet »verzeihendes Verständnis« 991 und Rücksicht bedeutet »Achtsamkeit gegenüber Interessen, Gefühlen anderer« 992. Um eine dieser wörtlichen Bedeutungen auswählen zu können, muss dementsprechend gefragt werden, welche von Beiden mit dem Sinn von Sicht in SZ zusammenpasst? In SZ bezeichnet der Begriff Um-sicht keine ontische Möglichkeit. Warum sollten Rücksicht und Nachsicht ontisch als Beispiele der Fürsorge interpretiert werden? 993 Rücksicht und Nachsicht sind Vgl. ebd., S. 123. Siehe Pfeifer,1993b, S. 1143; Kluge, 2011, S. 776; Duden, Herkunftwörterbuch, 2007, S. 686. 988 Pfeifer,1993b, S. 1119; Glare, 1980, Fascicle VII, S. 1632. Siehe auch in dem Wörterbuch, in dem Heidegger seine Etymologien gesucht hat: Grimm, J.; Grimm, W. 1984, Band 14, S. 1375 und Band 32, S. 679. ›Rück‹ ist die Verkürzung von ›zurück‹ (vgl. Kluge, 2011, S. 775). Zurück bedeutet: »mndl. terugghe ›zum Rücken‹. Die konkrete Bedeutung fängt im 12. Jh. an zu verblassen und wird zu ›rückwärts‹.« (Ebd., S. 1018). 989 Vgl. Grimm, J.; Grimm, W. 1984, Band 13, S. 126. 990 Vgl. Grimm, J.; Grimm, W. 1984, Band 26, S. 1568; Pfeifer,1993b, S. 1270. 991 Vgl. Duden, 2007, Herkunftwörterbuch, S. 751. In diesem Sinne sind (18 Jh.) Nachsicht und Nachsehen verwandt. 992 Pfeifer,1993b, S. 1143. 993 In der Recherche wurde keine Forschungsliteratur gefunden, die sich mit der Interpretation dieser Begriffe auseinandersetzt. Die meisten Interpretationen können allerdings in den verschiedenen Übersetzungen von SZ gefunden werden. In den Übersetzungen werden die Begriffe ohne weitere Erklärungen in den natürlichen 986 987

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§ 36 Die Analysen der positiven Modi der Fürsorge

keine Modi der Fürsorge, sondern Modi der fürsorgenden Sicht. Sie konstituieren die Sicht der Fürsorge, d. h., sie sind ein ontologischer Charakter des Verstehens, welches sich auf den Anderen richtet. Dies suggeriert, dass diese Begriffe ontologisch interpretiert werden müssen, und zwar als formale Bestimmungen des zeitlichen Charakters des Auf-den-Anderen-gerichtet-Seins. In diesem Sinne können die formalen Bedeutungen ›rückwärts-‹ und ›vorwärts-sehen‹ ontologisch als zeitliche Richtungen des Verstehens interpretiert werden. Heidegger erklärt in § 26 SZ, dass der Andere nicht etwas Vorhandenes, sondern selbst ein Dasein bzw. Sorge ist. Insofern das Sein der Anderen Sorge ist, ist er zeitlich, und zwar sowohl als Zukunft (Existenzialität) als auch als Gewesenheit (Faktizität). Dies suggeriert, dass die Nutzung der Begriffe Rücksicht und Nachsicht dazu dient, den zeitlichen Aspekt des Gerichtetseins auf ein Seiendes, dessen Sein zeitlich ist, zu betonen. Die Präfixe rück- und nach-, genauso wie ›um‹ in Umsicht, weisen darauf hin, dass das Korrelat dieses Gerichtetseins zeitlich ist, und dass dieses gerichtete Verständnis es deswegen zeitlich auffasst. Rück-Sicht zeigt eine Sicht an, die den gewesenen Charakter des Anderen versteht. Nach-Sicht bezeichnet die Sicht, die den zukünftigen Charakter des Anderen versteht. Die Sicht der Fürsorge sowohl als Rücksicht als auch als Nachsicht zu charakterisieren, bedeutet, dass das Dasein den Anderen gleichzeitig in seiner Faktizität (Rück-) und in seiner Existenzialität (Nach-) versteht, wenn es sich auf den Anderen richtet. Eine Gleichursprünglichkeit

Sprachgebrauch übersetzt. Aus diesem Grund wird der Sinn dieser Phänomene auf die ontische Ebene beschränkt. Dies wird zum Beispiel in der Übersetzung von Nachsehen (Privation von Nachsicht) deutlich: Nachsehen wird als extrema indulgencia (vgl. Heidegger, M. (2015). Ser y Tiempo. Üb. Rivera, J. E. Santiago de Chile: Editorial Universitaria, S. 149), negligenza (Nachlässigkeit) (vgl. Heidegger, M. (1971). Essere e Tempo. Üb. Chiodi, P. Milano: Longanesi &âC., S. 154), tolèrance (Toleranz) (vgl. Heidegger, M. (1986). Être et Temps. Üb. Vezin, F. Paris: Gallimard., S. 165), indulgence (vgl. Heidegger, M. (1964). Être et Temps. Üb. Boehm R. et Waelhens, A. Paris: Gallimard, S. 155) übersetzt. Dabei handelt es sich nicht um eine fehlerhafte Übersetzung, denn Heidegger selbst hat die Begriffe nicht erklärt und im Fall von Nachsehen kein Wort benutzt, welches (wie bei der Rüchsichtlosigkeit) den Gegensatzcharakter zur Nachsicht betont. Die einzige Übersetzung, die irgendwie auf diesen privativen Charakter hinweist, ist die von Macquarrie und Robinson: perfunctoriness (Oberflächlichkeit) (vgl. Heidegger, M. (2008). Being and Time. Üb. Macquarrie, J. and Robinson, E. New York: Harper Perenial, S. 159–160).

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

der Sichten 994 wird erkannt, und diese gründet in der Gleichursprünglichkeit von Existenzialität und Faktizität 995. Ist dies erklärt, kann der Grund der zwei Modi der Fürsorge besser interpretiert werden. Die vorspringend-befreiende Fürsorge beschreibt eine Fürsorge, die den Anderen als das versteht, was er ist, h. d. als Sorge. Die Sicht dieser Fürsorge sieht den Anderen in der Einheit seines zeitlichen Charakters. Die springend-beherrschende Fürsorge bezeichnet im Gegensatz dazu eine Fürsorge, die den Anderen als das versteht, was er nicht ist. Diese letzte These muss erklärt werden. Es wurde erwähnt, dass die springend-beherrschende Fürsorge den Anderen als ein Korrelat des Besorgens versteht. Die Sicht, die das besorgende Seiende als Korrelat hat, ist allerdings die Umsicht. Heidegger macht in SZ dennoch deutlich, dass die Sicht der Fürsorge nicht die Umsicht ist. Die Sicht der Fürsorge, so Heidegger, teilt sich in die Rücksicht, die Nachsicht und die defizienten Modi der Rücksichtlosigkeit und des Nachsehens. Wie ist diese scheinbare Unbeständigkeit zu interpretieren? In der springend-beherrschenden Fürsorge versteht das Dasein den Anderen in Bezug auf das Besorgen, und zwar als Teil des Besorgens. In diesem Zusammenhang kann das Dasein den Anderen (im Kontext des Besorgens) entweder als denjenigen verstehen, der ersetzt werden kann 996, oder kann ihn gar nicht als Akteur verstehen, sondern als Mittel des Besorgens. In beide Fällen kann gesagt werden, dass der Andere vergegenständlicht wird. Im ersten Fall wird der Diese Unterteilung ist dementsprechend eine methodische Ressource. Nun könnte die vorliegende Interpretation insofern kritisiert werden, dass sowohl die Sorge als auch die Zeitlichkeit des Daseins dreiteilig sind, und, dass in dieser Interpretation das Verfallen und die Gegenwart fehlen. Einer solchen Kritik könnte entgegengehalten werden, dass die Analysen der Zeitlichkeit gezeigt haben, dass die Zukunft und die Gewesenheit das Verfallen bzw. die Gegenwart enthalten. Entwurf und Geworfenheit sind nur in der Welt. Wenn Heidegger in der Definition der Sorge die zeitlichen Anzeigen ›Schon‹ für die Gewesenheit und ›Vor‹ für die Zukunft benutzt, erkennt er gleich danach: »Dagegen fehlt eine solche Anzeige für das dritte konstitutive Moment der Sorge: das verfallende Sein-bei… Das soll nicht bedeuten, das Verfallen gründe nicht auch in der Zeitlichkeit, sondern andeuten, daß das Gegenwärtigen, in dem das Verfallen an das besorgte Zuhandene und Vorhandene primär gründet, im Modus der ursprünglichen Zeitlichkeit eingeschlossen bleibt in Zukunft und Gewesenheit.« (SZ, S. 328). 995 Siehe dazu §§ 12, β und 13 der vorliegenden Arbeit. 996 Vgl. Rodríguez, 2015b, S. 173, Fußnote Nr. 8. 994

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§ 36 Die Analysen der positiven Modi der Fürsorge

Andere vergegenständlicht, insofern das Dasein ihm seine Verantwortlichkeit entzieht; im zweiten Fall, insofern er als Teil eines bestimmten produktiven Kontextes verstanden wird, d. h. nicht als Möglichsein, sondern als etwas (im Kontext) Bestimmtes (z. B. als Angestellte). Es kann nur etwas vergegenständlicht werden, das kein Ding ist. Die Vergegenständlichung setzt dementsprechend eine Sicht voraus, die sich auf etwas nicht Vorhandenes (bzw. Zuhandenes) richtet, aber dieses nicht vorhandene ›Etwas‹ als Ding bzw. als Zeug auslegt. Es handelt sich um eine privative bzw. scheinbare Erschließung der Andersheit. Rücksichtlosigkeit und Nachsehen sind die Begriffe, die Heidegger vorschlägt, um eine solche Sicht zu beschreiben. Im uneigentlichen Modus der Fürsorge ignoriert (und verstellt dementsprechend) das Dasein den zeitlichen Charakter des Anderen. Laut dieser Interpretation sind ›Rücksichtlosigkeit‹ und ›Nachsehen‹ auch keine ontischen Beispiele der Fürsorge, sondern die Privation des Verständnisses der Zeitlichkeit des Anderen. Heidegger selbst charakterisiert die ›Rücksichtlosigkeit‹ und das ›Nachsehen‹ im Gegensatz zur ›Rücksicht‹ und zur ›Nachsicht‹ als defiziente 997 Modi. ›Rücksichtlosigkeit‹ und ›Nachsehen‹ sind auch Modi der fürsorgenden Sicht, und charakterisieren sich durch die Verstellung des zeitlichen Charakters des Anderen: Während die Rücksichtlosigkeit die Faktizität des Anderen verstellt, verstellt das Nachsehen seine Existenzialität. Diese Modi der fürsorgenden Sicht sind, genauso wie Rücksicht und Nachsicht, auch gleichursprünglich. Sie legen den Anderen als factum brutum aus. Dies bedeutet in einem ontologischen Sinne, dass sie die wesentliche Verbindung zwischen Existenzialität und Faktizität (des Anderen) verstellen. Der Grund der verschiedenen Modi der Fürsorge ist die Weise, in der der Andere verstanden wird. An dieser Stelle können die Modi der Fürsorge ontologisch weiter charakterisiert werden: Eine springend-beherrschende Fürsorge zeichnet sich durch eine Sicht aus, die ›rücksichtslos‹ und ›nachsehend‹ ist. Im Gegensatz dazu ist eine vorHeidegger benutzt den Begriff ›defizient‹ manchmal in Anlehnung an die Bedeutung von privatio, um etwas zu bezeichnen, das fehlt, obwohl es eigentlich nicht fehlen sollte (z. B. siehe GA 20, S. 300). Wenn es um das Dasein geht, bedeutet dieses ›Fehlen‹ allerdings nicht ›Mangel‹ (im Sinne eines Nichtvorhandenseins) (vgl. SZ, S. 283). Defizient soll in diesem Zusammenhang vielmehr als die Möglichkeit einer Verstellung eines primären (ursprünglichen) Modus des Möglichseins bzw. der Existenz interpretiert werden.

997

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springend-befreiende Fürsorge durch eine Sicht gekennzeichnet, die ›rücksichtig‹ und ›nachsichtig‹ ist. Dies bedeutet: Während eine springend-beherrschende Fürsorge den Anderen in einer solchen Art und Weise versteht, in der sowohl seine Faktizität als auch seine Existenzialität nicht nur verstellt, sondern auch ignoriert werden, versteht die vorspringend-befreiende Fürsorge den Anderen als das, was er ist, nämlich als Sorge und das heißt als wesentliche Verbindung zwischen Faktizität und Existenzialität. Wie ist dies ontisch bzw. konkret zu verstehen? In den Analysen des Moralitätsbereichs 998 wurde suggeriert, dass das Dasein den Anderen zunächst durch eine Ersetzung versteht: Ein Beurteiler kann einen Beurteilten in Bezug auf die moralische Norm als böse, unrecht, ungewünscht etc. bezeichnen. Jemand ist böse, weil er/sie gelogen bzw. nicht der Norm ›man soll nicht lügen‹ gefolgt hat. In einem solchen Verständnis wird dieser Andere nicht in seiner Existenzialität-Faktizität verstanden, weil die Situation, in der er/sie gelogen hat, ignoriert wird. Dies kann an einem Beispiel illustriert werden: Ein/eine Angestellte/r stiehlt Geld seines/ihres Unternehmens, um Medizin für sein/ihr Kind zu kaufen. Er/sie hat das Geld genommen, weil sein/ ihr Kind die Medizin dringend brauchte und er/sie keine andere Möglichkeit hatte, die Medizin zu kaufen. Die springend-beherrschende Fürsorge würde diesen Anderen sofort in Bezug auf die Norm verstehen und ihn durch einen moralischen Diskurs ersetzen. ›Er/sie ist böse‹ und muss aus diesem Grund bestraft werden, weil man nicht stehlen sollte. Das, was für dieses uneigentliche Verständnis wichtig ist, ist, dass der Mann/die Frau das Geld genommen hat (bzw. dass er/ sie die moralische Norm übertreten hat), nicht warum er/sie es getan hat. Der besorgende Kontext der Produktivität des Unternehmens leitet das Verständnis diesen Anderen. Der/die Chef/in kann ihn/sie ungeachtet seiner/ihrer Situation entlassen. Seine/ihre Faktizität (Lage: sein/ihr Kind ist schwer krank) und seine/ihre Existenzialität (Grund für die Handlung: der Mann/die Frau hatte keine andere Möglichkeit die Medizin zu bekommen) werden ignoriert. Die Andersheit des Anderen ist hier auf die Vorgaben der Norm reduziert. Diese Art des Verständnisses beschränkt sich nicht nur auf die Beziehung zu den moralischen Normen. Ein/eine Chef/in, der/die diesen Modus der Fürsorge aufweist, kann jemanden entlassen, nur 998

Siehe § 25, γ der vorliegenden Arbeit.

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§ 36 Die Analysen der positiven Modi der Fürsorge

weil er/sie nicht mehr produktiv ist. Hier ist die Produktivität der Diskurs, der den Anderen ersetzt. Es ist nicht wichtig, ob der Andere die Arbeit braucht, weil er/sie Schulden zu bezahlen hat, oder weil er/ sie für seine/ihre Familie sorgen muss u. ä. Es ist auch nicht wichtig, dass er/sie ›nicht produktiv ist‹, weil er/sie alt geworden ist, weil er/ sie krank ist, weil er/sie ein Kind erwartet, u. dgl. Der Andere kann uneigentlich als Mittel zur Produktivität verstanden werden. Dies Verständnis ermöglicht den/die Chef/in diesen Anderen einfach durch einen (ebenso anonymen) ›Anderen‹ zu ersetzen. Der/die Angestellte ist zwar ein ›Anderer‹, aber hat in diesem Verständnis kein Angesicht. Die Möglichkeit, auf die Produktivität reduziert zu werden, ist genau das, was den Anderen »zum Abhängigen und Beherrschten« machen kann. Nur jemand, der/die als generischer Teil des Besorgens ausgelegt wird, kann ersetzt werden. Andere Beispiele dieses uneigentlichen Verständnisses des Anderen sind die Ausnutzung von Kindern als billige Arbeitskraft, der Menschenhandel, die niedrige Entlohnung für schwere (körperliche) Arbeit etc. Diese Vergegenständlichung bzw. Entmenschlichung des Anderen kann so weit gehen, dass der Andere kein Anderer (wie ich) mehr ist, sondern etwas (Anderes; Minderwertiges), das benutzt werden kann oder das stört und deswegen zerstört werden muss 999. Im Gegensatz dazu versteht die vorspringend-befreiende Fürsorge den Anderen als situierten Anderen, d. h. als Individuum (mit einem Angesicht). In dieser Fürsorge ist der Bezug nicht mehr die Norm, die Produktivität, der Diskurs oder ein Ideal, sondern die (von der Erfahrung meiner Existenz bezeugte) Existenz des Anderen. In Bezug auf die Ergebnisse der Analyse der Eigentlichkeit muss die vorspringend-befreiende Fürsorge als eigentlicher Modus der Fürsorge verstanden werden. Es wurde bereits erwähnt, dass das Weltverständnis vom Selbstverständnis beeinflusst wird und dass die Erfahrung der Vereinzelung die Erfahrung ist, die sowohl das Ich als auch das Du in ihrer Existenzialität und Faktizität erschließt 1000. Die ›Entschlossenheit‹ bzw. die Erschlossenheit, deren Referenzialität direkt auf die Phänomene bezogen ist, ist laut Heidegger die ›eigentDie Analysen Arendts (2006) über die ›Banalität des Bösen‹ zeigen nicht nur, dass Menschen die Bosheit grausamer Praktiken angesichts der Befolgung eines Befehls, der Teil eines produktiven Prozesses ist, ignorieren können, sondern auch, dass die Anderen in Bezug auf diesen Prozess zu ›Atomen‹, ›Dingen‹ werden, die behandelt, platziert, zerstört werden müssen, um der Produktivität des Prozesses zu dienen. 1000 Siehe § 33 der vorliegenden Arbeit. 999

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liche Wahrheit‹ 1001, d. h. die direkte Beziehung zum Phänomen, in der das Sein dieses Phänomens ohne Verstellung verstanden wird und in der das eigene Sein des Daseins für es durchsichtig wird. Durch die Modifikation der Referenzialität bezieht sich das Dasein direkt auf die Phänomene und nicht auf das, was über die Phänomene gesagt wurde. In der Erfahrung der Vereinzelung bzw. Aneignung der Verantwortlichkeit wird der Andere als Anderer bzw. in seiner Sorge verstanden. Heidegger schreibt diesbezüglich: Aus dem Worumwillen des selbstgewählten Seinkönnens gibt sich das entschlossene Dasein frei für seine Welt. Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die mitseienden Anderen ›sein‹ zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen und dieses in der vorspringend-befreienden Fürsorge mitzuerschließen. Das entschlossene Dasein kann zum ›Gewissen‹ der Anderen werden. Aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlossenheit entspringt allererst das eigentliche Miteinander, nicht aber aus den zweideutigen und eifersüchtigen Verabredungen und den redseligen Verbrüderungen im Man und dem, was man unternehmen will.(SZ, S. 298) 1002

Nur in der Erfahrung der eigenen Endlichkeit (und damit der eigenen Zeitlichkeit) kann das Dasein den Anderen als zeitlich in seiner Gewesenheit bzw. Faktizität (durch die rücksichtige Sicht) und Zukunft bzw. Existenzialität (durch die nachsichtige Sicht) verstehen. Heidegger schreibt: »Als unbezügliche Möglichkeit vereinzelt der Tod aber nur, um als unüberholbare das Dasein als Mitsein verstehend zu machen für das Seinkönnen der Anderen.« 1003 Die These der Vereinzelung ist dementsprechend eine ontologisch-ethische These, insofern sie darauf anspielt, dass die Modifikation des Verständnisses auf das eigene Seinkönnen, die Erschließung des Anderen als (faktisch-existenzieler) Anderer ermöglicht 1004. Anders gesagt: In gewissen ErfahVgl. SZ, S. 298–299. Hier wird die Entschlossenheit formal bzw. ontologisch verstanden. Andere Autoren (Habermas, Tugendhat, Margolis) verstehen die Entschlossenheit ontisch in Zusammenhang mit Heideggers Verbindung zur Nationalsozialistischen Partei. Dazu siehe Hodge, 1995, S. 192–196. 1002 Polt kommentiert: »Heidegger hat die Vorstellung, dass die Eigentlichkeit einen ethischen Aspekt aufweist (um es mit kantianischen Worten auszudrücken: er scheint uns ermuntert, den Anderen nicht als ein Mittel, sondern als Zweck an sich zu behandeln)« (Polt, 1999, S. 61. Eigene Übersetzung). 1003 SZ, S. 264. 1004 Das eigene Sein des Daseins impliziert eine Beziehung mit dem Anderen, welche nicht aufgehoben werden kann. Rodríguez schreibt z. B.: »Wenn wir dem existenzialen Leitfaden folgen und uns daran erinnern, dass Existenz bedeutet, das eigene Sein 1001

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§ 36 Die Analysen der positiven Modi der Fürsorge

rungen (z. B. Angst, Tod, Gewissenruf, Irregularität, Aufgefordertwerden), in denen die Vereinzelung miterfahren bzw. mitverstanden wird, wird die öffentliche (d. h. auch gruppenbezogene) Normativität hintenangestellt, so dass die Normativität der Situation (d. h. des situirten Seinkönnens mit den Anderen) einen Horizont konstituiren kann, in dem ich nicht nur mich selbst, sondern auch die Anderen verstehe. Die Erfahrung der Vereinzelung dient der Bezeugung des von dem Mitdasein-Begriff angezeigten Phänomens des Miteinander-ineiner-Welt-seins. Die defizienten und indifferenten Modi der Fürsorge verstellen zunächst unser Verständnis der Andersheit des Anderen 1005. Die Erfahrung der Vereinzelung bezeugt die Andersheit als faktisch-existenzial (in einer Welt). Wenn die Anzeige ›Mitdasein‹ darauf hinweist, dass der Andere unmittelbar als ein faktisch-existierendes Seiendes erschlossen wird, dann kann diese Bestimmung nur in der Vereinzelung phänomenologisch überprüft werden. In diesem Zusammenhang wird die These Heideggers verständlicher, dass in der vorspringend-befreienden Fürsorge das Dasein den Anderen seine Sorge ›zurückgibt‹. Dies bedeutet nicht, dass in dieser Fürsorge das Dasein dem Anderen seine Sorge überträgt, als wäre sie etwas Vorhandenes, das das Dasein hat und dem Anderen ›als Geschenk‹ geben wolle. Es bedeutet vielmehr, dass in dieser Art des Sichrichten-auf (den Anderen) der Andere als ein Seiendes erschlossen bzw. verstanden wird, dessen Sein die Sorge bzw. die einheitliche Beziehung zwischen Existenzialität und Faktizität ist. Die nachfolgende These Heideggers, dass die vorspringend-befreiende Fürsorge »dem Anderen dazu [verhilft], in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden«, wird ebenso verständlicher. Sie kann, wie Michael […] zur Aufgabe zu haben, dann ist dieses Sein, welches angeeignet werden muss, immer ein Mit-sein, d. h. ein Sein, von dem die Andere ein unvermeidlicher Teil sind.« (Rodríguez, in Rodríguez (Hrsg.), 2015a, S. 128. Eigene Übersetzung). Die Aneignung des eigenen Seinkönnens bedeutet dann, dass das Sich-auf-den-AnderenRichten modifiziert wird, und zwar zu einer Anerkennung des Anderen als Anderer bzw. als Seinkönnen. Dies motiviert, so suggeriert Blattner, eine Sorge für das Leben der Anderen (vgl. Blattner, 2009, S. 67). Hodge schreibt: »Nur durch eine Beziehung zum Selbst ist es möglich, genuine Sorge um Andere auszudrücken. Es ist in der Tat möglich, die Sorge des Anderen als seine Sorge anzuerkennen.« (Hodge, 1995, S. 200. Eigne Übersetzung). Aurenque hält auch fest, dass in der Beschreibung der vorspringend-befreienden Fürsorge eine ethische Komponente gefunden werden kann (vgl. Aurenque, 2011, S. 296 ff.). 1005 Vgl. SZ, S. 124 f.

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

Theunissen erklärt, so interpretiert werden: Da sich das Dasein vereinzeln (bzw. von den Anderen befreien) muss, um sein eigenes Seinkönnen zu verstehen, soll es dem Anderen auch die Möglichkeit geben, sich von ihm zu befreien (bzw. zu vereinzeln), sodass der Andere sein eigenes Seinkönnen erfahren kann 1006. Die These kann auch suggerieren, dass die Durchsichtigkeit, die durch die Vereinzelung gewonnen wird, die Weise modifiziert, in der ich mich um den Anderen sorge. Dies determiniert keine bestimmte ontische Möglichkeit, sondern die Art und Weise des Gerichtetseins. Den Anderen für seine Sorge frei zu lassen, bedeutet dann, ihn in seiner Sorge zu verstehen 1007. Den Anderen angesichts seiner Sorge zu verstehen, impliziert allerdings eine ontische Art und Weise, mit ihm umzugehen. Im Verständnis des Anderen als faktisch-existenziales Seiendes wird eine ontische Perspektive ermöglicht: Ich kann mich in den Anderen (in seine Situation) hineinversetzen. Dieser Vorstellung gründet auf der rücksichtigen, nachsichtigen Sicht und nicht umgekehrt. Es ist kein ontologisches Moment einer Enthüllung der Andersheit (d. h. keine Einfühlung), weil es im Mitsein, d. h. in dem unmittelbaren Verständnis des Anderen als Anderer gründet. Da das Dasein immer je meines ist, kann es sich nicht ›metaphysisch‹ in den Anderen hineinversetzen 1008, aber es kann durch den Einsatz der situierten Vernunft die Situation des Anderen auffassen und sich selbst in dieser Situation vorstellen. Das eigentliche Dasein kann und soll dem moralischen Kontext (d. i. dem Moralitätsbereich) mit Vernunft begegnen und so die Situation gemäß dieser Einstellung verstehen und sich nicht nur seine eigenen Handlungen, sondern die ganze Situation aneignen 1009 und dies nicht, weil eine öffentliche Norm es so diktiert, sondern, weil die Situation selbst es erfordert. Vgl. Theunissen, 1965, § 34, insbes. S. 180–181. Eine Beschreibung eines solchen Gerichtetseins kann, wie Aurenque richtig erkennt, in Heideggers Überlegungen über die Liebe bei Augustinus gefunden werden. Hier interpretiert Heidegger die augustinische Definition der Liebe amo volo, ut sis als »ich liebe Dich – ich will, daß Du seiest, was Du bist« (Brief an Arendt von 13. 05. 1925, S. 31, in Arendt, Hannah / Heidegger, Martin: Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. Frankfurt am Main: Vittorio Klosterman). Dazu siehe Aurenque, 2011, S. 297–299. Laut Aurenque wird die Liebe von Heidegger als »Gelassenheit für die eigene Wesensentfaltung der Anderen« (im Gegensatz zur Auferlegung des Willens) interpretiert (ebd., S. 298). 1008 In der Abhandlung Der Begriff der Zeit betont Heidegger: »Das Dasein der anderen bin ich nie, obzwar ich mit ihnen sein kann.« (GA 64, S. 47). 1009 Crowell merkt richtig an, dass Heideggers Analyse nicht eine solche aristote1006 1007

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§ 36 Die Analysen der positiven Modi der Fürsorge

Im Beispiel des Vaters/der Mutter, der/die das Geld stiehlt, um sein/ihr Kind zu retten, kann der/die Chef/in sich auch für den Anderen im eigentlichen Modus der vorspringend-befreiende Fürsorge sorgen und den Anderen im Kontext seiner/ihrer Situation verstehen, insofern er/sie die Gründe und die Lage des Anderen berücksichtigt, als ob er/sie selbst in dieser Lage wäre und diese Gründe hätte. In der Erfahrung der Vereinzelung versteht sich das Dasein als eigenes Seinkönnen und wenn es den Anderen angesichts dieser Erfahrung versteht, erkennt es den Anderen als verantwortlich an und verlangt von ihm die Übernahme von Verantwortung 1010. In diesem Sinne kann über eine Befreiung der Verantwortlichkeit des Anderen gesprochen werden: In der Anerkennung verhilft das Dasein dem Anderen dazu, für seine/ihre Verantwortlichkeit frei zu werden. Ontisch gesehen kann dies als eine Dynamik verstanden werden, in der das Dasein dem Anderen hilft, kritisch und kontextbezogen zu überlegen und sich selbst als verantwortlich für seine eigene Entscheidungen angesichts der Forderung der Situation zu fühlen 1011. Dies ist nur lische, moralische Verpflichtung darstellt (wie: »act so that your action promotes, in yourself and in others, what is highest or best in human being, rationality.«) (Crowell, 2013, S. 301). Dennoch zeigen die vorliegenden Analysen, dass die Betonung der Situation, die die Eigentlichkeit hervorruft, die situierte Benutzung der Vernunft ermöglicht, und zwar auf normative Art und Weise. 1010 Crowell betont: »Indeed, it is impossible to be accountable to myself without owing an account to others – and this for two reasons. First, since Dasein is essentially Mitsein, my relations to others are at stake even in breakdown, and all the more when I re-engage the world resolutely. […] And second, since to be accountable is to stand toward factic givens as toward reasons, and since by their very structure reasons are (potentially) public, I cannot be accountable for myself without at the same time being accountable to others, indeed to every other.« (Crowell, 2013, S. 225; siehe auch S. 284 ff.). Hier ist auch interessant, nachdrücklich anzumerken, dass sich diese gemeinsame Verantwortlichkeit nur in einem normativen Kontext (bzw. in einer normativen Welt) vollziehen kann, und es geht um die Aneignung dieses Kontextes (vgl. ebd., S. 226–227). Die Begründung dieses Kontextes ist allerdings die gemeinsame Transzendenz. Crowell schreibt: »Only because my orientation toward the Good involves being answerable to others – all others – can the measure of better or worse become publicly normative – that is, be part of a sociality that is not merely animal but existential: being-in-the-world as possessed of an understanding of being.« (ebd., S. 236). 1011 Siehe Crowell, 2013, S. 302–303. In diesem Sinne stimmen wir mit Hodge überein, wenn sie argumentiert, dass es in der Daseinsanalytik drei ethische Interessen gibt: »taking responsibility for oneself, refusing the temptation to take responsibility for others, […] and recognising differences between self and others.« (Hodge, 1995,

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4 · Die Erfahrungen der Irregularität und der Appellation des Ethischen

im Dialog möglich, d. i. in einer symetrischen Dynamik zwischen gleichrängigen Seienden (bzw. Mitdaseienden). Es kann also zu dem Schluss gekommen werden, dass die Vereinzelung nicht nur eine Verantwortungsübernahme für die eigene, sondern auch für die fremde Verantwortlichkeit ermöglicht. Die Modifikation der Referenzialität des Verständnisses ermöglicht dementsprechend eine Fürsorge, die den Anderen als Anderen, d. h. als situiertes Seinkönnen versteht. Dies bedeutet, dass die Enthüllung des eigenen ethischen Seins gleichzeitig eine Enthüllung des ethischen Seins des Anderen ist. Hier wird eine neue Art von Gesellschaft möglich, die nicht negativ als eine Gesellschaft unverantwortlicher Mitglieder betrachtet wird, sondern positiv als eine Gesellschaft von verantwortungsvollen Mitglieder, die sich miteinander als solche anerkennen und sich kritisch auf bestimmte Situationen beziehen und sich mit diesen auseinandersetzen. Dann ergibt sich eine neue Art gesellschaftlicher Normativität, die nicht mit der bereits analysierten Anpassung an den moralischen Befehl übereinstimmt. Die Anerkennung der eigenen und der fremden Verantwortung trägt dazu bei, dass sich sowohl das Ich als auch das Du für ihre Entscheidungen verantwortlich machen. So entsteht eine Dynamik, Gründe voneinander einfordern zu müssen und eigene Handlungen/Entscheidungen gegenüber dem Anderen begründen zu müssen, und dies immer in Bezug auf die Forderung der Situation 1012.

S. 202). Hier wird ein viertes Interesse erkannt: Entschlossenheit ist nicht isoliert, sondern geschieht im Miteinandersein und demzugolge erschließt sich die Möglichkeit, dem Anderen zu helfen, sich auf die Situation zu richten und auf die Forderung der Situation zu antworten. 1012 Luckner erkennt das normative Potenzial der Eigentlichkeit, insofern sich in ihr das Dasein auf verantwortliche Art und Weise auf die jeweilige Situation bezieht. Er fürchtet jedoch einen »kriterienlosen Dezisionismus« (vgl. Luckner, in Waldenfels u. Därmann (Hrsg.), 1998, S. 86). Luckner erkennt nicht, dass die jeweilige Situation als Kriterium für ethische Entscheidungen dienen kann, da die Welt immer Mitwelt ist und die verantwortliche Auseinandersetzung mit der Situation auch mit anderen verantwortlichen Existierenden in der Form des Dialogs geschehen kann. Hier sind die Forderung der Situation und die angeeignete Moralität des Miteinanderseins die Kriterien, anhand derer die Entscheidungen evaluiert werden.

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SCHLUSS: Rückblick auf die Forschungsfragen

In der Einleitung dieser Arbeit wurde gesagt, dass die Hauptfrage der Ethik die Frage nach dem Grund des Ethischen ist, d. h. eine Frage nach der Legitimierung des Sinns des Richtigen in den verschiedenen ethischen Erfahrungen. Von einem phänomenologischen Standpunkt aus gesehen, setzt diese Frage sowohl eine Beschreibung der phänomenalen Tatbestände als auch eine Analyse der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung dieser Tatbestände voraus. In der Ethik bedeutet dies, dass bevor die Frage nach dem Grund des Ethischen gestellt werden kann, zuerst sowohl die alltäglichen Erfahrungsarten des Ethischen als auch die Bedingungen (bzw. Seinsstrukturen), die diese Erfahrungen ermöglichen, erkannt und analysiert werden müssen. Die vorliegende Arbeit hat beabsichtigt, diese zwei vorbereitenden Aufgaben zu erfüllen. Zwei Fragen haben die Arbeit geleitet: 1. Wie wird das Ethische alltäglich erfahren bzw. verstanden? 2. Wie ist es möglich, das Ethische in dieser Weise erfahren bzw. verstehen zu können? Nach einer hermeneutisch-phänomenologischen Analyse wurden die folgenden Ergebnisse erreicht: 1. Die erste Analyse des Moralitätsbereichs zeigte, dass das Dasein das Ethische zunächst in Bezug auf die prohibitive moralische Norm versteht, und dass in diesem Bezug das Ethische als die Befolgung eines auferlegten Nicht bzw. einer auferlegten Grenze verstanden wird. Dieses Verständnis gründet sich in der Tendenz des Daseins, sich in Bezug auf öffentliche Diskurse und Möglichkeiten zu verstehen. Nun wurde an dieser Stelle erkannt, dass dieser Bezug das ethische Sein des Daseins verstellt: Der Bezug auf eine Idee des Richtigen und auf eine moralische Norm, die universell befohlen werden, verhindern den Bezug auf das eigene situierte Seinkönnen und damit den wesentlichen normativen Charakter der Existenz: die Verantwortlichkeit. In diesem Bezug erscheint die Normativität als normkonform und nicht als Selbstbezug des situierten Seinkönnens. 373 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Schluss: Rückblick auf die Forschungsfragen

Diese Verhinderung machte die Untersuchung auf zwei Probleme aufmerksam: Einerseits wurde erkannt, dass die Erfahrung bzw. das Verständnis des Ethischen zunächst auf die Erfahrung der Anpassung an die Norm reduziert wird und, dass dies problematisch ist, insofern die universell auferlegte Grenze der Norm dem ethischen Ereignis vorausgeht und dementsprechend den ursprünglichen Sinn dieses Ereignisses verdeckt. Dies hat zur Folge, dass der durch diese Erfahrung erreichten Sinn des Ethischen die Seinsart des Scheins aufweist. Andererseits zeigte dieses Problem, dass es nötig war, den Sinn des Ethischen phänomenologisch zu überprüfen, damit dieser Sinn verlässlich ist. Dies war jedoch problematisch, da die moralische Norm, welche ein Zeugnis des Ethischen und nicht das Ethische selbst ist, eine Überprüfung nicht möglich machte. Aus diesen Gründen musste die Untersuchung durch die bezeugende Erfahrung der Irregularität einen Zugang zu einer neuen Erfahrung bzw. einem neuen Verständnis des Ethischen gewinnen. Die Erfahrung der Irregularität ermöglicht die direkte Erfahrung der Verantwortlichkeit und mit ihr die Bestimmung eines neuen Sinns des Ethischen, welcher direkt in der Situation erfahren bzw. verstanden wird. Das Ethische wird in der Erfahrung des von der Situation Aufgefordertwerdens als eine Aneignung der situierten Grenze verstanden. Das Ereignis selbst wird als ein Sollen verstanden. Das Sollen in einer solchen Erfahrung, so wurde gezeigt, entsteht aus der Situation und wird nicht universell von der Norm diktiert. Somit wurden zwei verschiedene Arten von Normativität aufgezeigt: ein Sollen, welches dem Dasein von der Öffentlichkeit auferlegt wird und ein Sollen, welches aus der Situation heraus entsteht, wenn diese in Bezug auf die Verantwortlichkeit des Daseins erschlossen wird. Die Analysen zeigten dementsprechend zwei Modi der ethischen Erfahrung (d. h. zwei Bezüge), zwei Normativitäten und zwei Bedeutungen des Ethischen. 2. Die Untersuchung begann mit der ἔθος-ἦθος Anzeige: Das Dasein existiert als Entscheidendes in einem moralischen Horizont. Die Analyse der Konstitution des Selbst erlaubte der Untersuchung, die Problematiken der Selbstkonstitution des Daseins und der Konstitution des Horizonts zusammenzubringen. Das Selbst, so wurde gezeigt, konstituiert sich durch seine Transzendenz. Für die Untersuchung bedeutete dies, dass die Art, in der das Dasein das Ethische versteht, die Weise, in der es sich als ethisch versteht (und umgekehrt), konstituiert. Aus diesem Grund wurde die Freiheit des Da374 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Schluss: Rückblick auf die Forschungsfragen

seins (in ihrem vollständigen Sinn: Transzendenz, Negativität und In-der-(Un)Wahrheit-sein) als erste Bedingung des Verständnisses des Ethischen erkannt. Diese Freiheit, so wurde gezeigt, charakterisiert sich durch eine Modalität: Das Dasein kann sich selbst und die Welt entweder in Bezug auf sein eigenes Seinkönnen (Eigentlichkeit) oder in Bezug auf öffentliche Diskurse und Möglichkeiten (Uneigentlichkeit) verstehen. Das Dasein tendiert, so wurde betont, zur Uneigentlichkeit. Die zwei Erfahrungen des Ethischen und die zwei Bedeutungen des Ethischen zeigten, dass Freiheit und Modalität nicht die einzigen Bedingungen sind, um das Ethische erfahren bzw. verstehen zu können, sondern, dass die wesentliche Normativität der Existenz, welche als ein Begrenztsein bezeichnet wurde, auch notwendig ist, um eine Grenze (sowohl in Bezug auf die moralische Norm als auch in Bezug auf die ethische Situation) erfahren bzw. verstehen zu können. Diese letzte Bedingung bleibt allerdings zunächst verdeckt, da die Anpassung an die Norm (die zum uneigentlichen Verständnis des Ethischen gehört) die existenzielle Verantwortung (die notwendig für die Erfahrung der Verantwortlichkeit bzw. der eigenen Normativität ist) verhindert. Nach einer Bezeugung der Verantwortlichkeit und mit ihr der Verantwortung, konnte die Untersuchung sich auf diese Sphäre der Normativität beziehen, und die Bestimmung des Begrenztseins überprüfen. Nach dieser Überprüfung wird die ἔθος-ἦθος Anzeige zu einer einheitlichen Anzeige: Das Dasein versteht bzw. erfährt das Ethische in den Horizonten der Öffentlichkeit und der Situation nur aufgrund seines modal-freien-begrenzten Seins. Dies besagt: Das Dasein ist ein ethisches Seiendes, insofern es in einem Horizont existiert, welcher sowohl als eine Entfaltung von öffentlichen, moralischen Möglichkeiten als auch als situiertes Sollen erschlossen werden kann. In diesen Horizonten existiert das Dasein als modal freies und begrenztes Seiendes, d. h. in der Art und Weise einer Konstitution und eines Verständnisses dieses Horizonts, dessen Bezug sowohl die Öffentlichkeit als auch das eigene normative Seinkönnen sein kann, dies immer in der Form einer Grenze. Mit der Formulierung und Überprüfung dieser Bestimmungen und der Erarbeitung der zwei Horizonte, der zwei Normativitäten und der zwei Verständnisse des Ethischen hat die Arbeit ihre zwei Ziele erreicht. Es bleibt dann nur zu fragen, was diese Ergebnisse zur Heidegger-Forschung und zur Theorie der Ethik beitragen können. 375 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Schluss: Rückblick auf die Forschungsfragen

In der Einleitung der vorliegenden Arbeit wurde bereits auf die drei verschiedenen Ansätze der Heidegger-Forschung hingewiesen, die versuchen, die Problematik der Ethik mit der heideggerschen Philosophie zusammenzubringen. Im Verlauf der Arbeit wurde eine vierte Position erkannt, welche sowohl die philosophische Vorgehensweise Heideggers (die hermeneutische Phänomenologie) als auch seine Ontologie des Daseins als fruchtbar für eine Konzeption der Problematik des Ethischen ansieht. Dieser Ansatz wurde im weiteren Verlauf der Untersuchung verfolgt und führte zu den oben genannten Ergebnissen. Die vorliegende Arbeit hat somit gezeigt, dass es einerseits möglich ist, das heideggersche Philosophieren, d. i. die hermeneutische Phänomenologie, unabhängig von der heideggerschen Absicht einer Suche nach dem Sinn von Sein (überhaupt) zu benutzen, um die verschiedenen Daseinsbereiche (hier den Bereich des Ethischen) zu untersuchen. Darüber hinaus hat sie nicht nur den Ansatz (u. a. von Steven Crowell, Frederick Olafson, Ramón Rodríguez, Andreas Luckner, Joanna Hodge, François Raffoul) unterstützt, welcher vertritt, dass in der Daseinsanalytik die Bedingungen der Möglichkeit einer Ethik gefunden werden können, sondern auch ihren eigenen Beitrag zu diesem Ansatz geleistet, durch die Bestimmung und die phänomenologische Überprüfung der drei Bedingungen einer ethischen Erfahrung, der zwei Horizonte des Verständnisses des Ethischen und der zwei faktischen Bedeutungen des Ethischen. Diese Ergebnisse eröffnen ebenfalls die Möglichkeit, die Daseinsanalytik durch einen spezifischen ethischen Blick zu interpretieren, wie es in dieser Arbeit mit der heideggerschen Bestimmungen des Man, des Verfallen, der Rücksicht, der Nachsicht, der Rücksichtslosigkeit, des Nachsehens, u. a. gemacht wurde. Es muss jedoch gesagt werden, dass sich die Untersuchung aufgrund philosophischer Entscheidungen (§ 8, β) nur mit dem ›frühen‹ Denken Heideggers beschäftigt hat, obwohl in seinem Spätwerk viel zum Themengebiet ›Ethik‹ gefunden werden kann. Die heideggersche Analysen über die Freiheit, die Wahrheit, die Technik, das Ereignis etc., die nach 1930 entstehen, versprechen wichtige Beiträge zur ethischen Problematik zu liefern. Es muss auch erwähnt werden, dass es zum erforschten Thema noch viel zu sagen gibt. Zum Beispiel konnte in der Arbeit der geschichtliche Charakter der Transzendenz nicht detalliert ausgeführt werden. Eine Untersuchung des zeitlichen bzw. geschichtlichen Aspekts sowohl des ethischen Sinns, der von der Norm vermittelt wird, als auch des ethischen Sinns, der von der Si376 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Schluss: Rückblick auf die Forschungsfragen

tuation gefordert wird, sollte eine tiefere Auseinandersetzung mit dieser Thematik begleiten. Diese Auseinandersetzung wurde in der vorliegenden Arbeit mit Absicht vermieden, da sie auf die Problematik des Grundes des Ethischen hinweist und ihre Ausarbeitung den Rahmen der Arbeit überstiegen hätte. Außerdem muss betont werden, dass im Rahmen der vorliegenden Arbeit keine vollständige Auseinandersetzung mit den Ansätze Aristoteles’, Kants, Levinas’ u. a. stattfinden konnte, dennoch eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen von besonderem Interesse wäre, um den destruktiven Schritt einer hermeneutischen Phänomenologie zu vervollständigen. Nun können die hier erreichten Ergebnisse einen Beitrag zur Ethik leisten, indem sie eine Auseinandersetzung sowohl mit konkreten Fällen als auch mit anderen Theorien der Ethik anstoßen. Hier könnte man sich fragen, welche Art von Sollen in verschiedenen konkreten Fällen ins Spiel kommt und ob in einem konkreten Fall die eine oder die andere Art von Sollen zu bevorzugen wäre. Darüber hinaus könnte man die faktischen Auswirkungen jeder dargestellten Normativität erforschen und sie in die verschiedenen Theorien der Ethik einordnen. Interessant wäre auch, eine normative Ethik zu entwickeln, die keine Normen auferlegt, sondern sich auf den normativen Gehalt der situierten Aufforderung fokussiert. Eine solche Ethik könnte als eine Tugendethik konzipiert werden, da gezeigt wurde, dass eine gewisse Haltung (d. i. die Verantwortung) notwendig ist, um die Referenzialität des durchschnittlichen Verständnisses zu modifizieren und so das Ethische in Bezug auf die Situation verstehen zu können. Diese Haltung kann nicht von einer Norm auferlegt werden, ohne die Verstellung dieses Sinns des Ethischen zur Folge zu haben. Sie muss von der Situation geleitet werden und die Aufgabe einer Tugendethik wäre dann, diese Leitung zu ermöglichen. Hier wäre die heideggersche Analyse des Rufs des Gewissens als Anerkennung des Grundseins (und der Verantwortlichkeit) von besonderer Relevanz. Eine weitere Analyse des situierten Gewissens könnte der Ethik ebenfalls dienlich sein. Schließlich sollte erwähnt werden, dass eine solche Tugendethik danach streben sollte, die folgenden Fragen zu beantworten: Wie wird das Dasein verantwortlich? Wie soll sich das verantwortliche Dasein verhalten, um das Ethische als situierte Grenze zu verstehen? (Theorie der Tugenden) Warum sollte sich das Dasein in dieser Art und Weise verhalten? Anders gesagt: Warum ist der Sinn des Ethischen 377 https://doi.org/10.5771/9783495825365 .

Schluss: Rückblick auf die Forschungsfragen

als situierte Grenze zu bevorzugen? Diese letzte Frage weist wiederum darauf hin, dass eine solche Theorie auf einer Untersuchung des Grundes des Ethischen basieren sollte. Eine Untersuchung des Grundes des Ethischen sollte ihrerseits darauf abzielen, unter anderem diese zwei Fragen zu beantworten: 1. Was konstituiert genau das ›Gefühl des Richtigen‹ (bzw. moral sense), welches uns die Erfahrung der Irregularität ermöglicht? 2. Wenn die moralische Norm bzw. die jeweilige Idee des Richtigen nicht mehr der Bezug für das Richtige ist, worauf gründet dann dieses Gefühl des Richtigen? Solche Fragen können Anknüpfungspunkte in der vorliegenden Arbeit finden, dennoch ist eine vollständige hermeneutischphänomenologische Untersuchung des Grundes des Ethischen, d. i. der Konstitution des Sinns des Richtigen nötig, um den nächsten Schritt zu gehen, welcher zu einer umfassenden Theorie der Ethik führen könnte.

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