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German Pages [159] Year 2020
Richard Schaeffler
Das Gute, das Schöne und das Heilige Eigenart und Bedingungen der ethischen, der ästhetischen und der religiösen Erfahrung
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495820391
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Richard Schaeffler Das Gute, das Schöne und das Heilige
VERLAG KARL ALBER
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Richard Schaeffler
Das Gute, das Schöne und das Heilige Eigenart und Bedingungen der ethischen, der ästhetischen und der religiösen Erfahrung
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Richard Schaeffler The good, the beautiful and the sacred The nature and conditions of the ethical, aesthetic and the religious experience The number of people, things, facts and behaviours that can be asked whether they are »good«, »beautiful« or »holy« seems to be unlimited. But how can we know whether something is »good«, »beautiful« or »holy«? Socrates has already shown how difficult it is to be sure and to specify criteria for this. In this book, Richard Schaeffler examines various types of experience, moral, aesthetic, and religious. By means of a phenomenological approach, he examines the conditions for something to show us in the quality of beauty, goodness or holiness, as well as the conditions that we ourselves must fulfil if it is to be possible for the matter to show us these aspects. It is also about the step from what we see to our experience. This requires the use of terms. Thus only the application of the concept of good makes it possible to move from subjective moral experience to objectively valid moral experience. Similarly, only the concept of the beautiful makes aesthetic experience possible and only the concept of the sacred makes religious experience possible.
The Author: Richard Schaeffler, Dr. phil., Dr. theol. h. c., Dr. phil. h. c., born 1926 in Munich, 1968–1989 professor for philosophical-theological border questions at the University of Bochum. Main research areas: Philosophy of religion, philosophy of history, theory of science of theology. Book publications and others: Religionsphilosophie (1983, 3rd ed. 2004), Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit (1995), Philosophische Einübung in die Theologie (3 vol., 2004, 2008 study edition), Philosophisch von Gott reden (2006), Ontologie im nachmetaphysischen Zeitalter (2008), Erkennen als antwortendes Gestalten (2014), Phänomenologie der Religion (2018).
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Richard Schaeffler Das Gute, das Schöne und das Heilige Eigenart und Bedingungen der ethischen, der ästhetischen und der religiösen Erfahrung Die Reihe der Personen, Dinge, Sachverhalte und Verhaltensformen, die danach befragt werden können, ob sie »gut«, »schön« bzw. »heilig« sind, scheint unbegrenzt zu sein. Doch wie können wir wissen, ob etwas »gut«, »schön« oder »heilig« ist? Schon Sokrates hat gezeigt, wie schwierig es ist, uns da sicher zu sein und Kriterien dafür anzugeben. Richard Schaeffler untersucht in diesem Buch verschiedene Arten von Erfahrung, und zwar die sittliche, ästhetische und religiöse Erfahrung. Mittels eines phänomenologischen Zugangs prüft er die Bedingungen dafür, dass sich uns etwas in der Qualität des Schönen, Guten bzw. Heiligen zeigt, wie auch die Bedingungen, die wir selber erfüllen müssen, wenn es möglich sein soll, dass die Sache uns diese ihre Aspekte zeigen soll. Im Weiteren geht es um den Schritt von dem, was sich uns zeigt, zu unserer Erfahrung. Dazu bedarf es der Anwendung von Begriffen. So macht erst die Anwendung des Begriffs des Guten es möglich, vom subjektiven moralischen Erleben zur objektiv gültigen sittlichen Erfahrung überzugehen. Ähnlich ermöglicht erst der Begriff des Schönen die ästhetische Erfahrung, erst der Begriff des Heiligen die religiöse Erfahrung.
Der Autor: Richard Schaeffler, Dr. phil., Dr. theol. h. c., Dr. phil. h. c., 1926 in München geboren, 1968–1989 o. Professor für Philosophisch-Theologische Grenzfragen an der Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie, Wissenschaftstheorie der Theologie. Buchpublikationen u. a.: Religionsphilosophie (1983, 3. Aufl. 2004), Erfahrung als Dialog mit der Wirklichkeit (1995), Philosophische Einübung in die Theologie (3 Bde., 2004, Studienausgabe 2008), Philosophisch von Gott reden (2006), Ontologie im nachmetaphysischen Zeitalter (2008), Erkennen als antwortendes Gestalten (2014), Phänomenologie der Religion (2018).
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49067-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82039-1
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Inhalt
Vorwort
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Fragestellung und Methode . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Alltagsfragen und Fragen des Philosophen . . b) Die Frage nach Kriterien . . . . . . . . . . . . 2. Die Frage nach der Methode . . . . . . . . . . . . a) Erste Annäherung an die Methodenfrage . . . b) »Anblick« und »Hinblick« . . . . . . . . . . . c) Die phänomenologische Methode . . . . . . . d) Eine weiterführende methodische Option: Die Erfahrung als Vernehmen eines an uns gerichteten Anspruchs . . . . . . . . . . . . . e) Ein immer wiederkehrender Einwand: Die transzendentale Methode – ein Weg in den Subjektivismus und Relativismus? . . . . . . .
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I. Ein Blick in die Geschichte des Problems . . . . . . 1. Eine vorbereitende Frage: Wer oder was kann gut oder nicht-gut sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die klassische Philosophie der Antike . . . . . . .
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Erster Teil: Die Frage nach dem Guten und die sittliche Erfahrung
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Inhalt
3. Eine weiterführende Erfahrung Platons, die ihre eigene Wirkungsgeschichte entfaltet hat . . . . . . 4. Das Verständnis des Guten bei Immanuel Kant . . 5. Vernunftkritik – auch auf dem Felde der praktischen Philosophie: Politische Erfahrung und moralphilosophische Reflexion . . . . . . . . . . . a) Hegels Kritik der »abstrakten« Moral und das Böse als »vorantreibende Negation« . . . . . . . b) Karl Marx, seine Kritik an der bürgerlichen Geschichtsphilosophie und Moral und das Gute als das »Kontrafaktische« . . . . . . . . . . . . . c) Die neue Aufgabe der Moralphilosophie: Vernunftkritik als Ideologiekritik . . . . . . . . d) Auch die Mächtigen werden zu Opfern ihrer eigenen Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Frage nach einer Alternative: Die Fähigkeit zur sittlichen Wahrnehmung und die Erfahrung des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einige Aspekte des sittlichen Erlebens . . . . . . . . 1. Charakteristische Erlebnisinhalte . . . . . . . . . . a) Dem Wirklichen Möglichkeiten ansehen . . . . b) Dem Wirklichen die verkümmerte oder verletzte Gestalt ansehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Erlebnis der »Betroffenheit«: »Das betrifft (meint) mich.« . . . . . . . . . . . d) Ein neuer Blick auf die Wirklichkeit . . . . . . . e) Rückschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erwartungen, die sich an das Erleben knüpfen: »Das meint mich.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Wunsch, »gemeint zu sein« . . . . . . . . . b) »Gemeint zu sein« als Gabe und Aufgabe . . . . 8 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
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Inhalt
3. Selbstkritische Anfragen . . . . . . . . . . . . . . . 4. Erinnerung an einige Ergebnisse der allgemeinen Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . III. Auf dem Weg vom sittlichen Erleben zur objektiv gültigen sittlichen Erfahrung: Fragen der speziellen Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ideen des Ich und der Welt und ihre Funktion beim Übergang vom sittlichen Erleben zur sittlichen Erfahrung und bei der Überwindung moralischer Selbsttäuschungen und Verführungen a) Das »Ich« als Voraussetzung allen Erkennens und als regulative Idee: Eine Aufgabe, deren Erfüllung auch mißlingen kann . . . . . . . . . b) Die sittliche Welt als Auslegungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Möglichkeit von Selbsttäuschungen und Verführungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Selbsttäuschungen – ihre Herkunft und ihre Überwindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verführungen – Herkunft und Überwindungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Gewissen, die Freiheit und das Gute . . . . . 1. Aufgaben des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . a) Die traditionelle Auffassung: Das Gewissen als sittliche Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . b) Zweifel an der traditionellen Beschreibung des Gewissens als Urteilskraft . . . . . . . . . . . c) Das Gewissen als Fähigkeit zur sittlichen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2. Das Gewissen und das Gute . . . . . . . . . . . . . 3. Das Gute und die Freiheit des Menschen . . . . . .
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Zweiter Teil: Die ästhetische Erfahrung und das Schöne I. 1. 2. 3. 4. 5.
Einige Beispiele aus der Geschichte der Ästhetik . . Platons Auffassung vom Schönen . . . . . . . . . . Zur Ästhetik Kants in der Kritik der Urteilskraft . Hegels Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schellings Philosophie der Kunst . . . . . . . . . . Einige Anmerkungen zur historischen Entwicklung der Ästhetik in der nach-idealistischen Philosophie
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II. Die ästhetische Erfahrung und ihr Gegenstand . . . 1. Einige Momente des ästhetischen Erlebens . . . . . a) Unterbrechung des Erlebnisstromes und Aufforderung zum anschauenden Verweilen . . b) Das »Auftauchen« der Gestalt aus der Alltagswelt als Morphogenese . . . . . . . . . . 2. Die Transformation des ästhetischen Erlebens in ästhetische Erfahrung oder: Die »Emergenz« des ästhetischen Gegenstands . . . . . . . . . . . . . . a) Die Bedeutung von Ideen der Vernunft für die Konstitution von Gegenständen . . . . . . . . . b) Die Wiedergewinnung der Frage nach der Welt und dem Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Beziehung des ästhetischen Subjekts zu den Gegenständen seiner Erfahrung . . . . . . . . . d) Die Kategorien des ästhetischen Erfahrens . . .
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Inhalt
e) Die Anschauungsformen von Raum und Zeit: Die ästhetisch erlebte Gegenwart und ihr spezifischer »Zeit-Raum« . . . . . . . . . . . . . 117 f) Die ästhetische Einbildungskraft, der gute Geschmack und das Schöne . . . . . . . . . . . . 119 g) Das Schöne – Objekt und Maßstab des Geschmacksurteils zugleich . . . . . . . . . . . . 121
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Inhalt
Dritter Teil: Die religiöse Erfahrung und die Frage nach dem Heiligen I. 1. 2. 3. II. 1.
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Zeugnisse religiöser Erfahrung und die Bedeutung der religiösen Überlieferung . . . . . . . . . . . . . Die Quellenlage und das Problem von Erfahrung und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Bewährungskriterium von Traditionen und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiöses Erleben und objektive Geltung . . . . . Die religiöse Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . Einige Momente des religiösen Erlebens . . . . . . a) Ein häufig wiederkehrendes Moment: Die Einheit von Grund und Grenze der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit und der gesamten eigenen Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erlebnisse im Alltag, für die uns die Zeugnisse der Religionsgeschichte hellsichtig machen . . . c) Was in den Bildern gegenwärtig wird, wird »das Heilige« genannt . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg vom religiösen Erleben zur objektiv gültigen religiösen Erfahrung . . . . . . . . . . . . a) Charakteristische Einwände gegen das Programm, Kontexte aufzubauen, um das religiöse Erleben in objektiv gültige Erfahrung zu verwandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eine verbreitete Antwort: Die Erfahrungswelt als eine Welt von Bildern . . . . . . . . . . . . . c) Das religiöse Subjekt als »Maske« und »Kleid« des Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
III. 1.
2.
3.
d) Die Auslegung des religiösen Worts durch die Lehre vom »vierfachen Schriftsinn« und die vier Bedeutungsmomente der religiösen Erfahrung . e) Die »Gegenprobe«: Die Beobachtung von Ausfallserscheinungen . . . . . . . . . . . . . . Der »Sensus numinis«, die Unterscheidung der Geister und das Heilige . . . . . . . . . . . . . . . Der Sensus numinis . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Erfahrung »innerer Kontingenz und der Begriff der »numinosen Freiheit« . . . . . . . . b) Das religiöse Verhältnis: »Schlechthinnige Abhängigkeit und »befreite Freiheit« . . . . . . Der »Geist« und die »Unterscheidung der Geister« a) Ein »archaisches« und zugleich weit verbreitetes Deutungsmuster: Die Begegnung mit der Gottheit als Anteilgewinnung an ihrem lebenspendenden Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Geist – Prinzip des Lebens und des Wortes . c) Der Geist – wirkende Kraft der Selbstmitteilung des Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Geist, die »Geister« und die »befreiende Freiheit« als Kriterium ihrer Unterscheidung . . Das Heilige – zur Deutung eines zentralen Begriffs der Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Der Titel der hier vorgelegten Untersuchung erinnert an die klassische Lehre von den »Transzendentalien«. Gerade deswegen kann es befremden, daß der Begriff des Seienden hier nicht auftaucht, als dessen »passiones generales« die Transzendentalien beschrieben zu werden pflegen, und daß andererseits vom Heiligen die Rede sein wird, das in der klassischen Transzendentalienlehre nicht vorkommt. Das hängt damit zusammen, daß im Folgenden versucht werden soll, nach Kants Kritik an aller Ontologie die Frage wieder aufzunehmen, ob und wie Aussagen möglich sind, die von allem gelten, was überhaupt für uns Gegenstand werden kann. Die kantische Ontologiekritik gestattet es nicht, bei der Beantwortung dieser Frage mit unbefangener Selbstverständlichkeit vom Begriff des Seienden auszugehen. Der Begriff des Seienden bedarf der Rechtfertigung. Und im Folgenden wird zu zeigen sein: Nicht der Begriff des Seienden rechtfertigt die These, daß andere Begriffe, z. B. der des Wahren und des Guten, transzendentalen Charakter haben, d. h. alle Differenz der Gegenstände unserer theoretischen und praktischen Erkenntnis »transzendieren«. Sondern erst eine durchgeführte Transzendentalienlehre gestattet es, zu entscheiden, ob auch der Begriff des Seienden zu diesen Begriffen gehört. Die unbeschränkte Anwendbarkeit eines Begriffs, also sein transzendentaler Charakter, läßt sich nicht empirisch beweisen. Noch so viele Fälle, in denen de Anwendung eines Begriffs gelingt, schließen nicht aus, daß diese Anwendung in anderen Fällen mißlingen muß. Universalität läßt sich, wie Kant mit Recht bemerkt hat, nur a priori beweisen. Und 15 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Vorwort
ein solcher Beweis läßt sich nicht auf eine unmittelbare intellektuelle Anschauung gründen, sondern nur darauf, daß die Anwendung eines solchen Begriffs sich als die Bedingung erweist, die Erfahrung möglich macht. Sollte es mehrere Arten von Erfahrung geben, z. B. neben der wissenschaftlichen Empirie eine eigene sittliche, ästhetische oder religiöse Erfahrung, dann wäre zu prüfen, ob es Begriffe gibt, von deren Anwendung wenigstens eine dieser Erfahrungen abhängt. Es wird sich zeigen, daß dies in der Tat der Fall ist. Erst die Anwendung des Begriffs des Guten macht es möglich, vom subjektiven moralischen Erleben zur objektiv gültigen sittlichen Erfahrung überzugehen. Ähnlich macht erst der Begriff des Schönen die ästhetische Erfahrung möglich, erst der Begriff des Heiligen die religiöse Erfahrung. Dabei hat die sittliche Erfahrung insofern einen methodischen Vorrang, als in ihr ein Moment ausdrücklich hervortritt, das auch in allen anderen Erfahrungen enthalten ist: Das Moment des verpflichtenden Anspruchs, den die Erfahrung an uns richtet. Daraus erklärt sich, daß die folgenden Ausführungen bei der sittlichen Erfahrung und dem Begriff des Guten ihren Ausgang nehmen werden. *
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Da dieses Buch auf eine Vorlesung von Richard Schaeffler zurückgreift, sind einige frei vorgetragene Abschnitte nur stichwortartig skizziert. Andere Kapitel konzentrieren sich auf zentrale Thesen oder gehen einem Gedankengang nach, wobei vieles andere, was zum Thema ausgeführt werden könnte, ungesagt bleibt. Weil das Erscheinen dieses Buches mit dem Tod des Autors zusammenfiel, wurden die Korrektur des Textes und die Bearbeitung der Gliederung von Frank Schlesinger, Nathalie Küchler und Karsten Koreck vom Arbeitsbereich für Christliche Religionsphilosophie der Universität Freiburg vorgenommen. 16 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Fragestellung und Methode
1. Zur Fragestellung a) Alltagsfragen und Fragen des Philosophen Das Thema enthält eine Reihe von substantivierten Adjektiven: »das Gute«, »das Schöne«, »das Heilige«. So fragen wir im Alltag nicht. Daher ist eine Erläuterung nötig. Alltägliche Fragen lauten: Menschen, die Sokrates auf dem Markt beobachtet hat, wählten sorgfältig aus, um »gute« Ware zu erhalten. Sie suchten, damals ebenfalls auf dem Markt, Lehrer für ihre Kinder und achteten darauf, daß es »gute« Lehrer sind, damit ihre Kinder von ihnen lernen, ein Leben zu führen, das »besser« ist als das ihrer Eltern. Dann stellten sie kritische Fragen an die Anbieter: Ist das eine gute Ware? Oder werde ich bald nach dem Kauf bemerken, daß sie ihren Preis nicht wert war? Ist der Mensch, der als Lehrer engagiert sein möchte, ein »guter« Mensch? Oder werde ich alsbald enttäuscht werden, wenn ich ihm meine Kinder anvertraue? Ist das Verhalten, das ein solcher Lehrer meinen Kindern, aber auch mir selber empfiehlt, ein »gutes« Verhalten? Oder werden die, die seinem Ratschlag folgen, erfahren müssen, daß man es mir und meinen Kindern nur deswegen nahegelegt hat, weil es anderen, z. B. den Herrschenden, angenehm ist? Oder, unabhängig von der Situation auf den Märkten der Antike: Ist das Leben, das ich jetzt führe oder zu dem ich fähig werden will, ein gutes Leben? Oder bin ich auf eine Propaganda der Konsumgüter-Industrie oder der Freizeit-Anbieter hereingefallen? 17 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Fragestellung und Methode
Fragen solcher Art haben Menschen immer gestellt, auch zur Zeit des Sokrates. Das hat ihn zu folgender Frage veranlaßt: Du suchst »gute« Ware. Du willst für deine Kinder »gute« Lehrer finden, damit sie fähig werden, ein »gutes« Leben zu führen. Du willst selber »gute« Ratschläge für dein Leben erhalten. Offenbar weißt Du, was das ist: »gut«. Das würde ich gerne von dir lernen: »Was macht eine Ware zur ›guten‹ Ware, einen Lehrer zum ›guten‹ Lehrer, ein Leben zum ›guten Leben‹ ?« oder kurz: »Was ist das Gute?« (Ein Beispiel für den Übergang von der Alltagsfrage zur philosophischen Frage nach »dem Guten«, vgl. den Erfahrungsbericht, den Sokrates in seiner Apologie gegeben hat). Den gleichen Übergang kann man auch auf anderen Themenfeldern vollziehen. Man hört, wie Menschen sagen: »Das ist eine ungewöhnlich schöne Frau«; oder: »Ist das nicht ein schöner Morgen?«; oder: »Nirgendwo ist es so schön wie zu Hause«. Und vielleicht fügen sie hinzu: »Diese Frau ist wirklich schön, nicht bloß beim ersten Hinblick ein wenig wohlgefällig«; oder: »Dieser Morgen ist wirklich schön, nicht bloß von trügerischem Glanz, der uns die Anzeichen des Unwetters, das schon aufzieht, übersehen läßt«; oder: »Nur zu Hause ist es wirklich schön; in der Fremde gewährt auch der anmutigste Platz keine dauerhafte Freude«. Dann können wir Menschen, die sich so äußern, fragen: Was ist das, was du »wahre Schönheit« nennst? Und wie unterscheidet sie sich von trügerischem Glanz, der schon dem zweiten Hinblick nicht mehr standhält? Oder kurz: »Was ist, deinem Urteil nach, das Schöne?« – ein weiteres Beispiel für den Übergang von der Alltagsfrage zur philosophischen Frage, diesmal zur Frage nach »dem Schönen«. In anderen Fällen hören wir, wie zu Menschen gesagt wird: »Ziehe deine Schuhe aus. Der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden« (so der Zuruf, den Mose aus dem bren18 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Zur Fragestellung
nenden Dornbusch vernimmt). Oder: »Heilig sollt ihr sein, denn auch ich bin heilig« (Lev 11,44). Oder wir hören Menschen sagen: »Das ist ein wahrer Heiliger«; oder: »Du allein bist der Heilige« (so eine Christus-Anrufung aus dem »Gloria«). Und wiederum können wir den, dem wir solche Berichte verdanken, fragen: Was ist das, was du »heilig« nennst und vom bloßen Anschein der Heiligkeit unterscheidest, der von »scheinheiligen« Menschen und vor allem von falschen Göttern ausgehen kann? Oder kurz: »Was ist es, das du heilig nennst?« Wiederum ist auf diese Weise der Übergang von der Alltagsfrage zur philosophischen Frage vollzogen, dieses Mal zur Frage nach »dem Heiligen«. Der Unterschied zwischen den alltäglichen Fragen: »Ist das eine gute Ware? Ist das ein guter Lehrer? Ist das ein guter Ratschlag?« und der philosophischen Frage: »Was ist das Gute?« tritt deutlicher hervor, wenn wir noch einmal zum Beispiel des Sokrates auf dem Markt zurückkehren. Er sieht, daß Menschen zweifeln, ob sie es im konkreten Falle wirklich mit einer guten Ware, einem guten Lehrer, einem guten Ratschlag zu tun haben. Aber er stellt fest: Selbst dieser Zweifel setzt ein Wissen voraus. Der Zweifelnde weiß, daß nicht alles, was gut scheint, auch wirklich gut ist. Und indem er diesen Unterschied kennt, weiß er, was es heißt, wirklich gut zu sein. Er weiß, daß er sich möglicherweise über den Anwendungsfall täuscht; darum zweifelt er. Aber er wird sogar noch dann, wenn er sich über diesen Anwendungsfall täuscht, bei seiner kritischen Frage »Ist das wirklich gut?« von einem Wissen geleitet: einem Wissen davon, was er von einer Ware, einem Menschen, einem Ratschlag erwartet, wenn er prüft, ob dieses Wirkliche verdient, »gut« genannt zu werden. Er hat ein Kriterium, auch wenn er sich vielleicht darüber täuscht, ob dieses Kriterium auf den konkreten Fall zutrifft. Und dieses Wissen ist es, nach dem Sokrates seine Gesprächspartner auf dem Markte fragt. 19 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Fragestellung und Methode
Dabei stellt sich freilich oft genug heraus: Erst wenn der Gesprächspartner auf solche Weise philosophisch befragt wird, bemerkt er, daß es schwieriger ist als er dachte, dieses Kriterium sachgemäß zu benennen. Dann kann das philosophische Gespräch über »das Gute« beginnen. Und Ähnliches gilt von den Begriffen »das Schöne« bzw. »das Heilige«. Jedes Mal erinnert die Frage denjenigen, an den sie gerichtet ist, daran, daß er noch nicht hinreichend kennt, was er bisher zu wissen meinte. Er muß sich zuerst seines Nichtwissens bewußt werden, ehe er begreift, warum er von seiner Alltagsfrage »Ist der oder das gut?« zur philosophischen Frage übergehen soll: »Was ist das Gute?« Und indem er sich auf diese philosophische Frage einläßt, wird er bemerken: Nirgendwo täuschen wir uns so leicht wie dort, wo wir unser Nichtwissen noch gar nicht bemerkt haben. Und man wird hinzufügen müssen: Gerade dort, wo wir »kein Problem sehen«, erliegen wir auch besonders leicht der Suggestionskraft fremder Verführung: Denn es gibt leider Menschen, die die falsche Selbstverständlichkeit unseres Scheinwissens ausnützen, um uns plausibel erscheinen zu lassen, was sie uns als wahr vorspiegeln wollen. Sie bieten uns »einleuchtende Lösungen« an – und wir bemerken nicht, daß sie an unserer Frage vorbeigehen.
b) Die Frage nach Kriterien Die philosophische Frage »Was ist gut, schön bzw. heilig?«, die unsere Alltagsfragen unterbricht, ist also kein Luxus derer, die »keine anderen Sorgen haben«, sondern will uns befähigen, den Gefahren der Selbsttäuschung bzw. der Verführung zu widerstehen. Die philosophische Frage dient der Auffindung von Kriterien, an denen sich jeder Antwortversuch messen lassen muß. Man sollte diese Kriterienfrage nicht überspringen, indem man sich auf eine »Wesensschau« 20 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Frage nach der Methode
beruft, kraft derer der Philosoph weiß, was das Gute, Schöne und Heilige ist. Auch seine Antwortversuche bedürfen der Maßstäbe ihrer Bewährung. Darum ist es unerläßlich, die Frage nach der Methode zu stellen.
2. Die Frage nach der Methode a) Erste Annäherung an die Methodenfrage Schon ein erster Überblick hat gezeigt: Der Begriff »gut«, »schön« bzw. »heilig« kann von sehr unterschiedlichen Seienden ausgesagt werden: z. B. von Personen, Verhaltensweisen, Orten und Zeiten. Er bezeichnet nicht eine abgegrenzte Sorte von Gegenständen, sondern eine gemeinsame Eigenschaft. Der Singular »das« Gute, Schöne bzw. Heilige bringt zunächst die Identität dieser Eigenschaft in der Verschiedenheit ihrer »Träger« zum Ausdruck. Es gibt aber Fälle – und sie sind zu besonders wichtigen Themen der philosophischen Reflexion geworden –, in denen diese gemeinsame Eigenschaft auf eine gemeinsame Ursache zurückgeführt wird. Dieser »Quell aller Heiligkeit« ist es dann, der im ausgezeichneten Sinne »das Heilige« genannt wird. Und Entsprechendes gilt von der gemeinsamen Quelle alles Guten oder alles Schönen. Diese Rede von »dem« Guten, Schönen bzw. Heiligen, also der Gebrauch dieser Begriffe im Singular, findet sich vor allem bei solchen Autoren, die diese Begriffe als Gottesprädikate gebrauchen und alles, was in der Welt »gut« bzw. »schön« oder »heilig« genannt wird, auf eine Beziehung der Kreatur zu ihrem Schöpfer zurückführen. Es wird an späterer Stelle zu prüfen sein, ob und wie dieser theologische Gebrauch der genannten Begriffe argumentativ gerechtfertigt werden kann.
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Fragestellung und Methode
b) »Anblick« und »Hinblick« Die Reihe der Personen, Dinge, Sachverhalte und Verhaltensformen, die danach befragt werden können, ob sie »gut«, »schön« bzw. »heilig« sind, scheint unbegrenzt zu sein. Dem entspricht es, daß in der Tradition diese Prädikate als »passiones generales entis« bezeichnet worden sind: Alles Seiende ist zugleich »gut« und »schön«, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Und auch »heilig« zu sein, kann zu den allgemeinsten Eigenschaften des Seienden gerechnet werden, auch wenn nicht alle Seienden in gleich intensiver Beziehung zur »Quelle aller Heiligkeit« stehen. Daraus aber folgt: Diese Prädikate eignen sich nicht dazu, als Unterscheidungsmerkmale bestimmter Arten von Seienden gebraucht zu werden, sondern bezeichnen einen »Aspekt« des Seienden als eines solchen. Freilich tritt dieser Aspekt nur bei einer bestimmen Weise der Betrachtung ausdrücklich hervor. Erst bei dieser Betrachtungsart kann auch gefragt werden, ob dieser Aspekt einem bestimmten Seienden ganz fehlt. Auch ob jemand oder etwas nur dem Schein, nicht der Wirklichkeit nach gut, schön oder heilig ist, läßt sich erst beurteilen, wenn man ihn auf ethische, ästhetische bzw. religiöse Weise betrachtet. Zwischen dem »aspectus«, dem Anblick, den eine Sache oder Person bietet, und dem »Hinblick«, unter dem wir sie betrachten, besteht strenge Wechselbeziehung. Wem die Fähigkeit zum ethischen Hinblick fehlt, dem zeigt die Sache auch nicht den Anblick des Guten oder seines Mangels. Solche Aspekte gehören zur Sache; sie ist es, die uns diese Weisen des »Anblicks« (»aspectus«) gewährt. Aber man muß schon in bestimmter Weise hinblicken, wenn uns der Gegenstand diesen Anblick gewähren soll. Wenn wir auf ungeeignete Weise hinblicken, können uns die Dinge und Personen den Anblick des Guten, Schönen und Heiligen nicht zeigen. 22 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Frage nach der Methode
Wer kein »ästhetisches Organ« hat, der entdeckt auch nichts Schönes. Wer für das Religiöse ganz unempfindlich ist, dem zeigt sich nichts in der spezifischen Weise des Heiligen. Und es gibt auch Menschen, die nicht fähig sind, Dingen oder Menschen die Qualität des Guten anzusehen. Daß bei ungeeignetem Hinblick Dinge und Menschen einen bestimmten Anblick nicht zeigen, spricht nicht dagegen, daß dieser »Aspekt« zur Sache gehört. Daß es blinde Menschen gibt, beweist nicht, daß es keine Farben gibt. Daß es Menschen gibt, die kein »Organ« für das Gute, Schöne oder Heilige haben, beweist nicht, daß diese Aspekte nicht zum Wirklichen gehören. Aber es beweist, daß die Fähigkeit, diese Aspekte wahrzunehmen, nicht in jedem Falle angeboren ist, sondern daß es eine Aufgabe des Einzelnen sein kann, sein Bewußtsein so zu »formen«, daß es die Sensibilität für diese Aspekte gewinnt. Diese »Formung« (»formatio mentis«) ist es, die im Deutschen »Bildung« heißt.
c)
Die phänomenologische Methode
Was hier über die wechselseitige Entsprechung von »Anblick« und »Hinblick« gesagt worden ist, kann als erste Annäherung an die Einsicht der Phänomenologie über das Verhältnis von »Noema« und »Noesis« gelten. Das »Phänomenologische Grundgesetz«, wie Edmund Husserl es formuliert hat, besagt, daß zwischen »Noema« und »Noesis« strenge Korrelation besteht; dabei ist »Noema« die Eigenart dessen, worauf unsere Akte sich beziehen, und »Noesis« die Struktur dieser Akte selbst. Darum entspricht je einer »Region« von Noemata jeweils eine bestimmte Art von Noesen. Die Folgerung aus dieser Einsicht lautet: Nur dem ästhetischen Akt ist das Schöne »originär gegeben«, nur dem moralischen Akt das Gute, nur dem religiösen Akt das Heilige. 23 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Fragestellung und Methode
Wer die entsprechenden Akte nicht vollziehen kann oder will und dennoch versucht, über das Schöne, Gute bzw. Heilige zu reden, der spricht »wie der Blinde über die Farbe«. Es ist eine Bildungs-Aufgabe, sich selbst und andere zu einem sachgerechten Sprechen über das Gute, Schöne und Heilige fähig zu machen. Die geeignete Methode dazu ist die Phänomenologie. Diese hat es nicht mit »bloßen Erscheinungen« zu tun, während andere Methoden zur »Sache selbst«, z. B. zum Guten, Schönen oder Heiligen, vorzudringen vermögen. Vielmehr ist die Phänomenologie die Lehre von den Bedingungen dafür, daß sich uns etwas in der Qualität des Schönen, Guten bzw. Heiligen zeigt, und von den Bedingungen, die wir selber erfüllen müssen, wenn es möglich sein soll, daß die Sache uns diese ihre Aspekte zeigen soll.
d) Eine weiterführende methodische Option: Die Erfahrung als Vernehmen eines an uns gerichteten Anspruchs Im Rahmen einer solchen phänomenologischen Betrachtung werden die folgenden Ausführungen von einer These ausgehen, die erst an späterer Stelle ausdrücklich begründet werden kann: Unter den Akten, durch die wir uns auf Gegenstände beziehen (den »intentionalen Akten«), sind es vor allem die Akte der Erfahrung, in denen sich der Gegenstand so zeigt, daß er seinen Anspruch auf unser angemessenes theoretisches bzw. praktisches Verhalten geltend machen kann. Bloße Wahrnehmung mit den Sinnen kann uns täuschen. Bloße Herleitung aus Begriffen kann uns in realitätsferne Konstrukte verstricken. Es ist die Erfahrung, durch die uns das Wirkliche unter seinen Anspruch stellt. In der Erfahrung »wirft sich uns das Wirkliche in solcher 24 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Frage nach der Methode
Weise entgegen« (»se nobis objicit«), daß das, was wir auf diese Weise zu sehen bekommen, »objektive Geltung« beanspruchen kann, d. h. Maßgeblichkeit für unser Urteil. Darum ist im Untertitel dieses Buches von »Eigenart und Bedingungen der ethischen, der ästhetischen und der religiösen Erfahrung« die Rede. Die Frage nach dem Guten, Schönen und Heiligen soll im Ausgang von einer Analyse dieser drei Erfahrungsarten gestellt und beantwortet werden. Daraus folgt: Die angemessene Methode, um jenen Anspruch des Wirklichen zu erfassen, durch den es als gut, schön oder heilig anerkannt sein will, und um diesen Anspruch von unseren bloß subjektiven Eindrücken und Verhaltens-Antrieben zu unterscheiden, ist die Theorie der Erfahrung und ihrer Möglichkeitsbedingungen. Dies aber ist das besondere Themenfeld der Transzendentalphilosophie, und zwar näherhin das Thema ihres »speziellen« Teils. Während die allgemeine Transzendentalphilosophie die Möglichkeitsbedingungen jeder Art von Erfahrung untersucht, klärt die spezielle Transzendentalphilosophie die Bedingungen spezieller Erfahrungsarten, z. B. der ethischen, ästhetischen bzw. religiösen Erfahrung. Nur dieser Erfahrung ist das Gute, Schöne bzw. Heilige »originär gegeben« (um Husserls Ausdruck zu gebrauchen). Darum ist nur die Theorie dieser jeweiligen Erfahrungsart geeignet, die besondere Weise zu klären, wie das Gute, Schöne bzw. Heilige unser ethisches, ästhetisches oder religiöses Verhalten in Anspruch nimmt. Zur Rechtfertigung dieses Methoden-Ansatzes sei vorläufig nur folgender Hinweis gestattet: Im Verlauf der Philosophiegeschichte verändern sich nicht nur die Antworten, die auf jeweils identische Fragen gegeben werden, sondern vor allem die Fragen selbst. Gerade dann, wenn man versucht, gestellte Fragen zu beantworten, zeigt sich nicht selten, daß die Frage selbst präzisiert werden muß. Und mit der Veränderung der Fragen ändern sich die Methoden, durch die 25 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Fragestellung und Methode
nach einer Antwort gesucht wird. Das gilt auch für die Frage nach dem Guten, Schönen und Heiligen. Ein Rückblick auf die Geschichte dieser Fragen wird zeigen: Der Versuch, die Frage nach dem Guten, Schönen und Heiligen im Ausgang von den entsprechenden Arten der Erfahrung zu beantworten und dabei der Methode einer »speziellen«, d. h. auf je besondere Erfahrungsarten bezogenen Transzendentalphilosophie zu folgen, ist eine Frucht dieser Problemgeschichte. Im Laufe dieser Geschichte ist deutlich geworden, daß die Frage nach dem Guten, Schönen und Heiligen nur durch Analyse derjenigen speziellen Arten von Erfahrung beantwortet werden kann, in denen das Wirkliche sich uns unter diesen »Aspekten« zeigt. Diese Methode wird also in den folgenden Ausführungen nicht willkürlich vor anderen Methoden bevorzugt, sondern rechtfertigt sich aus dem durchlaufenen Weg der Fragestellungen und Antwortversuche. Über die Stichhaltigkeit dieser Rechtfertigung kann daher erst am Ende des folgenden »historischen Teils« geurteilt werden. Die Option für die transzendentale Methode kann an dieser Stelle noch nicht ausreichend begründet werden. Es wird sich zeigen, daß diese Methoden-Entscheidung ein Ergebnis der Problemgeschichte ist.
e) Ein immer wiederkehrender Einwand: Die transzendentale Methode – ein Weg in den Subjektivismus und Relativismus? An dieser Stelle sei vorwegnehmend, im Vorgriff auf die nächsten Kapitel, das zentrale Problem dieser Methodenwahl wenigstens benannt. Man sagt, es sei doch möglich, daß diese Problementwicklung ein Irrweg gewesen ist. Und das zeige sich vor allem daran, daß der Ansatz bei der Erfahrung in einen Subjektivismus führe, die Rechtfertigung dieses An26 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Frage nach der Methode
satzes durch die Geschichte aber in einen historischen Relativismus. Darum soll dieser Einwand wenigstens in einem Vorblick auf die kommende Untersuchung kurz dargestellt und diskutiert werden. Das wichtigste Gegen-Argument lautet: Bei transzendentaler Betrachtung erscheint der Gegenstand (z. B. das Gute, Schöne bzw. Heilige) als abhängig vom Subjekt, während »objektive Geltung« gerade die Unabhängigkeit vom Subjekt voraussetzt. Darum führt diese Methode dazu, von vorneherein die Maßgeblichkeit des Objekts zu untergraben. Zur Erwiderung auf diesen Einwand kann jetzt schon gesagt werden: Kein Bezug zum Gegenstand kommt ohne aktive Eigenleistung des Subjekts zustande: Wir müssen »etwas dazutun«, wenn wir unsere subjektiven Befangenheiten überwinden und zur Begegnung mit Objekten fähig werden wollen. Aber wir dürfen durch das, was wir dabei selber leisten, den Objekten nicht ins Wort fallen, sondern müssen ihnen dazu verhelfen, »zu Worte zu kommen« und das, was sie zu sagen haben, »zur Sprache zu bringen«. Dabei kommt es stets darauf an, den dritten Weg zu finden zwischen »Subjektivismus« und »Objektivismus«: einem Subjektivismus, der gerade das verkennt, was das Wesentliche des Subjekts ausmacht: die Fähigkeit zum selbstkritischen Gegenstandsbezug, und einem Objektivismus, der das vergißt, was das Wesentliche des Objekts ausmacht: die Weise, wie das Objekt den Erkennenden und Wollenden unter seinen Anspruch stellt. Diesen Anspruch aber müssen wir den Erscheinungen erst durch kritische Auslegung abgewinnen. Die Transzendentalphilosophie muß sich in einer solchen kritischen Auslegung der Erscheinungen bewähren, die diesen nicht »vorsagt, was sie sagen sollen«, wohl aber den ob27 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Fragestellung und Methode
jektiv gültigen Anspruch der Dinge von unseren subjektiven Eindrücken und Vormeinungen unterscheidbar macht. Erst durch diese kritische Auslegung der Erscheinungen gewinnen wir den Blick auf das Objekt, das sich uns so »entgegenwirft« (se nobis objicit), daß darin ein Anspruch an unser Anschauen, Denken und Handeln ergeht. Das gilt auch für den Anspruch des Guten, Schönen und Heiligen, das für unsere Theorie und Praxis auf je spezifische Weise maßgeblich ist und deshalb zugleich als Maßstab unserer kritischen Selbstbeurteilung anerkannt sein will. Nun pflegt der erwähnte Einwand gegen die Transzendentalphilosophie mit dem Hinweis eingeleitet zu werden: Die Erfahrung, nach deren Bedingungen die Transzendentalphilosophie fragt, geht immer aus subjektiven Erlebnissen hervor, auch wenn diese nachträglich durch Ideen, Begriffe und Anschauungsformen umgestaltet werden. Sie kann diese Herkunft aus der Subjektivität nicht abstreifen. Dieser Hinweis ist zweifellos zutreffend. Die Frage kann nur sein: Wie muß die Umgestaltung des »rohen Stoffs« unserer subjektiven Erlebnisse vor sich gehen, wenn aus dem Strom dieser Erlebnisse das Objekt mit seinem Anspruch auf Objektivität gleichsam »auftauchen« soll? Und vorweg: Von welcher Art ist jenes Erleben, das diese »Emergenz« des Objekts möglich machen soll? Und was muß geschehen, wenn diese Möglichkeit wirklich werden soll? Dies werden die Leitfragen eines dritten Abschnitts sein, der sich an die Erörterung der Geschichte der Frage nach dem Guten anschließen wird.
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Erster Teil: Die Frage nach dem Guten und die sittliche Erfahrung
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I. Ein Blick in die Geschichte des Problems
1. Eine vorbereitende Frage: Wer oder was kann gut oder nicht-gut sein? Die Frage »Was ist das Gute?« steht in engem Zusammenhang mit der zweiten Frage: »Wer oder was ist geeignet, gut oder böse zu sein?« Falls »Gutsein« eine Eigenschaft ist, läßt die Eigenart dieser Eigenschaft sich nicht bestimmen, wenn nicht zugleich angegeben wird, wer oder was es ist, dem diese Eigenschaft zukommen oder auch fehlen kann. Hier gehen die Meinungen auseinander, die im Laufe der Philosophiegeschichte vertreten worden sind.
2. Die klassische Philosophie der Antike In der klassischen Philosophie wurde das Gute als das Begehrenswerte definiert. In diesem Sinne kann alles, was überhaupt ist, »gut« genannt werden; denn unter irgendeinem Gesichtspunkt und in irgendeinem Maße ist alles begehrenswert. Das Gute ist eine »passio generalis entis«, ein allgemeines Bestimmungsmerkmal jedes Seienden. Da man aber nicht alles zugleich mit Aussicht auf Erfolg begehren kann, ist das Gute im Konkurrenzfall das Bevorzugungswerte, das den Verzicht auf andere Güter lohnt. Dem entsprach das Verständnis der Freiheit. Sie ist streng genommen nicht die Fähigkeit zur Entscheidung zwischen Gut und Böse: Kein Mensch, sondern allenfalls ein böser Dämon wählt mit Wissen und Willen das Böse als 31 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Ein Blick in die Geschichte des Problems
solches. Freiheit ist vielmehr die Fähigkeit zur Entscheidung zwischen größeren und kleineren Gütern, genauer gesagt: die Fähigkeit, größeren Gütern den Vorzug vor kleineren zu geben. Fehlentscheidungen beruhen darauf, daß wir die wahre Rangordnung der Güter nicht erkennen und das jeweils kleinere Gut für das größere halten. Diese Fehlentscheidung wird dadurch verursacht, daß ein Seiendes besser zu sein scheint, als es wirklich ist, während das größere Gut nicht selten unscheinbar ist und dann den Anschein des kleineren erweckt. Auf dem Felde der Praxis wie auch auf dem Felde der Theorie ist es die Differenz zwischen Schein und Sein, die uns irreführen kann. Die kritische Frage lautet dann: Lohnt ein bestimmtes Gut den Verzicht auf ein anderes, wenn man nicht beide zugleich erhalten kann? Es ist unverkennbar, daß damit die Anleitung zur richtigen Entscheidung am Modell einer Güter-Ökonomie entwikkelt wird, die sich am Verhältnis von Ware und angemessenem Preis orientiert. Die Frage »Lohnt ein Gut den Verzicht auf ein anderes?« wird nach Analogie der Frage gestellt und beantwortet: »Lohnt eine angebotene Ware ihren Preis?« Diese Auffassung vom Guten kann als die »communis opinio« der klassischen Antike gelten. Aber schon bei Platon und Aristoteles werden Vorbehalte gegen diese Auffassung geltend gemacht. Platon bemerkt: Das im uneingeschränkten Sinne Gute kann nicht gegen andere Güter abgewogen werden. Was wirklich in einem moralischen Sinne gut ist, rechtfertigt im Konkurrenzfalle jeden Verzicht. Es geht nicht darum, »kleinere Münzen« hinzugeben, um »größere« zu erwerben, sondern darum, die »eine wahre Münze« zu finden, deren Wert außerhalb jedes Vergleichs mit anderen Münzen liegt (Phaidon, 69a). Wer dieses höchste bzw. inkommensurable Gut verfehlt, wird auch von allen anderen Gütern auf die Dauer enttäuscht. Darum erreicht weder der Törichte noch der Böse 32 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die klassische Philosophie der Antike
jemals das, was er eigentlich will (Gorgias). Wer aber durch sein Wirken nicht bewirkt, was er erreichen will, ist nicht frei. Torheit und Bosheit führen also vielleicht zur Beliebigkeit des Handelns, aber nicht zur Freiheit des selbstbestimmten Wirkens. Auf die Frage, wessen Eigenschaft es sein kann, gut oder nicht-gut zu sein, wird dann geantwortet: Im ursprünglichen Sinne »gut« oder »nicht-gut« ist die Gestalt, die ich meinem eigenen Leben durch mein Verhalten gebe. Gewinne ich eine gute Lebensgestalt, dann kann kein Übel der Welt mir die Befriedigung darüber rauben, daß ich ein solches Leben als zustimmungswürdig erfahre. Ich bin dann auf meinem Weg durch alle Wechselfälle des Lebens wie von einem guten Schutzgeist geführt. Dieser Zustand ist es, der deswegen »Eudaimonía« genannt wird. Dem entspricht das platonische Verständnis der Freiheit: Sie ist die Fähigkeit, sich durch die Art der eigenen Lebensführung »seinen Daimon selber zu wählen« (vgl. das Wort des »Propheten« am Ende der platonischen Politeia, 617 d/e). Aristoteles hat versucht, dem Begriff der »guten Lebensführung« einen konkreteren Inhalt zu geben. Ausgangspunkt dieses Versuches ist seine Lehre von »Akt« und »Potenz«. Jede Weise des Seins ist »Am-Werke-Sein« (»energeia«). Aber aus diesem ursprünglichen Am-Werke-Sein (actus primus) gehen Fähigkeiten (dynamis, potentiae) hervor, auf abgeleitete Weise tätig zu sein (actus secundi zu vollziehen). So ergibt sich aus der Weise, wie der Mensch Mensch ist, seine Fähigkeit, zu denken und Sprache zu erwerben. Die »gute Lebensführung« ist nun primär der naturgemäße actus secundus selbst. Nur er kann glücklich machen. Für den Menschen sind das der Akt des Erkennens und eine Lebensführung, die uns zum Vollzug dieses Aktes befähigt. Sekundär erstrebenswert ist alles, was uns zum Vollzug der für uns naturgemäßen actus secundi verhelfen kann. Für den 33 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Ein Blick in die Geschichte des Problems
Menschen sind das vor allem: Gesundheit des Leibes und Dialogpartner, mit denen ich mich in der Liebe zur Wahrheit einig weiß. Im Hintergrund dieser Auffassung steht die Erfahrung, daß unsere Fähigkeit, zum actus secundus überzugehen, kontingent ist und daß dazu fremde Stoffe und Kräfte angeeignet werden müssen, vor allem aber Menschen notwendig sind, denen ich bei der gemeinsamen Suche nach Wahrheit vertrauen kann. Die Präferenz der Güter, die den Inhalt freier Entscheidungen darstellt, betrifft vor allem diese Mittel, nicht den letzten Zweck. Gerade hier kann man sich täuschen und braucht praktische Klugheit und gegebenenfalls Belehrung durch andere, erfahrene Menschen. Aus dieser Auffassung vom Guten hat die Stoa die Konsequenz gezogen: Worauf es ankommt, ist die Unterscheidung zwischen Gütern, die man mir nehmen kann, und Gütern, die man mir nicht nehmen kann. Um sich auf diese unverlierbaren Güter zu konzentrieren, ist es nötig, die Affekte zu überwinden, die uns an Güter binden, die andere mir vorenthalten oder wegnehmen können. Das sind nicht nur materielle, sondern auch soziale Güter. Uneingeschränkt gut ist nur die Form des eigenen Daseins, die mich von solchen Affekten frei macht. 1
Damit ist das früh-neuzeitliche Verständnisses des Guten vorbereitet: Um das wahrhaft Gute zu finden, kommt es nicht auf äußere Güter an, sondern auf die Freiheit, die aus dem rechten Gebrauch der Vernunft erwächst. Kant hat aus diesem Verständnis des Guten die Konsequenz gezogen: »Gut« zu sein, aber auch »nicht-gut« zu sein, ist keine »allgemeine Bestimmung des Seienden als eines solchen«. Alleiniger Träger dieser Eigenschaft ist der Wille. »Es ist überall nichts in der Welt …, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden als allein ein guter Wille« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, erster Satz nach der Einleitung).
1
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Eine weiterführende Erfahrung Platons
3. Eine weiterführende Erfahrung Platons, die ihre eigene Wirkungsgeschichte entfaltet hat Platons Lehre von der »einen wahren Münze« hat, wirkungsgeschichtlich gesehen, eine Entwicklung ausgelöst, die über Aristoteles und die Stoa bis zu der neuzeitlichen Auffassung vom Guten geführt hat, wonach das Gute (im Unterschied zum bloß »Nützlichen«) seinen Ort ausschließlich im freien Willen hat. Dieser wird in dem Maße »guter Wille«, in welchem er keinem anderen Gesetz folgt als dem, das er, als »Vernunft im praktischen Gebrauche«, sich selber gibt. Von Platon aber hat auch eine andere Entwicklung ihren Ausgang genommen, die schließlich dahin führte, das »urbildlich Gute« in jenem göttlichen Willen zu suchen, der nicht nur das Sittengesetz gegeben, sondern auch die Schöpfung hervorgebracht hat. Alles, was Kreaturen sind oder wirken, kann dieser Auffassung nach nur in einem »abbildlichen« Sinne als gut anerkannt werden. Am Anfang dieser Entwicklung stand Platons Überzeugung: Die Kunst, sein eigenes Leben »gut« zu führen, wird nicht in der Innerlichkeit der Seele allein gefunden, sondern in der Begegnung mit Dingen und Menschen. Ihnen muß ich die Möglichkeiten der eigenen Lebensführung immer neu abgewinnen, ähnlich wie ich mein körperliches Leben der Nahrung abgewinnen muß. Die Dinge und Menschen werden mir durch die Weise, wie ich sie mir aneigne, zur »geistigen Nahrung«. Dann aber entsteht die Frage, welche Nahrung »gesund« ist und welche mich »vergiftet«. Dabei handelt es sich nicht um die »kleine Münze« der Nützlichkeit, sondern um die »eine wahre Münze« der Hilfe zum rechten Leben. Dabei zeigt sich: Wie einem kranken Körper keine Nahrung wirklich »gesund« (lebensfördernd) ist, so ist einem kranken Geist keine Begegnung mit Dingen und Menschen wirklich heilsam. Für das geistige Leben gilt wie für das kör35 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Ein Blick in die Geschichte des Problems
perliche: Auch die beste Nahrung wird zum Gift, wenn sie auf falsche Weise angeeignet wird. Für das geistige Leben bedeutet das: Die Dinge und Menschen werden mir zum »Gift«, wenn ich sie nicht kritisch betrachte. Sie sind für sich betrachtet zweideutig und darum verführerisch, und böswillige Betrüger machen von dieser Zweideutigkeit Gebrauch (vgl. den Dialog Sophistes). Sie werden eindeutig nur, wenn ich fähig werde, mich in ihre innere Bewegung »hineinzudenken« und sie von dem Ziel her zu verstehen, »auf das es mit ihnen hinauswill«. Dieses Ziel ist es, woran sie ihren Halt gewinnen. Erfasse ich erkennend diese Beziehung zum Halt Gewährenden, dann begreife ich ihre vorfindliche Gestalt als »Bild« (eidolon), in welchem ein Urbild (eidos) für mich Gegenwart gewinnt (vgl. die drei Gleichnisse der Politeia). Nur so werden die Dinge und Menschen, die ich erkenne, für mich zur Nahrung, die »dem Geist Flügel wachsen lassen« (Phaidros). Nur was in dieser Qualität (als Gegenwartsgestalt der Idee) wahrgenommen wird, wird für mich rettend und in diesem Sinne gut (agathon). Und alles Gutsein der Dinge und Menschen stammt von jenem »Halt Gewährenden«, das ihnen den Bestand im Sein und die Maßgeblichkeit für unser Erkennen »zuteilt«. Das ideal Gute ist die Quelle allen Seins und aller Wahrheit. So verstanden ist die Lehre vom Guten nicht nur das Zentralstück aller Ethik (Lehre von der richtigen Lebensform), sondern zugleich aller Metaphysik und Erkenntnistheorie.
4. Das Verständnis des Guten bei Immanuel Kant Zentrum des kantischen Verständnisses von Moral ist der Begriff der Freiheit, d. h. der Fähigkeit, eine Kausalreihe von selbst anzufangen. Im Unterschied von den Sinnen, die stets 36 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Das Verständnis des Guten bei Immanuel Kant
von ihren Gegenständen »affiziert« werden, ist in diesem Sinne frei nur die Vernunft, die sich ihre Gesetze selber gibt. Klassische Beispiele dafür sind die Gesetze der Logik und der Mathematik. Wäre die Vernunft gesetzlos, dann fände sie nicht zur Tat, wenn sie nicht durch die Gegenstände dazu »motiviert« wird. Gerade dann aber wäre sie nicht frei. Freiheit ist also nicht Gesetzlosigkeit, sondern Selbstgesetzgebung (Autonomie). Was wir den »guten Willen« nennen, ist »Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche«. Nur dieser »gute Wille« kann im vollen Sinne »Wille« heißen. Alle anderen Formen, zur Handlung zu gelangen, sind Trieb. Nur der freie Wille ist »gut«, d. h. ausschließlich durch das Gesetz bestimmt. Und nur der gute Wille ist frei, d. h. von äußeren Antrieben unabhängig. Und wenn wir von einer Sache oder Person sagen, sie sei gut und verdiene daher unsere moralische Achtung, dann ist es immer das Gesetz, das diese Person oder Sache als gut und damit achtenswert qualifiziert, nicht die als gut erkannte Person oder Sache, die ein Gesetz zum guten Gesetz macht, sofern es ihr den Schutz ihrer Würde garantiert. Was wir dagegen »bösen Willen« nennen, ist (beim Menschen) weder bloß triebhafte Abhängigkeit (das wäre tierisch) noch die völlige Verachtung des Sittengesetzes (das wäre teuflisch), sondern die Perversion, das sittlich Gute zu wollen, aber unter der Bedingung, daß es keinen allzu großen Verzicht auf äußere Güter von uns verlangt. Der Wille ist gut, sofern er diese Perversion überwindet. Und nur so findet er zugleich zur Freiheit seiner Selbstbestimmung zurück. Diese Weise, das Gute zu verstehen, hat eine wichtige Folge für die Selbstbeurteilung des konkreten Menschen. Das Individuum erfährt die Selbstgesetzgebung der Vernunft zunächst als Vorschrift, die Gehorsam verlangt, und das Gute als Pflicht, die ihm auferlegt ist. Gerade dadurch wird es der Unreinheit seiner Gesinnung überführt. Es ist die Über37 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Ein Blick in die Geschichte des Problems
windung dieser »natürlichen« Unreinheit, aus der der gute Wille erst hervorgeht. Dann erst erkennt das Individuum in den Vorschriften der Moral die Gesetzgebung seiner eigenen Vernunft und wird fähig, das Gute »mit Freuden zu tun«. Die Frage, wie die Überwindung der »natürlichen« Unreinheit möglich sei, »wie es möglich sei, daß ein böser Baum gute Früchte bringt«, bildet bei Kant den wichtigsten Schritt beim Übergang von der Moral zur Religion. Umkehr (Sinneswandel) ist die erste derjenigen Aufgaben, die wir »als göttliche Gebote«, d. h. als uns anvertraute Aufträge, verstehen dürfen. Ihre Erfüllung wird möglich, weil wir schon das Gewissensurteil als Stimme des in uns wohnenden richtenden und rettenden Geistes verstehen dürfen, der uns die Umkehr nicht abnimmt, sondern uns zu ihr befähigt. So wird auch bei Kant deutlich, wie eng das Verständnis des Guten mit dem der Freiheit und des Gewissens zusammenhängt. Das ursprünglich Gute, aus dem alle Menschen und Dinge die Eigenschaft, »gut« zu sein, empfangen, ist die sich selbst bestimmende Vernunft. Freiheit ist die Fähigkeit zu dieser Selbstbestimmung, die wir immer wieder unserer Neigung abringen müssen, das Sittengesetz unter Bedingungen zu stellen, die durch unsere Bedürfnisse und Neigungen definiert werden. Das Gewissen aber ist die erstaunlich erscheinende Fähigkeit des Individuums, über sich und die Unreinheit seiner Gesinnung ein unbestechliches Urteil zu sprechen und damit die »Tücke des menschlichen Herzens« zu überwinden, »sich wegen seiner eigenen guten oder bösen Gesinnungen selbst zu betrügen« 2 . Die Paradoxie aber, die darin besteht, daß der Mensch trotz aller Unreinheit seiner Gesinnung zu diesem unbestechlichen Urteil über sich selbst fähig ist, wird durch einen postulatorischen Glauben auf2 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Werke in 12 Bänden, Frankfurt a. M. 1977, Band 8, 686.
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Vernunftkritik – auch auf dem Felde der praktischen Philosophie
gelöst: Wir dürfen nicht nur die Pflichten, die unsere eigene Vernunft uns vorschreibt, als göttliche Gebote verstehen, sondern auch das Gewissensurteil, das wir über uns selber sprechen, als Äußerung eines in uns wohnenden richtenden und gerade dadurch rettenden Geistes begreifen. 3
5. Vernunftkritik – auch auf dem Felde der praktischen Philosophie: Politische Erfahrung und moralphilosophische Reflexion Die nachkantische Philosophie ist durch eine neue Form der Vernunftkritik bestimmt, und zwar auch der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch. Die Überzeugung, daß die Vernunft bei richtigem Gebrauch nicht irren kann und daß daher »Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch« immer gut ist, ist nicht nur bei den Philosophen der Aufklärungszeit unbestritten, sondern geht philosophiegeschichtlich bis auf Platon zurück. Gut handeln heißt: vernünftig handeln. Diese Überzeugung hat heute ihre Selbstverständlichkeit verloren. Die Vernunft, so scheint es, kennt ihre eigenen Verirrungen; und diese werden durch Einhaltung formaler Regeln nicht verhindert. Es gibt Gedanken, die ihrer Form nach widerspruchsfrei und kohärent gebildet sind und dennoch »an der Realität vorbeigehen«. Und es kommt vor, daß solche Gedanken und Gedankensysteme aufgrund dieser formalen Stimmigkeit so überzeugend erscheinen, daß Beobachtungen, die mit ihnen nicht vereinbar sind, von vorneherein als trügerischer Schein beurteilt werden. Dann werden diese Gedankengebäude korrektur-resistent. Vgl. Schaeffler, »Die Dialektik des praktischen Vernunftgebrauchs und die Ansätze zu einer philosophischen Pneumatologie bei Kant«, in: Ricken und Marty, Kant über Religion, Stuttgart 1997, 124–142.
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Ein Blick in die Geschichte des Problems
Die Folgen dieser Korrektur-Resistenz sind dann besonders erschreckend, wenn es sich um Gedankengebäude der politischen Moral handelt. Da auch diese aus Vernunftprinzipien konsequent hergeleitet sind, erscheinen die Ergebnisse solcher Konstruktionen als sittlich geboten. Jeder Widerstand gegen diese Ergebnisse ist dann nicht nur unvernünftig, sondern auch unmoralisch. Wer sich gegen Gebote dieser Moral auf Beobachtungen beruft, wird dem Verdacht ausgesetzt, durch seine Argumente irgendwelche moralwidrigen Interessen legitimieren zu wollen. Das aber bedeutet: Der Kritiker wird moralisch verdächtigt, die Berufung auf die Moral aber wird zur politischen Waffe. Auf diese Gefahr ist die Moralphilosophie erst in der Neuzeit aufmerksam geworden, vor allem im Zusammenhang politischer Umwälzungen.
a) Hegels Kritik der »abstrakten« Moral und das Böse als »vorantreibende Negation« Die Gefahr, daß Moralität zur Waffe in der politischen Auseinandersetzung wird, sodaß der Kampf mit dem politischen Gegner als Kampf für eine vernünftige Moral und gegen Bosheit und Unvernunft erscheint, gehört zu den Erfahrungen, die Hegel während der Französischen Revolution gemacht hat. Und diese Gefahr hatte eine zweite zur Folge: Im Kampf gegen Unvernunft und Bosheit sind Argumente vergeblich. In dieser Situation erscheint selbst der Einsatz von Gewalt sittlich geboten. Erfahrungen dieser Art haben Hegel zu der Überzeugung gebracht: Eine »abstrakte« Moralität, die ihre Prinzipien aus reinen Begriffen entwirft und diese vernünftigen Prinzipien der »bösen« Welt der Erfahrungstatsachen gegenübersetzt, schlägt leicht in Gewalt um, wenn diese notwendig 40 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Vernunftkritik – auch auf dem Felde der praktischen Philosophie
erscheint, um die moralischen Ziele wirksam durchzusetzen. Diese Erfahrungen haben ihn zu der Forderung veranlaßt, den »abstrakten« Begriff durch den »lebendigen« zu ersetzen. Der lebendige Begriff soll weder empiristisch nur abschildern, was sich in der Erfahrung zeigt, noch rationalistisch der Tatsachenwelt unsere Begriffskonstruktionen entgegensetzen. Er soll vielmehr jenen Prozeß der Gestaltung und Umgestaltung nachzeichnen, der das Wesen des Lebendigen ausmacht. Dieses Wesen des Lebendigen ist nicht abseits von seiner Geschichte auffindbar; es muß in der Auslegung der Tatsachen als das vorantreibende Prinzip des historischen Wandels aufgefunden werden. Philosophische Wesenserkenntnis der Dinge fällt dann mit dem Begreifen ihrer Geschichte zusammen. Und die Vernunft, die dieses Wesen der Dinge erfaßt, ist die Fähigkeit, diesen historischen Wandel in Gedanken nachzuvollziehen. Das aber kann sie nur, wenn sie in der Begegnung mit den Dingen ihrer eigenen Historizität bewußt wird (Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 113). Alle Fehlgestaltungen der Vernunft, wie sie soeben am Beispiel des Umschlags von Moralität in den Terror beschrieben wurden, beruhen auf einem abstrakten Denken, das unfähig ist, der Lebendigkeit des Wesens durch den lebendigen Begriff zu entsprechen. Und wenn die Erfahrung solcher Fehlgestaltungen das Vertrauen in die Vernunft zu schwächen droht, gewinnt der lebendige Begriff dieses Vernunftvertrauen zurück. Diese Wendung vom »abstrakten« zum »lebendigen« Begriff hat einschneidende Folgen für das Verständnis des Guten und Bösen. Es kann sich nicht darum handeln, der Welt der Tatsachen eine Welt der sittlichen Werte oder Ziele gegenüberzusetzen, sondern nur darum, an der Welt, wie sie ist, das Wirken jener inneren Dynamik abzulesen, die über 41 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Ein Blick in die Geschichte des Problems
den jeweils gegenwärtigen Zustand hinausdrängt. Deshalb kommt es darauf an, auch alles Negative und Destruktive, das in der Geschichte wirksam ist, als deren vorantreibendes Moment zu begreifen, das nicht fehlen durfte, wenn das Wesen der Dinge sich als das Prinzip ihrer Geschichte erweisen sollte. Das Gute ist dann der Zweck, auf dessen Erreichung die Geschichte ausgerichtet ist, das Böse aber die dazu unerläßliche »vorantreibende Negation«, ohne die der gute Endzweck nicht erreicht werden könnte. (Dem entspricht die Selbstaussage des Mephisto in Goethes Faust: »Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«.) Eine solche Philosophie wird zur Schule einer Zustimmung zum Wirklichen, auch in seinen »dunklen Seiten«. Hegel ist sich darüber im klaren, daß eine solche Philosophie »den Standpunkt der Moral hinter sich läßt«, weil sie in allem, was ist und geschieht, jenen »Geist« am Werke sieht, der der Geschichte ihren sicheren Gang verleiht. Eine solche Philosophie enthält sich des moralischen Urteils, weil sie zu der Einsicht führt, daß alles Wirkliche eine Manifestation der einen und gleichen Vernunft ist. »Alles was vernünftig ist, ist wirklich, und alles was wirklich ist, ist vernünftig« (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Einleitung). Diese Betrachtung der Welt und ihrer Geschichte wurde, im Urteil Hegels, durch die Geschichte und Nachgeschichte der Revolution bestätigt. Aus der Unterdrückungsgewalt des Ancien Regimes, gegen die die Revolutionäre sich auflehnten, und aus der neuen Gewalt, mit der sie ihre Ziele durchzusetzen versuchten, ist jene bürgerliche Rechtsordnung entstanden, die heute Freiheit garantiert, ohne in Anarchie zu zerfallen. Zurückschauend kann man sagen: Hegel hat im Durchgang durch die Erfahrung von den Folgen fehlgeleiteter Vernunft das Vertrauen in die Wirkmacht der Vernunft wieder42 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Vernunftkritik – auch auf dem Felde der praktischen Philosophie
gewonnen. Aber er hat dafür den Preis bezahlt, daß er auf ein moralisches Urteil über historische Ereignisse und Prozesse verzichten mußte. Es war im Sinne Hegels im Blick auf den sicheren Gang der Weltgeschichte unvermeidlich, daß Individuen und ganze Generationen zu Opfern wurden, die gebracht werden mußten, um die Geschichte zu ihrem von der Vernunft gesetzten Ziele zu führen.
b) Karl Marx, seine Kritik an der bürgerlichen Geschichtsphilosophie und Moral und das Gute als das »Kontrafaktische« Es war diese universale Rechtfertigung des faktisch Geschehenen, die den Protest vieler Leser Hegels hervorrief. Marx und seine Anhänger haben diesen Protest auf den Begriff gebracht. Der grundlegende Vorwurf gegen Hegel lautete nun: Eine solche Philosophie rechtfertigt die bestehende Welt, als sei sie die einzig mögliche. Diese Fehleinschätzung muß auf ihre Gründe zurückgeführt werden. Und die Interpretation der Marxisten lautete: Dies ist eine Ideologie derer, die an der Erhaltung der bestehenden Verhältnisse oder an der Realisierung ihrer Entwicklungstendenzen interessiert sind. Diesem bürgerlichen Geschichtsverständnis entsprach die bürgerliche Moral. Sie leitete den Arbeiter zu Bescheidenheit, Redlichkeit und Fleiß an und stellte ihm dafür, innerhalb des bestehenden Systems, bessere Arbeitsbedingungen und höheren Lohn in Aussicht. Damit brachte sie ihm die Überzeugung bei, zu einem Verhalten verpflichtet zu sein, das faktisch das System stabilisierte und, das dem Interesse der Besitzenden diente (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW Bd. I). Aber aus der Sicht derer, die den Preis dieses sicheren Weges der Geschichte zu zahlen hatten, ist das angeblich 43 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
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Notwendige physisch nicht notwendig und moralisch unmöglich. Der Auffassung, alles Wirkliche sei vernünftig, ist die grundlegende Erfahrung entgegenzuhalten: »So, wie es ist, kann es nicht bleiben; so wie alles bisher verlief, kann es nicht weitergehen.« Daraus ergab sich ein neues Verständnis des Gegensatzes von Gut und Böse: Das Gute ist das »Kontrafaktische«, dessen Realisierung eine »neue Welt« voraussetzt. Denn in der Welt, wie sie faktisch ist, scheint das Gute das Unmögliche zu sein. Die Möglichkeit des Guten muß dieser Welt erst kämpferisch abgerungen werden. Nicht »Entwicklung« der bestehenden Welt, sondern »Revolution« ist die Bedingung des Guten. »Böse« dagegen ist das Interesse an der Erhaltung der Welt, wie sie ist, vor allem aber der Versuch, diese Erhaltung des Faktischen als sittlich geboten auszugeben und die revolutionäre Gewalt moralisch zu diffamieren. Gut scheint in der jeweiligen Gesellschaft das, was der herrschenden Ideologie entspricht. Wirklich gut ist, was geeignet ist, den ideologischen Charakter der in einer Gesellschaft herrschenden Zielvorstellungen kritisch zu entlarven und ihren Einfluß zu überwinden. Freilich ist auch die Revolution nach marxistischer Auffassung keine Folge eines willkürlichen Entschlusses, auch nicht nur das Ergebnis eines Protests gegen die Welt, wie sie ist, sondern die Vollstreckung einer historischen Notwendigkeit. Nicht nur alle Versuche, die bestehenden Verhältnisse zu retten, sondern auch alle bisherigen »bürgerlichen« Revolutionen haben jene unerträglichen Verhältnisse nicht beseitigen können, die die Überzeugung begründet haben: »So kann es nicht bleiben – so kann es nicht weitergehen.« Sie haben im Gegenteil die Unerträglichkeit dieser Verhältnisse noch gesteigert. Dennoch sind alle diese fehlgeschlagenen Versuche nicht vergeblich gewesen: Sie haben die Unausweichlichkeit der 44 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
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einen Revolution evident gemacht, die allein diesen Namen der proletarischen Revolution verdient. Und sie haben zu einer Konzentration der wirtschaftlichen und politischen Macht geführt, die nun von der Revolutionären angeeignet werden kann, um das »letzte Gefecht« der Weltgeschichte siegreich zu führen.
c)
Die neue Aufgabe der Moralphilosophie: Vernunftkritik als Ideologiekritik
Ebenso wie die Vertreter der Französischen Revolution wissen auch die marxistischen Revolutionäre die Vernunft auf ihrer Seite. Es ist die Vernunft, die die Unhaltbarkeit der bestehenden Verhältnisse durchschaut und die Notwendigkeit einer radikalen Umgestaltung deutlich macht. Beide Revolutionen folgten moralischen Grundsätzen, die aus Vernunftprinzipien hergeleitet wurden. Darum stellte sich auch für die Marxisten ein Problem, mit dem schon die Theoretiker der Französischen Revolution zu kämpfen hatten: Sie mußten erklären, daß ihre Programme keineswegs die Zustimmung aller denkenden Zeitgenossen fanden, sondern auf Widerstände stießen. Nun pflegen die Vertreter derartiger politisch-moralischer Programme den Widerstand, auf den sie stoßen, nicht als Anlaß zur Selbstkritik zu begreifen. Dazu sind sie der Vernünftigkeit ihrer Zielsetzungen allzu gewiß. Statt dessen wird die Erklärung für den erfahrenen Widerstand in der These gesucht, daß »verkehrte Verhältnisse ein verkehrtes Bewußtsein erzeugen« und daß dieses verkehrte Bewußtsein unfähig ist, die Widervernünftigkeit der bestehenden Verhältnisse und die Notwendigkeit ihrer Umgestaltung einzusehen. Dabei scheint es den Marxisten besser gelungen zu sein als den Vertretern früherer Revolutionen, den kausalen Zu45 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
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sammenhang zu rekonstruieren, der zwischen »verkehrten Verhältnissen« und einem »verkehrten Bewußtsein« besteht. Diese Rekonstruktion läßt sich mit einer gewissen Vereinfachung in folgender Weise beschreiben: Sie beruht auf der Theorie von der »internalisierten Angst«. Wo die Angst vor fremder Gewalt meine Handlungen bestimmt, da bin ich nicht nur geneigt, Handlungen zu unterlassen, zu denen ich mich moralisch verpflichtet weiß, oder in einer Weise zu handeln, die ich in meinem Gewissen selber verurteilen muß. Die Angst kann mich dazu veranlassen, daß ich nicht einmal mehr in Gedanken gegen den Willen der Mächtigen Widerstand leiste. Dann bringe ich mein Gewissen zum Schweigen und urteile über meine geplanten Taten und Unterlassungen so, wie die Mächtigen über sie urteilen werden, wenn sie von ihnen Kenntnis erhalten. Mit einem heute geläufigen Ausdruck gesagt: Die Angst motiviert mich, fremde Gewalt zu »internalisieren«, sodaß sie nicht nur mein äußeres Verhalten bestimmt, sondern auch meine inneren Gedanken und Haltungen. Und wo es Beobachtungen gibt, die gegen diese Gedanken der Mächtigen als Argumente dienen könnten, da verbiete ich mir selbst, solche Beobachtungen zur Kenntnis zu nehmen und in meine Argumente einfließen zu lassen. Nicht selten bestimmt diese Abhängigkeit nicht nur mein individuelles Denken und Handeln, sondern das der Mehrheit in einer Gesellschaft. Dann entsteht derjenige Zustand, den Marx mit seiner kurzen Formel zutreffend beschrieben hat: »Die herrschenden Ideen einer Zeit sind die Ideen der Herrschenden« (Marx/Engels, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 406, ausführlicher in: Die deutsche Ideologie, MEW 3, 46). Darauf beruht die Macht von »Ideologien«. Mit diesem Terminus bezeichnet man Überzeugungen und ganze Systeme von Orientierungsnormen, die mit dem Anspruch auftreten, das theoretisch Wahre und praktisch Verpflichtende zur Geltung zu bringen, in Wahrheit aber Ausdruck dafür sind, 46 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
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daß breite Bevölkerungskreise sich bis in ihr Denken und Wollen hinein dem Interesse einer herrschenden Gruppe unterworfen haben. Und sie tun das, weil sie Angst davor haben, mit den Mächtigen in Konflikt zu geraten. Der soeben zitierte Satz »Die herrschenden Ideen einer Zeit sind die Ideen der Herrschenden« gibt den sozialpsychologischen Mechanismus an, dem solche Ideologien ihre Wirksamkeit verdanken. Der Nachweis der Macht der Ideologien über unser Denken und Wollen wird nun zum zentralen Thema einer neuen Weise von Vernunftkritik. Man kann deren leitende Maxime auf die Formel bringen: Die alte Aufgabe, zu unterscheiden zwischen dem, was nur gut scheint, und dem, was wirklich gut ist, gewinnt in der beschriebenen Situation eine neue Gestalt: »Gut scheint in der jeweiligen Gesellschaft das, was der herrschenden Ideologie entspricht. Wirklich gut ist, was geeignet ist, den ideologischen Charakter der in einer Gesellschaft herrschenden Zielvorstellungen kritisch zu entlarven und so zu ihrer Überwindung beizutragen.«
d) Auch die Mächtigen werden zu Opfern ihrer eigenen Ideologie Es gibt aber auch eine andere Art, wie »verkehrte Verhältnisse ein verkehrtes Bewußtsein erzeugen«. Und auf diese Gefahr scheinen die Marxisten bisher wenig Aufmerksamkeit verwendet zu haben. Sie betrifft gerade die, die diese Verhältnisse ändern wollen. Diese Verhältnisse erscheinen so unhaltbar, die Notwendigkeit ihrer Veränderung erscheint so evident und das entwickelte politische Programm so alternativlos, daß Gegenargumente von vorneherein unter den Verdacht gestellt werden, sie dienten dem Interesse derjenigen, deren Herrschaft gebrochen werden muß. Daraus wird die 47 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
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Folgerung gezogen: Wer an dem Programm der politischen Umgestaltung Kritik übt, betreibt, oft ohne es zu bemerken, die Sache der »Feinde der Freiheit«. Das hat zur Folge, daß diejenigen, die von der Richtigkeit des Programms überzeugt sind, sich selber jedes Gegenargument verbieten und sich deshalb selber gegenüber Phänomenen blind machen, die geeignet sein könnten, ein solches Gegenargument als beweiskräftig erscheinen zu lassen. Und in der Tat gibt es eine spezifische Wahrnehmungsblindheit derer, die moralisch begründete Programme einer Umgestaltung der politischen Verhältnisse verfolgen. In Zeiten radikaler politischer Veränderungen gelingt es den neuen Gewalthabern, große Teile der Bevölkerung bis in ihr Gewissen hinein zu beherrschen, sodaß diese für sittlich geboten halten, was den Zielvorstellungen der revolutionären Eliten entspricht. Aber auch diese Eliten selbst haben sich selber so sehr an den Gedanken gewöhnt, jedes Gegenargument sei ein Ausdruck »falschen Bewußtseins«, daß auch sie selber solche Phänomene nicht mehr wahrnehmen, die sie in ihrer Überzeugung verunsichern könnten. Erfahrungen, die dem öffentlich normativ gewordenen moralischen Urteil widersprechen könnten, kommen dann gar nicht mehr zustande. Selbst »himmelschreiendes Unrecht« wird gar nicht mehr als solches wahrgenommen, wenn es im Lichte derjenigen Ideen als geboten erscheint, die nun, im Zeitalter der Revolution, zu den neuen »herrschenden Ideen« dieser Zeit geworden sind. Der Untergang der kommunistischen Systeme in Osteuropa war nicht zuletzt dadurch bedingt, daß die maßgeblichen Vertreter des »realen Sozialismus« die immer deutlicher werdenden Anzeichen für das bevorstehende Ende dieser Systeme nicht wahrzunehmen und in ihrer Bedeutung zu erfassen vermochten. Und wenn man in der Rückschau feststellt: »Das hätte man doch sehen müssen«, dann muß der Grund dafür, daß das Offenkundige nicht gesehen 48 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Vernunftkritik – auch auf dem Felde der praktischen Philosophie
wurde, in den Systemen selber liegen, die sich gegen alles, was zur Kritik an ihnen hätte führen können, immun gemacht hatten. In der Rückschau nach dem Zusammenbruch solcher Gewaltsysteme wird deutlich: Dieser Verlust der Fähigkeit zur Wahrnehmung sittlich relevanter Sachverhalte ist die folgenreichste Schädigung derer, die von solcher Verführung betroffen waren, und zugleich das Symptom für den »sozialpathologischen« Zustand einer solchen Gesellschaft. Und zumeist reicht die bloße Brechung der Gewalt derer, die in solchen Zeiten die Herrschenden waren, nicht dazu aus, die ehemals Unterworfenen von diesem pathologischen Zustand ihres individuellen und gemeinschaftlich-öffentlichen Bewußtseins zu befreien. Die moralischen Schäden überdauern das Ende des Gewaltregimes, das sie verursacht hat.
e) Die Frage nach einer Alternative: Die Fähigkeit zur sittlichen Wahrnehmung und die Erfahrung des Guten Hegel und Marx haben mit Recht darauf hingewiesen, daß die Entdeckung, wie realitätsfern rein gedankliche Konstruktionen werden können, den Übergang vom »abstrakten« zum »lebendigen« Begriff verlangt. Damit ist die Forderung verbunden, von einer Logik, deren oberstes Prinzip das Widerspruchsverbot ist, zu einer dialektischen Logik überzugehen, die in auftretenden Widersprüchen die vorantreibende Kraft erkennt, die geschichtliche Veränderungen möglich macht. Doch auch dann, wenn an dieser Einsicht festgehalten wird, zeigt gerade das Beispiel von Hegel und Marx: Auch eine dialektische Logik, die mit »lebendigen« Begriffen operiert, bietet keinen zureichenden Schutz vor einer zuweilen erschreckenden Realitätsblindheit. 49 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Ein Blick in die Geschichte des Problems
So stellt sich erneut die Frage, wie die bedrohte sittliche Wahrnehmungsfähigkeit gesichert bzw., wenn sie verlorenging, wiedergewonnen werden kann. Und es wird sich zeigen: Nur mit der Fähigkeit zur sittlichen Wahrnehmung kann auch die Erfahrung des sittlich Guten gesichert bzw. wiedergewonnen werden. Die Wahrnehmung gewinnt für das moralische Bewußtsein gerade deswegen ihre Bedeutung, weil in ihr – deutlicher als im bloßen Akt des Denkens – die Eigeninitiative des Gegenstandes zur Geltung kommt. Und nur dadurch werden wir davor bewahrt, unsere sittliche Praxis als eine Art von Gewalt zu verstehen, die wir den Dingen – und alsbald auch den Menschen – antun, um in die Welt der »dummen Tatsachen« erst Vernunft hineinzubringen und um das Gute gegen die Bosheit der Welt durchzusetzen. Auch die Kritik an der Welt, die in manchen Hinsichten in der Tat als »böse Welt« bezeichnet werden kann, kann nicht darin bestehen, daß wir ihr unsere aus Begriffen konstruierte »bessere Gestalt« aufzwingen. Auch die Kritik muß dialogischen Charakter behalten, d. h. den Sachen selbst »ansehen«, welche Art der Neugestaltung sie kraft ihrer Eigenart erfordern, um daraus Kriterien für unser Verstehen und für unsere Praxis zu gewinnen. Wir beantworten diesen Anspruch der Dinge durch unser kritisches Verstehen und unsere umgestaltende Tat und machen dann die Erfahrung, daß Dinge ihrerseits auf neue Weise zu uns sprechen. Das impliziert ein Vertrauen, das wir der Wirklichkeit, trotz aller Kritik, entgegenbringen. Wir trauen ihnen zu, daß sie uns, wenn wir auf sie hören, auf einen Weg bringen, an dessen Ende sie, aber auch wir selbst, auf eine Weise verändert sein werden, die dann der Kritik standhalten wird. Andernfalls würde diese Kritik zum Vorwand dafür, unsere eigenen Handlungsprogramme gewaltsam durchzusetzen. Die jüngere politische Geschichte bietet, wie soeben in 50 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Vernunftkritik – auch auf dem Felde der praktischen Philosophie
Erinnerung gerufen worden ist, erschreckende Beispiele für einen solchen Umschlag der Moralität in Gewalt. Und diese Beispiele lehren, daß von der Selbstgerechtigkeit solcher Menschen, die aus subjektiv gutem Willen den Kampf mit der bösen Welt aufgenommen haben, mindestens ebenso große Bedrohungen ausgehen wie von der Bosheit der Gewissenlosen. Ist aber unsere Fähigkeit zur selbstkritischen sittlichen Entscheidung ein Ergebnis des Dialogs mit der Wirklichkeit – und zwar auch dort, wo wir an ihr radikale Kritik üben –, dann wird auch der Begriff des Guten neu verstanden werden müssen: weder als eine Eigenschaft derer, die über alle Kritik erhaben sind, noch als eine Qualität, die nur jenem Willen zukommt, der aus sittlicher Einsicht zur Weltveränderung entschlossen ist, sondern als eine Eigenschaft sowohl der Dinge als auch unseres Willens, die sich erst aus den Dialog zwischen beiden ergibt. Das bedeutet: Das Gute ist jener berechtigte Anspruch des Wirklichen, dessen Recht in jenem kritischen Dialog mit der Wirklichkeit zutagetritt, der »sittliche Erfahrung« heißt. Im gleichen Dialog aber kommt auch die Fähigkeit zur sittlichen Entscheidung, also die Freiheit, erst zustande. Denn die Freiheit realisiert sich in Akten der Selbsthingabe. Diese aber kann nur dann auf verantwortliche Weise vollzogen werden, wenn ein Anspruch vernommen wird, der diese Hingabe verlangt, und wenn das Recht dieses Anspruchs kritisch geprüft worden ist. Das aber geschieht im Dialog mit der Wirklichkeit. Erst in diesem Dialog stellt sich heraus, in welchem Maße das Wirkliche, das uns begegnet, nicht nur Ansprüche an uns richtet, sondern auch jenes Vertrauen verdient, das wir aufbringen müssen, um uns diesem Anspruch hinzugeben. Damit wird im Rahmen einer Theorie des Dialogs eine Definition des Guten wiedergewonnen, die sich auch in ande51 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Ein Blick in die Geschichte des Problems
ren Zusammenhängen bewährt hat: Das Gute ist das anspruchshaft Begegnende und zugleich das Vertrauenswürdige. In diesem Sinne kann nicht nur von Gesetzen und gesetzesgemäßen Handlungen, sondern auch von Dingen und Menschen gesagt werden, sie seien »gut«. Aber die Berechtigung dieses Anspruchs und die Vertrauenswürdigkeit derjenigen Wirklichkeit, von der dieser Anspruch ausgeht, kann nicht a priori durch Analyse von Begriffen festgestellt werden. Man sieht diese Eigenschaften den Dingen und Menschen auch nicht in einem bloßen Hinsehen an, sondern wird ihrer nur in demjenigen Dialog mit der Wirklichkeit gewiß, der »Erfahrung« heißt. Damit hängen zwei schon gestellte Fragen zusammen: Von welcher Art ist jenes Erleben, das diese »Emergenz« des Objekts möglich machen soll? Und was muß geschehen, wenn diese Möglichkeit wirklich werden soll? Wer von Erfahrung spricht, die objektiv gültig sein soll, muß von Erlebnissen sprechen, aus deren Transformation Erfahrung gewonnen wird. Besonders wichtig ist dies dort, wo von sittlicher Erfahrung gesprochen wird. Gegen alle Willkür der Programme: Die begegnende Wirklichkeit hat das »erste Wort«. Dieses wird zunächst in Erlebnissen vernehmbar, die wir so nicht selber herbeiführen konnten.
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II. Einige Aspekte des sittlichen Erlebens
1. Charakteristische Erlebnisinhalte a) Dem Wirklichen Möglichkeiten ansehen Dem Wirklichen Möglichkeiten ansehen und sich vorstellen, was deren Verwirklichung für den Gegenstand bedeuten würde, »was aus ihm werden könnte, wenn …« (eine Perspektive der zunächst frei spielenden praktischen Phantasie).
b) Dem Wirklichen die verkümmerte oder verletzte Gestalt ansehen Dem Wirklichen die verkümmerte oder verletzte Gestalt ansehen, die anzeigt, daß aus ihm »nicht werden durfte, was aus ihm hätte werden können«. Als Impuls zu dem Gedanken: »Das kann doch so nicht bleiben.« Und entgegengesetzte Eindrücke des »glücklich gestalteten Lebens« führen zu der Überzeugung: »Es muß auch nicht so bleiben« (eine Perspektive der zunächst noch ganz subjektiven »Parteinahme«, die im Namen des Betroffenen Alternativen zum vorgefundenen Zustand fordert).
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Einige Aspekte des sittlichen Erlebens
c)
Das Erlebnis der »Betroffenheit«: »Das betrifft (meint) mich.«
Aspekte dieser Betroffenheit: 4 »Davon komme ich nicht mehr los.« – »Ich würde mich selber verleugnen und verlieren, wenn ich das je vergessen wollte.« »Was aus mir noch werden kann, hängt davon ab, was aus ihm werden wird.« Die Chancen und Gefahren des Wirklichen, dem ich begegne, sind zugleich meine eigenen Chancen und Gefahren (eine Perspektive der zunächst noch un-begriffenen [begriffslosen] »Sym-patheia« mit dem Erlebten).
d) Ein neuer Blick auf die Wirklichkeit Die verletzte oder verkümmerte Wirklichkeit, die uns »betroffen« macht, aber auch entgegengesetzte Eindrücke, die uns zeigen: »Es könnte auch anders sein«, rücken so sehr ins Zentrum unseres Blickfeldes, daß alles andere im Lichte dieses einen Erlebnis-Inhalts gesehen wird: »So steht es mit der Welt, daß so etwas möglich ist.« Folge: Erhöhte Sensibilität für vergleichbare Formen der Verletzung und Verkümmerung – und Entdeckung eines spezifisch moralischen Zusammenhangs: Jedes Leid, das einem einzelnen Menschen angetan oder nicht erspart wird, ist »ein Angriff auf die ganze Menschheit«. Jede Hilfe, die einem einDer Begriff der »Betroffenheit« ist bei Praktikern beliebt wegen der Motivationskraft des Erlebens, die er anzeigt – bei den Theoretikern verachtet (»Betroffenheitslyrik«) wegen des Mangels an Kriterien zur Unterscheidung zwischen dem objektiv Verpflichtenden und dem unverbindlichen und zugleich manipulierbaren Gefühl.
4
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Charakteristische Erlebnisinhalte
zelnen Menschen geleistet wird, ist »ein Dienst an der Gemeinschaft aller Menschen« (Perspektive eines noch ganz situationsbedingten Erfassens der unbedingten Bedeutung, die einem Einzelnen zukommen kann).
e) Rückschau Diese Reihe von Erlebnissen führt mich bis zur Schwelle vom Erleben zur Erfahrung: Der Weg führt mich von der rein deskriptiven Feststellung, daß das Wirkliche in seiner Bestimmtheit und Beschränktheit von einer weiten Sphäre des Möglichen umgeben ist: Der größte Teil des Möglichen ist (noch) nicht wirklich. Und ein erheblicher Teil des Möglichen wird durch die Umstände dauerhaft daran gehindert, wirklich zu werden. Über das unpersönliche Werturteil: »Das kann nicht so bleiben« und über das subjektive Gefühl: »Das meint mich« zur Frage nach der Aufgabe, die das Wirkliche mir stellt. Dann lautet die Feststellung nicht mehr: »Da muß etwas geschehen«, sondern: »Da muß ich etwas tun« – nicht weil es mir so gefällt, sondern weil ich (»gerade ich«) es dem Wirklichen schulde, dessen Zustand ich erlebt habe. Aber auf diesem Wege ist nicht nur das letzte Stadium belangvoll, durch das wir die Schwelle zur sittlichen Erfahrung betreten. Zwar kommt erst hier das eigene Ich in seiner Eigenart und seinem Eigenwert zum Bewußtsein. Aber wenn sittliche Erfahrung mit ihrer spezifischen Objektivität zustandekommen soll, ist es nicht nur notwendig, ein angemessenes Verständnis des Ich zu gewinnen, an das die sittliche Forderung sich richtet. Ebenso nötig ist es, sachlich von den Sachen und Sachverhalten zu reden, von denen diese Forderung ausgeht. Und dazu gehören die Möglichkeiten, die diesen Seienden offenstehen, sowie die Frage, was für sie (nicht 55 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Einige Aspekte des sittlichen Erlebens
nur für uns) davon abhängt, ob diese Möglichkeiten realisiert werden oder nicht. Um diese Fragen zu beantworten, ist es nötig, jene beiden Erlebnisse, von denen an erster und zweiter Stelle die Rede war, auf ihre objektive Geltung hin zu überprüfen. Dennoch soll hier zunächst vom dritten Erlebnis gesprochen werden: »Das meint mich«. Aber gerade hier ist eine kritische Überprüfung umso notwendiger, als mit diesem Erleben Erwartungen verbunden sind, die zwar die Motivationskraft dieses Erlebnisses verstärken, zugleich aber eine hohe Suggestionskraft entfalten, die uns verführen kann, dasjenige für wirklich zu halten, was unseren Erwartungen entgegenkommt. Dennoch gilt auch hier: Erst verstehen, dann erst kritisch beurteilen!
2. Erwartungen, die sich an das Erleben knüpfen: »Das meint mich.« a) Der Wunsch, »gemeint zu sein« Den Hintergrund dieses Erlebens bildet ein als alltägliches, aber zugleich als defizitär empfundenes »In-der-Welt-Sein«. Dort stehe ich in mannigfachen Bezügen, angefangen von der raum-zeitlichen Nachbarschaft zu anderen Seienden über die vielen Formen funktionalen Zusammenwirkens eigener und fremder Kräfte bis hin zum Wiedererkennen von Personen, aber auch von Situationen (z. B. »Schon wieder läuft mir die Zeit davon«). Aber die meisten dieser Verhältnisse sind von solcher Art, daß ich den Eindruck habe, »mich selber« in ihnen nicht wiederzufinden. Versuche ich, diesen Eindruck etwas näher zu beschreiben, dann finde ich zweierlei: An den meisten dieser Verhältnisse würde sich nichts Wesentliches ändern, wenn ein anderer an meine Stelle träte. Dann 56 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Erwartungen, die sich an das Erleben knüpfen: »Das meint mich.«
habe ich den Eindruck, »ich selber« in meiner Individualität komme in diesem Gefüge von Beziehungen gar nicht vor. Und die meisten Beziehungen fordern von mir, wenn ich in sie eintreten will, nur den Einsatz spezieller Eigenschaften und Fähigkeiten. Dann habe ich den Eindruck, »ich selber« in meiner ungeteilten Ganzheit gehe in diese Beziehungen gar nicht ein. Wer »ich selber« bin, könnte sich nur dort zeigen, wo »gerade ich« in meiner unverwechselbaren Individualität gefragt bin, und zwar ganz und ungeteilt mit allem, was ich bin und kann. Vor diesem Hintergrund erlebe ich es als befreiend, wenn ich in eine Situation versetzt werde, von der ich den Eindruck habe: »Jetzt und hier bin ich selber gemeint«. Das kann ein Mensch sein, der sich mir zuwendet; zuweilen ist es auch nur ein Baum, der, seit ich ihn zuletzt gesehen habe, neu erblüht ist und mich nun auf eine bewegende Weise »anspricht«. Dann bin »gerade ich« zur Antwort gerufen. Ich »antworte« dem Wirklichen, dem ich auf solche Weise begegne, indem ich zunächst meinen Weg für einen Augenblick unterbreche und vor ihm anschauend verweile, während andere an ihm achtlos vorübergehen. Und im anschauenden Verweilen bemerke ich, daß Menschen und Dinge mir nicht nur in einem ästhetischen Sinne »ansprechend« gegenübertreten, sondern mich unter ihren Anspruch stellen. Sie »wollen etwas von mir«: zunächst jenen Respekt, durch den ich sie in ihrer Eigenart und ihrem Eigenwert wahrnehme, in vielen Fällen aber auch eine Praxis, durch die ich sie in ihrer Eigenart und ihrem Eigenwert zur Geltung bringe. Und ich kann das nur, indem ich alle Fähigkeiten, die ich habe, in den Dienst dieser Aufgabe stelle. Das klassische Beispiel dafür ist der notleidende Andere, der mich so »anschaut«, daß ich an seinem Blick die Forderung ablese, ihn und seine Notlage wahrzunehmen und dann so zu handeln, daß der Kontrast zwischen seiner inneren 57 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Einige Aspekte des sittlichen Erlebens
Würde und seiner äußeren Lage gemindert wird. Und solches Wahrnehmen und Handeln ist von mir auf eine Weise verlangt, die es mir verbietet, diese Aufgabe an andere zu delegieren und mich so von ihr zu entlasten. Und zu dieser antwortenden Theorie und Praxis bin ich nur fähig, wenn ich zu ihrer Erfüllung alle meine Kräfte und Fähigkeiten in Dienst nehmen lasse. Das Erlebnis »Ich bin gemeint« läßt mich gewiß sein, daß die Frage »Warum gerade ich?« ins Leere geht. Denn wer so fragt, setzt voraus, daß es auch andere gibt, an die dieser Anspruch sich richten könnte, sodaß es eines eigenen Grundes dafür bedarf, daß unter den möglichen Adressaten »gerade ich« mich als gemeint verstehen soll. Der hier erlebte Anspruch aber richtet sich nicht anonym an Unbekannte und läßt es offen, »auf wen er sich beziehen mag« – so wie öffentliche Bekanntmachungen in englisch sprechenden Ländern mit der Anrede beginnen »To whom it may concern«, »An jeden, den es betreffen könnte«. Der auf die hier angedeutete Weise erlebte Anspruch dagegen ergeht nicht unabhängig von seinem Bezug auf einen bestimmten Adressaten, sondern bringt eine Beziehung zum Ausdruck, in der das Wirkliche, von dem er ausgeht, sich an mich wendet und in die ich durch meine Antwort auf diesen Anspruch eintreten soll. Deswegen ist dieser Anspruch auch nicht davon betroffen, ob es andere gibt, die das Wirkliche, das sich zeigt, klarer wahrnehmen könnten als ich oder ihm in seiner Eigenart und seinem Eigenwert besser dienen könnten. Was andere »könnten« ist ganz unwesentlich für die Weise, wie ich zu einer Antwort gerufen bin. Und gerade dadurch, daß der erlebte Anspruch »mich meint«, gibt er mir die Chance, »mich selber« erst zu finden. Aus der Zerstreuung in eine Vielfalt von Funktionen, in denen »ich selber« nicht vorkomme, sammelt mich der Anspruch, der »gerade mich meint«, zu einer »Einheit des Her58 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Erwartungen, die sich an das Erleben knüpfen: »Das meint mich.«
zens«, die ich nur dort finden kann, wo ich mich ungeteilt hingebe. Ist es nur verletzte Eitelkeit, wenn ich mein alltägliches »In-der-Welt-Sein« als mangelhaft empfinde und Erlebnisse als befreiend beurteile, die mir den Eindruck vermitteln: »Hier endlich bin ich gemeint«? Oder ist sogar diese Eitelkeit mitsamt ihren Verletzungen ein Anzeichen dafür, daß gewisse Möglichkeiten, die zu meiner Natur gehören, in der Anonymität des Alltags unentfaltet bleiben, sodaß ich, zumeist unbewußt, auf Situationen warte, in denen ich mich als »gemeint« erlebe? Die Frage lautet dann: Welche Möglichkeiten sind das? Und was sagt es über meine »Natur«, daß zu ihr diese Möglichkeiten gehören und daß diese meine Natur »verkümmert«, wenn diese Möglichkeiten mir vorenthalten werden?
b) »Gemeint zu sein« als Gabe und Aufgabe Das Erlebnis: »das meint mich« macht mich einer Beziehung bewußt und enthält die Einladung, in diese Beziehung einzutreten. Dabei geht die Initiative, auf der diese Beziehung beruht, nicht von uns aus, sondern von dem Wirklichen, das uns begegnet. Aber es hängt von uns ab, ob und wie wir in diese Beziehung eintreten. Die Wirklichkeit, die »mich meint«, wendet sich an »mich«, indem sie meine freie Antwort auf ihre Initiative fordert. Ich erlebe ihre Weise, mich zu »meinen«, als Gabe und zugleich als Aufgabe: als Gabe, weil ich der Initiative, die beim begegnenden Wirklichen liegt, nicht vorgreifen kann, und zugleich als Aufgabe, weil es meine Sache ist, diese Gabe anzunehmen und zu einem Teil meines Lebens zu machen. Eine Gabe, die mehr ist als eine »wohltätige Maßnahme«, und eine Aufgabe, die etwas anderes ist als ein 59 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Einige Aspekte des sittlichen Erlebens
Zwang, der mir auferlegt wird, wenden sich an mich in meiner Freiheit. Freiheit aber wird stets nur realisiert, indem sie sich an ergriffene Möglichkeiten bindet und sich insofern an sie verschenkt. Freiheit wird in Entscheidungen ausgeübt; Entscheidungen aber schränken unsere bisher offenen Alternativen für die Zukunft ein. Freiheit, die »sich alles offenhalten will«, kommt nicht zur Tat und verurteilt sich so selbst zur Wirkungslosigkeit. Freiheit realisiert sich nur, indem sie sich selber verschenkt. »Gemeint zu sein« bedeutet deshalb: in der Begegnung mit dem Wirklichen zu einer Antwort gerufen zu sein, die nur in Freiheit gegeben werden kann und in der zugleich diese Freiheit sich an die ergriffene Möglichkeit vorbehaltlos hingibt und sich erst so in der Vorbehaltlosigkeit einer Entscheidung realisiert. Die beiden Momente der unverwechselbaren Individualität und der ungeteilten Ganzheit, die wir in vielen unserer alltäglichen Beziehungen und Verhältnisse »nicht wiederfinden«, werden von hier aus verständlich: Sie sind Bedingungen der Freiheit, deren Entscheidungen nur vom Individuum gefällt werden können, das dabei mit der Ganzheit für die getroffene Entscheidung eintritt. Dadurch wird deutlich, inwiefern die Begegnung mit dem Wirklichen, das uns »meint« und zu Akten der Freiheit herausfordert, zu einer radikalen Erneuerung unserer ganzen Existenz führen kann. Zur Beschreibung dieser besonderen Art von Beziehung, zu deren Realisierung die Initiative des begegnenden Wirklichen und unsere freie Antwort zusammenwirken, sei hier zunächst auf eine Gemeinsamkeit von Religion und Moral, freilich auch auf eine Differenz zwischen beiden hingewiesen. Für die religiöse Beziehung zum Heiligen und Göttlichen, aber auch für Beziehung zu derjenigen Wirklichkeit, die uns auf spezifisch moralische Weise in Anspruch nimmt, ist die Vorbehaltlosigkeit charakteristisch, mit der ich mir diese Beziehung zu eigen mache und mich von ihr in An60 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Erwartungen, die sich an das Erleben knüpfen: »Das meint mich.«
spruch nehmen lasse. Der sittliche wie der religiöse Akt kann nur »mit ganzem Herzen« vollzogen werden. Halbherzigkeit ist demgegenüber der Feind aller Religion wie aller Moral. Aber die Sammlung des Herzens zur Ganzheit ist nicht nur die Voraussetzung des religiösen und des sittlichen Aktes, sondern auch seine Folge. Nur die Vorbehaltlosigkeit der religiösen bzw. moralischen Hingabe gestattet es, aus der alltäglichen Zersplitterung in eine Vielfalt wechselnder Funktionen zur ungeteilten Ganzheit der eigenen Person zu finden. Sittliche und religiöse Identität wird nur dort gefunden, wo der Mensch sich zu solcher Hingabe aufgefordert erfährt und sich zugleich zu solcher Hingabe fähig erweist. Im religiösen Kontext ist es die Vorbehaltlosigkeit der Gottesliebe, die die »Einung des Herzens« möglich macht. Im ethischen Kontext ist es die Vorbehaltlosigkeit der Hingabe an eine Aufgabe, die zur sittlichen Identitätsfindung führt. Aber während es im religiösen Kontext die Erhabenheit des Gegenstandes ist, die diese vorbehaltlose Hingabe fordert und zugleich rechtfertigt, ist es für die Moral charakteristisch, daß auch das Alltäglichste einen ganz unauffälligen Dienst von uns verlangen kann, der mit der »Ganzheit des Herzens« erfüllt sein will und uns zugleich befähigt, aus der Zerstreuung des Lebens zur Ganzheit des Herzens erst zu finden. Das schließt nicht aus, daß der alltäglich-unauffällige Dienst der Moral seinerseits religiös verstanden werden kann: Auch das Alltägliche kann »zur größeren Ehre Gottes« geschehen und gewinnt dann Anteil an jener spezifischen Bedeutung, die dem Dienst an der Erhabenheit Gottes zukommt. Aber die unbedingte Verbindlichkeit der sittlichen Pflicht wird auch von dem erfahren, der sie nicht religiös interpretiert. Freilich bleibt es möglich, daß derjenige, der die sittliche Erfahrung zunächst ganz profan verstanden hat, sekundär Gründe findet, die ihn zu einem religiösen Verständ61 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Einige Aspekte des sittlichen Erlebens
nis dieser Erfahrung veranlassen. Das bekannteste Beispiel dafür ist Kants »Verständnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote«. Von hier aus wird verständlich, worauf der Wunsch, »gemeint zu sein«, zuletzt abzielt, aber auch, was uns fehlt, solange dieser Wunsch unerfüllt bleibt. Er zielt darauf ab, in unserer Freiheit und damit in unserer individuellen Unvertretbarkeit in Anspruch genommen zu werden und diese Freiheit in konkreten Formen der Selbsthingabe zu realisieren. Solange uns in aller Vielfalt unsrer Beziehungen nicht jemand oder etwas begegnet, wodurch wir zu solchen Akten der freien Selbsthingabe herausgefordert werden, droht in der Vielfalt dessen, was wir tun und erleiden, unsere eigene unverwechselbare Individualität und unsere allen Wechsel überdauernde Identität verlorenzugehen.
3. Selbstkritische Anfragen Werde ich mir dessen bewußt, daß das Erlebnis, »gemeint zu sein«, gewisse Erwartungen weckt, dann ergeben sich daraus kritische Fragen, die ich an mich selber richte: Denn gerade dort, wo wir sittlich verpflichtende Aufgaben zu entdecken meinen, stellt sich mit besonderer Dringlichkeit die Frage nach Kriterien, die es uns gestatten, objektiv Gültiges vom bloß subjektiv Vermeinten zu unterscheiden. Gerade im Kontext des sittlichen Erlebens gibt es Selbsttäuschungen, die uns an der Selbstfindung hindern. Und es gibt Gefahren der Verführung: Unsere Bereitschaft, Aufgaben wahrzunehmen und mit ganzer Kraft ihrer Erfüllung zu dienen, kann uns zu Verhaltensformen verleiten, durch die wir unsere Identität verlieren. In der Meinung, die Aufgabe gefunden zu haben, der wir uns mit ungeteiltem Herzen hingeben können, bemerken wir nicht, daß eine subjektive Gutwilligkeit 62 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Selbstkritische Anfragen
und Gutgläubigkeit, die wir mit dem Willen zum objektiv verpflichtenden sittlich Guten verwechseln, dazu führen kann, daß wir uns zu Mitteln im Dienste fremder, oft sehr egoistischer Zwecke erniedrigen lassen. Vor allem eine moralisch verkleidete politische Propaganda, die von sittlichen Pflichten spricht, aber in Wahrheit nur Unterwerfung unter fremde Interessen meint, verdankt dieser Verführungskraft ihre gesellschaftliche Wirksamkeit. Um Selbsttäuschungen der genannten Art als solche kenntlich zu machen und dann zu vermeiden, sind kritische Fragen zu stellen. Die erste dieser Fragen lautet: Ist es wirklich die begegnende Wirklichkeit, die »mich meint«? Oder habe ich nur meine eigenen Absichten in sie »hineinprojiziert«? Und wie erkenne ich »die Sache« im Unterschied von meinen subjektiven Vorstellungen und Wunsch-Projektionen? Daran schließt sich die zweite Frage an: Meint die Wirklichkeit, der ich begegne, wirklich »mich«, oder hätte ich nur gerne, daß eine Person oder Sache, die ich hochschätze, mich »braucht« und deswegen ihren Anspruch an mich richtet? Erhebe ich durch die Formel »Das meint mich« den Anspruch, mein Verhalten habe für die Wirklichkeit, die mir begegnet, eine Bedeutung, die ihm bei nüchterner Einschätzung meiner selbst und meiner Lebenswelt nicht zukommt? Und woran erkenne ich »mich selbst« im Unterschied von subjektiven Fehleinschätzungen meiner selbst? Andere Fragen sind zu stellen, wenn wir der Gefahr der Verführung begegnen wollen, d. h. der Gefahr, daß wir durch eine subjektive »sittliche Gutwilligkeit«, die sich für den objektiv »guten Willen« hält, zu Mitteln im Dienste fremder Interessen erniedrigt werden. Diese Fragen setzen eine Unterscheidung voraus: Zweifellos ist das sittliche Handeln von der Einsicht geleitet: Wenn ich mich nicht hingeben will, sondern meinen subjektiven Vorteil suche, mache ich mich von den Bedingungen abhängig, von denen die Erreichung dieser 63 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Einige Aspekte des sittlichen Erlebens
Absicht abhängt. Nur wenn ich bereit bin, mich an eine Aufgabe hinzugeben, bestimme ich selbst das Ziel, das die Phasen meines Lebensweges zur Einheit zusammenhält. Aber gerade unter dieser Voraussetzung ist die Frage zu stellen: Habe ich diese Erwartung im konkreten Falle »an die falsche Adresse gerichtet«? Bietet die Aufgabe, die ich zu entdecken meine, mir wirklich eine Chance, aus der Zerstreuung in die vielfältigen Funktionen des Alltags zur »Einung des Herzens« zu finden? Macht die Konzentration meiner Absichten und Planungen auf die Erfüllung dieser einen Aufgabe mich fähig, in der Selbstlosigkeit der Hingabe zu mir selbst in meiner individuellen Besonderheit zu finden? Macht die Entdeckung dieser Aufgabe mich frei, selber zu wählen, wofür ich leben will, während der bloße Wille zur Selbst-Durchsetzung mich von äußeren Erfolgsbedingungen abhängig macht? Oder habe ich in die Aufgabe, die ich zu entdecken meinte, »eine Verheißung hineingelesen«, die sie nicht erfüllen kann? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt es ab, ob es gelingen kann, von der Subjektivität des sittlichen Erlebens zur objektiv gültigen sittlichen Erfahrung überzugehen. Das ist eine Frage der »speziellen Transzendentalphilosophie«, die nach den Bedingungen besonderer Arten von Erfahrung fragt, hier nach den Bedingungen der moralischen Erfahrung. Um eine Antwort vorzubereiten, soll an einige Ergebnisse der »allgemeinen Transzendentalphilosophie« erinnert werden, die die allgemeinen Bedingungen jeder Art von Erfahrung zum Thema hat.
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Erinnerung an einige Ergebnisse der allgemeinen Transzendentalphilosophie
4. Erinnerung an einige Ergebnisse der allgemeinen Transzendentalphilosophie Die allgemeine Transzendentalphilosophie, die nach den Bedingungen jeder Art von Erfahrung fragt, bestimmt die Funktion von Ideen, Anschauungsformen und Begriffen in folgender Weise: Ideen sind Zielvorstellungen von der Erfüllung einer Aufgabe, die die Vernunft sich selber setzen muß, wenn sie Erlebnisse kritisch auslegen und in Inhalte der Erfahrung umgestalten soll. Sie zeichnen den Kontext vor, in dem alles seine eindeutig bestimmte Stelle finden muß, was als objektiv gültig anerkannt werden soll. Die Idee der »Welt« kennzeichnet jenen allumfassenden und zugleich wohlgeordneten Zusammenhang, in dem alle Inhalte unserer Erfahrung ihre Stelle finden. Die Idee des »Ich« benennt jenen ebenfalls allumfassenden, widerspruchsfreien Zusammenhang, in dem alle Akte der Erfahrung ihre Stelle finden. Die geordnete Ganzheit der Welt und die widerspruchsfreie Einheit des Ich sind Bedingungen von allem, was für uns zum Gegenstand theoretischer oder praktischer Erkenntnis werden soll. Diese beiden Zusammenhänge sind uns nicht gegeben, sondern ihr Aufbau ist uns aufgegeben. Dabei stehen die beiden Aufgaben in einem wechselseitigen Zusammenhang. Nur wenn es uns gelingt, aus den vielen Inhalten unseres Erlebens die geordnete Ganzheit einer Erfahrungswelt aufzubauen, können wir auch die Akte, durch die wir uns auf sie beziehen, in die Einheit eines Selbstbewußtseins aufnehmen. Wo uns die Ganzheit der Welt zerfällt, zerbricht auch die Einheit des Ich. Aber auch das Umgekehrte gilt: Nur wenn es uns gelingt, die vielen Akte, durch die wir uns auf die Inhalte unseres Erlebens beziehen, in die Einheit des Selbstbewußtseins aufzunehmen, können wir aus ihnen die geordnete Ganzheit einer Welt aufbauen. Wo wir 65 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Einige Aspekte des sittlichen Erlebens
nicht zur Einheit des Aktes »Ich denke« finden, zerfällt uns auch die Ganzheit der Welt. Und nur sofern es uns gelingt, beide Aufgaben zu erfüllen, gewinnen wir Kriterien, um zwischen der bloßen Subjektivität des Erlebens und der objektiven Gültigkeit der Erfahrung zu unterscheiden. Was keinen Ort in der Welt und in der Einheit unseres Selbstbewußtseins findet, bleibt für uns flüchtiger subjektiver Eindruck und wird nicht zum Gegenstand der Erfahrung. Zwischen Ideen, Begriffen und Anschauungsformen besteht ein engerer Zusammenhang, als dies in der Tradition gewöhnlich gesehen wurde. Begriffe oder Kategorien machen jene Aufgaben erfüllbar, die die Vernunft uns durch die Ideen vorzeichnet. Sie geben Verhältnisse zwischen einzelnen Inhalten unserer Erfahrung an (z. B. das Verhältnis zwischen Bedingungen und Folgen oder zwischen wechselnden Eigenschaften und ihrem bleibenden »Träger«). Weil aber »Welt« jeweils das Ganze dieser Beziehungen ist, schaffen Begriffe die Voraussetzung dafür, aus den Elementen der Erfahrung eine Welt aufzubauen. Dies aber ist notwendig, wenn wir in der Fülle der Akte, durch die wir uns auf Wirkliches beziehen, ein Bewußtsein von der Einheit des Ich gewinnen wollen. Aber auch die Anschauungsformen stehen im Dienste der Aufgaben, die uns durch die Ideen der Vernunft vorgezeichnet werden. Sie gestatten es, die geordnete Ganzheit der Welt und die widerspruchsfreie Einheit des Ich nicht nur in Gedanken zu konstruieren, sondern mit unseren Sinnen zu erfassen, wie die auf solche Weise zustandegekommene Ganzheit und Einheit als etwas gegenübertritt, das uns mit dem Anspruch auf Maßgeblichkeit begegnet. Die Lozierung des einzelnen Inhalts im einen Raum und seine Datierung in der einen Zeit sind die anschaulich gewordene Weise, wie der erfahrene Inhalt seinen Ort in der geordneten Ganzheit der Welt findet und wie die Mannigfaltigkeit seiner Beziehungen 66 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Erinnerung an einige Ergebnisse der allgemeinen Transzendentalphilosophie
in die Einheit des Aktes »Ich denke« aufgenommen werden kann. Diese Lozierung und Datierung ist ein wichtiger Schritt auf dem Wege vom bloß subjektiven Erleben zur objektiv gültigen Erfahrung. Wenn wir zweifeln, ob wir es mit objektiv Gültigem zu tun haben, versuchen wir, den Inhalten, die wir prüfen wollen, eine eindeutige Stelle in Raum und Zeit zu geben. Wo dies nicht gelingt, sind wir sicher, daß wir es mit bloß Subjektivem zu tun haben, z. B. mit den Inhalten eines Traums oder mit Bildern einer realitätsfernen Phantasie. Das setzt voraus: Anschauungsformen sind mehr als bloße Erlebnis-Qualitäten. Sie zeichnen Zusammenhänge vor, in die wir unsere Erlebnisse einordnen, um sie auf ihre objektive Geltung hin zu überprüfen. Aber obgleich sie dieser kritischen Prüfung der Erlebnisse dienen, setzen sie gewisse Qualitäten des Erlebens schon voraus. Schon in gewissen Formen des Erlebens wird der Inhalt, den wir erleben, vom Akt, durch den wir ihn erleben, unterscheidbar. Aber erst in der Anschauung (und in der Wahrnehmung, die von dieser nicht immer deutlich unterschieden wird) treten Subjekt und Objekt so auseinander, daß das Objekt zum Maßstab werden kann, an dem das Subjekt seine Ansichten und Absichten kritisch überprüft. Erst dadurch wird es möglich, auch die Vielheit der angeschauten Objekte in ihrer Besonderheit und Beziehung zu erfassen. Die Idee der Welt als des umfassenden Beziehungs- und Begegnungsraumes zeichnet deswegen auch der Anschauung (und Wahrnehmung) ihre Aufgabe vor. Aber die Erlebnisse in ihrer je besonderen Qualität definieren die jeweils besondere Weise, wie diese Aufgabe erfüllt werden kann. Deshalb sind die Erlebnisse nicht das bloße Material, aus dem wir anschauend und wahrnehmend ein Beziehungsgefüge aufbauen. Die Möglichkeit, Beziehungen zu erfassen 67 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Einige Aspekte des sittlichen Erlebens
und in ein Gefüge zu bringen, wird durch die Eigenart der Erlebnisse begründet und begrenzt. Anschauungsformen erfüllen ihre Funktion beim Aufbau einer Gegenstandswelt nur dann, wenn sie diese Möglichkeiten aufgreifen und ihrer Eigenart gemäß realisieren. Und alle gestaltgebenden Funktionen der Begriffe knüpfen an diese ersten Formen der Synthesis an, die wir schon in unserer Anschauung vollziehen. Daß diese Weise des Anschauens in einer Wechselwirkung zur gestaltenden Tätigkeit der Begriffe steht, hat Kant überzeugend gezeigt. Alle Zeitbestimmung und Ortsbestimmung in der angeschauten Zeit und im angeschauten Raum gewinnt ihre objektive Geltung nur durch die Anwendung von Begriffen (vgl. sein Kapitel über den »Schematismus der reinen Vernunft«). Aber Kant scheint nicht ausdrücklich darauf aufmerksam geworden zu sein, daß damit den Sinnen eine Bedeutung zugeschrieben wird, die die Philosophen der Aufklärungszeit ihnen noch nicht zugebilligt haben: Sie liefern nicht nur das ungeformte »Material«, das der Verstand durch seine Begriffe gestaltet, sondern bieten uns, wenn der Verstand dieses sein Werk getan hat, die Gegenstände so dar, daß sie gegenüber der Eigentätigkeit des Verstandes ihren Eigenstand und ihre eigene Maßgeblichkeit geltend machen können. Erst dadurch kommt die »Emergenz« der Gegenstände, d. h. ihr »Auftauchen« aus all dem, was das vorstellende und denkende Subjekt bewirken kann, zu ihrem Abschluß. Aus diesen Ergebnissen der allgemeinen Transzendentalphilosophie folgen die Fragen, die in der speziellen Transzendentalphilosophie zu beantworten sind: – Welche Gestalt gewinnen die Ideen der Welt und des Ich im spezifischen Zusammenhang je besonderer Erfahrungsarten, z. B. der sittlichen Erfahrung?
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Erinnerung an einige Ergebnisse der allgemeinen Transzendentalphilosophie
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Welches sind die spezifischen Begriffe, durch die die sittliche Welt (der Gesamtzusammenhang aller Gegenstände der sittlichen Erfahrung) aufgebaut wird? Wie wird die Einheit des sittlichen Subjekts in der Vielheit seiner Akte begriffen? Welche Gestalt gewinnen in diesem Zusammenhang die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit?
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III. Auf dem Weg vom sittlichen Erleben zur objektiv gültigen sittlichen Erfahrung: Fragen der speziellen Transzendentalphilosophie Wie sich an früherer Stelle gezeigt hat, wird die Schwelle vom sittlichen Erleben zur sittlichen Erfahrung dort betreten, wo der erlebte Inhalt uns den Eindruck macht: »Das meint mich«. Dieses Erlebnis aber macht uns einer Beziehung von besonderer Art bewußt. In dieser Beziehung tritt das Objekt mit einem Anspruch an das Subjekt heran, das Subjekt aber findet darin die Möglichkeit, in der Kraft ungeteilter Hingabe sich zur »Ganzheit des Herzens« zu sammeln und so zu Akten der Freiheit fähig zu werden (s. o. Kap. II 2b). Dieses Erlebnis ist es, das auf seine objektive Gültigkeit hin geprüft werden muß. Wenn nun die Ideen zu Kriterien dieser Überprüfung werden sollen (s. o. Kap. II 3), dann müssen sie so gedacht werden, daß sie ein Gefüge solcher Beziehungen möglich und von drohenden Täuschungen und Verführungen unterscheidbar machen. Von dieser Funktion her ist sowohl das sittliche Ich als auch die sittliche Welt zu begreifen. Erläuternde Anmerkung: Der Ansatz beim Erlebnis »Das meint mich« macht deutlich: Zur Moral gehört auf allen Stufen des Erlebens, der Erfahrung und der Reflexion ein Moment der Unvertretbarkeit. Darum ist das moralische Subjekt nicht einfach identisch mit dem »universal vertretbaren Vernunftsubjekt« der Wissenschaft. Dennoch ist Moral keine Privatsache. Zu ihr gehört ein Moment der universalen Solidarität. »Alles Böse ist ein Angriff auf die ganze Menschheit, alles Gute ein Dienst an der ganzen Menschheit.« Aber auch als Glied der Menschheitsfamilie bin ich unvertretbar. Und die Forderung 70 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Ideen des Ich und der Welt
universaler Solidarität läßt sich so formulieren: »Verlange nichts für dich, was du nicht zugleich für jeden anderen forderst. Aber fordere von dir mehr, als du von irgendeinem anderen verlangen würdest«.
1. Die Ideen des Ich und der Welt und ihre Funktion beim Übergang vom sittlichen Erleben zur sittlichen Erfahrung und bei der Überwindung moralischer Selbsttäuschungen und Verführungen a) Das »Ich« als Voraussetzung allen Erkennens und als regulative Idee: Eine Aufgabe, deren Erfüllung auch mißlingen kann Das, was jeder von uns »Ich« nennt, ist kein Gegenstand, der davon unbetroffen bliebe, ob wir ihn wissen oder nicht. »Ich« sagen heißt immer schon: einen Akt des Selbstbewußtseins vollziehen. Darum kann man das Ich nicht »von außen« sehen. Die Vokabel »Ich« kommt nie als Fremdbezeichnung vor, sondern stets nur als Selbstbezeichnung. Was die Vokabel »Ich« bedeutet, weiß nur der, der »ich« sagt. Und er weiß es, weil er Akte vollzieht, die er »sich« zuschreibt. Es sind vor allem die Akte »Ich denke« und »Ich will«. Andere können mir zwar mitteilen, was sie denken und wollen, aber den Akt des Denkens bzw. Wollens kann keiner anstelle des anderen vollziehen. »Ich« sagen heißt deshalb: sich der Ausschließlichkeit bewußt sein, mit der die Akte des Denkens und Wollen die »meinen« sind. Es ist diese Selbst-Zuschreibung, die durch den Gebrauch der Vokabel »Ich« zum Ausdruck kommt. Gerade dieser Versuch der Selbstzuschreibung kann aber auch mißlingen. Zwar kann die Akte meines Denkens und Wollens, meines Fühlens und Empfindens niemand anderer 71 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Vom sittlichen Erleben zur objektiv gültigen sittlichen Erfahrung
vollziehen als ich selbst. Dennoch kommt es vor, daß ich in diesen Akten »mich selbst« nicht wiederfinde. Beispiele dafür sind an früherer Stelle schon genannt worden: In der unverbundenen Vielfalt der Beziehungen und Verhältnisse, in denen ich stehe, kann ich mich jener unverwechselbaren Individualität und jener im Wechsel der Zustände beharrenden Identität nicht mehr bewußt werden, die zu den wesentlichen Momenten des »Ich« gehören. Dann erlebe ich meine eigenen Akte als etwas Fremdes, das »in« mir geschieht und doch mir nicht zugehört. Es geschieht zwar in mir, denn diese Akte bleiben die meinen. Aber es scheint mir unmöglich, »mich selbst« mit dem zu identifizieren, der so denkt und will. Mißlingende Selbst-Identifikation ist es also, die den Eindruck erweckt, das eigene Ich verloren zu haben und erst wiederfinden zu müssen. Und diesem Identitätsverlust entspricht der Eindruck, etwas Fremdes halte mich gerade dort gefangen, wo mein Eigenstes zur Geltung kommen müßte: in meinem Denken und Wollen. »Entfremdung« ist der angemessene Begriff für diese Erfahrung des Identitätsverlustes. Daraus erklärt sich der paradox erscheinende Doppelaspekt des Ich. Es ist einerseits die Voraussetzung all meiner Akte: Sie könnten nicht geschehen, wenn nicht ich sie vollzöge. Und es ist andererseits ein Ziel, das ich mir stecke, das ich aus dem Auge verlieren kann und das ich dann suchen und gegebenenfalls wiederfinden muß. Und es gibt Hindernisse, die diesem Wiederfinden im Wege stehen. Kurz: Das Ich ist eine »regulative Idee«. Und es ist eine in transzendentaler Hinsicht unvermeidliche Idee: Wenn objektiv gültige Erkenntnis möglich sein soll, muß ich fortschreitend die Vielfalt meiner Akte so verknüpfen, daß darin meine unverwechselbare Individualität und vor allem meine den Wechsel der Zustände überdauernde Identität zum Ausdruck kommen kann.
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Die Ideen des Ich und der Welt
b) Die sittliche Welt als Auslegungszusammenhang Die Verknüpfung aller Akte, die ich mir selber zuschreibe, zur Einheit des Ich kann nur gelingen, wenn es mir gelingt, auch die Gegenstände, auf die diese Akte sich beziehen, in einen geordneten Zusammenhang zu bringen. Dieser Zusammenhang muß so gedacht werden, daß die verschiedenen Inhalte, aus denen er sich aufbaut, sich nicht gegenseitig relativieren. Sonst könnte der, der diese Erfahrungen macht, sich keiner von den Aufgaben mit ungeteiltem Herzen hingeben, die sich ihm in diesen Erfahrungen zeigen. Andererseits muß dieser Zusammenhang so gedacht werden, daß für jeden einzelnen Inhalt sein Ort im Ganzen des Erfahrungskontextes wesentlich ist. Sonst könnte die Idee der geordneten Ganzheit nicht zum Kriterium objektiver Gültigkeit werden. Ein Zusammenhang, der diese beiden Kriterien erfüllt, ist ein Auslegungszusammenhang. Er macht sichtbar, wie jeder einzelne Inhalt unseres Erkennens, Wollens und Fühlens verstanden werden muß, wenn er Anspruch auf objektive Geltung erheben will. Das aber schließt ein: »Welt« ist kein Zweck-Mittel-Zusammenhang. Und der moralische Dienst an der Welt ist kein Dienst an einem »Endzweck«, der alle Taten und ihre Objekte zu Mitteln erniedrigen würde. Das gilt nicht einmal für Gottes »Weltregiment«, noch weniger für die menschliche Weltverantwortung. »Welt« ist ein Auslegungszusammenhang, in dem das Einzelne von Bedeutung für das Ganze ist, aber nicht zu dessen bloßem Mittel werden darf. Alles, was ich einmal erkannt habe, wirft ein Licht auf alle andern Inhalte meines Erkennens. Alles, was ich mir einmal zum Ziel meiner Praxis gesetzt habe, gibt mir Kriterien an die Hand, um alle anderen möglichen Handlungsziele zu beurteilen. Und selbst die scheinbar so flüchtigen Gefühle bleiben nicht ohne Einfluß aufeinander. Was mich einmal 73 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Vom sittlichen Erleben zur objektiv gültigen sittlichen Erfahrung
wirklich »bewegt« hat, steigert oder mindert meine Sensibilität für andere Inhalte, die mein Gemüt bewegen können. Und dieser hermeneutische Zusammenhang läßt mich erst erkennen, was es in concreto bedeutet, daß alle diese Inhalte meines Erkennens, Wollens und Fühlens mir zu Gegenständen geworden sind. Ich lerne mich und meine Identität erst kennen, wenn sie für mich dadurch Bedeutung gewinnen, daß sie mir und meiner Biographie zugehören.
2. Die Möglichkeit von Selbsttäuschungen und Verführungen a) Selbsttäuschungen – ihre Herkunft und ihre Überwindung Kann dieses Verständnis des Ich mir helfen, zu erkennen, wie es zu Selbsttäuschungen kommt, und sie dann für die Zukunft zu vermeiden? Und kann diese selbstkritische Einsicht mir zugleich dazu dienen, gewissen Verführungen zu widerstehen? In diesem Zusammenhang sei zunächst an früher gestellte Fragen erinnert, die uns vor der Gefahr solcher Selbsttäuschungen warnen: Meint die Wirklichkeit, der ich begegne, wirklich mich? Bin ich der Adressat ihres Anspruchs – oder wäre ich es nur gerne, weil ich dann annehmen dürfte, von mir und meinem Verhalten hänge für diese Person oder Sache Wesentliches ab, während mir diese Bedeutung in Wahrheit gar nicht zukommt? Und woran erkenne ich »mich selbst« im Unterschied von derartigen Fehleinschätzungen meiner selbst? Darauf kann nun eine erste Antwort gegeben werden: Ob die Wirklichkeit, der ich begegne, wirklich »mich« meint, ist daran zu erkennen, ob ihr Anspruch seine Stelle im her74 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Möglichkeit von Selbsttäuschungen und Verführungen
meneutischen Zusammenhang meiner Biographie finden kann. Wirft er ein Licht auf alles, was ich bisher als meine Aufgabe erkannt habe? Und lassen die Aufgaben, die ich bisher erkannt und nach Möglichkeit erfüllt habe, mich deutlicher erfassen, was für mich auf dem Spiele steht, wenn ich darüber entscheide, ob ich die neu erfahrene Aufgabe annehmen oder mich ihr verweigern will? Negativ gesprochen: Wenn die Begegnung mit einer Person oder Sache von mir zu fordern scheint, alles zu vergessen, was ich bisher für meinen Auftrag gehalten habe, werde ich gegen mich selbst den Verdacht erheben, durch ein subjektives Erlebnis überwältigt worden zu sein, nicht durch eine objektiv gültige Erfahrung Klarheit über mich und meinen Auftrag gefunden zu haben. Selbst wenn ich zu der Überzeugung komme, mein ganzes bisheriges Leben sei ein einziger Irrweg gewesen, entbindet mich das nicht von der Verantwortung für das, was ich bisher getan oder unterlassen habe. Was alle bisher übernommenen Pflichten außer Kraft zu setzen scheint, steht im Verdacht, nicht wirklich, sondern nur scheinbar zur Erkenntnis neuer Pflichten geführt zu haben. Selbstfindung durch Selbsthingabe wird nicht erreicht, indem ich meine bisherige Biographie ersatzlos »durchstreiche«. Eine Anmerkung: Auch das Bekenntnis des Apostels Paulus: »Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich aus nach dem, was vor mir liegt« (Phil 3,13) darf nicht als Aufforderung zu einer solchen »ersatzlosen Streichung« verstanden werden: Das »Gesetz« und seine Verpflichtungskraft, durch die das Leben des Saulus vor seiner Christus-Begegnung bestimmt war, wird durch das Evangelium, dessen »diákonos« er durch diese Christus-Begegnung geworden ist, nicht außer Kraft gesetzt, wenn auch radikal neu interpretiert. »Heben wir also das Gesetz auf durch den Glauben?
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Vom sittlichen Erleben zur objektiv gültigen sittlichen Erfahrung
Das sei ferne. Wir heben es nicht auf, sondern geben ihm erst seinen Bestand« (Röm 3,21). An dieser Stelle wird noch einmal der Zusammenhang zwischen den beiden regulativen Ideen des Ich und der Welt deutlich. Wenn die Einheit des Ich nicht im veränderungslosen Beharren einzelner Eigenschaften besteht, sondern in der Kontinuität einer Lebensgeschichte hervortritt, müssen nicht nur die Akte, die wir vollziehen, in die umfassende Einheit des »Ich denke« aufgenommen werden, sondern auch die Inhalte, auf die wir uns beziehen, zur geordneten Ganzheit einer Welt verknüpft werden. Diese Ganzheit hat sich als ein Auslegungszusammenhang erwiesen, in dem kein Glied fehlen darf, wenn nicht alle anderen vieldeutig werden und schließlich mißverstanden werden sollen. Der Versuch, einzelne Inhalte unserer Welt für entbehrlich zu halten und aus dem Gedächtnis zu tilgen, würde auch die Form unseres Ich zerbrechen und zum Identitätsverlust führen. Von hier aus wird wenigstens eine der wirksamsten Ursachen sichtbar, aus denen sich folgenreiche Selbsttäuschungen ergeben können. Die zuweilen bewußte, noch öfter unbewußt wirksame Überzeugung, daß ich mich selber nur finden kann, wenn ich jemanden oder etwas finde, woran ich mich vorbehaltlos hingeben kann, kann mich veranlassen, einzelnen Erlebnissen, die ich habe, ein Bedeutungsgewicht zuzumessen, vor dem alle früheren oder späteren Erlebnisse gleichsam verblassen. Eine Freude, die mir zuteil wird, kann mich so begeistern, daß der Eindruck entsteht: Hier endlich habe ich gefunden, was mein ganzes Leben lebenswert macht. Im Unterschied dazu kann der »unhaltbare« Zustand, in dem ein Mensch sich befindet, mich derart betroffen machen, daß der Eindruck entsteht: An der Frage, was ich dazu beitragen kann, diesen Zustand zu ändern, entscheidet sich Sinn oder Sinnlosigkeit meines ganzen Lebens. Dieser Eindruck, der mich zu einem hohen Maße sittlicher Anstren76 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Möglichkeit von Selbsttäuschungen und Verführungen
gung motivieren kann, kann mich auch zu einer folgenreichen Fehleinschätzung meiner selbst und meiner Situation verleiten, wenn ich meine, daraus einen Rechtfertigungsgrund dafür zu gewinnen, mich meiner Verantwortung für meine Vergangenheit und meine Zukunft zu entziehen. Der gegenwärtige Augenblick verliert dann den Zusammenhang mit meiner Biographie. Umgekehrt kann der berechtigte Gedanke: »Ich kann nicht wissen, was morgen sein wird, und kann darum auch nicht vorhersehen, wie ich das gegenwärtige Erlebnis morgen beurteilen werde«, mir zur Versuchung werden. Die Ungewißheit der Zukunft wird mir dann zum Vorwand, mich jeder gegenwärtig erfahrenen Verpflichtung zu entziehen, »weil ich ja nicht wissen kann, ob mir das, was mich heute begeistert oder betroffen macht, morgen noch ebenso wichtig erscheint«. Beide Fehleinschätzungen beruhen darauf, daß ich den Ort des gegenwärtigen Erlebnisses im Kontext meiner Biographie nicht erfasse. Das aber wäre nötig, um das zunächst subjektive Erleben in objektiv gültige Erfahrung zu transformieren. Meine Lebensgeschichte ist, wie jede Geschichte, ein Zusammenhang von Ereignissen, von denen jedes aus Akten der Freiheit hervorgeht und neue Akte der Freiheit notwendig macht. Darum hat jedes geschichtliche Ereignis für den, dem es widerfährt, ein Bedeutungsgewicht, das durch kein kommendes Ereignis zunichte gemacht werden kann. Aber jedes kommende Ereignis läßt den, dem es widerfährt, seine ganze bisherige Biographie in einem mehr oder weniger veränderten Lichte sehen und damit die Bedeutung dessen, was ihm früher widerfahren ist, neu und besser verstehen. Im spezifisch moralischen Zusammenhang bedeutet dies: Erfahrungen, durch die uns moralische Pflichten offenbar werden, werden durch kommende sittliche Erfahrungen neu ausgelegt, aber niemals außer Kraft gesetzt. Das Bewußtsein, 77 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Vom sittlichen Erleben zur objektiv gültigen sittlichen Erfahrung
daß jede dieser Erfahrungen ein Teil unserer Lebensgeschichte ist, nötigt uns, sie für eine »relecture« im Lichte neuer Erfahrungen offenzuhalten, ist aber kein Grund für einen historischen Relativismus, der jeder erfahrenen Pflicht ihre unbedingte Verbindlichkeit absprechen will. Daraus folgt: Die Möglichkeit, subjektive moralische Erlebnisse, z. B. Erlebnisse der Begeisterung oder auch der moralischen Betroffenheit, in sittliche Erfahrungen zu verwandeln, hängt davon ab, ob es uns gelingt, angemessen zu verstehen, daß das Ich seine Geschichte hat. Innerhalb dieser Geschichte bleibt jedes Ereignis »denkwürdig«, d. h. wert, als etwas bleibend Normatives in unserem Bewußtsein festgehalten zu werden. Zugleich bleibt jedes Ereignis von solcher Art, daß seine wahre Bedeutung erst im Lichte kommender Ereignisse fortschreitend hervortritt. Ein angemessenes Verständnis unseres eigenen Ich und seiner Geschichte schließt zwar den Anspruch aus, die Inhalte unserer bisherigen moralischen Erfahrung ein für alle Mal und erschöpfend verstanden zu haben. Aber ein angemessenes Verständnis unseres eigenen Ich und seiner Geschichte schließt ebensosehr den Versuch aus, aus unserem historischen Selbstbewußtsein einen Rechtfertigungsgrund für moralische Skepsis zu gewinnen. Die zutreffende Feststellung: »Alle Akte und Inhalte unserer theoretischen und praktischen Erkenntnis stehen in historischen Zusammenhängen und sind daher nur aus ihren historischen Relationen zu verstehen« rechtfertigt nicht die vermeintliche Schlußfolgerung: »Alles ist relativ und daher nichts unbedingt gültig«. Daß »alles seinen Ort in der Geschichte hat« schließt im Gegenteil ein, »daß alles bleibende Maßgeblichkeit für unser Urteil behält und nur deswegen einen Anspruch darauf erheben kann, in unserem Gedächtnis festgehalten zu werden«. Dieses »Festhalten« hat nicht den Charakter einer Sammlung unverbundener Bilder aus der 78 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Möglichkeit von Selbsttäuschungen und Verführungen
Vergangenheit, sondern stellt einen hermeneutischen Wechselzusammenhang her: »Denkwürdig« ist, was sich immer neu dadurch bewährt, daß Altes und Neues sich gegenseitig beleuchten und verständlich machen. Das Ganze dieses Zusammenhangs ist die »sittliche Welt«. Gerade die sittliche Erfahrung kann uns anleiten, ein angemessenes Verständnis der Geschichte zu gewinnen, das uns weder die Flucht aus der Geschichte noch eine skeptische Relativierung alles Wahren und Guten gestattet.
b) Verführungen – Herkunft und Überwindungsmöglichkeit Sind auf diese Weise sowohl die Herkunft unserer Fehleinschätzungen als auch Wege ihrer Überwindung deutlich geworden, läßt sich auch einiges über die Herkunft spezifisch moralischer Verführungen sagen und ein Weg zu ihrer Überwindung zeigen. Es gibt Verführungen, die ihre Faszinationskraft aus dem Appell an unsere Bequemlichkeit beziehen. Die Übernahme sittlicher Verpflichtungen ist immer mit Belastungen verbunden. Dann sind wir geneigt, Vorschläge aufzugreifen, die uns diese Belastungen zu ersparen versprechen. Dazu gehört der Vorschlag: »Suche dein Glück nicht darin, im eigenen moralischen Urteil bestehen zu können, sondern in der Befriedigung deiner vielfältigen Bedürfnisse und Neigungen«. Es gibt Menschen, die daran interessiert sind, daß möglichst viele Zeitgenossen dieser Suggestion nachgeben. Denn darauf beruht ein großer Teil des Erfolgs der KonsumgüterIndustrie und des Vergnügungsgewerbes. Bedrohlicher und zugleich für eine Theorie der sittlichen Erfahrung aufschlußreicher sind andere Verführungen, die an unseren guten Willen appellieren, um ihn zur Befriedi79 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Vom sittlichen Erleben zur objektiv gültigen sittlichen Erfahrung
gung fremder Interessen zu mißbrauchen. Schon an früherer Stelle ist darauf hingewiesen worden, daß dazu gewisse Formen der politischen Propaganda gehören. Sie erinnern uns an unseren Willen zur Selbsthingabe und stellen uns dafür sittliche Selbstfindung in Aussicht. Und wir durchschauen oft nicht, für welche oft sehr egoistischen Zwecke der politischen Verführer wir dabei zu bloßen Mitteln erniedrigt werden. Dabei sind es die oben genannten Formen des SelbstMißverständnisses, die uns den kritischen Scharfblick für die Eigenart der sittlichen Welt und des sittlichen Ich rauben. Die Aufgabe, von deren sittlicher Verpflichtungskraft diese Propaganda uns überzeugen will, wird so mißverstanden, als könne sie alle anderen Pflichten im Konkurrenzfalle außer Kraft setzen. Treuepflichten gegenüber solchen Menschen, die unserer Sorge anvertraut sind, oder die Pflicht, auch die Menschenwürde unserer Gegner zu achten, zählen nichts im Verhältnis zu der politischen Verpflichtung, für die man uns in Anspruch nehmen will. Die Einheit unserer Biographie, die die Vielfalt unserer Erfahrungsfelder umgreift, und die Ganzheit unser Welt, in der alles, was wir jemals erfahren haben, für das Verständnis aller anderen Erfahrungsinhalte maßgeblich bleibt, zerbrechen zugunsten der angeblichen Ausschließlichkeit einer einzigen Aufgabe, an die wir uns mit unserer ganzen Identität binden sollen. Demgegenüber wird die Notwendigkeit vergessen, nur das als objektiv gültig gelten zu lassen, was sich mit allen anderen Inhalten unserer sittlichen Erfahrung in ein Verhältnis gegenseitiger Auslegung bringen läßt. Wir werden verführbar, weil wir die Geschichtlichkeit unseres eigenen Ich mißverstehen: Der eine Akt »Ich denke«, in dem alles seinen Ort finden muß, was als objektiv gültige Erfahrung anerkannt werden soll, weist uns dazu an, den Kontext einer »Welt« aufzubauen, in dem zwar nichts sich selber genug ist, aber auch nichts seine Bedeutung verlieren 80 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Möglichkeit von Selbsttäuschungen und Verführungen
kann. Ein Anspruch, der diesen beiden regulativen Idee widerstreitet, ist in moralischer wie in erkenntnistheoretischer Hinsicht verführerischer Schein.
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IV. Das Gewissen, die Freiheit und das Gute
1. Aufgaben des Gewissens a) Die traditionelle Auffassung: Das Gewissen als sittliche Urteilskraft Wo von Selbsttäuschungen und Verführungen die Rede ist, aber auch dort, wo von deren Überwindung gesprochen wird, ist zugleich die Frage nach dem Gewissen aufgeworfen. Denn unter »Gewissen« wird traditionell die Fähigkeit zur moralischen Selbstbeurteilung verstanden. Diese Selbstbeurteilung kann sich auf schon vollzogene Taten oder Unterlassungen beziehen, aber auch auf solche, die erst für die Zukunft in Erwägung gezogen werden. »So zu handeln war sittlich richtig bzw. falsch«; »So zu handeln wird sittlich richtig oder falsch sein«. Das Gewissens-Urteil kann sich aber auch auf die eigene Person im Ganzen beziehen: »Ich bin ein sündiger Mensch« bzw. »Ich bin mir keiner Schuld bewußt«. Diese Beschreibung des Gewissens muß auch dann festgehalten werden, wenn sie sich im Verlauf der kommenden Überlegungen als ergänzungsbedürftig erweisen wird. Ein kritisches Urteil über Sachen und über fremde Personen gehört nur insofern zu den Aufgaben des Gewissens, als diese Sachen und Personen dem Einzelnen, der ihnen begegnet, sich als zuverlässige Orientierungshilfen für die eigene Theorie und Praxis erweisen oder aber zu Quellen des Irrtums oder der Verführung werden können. Wenn wir aus eigener Erfahrung gelernt haben, daß unsere moralische Selbstbeurteilung durch Verführung irregeleitet werden 82 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Aufgaben des Gewissens
kann, wird es zur moralischen Pflicht, den Umgang mit Menschen, die sich als Verführer erwiesen haben, nach Kräften zu meiden und den Umgang mit solchen Menschen zu suchen, deren Lebensführung uns auf überzeugende Weise zeigt, wie wir zu einer Lebensgestalt finden, die vor unserem eigenen moralischen Urteil bestehen kann. Dann wird die hilfreiche Motivationskraft sittlicher Vorbilder zu einem eigenen Inhalt unserer sittlichen Erfahrung. Über die Möglichkeit sittlicher Fremdbeurteilung, die sich daraus ergibt, und über deren Zusammenhang mit dem Gewissensurteil, das wir nur über uns selber fällen können, wird an späterer Stelle noch zu handeln sein. Nun ist, nach ebenfalls traditioneller Auffassung, jedes Urteil die Anwendung einer Regel auf einen Fall oder eine Gruppe von Fällen. Entsprechend ist das sittliche Urteil die Anwendung einer sittlichen Regel auf konkrete Fälle. Dabei ist die Kenntnis der Regel die Voraussetzung des Urteils. Wer die Regel nicht kennt, kann sie auch nicht auf Fälle anwenden. Die Urteilskraft kann nach dieser traditionellen Auffassung nur tätig werden, wenn ihr die Regel, die sie anwenden soll, gegeben ist – sei es durch die praktische Vernunft, sei es durch die Weisheit eines Lehrers. Es ist auch eine Verbindung dieser beiden Erkenntnisquellen möglich: Der weise Lehrer ist nötig, um das Individuum zu befähigen, zu unterscheiden, ob eine Regel ihm wirklich durch die praktische Vernunft vorgeschrieben wird oder durch ein Vorurteil, das sich als Äußerung der praktischen Vernunft verkleidet. Die Autorität des Lehrers steht, so verstanden, im Dienste der Vernunft, die davor bewahrt werden muß, mit anderen, oft sehr unvernünftigen »Regel-Gebern« verwechselt zu werden. Denkt man das Gewissensurteil auf diese Weise als Anwendung einer sittlichen Regel auf konkrete Fälle, dann besteht der einzige Unterschied zwischen Selbst-Beurteilung 83 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Das Gewissen, die Freiheit und das Gute
und Fremd-Beurteilung darin, daß die Motive, aus denen eine Handlung entsprang, sich dem fremden Betrachter entziehen. Würde er sie kennen, dann könnte er das sittliche Urteil ebenso gut fällen wie der Betroffene selbst – vielleicht sogar noch besser, weil er im jeweiligen Fall unbefangener urteilen könnte. Das Bild ändert sich, sobald der Begriff der »sittlichen Identität« ins Spiel kommt und in die Begründung des sittlichen Urteils eingeht. Denn sittliche Identität kann nur in der »Innenansicht« angemessen erfaßt werden. Wenn sittliche Fehlentscheidungen daran erkannt werden, daß sie zum Identitätsverlust führen, richtige Entscheidungen aber die Gewinnung bzw. Wiedergewinnung der sittlichen Identität möglich machen, dann kann das sittliche Urteil nur vom Betroffenen selber gefällt werden, so sehr er dabei fremder Hilfe bedürfen mag, um zur Klarheit der Selbstbeurteilung zu finden. Das Gewissensurteil ist also unvertretbar und kann von niemandem im Namen eines anderen gesprochen werden. Darin zeigt sich: Es ist ein Akt der Freiheit. Und diese Freiheit der Selbstbeurteilung ist die Voraussetzung aller Freiheit der praktischen Selbstbestimmung. Wer vom Gewissen spricht, muß deswegen von der Freiheit sprechen. Aber auch das Umgekehrte gilt: Wer von der Freiheit sprechen will, muß vom Gewissen sprechen. Denn wer sich das Urteil über sich selbst von anderen abnehmen läßt und dadurch sein Gewissen zum Schweigen bringt, kann auch im Handeln nicht zu freier Selbstbestimmung gelangen. Schließlich gehört zu den beiden Themen »das Gewissen« und »die Freiheit« unlösbar ein drittes Thema hinzu: »das Gute«. Dabei muß es vorläufig genügen, das Gute als den Maßstab zu definieren, an dem das Gewissen den Menschen und seine Taten mißt, um ihn zur Selbstbeurteilung fähig zu machen. 84 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Aufgaben des Gewissens
b) Zweifel an der traditionellen Beschreibung des Gewissens als Urteilskraft Gerade die Frage, wie sittliche Identität zustandekommen, aber auch wie sie verlorengehen könne und dann wiedergefunden werden muß, weckt Zweifel daran, ob das Gewissen sich in der Fähigkeit zum sittlichen Urteil erschöpft. Ist in sittlich bedeutsamen Situationen wirklich zuerst der »Fall« gegeben, sodaß man nach der Regel suchen könnte, unter die er subsumiert werden kann? Oder ist zuerst die Regel gegeben, so daß man fragen kann, welche Fälle unter ihn fallen? Oder stehen beide in einem weit engeren Verhältnis zueinander? Gewiß gibt es Situationen, in denen die Regel sittlichen Handelns bekannt ist, während der Fall, auf den sie angewandt werden soll, erst gesucht werden muß. So setzt z. B. das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter diese Problemlage voraus: Gegeben ist die Regel »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«; gesucht ist der Anwendungsfall »Wer ist mein Nächster?«. Doch ist es, über den speziellen Kontext des Evangeliums hinausgehend, aufschlußreich, daß Jesus diese Fragestellung zurechtrückt: Die angemessene Frage lautet nicht: »Wer ist mein Nächster?« Die Frage lautet vielmehr: »Wer ist der Nächste dessen, der unter die Räuber gefallen ist?« Frage ich: »Wer ist mein Nächster?«, dann bin ich der feste Bezugspunkt, auf den der Fremde bezogen werden muß, um zu beurteilen, ob er mein Nächster ist und also meinen Beistand beanspruchen kann. »Nächstenliebe« aber ist dann die Pflicht zur Solidarität gegenüber der Gruppe, der ich immer schon angehöre. Frage ich dagegen: »Wer ist der Nächste dessen, der unter die Räuber fiel?«, dann ist der Notleidende der Bezugspunkt, auf den ich bezogen werden muß, um zu beurteilen, ob ich mich zur Gemeinschaft der »Nächsten«, d. h. der Glieder des Gottesvolkes, rechnen darf. 85 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Das Gewissen, die Freiheit und das Gute
Dann ist »Nächstenliebe« der Ausdruck einer Berufung, die mich zum Glied eines Volkes macht, das erst entstehen soll. Das Gleichnis Jesu will zeigen: An meinem Verhalten zu dem, »der unter die Räuber fiel«, entscheidet sich erst, ob ich, gemeinsam mit ihm, zum »Nächsten«, zum Mitbürger im Gottesvolk werde – und zwar auch dann, wenn ich, wie der Samariter, vorher nicht dazugehört habe. Diese Richtigstellung der Frage ist nicht nur für den speziellen Kontext des biblischen Gesetzesverständnisses belangvoll: »Was ist das große Gebot im Gesetz?« Die hier geforderte Wendung des Blickes betrifft, auch in ganz profanen Zusammenhängen, das rechte Verständnis der Pflicht. Die Initiative geht vom Inhalt der Erfahrung aus, im biblischen Beispiel von dem Verletzten am Wegesrand. Und alle bewährten Regeln können von diesem Inhalt her einen neuen Sinn bekommen, so wie im biblischen Beispiel der Begriff des »Nächsten« und mit ihm das Gebot der »Nächstenliebe« einen neuen Sinn bekommen hat: die Bedeutung einer Mitbürgerschaft, die nicht naturhaft durch Abstammung gegeben ist, sondern durch tätiges Verhalten erworben werden muß. »Geh hin und tu desgleichen« – dann wirst du »sein Nächster« geworden sein. Hier ist es nicht einfach die abstrakte Regel, die den Fall sittlich bedeutsam macht. Es ist zuerst der »Fall«, der konkrete Inhalt einer sittlichen Erfahrung, der die Regel interpretiert und sie erst durch diese Interpretation sittlich maßgeblich werden läßt. So bewahrt der im biblischen Gleichnis erzählte Fall, der so im biblischen Gesetz nicht vorgesehen war, den Gesetzeslehrer davor, das Gebot »Liebe deinen Nächsten« als Rechtfertigungsgrund eines nationalen Gruppen-Egoismus zu verstehen und ihm damit seine moralische Verbindlichkeit zu rauben. An diesem Beispiel wird ein Sachverhalt deutlich, der von allgemeiner Bedeutung für die Moralphilosophie ist: 86 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Aufgaben des Gewissens
Nicht nur die Regel entscheidet über den sittlichen Wert oder Unwert einer Handlung, die als Fall unter sie gebracht werden kann. Der Fall hat sein eigenes Gewicht und kann Kriterien deutlich werden lassen, von denen der moralische Wert oder Unwert einer Regel abhängt. Damit aber hören die konkreten Begegnungen mit dem Wirklichen auf, bloße austauschbare Beispiele für die Anwendung von Regeln zu sein. Die Begriffe »Regel« und »Fall« eignen sich nur noch mit Einschränkungen dazu, das Verhältnis des Individuellen zum Allgemeinen zu beschreiben. Das Individuelle und Konkrete erhält im Verhältnis zum Abstrakten und Allgemeinen sein eigenes Bedeutungsgewicht. Dann aber ist auch die Aufgabe des Gewissens neu zu definieren: Es ist nicht nur die Fähigkeit, Fälle unter Regeln zu bringen. Wenn es ein sachgemäßes sittliches Urteil möglich machen soll, muß es zugleich die Fähigkeit sein, die jeweils konkrete Weise, wie Wirkliches uns unter seinen Anspruch stellt, und ihr Verhältnis zu allgemeinen Gesetzen, die die Bedingungen objektiver Geltung beschreiben, in ein Verhältnis gegenseitiger kritischer Auslegung zu bringen. Seine Aufgabe besteht darin, konkrete Inhalte des Anspruchs, den das Wirkliche an uns richtet, im Lichte allgemeiner Geltungsbedingungen kritisch zu bewerten, aber auch alle Versuche, allgemeine Geltungsbedingungen zu formulieren, im Lichte konkreter Begegnungen mit dem Wirklichen kritisch auszulegen. Nur so können Eigenart und Grenzen ihrer Maßgeblichkeit für das moralische Urteil deutlich werden. Kurz: Das Gewissen als die Fähigkeit zur moralischen Selbstbeurteilung muß die Fähigkeit einschließen, in konkreten Begegnungen mit dem Wirklichen moralische Erfahrungen zu machen. Denn auf dem Gebiet der Moral wie auf allen anderen Gebieten unseres Vernunftgebrauchs liegt die gesucht Wahrheit weder in der begriffslosen Wahrnehmung noch im reinen Begriff, sondern allein in der Erfahrung. 87 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Das Gewissen, die Freiheit und das Gute
c)
Das Gewissen als Fähigkeit zur sittlichen Erfahrung
Erfahrung ist immer konkret. Sie ergibt sich aus der Begegnung eines bestimmten Subjekts mit einem bestimmten Seienden. Unser Anschauen und Denken gibt dieser Begegnung einen Kontext: den raumzeitlichen Zusammenhang von Orten und Bahnen, die zu dieser Begegnung führen, und den Zusammenhang von Bedingungen und Folgen, die diese Begegnung möglich machen. Erst so tritt der Anspruch hervor, den das begegnende Wirkliche an uns richtet und an dem unser theoretisches und praktisches Verhalten zu ihm gemessen werden muß. Auch dieser Anspruch ist immer konkret, wird von einem bestimmten Seienden an ein bestimmtes Subjekt gerichtet und verlangt von ihm konkrete, der Situation der Begegnung entsprechende Antworten. Mit dem Gesagten verlieren abstrakte Regeln nicht ihre moralische Verbindlichkeit; aber sie verändern ihre Funktion. Sie sind nicht, wie Kant meinte, die alleinige Quelle des sittlichen Anspruchs; dieser geht von erfahrenen Inhalten aus. Aber sie sind Kriterien, an denen objektiv gültige moralische Erfahrung von den vielfältigen Formen des irreführenden subjektiven Scheins unterschieden werden kann. Einige dieser Regeln sind schon an einer früheren Stelle dieser Ausführungen genannt worden, als es darum ging, die regulative Funktion von Ideen deutlich zu machen (s. o. Kap. III 1a). Man kann den dort gefundenen Kriterien, die erfüllt sein müssen, wenn der Übergang vom Erleben zur Erfahrung möglich sein soll, die Form allgemeiner Verbote geben, z. B. »Keine Flucht aus der Geschichte«, »Kein AußerKraft-Setzen früherer sittlicher Erfahrungen; kein einfaches Abschütteln einmal entdeckter Pflichten«, darum: »Kein Verstoß gegen übernommene Treue-Pflichten«, aber auch: »Keine Relativierung sittlicher Pflichten durch den Hinweis auf die Historizität der Lebenssituationen, in denen sie erfahren 88 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Aufgaben des Gewissens
wurden«. Die Regeln, die hier als Verbote formuliert werden, sichern der sittlichen Erfahrung ihre objektive Gültigkeit. In diesem Zusammenhang wäre auch die Bedingung der Universalisierbarkeit, wie sie vor allem von Kant formuliert worden ist, neu zu interpretieren und zu gewichten, und zwar so, daß es dem »Fall« seine Eigenbedeutung nicht raubt. Nach Kants Auffassung kann eine Handlung oder Unterlassung nur dann als gut gelten, wenn sie einer Regel folgt, die man sich ohne logischen Widerspruch als allgemeines Gesetz denken kann. Es ist hier nicht der Ort, um das Recht dieses Kriteriums und seine Grenzen im Detail zu diskutieren. Nur ein kritischer Hinweis sei erlaubt: Gemessen an diesem Kriterium gibt es keine individuelle Berufung mit sittlicher Verpflichtungskraft. Da nun aber individuelle und zugleich sittlich verpflichtende Berufungen zweifellos Inhalte der sittlichen Erfahrung sein können, scheint dieses Kriterium einer Neufassung zu bedürfen. Doch kann man, unerachtet dieser Kritik, einige einleuchtende Konkretisierungen dieses Kriteriums formulieren: »Verlange nichts für dich, was du nicht, bei sonst gleichen Bedingungen, zugleich für jeden anderen verlangen würdest«. »Fordere von anderen nichts, was du nicht zugleich von dir selber fordern würdest, wenn deine Kräfte dazu ausreichen«. Formuliert man die Forderung der Universalisierbarkeit so, dann ist sie »bescheidener«, denn sie schließt ihre Umkehrung nicht ein. Es bleibt möglich, für andere zu fordern, was man für sich selbst nicht fordern würde, und also auf Rechte zu verzichten, die man jedem anderen zugestehen würde. Und es bleibt vor allem möglich, von sich selbst mehr zu verlangen, als man von irgendeinem anderen verlangen würde. Auch in dieser »bescheideneren« Fassung gibt die Regel ein Kriterium an, um objektiv gültige sittliche Erfahrung von irreführendem Schein zu unterscheiden und damit auch der 89 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Das Gewissen, die Freiheit und das Gute
Gefahr böswilliger Verführung zu widerstehen. Das Erlebnis »das meint mich« wird zur Selbsttäuschung, die ihrerseits von Verführern böswillig ausgenutzt werden kann, wenn es den Anschein erzeugt, die Wirklichkeit, die uns hier begegnet, habe das Privileg, als einzige unter allen Inhalten unserer Erfahrung sittliche Ansprüche an uns zu stellen. Jeder so erlebten Wirklichkeit läßt sich entgegenrufen: »Verlange nichts für dich, was du nicht, bei sonst gleichen Bedingungen, zugleich für jeden anderen verlangen würdest«. Oder positiv gewendet: Die jeweils in der konkreten Situation erfahrene Wirklichkeit kann uns nur dann vorbehaltlos in Anspruch nehmen, wenn sie für uns zur konkreten Gestalt wird, in der das Ganze der »sittlichen Welt« für uns Gegenwart gewinnt. In diesem Sinne bleibt die Forderung bestehen, alles Einzelne, das uns sittlich in Anspruch nimmt, darauf zu prüfen, ob dieser individuelle Anspruch einen Bezug zum Allgemeinen gewinnt. Aber dieser Bezug zum Allgemeinen macht das Individuelle nicht zum austauschbaren Beispiel, sondern verstärkt noch sein Eigengewicht. Jeder Angriff auf Leben und Würde eines einzelnen Menschen ist ein Angriff auf »den Menschen« als einen solchen. Darum kann jeder Dienst, den wir einem konkreten Menschen tun, als unsere bescheidene Weise des Dienstes »am Menschen« gelten. Ein Sprichwort, das im Talmud zitiert wird, bringt das so zum Ausdruck: »Wer ein einziges Leben rettet, dem wird es angerechnet, als habe er die ganze Welt gerettet.« Aber natürlich gilt auch das Umgekehrte, obgleich an der zitierten Talmud-Stelle davon nicht die Rede ist: Wer ein einziges Leben untergehen läßt, obwohl er es retten könnte, dem wird es angerechnet, als habe er der gesamten Menschheit seine Hilfe verweigert. Dieses Verhältnis der »Vergegenwärtigung« muß miterfahren werden, wenn die sittliche Erfahrung und ihre Verpflichtungskraft angemessen begriffen werden soll. Dieses 90 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Aufgaben des Gewissens
Wahrnehmen des Allgemeinen in der besonderen Gegenwartsgestalt, die es in der Begegnung eines konkreten Subjekts mit einem konkreten Seienden gewinnt, ist ein wesentliches Moment der sittlichen Erfahrung selbst. Wir werden uns in dieser Erfahrung dessen bewußt, daß es in diesen konkreten Begegnungen immer zugleich »um das Ganze geht«. Das bedeutet für die hier erörterte Frage nach dem Gewissen: Zweifellos ist es, wie in der Tradition immer wieder hervorgehoben, die Fähigkeit zur sittlichen Selbstbeurteilung. Diese bezieht sich vor allem auf die Frage, ob wir unsere Pflichten erfüllt oder uns ihnen entzogen haben. Aber ehe diese Frage entschieden werden kann, muß geklärt sein, ob wir angemessen erfaßt haben, worin unsere Pflichten bestehen, ob wir also den objektiv gültigen Anspruch, der an unsere Praxis gerichtet ist, von irreführendem Schein und verderblicher Verführung unterschieden haben. Wir beurteilen uns selbst, indem wir das, was sich uns so zeigt, daß es »uns meint«, daraufhin beurteilen, ob es uns unter Ansprüche stellt, die wir als berechtigt anerkennen müssen. Das aber ist dann der Fall, wenn die begegnende Wirklichkeit uns Handlungsmöglichkeiten aufzeigt, an die wir uns vorbehaltlos hingeben können, ohne dadurch unsere sittliche Identität zu verlieren. Und das schließt ein: Kein Inhalt einer sittlichen Erfahrung hebt einen anderen auf. Wir können und müssen jeder Verpflichtung, die wir einmal erkannt und anerkannt haben, die Treue halten, weil wir in jeder neuen Pflicht, die wir in neuen Erfahrungen entdecken, eine neue Gestalt jenes Anrufes wiedererkennen, der auch in allen anderen erfahrenen Pflichten an uns ergeht. Nur dann können wir, auch bei unvermeidlichen Pflichten-Kollisionen, gewiß sein, durch die Erfüllung jeder einzelnen Pflicht dem Ganzen der sittlichen Welt zu dienen. Und nur so können wir uns auf jede einzelne von ihnen ohne Vorbehalt einlassen. Und nur
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Das Gewissen, die Freiheit und das Gute
dieses Vertrauen sichert uns in der Vielfalt unserer Pflichten unsere eigene sittliche Identität. Oder kurz: »Gewissen« ist diejenige Kraft, die uns zur sittlichen Erfahrung fähig macht. Dazu gehört der Blick für das Individuelle in seiner unverwechselbaren Eigenbedeutung ebenso wie die Fähigkeit, dem Einzelnen seine Beziehung zum Ganzen der »sittlichen Welt« anzusehen. Und erst in dieser doppelten Perspektive gewinnt das Gewissen jene Fähigkeit zum kritischen Urteil, die immer schon in der Tradition der Moralphilosophie als seine besondere Aufgabe gegolten hat. Dies hat freilich eine Folge: Die rein formale Fähigkeit, Fälle unter Regeln zu subsumieren, mag angeboren sein. Der Blick für das Individuelle und für die Präsenz des Allgemeinen in der je individuell-konkreten Gestalt, die sich uns in der Erfahrung zeigt, bedarf der Bildung. So wird die Gewissensbildung selbst zur sittlichen Aufgabe. Und bei ihrer Erfüllung kann sich die Hilfe anderer, sittlich erfahrener Menschen als unentbehrlich erweisen.
2. Das Gewissen und das Gute Nennen wir nun das, was uns auf solche Weise verpflichtet, daß es uns Selbstfindung durch Selbsthingabe möglich macht und dadurch unser moralisches Vertrauen verdient, »das Gute«, dann kann man das Gesagte in folgender Weise zusammenfassen: Wir urteilen im Gewissensurteil über uns selbst, indem wir zugleich das, was uns begegnet, daraufhin beurteilen, ob es verdient, »gut« genannt zu werden. Denn nur wenn die Wirklichkeit, der wir begegnen, auch bei kritischer Beurteilung »gut« genannt werden kann, wird sie zum Maßstab, an dem auch unser Verhalten gemessen werden kann. Erst aufgrund dieses Urteils hebt sich aus dem Strom des Erlebens das Objekt der sittlichen Erfahrung hervor. 92 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Das Gute und die Freiheit des Menschen
Unsere Fähigkeit zum sittlichen Urteil ist daher zugleich die Bedingung dafür, daß überhaupt sittliche Erfahrung zustandekommt. Das Gewissen, traditionell verstanden als sittliche Urteilskraft, ist zugleich die Fähigkeit, sittliches Erleben in sittliche Erfahrung zu verwandeln. Und nur durch die Tätigkeit des Gewissens baut sich vor unseren Augen die »sittliche Welt« auf, d. h. der Gesamtzusammenhang aller Gegenstände, die mit Recht von uns Hingabe verlangen und die Hoffnung auf Selbstfindung begründen.
3. Das Gute und die Freiheit des Menschen Mit dem Begriff des Guten verbinden wir gewöhnlich den Gedanken des Verpflichtenden. Daraus entsteht der Anschein, daß alles, was wir »gut« nennen, zugleich unseren Ermessensspielraum und damit unsere Freiheit begrenzt. Und in der Tat ist in jüngerer Zeit die Meinung vertreten worden, wer den Menschen zu mehr Freiheit verhelfen will, müsse den Begriff der Pflicht preisgeben. »Wer von Pflicht spricht, meint Repression.« Dann aber müsse er konsequenterweise auch auf den Begriff des »Guten« verzichten. Nun hat schon der historische Teil der hier vorgetragenen Überlegungen gezeigt, daß das Verhältnis zwischen dem Begriff des Guten und dem der Freiheit weit differenzierter ist, als es in einer solchen Darstellung zum Ausdruck kommt (s. o. Kap I). Wenn man, mit der aristotelischen Tradition das Gute als dasjenige definiert, was erstrebt werden kann (»appetibile«) oder was es verdient, erstrebt zu werden, (»appetendum«), dann ist Freiheit die Fähigkeit, zwischen Gütern zu entscheiden. Wenn es nichts Gutes gäbe, dann stünde auch der Freiheit nichts zur Wahl. Soll diese Entscheidung nach Vernunftgründen geschehen, dann ist Freiheit die Fähigkeit, zwischen 93 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Das Gewissen, die Freiheit und das Gute
konkurrierenden Gütern, die man nicht zugleich gewinnen kann, das größere zu wählen. Freiheit ist dann die Fähigkeit zur Güterabwägung. Eine engere Beziehung zwischen den Begriffen des Guten und der Freiheit tritt dann zutage, wenn man (ebenfalls mit der aristotelischen Tradition, die dabei einen platonischen Gedanken aufgreift) eine »gute Gestalt der Lebensführung« für jene »eine wertvolle Münze« hält, gegen die eine noch so große Menge anderer Güter nicht in die Waagschale geworfen werden kann. Daraus aber folgt: Wie immer man die »gute Lebensgestalt« definieren mag, jedenfalls gehört die Freiheit zu ihren Merkmalen. Dann aber ist Freiheit nicht nur die Fähigkeit, zwischen Gütern zu wählen, sondern zugleich selber ein Bestandteil des »guten Lebens« und also des »größten Gutes«. Nichts ist unserer Wahl wert, was nur mit dem Opfer der Freiheit erkauft werden kann. Daraus hat die Stoa die Folgerung gezogen: Freiheit und damit das größte Gut des menschlichen Lebens kann nur von demjenigen gewonnen werden, der im Falle der Konkurrenz auf jedes andere Gut zu verzichten bereit ist. Nur der Gute, der sich von allen Leidenschaften gereinigt hat, ist frei; denn die Herrschaft der Leidenschaft ist das mächtigste Hindernis gegen die praktische Selbstbestimmung der Vernunft. Eine Begründung dafür, daß dieser Satz auch in seiner Umkehrung zutrifft, hat Kant gegeben: Nur der Gute ist frei; aber auch nur der Freie ist gut. Der freie Wille fällt mit dem guten Willen zusammen. Denn sowohl das Freisein als auch das Gutsein besteht darin, keinem anderen Gesetz zu folgen als dem, das die praktische Vernunft dem Individuum auferlegt. Es ist gerade diese stoische, von Kant erneuerte Auffassung von dem Verhältnis zwischen dem Guten und der Freiheit, die den Protest derer hervorruft, die Freiheit ausschließlich von der Unbegrenztheit des Ermessensspielraums her definieren. Sie erheben gegen die bis heute für viele Ethi94 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Das Gute und die Freiheit des Menschen
ker maßgeblich gebliebene stoische-kantische Auffassung den Verdacht, es handle sich um eine besonders heimtückische Variante der »Ideologie der Herrschenden«: Um die Unterworfenen dazu zu bewegen, der Beschränkung ihres Ermessensspielraums zuzustimmen, versuchen die Herrschenden sie davon zu überzeugen, daß sie durch diese Beschränkung erst »wahrhaft frei« werden. Versuchen wir, diese Darstellung der Problemgeschichte bis zur Gegenwart fortzuführen, dann zeigt sich: Eine weitere Etappe in der Geschichte des Verhältnisses zwischen den Begriffen des Guten und der Freiheit wird erreicht, wenn wir das Gewissen, wie soeben vorgeschlagen, als Fähigkeit zur sittlichen Erfahrung verstehen, Erfahrung aber als jenen Dialog mit der Wirklichkeit, in welchem wir deren Anspruch beantworten und damit erst zur Sprache bringen. Denn in der sittlichen Erfahrung begegnet uns ein Anspruch des Wirklichen, der von uns ungeteilte Selbsthingabe fordert und zugleich jenes Vertrauen rechtfertigt, das solche Selbsthingabe möglich macht. Und erst in Akten dieser ungeteilten Selbsthingabe finden wir zu jener ungeteilten »Ganzheit des Herzens«, die uns aus aller Entfremdung befreit und zur Freiheit der Entscheidung befähigt. Was uns in solcher Weise begegnet, fordernd und Vertrauen stiftend zugleich, nennen wir »das Gute«. Freiheit aber ist, so verstanden, nicht eine immer schon gegebene Eigenschaft des Subjekts, sondern wächst ihm im Dialog mit dem Wirklichen erst zu. Und sie bleibt zugleich einer Gefährdung ausgesetzt, die nicht »von außen« kommt, sondern vom Subjekt selber ausgeht. Wenn das Gewissen die Fähigkeit zur sittlichen Erfahrung ist, dann macht Gewissenlosigkeit blind für die Ansprüche des Wirklichen, die uns in der sittlichen Erfahrung deutlich werden. Blindheit für die sittliche Erfahrung aber hindert uns, in der Vielfalt dessen, was uns begegnet, das »eine Notwendige« zu entdecken: die Aufgabe, an die 95 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Das Gewissen, die Freiheit und das Gute
wir uns hingeben können. Dann geraten wir in jene Zerstreuung unserer Kräfte und Funktionen, in denen die eigene Identität und damit die Fähigkeit zur Entscheidung verlorengeht. Wo wir in diesem Sinne blind für das Gute werden, hören wir zugleich auf, entscheidungsfähig und also frei zu sein. Freiheit erweist sich so als gefährdet, vom selbstverschuldeten Verlust bedroht und dann auf Wiedergewinnung angewiesen. Das Gute aber, das uns zu dieser Wiedergewinnung von Identität und Freiheit fähig macht, gewinnt damit jene Eigenschaft auf neue Weise zurück, die für Platon das wichtigste Kennzeichen des Guten war: Das Gute wird daran erkannt, daß es sich als »sŌtēria«, »das Rettende« erweist (Politeia 608 e).
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Zweiter Teil: Die ästhetische Erfahrung und das Schöne
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Die ästhetische Erfahrung und das Schöne
Die meisten Ethiker bemühen sich auch heute darum, objektiv gültige Aussagen über das Gute und Böse zu machen und diese Aussagen vom bloßen Ausdruck subjektiver »Werthaltungen« zu unterscheiden. Dagegen sind Ethiker gewöhnlich sehr zurückhaltend im Gebrauch des Begriffs »sittliche Erfahrung«. Denn dieser Begriff scheint »etwas Subjektives in das moralische Urteil hineinzutragen«. Ästhetiker dagegen haben gewöhnlich gar keine Scheu, von »ästhetischer Erfahrung« zu sprechen. Aber dieser Begriffsgebrauch macht ihnen deswegen gewöhnlich keine Schwierigkeiten, weil sie nicht zwischen »Erlebnis« und »Erfahrung« unterscheiden. Das aber liegt daran, daß sie von ästhetischen Aussagen von vorneherein keine »objektive Geltung« erwarten. Das ästhetische Urteil gilt als »Geschmackssache«. Wenn Ästhetiker dennoch, mit aller Vorsicht, zwischen subjektivem ästhetischem Empfinden und ästhetischem Urteil unterscheiden, dann deswegen, weil es offensichtlich das gibt, was wir »guten und schlechten Geschmack« nennen, und weil es mit zu den Aufgaben der Ästhetik gehört, »Geschmacksverirrungen« kritisch offenzulegen. In diesem Zusammenhang kann es für Ethiker und Ästhetiker hilfreich sein, wechselseitig aus ihren Erfahrungen zu lernen. Wenn nämlich in der zeitgenössischen Ethik eine »Kultur der Wahrnehmungsfähigkeit« sich als notwendig erweist, dann kann es kaum zweifelhaft sein, daß die Ästhetik zugleich eine »Schule der Wahrnehmungsfähigkeit« ist. In dieser Hinsicht kann auch der Ethiker vom Ästhetiker lernen. Umgekehrt kann der Ästhetiker vom Ethiker lernen, wenn es um eine »Kultur der Urteilsfähigkeit« geht. Ein solches Lernen scheint heute gerade deswegen möglich zu sein, weil auch für die Ethiker der Begriff der »objektiven Geltung« in jüngerer Zeit an Selbstverständlichkeit verloren hat. Das liegt vor allem daran, daß in der neuzeit99 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die ästhetische Erfahrung und das Schöne
lichen Wissenschaft ein Begriff von »Objektivität« entwikkelt worden ist, der sich auf die Moral nicht unmittelbar übertragen läßt. Der Übergang vom subjektiven Erleben zur objektiv gültigen Erfahrung wird auf dem Felde der Moral auf andere Weise vollzogen als auf dem Felde der Wissenschaft. Daraus ergibt sich die Frage: Sollte dies nicht auch für die »Welt« der Gegenstände ästhetischer Erfahrung gelten? Lassen sich aus dem besonderen Baugesetz der »ästhetischen« Welt die Kriterien ableiten, die alles erfüllen müssen, was im ästhetischen Zusammenhang als objektiv gültig anerkannt werden soll? Sollte dies zutreffen, dann ergäbe sich daraus eine Möglichkeit, die spezifischen Kriterien zu bestimmen, die es gestatten, auch auf dem Gebiet der Ästhetik Urteile zu fällen, die nicht nur den persönlichen »Geschmack« des Urteilenden zum Ausdruck bringen, sondern zu einer Kultur der ästhetischen Urteilskraft beitragen. Eine andere Frage ist die, ob zur Charakterisierung des Gegenstandes, auf den das ästhetische Urteil sich bezieht, und des Maßstabes, an dem dieses Urteil sich orientiert, der Begriff des »Schönen« geeignet sei. In jüngerer Zeit ist von vielen Ästhetikern der Abschied vom Begriff des Schönen proklamiert worden. Dabei bezieht sich die Kritik am Begriff des Schönen vor allem auf diejenige Einstellung des Subjekts, die nach Meinung der Kritiker im Gebrauch dieses Begriffs zum Ausdruck kommt. Das Schöne gilt als das »Wohlgefällige«, das einen »Genuß« verspricht, sonst aber unverbindlich bleibt und vom Betrachter nichts verlangt. 1
Vgl. dazu die beiden Artikel über »Ästhetik« von Karl-Heinz Bohrer und Wolfhart Henckmann in: Peter Koslowski (Hg.), Orientierung durch Philosophie, Tübingen 1991 bzw. Annemarie Pieper (Hg.), Philosophische Disziplinen, Leipzig 1998. 1
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Die ästhetische Erfahrung und das Schöne
Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte der Ästhetik: Das war nicht immer die Auffassung vom Schönen. Vielleicht beruht also die Kritik an diesem Begriff auf einem bestimmten, korrekturbedürftigen Verständnis, während sich aus der Geschichte ein anderes, angemesseneres Verständnis des Schönen lernen läßt.
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I.
Einige Beispiele aus der Geschichte der Ästhetik
1. Platons Auffassung vom Schönen Das Schöne ist eine Idee (ein Urbild und zugleich ein Ziel, auf dessen Erreichung der Wandel der Erscheinungen ausgerichtet ist). Unter allen Ideen ist das Schöne die »strahlendste«, d. h. diejenige, die auf den Betrachter die stärkste Wirkung ausübt. Im ihrem Lichte gesehen werden Erscheinungen so gesehen, daß der Betrachter »außer sich gerät« und zum Aufstieg des Erkennens fähig wird: Im Anblick der schönen Erscheinung »wachsen seinem Geiste Flügel«. Dann versteht er die Erscheinung als »Bild« der Idee, d. h. als deren sinnenhaft perzipierbare Gegenwartsgestalt. Als solches »Bild« des ideal Schönen ruft die Erscheinung Verehrung hervor, weil es als wirkliches Bild die Kraft der Idee zur Wirkung kommen läßt. Zugleich erweist die Erscheinung sich als kritikbedürftig, weil sie als bloßes Bild von der Idee unterschieden werden muß. Diese Einheit von Verehrung und Kritik verlangt vom Erkennenden den praktischen Dienst am Abbild, damit dessen immanente Teleologie (das, worauf es mit ihm hinauswill) gegen alle Hindernisse zur Wirksamkeit gebracht werden kann. 2 Im weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte wird die platonisch verstandene Wahrnehmung des erscheinenden
Quellentexte: Die »Rede der Diotima« in Platons Symposion, 201d– 212b und der Mythos von dem »Doppelgespann« am »Wagen der Seele« im Dialog Phaidros, 246a–257b. 2
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Zur Ästhetik Kants in der Kritik der Urteilskraft
Schönen zum ausgezeichneten Beispiel, an dem man lernt, auch alle anderen Formen der Wahrnehmung zu begreifen: als Begegnungen mit der Präsenz der Idee in der von ihr verschiedenen sinnenhaften Erscheinungsgestalt. Daraus erklärt sich ein scheinbar zweideutiger Sprachgebrauch: »Ästhetik« ist einerseits die Lehre vom Schönen, vor allem in Kunst und Natur, andererseits die allgemeine »Wahrnehmungslehre« (vom griechischen »aisthesis«, »Wahrnehmung«). So noch im 18. Jahrhundert bei Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), der sich als Erneuerer der klassischen Ästhetik verstand. In seiner Aesthetica (1750) ist »Ästhetik« die »Lehre von der Erkenntnis durch die Sinne« (scientia cognitionis sensitivae). In Klammern fügt er deren spezielle Anwendungsfelder hinzu: »Theorie der freien Künste (Theoria liberalium artium), Erkenntnistheorie der niederen [d. h. sinnlichen] Erkenntnisart (Gnoseologia inferior), die Kunst, auf schöne Weise zu denken (Ars pulchre cogitandi), die Kunst, ein Analogon der Vernunft zustandezubringen« (Ars analogi rationis).
2. Zur Ästhetik Kants in der Kritik der Urteilskraft Schon der Ort, an dem Kant vom Schönen handelt, zeigt die veränderte Problemlage an. Es geht nicht um die ästhetische Wahrnehmung, sondern um das ästhetische Urteil (»Geschmacksurteil«). Dieses vermittelt nicht nur – wie jedes Urteil – zwischen Regel und Fall und damit zwischen Begriff und Anschauung, sondern speziell zwischen der Natur, die der Verstand durch seine Begriffe aufbaut, und der Welt der sittlich gebotenen Zwecke, die unmittelbar durch die Ideen der Vernunft vorgeschrieben werden. Die Natur, die wir theoretisch erkennen, muß so gedacht werden, daß verständlich wird, wie in ihr überhaupt Zwecke gesetzt und realisiert 103 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Einige Beispiele aus der Geschichte der Ästhetik
werden können. Dazu denken wir sie so, »als ob« sie aus einer Zwecke setzenden göttlichen Vernunft hervorgegangen und mit einer ihr immanenten Teleologie ausgestattet wäre. Die Zwecke, die wir setzen, um unseren Handlungen ein Ziel zu geben, haben nur dann eine Aussicht, realisiert zu werden, wenn sie sich in Übereinstimmung mit dieser Teleologie der Natur befinden. Was wir aber ihre »Schönheit« nennen, ist ein eigenartiges Wechselspiel zwischen den Erscheinungen und dem »freien Spiel unserer Gemütskräfte«. In der ästhetischen Erfahrung entdecken wir diese unsere Freiheit, vor allem die Freiheit der Weise, Wahrnehmungen mit Akten der schöpferischen Einbildungskraft zu verbinden. Aber zugleich sind es die Erscheinungen, die uns zu dieser freien Selbsttätigkeit hervorrufen und sich dem Blick, den wir auf diese Weise gewinnen, auf spezifische Weise zeigen. Darum schreiben wir die Schönheit den Erscheinungen zu, nicht nur unserer Art, sie aufzufassen. Das immer neu als kontingent erfahrene Wechselverhältnis zwischen den Erscheinungen und den freien Akten unserer Subjektivität ist nach Kants Überzeugung der eigentliche Grund unserer Freude am Schönen (vgl. KdU A 28 und A 69). Damit aber macht die ästhetische Erfahrung uns hellsichtig für jene produktive Freiheit, die die Bedingung jeder Gegenstandskonstitution ist: nicht nur der Konstitution des Gegenstandes, den wir als »schön« erfahren, sondern aller Gegenstände, auf die wir uns theoretisch und praktisch beziehen. So lehrt uns die ästhetische Erfahrung zugleich, das allgemeine Verhältnis der Erscheinungen zu unserer Freiheit angemessen zu begreifen. Dieser kantische Gedanke ist in der nach-kantischen Philosophie, vor allem bei Schelling, zum Anlaß dafür geworden, die Kunst als das »Organon der Philosophie« zu verstehen, als die Vorzeichnung der all-
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Hegels Ästhetik
gemeinen Form, die jede Weise unseres theoretischen und praktischen Bezugs zu den Erscheinungen möglich macht. 3
3. Hegels Ästhetik Leitwort: »Der Schein ist für das Wesen wesentlich.« Die Weise, wie das Wesen der Dinge sich zeigt, sein »Scheinen«, ist von ihm verschieden, zugleich aber ihm wesentlich zugehörig, sein »Anderes«, aber »das Andere seiner selbst«. Dieses »Andere des Wesens« ist ein für das Wesen unentbehrliches Moment seiner Selbst-Realisierung: Das »Für-uns-Werden« des »An-sich« ist ein unentbehrliches Stadium auf dem Wege des »Für-sich-Werdens«. Dieses sein »Scheinen« wird nur dann zum irreführenden Schein, wenn es für das Wesen selbst gehalten – oder aber als »unwesentlich« beurteilt wird. In der Erfahrung des Schönen tritt diese »Wesentlichkeit des Scheins« besonders ausdrücklich hervor. 4
4. Schellings Philosophie der Kunst Rückgriff auf die Naturphilosophie: »Der gewöhnlichen Betrachtung verschwindet die Produktivität über dem Produkt. Uns muß das Produkt über der Produktivität verschwinden.« Folgerung für die Kunst (die nun zum zentralen Thema der »Theorie des Schönen« wird): Sie ahmt nicht die Produkte der Natur nach, sondern ihre Produktivität, speziell aber den Übergang von der Gestaltung zur Gestalt, und macht Quellentext: Kant, Kritik der Urteilskraft, vor allem deren Einleitung. Quellentext: Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, besonders die Vorrede.
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Einige Beispiele aus der Geschichte der Ästhetik
deutlich, worauf dieser Übergang beruht: auf einem Akt der freisetzenden Freiheit. Die Kunst, die in dieser Weise produktiv ist, schärft den Blick dafür, daß die gleiche freisetzende Freiheit auch die Produktivität der Natur und ihren Übergang zum Produkt bestimmt, daß die gleiche freisetzende Freiheit auch die Bedingung allen wirksamen Handelns ist. So wird die Kunst zur formalen Vorzeichnung aller Weisen, wie alles Wirkliche verstanden werden muß, zum »Organon« der Philosophie, wie früher die Logik. 5
5. Einige Anmerkungen zur historischen Entwicklung der Ästhetik in der nach-idealistischen Philosophie Für die Idealisten gilt als selbstverständlich, daß das Subjekt für die Erfahrung des Schönen konstitutive Bedeutung besitzt. Problematisch ist, ob diese Erfahrung objektive Bedeutung gewinnen kann. Das aber wird gefordert, um zwischen gutem und schlechtem Geschmack unterscheiden und Geschmacks-Verirrungen aufdecken zu können. Denn auch das »Geschmacksurteil« kann sachgerecht sein oder seinen Gegenstand verfehlen. Für die Materialisten dagegen ist selbstverständlich, daß das Subjekt Funktion (wenn schon nicht bloßes Spiegelbild) seiner Objekte ist. Das Objekt hat konstitutive Bedeutung für das Zustandekommen und die Eigenart der Subjektivität. Problematisch ist, woher das Subjekt das Recht und die Kraft nimmt, sich einer »verkehrten Realität« entgegenzusetzen, statt sie bloß zu »spiegeln«. Das aber wird aus moralischen Gründen gefordert. Ein solcher Widerstand gegen die »schlechte Tatsachenwelt« aber ist möglich durch ein Quellentexte: Schelling, Philosophie der Kunst, und Über das Verhältnis der schönen Künste zu der Natur.
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Einige Anmerkungen zur historischen Entwicklung der Ästhetik
Bündnis der Einbildungskraft mit der in der Realität verschütteten Potentialität der Dinge. In der Erfahrung des Schönen wird dieser Überschuß der Potentialität der Dinge als »Vor-Schein« einer kommenden Welt offenbar. Wichtige Beispiele: – Adornos Ästhetische Theorie – ein Zentralgedanke: die geschärfte Sensibilität des Künstlers für die Verletztheit der Dinge (statt der von Aristoteles betonten Integrität), für ihre gestörten Proportionen, ihre verdunkelte »Klarheit«. Nicht als Verherrlichung des Unschönen, sondern als Bezeugung dessen, was fehlt, und als seine Gegenwart »sub contrario« – und als Appell zur Wiederherstellung 6 (vgl. auch Habermas, Ein Bewußtsein von dem, was fehlt). –
Ernst Bloch: Das Schöne in Natur und Kunst, in dieser unserer Erfahrungswelt wie ein Fremdkörper, als VorSchein einer anderen Welt und damit als Bestätigung des »utopischen Traums«, der sich mit »dieser Welt« nicht zufriedengibt. 7
Quellentext: Adorno, Minima moralia. Quellentexte: Bloch, Geist der Utopie und Ontologie des Noch-NichtSeins.
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II. Die ästhetische Erfahrung und ihr Gegenstand
1. Einige Momente des ästhetischen Erlebens a) Unterbrechung des Erlebnisstromes und Aufforderung zum anschauenden Verweilen »Bleib dir der Kostbarkeit dieses Augenblicks bewußt und laß ihn nicht verstreichen, ehe du gesehen und gehört hast, was sich hier zeigt.« Wer sich so unterbrechen läßt, erfährt erst (und vielleicht zum ersten Mal), was »Gegenwart« ist.
b) Das »Auftauchen« der Gestalt aus der Alltagswelt als Morphogenese Diese vollzieht sich vor deinen Augen und läßt eine Gestalt hervortreten, die in der Alltagswelt zuvor nicht vorkam. Ein Beispiel: das Aufspringen einer Knospe, aus deren Schale sich die Gestalt der Blüte erst »befreit«. Ist unser Blick an solchen Phänomenen einmal geschult, dann sehen wir auch in anderen Fällen der gleichsam »fertigen« Gestalt den Vorgang der Gestaltwerdung noch an. Was uns als Schönheit der Gestalt fasziniert, ist diese »Gestalt gewordene Gestaltung«, die sich vor unserem Auge ereignishaft präsentiert. Ein Hinweis: Es gibt Werke der bildenden Kunst, die in besonderem Maße geeignet sind, unseren Blick für die »Ästhetik der gestaltgewordenen Gestaltungskraft« zu schärfen 108 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Transformation des ästhetischen Erlebens in ästhetische Erfahrung
(z. B. Feiningers »Stadtkirche in Halle« oder »Das Schloß La Roche Guyon« von Braque). In anderen Fällen macht uns das Kunstwerk zu Augenzeugen des Vorgangs, in welchem die Struktur, die das Blickfeld beherrscht, alle besonderen Gestalten von Dingen und Menschen aufsprengt oder einschmilzt und zu ihren bloßen Spiegelungen macht (vgl. Feiningers »Stadt im Mondlicht« oder Paul Klees »Traumstadt«). Wer einmal an Kunstwerken wie den genannten sehen gelernt hat, wie die vermeintlich »fertige Gestalt« der Gegenstände, die wir wahrnehmen, Phase im Prozeß der Gestaltbildung und Gestaltauflösung ist, wird auch bei anderen Gelegenheiten hellsichtig für die Manifestation von Vorgängen, aus denen der gestaltete Gegenstand erst hervorging.
2. Die Transformation des ästhetischen Erlebens in ästhetische Erfahrung oder: Die »Emergenz« des ästhetischen Gegenstands a) Die Bedeutung von Ideen der Vernunft für die Konstitution von Gegenständen Zum Begriffsgebrauch von »Idee« Ideen sind Zielvorstellungen von der Erfüllung einer Aufgabe der Vernunft. Zugleich sind sie Prinzipien, aus denen Regeln des Verstandesgebrauchs folgen, die eingehalten werden müssen, wenn das gesteckte Ziel erreicht werden soll. Denn die Ideen sind es, die jeweils angeben, wie der Kontext aufgebaut werden muß, in dem eine bestimmte Art von Objekten seine Stelle findet. Verstandesbegriffe erfüllen diese Funktion, indem sie den Kontexten unserer Erfahrung die »Grammatik« 109 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die ästhetische Erfahrung und ihr Gegenstand
vorzeichnen. Und sogar die Formen unseres Anschauens und Wahrnehmens werden unter dem bestimmenden Einfluß der Ideen »gebildet«, d. h. in diejenige Gestalt gebracht, in der sie fähig sind, den Inhalten des Erlebens einen »Ort« in Raum und Zeit zuzuweisen.
Die Ideen der ästhetischen Erfahrung – zwei widersprüchliche Aufgaben? Gerade das ästhetische Erleben setzt der Erfüllung der zwei Aufgaben besondere Schwierigkeiten entgegen, die uns durch die beiden Ideen der Vernunft vorgezeichnet werden. Sind ästhetische Erlebnisse überhaupt »kontextfähig«? Oder sind die Inhalte des ästhetischen Erlebens in solchem Maße »exorbitant«, daß sie jede »Grammatik« sprengen, durch die eine geordnete Erfahrungswelt aufgebaut werden könnte? Und wirken die Inhalte des ästhetischen Erlebens in solchem Maße »begeisternd«, daß sie die Frage gar nicht zulassen, ob dabei das erlebende Ich seine Identität behält oder verliert? Denn die Begeisterung kennt keine ängstliche Sorge um Identitätsverlust. Entspringt dieses Erleben so sehr der »Befreiung der Phantasie« von aller »kühlen Vernünftigkeit«, daß seine Gegenstände sich weder der geordneten Ganzheit einer »Welt« noch der widerspruchsfreien Einheit des »Ich denke« einfügen? Und die entscheidende Folgefrage: Gibt es überhaupt eine »ästhetische Erfahrung« oder nur »ästhetische Erlebnisse«? Gegenfragen – auch dem, der ästhetische Erlebnisse gehabt hat, werden folgende Erfahrungen nicht erspart bleiben:
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Die Transformation des ästhetischen Erlebens in ästhetische Erfahrung
Es mag ja sein, daß er im Augenblick des ästhetischen Erlebens »sich selbst und die Welt vergißt«. Aber er wird nach dem »großen Augenblick« seines Erlebens in den oft sehr ernüchternden Alltag zurückkehren müssen. War also das ästhetische Erlebnis nur ein realitätsferner und deshalb flüchtiger Traum, aus dem wir alsbald ernüchtert erwachen? Oder hat dieses Erlebnis uns eine Seite der Wirklichkeit gezeigt, die uns sonst verborgen geblieben wäre, aber zur Welt, wie sie ist, wesentlich dazugehört und deshalb auch in unseren Alltagserlebnissen wiedergefunden werden kann? Es mag sein, daß im Augenblick des ästhetischen Erlebens der jeweilige Gegenstand das gesamte Blickfeld des Erlebenden ausfüllt. Dann bleibt für die Frage kein Raum, ob wir im Lauf unseres Lebens noch andere ästhetische Erlebnisse machen werden. Aber ob wir danach fragen oder nicht: Das Leben selbst wird uns dazu nötigen, uns einzugestehen, daß das Erlebnis, das uns so einzigartig erschien, nicht das einzige seiner Art geblieben ist. Verliert also die ästhetische Erfahrung ihre Bedeutung, wenn sich zeigt, daß sie nicht so einzigartig ist, wie wir gemeint haben? Oder »hält sie unserem zweiten Blick stand«, wenn wir dem gleichen Gegenstand später unter anderen Lebensbedingungen wiederbegegnen? Und hält die einmal gemachte Erfahrung neue Erfahrungen aus, die wir mit anderen Gegenständen machen?
b) Die Wiedergewinnung der Frage nach der Welt und dem Ich Fragen dieser Art machen es unvermeidlich, nach Beziehungen zu fragen – sei es nach Beziehungen zwischen den Inhalten unseres ästhetischen Erlebens und unserer »Alltagswelt«, sei es nach Beziehungen der ästhetischen Erlebnisse unter111 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die ästhetische Erfahrung und ihr Gegenstand
einander. Damit aber fragen wir, ohne das vermeiden zu können, nach der Welt, die alle diese Beziehungen umgreift, und nach unserer eigenen Biographie, in der wir diese Beziehungen entdeckt und in ein Verhältnis untereinander gesetzt haben. Das aber bedeutet: Die Frage kann nicht sein, ob es eine Welt und ein Ich gibt, in denen alle diese Erlebnisse ihre Stelle finden, sondern wie diese Welt und dieses Ich gedacht werden müssen, wenn ästhetische Erlebnisse in ihr ihre Stelle finden sollen. Die Eigenart dieser Ideen aber wird sich daran ablesen lassen, welche Art des Anschauens und Begreifens sie uns vorschreiben. Dafür aber lassen sich folgende Kriterien angeben: Diejenigen Anschauungsformen, in denen die verschiedenen Inhalte des ästhetischen Erlebens ihre Stelle finden, müssen jene räumliche und zeitliche Gegenwart zulassen, die für das ästhetische Erleben charakteristisch ist. Und diejenigen Begriffe, die angeben, wie die einzelnen Inhalte des ästhetischen Erlebens auseinander entstehen und andererseits ihren Eigenstand gegeneinander gewinnen, also die Kategorien der Kausalität und der Substanz, müssen jenem Verhältnis von Gestaltung und Gestalt Rechnung tragen, das die Eigenart des ästhetischen Erlebens bestimmt. Daraus ergibt sich die Frage: Wie müssen Ideen, Begriffe und Anschauungsformen beschaffen sein, wenn sie diesen Kriterien entsprechen und so zum Aufbau einer ästhetischen Welt und zur Identitätsfindung des ästhetischen Subjekts geeignet sein sollen?
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Die Transformation des ästhetischen Erlebens in ästhetische Erfahrung
c)
Die Beziehung des ästhetischen Subjekts zu den Gegenständen seiner Erfahrung
Gegenwartfindung Das ästhetische Erleben, so wurde soeben gesagt, beruht auf einem eigentümlichen Wechselverhältnis, in welchem das Subjekt »ganz bei der Sache« ist und bleibt, die Sache aber sich dem Subjekt so »präsentiert« (also »gegenwärtig macht«), daß auch das Subjekt in der Begegnung mit ihm zu seiner Gegenwart findet. Auf der Wechselseitigkeit dieses Gegenwart stiftenden Verhältnisses beruht sowohl die Ganzheit der ästhetischen Welt als auch die Einheit des ästhetischen Ich. Das ästhetische Subjekt ist in jedem seiner Akte ganz gegenwärtig, weil es an jedem wahrgenommenen Inhalt auch sich selbst als gegenwärtig erfährt. Aber auch die ästhetische Welt ist in jeder Erscheinung, die auf spezifisch ästhetische Weise wahrgenommen wird, als ganze gegenwärtig. Für die Ideen in ihrem Verhältnis zu den einzelnen Inhalten des Erlebens gilt, was die Alten vom Verhältnis zwischen Seele und Leib gesagt haben: Die Seele ist ganz im ganzen Leibe, aber auch in jedem seiner Glieder. Daß diese Gegenwart, die sich im Augenblick einer Begegnung konstituiert, sich nicht festhalten läßt, liegt daran, daß das ästhetische Erleben als »exorbitant« erscheint, d. h. das betrachtende Subjekt aus seinen bisher bekannten und bewährten »Geleisen« (»orbitai«) wirft. Wenn das Subjekt seine dadurch bedrohte Identität wiedergewinnen soll, muß es ein neuer Blick auf den Gegenstand sein, an dem das zunächst außer sich geratene Subjekt sich wiederfindet. Dann begreift es die erlebte Begegnung als Phase in seiner Geschichte.
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Die ästhetische Erfahrung und ihr Gegenstand
Responsorisches Gestalten Das soeben Gesagte bedeutet nicht, daß das Subjekt sich in diesem gegenseitigen Verhältnis zwischen der »Präsentation« der Gegenstände und seiner eigenen Gegenwart untätig und rein passiv verhält. Die Ästhetiker haben immer hervorgehoben, daß das freie Spiel der Vorstellungskraft konstitutive Bedeutung hat für das Verhältnis des ästhetischen Subjekts zu seinen Gegenständen. Andererseits hat diese freie Tätigkeit der ästhetischen Einbildungskraft nicht zur Folge, daß der Gegenstand für den ästhetischen Blick zum bloßen austauschbaren Anlaß subjektiver Eigentätigkeit würde. Gerade Künstler haben immer wieder darauf hingewiesen, daß künstlerische Freiheit nicht Beliebigkeit bedeutet und daß die Bindung des künstlerischen Blicks an seinen Gegenstand eine eigene Strenge hat. Aber das gilt nicht nur für die Kunst, sondern für jede Art des ästhetischen Wahrnehmens. Auch der »ganz alltägliche« ästhetische Blick auf die Wirklichkeit bildet nicht nur Gesehenes ab, sondern »macht sichtbar«. Die ästhetische Phantasie bringt Gestalten hervor; aber sie setzt diese Gestalten nicht an die Stelle der Weltwirklichkeit, sondern läßt durch diese ihre ästhetische Produktivität diese Wirklichkeit erst unverstellt sichtbar werden. Die Weise, wie die ästhetische Phantasie Gestalten hervorbringt, die sie nicht an die Stelle der Weltwirklichkeit setzt, sondern durch die diese Wirklichkeit erst unverstellt sichtbar wird, kann »responsorisches Gestalten« genannt werden: Das Subjekt antwortet auf das »Wort« der Dinge und macht durch die Gestalt seiner Antwort erst vernehmbar, was die Dinge »uns zu sagen haben«. Jede ästhetische Wahrnehmung ist ein Akt des Gestaltens. Deshalb hat die Einbildungskraft an ihm wesentlichen Anteil. Aber dieses Gestalten ist responsorisch, antwortet auf die Weise, wie der ästhetisch erfahrene Gegenstand uns begegnet, und bringt 114 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Transformation des ästhetischen Erlebens in ästhetische Erfahrung
doch die Gestalt, in der er sich uns zeigt, in solcher Antwort erst hervor.
Die Ideen des ästhetischen Erfahrens Aus dem Gesagten ergibt sich die spezifische Bedeutung, die die Ideen der »Welt« und des »Ich« im ästhetischen Zusammenhang annehmen. Das ästhetische Ich ist der Partner eines Dialogs zwischen dem Anspruch des Objekts, der das Subjekt immer wieder »außer sich geraten« läßt, und der schöpferischen Einbildungskraft, durch die das Subjekt fähig wird, in aller gegebenen Gestalt den Überschuß an gestaltenden Kräften freizulegen. Das erfahrende Ich ist in diesem Dialog aktiv gestaltend und wird zugleich durch ihn immer neu umgestaltet. Die ästhetische Welt aber ist der Gesamtzusammenhang dieser immer neu sich bildenden und immer neu sich auflösenden und sich verwandelnden Gestalten, in denen das Übergewicht der Produktivität über die Produkte, der natura naturans über die natura naturata, sich ihren Ausdruck verschafft. Die Eigenart dieser Ideen wird noch deutlicher werden, wenn die Frage gestellt wird, welche Art von Anschauungsformen und Begriffen notwendig sind, um den Aufgaben gerecht zu werden, die uns durch die regulativen Ideen der »ästhetischen Welt« und des »ästhetischen Ich« gestellt werden.
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Die ästhetische Erfahrung und ihr Gegenstand
d) Die Kategorien des ästhetischen Erfahrens Substanz Wie auf allen Feldern der Erfahrung, so zeigt auch auf dem Felde der ästhetischen Erfahrung der Gegenstand seinen Eigenstand im Sein durch die Eigengesetzlichkeit seines Wirkens an. Für den Gegenstand der ästhetischen Erfahrung bedeutet dies: Er bleibt, allen Auffassungsarten und Verstehensweisen des Subjekts gegenüber, in jeder Weise seines Erscheinens stets überraschend und neu, ja exorbitant. Von dieser Neuheit und Exorbitanz verliert er auch bei wiederholter Begegnung nichts. Darauf beruht seine immer neu sich bewährende Begeisterungskraft. Darin beweist er seine Eigengesetzlichkeit im Wirken und seinen Eigenstand im Sein, also seine »Substanzialität«. Aber das Standhalten der Substanz in allem Wandel bedeutet nicht ihre Unabhängigkeit von allem Wandel. Der ästhetisch erfahrene Gegenstand zeigt bei jeder neuen Begegnung ein neues Gesicht und bleibt doch gerade in diesem Wandel als der gleiche wiedererkennbar. Und im Rückblick auf die verschiedenen Weisen, wie er sich uns gezeigt hat, bemerken wir: Sie zeigen in ihrem Wechsel das gleiche Gesetz der Gestaltwerdung, das der ästhetisch geschulte Blick auch an jeder einzelnen ihrer Erscheinungsgestalten abzulesen vermag.
Kausalität Wenn vor unserem Auge neue Gegenstände ästhetischer Erfahrung auftauchen, dann ist dies zwar die Folge all dessen, was wir bisher erfahren haben. Aber diese Folge tritt nicht ohne unser Zutun ein. Sie ist eine neue Phase unseres Dia116 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Transformation des ästhetischen Erlebens in ästhetische Erfahrung
logs mit der Wirklichkeit. An dem, was sich uns bisher gezeigt hat, hat unser Anschauen und Denken sich gebildet. Und diesem neu geformten Anschauen und Denken zeigen sich neue Gestalten, die wir ästhetisch wahrnehmen. Die Morphogenese ästhetischer Gestalten ist in die Bildungsgeschichte des ästhetischen Subjekts verwoben – aber nur deshalb, weil die Bildungsgeschichte des Subjekts ihrerseits in die Geschichte der Weisen verwoben ist, wie Wirkliches sich ihm auf spezifisch ästhetische Weise präsentiert hat. Der dialogische Charakter der ästhetischen Erfahrung bewährt sich in der gegenseitigen Verflechtung von Entstehung der ästhetisch erfahrenen Gegenstände und Bildung des ästhetischen Subjekts. Auf dieser Wechselwirkung zwischen dem Gegenstand und dem Subjekt beruht die Weise, wie vor unserem betrachtenden Blick aus schon wahrgenommenen Erscheinungen neue entstehen und damit alle Kausalität, die wir innerhalb der ästhetisch erfahrenen Gegenstandswelt beobachten können. Es wird sich zeigen, daß dadurch auch die Formen bestimmt werden, wie wir im schlichten Anschauen die Gegenstände der ästhetischen Erfahrung wahrnehmen.
e) Die Anschauungsformen von Raum und Zeit: Die ästhetisch erlebte Gegenwart und ihr spezifischer »Zeit-Raum« Die Gegenwart des Wirklichen, die wir auf spezifisch ästhetische Weise erleben, hat ihren Ort im Raum und ihre Stunde in der Zeit. In der Rückschau können wir diesen Ort und diese Stunde angeben. Das aber geschieht auf zweifache Weise. Wir datieren und lozieren das Ereignis der erlebten Begegnung in jenem Raum-Zeit-Zusammenhang, den wir durch 117 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die ästhetische Erfahrung und ihr Gegenstand
Maßzahlen beschreiben, z. B. durch Angabe von Tag und Stunde eines Kalenders oder durch Entfernungsangaben einer Landkarte. Wir geben auf diese Weise Ort und Stunde des Ereignisses in diesem Zeit-Raum an, um das Erlebte von allem bloß Geträumten oder Vorgestellten zu unterscheiden. Aber wir lozieren und datieren das Ereignis einer solchen Begegnung auch in der erlebten Zeit. Diese ist nicht einfach die gleichförmig verlaufende Zeit, die wir mit der Uhr messen. Sie hat, wie jede erlebte Zeit, Strecken, die sich ins Unerträgliche zu dehnen scheinen, und solche, die »vorüber sind wie im Fluge«. Sie hat »ausgezeichnete Zeitpunkte«, die sich der Erinnerung eingraben und von denen her wir das Vorher und Nachher datieren. Speziell für die Erlebniszeit des ästhetischen Erlebens bedeutet dies: Ihre »ausgezeichneten Zeitpunkte« sind die, in denen uns begegnete, was eine Gegenwart stiftete, die uns zunächst allen zeitlichen Fortgang vergessen ließ. Geht dann die Zeit auch über diese Stunde hinweg, dann empfinden wir das wie eine Gewalt, die unserem Erleben angetan wird. Ein solcher Augenblick »dürfte nicht vergehen«. In einem zweiten Akt des Erlebens aber bemerken wir: Diejenige Zeit, in der mehrere spezifisch ästhetische Erlebnisse ihre Stelle finden können, ist die Gedächtniszeit, in der Inhalte, die wir zu unterschiedlichen Zeiten erlebt haben, einander begegnen. Es ist diese Begegnung im Zeit-Raum des Gedenkens, in der auch das Vergangene seine Unvergeßlichkeit bewähren kann. Daraus ergeben sich kritische Anfragen: Hält das, was uns einmal begeistert hat, einer Wiederbegegnung stand, indem es bei noch so oftmaliger Begegnung nichts von seiner »Exorbitanz« und Begeisterungskraft verliert? Und hält es in unserem Bewußtsein die Begegnung mit anderen Gegenständen eines anders gearteten ästhetischen Erfahrens aus? Das müßte dadurch geschehen, daß diese Inhalte sich wechselseitig in einem neuen Lichte erscheinen lassen. Jeder dieser In118 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Transformation des ästhetischen Erlebens in ästhetische Erfahrung
halte hat dann auf seine eigene, unverwechselbare Weise beigetragen, daß und wie wir unseren Blick auf die ästhetische Welt im Ganzen »gebildet« haben, sodaß nun alle Gegenstände der ästhetischen Erfahrung vor unseren Augen ihre Gestalt erst gewinnen. Nur was diese Bewährungsprobe besteht, kann als Inhalt objektiv gültiger ästhetischer Erfahrung gelten.
f)
Die ästhetische Einbildungskraft, der gute Geschmack und das Schöne
Die Bedeutung der Einbildungskraft für die ästhetische Erfahrung Schon Kant hat nachgewiesen, daß die Kategorien der Substanz und der Kausalität nur durch Vermittlung der Zeit-Anschauung auf Gegenstände angewandt werden können und daß diese Vermittlung die Aufgabe einer »transzendentalen Einbildungskraft« sei (vgl. das Kapitel »Der Schematismus der reinen Vernunft« in der Kritik der reinen Vernunft). Wir aber werden hinzufügen dürfen: Für die Kategorien der ästhetischen Erfahrung gilt dies in ausgezeichnetem Maße. Die ästhetische Anschauungsform eröffnet einen Zeit-Raum des Gedenkens, in dem Gegenwärtiges und Vergangenes einander begegnen und so zugleich die Identität des Gegenstands im Wechsel seiner Zustände anschaulich gegeben ist. Erst auf den in solcher Weise gegebenen Gegenstand können die Kategorien der ästhetischen Erfahrung angewandt werden: Der Eigenstand der auf spezifisch ästhetische Weise erfahrenen Substanz sowohl gegenüber dem betrachtenden Subjekt als auch gegenüber anderen Objekten der ästhetischen Erfahrung erweist sich vor allem in der Eigengesetzlichkeit der Weise, wie die erfahrene Gestalt sich bildet und 119 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die ästhetische Erfahrung und ihr Gegenstand
wie das Gesetz dieser Selbstgestaltung auch allem »Tun« und »Leiden« des Objekts seinen Charakter aufprägt. Der vorliegenden Gestalt des Objekts den Prozeß dieser Morphogenese »anzusehen«, ist aber eine Aufgabe der Einbildungskraft. Ohne sie kommen weder die Anschauungsformen noch die Kategorien der ästhetischen Welt zustande. Desto wichtiger ist die Frage: Was verleiht den Objekten, die wir durch diese Anschauungsformen und Begriffe aufbauen, die Fähigkeit, unseren subjektiven Vorstellungen mit objektiver Gültigkeit gegenüberzutreten?
Die ästhetische Urteilskraft und der »gute Geschmack« Die leitende Frage: Ist auf dem Felde der Ästhetik alles »eine Frage des Geschmacks«? Und gibt es Regeln des »guten Geschmacks«, die uns fähig machen, »Geschmacksverirrungen« zu erkennen und zu vermeiden und auch auf dem Gebiet der Ästhetik das Zustimmungswürdige von dem zu unterscheiden, was uns zu Fehlbewertungen verführt? Einige Beispiele kritischer Unterscheidung sind soeben schon genannt worden. Innerhalb des Zeit-Raums der ästhetischen Anschauung wird jeder Gegenstand darauf geprüft, ob er einer Wiederbegegnung »standhält«, ohne seine begeisternde, ja exorbitante Wirkung auf das Subjekt zu verlieren. Im Verhältnis des ästhetischen Gegenstands zum Wechsel seiner Erscheinungsgestalten wird geprüft, ob er sich gegenüber dem Subjekt durch jenen Eigenstand und jene Maßgeblichkeit behaupten kann, kraft derer er das Subjekt immer wieder überrascht und davon überzeugt, daß es sich für eine Wandlung seiner Auffassungsart offenhalten muß. Und im Verhältnis der ästhetischen Erscheinungen untereinander wird jede von ihnen daran kritisch gemessen, ob sie in ihrer vor120 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Transformation des ästhetischen Erlebens in ästhetische Erfahrung
findlichen Gestalt durchsichtig bleibt für jenen Vorgang der Gestaltbildung (»Morphogenese«), die jede dieser Gestalten hervorgebracht hat und zugleich über jede von ihnen hinausdrängt. Wer sich durch jeden Inhalt des ästhetischen Erlebens zu einer Begeisterung hinreißen läßt, die sich der kritischen Frage entzieht, was aus diesem Erlebnisinhalt werden wird, wenn wir ihm unter veränderten Lebensbedingungen wiederbegegnen, verrät keinen guten Geschmack. Aber auch das Umgekehrte gilt: Ästhetischer Erlebnishunger, der alles Erlebte sogleich vergißt, um nach neuen Erlebnissen Ausschau zu halten, zeigt dadurch an, daß er für keines dieser Erlebnisse den »wahren Geschmack« aufgebracht hat. Der gute Geschmack ist freilich nicht einfach angeboren und kommt dann zu den immer gleichen Beurteilungskriterien. Die Urteilsfähigkeit selber »bildet« sich vielmehr an ihren Inhalten. Und der »gute« Geschmack ist einerseits das Ergebnis einer mit Geduld und Beharrlichkeit durchlaufenen »Geschmacksbildung«, andererseits aber ist es sein Kennzeichen, dafür offen zu sein, sich an weiteren Gegenständen ästhetischer Erfahrung immer weiter bilden zu lassen. Für diese Geschmacksbildung kann die Betrachtung von Werken der Kunst besonders bedeutsam sein.
g) Das Schöne – Objekt und Maßstab des Geschmacksurteils zugleich Der Begriff des Schönen: Seine Bedeutung in der Tradition und heutige Vorbehalte gegen seinen Gebrauch Wir erkennen jenes Kriterium, an dem das ästhetische Urteil sein Maß gewinnt, nicht durch reine Analyse von Begriffen, sondern durch Beispiele ästhetischer Erfahrung. So wird das 121 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die ästhetische Erfahrung und ihr Gegenstand
erkannte Kriterium für uns zugleich zum Gegenstand, über den wir Aussagen machen, wenn wir die Eigenart des ästhetischen Urteils beschreiben. In der Tradition wurde dafür der Ausdruck »das Schöne« gebraucht: einerseits als regulative Idee, an der wir die Erscheinungen, aber auch unsere eigene Wahrnehmungsweise kritisch messen, andererseits als Beschreibung des charakteristischen Gegenstandes der ästhetische Erfahrung. Und bei aller Kritik, die in jüngerer Zeit am Gebrauch des Begriffs »schön« geübt wird, wird man feststellen müssen: Überzeugende Vorschläge einer terminologischen Alternative, die Aussicht auf Aufnahme in den allgemeinen Sprachgebrauch hätten, liegen nicht vor. So wird es unvermeidlich sein, den Ausdruck »das Schöne« auch weiterhin zu benutzen, gleichzeitig aber jenes Verständnis dieses Begriffs zu vermeiden, das dazu geführt hat, daß die Theoretiker der Ästhetik heute nach Möglichkeit versuchen, diesen Begriff zu vermeiden, Künstler aber nicht selten geradezu entrüstet reagieren, wenn sie befürchten, dieser Begriff könne auf ihre Werke angewendet werden. Der Grund für diese Kritik scheint vor allem in einem bis heute fortwirkenden Moment des Sprachgebrauchs der Aristoteliker zu liegen. Dort ist es geradezu zur Selbstverständlichkeit geworden, das Schöne als »das Wohlgefällige« zu definieren. Das aber weckt den Eindruck, das Schöne in Natur und Kunst werde deswegen gesucht, weil es dem Betrachter einen Genuß verspricht, der ihn für eine mehr oder weniger kurze Pause vom Druck der alltäglichen Aufgaben und von der Härte der Entscheidungen entlastet. Nun setzt diese Kritik einen heute üblichen öffentlichen Sprachgebrauch voraus, der gegenüber dem der Aristoteliker eine eigentümliche Trivialisierung erfahren hat. Der antike Begriff des »Wohlgefallens«, wie er sowohl innerhalb der klassischen Philosophie als auch innerhalb der Bibel begegnet, hat nichts »Genießerisches« und »Entlastendes« an sich, sondern 122 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Transformation des ästhetischen Erlebens in ästhetische Erfahrung
meint eine Zustimmung, die in allem Ernst des Lebens und mit dem ganzen Herzen gegeben wird (vgl. dazu in Mt 17,5 das Zeugnis Gottes für Jesus nach der Taufe im Jordan: »Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe«). So erscheint es wenigstens einer Prüfung wert, ob dem Begriff »Wohlgefallen« und »wohlgefällig« nicht ein ernsthafter Bedeutungsgehalt zurückgegeben werden kann.
Ein neuer Zugang zum Begriff des »Wohlgefallens« und des Schönen Soeben wurden Kriterien angegeben, an denen die ästhetische Urteilskraft sich orientieren kann und durch die der »gute Geschmack« charakterisiert wird. An diesen Kriterien werden auch die ästhetischen Erscheinungen gemessen, um zu entscheiden, ob wir es mit Inhalten objektiv gültiger Erfahrung zu tun haben. Damit aber ändert sich auch der Begriff des »Wohlgefallens« und des »Wohlgefälligen«. Wir wollen uns der Freude an der Wahrnehmung nur dann hingeben, wenn wir Gründe gefunden haben, dieser unserer eigenen Freude nicht länger zu mißtrauen, weil wir vermuten, daß sie die Enttäuschung unvermeidlich nach sich zieht. Positiv gewendet besagt das: Ein durch die Bewährung der Selbstkritik hindurchgegangenes Wohlgefallen kann nur durch jenen Gegenstand hervorgerufen werden, der sich auch seinerseits »bewährt«. Das geschieht dadurch, daß er in jeder seiner Begegnungen jene »sich erneuernde Neuheit« aufweist, von der soeben die Rede war. Dadurch wird der Gegenstand fähig, künftigen Wiederbegegnungen »standzuhalten«. Das »wahrhaft Wohlgefällige« ist darum das »Unerschöpfliche«, das auch bei wiederholtem Hinblick nicht aufhört, uns zum verweilenden Anschauen einzuladen und 123 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die ästhetische Erfahrung und ihr Gegenstand
dabei diesem unseren Anschauen selbst einen Impuls zur Umgestaltung zu vermitteln. Das wiederholte Betrachten eines Kunstwerks, das auf diese Weise der Wiederbegegnung »standhält«, ist dafür das ausgezeichnete Beispiel. Das hier beschriebene »Wohlgefallen« hat nicht mehr das Moment des »Genießerischen« oder gar des »reflektierten Selbstgenusses« an sich, das Kierkegaard zu seiner Kritik an allem »Ästhetischen« bewogen hat. Und das »Wohlgefällige«, von dem hier die Rede ist, ist auch nicht das bloß »Hübsche«, an dem ein unkritisches Gemüt seine Freude haben mag, sondern zugleich Maßstab, an dem wir die Erscheinungen, aber auch unsere Auffassungsart kritisch messen. Dieses »Wohlgefallen« gilt einer Erscheinung, die gerade deshalb zum verweilenden Anschauen einlädt, weil sie bei kritischer Prüfung kommende Begegnungen in Aussicht stellt, in denen sie ihre verwandelnde und begeisternde Kraft neu bewähren wird. Der so verstandene Begriff des Schönen aber wird zum Leitfaden einer kritischen Hermeneutik der Erscheinungen, die wesentliche Momente der platonischen Lehre vom Schönen wiedergewinnen kann. An früherer Stelle wurde gesagt: Wir gewinnen die leitenden Begriffe, die wir bei der Formulierung von Kriterien des ästhetischen Urteils verwenden, nicht durch reine Analyse von Begriffen, sondern durch Beispiele ästhetischer Erfahrung. So wird jede ästhetische Erfahrung zur Fundstelle, an der wir erfassen, was unser sonst sehr formaler Begriff des Schönen bedeutet. Und zugleich ist der Begriff des Schönen der Maßstab, an dem wir die Inhalte jeder ästhetischen Erfahrung kritisch messen, um zu entscheiden, ob das Erfahrene wirklich »hält, was es verspricht«, d. h., ob es jenes Wohlgefallen rechtfertigt, das wir in seiner Gegenwart empfinden. Das Schöne ist also einerseits dasjenige, das wir an jeder ästhetischen Erfahrung wiederfinden, und insofern ihr gemeinsames Merkmal; aber zugleich ist es die regulative 124 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die Transformation des ästhetischen Erlebens in ästhetische Erfahrung
Idee, an der wir unser ästhetisches Urteil und alle seine Gegenstände immer neu überprüfen. Das Schöne ist so das vorantreibende Moment, an dem wir unsere Fähigkeit zum ästhetischen Urteil gewinnen, und das Ziel, auf das alle ästhetische Bildung ausgerichtet ist – so wie die platonische Idee in jeder Erfahrung ihre Gegenwart (parousia) gewinnt und doch von jedem Inhalt einer Erfahrung wesenhaft verschieden bleibt (choristón). Darum erkennt man den ästhetisch »Erfahrenen« daran, daß er begründete Geschmacksurteile abzugeben vermag und zugleich fähig ist, seine eigene ästhetische Urteilskraft an jeder neuen Erfahrung neu zu »bilden«.
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Dritter Teil: Die religiöse Erfahrung und die Frage nach dem Heiligen
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I. Zeugnisse religiöser Erfahrung und die Bedeutung der religiösen Überlieferung
1. Die Quellenlage und das Problem von Erfahrung und Institution In der Theorie der Religion spielt der Begriff der Erfahrung erst in jüngerer Zeit eine zentrale Rolle. Unter den Selbstzeugnissen der Religion dagegen finden sich Beispiele für die Beschreibung religiöser Erfahrungen in nahezu allen Epochen der Religionsgeschichte. Dabei werden bevorzugt solche Texte überliefert, die für eine religiöse Überlieferungsgemeinschaft normative Geltung erlangt haben. Dazu gehören vor allem Zeugnisse der Berufungserfahrungen von Religionsstiftern und Propheten (z. B. Mose, Zarathustra, Mohammed) oder Zeugnisse von Erleuchtungen, durch die religiös außergewöhnlich »begabte« Menschen zu »Lehrmeistern der Unwissenden« geworden sind. Solche »Lehrmeister« konnten auch die »Unwissenden« durch Anleitung zu besonderen Formen der Meditation zu eigenen Erfahrungen der Erleuchtung fähig machen (z. B. Buddha und die Meister buddhistischer Lebensgemeinschaften). Viele dieser Texte lassen erkennen: Diejenigen, die von ihren eigenen religiösen Erfahrungen berichten, wußten sich dazu verpflichtet, davon Zeugnis zu geben; und oft werden auch die Hörer zur Weitergabe des Zeugnisses verpflichtet und so zu Gliedern einer Überlieferungskette gemacht. Daraus wird verständlich: Die in vielen Religionen bevorzugte Gestalt des Zeugnisses von religiöser Erfahrung ist das auf Überlieferung angelegte und deswegen institutionalisierte religiöse Wort. Das hat, vor allem im späten 19. und frühen 129 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Zeugnisse religiöser Erfahrung
20. Jahrhundert, die kritische Frage hervorgerufen: Ist damit nicht ein Verständnis von Religion begünstigt worden, das einseitig auf die »Religion als Institution« konzentriert ist und von dem das religiöse Bewußtsein sich erst im Lauf der Neuzeit »befreit« hat? Vertreter der Religionswissenschaft und Religionsphilosophie sahen dann mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ihre Aufgabe darin, der Befreiung des religiösen Individuums von der Überlast religiöser Institutionen zu dienen. Und die Berufung auf die religiöse Erfahrung, die jeder Einzelne selber macht, wurde zum Stichwort für diese Befreiung. Es bedurfte weiterer Beobachtungen und Reflexionen, um diese Selbstverständlichkeiten zu überwinden und in dem Verhältnis von religiöser Erfahrung und Institution wieder ein offenes Problem zu entdecken. Zu den weiterführenden Beobachtungen gehörten vor allem zwei Einsichten der Allgemeinen Sprachwissenschaft: die Sprachgebundenheit des Denkens (Herder, Wittgenstein) und die historische Veränderlichkeit der Sprachen (de Saussure). Damit ließ sich die ältere Einsicht Kants verbinden, daß Erfahrung nicht ohne aktive Beteiligung des Denkens zustandekommt. Daraus waren Folgerungen zu ziehen: Wenn unsere Sprache sich geschichtlich verändert, dann wird dies auch für unser Denken und folglich auch für unser Erfahren gelten. Wie unser Denken, so ändert sich auch unsere Erfahrungsart im Lauf der Geschichte. Auch die religiöse Erfahrung hat eine Geschichte. Und diese ist an der Geschichte der religiösen Sprache ablesbar. Nun sind Sprachen nicht angeboren, sondern werden erlernt. Auch die Sprache der Religion und mit ihr die Befähigung zur religiösen Erfahrung muß in einer jeweils konkreten Sprachgemeinschaft erlernt werden. Auch in der Religion sprechen wir eine Sprache, die wir als Glieder einer religiösen Sprachgemeinschaft erlernen. An ihr schulen wir unser Denken und gewinnen damit erst die Möglichkeit zu spezifischen 130 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Ein Bewährungskriterium von Traditionen und Institutionen
Weisen der religiösen Erfahrung. Dabei sind es immer Institutionen, die überlieferungsfähige Formen des Sprechens und Denkens entwickeln und ihnen Bestand verleihen. Weder auf dem Gebiet der Religion noch auf anderen Gebieten kann daher die Frage lauten: Wie wird das Individuum unabhängig von allen Traditionen und Institutionen? Sie kann nur lauten: Wie gewinnt es die Fähigkeit, an der Geschichte der Institution, der es angehört, einen aktiv gestaltenden Anteil zu nehmen? Und konkreter gefragt: Wie wird der Sprecher einer überlieferten Sprache zum Mitgestalter ihrer Geschichte? Indem der einzelne Sprecher eine überlieferte Sprache auf innovative Weise spricht, gestaltet er zugleich das Denken der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft mit und wird so zu deren verantwortlichem Mitglied. Die Sprache der Dichter gibt uns dafür erhellende Beispiele. Daraus ergibt sich die religionsphilosophische Frage: Wie gestaltet das Individuum die Geschichte jener religiösen Institution aktiv und verantwortungsvoll mit, der es seine Fähigkeit zur religiösen Erfahrung verdankt? Bezeugt es seine eigenen religiösen Erfahrung so, daß damit auch andere Mitglieder der Überlieferungsgemeinschaft fähig werden, religiöse Erfahrungen zu machen und in deren Licht ihre eigenen bisherigen Erfahrungen neu zu verstehen?
2. Ein Bewährungskriterium von Traditionen und Institutionen Aus dem Gesagten ergibt sich zugleich ein Kriterium, an dem Traditionen und Institutionen sich zu bewähren haben. Traditionen bewähren sich dadurch, daß sie für immer neue Individuen zu Schulen der Erfahrung werden. Befähigen sie ihre Mitglieder dazu, auf eine Weise zu denken und zu sprechen, die ihnen den Zugang zu neuen Erfahrungen öffnet? 131 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Zeugnisse religiöser Erfahrung
Werden die Individuen auf diese Weise fähig, Erfahrungen zu machen, die ihnen sonst unzugänglich geblieben wären? Sprechen die Mitglieder einer religiösen Überlieferungsgemeinschaft nur nach, was sie gehört haben, oder erwerben sie »aktive Sprachkompetenz«, d. h. die Fähigkeit, in der erlernten Sprache zu sagen, was ihnen niemand vorgesagt hat? Diese Frage kann für Überlieferungsgemeinschaften zur Überlebensfrage werden. Überlieferungen bleiben im Wechsel der Generationen vorwiegend deshalb erhalten, weil immer neue Generationen bezeugte fremde Erfahrungen, deren Kenntnis in der Tradition weitergegeben wird, in neue Weisen eigenen Erfahrens übersetzen. Das gilt auch dann, wenn ein überliefertes Wort den Anspruch erhebt, am Hörer zu wirken, was es als schon gewirkt berichtet. Denn um zu wirken, muß dieses Wort vom Hörer so angeeignet werden, daß es ihm zur Erfahrung werden kann. Religiöse Botschaften rechtfertigen den Anspruch auf solche Aneignung, indem sie dem Hörer einen Neubeginn seines Lebens in Aussicht stellen, der eine neue »Öffnung der Augen« einschließen wird. In dem Maße, in dem dies geschieht, wird der Hörer fähig, zum eigenverantwortlichen Zeugen für die Wahrheit des Zeugnisses zu werden, das er empfangen hat und weitergibt. Das gilt ebensosehr für das mythische Wort von den Ur-Anfängen wie für das prophetische Wort vom Heilswirken Gottes in der Geschichte oder das erleuchtende Wort eines Lehrmeisters der Meditation.
3. Religiöses Erleben und objektive Geltung Mit dem Gesagten fällt auch ein neues Licht auf die Frage nach der objektiven Geltung der religiösen Erfahrung und der Aussagen, durch die sie bezeugt wird. Das Bezeugte soll den Hörern so gegenübertreten, daß es für sie zum Maßstab 132 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Religiöses Erleben und objektive Geltung
wird, an dem sie ihre Reaktion, ihr Antworten oder auch Nicht-Antworten, kritisch zu prüfen haben. Darin besteht der Objektivitätsanspruch des religiösen Wortes. Man verfehlt diesen Anspruch des verkündeten Wortes, wenn man ihm nur deswegen zustimmt, weil es den eigenen, zuvor schon feststehenden Überzeugungen entspricht. Religiös gesprochen: Die objektive Geltung des verkündeten Wortes zeigt sich gerade darin, daß es den Hörer zur Umkehr und zum Umdenken aufruft. Darin »wirft es sich den subjektiven Ansichten und Absichten der Hörer entgegen« (»se objicit«) und erweist so seine Objektivität. Aber die Wirksamkeit des Wortes tritt dadurch zutage, daß es die Umkehr nicht nur fordert, sondern bewirkt. Das aber schließt ein: Diese Wahrheit, die das verkündete Wort bezeugt hat, ist dem Hörer zur eigenen Erfahrung geworden. Die gelingende Weitergabe des Wortes, die Weise, wie es Hörer zu eigenverantwortlichen Zeugen seiner Wahrheit macht, wird auf diese Weise selber zum Anzeichen seiner objektiven Geltung. Nicht universale Vertretbarkeit der Sprecher und Hörer, wie sie für die Wissenschaft charakteristisch ist, sondern die Qualifikation von Hörern zu Zeugen der Wahrheit wird so zum Erweis der spezifischen Weise, wie die religiöse Rede und das, was sie bezeugt, objektive Geltung besitzt und damit Anspruch auf Zustimmung erheben kann.
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II. Die religiöse Erfahrung
1. Einige Momente des religiösen Erlebens a) Ein häufig wiederkehrendes Moment: Die Einheit von Grund und Grenze der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit und der gesamten eigenen Existenz Auffallend häufig werden in religiösen Texten Erlebnisse folgender Art bezeugt: das blendende Licht, aber auch die alles verhüllende Lichtwolke, der überlaute Donner oder der sich inmitten des tragenden Grundes plötzlich öffnende Abgrund. Das gemeinsame Merkmal dieser Erlebnisse scheint zu sein: Der Möglichkeitsgrund der Wahrnehmung (Licht, Schall, Boden unter den Füßen) wird selber zur Bedrohung ihrer Möglichkeit. Die Wahrnehmungsfähigkeit wird nicht von außen begrenzt, sondern von innen bedroht. Und derjenige, der solche Erlebnisse hat, erkennt in dieser Bedrohung seiner Wahrnehmungsfähigkeit die »innere Kontingenz« seines Lebens wieder. Auch dieses stößt nicht nur an äußere Grenzen, sondern ist gerade dort bedroht, wo es der Quelle begegnet, aus der seine Potentialität stammt. Deshalb kann es nur dort »gerettet« werden, wo es seine Grenze erfahren hat. Ein klassisches Beispiel dafür ist Jakobs Kampf mit dem Engel: Der Patriarch erkennt den Engel, mit dem er ringt, als tödliche Gefahr und gerade darin als die Quelle des Segens: »Ich lasse dich nicht, du segnetest mich denn« (Gen 32,26). Häufig drückt der Mensch, der auf diese Weise die tödliche Bedrohung erlebt hat, sein Staunen darüber aus, daß er in dieser Bedrohung nicht unterging: »Und ich lebe noch« (Gen 32,30). Und nicht selten wird dieses Überleben nicht als ein134 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Einige Momente des religiösen Erlebens
fache Fortexistenz gedeutet, sondern als neue Geburt zu einem neuen Leben, sodaß der, der solches erlebt hat, nun mit einem neuen Namen benannt wird (Gen 32,27 f.). Die gleiche Erfahrung von tödlicher Bedrohung und neuer Existenz bestimmt die Mysterienreligionen in Griechenland und Ägypten, kommt aber auch in Hymnen auf den indischen Gott Varuna zum Ausdruck. Die Reaktion darauf ist die Einheit von Schrecken und Faszination, nach Rudolf Otto das Charakteristikum aller Religion.
b) Erlebnisse im Alltag, für die uns die Zeugnisse der Religionsgeschichte hellsichtig machen Wenn die religiöse Überlieferung für uns zur »Schule der Erfahrung« werden soll, dann kann das nicht bedeuten, daß wir in dieser Schule zu außergewöhnlichen Erfahrungen befähigt werden, wie Patriarchen, Propheten und Apostel sie gemacht haben. (»Der hl. Stephanus sah den Himmel offen; wir hören nur, daß er ihn offen gesehen habe.«) Wohl aber wird es bedeuten, daß wir in unseren Alltagserlebnissen Bedeutungsmomente wiedererkennen, die es gestatten, auch diese Erlebnisse in religiöse Erfahrungen zu verwandeln. Denn auch in ihnen wird uns bewußt, daß wir gerade dort an unsere Grenze stoßen, wo wir dem Grund begegnen, der unser Leben und Handeln möglich macht.
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Die religiöse Erfahrung
Der verlorene und wiedergefundene Weg, der mehr ist als ein Mittel zur Erreichung eines schon bekannten Ziels: Seine Bedeutungsmomente. Öffnung einer Möglichkeit, das bisher Ungangbare zu betreten und zu durchschreiten, wie beim Steig im Gebirge oder bei der Furt im Fluß oder im Morast. Aufschließung bisher unbekannter Perspektiven, die Welt zu sehen, wie bei Wendung, Kehre und verwandelnder Gegenwendung eines bisher unbekannten Weges. Aber auch das plötzliche Verlieren des Weges, der sich als »Holzweg« erweist. Der Weg selbst hat uns dorthin geführt, wo für uns alles Weitergehen endet. Wir konnten das Wiederfinden nicht erzwingen und bemerken, daß davon unsere »Rettung« abhängt. Und dann bemerken wir: So ist unser Leben. Es liegt nicht in unserer Macht, zu entscheiden, ob die Lebenswege, auf die und durch die wir geführt werden, im Ungangbaren enden oder ob sich uns gerade dann neue Lebenswege öffnen. Das partielle Erlebnis hat uns die »innere Kontingenz« unseres Lebens im Ganzen deutlich gemacht.
Die Einbrechende Nacht und der Morgen Die einbrechende Nacht, die unsere Orte und Wege unsichtbar macht, uns aber die Orte und Bahnen der Sterne wahrnehmen läßt, und dann, als entgegengesetztes Erlebnis, der Morgen, an dem die Sterne »sterben« und unsere Alltagswelt wieder »auftaucht«. Das Tageslicht, das das Alltägliche sichtbar macht, macht seinen kosmischen Kontext unsichtbar, obgleich es ohne die umfassende Ordnung des Kosmos auch unsere Alltagswelt nicht gäbe. 136 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Einige Momente des religiösen Erlebens
Und umgekehrt: Die einbrechende Nacht, die die Sterne aufleuchten läßt, macht die Orte und Wege, auf denen wir stehen und gehen, unsichtbar. Und wiederum bemerken wir: So ist das Leben. Immer wieder erweist die »Weisheit des Alltags« sich als »Torheit«, wenn es um die Bedingungen geht, auf denen dieses Leben beruht. Aber auch umgekehrt: Immer wieder haben vor allem Spötter festgestellt, daß die Weisheit, der sich die Tiefendimension des Lebens erschließt, zur Torheit gegenüber den konkreten Aufgaben wird, die der Alltag uns stellt.
Ähnliche Gegensatz-Einheiten Der Atem, der mich belebt, an dem ich aber ersticke, wenn ich ihn nicht ausatmen kann. Die Stille (z. B. in der Mittagshitze) und der durch sie ausgelöste »panische Schrecken«: Wir erschrecken vor dem, was kein Gegenstand ist und keiner werden kann, woraus aber alles kommt und wohinein alles versinkt, was sonst vertrauter Gegenstand gewesen ist. Auch hier deuten partielle Erlebnisse das Ganze. So steht es mit meinem Leben.
Elemente einer verbreiteten Deutung, über deren objektive Geltung an dieser Stelle noch nicht entschieden zu werden braucht: Was wir sehen und begreifen, ist immer wieder durch die Verflechtung von Gegensätzen bestimmt. Gerade dadurch weist es über sich selber hinaus und zeigt etwas an, was von dem Gesehenen und Begriffenen verschieden ist. Aber was hier angezeigt wird, wird uns nur in dem bekannt, was wir 137 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die religiöse Erfahrung
sehen und begreifen. So wird das Gesehene und Begriffene transparent für den nicht wahrnehmbaren und nicht begreifbaren Grund seines Erscheinens. Alles, was wir erfahren, gewinnt die Qualität des Bildes. Dessen Funktion beruht nicht auf Ähnlichkeit mit dem, was es bedeutet, sondern auf seiner Vergegenwärtigung (Repräsentation). Das Bild macht es uns möglich, uns gegenwärtig zu dem zu verhalten, was sich dem Zugriff des Anschauens und Begreifens entzieht. Daß alle Inhalte unserer Erfahrung diesen Charakter des Bildes annehmen können, ist der Grund, der alle von uns hervorgebrachten Bild-Reden und Bild-Gestalten erst möglich macht.
c)
Was in den Bildern gegenwärtig wird, wird »das Heilige« genannt
Dieses ist Grund und zugleich die Grenze aller unserer Lebensvollzüge. Denn Bilder sind nur möglich, weil sie auf das Abgebildete verweisen. Aber die gesamte Welt der Bilder vergeht, wo das Abgebildete selber sich ankündigt. Deshalb ist die menschliche Reaktion auf sein Erscheinen die Einheit von Faszination und Schrecken (Rudolf Otto). Diese Zuwendung des Heiligen ist der Entstehungsgrund von Ort und Stunde des Festes (der Stein, auf dem Jakobs Haupt gelegen hatte, als er den Himmel offen sah, wird als Denkstein aufgerichtet und für spätere Generationen zum Ort der Festfeier). Das Fest ist Ort und Stunde, die späteren Generationen die Teilhabe an der geschehenen Zuwendung des Heiligen möglich machen. Darum ist das Fest zugleich der Ursprung der religiösen Raum- und Zeitanschauung. Die frühesten Kalender sind Festkalender. Wichtige Straßen sind ursprünglich Pilgerstraßen. Beispiele einer Deutung in Texten der religiösen Über138 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Einige Momente des religiösen Erlebens
lieferung: »Zieh deine Schuhe aus. Der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden« (Ex 3,5). »Hier ist wirklich Haus Gottes und Pforte des Himmels« (Gen 28,17). Der »heilige Boden«, auf dem der steht, der eine religiöse Erfahrung macht, wird als Ort (Haus) und als Anfang eines Weges gedeutet (Pforte). Aber gemeint ist nicht primär unser menschlicher Ort und Weg, sondern der Zeit-Raum der Begegnung mit dem, was alles Stehen und Gehen erst möglich macht, indem es unsere Eigenmacht gerade an ihre Grenze führt. Dieses ist es, was »das Heilige« genannt wird. Wiederum die Frage: Ist das nur eine Qualität des subjektiven Erlebens? Oder wird hier objektiv Gültiges erfahrbar? Und auf welche Weise muß ich das Erlebte kritisch auslegen, um das objektiv Gültige zu finden? Dazu eine Vorbemerkung: Die Religion selbst will wahre Aussagen machen und zu einem guten Leben anleiten. Sie erhebt Anspruch auf objektive Geltung, indem sie sich unseren subjektiven Ansichten und Absichten »entgegenwirft«, vor allem durch den Ruf zum Umdenken und zur Umkehr (metanoia). Die Religionstheorie hat die Aufgabe, zu bestimmen, worin die spezifisch religiöse Art dieser objektiver Geltung besteht, und dann Kriterien zu formulieren, an denen innerhalb der Religion das objektiv Gültige vom bloß subjektiv Vermeinten unterschieden werden kann.
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Die religiöse Erfahrung
2. Auf dem Weg vom religiösen Erleben zur objektiv gültigen religiösen Erfahrung a) Charakteristische Einwände gegen das Programm, Kontexte aufzubauen, um das religiöse Erleben in objektiv gültige Erfahrung zu verwandeln Ist es der Eigenart des religiösen Erlebens angemessen, von ihm zu verlangen, alle Akte dieses Erlebens müßten sich in einen einheitlichen und widerspruchsfreien Akt »Ich denke« einfügen, um so in Akte eines Erfahrens verwandelt zu werden? Gehört es nicht zu den Kennzeichen dieses Erlebens, daß es die Einheit des »Ich denke« immer wieder zerbricht? Und ist es der Eigenart dieses Erlebens angemessen, zu fordern, alle seine Inhalte müßten ihre Stelle im geordneten Ganzen einer »Welt« finden, um so zu Objekten einer Erfahrung zu werden und damit objektive Geltung zu erlangen? Gehört es nicht zu den Erkennungsmerkmalen dieses Erlebens, daß es jeden vermeintlich apriorischen Ordnungszusammenhang einer »Welt« immer wieder zerbricht? Ist dies nicht das Kennzeichen des Wunders, das den bevorzugten Inhalt des religiösen Erlebens ausmacht? Aber auch das religiöse Bewußtsein kommt ohne die regulative Kraft der Ideen von der Einheit des Ich und der geordneten Ganzheit der Welt nicht aus. Freilich muß die Einheit des Ich so gedacht werden, daß sie die Erfahrungen vom eigenen Zerbrechen einschließt. Und die Ganzheit der Welt muß so gedacht werden, daß sie den Antagonismus der erlebten Inhalte nicht ausschließt, sondern begreiflich macht.
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Auf dem Weg vom religiösen Erleben zur objektiv gültigen religiösen Erfahrung
b) Eine verbreitete Antwort: Die Erfahrungswelt als eine Welt von Bildern In sonst sehr unterschiedlichen religiösen Traditionen werden immer wieder folgende Lösungen dieser Aufgaben angeboten: Die gesamte Erfahrungswelt ist nach religiösem Verständnis eine Welt von Bildern, die eine Wirklichkeit erfahrbar machen, die von ihnen verschieden bleibt. Weil es sich um bloße Bilder handelt, treten in unserer Erfahrungswelt Widersprüche auf, an denen sie immer wieder zerbricht. Weil es sich aber um wirkliche Bilder (Gegenwartsgestalten) handelt, gewinnen die Inhalte unserer Erfahrung bei geeigneter kritischer Auslegung objektive Gültigkeit und Orientierungskraft. Die Leitbegriffe einer solchen kritischen Auslegung lauten: Erscheinungsgestalt und Bedeutungsgehalt. Erst dadurch, daß Unterschied und Zusammenhang von Erscheinungsgestalt und Bedeutungsgehalt erfaßt werden, wird das subjektive Erleben in objektiv gültige Erfahrung verwandelt. Das gilt für jede Erfahrung. Die speziell religiöse Erfahrung aber läßt uns einsehen, warum alles, was sich überhaupt in der Erfahrung zeigt, als bloßes und zugleich als wirkliches Bild des Unbedingten verstanden werden darf: In allem, was ist, zeigt sich das Heilige. Dieses aber kann sich nicht anders zeigen als in der Verhüllungsgestalt des Bildes. Und das religiöse Subjekt, das die Präsenz des Urbilds in den Abbildern erfaßt, ist selber Erscheinungsgestalt: In seinem Anschauen und Denken wird ein deutendes Wort vernehmbar, das nicht Menschenwort ist, sondern das Wort des Heiligen selbst. Dabei kann in unterschiedlichen religiösen Traditionen bald der unterscheidend kritische, bald der hermeneutisch verstehende Aspekt des Begriffs »Bild« stärker hervortreten. In fernöstlichen Traditionen tritt vor allem der unterschei141 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die religiöse Erfahrung
dend kritische Aspekt in der Vordergrund der Deutung. Die ganze Welt des religiösen Erlebens ist eine Welt von Bildern. Um dieses religiöse Erleben in objektiv gültige Erfahrung zu verwandeln, ist es nötig, diese gesamte Bilderwelt zu durchschauen, wie man durch einen verhüllenden Schleier hindurchschaut: Das wahrhaft Seiende erweist sich so als die Negation dieser Bilderwelt. Was wir bisher erfahren haben, fällt ab wie eine unendliche Fülle von Blättern einer überreichen Blüte und gibt so den »Edelstein« frei, den die Blütenblätter bisher verhüllt haben. Dann ruft der Erleuchtete aus: »O Geheimnis des Edelsteins in der Lotosblume« – »Om mani padme um«. Im mittelmeerischen Kulturkreis dagegen, der ebenso die ägyptische wie die semitische und die griechische Kultur umfaßt, tritt der verstehend-hermeneutische Aspekt des Bildverständnisses in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Alles, was uns gegeben ist, kann als Gegenwartsgestalt des Göttlichen erfahren werden.
c)
Das religiöse Subjekt als »Maske« und »Kleid« des Heiligen
Das »Schauen« des Heiligen in seiner bildhaften Gegenwartsgestalt berührt die Grenze des Anschaubaren. Und Entsprechendes gilt für den Akt des begreifenden Wiedererkennens des Heiligen in der Divergenz seiner Gegenwartsgestalten. Der Erkennende wird an die Grenze des Erkennbaren geführt. Seine Begriffe zerbrechen an der Wirklichkeit, die sich dem begreifenden Zugriff entzieht. Seine Sprache wird selbst zu einem Gefüge gebrochener Bilder. Und sein deutender Begriff wird selbst zur stets unzulänglichen und doch wirksamen Erscheinungsgestalt der Weise, wie das Heilige selber die Bilder, in denen es Gegenwart ge142 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Auf dem Weg vom religiösen Erleben zur objektiv gültigen religiösen Erfahrung
winnt, deutet und so begreiflich macht. Das Wort des Erfahrungszeugen wird zur Erscheinungsgestalt der Anrede, mit der das Heilige den Hörer des Zeugnisses unter seinen Anspruch stellt. In vielen Religionen sind zwei Begriffe gebräuchlich, um dieses Verhältnis zu beschreiben: Der Mensch, der das Wirkliche als Bildgestalt anschaut und als Gegenwartsgestalt des Heiligen begreift und diese Gegenwart des Heiligen in neuen Bildreden zum Ausdruck bringt, ist selber das »Kleid«, in das das Heilige sich hüllt, um gerade so erscheinen zu können. Oder er ist die »Maske« (persona), durch die hindurch das Heilige vor unserem Blicke »aufleuchtet« oder durch die es »hindurchtönt« (per-sonat).
d) Die Auslegung des religiösen Worts durch die Lehre vom »vierfachen Schriftsinn« und die vier Bedeutungsmomente der religiösen Erfahrung Religiöse Rede legt Inhalte unserer Erfahrung als »Bilder« des Heiligen aus, d. h. als die für uns erfahrbaren Gestalten seiner Gegenwart. Und sie leistet diese Auslegung, indem sie selber zur Bild-Rede wird, die ihrerseits ausgelegt werden muß. Deshalb können die in der Tradition entwickelten Regeln zur Auslegung des religiösen Worts zugleich als Hinweise verstanden werden, um die Bedeutungsdimensionen der religiösen Erfahrung zu bestimmen. Die Aufgaben der Auslegung des religiösen Wortes sind in der theologischen Tradition durch die Lehre von vierfachen Schriftsinn beschrieben worden. Diese Beschreibung der Auslegung des religiösen Wortes kann als Anleitung dienen, um die Bedeutung der religiösen Erfahrung zu erfassen, die dieses Wort bezeugt. In jedem religiösen Text ist ein historisches Bedeutungs143 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die religiöse Erfahrung
moment freizulegen, weil das religiöse Wort den Inhalt der religiösen Erfahrung, das Erscheinen des Heiligen, als ein Ereignis in der Zeit beschreibt und aus den historischen Bedingungen dieses Ereignisses begriffen werden muß. Aber die religiöse Botschaft sagt stets mehr, als sie ihrem Wortlaut nach darzustellen vermag. Sie ist »anderes sagend«, allēgoría. Sie enthält ein allegorisches Bedeutungsmoment, und ihre angemessene Auslegung ist die »Allegorese«. Diese Redeweise ist der religiösen Erfahrung angemessen, weil deren Inhalt selber stets »mehr sagt«, als das erfahrende Subjekt zu erfassen vermag. Diesen Überschuß an Bedeutungsgehalt des religiösen Wortes gegenüber seinem Wortlaut hat die Tradition mit dem Begriffspaar »Verheißung« und »Erfüllung« zum Ausdruck gebracht. Aber »Verheißung« ist kein bloß verbales Geschehen. Vielmehr verheißt jede Erscheinung des Heiligen (Hierophanie) mehr als das, was sie dem, der sie erfährt, unmittelbar vor das Auge stellt. Der »sensus historicus« des bezeugten Ereignisses, die bleibende Bedeutung der historisch konkreten Gestalt, in der das Heilige sich gezeigt hat, schließt den sensus anagogicus ein: die Bedeutung des Geschehenen als zeichenhafte Vorwegnahme dessen, was kommen soll. »Verheißung« ist nicht nur eine Bedeutungsdimension religiöser Worte, sondern vor allem eine Bedeutungsdimension dessen, was diese Worte bezeugen. Diese Verheißung schließt die Zusage ein, daß das erfahrende Subjekt eine Verwandlung vor sich hat, die ihm ein neues Sehen und Verstehen möglich machen wird. Diese Zusage kommender Verwandlung aber schließt die Verpflichtung des Erfahrenden ein, sich schon jetzt durch das, was ihm widerfuhr, »umgestalten zu lassen zur Neuheit des Denkens«, weil er nur so die Zeichen der Hoffnung zu lesen vermag, die ihm geschenkt ist. Der zur Umkehr rufende Bedeutungsgehalt, der sensus tropologicus, gehört nur deswegen 144 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Auf dem Weg vom religiösen Erleben zur objektiv gültigen religiösen Erfahrung
zum religiösen Wort, weil das Ereignis, das dieses Wort bezeugt, dem Hörer jene Neuschaffung verspricht, der er durch seine Umkehr entsprechen soll. Die Folgerung aus diesem Verständnis der Weise, wie das Heilige sich uns zeigt, läßt sich in folgender Weise zusammenfassen: Das religiöse Wort und die Erfahrung, die es bezeugt, »werfen sich all unserem subjektiven Meinen und Wollen mit dem Anspruch auf Maßgeblichkeit entgegen« (»se nobis objiciunt«) und gewinnen so »objektive Geltung«. Das aber kann nur geschehen, sofern das religiöse Wort deutlich macht, welche Umgestaltung der Welt und unserer selbst die Hierophanie uns verheißt und was von uns gefordert ist, wenn diese Verheißung an uns wirksam werden soll.
e) Die »Gegenprobe«: Die Beobachtung von Ausfallserscheinungen Fällt eines dieser Bedeutungsmomente aus, dann verwandelt sich eine objektiv gültige Erfahrung in irreführenden Schein. Ohne den »sensus historicus« wird aus der Erfahrung eine vermeintliche Weisheit (Gnosis), die ihre eigene Vorläufigkeit und Überbietungsbedürftigkeit vergißt. Ohne den »sensus allegoricus« wird die Weise, wie das Wirkliche sich unserem Anschauen und Denken zeigt, mit der »stets größeren Wahrheit« verwechselt, die in den Inhalten unserer Erfahrung ihre Gegenwartsgestalt gewinnt. Ohne den »sensus tropologicus« wird das, was sich uns zeigt, zur vermeintlichen Bestätigung unserer Befangenheiten und Vorurteile. Ohne den »sensus anagogicus« wird die erfahrene Differenz zwischen Wahrheit und Erscheinung zur vermeintlichen Rechtfertigung von skeptischer Beliebigkeit. Die religiöse Erfahrung, die uns durch ihren besonderen Inhalt vor diesen Fehlgestaltungen jeder Erfahrung befreien könnte, wird 145 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Die religiöse Erfahrung
ihrerseits zur Quelle besonders wirksamer Verführung, wenn sie selber diesem Ausfall einzelner Bedeutungsmomente zum Opfer fällt. Hier nur einige Vorbemerkungen zum Thema der folgenden Ausführungen über den »Sensus numinis«, die Unterscheidung der Geister und das Heilige: – Die religiöse Erfahrung hat es nicht mit einem beschränkten Feld von Gegenständen zu tun, sondern mit einer bestimmten Qualität ihres Erscheinens. Alles, was überhaupt erfahren werden kann, kann unter bestimmten Bedingungen auch in dieser besonderen Qualität erscheinen. – »Erscheinung« ist kein bloßer vom Subjekt erzeugter Schein, sondern die Selbstpräsentation des Wirklichen. Aber der Adressat gehört zu diesem Vorgang konstitutiv dazu. »Erscheinung« ist immer »Erscheinung für jemanden«. Was sich zeigen will, muß jemanden finden, dem es sich zeigen kann. – Die Bedingung dafür, zum Adressaten des Sichzeigens zu werden, ist die Sensibilität für die besondere Weise, wie etwas sich zeigt. Die Sensibilität für das Sichzeigen des Heiligen wird, seit Rudolf Otto, der »Sensus numinis« genannt (so der Titel eines Buches von 1931). – Auch auf dem Gebiet der Religion gilt: Bloße Erlebnisse konstituieren noch keine Erfahrung. Diese geht aus der Verarbeitung solcher Erlebnisse hervor und gewinnt erst dadurch objektive Gültigkeit. Aber was hier »Verarbeitung« genannt wurde, ist auf dem Gebiet der Religion eine Tätigkeit, zu der das Subjekt sich erst durch seinen Gegenstand befähigt weiß. »Sanctum non cognoscitur nisi per se ipsum.« – »Das Heilige kann nur durch sich selber erkannt werden.« – In manchen Religionen, darunter der biblischen, ist für die Weise, wie das Subjekt durch das Heilige zur Er146 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Auf dem Weg vom religiösen Erleben zur objektiv gültigen religiösen Erfahrung
kenntnis des Heiligen befähigt wird, der Terminus »Geist« geprägt worden. Mit dieser Deutung der religiösen Erfahrung ist die Aufgabe verbunden, »die Geister zu unterscheiden«, damit der »Geist des Heiligen« nicht mit anderen »Geistern« verwechselt wird.
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III. Der »Sensus numinis«, die Unterscheidung der Geister und das Heilige
1. Der Sensus numinis Die Sensibilität für Erlebnisse überhaupt wird in der Tradition ein »Sensus« genannt: Fähigkeit zur Erfassung von »Sinn« durch die »Sinne«. Der für die Religion spezifische »Sensus« (Fähigkeit zur sinnenhaften Sinnerfassung) wird von seinem Gegenstand her »Sensus numinis« genannt. Bloße Belehrung vermittelt weder Erlebnisse noch Erfahrungen, auch nicht auf dem Felde der Religion. Aber wenn die Sinne fähig werden wollen, »Sinn« zu erfassen, bedürfen sie der Auslegung durch Begriffe. Schlüsselbegriffe zur Auslegung des spezifisch religiösen Erlebens sind »innere Kontingenz« und »numinose Freiheit«.
a) Die Erfahrung »innerer Kontingenz« und der Begriff der »numinosen Freiheit« Was mit den Sinnen wahrgenommen wird, ist zunächst die innere Labilität der Dinge. Ihre Bedrohung scheint von innen zu kommen: Worin die Dinge ihren Grund finden, dort stoßen sie zugleich an ihre Grenze. Die so verstandene »innere Kontingenz« der Dinge verlangt zu ihrer Erklärung eine Ursache, die nicht notwendig wirkt. Ob ihr Wirken Sein oder Nichtsein bewirkt, ist Sache ihrer Freiheit. Der Begriff, der diesen Ursprung der sinnenhaft gegebenen Eigenart der Dinge auslegt, ist der Begriff der »numinosen Freiheit«. Diese Freiheit hat immer schon die Entscheidung für das 148 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Der Sensus numinis
Sein und gegen das Nichtsein gefällt, wenn uns irgend etwas erfahrbar begegnet. Die angemessene Weise, von dieser Entscheidung zu sprechen, ist die Erzählung von dem, was »früher« geschehen ist, als irgend ein Ereignis innerhalb der Erfahrungswelt. Solche Erzählungen sprechen deshalb von jenem »Urbeginn«, der der gesamten Reihe der erfahrbaren Ursachen und Wirkungen ermöglichend vorausging. Der Begriff der numinosen Freiheit entfaltet sich deshalb in Erzählungen von dem, »was im Ur-Anfang geschah«. Und der Vorgang der Entscheidung, die in diesem Ur-Anfang geschehen ist, kann in solchen »Ur-Anfangs-Berichten« oder »Archaiologien« unter dem Bilde eines mühelosen Nickens mit dem Kopfe (»Nutum«) beschrieben werden (so z. B. bei Homer). Die Mühelosigkeit des Nickens ist der Ausdruck einer ungenötigten Freiheit, die im Anfang aller Dinge die Alternative von Sein und Nichtsein entschieden hat und diese Entscheidung immer neu abbildhaft wiederkehren läßt. Dann werden die Dinge erneut an den Rand des Nichtseins geführt und aus ihrem Ursprung erneuert. Von diesem »Nicken« (Nuere) her wird die Macht, die »im Anfang« gewirkt hat und immer wieder Neuanfänge wirken kann, »Numen« genannt. Was wir »das Heilige« nennen, ist entweder die numinose Ursprungsmacht selbst oder eine derjenigen Gestalten, in denen sie für uns gegenwärtig und erfahrbar wird. Die Sensibilität für diese Art von Erfahrungen ist der »Sensus numinis«.
b) Das religiöse Verhältnis: »Schlechthinnige Abhängigkeit« und »befreite Freiheit« Die Alternative von Sein oder Nichtsein ist immer neu Inhalt einer offenen Entscheidung. Und von jener »numinosen Freiheit«, die diese Entscheidung trifft, sind Mensch und Welt restlos und ohne Einschränkung abhängig (daher 149 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Der »Sensus Numinis«, die Unterscheidung der Geister und das Heilige
Schleiermachers Begriff der »schlechthinnigen Abhängigkeit«). Aber dies ist nur der eine Aspekt des religiösen Verhältnisses. Der andere, komplementäre Aspekt des gleichen Verhältnisses besteht darin, daß der Mensch in der religiösen Erfahrung an der Entscheidungsmacht des Numen Anteil gewinnt. Wo die numinose Macht, die »im Anfang« gewirkt hat, dem Menschen begegnet, wird Neuschaffung möglich. Die religiöse Erfahrung vermittelt dem, der sie macht, die Gewißheit, daß solche Neuschaffung an ihm und sekundär auch durch ihn geschieht. Die numinose Freiheit wird deshalb als »befreiende Freiheit« erfahren.
2. Der »Geist« und die »Unterscheidung der Geister« a) Ein »archaisches« und zugleich weit verbreitetes Deutungsmuster: Die Begegnung mit der Gottheit als Anteilgewinnung an ihrem lebenspendenden Tode In der religiösen Erfahrung wird nicht nur die gesamte Welt der Objekte an ihre Grenze geführt, sondern vor allem das erfahrende Subjekt selbst (daher der häufig belegte Ausruf: »Weh mir, ich vergehe!«); und aus dieser Erfahrung der Grenze geht der Mensch in der neuen Eigenschaft als religiöses Subjekt erst hervor. Erst als dieses neue Subjekt wird der Mensch fähig, zu begreifen, was mit ihm in der religiösen Erfahrung geschehen und welcher Wirklichkeit er dabei begegnet ist. Das neue Verstehen ist eine Folge der neuen Geburt zur Neuheit des Lebens. In vielen, sonst sehr unterschiedlichen Religionen wird diese Mitteilung von göttlicher Lebens- und Erkenntniskraft durch Erzählungen von einer sterbenden Gottheit ausgelegt. Seit dem Urbeginn der Welt erfüllt der ausgeatmete Lebens150 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Der »Geist« und die »Unterscheidung der Geister«
atem des Gottes die ganze Atmosphäre und gibt ihr die Kraft, allen Wesen Leben zu spenden, die ihn einatmen. Und das vergossene Blut des Gottes färbt den Acker rot und gibt ihm die Kraft der Fruchtbarkeit. Im ägyptischen Mythos ist es das verströmte männliche Sperma des sterbenden Osiris, das das Wasser des Nils zur Quelle des Lebens für Pflanzen, Tiere und Menschen macht. Mysterienfeiern des Osiris in Ägypten oder des Dionysos in Griechenland haben das Ziel, in die Todes- und Lebensgemeinschaft mit dem Gott einzuweihen. In der Kraft dieser Einweihung wird der Mensch fähig, »in Dei persona« zu sprechen, als jene sichtbare und hörbare Gestalt, durch die der Gott »hindurch-tönt« (»per-sonat«).
b) Der Geist – Prinzip des Lebens und des Wortes In biblischen Texten wird der in vorbiblischen Religionen verbreitete Gedanke eines »sterbenden Gottes« preisgegeben. Zugleich aber wird daran festgehalten, daß der Mensch zum Leben wie zur Erkenntnis nur dadurch fähig wird, daß Gott sich selber an den Menschen verschenkt. Dabei wird dieses Prinzip der Selbstmitteilung Gottes »Geist« genannt. Dieser ist Atem des Lebens, den Gott dem Adam »in die Nase geblasen« hat (Gen 1,7), und zugleich Ursprung des Wortes, das wir dem ausgeatmeten Atem »mit auf den Weg geben«. Beide Aussagen schließen sich gegenseitig ein. Das religiöse Wort ist nur dann wahr, d. h. seinem Gegenstande angemessen, wenn es sich mit der Ganzheit der eigenen Lebenskraft an den Hörer verschenkt. Und umgekehrt: Die neue Lebenskraft, die dem Menschen durch die Zuwendung Gottes geschenkt wird, muß sich in der Kraft des religiösen Wortes bewähren, das die empfangene Zuwendung Gottes an seine
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Der »Sensus Numinis«, die Unterscheidung der Geister und das Heilige
Hörer weitergibt und sich an ihnen als lebenspendendes Wort erweist. Für beide Gruppen von Aussagen ist es entscheidend, zu sehen, daß der Geist stets zuerst Gottes Geist ist, ehe er, als Lebensatem oder als Gabe des Wortes, zum Geist des Menschen werden kann. Wird dies vergessen, dann entsteht ein »naturalistisches« Verständnis des Lebens: »Geist«, so wird dann in naturalistischer Verkürzung gesagt, »ist nichts anderes als die physische Lebenskraft, deren sinnenfälliger Ausdruck der Atem ist.« Und zugleich entsteht ein »intellektualistisches« Verständnis des Wortes und des Verstandes. »Geist«, so wird dann in intellektualistischer Engführung gesagt, »ist die Kraft des Intellekts, die sich in der Wirkmacht des Wortes zeigt und sich in der Auslegung alles Wirklichen durch das Wort bewährt.« Demgegenüber ist in Erinnerung zu rufen: Die biblische »Interpretationsrichtung« ist die umgekehrte. Da wird nicht zuerst verstanden, was »Leben« und »Lebensatem« ist, um von daher zu deuten, wie Aussagen über den Geist zu verstehen seien. Sondern wer verstehen will, was Leben und Atmen heißt, muß sich auf die Verkündigung von jenem göttlichen Leben verweisen lassen, an dem der Mensch, dem dieser Geist geschenkt wird, mit jedem Atemzug, den er einatmet, erneut Anteil gewinnt. Und es wird nicht zuerst verstanden, was Denken und Sprechen bedeutet, um von daher zu deuten, wie die biblischen Aussagen über den Geist zu verstehen seien. Sondern wer verstehen will, was Denken und Sprechen bedeutet, muß sich auf die Verkündigung von dem Gott verweisen lassen, der alles durch sein Wort ins Dasein gerufen hat und deshalb dem Menschen das Wort schenken kann, das in den Kreaturen das Wirken des Schöpfers freilegt und so die Dinge in ihren Wesen erkennt. Im Sinne der Bibel wird die Verkündigung von Gott als dem Geist und von der
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Der »Geist« und die »Unterscheidung der Geister«
Macht seines Wortes zum Schlüssel für das Verständnis des menschlichen Geistes, nicht umgekehrt.
c)
Der Geist – wirkende Kraft der Selbstmitteilung des Heiligen
Das Leben und das Wort, so hat sich gezeigt, sind, religiös verstanden, nur zwei Äußerungsformen der einen Selbstmitteilung Gottes an den Menschen. Das Verhältnis zwischen dem menschlichen Wort und der göttlichen Selbstkundgabe ist in der Tradition durch die Formulierung zum Ausdruck gebracht worden: »Gott« – oder allgemeiner: »das Heilige« – wird nur durch sich selber erkannt. »Deus sive Sanctum non cognoscitur nisi per se ipsum.« Das Heilige denken, bedeutet deshalb stets zugleich: sich ihm verdanken. Die spezifisch religiöse Bedeutung dieser Aussage erschließt sich nur, wenn die Einheit von Wort und Lebensatem zu ihrer Auslegung herangezogen wird. Nur indem das Heilige den Menschen an die Grenze seiner eigenen Existenzfähigkeit führt, um ihm dann mit seinem eigenen Lebensatem zu einem neuen Leben fähig zu machen, wird auch das Denken dieses Menschen neu geschaffen, und nur in dieser Neuheit des menschlichen Denkens wird das Wort des Heiligen vernehmbar und verständlich. Die Neuheit des Lebens und die Neuheit des Denkens sind nur zwei Aspekte der einen Weise, wie das Heilige sich selbst, sein Leben und sein Wort im Leben und Denken des Menschen zur erfahrbaren Gegenwart kommen läßt.
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Der »Sensus Numinis«, die Unterscheidung der Geister und das Heilige
d) Der Geist, die »Geister« und die »befreiende Freiheit« als Kriterium ihrer Unterscheidung Der Mensch kann die Gabe des Geistes nur empfangen, indem er sich der Verwandlung anvertraut, die dadurch an ihm geschieht. Aber das Vertrauen, das sich der geschehenden Verwandlung überläßt, will verantwortet sein und bedarf deswegen der kritischen Unterscheidung. Denn es gibt auch Verwandlungen unseres Lebens und Denkens, die wir nicht dem Geist Gottes zuschreiben können, sondern den Mächten der Verführung. Die bekanntesten Beispiele dafür sind Akte der Gewalt gegen andere Menschen, aber auch gegen sich selbst, zu denen der Mensch sich durch Erfahrungen, die er für religiös hält, verpflichtet weiß. Hier hat ein »Geist« von ihm Besitz ergriffen, den wir nicht als den »Geist Gottes« anerkennen können. Dabei kommt es darauf an, die Religion nicht an religionsfremden Kriterien zu messen, auch nicht an solchen der Moral, sondern ihr spezifisch religiöse Kriterien anzubieten, an denen sie sich selber beurteilen kann. Ein solches Kriterium kann lauten: Wird ein bestimmtes, religiös motiviertes Verhalten der Aufgabe gerecht, das Heilige in seiner spezifischen Eigenart wiederzuerkennen und in ein Verhältnis zu ihm einzutreten, das dieser seiner Eigenart entspricht? Was hier wiedererkannt werden soll, ist die Einheit von Grund und Grenze allen endlichen Seins und damit die Chance, daß das endliche Seiende gerade dort zu neuer Existenz wiedergeboren wird, wo es als »alte Kreatur« untergeht. Ein Verhalten des Menschen aber, das einseitig entweder nur die Tötungsmacht des Heiligen oder nur seine lebendig machende Wirksamkeit bezeugt, wird dieser Aufgabe nicht gerecht. Nicht nur die Vertreter einer angeblich religiös motivierten Gewalt, sondern auch die Prediger einer allzu harmlos verstandenen »Allgüte des Heiligen« sind un154 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Der »Geist« und die »Unterscheidung der Geister«
fähig, so zu sprechen, daß das Heilige »durch sie hindurchtönt« (»per-sonat«), oder so zu handeln, daß damit ein Wiedererkennen des Heiligen möglich wird. Diejenige Beziehung zum Heiligen, in die der Hörer der religiösen Botschaft eintreten soll, wird nur dann angemessen verstanden und vollzogen, wenn sie als Beziehung zweier Formen der Freiheit deutlich wird: der im wörtlichen Sinne »ursprünglichen Freiheit«, die im Ursprung aller Dinge die Entscheidung gefällt hat, »daß überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts«, und die abgeleitete Freiheit, die der Mensch gewinnt, wenn er sich dieser ursprünglichen Freiheit anvertraut. Daraus läßt sich eine Regel gewinnen, die der Unterscheidung der Geister dienen kann: Was dem Menschen und der Welt nicht den Geist schenkt, der als Kraft der Wiedergeburt wirksam wird, macht ihn auch nicht frei. Und was ihn nicht frei macht, kann nicht als Gabe des Geistes verstanden werden. Oder kurz: Nur das Heilige macht wahrhaft frei, und nur was frei macht, ist eine Erscheinungsgestalt des Heiligen. Aber die Freiheit, von der hier die Rede ist, ist nicht jene Beliebigkeit, die letztlich auf der Überzeugung beruht, es sei gleichgültig, wie man sich in einer bestimmten Situation entscheide. Freiheit, religiös verstanden, ist die Fähigkeit, im individuellen und gemeinschaftlichen Leben Neuanfänge zu setzen, in denen das ur-anfängliche Wirken der numinosen Freiheit abbildhaft wiederkehrt. Die Befreiung zu dieser Freiheit ist zugleich ein verpflichtender Auftrag, von dessen Erfüllung Heil oder Unheil abhängt. Der Mensch ist dazu berufen, durch Wort und Tat wirksame Zeichen dafür zu setzen, daß die Dinge aus ihrem Ursprung erneuert werden. Das Bewußtsein, dazu berufen zu sein, schließt die Gewißheit ein, daß keine Macht der Welt der Erfüllung dieses Auftrags im Wege stehen kann und daß die Freude, für diesen
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Der »Sensus Numinis«, die Unterscheidung der Geister und das Heilige
Auftrag in Dienst genommen zu sein, durch keine innerweltliche Furcht oder Hoffnung getrübt werden kann.
3. Das Heilige – zur Deutung eines zentralen Begriffs der Religionsphilosophie »Das Heilige«, seit der Antike der Name für den Gegenstand der religiösen Erfahrung und damit für das Korrelat des religiösen Verhaltens, konnte im soeben durchlaufenen Gedankengang in drei Schritten näher bestimmt werden. Jedem dieser Deutungsschritte entspricht eine bestimmte Gestalt der religiösen Erfahrung. Der erste Deutungsschritt besagte: »Das Heilige« ist entweder der Name für »das Numen«, d. h. für jene Macht, die »im Ur-Anfang« die offene Alternative von Sein und Nichtsein aller Dinge entschieden hat. Oder es ist »das Numinose«, d. h. der gemeinsame Name für alle Formen der abbildhaften Gestalten, in denen das Numen und seine neuschaffende Macht für den Menschen erfahrbar wird. Wird das Heilige so verstanden, dann ist die religiöse Erfahrung die Weise, wie der Mensch in allem, was ist und geschieht, diese Wirkmacht gegenwärtig am Werke sieht. Die religiöse Erfahrung »entziffert« auf solche Weise die Bedeutung der »Bilder«, aus denen die gesamte Erfahrungswelt besteht. Dieser Erfahrung zeigt sich die Welt als zukunftsoffen, weil keine Geschlossenheit innerweltlicher Kausalreihen das Heilige daran hindern kann, sich immer neu als dasjenige zu erweisen, das in der Welt neue Anfänge setzt, wie es im Anbeginn den Anfang von allem gesetzt hat. In einem zweiten Deutungsschritt wurde das Heilige als »Quelle des Geistes« verstanden, mit dem es seine Geschöpfe »anhaucht«. »Geist« ist in diesem Zusammenhang die Fähigkeit des Heiligen, nicht dieses und jenes zu verschenken, 156 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Das Heilige – zur Deutung eines zentralen Begriffs der Religionsphilosophie
sondern sich selbst, insbesondere seine eigene Lebenskraft in der erfahrbaren Gestalt des hinausgeatmeten, belebenden Atems und seine Erkenntniskraft in der erfahrbaren Gestalt des hinausgesprochenen Wortes. Auch außerbiblische Religionen, denen der Begriff »Geist« fremd ist, kennen diese Fähigkeit des Heiligen zur Selbsthingabe und bringen sie nicht selten in Mythen von der lebenspendenden Kraft eines göttlichen Todes zum Ausdruck. Wird das Heilige so verstanden, dann ist die religiöse Erfahrung zunächst der Ursprung eines neuen Verständnisses unserer eigenen Lebensgeschichte. Immer dann, wenn ein Wort, das ich hörte, mir »ein neues Licht aufgehen ließ« oder wenn eine Hilfe, die andere Menschen mir geleistet hatten, mich »wieder auf die Füße stellte«, kann die religiöse Erfahrung darin die Gegenwartsgestalt entziffern, durch die das Heilige selbst seine Leben stiftende Selbsthingabe an mir zur Wirkung kommen läßt. Durch solche Erfahrungen belehrt, entdecken wir in einem zweiten Schritt neue Möglichkeiten des eigenen Lebensvollzuges: Wir entdecken Aufgaben, die von uns ungeteilte Selbsthingabe verlangen, und gewinnen zugleich die Einsicht, daß es jedesmal ein unerzwingbares Geschenk ist, wenn es uns gelingt, diese Aufgabe wirksam zu erfüllen. Wir verfügen nicht darüber, ob wir mit all unserer Bemühung um liebende Hingabe wirklich für andere Menschen zur Quelle neuer Lebenskraft werden. Christlich gesprochen: Die Erfahrung unserer Pflichten und noch mehr die Erfahrung der Wirksamkeit ihrer Erfüllung wird durch die religiöse Erfahrung neu gedeutet als das Geschenk unserer Berufung, »Früchte des Geistes zu bringen«. In einem dritten Deutungsschritt wurde dasjenige Merkmal, durch das der »Geist des Heiligen« sich von anderen »Geistern« unterscheidet, darin gefunden, daß das Wirken dieses Geistes als »freimachende Freiheit« beschrieben werden kann. Wird das Heilige so verstanden, dann ist die reli157 https://doi.org/10.5771/9783495820391 .
Der »Sensus Numinis«, die Unterscheidung der Geister und das Heilige
giöse Erfahrung die Weise, wie wir in allen Formen freisetzender Freiheit, die an uns wirksam wird oder die wir selber auf wirksame Weise ausüben, die Gegenwartsgestalten jenes Geistes entziffern, der vom Heiligen stammt und den Menschen Anteil am Wirken des Heiligen gewährt. Abschließend sei ein Ausblick gestattet: In dem Maße, in dem in der religiösen Erfahrung und entsprechend im Verständnis des Heiligen das Moment der »Freiheit stiftenden Freiheit« dominant wird, tritt das Heilige für den, der es so erfährt und versteht, als Person hervor. Erst so »kommt Gott in die Religion«, statt nur a-personal als »das Heilige« erfahren zu werden.
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