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German Pages 309 [290] Year 2007
Narrative Ethik Das Gute und das Böse erzählen
Herausgegeben von
Karen Joisten
Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen
philosophischen Forschung
Sonderband
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Narrative Ethik
Das Gute und das Böse erzählen Herausgegeben von
Karen Joisten
^^A
v¡m Akademie Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Firma ProfiTemp Management GmbH
(Sitz Römerberg)
Redaktion: Nicole Thiemer
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004051-6 © Akademie Das
Verlag GmbH, Berlin 2007
eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.
Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form- durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -
Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Nicole Thiemer, Mainz Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Printed in the Federal
Republic of Germany
Langensalza
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung Karen Joisten
Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik Grundlagen, Grundpositionen, Anwendungen
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9
II. Grundlagen Wolfgang Kraus Das narrative Selbst und die Virulenz des Nicht-Erzählten Norber Meuter Identität und Empathie Über den Zusammenhang
von
Narrativität und Moralität
László Tengelyi Narratives Handlungsverständnis
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Dieter Thomä Vom Nutzen und Nachteil der Erzählung für das Leben
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Kurt Röttgers Menschliche Erfahrung: Gewalt begegnet dem Text des Erzählens (Alexander und Schehrezâd)
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75
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III. Grundpositionen Klaus-Dieter Eichler Über den Umgang mit Erzählungen bei Piaton und Aristoteles
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Inhalt
Sven Kramer Narrativität und Ethik: Walter Benjamin
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Thomas Rolf
„Die Geschichte steht fur den Mann" Ethische
Aspekte der narrativen Repräsentation
Peter Welsen Erzählung und Ethik bei Paul Ricœur
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Karen Joisten Das „narrative Selbst" und das Problem der Verantwortung in Alasdair Maclntyres Der Verlust der Tugend
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151
169
187
IV. Anwendungen Peter Kemp Ethics and the Three Levels of Narrativity Dietmar Mieth Literaturethik als narrative Ethik
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Johannes Fischer Vier Ebenen der Narrativität Die Bedeutung der Erzählung in theologisch-ethischer Perspektive Hille Haker Narrative Bioethik Ethik des biomedizinischen Erzählens
.
-
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203
215
235
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Dietmar Hübner
Ökologische Ethik und narrative Ethik
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273
V. Anhang Nicole Thiemer
„Narrativität und Ethik" Ein bibliographischer Kommentar
Personenregister
.
293 303
I. Einleitung
Karen Joisten
Möglichkeiten und Grenzen einer narrativen Ethik
Grundlagen, Grundpositionen, Anwendungen
Die Worte Narration, narrativity, narrativ, Erzählung(en) und Erzählen haben insbesondere in den letzten Jahrzehnten sicherlich begünstigt durch den ,cultural turn' eine erstaunliche Konjunktur erfahren. Erstaunlich deshalb, weil die Fülle an Publikationen, insbesondere im amerikanischen Sprachraum, die unendliche Weite des durch diese Worte markierten Feldes sichtbar gemacht hat: Es erstreckt sich quer durch die geistes- bzw. kulturwissenschaftliche Landschaft von den Geschichtswissenschaften zur Theologie, Germanistik, Anglistik, Pädagogik bis hin zur Psychologie, und man gewinnt den Eindruck, wie man mit Norbert Meuter hervorheben kann, „dass der Begriff Narrativität den Status eines übergreifenden kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs besitzt."1 Erstaunlich aber auch deshalb, weil trotz dieser Konjunktur eine grundsätzliche Klärung dieser Grundbegriffe und nüchterne Bestandsaufnahmen mit kritischem Scharfsinn eher Seltenheit sind und gleichsam die ,Anwendungsperspektive' innerhalb der verschiedenen kulturwissenschaftlichen Richtungen die vorherrschende ist.2 Fokussiert man seinen Blick dann innerhalb der geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen Landschaft der letzten Jahrzehnte auf die Philosophie, sieht man sich einer vergleichbaren Sachlage gegenüber. Die Begriffe Narration, narrativity, narrativ, Erzählungen) und Erzählen werden immer häufiger verwendet, da sie z. B. angesichts des Verlustes traditioneller Bindungen, des Schrumpfens des Raums und der Zeit, der weltweiten Vernetzung und der Herrschaft der reinen Information Anknüpfungspunkte bieten, von denen aus Gegen- und Neuentwürfe entstehen können, die denkerische Alternativen zu diesen Entfremdungstendenzen darstellen. So wichtig diese Entwürfe angesichts der Herausforderungen unserer Zeit auch sein mögen, sind sie allerdings ebenfalls grundsätzlich und nüchtern zu prüfen. Nur dann kann es letztlich vermieden -
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Meuter, Norbert, Geschichten erzählen, Geschichten analysieren. Das narrativistische Paradigma in den Kulturwissenschaften, S. 143-144, in: Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, hrsg. von Jaeger, Friedrich / Straub, Jürgen, Stuttgart / Weimar 2004, S. 140-155.
Vgl. dazu den „bibliographischen Kommentar" von Nicole Thiemer im „Anhang" dieses Bandes.
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werden, in den Sog einer Art Erzähleuphorie
zu geraten, in der narrative Ansätze zum Allheilmittel gegen zeitgenössische Entfremdungsprozesse hochstilisiert werden, im Zuge dessen deren Grenzen (aber auch Möglichkeiten) aus dem Blickfeld entschwinden. Der vorliegende Sammelband versteht sich als Chance, das Problemfeld Ethik und Narrativität aus unterschiedlichen Perspektiven auf dem neuesten Stand der Forschung kritisch und vorurteilsfrei zu betrachten. Es konnten dabei Autorinnen und Autoren gewonnen werden, die durch besondere Forschungsleistungen zu ihrer Themenstellung hervorgetreten sind und sich als exzellente Kenner bzw. Kennerinnen der jeweiligen ,Materie' erweisen. Bei dieser Kooperation des Expertenwissens war die Hoffnung leitend, dass eine Intensität bei der Aneignung des Problemfeldes gewonnen werden kann, die durch eine Einzelleistung nicht zu erzielen ist. Auf diese Weise soll der Boden bereitet werden, um gemeinsam einen Schritt weiter hin zu einem tieferen Verständnis einer narrativen Ethik gehen zu können, die sich den Herausforderungen unserer Zeit angemessen zu stellen vermag. Die missverständliche Wendung ,narrative Ethik' gehört etwa im Unterschied zur allgemein akzeptierten Unterscheidung zwischen normativer Ethik, deskriptiver Ethik und Metaethik nicht zum gängigen, begrifflich-verbreiteten Instrumentarium in der philosophischen Forschung. Zwar gibt es bereits wie der „bibliographische Kommentar" von Nicole Thiemer im „Anhang" belegen kann einige Untersuchungen, die explizit diese Wendung ins Zentrum rücken, allerdings fehlt in der Philosophie eine etablierte Begriffsbestimmung, auf die man sich zunächst wie selbstverständlich beziehen kann. Um dennoch ein erstes Verständnis der Wendung ,narrative Ethik' gewinnen zu können, ist es sinnvoll, drei prinzipielle Lesarten dieser Wendung voneinander abzuheben: In einer ersten Lesart kann das Adjektiv ,narrativ' dazu dienen, die Art und Weise, in der die Ethik, die dabei verkürzt gesagt als Wissenschaft vom sittlichen Handeln des Menschen verstanden wird, zu bestimmen. ,Narrativ' würde in dieser Lesart den Vollzug der Reflexion auf moralische Phänomene und Normen oder auch den der Klärung der sprachlichen Bedeutung wertender Begriffe charakterisieren. Das heißt, dass das Adjektiv ,narrativ' in jener Lesart die Weise des Redens, Denkens bzw. Schreibens über Gegenstände auf ethischem Feld benennen würde. Narrativ würde aus dieser Sicht bedeuten, dort erzählende Texte, gleichgültig welcher epischer Gattung sie jeweils angehören, zu verwenden, um ausschmückend, illustrierend oder auch veranschaulichend das durch die Ethik zu prüfende moralische Phänomen in den Blick zu nehmen, wo dem Wissenschaftscharakter entsprechend eine begriffsanalytisch ,saubere' Sprache gefordert wird. Diese Lesart führt daher zwangsläufig in die Irre einer Contradictio in adjecto, da der in ihr zugrunde gelegte, gleichsam ,gesetzte' Wissenschaftscharakter einer Ethik im Widerspruch zu einem narrativen Vollzug steht. Zwar könnte, von hier aus gesagt, eine Ethik narrative Elemente zum Beschreiben moralischer Phänomene verwenden, allerdings be-
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Möglichkeiten
und
Grenzen
einer narrativen
Ethik
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steht ihre Aufgabe, wenn man sie als Wissenschaft bestimmen will, in erster Linie darin, das Gewohnte und sittlich Gegebene kritisch zu analysieren und allgemein gültige Aussagen auf methodisch-überprüfbarem Weg zu formulieren. In einer zweiten Lesart kann die Aufgabe der narrativen Ethik darin bestehen, moralische Phänomene und Zusammenhänge, die in narrativer Weise vermittelt sind, kritisch zu untersuchen. In dieser Sicht können Geschichten und Erzählungen, aber z. B. auch Anekdoten und Märchen, ja überhaupt Texte, in denen der handelnde Mensch in unterschiedlicher Hinsicht von Relevanz ist, auf den ihnen immanenten moralischen Gehalt untersucht werden.3 Erzählungen können hier, um an eine schöne und bekannte Formulierung Paul Ricœurs anzuknüpfen, als „Forschungsreisen durch das Reich des Guten und Bösen"4 verstanden werden, die uns die Fülle der Lebenswirklichkeit verdichtet und eindringlich vor Augen führen. In dieser Lesart verweist das Wort narrativ auf das weite Untersuchungsfeld der Geschichten und Erzählungen, das mit der Ethik als philosophischer Reflexion auf die in ihnen enthaltenen moralischen Implikationen einhergeht. Genauer gesagt: Literarische Lebensgeschichten werden dergestalt „Medium der ethischen Reflexion und Medium für die ethische Reflexion"5, die uns, wie Dietmar Mieth in seiner wichtigen und Weichen stellenden Untersuchung Dichtung, Glaube und Moral herausgearbeitet hat, „ethische Modelle" vor Augen führen, die „Korrekturen der defekten Realität sittlichen Bewusstseins und des Verhaltens" ermöglichen.6 Die narrative Ethik macht aus dieser Perspektive Ernst damit, dass die Ethik auf Modellierung, Formung und fiktive Gestaltung der Lebenswelt durch Erzählungen angewiesen ist, mittels derer sie spezifische, narrativ vermittelte Zugänge zu moralischen Phänomenen gewinnt, die sie dann, z. B. in ethischen Argumentationen, überprüfen kann. In einer dritten Lesart wird sichtbar, dass die Ethik eine narrative Dimension beinhaltet, da diese Dimension die primäre Zugangsweise zum handelnden Menschen darstellt. Das meint, dass das Handeln und (Er)Leben des Menschen sich mittels der Narrativität deuten lässt, insofern man in ihm eine narrative Struktur zu erkennen glaubt. Innerhalb dieser Lesart kann man sich in zwei Perspektiven bewegen. Zum einen in einer Grundlegungsperspektive oder auch anthropo-ontologischen Fundierungsperspektive des Pränarrativen. In ihr wird, wie dies am entschiedensten Wilhelm Schapp getan hat, der Mensch in einem nicht essentialistischen Sinne als ein Wesen gefasst, das von vornherein in Geschichten verstrickt ist. Menschsein heißt, so könnte man die Gleichung aufstellen, konstitutionell in Geschichten verstrickt sein, heißt: narrativ sein, heißt: sich -
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gehören auch die literarischen Formen des Philosophierens; exemplarisch können Seneca, Boethius, die frz. Moralisten, Friedrich Nietzsche, Ernst Bloch und Peter Sloterdijk angeführt werHierzu den. 4
6
Ricœur, Paul, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 201. Haker, Hille, Moralische Identität. Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der „Jahrestage" von Uwe Johnson, Tübingen / Basel 1999, S. 9. Vgl. Mieth, Dietmar, Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik. Mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, Mainz 1976, S. 59.
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durch und durch als narrativ strukturiert erweisen. Aus dieser Sicht ist der Mensch „nicht der Mensch von Fleisch und Blut. An seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf als sein Eigentliches."7 Zum anderen kann man sich innerhalb einer solchen Lesart in einer Handlungs- und Lebensperspektive bewegen. Während die eine Richtung, für die exemplarisch Louis O. Mink und Hayden White genannt werden können, Erzählen als nachträgliche mündliche und / oder schriftliche Formung des nicht-narrativ sich vollziehenden und nicht-narrativ strukturierten Lebens fasst, erkennt die andere Richtung, der beispielsweise Alasdair Maclntyre und David Carr angehören, im Handeln und Leben selbst bereits narrative Strukturen. So leben wir alle, wie wir in Anlehnung an Maclntyre sagen können, in unserem Leben Erzählungen aus und verstehen wiederum unser Leben mit Hilfe dieser Erzählungen, die wir ausleben. Kurz und prägnant gesagt: „Geschichten werden gelebt, bevor sie erzählt werden außer in Romanen."8 Beide Richtungen werden, was hier nicht verfolgt werden kann, von Paul Ricœur in sein dreigliedriges Mimesis-Modell der Präfiguration, der Konfiguration und der Refiguration integriert und dabei durch die Perspektive des Rezipienten erweitert.9 Auf dem Hintergrund dieser vorläufigen Konturierung einer narrativen Ethik können wir uns den Beiträgen des vorliegenden Bandes zuwenden, die sich innerhalb des Spannungsfeldes der zweiten und dritten Lesart bewegen. Es wäre nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern sogar überheblich, auf wenigen Seiten einer Einleitung das vermeintliche .Ergebnis' des Bandes zusammenfassen zu wollen. Denn die Differenzierungen, Abwägungen, Begriffsbestimmungen und Argumentationswege innerhalb der Beiträge bleiben dabei außer acht, wodurch die folgenden Ausführungen ihnen gegenüber gar nicht anders als vereinfachend und unscharf sein können. Was aber getan werden kann, ist die Fragen und / oder Thesen, die die Beiträge hinsichtlich ihrer Themenstellung jeweils aufgeworfen und formuliert haben, hervorzuheben. Vielleicht können auf diese Weise die Problembereiche, die das Spannungsfeld Ethik und Narrativität beinhaltet, sichtbarer werden und die Konturen und Facetten einer narrativen Ethik deutlicher zum Vorschein treten. -
Gegliedert ist der Band in die drei Hauptteile: Grundlagen Grundpositionen Anwendungen Der erste Hauptteil Grundlagen rückt primär
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in systematisch-historischer Perspektive zentrale Strukturelemente einer narrativen Ethik das sind das narrative Selbst, die Narrativität, die Handlung, die narrative Zeit, die Geschichte / Lebensgeschichte und -
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Schapp, Wilhelm, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 42004, S. 105. Maclntyre, Alasdair, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1995, S. 283. Siehe dazu den Beitrag
von
Peter Welsen in diesem Band.
Möglichkeiten
und
Grenzen
einer narrativen
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Ethik
die menschliche Erfahrung ins Zentrum der Untersuchung. Leitend ist dabei der Gedanke, dass jene Strukturelemente Kategorien einer narrativen Ethik sind, deren Bestimmung, inhaltliche Ausgestaltung und Prüfung zugleich mitten in eine narrative Ethik hineinführen. Da jeder Autor vom eigenen Ansatz aus diese Strukturelemente in grundsätzlicher und komplexer Weise betrachtet, und zwangsläufig dabei auch auf andere Strukturelemente zu sprechen kommt, spiegeln und ergänzen sich die Beiträge in der Zusammenschau nicht nur untereinander, sondern lassen auch die Vielzahl von Facetten, Nuancen, Aspekten innerhalb der Grundlagen des Spannungsfeldes zutage tre-
ten.
In dem
Beitrag „Das narrative Selbst und die Virulenz des Nicht-Erzählten" von Wolfgang Kraus wird sichtbar, dass der Begriff des narrativen Selbst mit einer These über dessen Konstruktion einhergeht, nämlich derjenigen, dass dieses Selbst erzählend hervorgebracht wird. Seinen Fokus richtet Kraus dabei auf zwei aktuelle Fragen. Die erste betrifft die nach der „Reichweite des Begriffs eines narrativen Selbst". Diese Frage ist grundlegend, da durch sie die Übereinstimmung aber auch Differenz der Begriffe des Selbst und des narrativen Selbst geklärt werden soll. Die zweite Frage geht dem Begriff der Selbsterzählung nach. Dieser kann im Sinne einer „großen" Selbsterzählung der eigenen Biographie gefasst werden, oder aber und das ist das Verständnis von Kraus sich auch an „small stories" orientieren, wodurch die Konstruktion des Selbst als ein „vielgestaltiges performatives Unternehmen" in den Blick geraten kann. Der eigentliche Beweggrund dieser Fragen tritt für Kraus dabei allerdings in einer weiteren Frage hervor: es ist die „Frage nach einem Jenseitigen Selbst": jenseits der Narrativität, jenseits einer „großen Erzählung" und jenseits des Erzählten." Norbert Meuter macht es sich in seiner Untersuchung „Identität und Empathie. Über den Zusammenhang von Narrativität und Moralität" zur Aufgabe, die Begriffe Narrativität und Moralität zu bestimmen, und zwar in der Weise, dass Zusammenhänge zwischen ihnen zutage treten können. Dabei ist für Meuter der Begriff der Narrativität dazu geeignet, die zentralen Merkmale einer Geschichte, die als ein „sich selbstorganisierender Strukturzusammenhang von Sinn und Zeit" gedeutet werden kann, zu fassen, wobei selektiv die Merkmale Sinn, Zeit, Unwahrscheinlichkeit, Stabilität, Identität und Selbstorganisation skizziert werden. Und mittels des Begriffs der Moralität wird es möglich, die Emotionen in ihrem Eigenrecht in den Blick zu nehmen, da sie die Basis der Moral darstellen, ohne darüber allerdings den Blick für die Bedeutung diskursiver Kognitionen und Argumentationen zu verstellen. Wendet man nun den Begriff der Narrativität nicht -
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auf erzählte Geschichte an, sondern fasst ihn auch als Organisationsprinzip in der Lebenspraxis mit ihren Lebens-, Handlungs- und Erfahrungsvollzügen, dann wird Narrativität als ein Grundbegriff der Handlungstheorie und Moralphilosophie sichtbar. Verfolgt man mit Meuter dessen Leitthese, dass Geschichten sowohl Identität als auch Empathie „ermöglichen, hervorbringen, stabilisieren, dynamisieren", kann diese moralische Doppelstruktur als „der zentrale Grundstein einer narrativen Ethik" sichtbar werden. nur
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László Tengelyi betont in seinen Überlegungen zu einem „narrativen Handlungsverständnis" zunächst einen Doppelsinn, der dem Wort ,Handlung' zukommt. So verweist die Handlung in einer ersten Annäherung einerseits auf selbstinitiierte Ereignisse in der Welt und andererseits benennt sie die „Fabel" bzw. die „Fabelkomposition" und damit den Kerngehalt erzählter Geschichten. Eine Präzisierung dieses vorläufigen Ausgangspunktes lässt sich im Zuge einer narrativen Handlungsinterpretation, die von der Geschichtserzählung aus auf die Handlung blickt, vornehmen. Betrachtet man nämlich den Handelnden sowohl als Agierenden als auch als Leidenden, wird der zunächst hervorgehobene Sinn von Handlung problematisch, da nun die Frage auftaucht, wieweit wir uns die Urheberschaft von Handlungen selbst zuschreiben können. Daher macht es sich Tengelyi in einem ersten Schritt unter Rückgriff auf Ergebnisse der analytischen Handlungstheorie zur Aufgabe, Gründe anzuführen, die für eine Handlungszuschreibung sprechen. Und im Übergang zu einer hermeneutisch angelegten Handlungsphänomenologie erfolgt schließlich in einem zweiten Schritt eine Korrektur dieses vorläufigen Handlungsverständnisses, da ein Stück Lebensgeschichte dann zur Handlung wird, wenn „es sich zum Kern einer erzählten Geschichte verdichtet". Für sie hat der Mensch in der ethischen Dimension der Handlung die Urheberschaft zumindest bei seinen absichtlichen Handlungen und ist zur Rechenschaftsablegung verpflichtet. In dem Beitrag „Vom Nutzen und Nachteil der Erzählung für das Leben" rückt Dieter Thomä die Idee der Lebensgeschichte in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Dabei schlägt er sich nicht einseitig auf die Seite der Gegner oder Befürworter des „Junktims von Leben und Erzählung", sondern versucht vielmehr, in „Form eines Ordnungsrufs", der Frage nachzugehen, „inwieweit sich das Leben des Einzelnen zu einer Erzählung fügt". Um diese Frage differenziert beantworten zu können, nimmt Thomä zunächst eine Systematisierung der Begründungsstrategien innerhalb der Erzählungsdebatte vor, und das heißt, er hebt unterschiedliche Perspektiven auf die Lebensgeschichte voneinander ab, nämlich die technische, die ideologische und die deontologische Perspektive. Ohne zunächst eine kritische Kommentierung vorzunehmen, erläutert Thomä in einem ersten Durchgang diese drei Perspektiven, innerhalb derer je spezifisch vom Guten in Bezug auf das Leben als Erzählung gesprochen wird. In einem zweiten Durchgang achtet Thomä schließlich, wie es der Titel seines Beitrages anzeigt, auf die Grenzen der Lebensgeschichte und untersucht, inwieweit der Nutzen der Erzählung für das Leben sich schließlich in einen Nachteil umkehren kann. Vor jenem Hintergrund wird in einem dritten Durchlauf eine positive Bestimmung der Erzählung in Blick auf diese unterschiedlichen Perspektiven vorgenommen, was gleichbedeutend damit ist, dass Thomä in kritischer Absicht den Nutzen der Erzählung für das Leben herausarbeitet, also das rechte Maß des Einsatzes der Erzählung für das Leben zu bestimmen versucht. In seinen Ausführungen „Menschliche Erfahrung: Gewalt begegnet dem Text des Erzählens (Alexander und Schehrezâd)" nähert sich Kurt Röttgers dem Begriff des Erzählens im Kontext menschlicher Erfahrung von einer „markante(n) Grenze" her an, die in dem Phänomen der Gewalt vorzufinden ist. Gewalt wird dabei so die Hauptthese -
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und
Grenzen
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zunächst als sinnlose, radikale, pure Gewalt gefasst, die auf die Frage nach dem Warum' keine Antwort zu geben vermag. Diese Form der Gewalt führt unwiderruflich zum Ende des kommunikativen Textes und macht als Gewaltandrohung die permanente Bedrohtheit der Erzählsituation sichtbar. Anhand zweier „prototypischer Formen", die sich an Alexander dem Großen und Schehrezâd verdeutlichen lassen und eine Aufforderung zum Tätigsein bzw. eine Aufforderung zum Erzählen darstellen, wird die Frage nach dem inneren Zusammenhang zwischen der Performanz des Textes (dasjenige, „was der Text in seinem Sprechen tut") und seinem Thema (dasjenige, „worüber der Text in seinem Sprechen redet"), verfolgt. Röttgers Überlegungen münden schließlich in ein mit guten Gründen gestütztes Plädoyer ein, Geschichten über Gewalt und (in der Verallgemeinerung) andere unmoralische Geschichten zu erzählen, um dadurch letztlich die Simulationsbühne moralischer Experimente zu bewahren und eine „Ethik des Erzählens" möglich werden zu lassen. Im zweiten Hauptteil Grundpositionen werden primär in historisch-systematischer Perspektive Hauptgewährsmänner' einer narrativen Ethik, das sind Piaton und Aristoteles, Walter Benjamin, Wilhelm Schapp, Paul Ricœur und Alasdair Maclntyre, hinsichtlich der Problemstellung untersucht. Hauptgewährsmänner heißt, dass sie jeweils für Positionen stehen, auf die man sich innerhalb dieses Spannungsfeldes stets von neuem bezieht, unabhängig davon, ob dies affirmativ oder kritisch erfolgt. Und es sind Hauptgewährsmänner, weil sie selbst als originär Philosophierende einen Reichtum an Bezügen zu anderen Positionen hergestellt haben, durch die weitere wichtige Positionen in den Blick geraten können. So richtet Klaus-Dieter Eichler das Hauptaugenmerk seiner Ausführungen auf die brisante ,Stelle' innerhalb der abendländischen Philosophie, die als Ausgangspunkt einer, wie er unterstreicht, „Delegitimierung des Narrativen" angesehen werden kann, nämlich auf Piaton, und untersucht die Strategien, die dieser im Umgang mit Erzählungen verfolgt. Von hier aus lenkt Eichler seinen Blick nicht nur auf Homer und das Verständnis von Erzählung, das bei ihm aufgewiesen werden kann, sondern immer wieder auch auf Aristoteles, um Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen zu Piaton kenntlich machen zu können. Beruhte das Wissen des Erzählers in den epischen Gesängen als Wissen der Überlieferung letztlich auf Augenzeugenschaft, zerstört Piaton dieses Vertrauen durch seine Forderung nach einem rational ausweisbaren Wissen. Die Forderung wird begünstigt durch die schriftliche Überlieferungspraxis, bei der, wie Eichler kenntlich macht, „das Interesse an einzelnen Aussagesätzen und deren logischen Verknüpfungen (wächst), die nicht mehr nur kontext- und situationsspezifisch ,wahr' sind, sondern als schriftlich fixierte Aussagen in jeder zukünftigen Rezeptionssituation wahr und verständlich bleiben sollen." Als Philosoph, als der Piaton sich versteht, ist ein philosophischer Dialog für ihn auch keine bloße Wiedergabe eines historisch verbürgten Geschehens, und es ist auch keine bloße Kundgabe philosophischer Einsichten. Vielmehr wird es zu einer Nachahmung des mündlichen Philosophierens des Sokrates', das wie,
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derum den Leser zur Nachahmung der theoretischen Haltung animiert, die in der Gestalt des Sokrates zum Vorschein tritt. So repräsentieren die Dialoge Piatons „keine Protokolle von wirklichen, sondern sind fingierte Darstellungen von möglichen Gesprächen". Sven Kramer untersucht in seinem Beitrag den inneren Zusammenhang zwischen „Ethik und Narrativität" im Denken von Walter Benjamin. Eine der Schwierigkeiten, der sich Kramer dabei gegenübersieht, besteht darin, dass Benjamin weder eine Moralphilosophie noch so etwas wie eine in sich abgeschlossene Theorie des Erzählens vorgelegt hat. Stattdessen findet sich eine Vielzahl von wichtigen Überlegungen zum Erzählen verstreut in seinen unterschiedlichen Schriften, die zumeist aus kleinen Formen, wie z. B. den Aphorismen, dem Denkbild und dem Essay, bestehen. In seinen Ausführungen wendet sich Kramer zunächst Fragen zu, die das Erzählen in Bezug auf die Literatur nach sich ziehen und daran anschließend Fragen, die aus dem Bezug zur Geschichtsschreibung auftreten. Dabei wird sichtbar, dass Benjamins Aufzeigen des Ende des Erzählens alten Typs nicht mit einem Eintreten seiner Rückkehr bzw. Wiederbelebung einhergeht. Vielmehr geht es ihm um den Entwurf eines neuen Begriffs des Epischen in einer Darstellung der Welt, die gerade nicht,gerundet' ist, sondern in der Integration diverser Perspektiven fragmentarisch bleibt. Auch in der Geschichtsdarstellung in kritischer Absetzung gesagt darum gehen, „das Kontinumuss es nach Benjamin um der Geschichte aufzusprengen" und nicht am Verständnis von Wahrheit als einer unveränderlichen Größe festzuhalten. So ist im Überblick angesichts von Benjamins verstreuten Äußerungen zum Thema Narrativität schließlich zu erkennen, dass es der Bezug zur ethischen Sphäre bzw. Dimension, der das Politische und mehr oder weniger deutlich auch das Theologische umfasst, der Richtung gebende Bezug ist, der seinem Denken „seinen Antrieb und seine Richtung" gibt. Die Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps steht in Thomas Rolfs Ausführungen „Die Geschichte steht für den Mann" mit dem Untertitel „Ethische Aspekte der narrativen Repräsentation" im Fokus seiner Überlegungen. Allerdings geht es ihm dabei nicht um eine umfassende gleichsam flächige Darlegung, vielmehr wählt er die Repräsentation, d. i. die spezifisch menschliche Fähigkeit, die „stumme Erfahrung" in kognitiven, sprachlichen oder bildlichen Sinnstiftungen zu transzendieren und in eine „sprechende Erfahrung" zu verwandeln, als Leitfaden, die in der Spielart der narrativen Repräsentation, also der „erzählende(n) Darstellung gelebten Lebens", in die Geschichtenphilosophie hineinführt. Bei der narrativen Repräsentation kann der Bezug zwischen der erlebten Realität und der erzählten Erfahrung in einer eher realistischen oder eher fiktionalistischen Weise des Geschichtenerzählens bestehen. Während die realistische Weise von einem Abbildverhältnis ausgeht, durch welches die Geschichte eng an die Objektivität von Ereignissen gebunden wird, lässt in der fiktionalistischen Weise der Mensch seiner Phantasie freien Lauf, wodurch sich die durch die Einbildungskraft geformten Ereignisse von Tatsachen lösen. Situiert man, wie Rolf weiter herausarbeitet, innerhalb dieses Spannungsgefüges von Realismus und Fiktionalismus den Bedeutungsgehalt der Geschichte, wird ein ethisch-normativer Problemraum eröffnet, der durch die -
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und
Grenzen
einer narrativen
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beiden doppelten Verpflichtungen des Geschichtenerzählers die Wahrheitspflicht und die Selbstartikulation strukturiert wird, die in der berühmten „Repräsentationsformel" von Wilhelm Schapp: „Die Geschichte steht für den Mann", prägnant ausgesprochen wird. Peter Welsen macht es sich in seinen Ausführungen zur Aufgabe, das Verhältnis von „Erzählung und Ethik bei Paul Ricœur", wie es bereits der Titel sprechend zum Ausdruck bringt, insbesondere in Ricceurs Schrift Das Selbst als ein Anderer darzulegen. Diese Aufgabe sieht sich zum einen der Schwierigkeit gegenüber, dass Ricœur zwar in dieser Schrift drei Abhandlungen als „kleine Ethik" bezeichnet, tatsächlich dabei aber, wie Welsen aufweist, „eine eigenständige, systematisch anspruchsvolle Ethik präsentiert", die „eine Vermittlung zwischen einem teleologischen und einem deontologischen Ansatz leistet". Darüber hinaus steht Ricceurs Ethik in seinem Werk nicht für sich abgesondert, sondern ist in vielfacher Weise mit den anderen Teilen verbunden und verwoben. Welsen versucht, Ricœurs subtile und höchst differenzierte Überlegungen zum Verhältnis der Ethik zur Erzählung dadurch gerecht zu werden, dass er zunächst im Kontext der diskutierten Schrift Stellung und Bedeutung beider herausarbeitet. Im Anschluss daran erläutert Welsen den Begriff des narrativ konstituierten Selbst, der bei Ricœur für die Erzählung und für die Ethik eine zentrale Relevanz besitzt, indem er u. a. die zwei Weisen seiner Identität, die Selbigkeit und die Selbstheit, voneinander abhebt und drei Arten der Mimesis, die Präfiguration, die Konfiguration und die Refiguration, unterscheidet und kennzeichnet. Dadurch wird es Welsen schließlich in einem tieferen Sinne möglich, einerseits die normative Dimension der Erzählung als auch andererseits die narrative Dimension der Ethik zu erörtern. In den Ausführungen „Das ,narrative Selbst' und das Problem der Verantwortung in Alasdair Maclntyres Der Verlust der Tugend' wird versucht, wie es im Titel bereits zum Ausdruck kommt, Maclntyres Verständnis des Menschen als eines „narrativen Selbst" darzulegen und es mit dessen spezifischem Verantwortungs-Verständnis zusammenzudenken. Um dies leisten zu können, wendet sich die Autorin zunächst der kritischen Seite seines Denkens zu, und das heißt, sie arbeitet Maclnytres kritische Konturierung des „demokratisierten Selbst" heraus, wie er es in der zeitgenössischen Grundhaltung des „Emotivismus" realisiert sieht. Der Emotivismus, „in dem alle wertenden Urteile oder genauer alle moralischen Urteile nur Ausdruck von Vorlieben, Einstellungen oder Gefühlen sind", findet seine soziale Verwirklichung idealtypisch repräsentiert in dem „reichen Ästheten", dem „Manager" und dem „Therapeuten". Auf dem Hintergrund dieser gleichsam als Kontrastfolie dienenden Ausführungen wendet sie sich Maclntyres positiv-bejahender Konturierung des narrativen Selbst zu, dem gerade kein substanzloser Charakter zugesprochen wird, da „dessen Einheit in der Einheit einer Erzählung ruht, die Geburt mit Leben und Tod wie die narrative Einleitung mit der Mitte und dem Ende verbindet." Diese Deutung des narrativen Selbst macht eine spezifische Sicht auf die Verantwortung möglich, die nicht abstrakt gefasst wird, sondern im Kontext von Geschichten zum Vorschein tritt. -
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In dem dritten Hauptteil Anwendungen werden innovative Versuche vorgestellt, dem formulierten Thema Rechnung zu tragen. Das heißt, hier kommen Autoren bzw. eine Autorin zu Wort, die das Thema weiterdenken und es originär auf verschiedenen Feldern, nämlich der narrativen Ethik als solcher, der Literaturethik, der theologischen Ethik, der Bioethik und der ökologischen Ethik anzuwenden versuchen. Da der Fokus dieses Bandes auf dem Spannungsfeld Moralität und Narrativität liegt, wurden exemplarisch solche Anwendungsfelder ausgewählt, bei denen dies von besonderer Relevanz ist. Peter Kemp, dessen Forschungen zur narrativen Sprache seit mehr als zwanzig Jahren im Zusammenhang mit dem Entwurf einer neuen Ethik angesichts katastrophaler Bedrohungen in unserer Zeit stehen, unternimmt in dem vorliegenden Beitrag „Ethics and the Three Levels of Narrativity" den Versuch, drei verschiedene Arten von Geschichten voneinander abzuheben, die in unterschiedlicher Hinsicht für eine narrative Ethik von Relevanz sind. Seine Überlegungen haben daher eine Art Brücken- und Scharnierfunktion, da sie in ihrem prinzipiellen Charakter die Verbindung zu den beiden vorangegangenen Teilen herstellen können und darüber hinaus den Blick für die Anwendungen öffnen. Menschliches Leben kann, wie Kemp heraushebt, in der „life-story", der „arch-story" und der „basic-story" erzählt werden. Die „life-story" bringt zum Vorschein, an was wir uns von unserem Leben, allein oder zusammen mit anderen, erinnern können. Sie ist wichtig, da in ihr unsere Erfahrungen und Handlungen mittels der narrativen Sprache erfasst werden können. Dazu wäre die technisch-instruktive Sprache nicht in der Lage, die zwar das Funktionieren einer Maschine beschreiben kann, nicht aber, wie menschliches Leben, in seiner fragmentarischen Natur zu leben ist. In der sog. „arch-story of life" werden typische Charaktere und Grundzüge sichtbar, die zum besseren Verständnis der ,conditio humana' dienen und dem Einzelnen verborgene, treibende Urkräfte vor Augen führen. Als ein Beispiel einer solchen Urgeschichte, wie man den Ausdruck „arch-story" vielleicht am besten übersetzen kann, führt Kemp die Geschichte von König Ödipus an, wie sie von Sigmund Freud in seiner „Traumdeutung" interpretiert wird, da in ihr die immer wiederkehrende Auflehnung der Kinder gegen ihre Eltern prägnant gefasst wird. Eine Ethik und das ist die These Kemps setzt sowohl die „life-story" als auch die „arch-story" voraus, baut aber angesichts der Auseinandersetzung mit dem Guten bzw. Bösen auf der „basic-story" auf, die als Modell für das gute Leben den Menschen für dieses gute Leben in Gemeinschaft mit anderen öffnet. Dietmar Mieth, der die Wendung ,narrative Ethik' in Anlehnung an den Ausdruck ,theologische Ethik' 1976 in der oben bereits erwähnten Untersuchung Dichtung, Glaube und Moral eingeführt hat, arbeitet in dem vorliegenden Beitrag „Literaturethik als narrative Ethik" insbesondere ethisch relevante Aspekte der Literaturrezeption heraus, ohne darüber zu vergessen, den Blick auch auf die Frage nach dem Gewinn der Ethik für die Literaturwissenschaft zu richten. Der gemeinsame Gegenstand einer ethisch-literarischen Kommunikation sind für Mieth „handlungsrelevante Phänomene" und als solche nicht die Ethik, sondern das „Ethische". Von zentraler Bedeutung ist dabei sein -
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Möglichkeiten
und
Grenzen
einer narrativen
Ethik
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Aufweis, dass die Literaturethik als narrative Ethik „ethische Modelle" konstituiert, wobei Mieth zufolge Literaturethik nicht nur „im Sinne der Möglichkeiten einer ethischen
Literaturrezeption"
an -
diesem Verständnis orientiert
er
sich
primär
sondern auch -
„im Sinne einer Ethik literarischen Handelns" verstanden werden kann. Das „ethische Modell", das einen „Interpretationsbegriff in der Literatur" darstellt und Inbegriff einer zitierbaren Kurzform „eines ethisch relevanten Musters" ist, führt eine ethisch höchst relevante Situation vor Augen, die die Chance bietet, über Lebensmöglichkeiten nachzudenken. Es ist dabei pränormativ, nicht normativ, „insofern es die Autonomie, die persönliche Wahl und Entscheidung respektiert". Es bietet eine fragmentarische Antwort auf Grundfragen, wie z. B. die Theodizeefrage nach dem Sinn des Übels, auf die sich der reflektierende Mensch einlassen kann. Eine narrative Ethik, die diese ethischen Modelle konstituiert, verfolgt daher ein „pränormatives Konzept der Anamnese und Therapie", wodurch sie sich nicht gegen eine normative Ethik wendet, sondern diese er-
gänzt. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Narrativität und Vernunft rückt Johannes Fischer in seinem Text „Vier Ebenen der Narrativität" mit dem Untertitel „Die Bedeutung der Erzählung in theologisch-ethischer Perspektive" ins Zentrum seiner Überlegungen. Diese Frage, die zugleich eine Grundfrage der Ethik ist, lässt sich mit Fischer folgendermaßen fassen: „Ist die Erkenntnis des Guten, Richtigen und Gebotenen narrativ fundiert oder beruht sie auf vernünftiger Überlegung, die unabhängig ist von dem Einfluss von Narrativen?" In seinen Ausführungen, die zwar aus der Perspektive theologischer Ethik formuliert sind, dessen ungeachtet aber ebenso für jede nichttheologische Ethik von Relevanz sind, argumentiert Fischer für die These, dass sittliche Erkenntnis narrativ fundiert ist. Um dies zu begründen, unterscheidet Fischer vier Ebenen der Narrativität, die in der Weise aufeinander bezogen sind, dass die jeweils vorausgehende die nachfolgende voraussetzt, wodurch die letzte, vierte Ebene die „eigentlich fundamentale" für die theologische Ethik ist. Während es die erste Ebene mit der „narrativen Begründung" zu tun hat, mittels derer wir uns im Alltag der Richtigkeit von Urteilen, Handlungen oder Entscheidungen vergewissern, treten auf der zweiten Ebene der „narrativen Prägung der moralischen Perzeption" narrative Grundmuster in den Blick, die der „narrativen Tiefenstruktur der Lebenswirklichkeit" immanent sind und auf die sich narrative Begründungen beziehen. Die dritte Ebene der Narrativität weist die „narrative Orientierung der Lebensführung" auf, genauer gesagt, die narrative Orientierung in Bezug auf die christliche Lebensführung, bei der keine Individuen, Situationen und Handlungen im Zentrum der Betrachtung stehen, sondern etwas, was mit Fischer als „Selbstevidenz der Gestalt des Lebens" umschrieben werden kann. Schließlich hat es die vierte Ebene mit der „narrativen Symbolisierung des Lebens als des Deutungshorizontes menschlicher Erfahrung" zu tun, die für die theologische Ebene im Blick auf die sittliche Orientierung die grundlegende ist.
20
Karen Joisten
Hille Haker geht es in ihren Ausführungen zur narrativen Bioethik mit dem Untertitel „Ethik des biomedizinischen Erzählens" über die Bestimmung der Aufgabe der Bioethik hinaus, „um eine Bestandsaufnahme und um die Verteidigung des narrativen Ansatzes in der Methodenvielfalt der ,Bioethik'", wobei sie Bioethik in einem spezifischen Sinne als „Biomedizinethik" versteht, der heutzutage insbesondere die „Rolle eines ,Mediators' zwischen Forschung und Öffentlichkeit" zukommt. Will die Bioethik eine kritische Distanz zu (ihren eigenen) Geschichten wahren, mit deren Hilfe sie diese Funktion ausübt oder sie ausgeübt wird, kann sie im Zuge ihrer Theoriebildung nicht darauf verzichten, als narrative Bioethik die Aufgabe wahrzunehmen, „eine selbstreflexive Analyse des Sprechens über die Neuen Technologien und deren Narrative zu entwickeln". Den größten Raum dieser narrativ-bioethischen Analysen, die dabei oft einen patientenorientierten Anspruch haben, nehmen die Erzählungen von Patienten ein, die durch die Diagnose einer Krankheit oder aber durch deren Verlauf in eine Krise geraten sind, die sich auf ihre Identitätskonzeption, das Bewältigen ihres Alltags und auf enge Beziehungen zu Mitmenschen auswirkt. Allerdings erstreckt sich das Erzählen, wie Haker in ihrem Überblick aufweist, letztlich auf viele unterschiedliche Ebenen im biomedizinischen Alltag, letztlich auf so viele, wie es Handelnde / Akteure gibt. Dietmar Hübner legt seinen Überlegungen zur „ökologischen Ethik und narrativen Ethik" die These zugrunde, dass ökologische Problemlagen und Themen „originäre Verbindungen zu narrativen Fragestellungen ausbilden könnten". Allerdings geht es ihm in seinem Beitrag nicht um die Anwendung bzw. Erprobung seiner Überlegungen auf ökologischen Problemfeldern, sondern um den Aufweis speziell ethischer Strukturen von Narrativität, wie umgekehrt den von speziell narrativen Strukturen in der Ethik. Und es geht ihm auf diesem Hintergrund um die Frage nach einer narrativen Ethik, die er im Rahmen eines 3-Stufen-Modells unterschiedlicher ethischer Perspektiven als dritte Stufe zu fassen versucht. Während auf der ersten Stufe der präskriptiven Ethik die Handlungen im Horizont ihrer möglichen Folgen betrachtet werden, wodurch ihr „moralischer Ort" gewissermaßen an der Seite des Entscheiders vor der Handlung liegt, werden auf der Stufe der retributiven Ethik, die ihren „moralischen Ort" nach der Handlung hat, über die möglichen Folgen von Handlungen hinaus auch die intendierten Folgen einbezogen. Auf der dritten Stufe der askriptiven Ethik nimmt man mittels eines moralischen Erzählers die Bedeutung von Handlungen in moralischer Perspektive im Licht der tatsächlichen Folgen in den Blick. Der „moralische Ort" liegt hier sowohl nach der Handlung als auch nach der Folge, und es treten dabei auch solche Wirkungen zutage, die der Handelnde nicht vorhergesehen hat. Hübner zufolge werden künftige Generationen in den Perspektiven dieser drei Stufen „die Geschichten etwa der Artenvernichtung und des Klimawandels erzählen, als nicht notwendige Möglichkeiten eines freien Tuns, mit individuellen Intentionen unterschiedlicher Akteure, in partikularen Deutungen aus retrospektivem Blickwinkel."
Möglichkeiten
und
Grenzen
einer narrativen
Ethik
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die drei Hauptteile des Buches können, die Grundkategorien innerhalb der Grundlagen, die Hauptgewährsmänner innerhalb der Grundpositionen und die unterschiedlichen Felder, auf denen eine narrative Ethik Anwendung findet, als brisante Knotenpunkte hervortreten, von denen aus Bezüge zu anderen Kategorien, Positionen und Feldern hergestellt werden können und müssen. Und genau dies wurde in den einzelnen Beiträgen geleistet. Denn in seiner Fokussierung auf die ihm zugrunde liegende zentrale Themenstellung hat jeder dennoch den Blick geweitet, um die Relevanz des eigenen Themas in seiner Bezugnahme auf weitere Kategorien, Positionen und Felder deutlicher zum Vorschein treten zu lassen. So sind eine Vielzahl von unterschiedlichen Wegen hin zur narrativen Ethik beschriften worden, die sich häufig überschneiden, gabeln, kreuzen und in diesem Insgesamt deren Möglichkeiten und Grenzen aufscheinen lassen. Der „bibliographische Kommentar" von Nicole Thiemer im „Anhang" dieses Bandes setzt sich explizit vom geläufigen Verständnis einer Bibliographie als chronologische oder alphabetische bzw. thematische Auflistung relevanter Forschungsliteratur ab. Sie verfolgt stattdessen das Ziel, „ohne Anspruch auf Vollständigkeit kommentierend in das Forschungsfeld einzuführen, indem die unterschiedlichen Zugangs- und Umgangsweisen mit Narrativität für ethische Fragen und Belange berücksichtigt werden." In der Orientierung an der Gliederung des vorliegenden Bandes bietet ihr bibliographischer Kommentar die Chance, die Möglichkeiten und Grenzen des Bandes selbst zu erkennen, und dessen Ergebnisse in künftigen Forschungsleistungen weiter auszudifferenzieren.
Überblickt
man
-
Dieser Sonderband der Deutschen Zeitschrift für Philosophie hätte ohne finanzielle und tatkräftige Unterstützung verschiedener Kräfte wohl nicht realisiert werden können. Und daher ist der Dank für mich auch keine Handlung, die rasch hinter sich zu bringen ist, sondern Ausdruck einer Verbundenheit, die ich angemessen zur Sprache bringen möchte. Danken für die finanzielle Zuwendung zur Bearbeitung der Manuskripte möchte ich dem Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrum Mainz-Trier (HKFZ), repräsentiert durch die beiden Professorinnen Frau Prof. Dr. Mechthild Dreyer und Frau Prof. Dr. Claudine Moulin. Und der Firma ProfiTemp Management GmbH mit seinem Sitz in Römerberg, die auf einem für sie fremden Terrain aktiv wurde und einen Druckkostenzuschuss gewährt hat. Danken möchte ich aber auch und insbesondere Frau cand. phil. Nicole Thiemer M.A., die mit der ihr eigenen fachlichen Kompetenz und wissenschaftlichen Sorgfalt nicht nur die Beiträge redaktionell bearbeitete, sondern mir immer wieder mit sachdienlichen Hinweisen zur Seite stand. Bisweilen wurde sie dabei von Frau Julia Frohnhäuser unterstützt, der ich an dieser Stelle daher auch danken möchte. Und schließlich richtet sich mein Dank auch an Herrn Dr. Mischka Dammaschke, dem Chefredakteur der Deutschen Zeitschriftfür Philosophie, für seine unkomplizierte, sachkundige und stets überaus angenehme Zusammenarbeit.
IL Grundlagen
Wolfgang Kraus Das narrative Selbst und die Virulenz des Nicht-
Erzählten
„To thine own self be true." Polonius, Hamlet
„Philosophise as you will, there is an empirical self which may be designated the real self." Morton
Prince, 1905
„The idea of the real self appeals [...] because it gives a name to something we experience (or at least I do)." Wendy Hollway, 1989 Der Begriff des narrativen Selbst verbindet die Frage nach dem Selbst mit einer These über seine Konstruktion, nämlich der Überlegung, dass dieses Selbst erzählend erzeugt wird. Die Lebhaftigkeit der Diskussion darüber verdankt sich abgesehen von den theoretischen Traditionslinien des Selbst-Diskurses in den Einzelwissenschaften aus meiner Sicht zwei Fragen. Die eine richtet sich auf die Bedeutung von Erzählungen oder besser: des Erzählens für die Selbstkonstruktion. Sie steht in enger Verbindung mit dem sogenannten „narrative turn", das heißt, allgemein gesprochen, einer Exploration der Bedeutung des Erzählens für die Human- bzw. Sozialwissenschaften. In diesem Kontext geht es um eine Selbst-Theorie, die zum einen ohne metaphysische Theorieannahmen auskommt. Zum anderen verabschiedet sie sich von der Vorstellung eines essenziellen Selbst. Wenn wir denn ein solches hätten, so fragt Jerome Bruner, -
-
jemals das Bedürfnis, uns etwas über uns selbst zu erzählen, und dann eine Lebensregel wie ,Erkenne dich selbst' oder .Bleib dir treu'? Wenn gäbe unsere Selbste einfach da wären, mussten wir uns natürlich nicht von ihnen erzählen. Aber wir verbringen eine ganze Menge Zeit genau damit, entweder allein oder mit Freunden, beim Psychiater oder als Katholiken bei der Beichte."1 „warum hätten wir dann warum
es
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Bruner, Jerome, Acts of meaning, Cambridge MA 1990, S. 63 f.
Wolfgang Kraus
26
Die andere Frage bezieht sich auf eine veränderte Identitätsentwicklung im Gefolge gesellschaftlicher Individualisierung. Narrativität kommt dort unter sozialkonstruktivistischen Vorzeichen ins Spiel, um die Selbstkonstruktion eines individualisierten Individuums theoretisch zu fassen. In einem solchen Kontext stehen das Gelingen von Identität2, die Erschöpfung des Selbst3 oder gar seine drohende Zersplitterung4 im Raum. Den gesellschaftsdiagnostischen Rahmen bilden Ansätze, die eine Veränderung der gesellschaftlichen Moderne konstatieren5. Identitätsentwicklung, so die Überlegung, findet damit unter radikal veränderten Bedingungen statt. Sie wird dringlicher als bisher zu einer individuell zu beantwortenden Frage. Für das individualisierte Individuum bekommt Erzählen als sozial vermittelte Form der Selbstkonstruktion einen zentralen Stellenwert. Aus dieser Perspektive mag der homo narrans zwar eine anthropologische Grundkonstante sein, aber er ist es doch in historischen Konkretionen, die ihn in allen Fasern seines Seins betreffen. Selbst-Narration als Modus der Konstruktion des Selbst unter den Bedingungen einer veränderten Moderne: Darum geht es in der aktuellen Diskussion. Für meine Überlegungen zum narrativen Selbst konzentriere ich mich auf zwei Fragen. Die erste dreht sich um die Reichweite des Begriffs eines narrativen Selbst. Letztlich geht es darum, ob die Begriffe des Selbst und des narrativen Selbst deckungsgleich sind. Die zweite Frage bezieht sich auf eine genauere Betrachtung des Begriffs der Selbsterzählung. Hier wende ich mich dagegen, das narrative Selbst in die Nähe einer „großen", autobiographischen Selbsterzählung zu rücken. Ich übernehme stattdessen ein Verständnis von Selbsterzählung, das sich an small stories6 orientiert und die narrative Selbstkonstruktion als vielgestaltiges performatives Unternehmen sieht. Die Untersuchung der dafür relevanten Bestimmungsdimensionen schließe ich mit Überlegungen zur moralischen Haltung und zur Handlungsmächtigkeit. Der Erörterung meiner beiden Fragen stelle ich einige begriffliche und konzeptionelle Überlegungen voran. Durch den Text begleiten wird mich die Frage nach einem Jenseitigen Selbst": jenseits der Narrativität, jenseits einer „großen Erzählung" und jenseits des Erzählten.
2
3 4 5
6
Keupp, Heiner / Ahbe, Thomas / Gmür, Wolfgang u. a., Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identität in der Spätmoderne, Reinbek 2006. Ehrenberg, Alain, Das erschöpfte Selbst, Frankfurt a. M. 2004. Frosh, Stephen, Identity crisis. Modernity, psychoanalysis and the self, London 1991. Giddens, Anthony, Modernity and self-identity. Self and society in the late modern age, Cambridge UK 1991. Bamberg, Michael, Narrative discourse and identities, in: Narratology beyond literary criticism. Mediality, disciplinarity, hrsg. von Meister, Jan / Kindt, Tom / Schernus, Wilhelm, Berlin 2004, S. 213-238.
Das
narrative
Selbst und die Virulenz
des
27
Nicht-Erzählten
Das „Selbst" und die „Erzählung" die Vieldeutigkeit der Begriffe
-
Auch wenn sich mit den Begriffen des Selbst und der Erzählung oder Geschichte leicht hantieren lässt, so zeigt ein näherer Blick eine beträchtliche Unscharfe. „Das Selbst' ist eine ausgesprochen eigenartige Idee, dem Verstand intuitiv einleuchtend, aber dem präzisen Philosophen notorisch entgleitend. Wenn wir gefragt werden, was es ist, scheint das Beste, was wir tun können, zu sein, auf uns selber zu deuten. Aber „Selbst" ist in unserer Sprache alltäglich. Keine Konversation, ohne dass es ganz selbstverständlich verwendet wird. ,
Und Gesetzestexte setzen Privatheit sprechen."7
es
einfach voraus,
wenn
sie
von
Konzepten wie Verantwortung und
Die Unscharfe des Begriffes ist nicht neu.8 In jüngster Zeit haben Coté und Levine9 für den Selbstbegriff höchst unterschiedliche Bedeutungshöfe aufgezeigt. Sie machen darauf aufmerksam, dass viele Kontroversen auch die postmoderne Diskussion ihre Dynamik unterschiedlichen und ungeklärten Selbstbegriffen verdanken. Symptomatisch für die Unklarheit ist auch die Rede von ,dem' Selbst gegenüber ,den' Selbsten, ohne dass diese Teil-Ganzes-Beziehung geklärt würde. Paul Ricœur schlägt zur Präzisierung vor, Identität als Gleichheit (lateinisch: idem; englisch: same; deutsch: gleich) zu unterscheiden von Identität als Individualität (lateinisch: ipse; englisch: seif; deutsch: selbst). Allerdings, so Ricœur, gebe es eine Berührungszone der beiden Begriffe, was die genannten Schwierigkeiten verständlich mache.10 Für meine Zwecke mache ich mir das „Selbsf'-Verständnis von Capps und Ochs zu eigen. Sie verstehen das Selbst -
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„als eine sich entfaltende reflexive Bewusstheit des In-der-Welt-Seins, was einen Sinn für die eigene Vergangenheit und Zukunft mit einschließt. Wir kommen dazu, uns zu erkennen, indem wir das Medium der Erzählung verwenden, um Erfahrungen zu verstehen und Beziehungen
mit anderen zu gestalten. Die Untrennbarkeit von Erzählung und Selbst ist in der phänomenologischen Annahme begründet, dass Entitäten dadurch mit Sinn erfüllt werden, dass sie erfahren werden und der These, dass das Medium der Erzählung eine unabdingbare Ressource ist im Ringen darum, uns unsere Erfahrungen bewusst zu machen"".
Der Begriff der Erzählung steht dem des Selbst an Vieldeutigkeit nicht nach. Poststrukturalismus und Narratologie haben unseren Blick dafür geschärft und die Diskussion erheblich ausdifferenziert12. Im Hinblick auf die Frage eines narrativen Selbst werden in der Regel zwei Dimensionen für besonders wichtig gehalten, nämlich zum einen die
Bruner, Acts of meaning, S. 63. Vgl. Kraus, Wolfgang, Das erzählte Selbst, Pfaffenweiler 2000, S. 123 ff. Coté, James / Levine, Charles G., Identity formation, agency and culture. A social psychological synthesis, London 2002. Ricœur, Paul, Narrative identity, S. 189, in: On Paul Ricœur. Narrative and interpretation, hrsg. von Wood, Donald, London 1991, S. 188-199. Ochs, Elinor / Capps, Lisa, Narrating the self, S. 20 f., in: American Review of Anthropology 25 (1996), S. 19-43.
Wolfgang Kraus
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Temporalität, also die Kodierung von Zeit in der Reihung von Handlungen, und zum anderen das Emplotment. Es verbindet die Elemente einer Geschichte, indem es ihren Beitrag zum Erreichen oder Verfehlen eines Zieles darstellt. Die Elemente, die in einem Plot zusammengeführt werden, sind „nicht-intendierte Umstände, Entdeckungen, Akteure und diejenigen, die die Aktionen erleiden, Zufall oder planvolles Zusammentreffen, Interaktionen zwischen Akteuren [...], Mittel, die gut oder schlecht auf die Ziele bezogen sind, und schließlich nicht intendierte Ergebnisse"13. In der Pointierung von Edward Morgan Forster antwortet die Story auf die Frage „Und dann?", der Plot jedoch auf die Frage „Warum?"14 Gegenstand der Selbsterzählungen ist menschliches Handeln. In Geschichten geht es um menschliche Versuche einer Lösung, Klärung oder Beendigung einer unklaren Situation. Nur Menschen „besitzen die Fähigkeit, die Verbindung des Lebens wahrzunehmen und seine Kohärenz zu suchen'"5. Unsere Fähigkeit, diese Selbstgeschichten zu verstehen, resultiert aus dem Zusammenhang der Entfaltung einer Geschichte und dem temporalen Charakter menschlicher Erfahrung sowie dem menschlichen Vorverständnis menschlichen Handelns.16
Das narrative Selbst: Text
Narration -
-
Körper
Die Konstruktion des Selbst so die zentrale Überlegung geschieht im Sich-Erzählen. „Ein Selbst ohne eine Geschichte schrumpft auf die Dünnheit seines Personalpronomens zusammen"17. Die Selbsterzählungen unterliegen Formgesetzen und sind Gegenstand sozialer Einbettung. „Das primäre Medium, in dem Identitäten erschaffen werden, ist nicht bloß linguistisch, sondern ein Text: Personen werden weitgehend Identitäten zugeschrieben entsprechend ihrer Einbettung in einen Diskurs in ihren eigenen oder in den Diskurs anderer. Auf diese Weise versorgen kulturelle Texte ihre ,Bewohner' mit den Ressourcen für die Ausbildung von Selbsten."18 Identität ist so wesentlich ein relationales Geschehen. Sie entsteht als eine „Art unabgeschlossener Raum [...] zwischen einer Reihe von -
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16
17
Ryan, Marie-Laure, Narrative, in: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, hrsg. man, David / Jahn, Manfred / Ryan, Marie-Laure, London 2005, S. 344-348.
Her-
Ricœur, Paul, Life in quest of narrative, S. 21, in: On Paul Ricœur, S. 20-33. Forster, Edward Morgan, Aspects of the novel, London 2000 [1927], S. 87. Vanhoozer, Kevin J., Philosophical antecedents to Ricceur's time and narrative, S. 43, in: On Paul Ricœur, S. 34-54. Polkinghorne, Donald E., Ricœur, narrative and personal identity, S. 30 f, in: Changing conceptions of psychological life, hrsg. von Lightfoot, Cynthia / Lalonde, Chris / Chandler, Michael, Mawah 2004, S. 27^*8. Crites, Stephen, Storytime: Recollecting the past and projecting the future, S. 172, in: Narrative psychology. The storied nature of human conduct, hrsg. von Sarbin, Thedore R., New York 1986, S. 152173.
18
von
Shorter, John / Gergen, Kenneth J., Texts of identity, London 1989, S. K.
Das
narrative
Selbst
und die
Virulenz
des
Nicht-Erzählten
29
Diskursen."19 Diese Vorstellung von Identität schließt den Begriff eines authentischen, wahren oder „realen" Selbst aus. Sie benennt vielmehr einen Platz, von dem aus das Individuum die vielfältigen und oft widersprüchlichen Facetten seines Selbst relational ausdrücken kann. Damit wird jedes Konzept eines transzendentalen Selbst, das unserem Leben als Sprecher vorausgeht, verworfen. Anthony Kerby20, dem ich hier zunächst folge, bringt in seinem Ansatz drei Elemente zusammen. Zum ersten geht er von semiologischen Überlegungen aus, zum anderen räumt er der Narrativität einen zentralen Stellenwert ein und zum dritten stellt er den Bezug zum Körper des Sprechers her. Für Kerby ist das Selbst das Produkt von Signifikationspraktiken.21 Der narrativen Konstruktion von Erzählungen gesteht er dabei eine besondere Rolle zu. Er bezieht sich in seiner Darstellung dieses semiotischen Subjekts auf die Überlegung von Émile Benveniste, wonach „der Gebrauch von Sprache die Basis der Subjektivität bildet"22. „Ich", so Benveniste, „ist der, der ,ich' sagt"23. Zu dieser sprecherzentrierten Sicht des Subjekts fügt Kerby eine spezifische Betonung des Narrativen hinzu. Damit schließt er an Bruner und andere Vertreter einer narrativen Psychologie an, die die Selbsterzählung als den bestimmenden Akt des menschlichen Subjekts begreifen. Dieser Akt beschreibt es nicht nur, er ist vielmehr fundamental für die Entstehung und die Realität dieses Subjekts. Dieses im linguistischen Raum treibende Subjekt verankert Kerby im Körper. Der Körper ist in seinem Modell „sowohl der Ort der Erzählung als auch der Ort der Zuschreibung von Subjektivität: In einem Face-to-Face-Dialog ist es der Körper des anderen, der zu mir spricht. [...] Dieser physikalische Körper, der Ort der Erzählung, wird dadurch mit dem Status der Individualität ausgestattet"24. Kerbys Subjekt ist also ein Körper-Subjekt, aber dieser Körper ist nicht der positivistische materiale Körper der
Naturwissenschaft, sondern „das sprechend-fühlende Körper-Subjekt (die Person)"25.
muss das Selbst nicht als ein prälinguistisch Gegebenes betrachtet werden, das sondern als Produkt der Sprache, das man „impliziertes Subjekt" narrabenutzt, Sprache lediglich tiver Äußerungen nennen könnte. Diese Position [...] betrachtet das Selbst als Ergebnis diskursiver Praxis statt als entweder (a) eine stoffliche Entität, die ontologische Priorität gegenüber der Praxis hat oder (b) als ein Selbst mit einer epistemologischen Priorität ein Erzeuger von Sinn".26
„Aus dieser Sicht
-
Kerby geht
dabei gar nicht so sehr darum, onto-theologischen Ballast abzuwerfen, sondern zu zeigen, dass vieles übersehen wird, wenn man sich auf ihn beschränkt. Er folgt damit William James, wonach die Existenz einer Seelensubstanz zwar nicht wider19
20 21
23 24 25 26
es
Hall, Stuart, Modernity and its futures, Cambridge UK 1991, S. 10. Kerby, Anthony Paul, Narrative and the self, Bloomington 1991. Vgl. Eakin, Paul John, How our lives become stories, Ithaka 1999, S. 21 f. Beneveniste, Emile, Problems in General linguistics, Coral Gables FLA 1971, S. 226. Benveniste, Problems, S. 224. Kerby, Narratives. 71. Kerby, Narrative, S. 103. Kerby, Anthony Paul, The language of the self, S. 125, in: Memory, identity, community: The idea of narrative in the human sciences, hrsg. von Hinchman, Lewis P. / Hinchman, Sandra K, Albany 1997, S. 125-142.
30
Wolfgang Kraus
legt werden kann, sie aber gleichwohl nicht notwendig ist, um eine Darstellung der phänomenalen Natur des Selbst zu geben. Ebenso wenig geht es darum, Personen auf das Selbst zu reduzieren, denn es ist die Person (als Körper-Subjekt), die spricht und handelt und die Aussagen über ihr Selbst macht. Narrationen sind in soziales Handeln eingebettet. Sie machen Ereignisse sozial sichtbar und dienen dazu, die Erwartung zukünftiger Ereignisse zu begründen. Die Geschichten, die wir erzählen, sind keine Kopfgeburten, sondern sie gründen im sozialen Austausch. Sie verwenden Erzählformen und Erzählinhalte, welche sozial vermittelt sind. Das heißt nicht, dass es in der Verwendung keine Spielräume und Möglichkeiten der Gestaltung gibt. Aber es heißt, dass diese Freiheitsgrade relational genutzt werden in Beziehung zu den sozial vermittelten Narrationen des Selbst. „Was als individuelle Charakterzüge, mentale Prozesse oder persönliche Charakteristika gedient hat, kann auf vielversprechende Weise als Grundlage relationaler Formen betrachtet werden. Die Form dieser Relationen ist die einer narrativen Sequenz. So werden wir feststellen, dass das individuelle Selbst nahezu in der Beziehungswelt verschwunden ist"27.
Register des Selbst Die Diskussion
das narrative Selbst ist, so konstatiert Mark Freeman28, in eine Phase" „postpolemische eingetreten. Dies gilt allerdings eher für die verschiedenen Richtungen innerhalb der „narratologischen Familie". Von manchen distanzierteren Beobachtern hingegen wird die Diskussion als ausufernder, unpräziser narrativer Behauptungsdiskurs wahrgenommen. Sie sahen sich in letzter Zeit zu polemischen Zwischenrufen animiert. Dort sprechen sie von der narrativen Wende als Modeerscheinung, verurteilen einen „narrativen Imperialismus"29 oder eine „inflation narrative"30 und sie fordern ein „Downsizing" der aus ihrer Sicht überzogenen Geltungsansprüche.3' Alles in allem gehen ihre Kritiken nicht über die Fragen hinaus, die auch die Befürworter eines narrativen Selbst allerdings „postpolemisch" diskutieren32. Dennoch mache ich um
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Gergen, Kenneth J. / Gergen, Mary M., Narrative and the self as relationship, S. 18, in: Advances in experimental social psychology, hrsg. von Berckowitz, Leonard, New York 1988, S. 17-56. Freeman, Mark, From substance to story. Narrative, identity, and the reconstruction of the self, in: Narrative and identity. Studies in autobiography, self and culture, hrsg. von Brockmeier, Jens / Carbaugh, Donal, Amsterdam 2001, S. 283-298. Phelan, James, Who's here? Thoughts on narrative identity and narrative imperialism, in: Narrative 13(2006), S. 206-210. Salmon, Christian, Verbicide. Du bon
2005.
usage des
cerveaux
humains
disponible, Castelnau-le-Lez
Battersby, James L., Narrativity, self, and self-representation, in: Narrative 14 (2006), S. 27-44; Sartwell, Crispin, End of story. Toward an annihilation of language and history, Albany NY 2000. Eakin, Paul John, Narrative identity and narrative imperialism: A response to Galen Strawson and
James Phelan, in: Narrative 14 (2006), S. 180-187.
Das
narrative
mir im
Selbst und die Virulenz des Nicht-Erzählten
31
Folgenden einige Zuspitzungen der Kritiker zunutze, um verschiedene Klärungs-
bedürfhisse
verdeutlichen. Galen Strawson33 hat sich besonders pointiert gegen die deskriptiven wie die normativen Aspekte der These gewendet, dass Jeder von uns eine Geschichte konstruiert und lebt"34 und dass wir das nach Ansicht von Marya Schechtman35- auch tun müssen, um unsere volle Individualität zu entfalten. Strawson verteidigt einen episodischen Ansatz der Selbsterfahrung, in dem das Selbst ein „Jetzf'-Phänomen ist, das von Vergangenheit und Zukunft abgekoppelt ist, gegenüber dem seiner Meinung nach vorherrschenden diachronischen Ansatz, der von einem durch die Zeit fortbestehendem Selbst ausgeht; und gegenüber der Dominanz der narrativen Form behauptet er nicht-narrative Formen der Selbst-Repräsentation. Im Hinblick auf die Position eines Selbst als Erzählung identifiziert Strawson zwei distinkte, aber zusammenhängende Behauptungen: Die „psychological narrativity-thesis wird nach seiner Wahrnehmung von Sacks, Bruner und anderen vertreten und ist eine empirische, deskriptive These über die Art und Weise, wie gewöhnliche menschliche Wesen tatsächlich ihr Leben erfahren. Die ethical narrativity-thesis ", die etwa Alasdair Maclntyre vertritt, behauptet, dass wir uns unserer narrativen Identität bewusst werden müssen, um ein gutes Leben zu führen und eine wahre und volle Individualität zu entfalten.36 Im Einzelnen bezweifelt Strawson die Zentralität des Erzählens für die Selbstkonstitution des Menschen, die ethische Bedeutung des Erzählens, die Selbsterfahrung der Kohärenz über die Zeit und v. a. auch die Behauptung der Umfassendheit der narrativen Selbst-Konstruktion. Die Erfahrung eines Selbst finde auch jenseits von Selbsterzählungen statt. Das nicht narrativierte, situative Erleben, das episodische Wahrnehmen werde ignoriert. Der Begriff eines narrativen Selbst suggeriere, das Selbst sei „seine" Narration, Selbst und Narration seien also identisch, deckungsgleich. Auch wenn man die Prozesshaftigkeit des narrativen Selbst dagegen ins Feld führt, bleibt die Frage bestehen, ob Selbst und Selbsterzählung in einem Deckungsverhältnis sind oder ob das Selbst als komplexere (Prozess-)Struktur verstanden werden zu
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"
„
muss.
„Postpolemisch" formuliert ist also eine der von Strawson aufgeworfenen Fragen die nach dem Verhältnis von Selbsterzählung zu anderen Formen der Selbsterfahrung und -repräsentation. Es geht darum, ob die fiktionale Kodierung von Leben in einer Selbsterzählung mit dem gelebten Leben gleichzusetzen ist. Eine mögliche Antwort gibt Paul Eakin37. Er greift dazu auf kognitions- und entwicklungspsychologische Überlegungen zurück und fordert im Anschluss daran, dass jedes Modell eines narrativen Selbst in Kenntnis biologischer Tatsachen gebildet werden müsse. Gemeint ist damit keine deter -
Strawson, Galen, Against narrativity, in: Ratio XVII (2004), S. 428^152. Sacks, Oliver, The man who mistook his wife for a hat and other clinical stories, New York 1987, S. 110.
Schechtman, Marya, The constitution of selves, Ithaka 1996. Strawson, Against narrativity, S. 428. Eakin, Paul John, How our lives become stories, Ithaka 1999, S. 21-23.
Wolfgang Kraus
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ministische Modellierung, sondern eine dynamische und zukunftsoffene Konstruktion. Weiter müssen darin Selbst und Gedächtnis als interdependente Dimensionen des höheren Bewusstseins konzipiert sein, welche im Leben des Körpers verankert sind. Für die Modi von Selbsterfahrung jenseits der Narrativität, bezieht sich Eakin auf einen Vorschlag von Ulrich Neisser38. Dieser könne, so seine Überlegung, ein „Register des Selbst" begründen. Neisser unterscheidet (1988) „zwischen mehreren Arten von Informationen, welche das Selbst bestimmen. Jede von ihnen etabliert einen anderen Aspekt des Selbst". Er spricht von Aspekten, betont aber gleichzeitig, sie seien eigentlich unterschiedliche Selbste, mit unterschiedlichen Ursprüngen und Entwicklungsgeschichten, auch wenn sie nicht als separat und distinkt erfahren würden.
ökologische Selbst (ecological self), das sich auf die physikalische Umgebung bezieht und schon in der frühen Kindheit vorhanden ist. Das 2) interpersonale Selbst der unmittelbaren, unreflektierten sozialen Interakti1)
Das
mit anderen Personen. Auch dieses Selbst ist schon in der frühen Kindheit vorhanden. Das erweiterte Selbst (extended self): Das Selbst der Erinnerung und der Antizipation, das Selbst außerhalb des gegenwärtigen Moments. Dieses Selbst ist etwa ab dem dritten Lebensjahr vorhanden. Das private Selbst der bewussten Erfahrungen, die für niemanden anders verfügbar sind. Es ist etwa ab dem fünften Lebensjahr vorhanden. Das konzeptuelle Selbst (conceptual self): Es umfasst diejenigen extrem verschiedenen Formen der Selbstinformation soziale Rollen, persönliche Eigenschaften, Theorien des Körpers und des Denkens, von Subjekt und Person -, die das Selbst als Kategorie explizit oder implizit beinhalten. on
3) 4) 5)
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Bezogen auf die individuelle Entwicklung gehen das ökologische und das interpersonale Selbst den anderen voraus. Wenn auch im Einzelnen sicher diskussionswürdig, so ist die Unterscheidung, so Eakin, dennoch sehr hilfreich: Sie vermeidet die Geist-KörperTrennung; sie behauptet kein einheitliches Selbst (unified seif), sondern unterschiedliche Modi der Selbstinformation, die nicht hierarchisch organisiert sind; sie erkennt auch die prägende Rolle an, welche allgemeine Konzepte für die Entwicklung des individuellen Selbstkonzepts haben; die personale Entwicklungsgeschichte, die man gewöhnlich mit dem Spracherwerb beginnen lässt, wird mit diesem Modell um die prälinguistischen, präsymbolischen Register des ökologischen und interpersonalen Selbst erweitert, welche von der frühen Kindheit an funktionieren. Schließlich hat sie den Vorzug, dass sie einerseits den Aspekt der pränarrativen und nichtreflexiven Selbsterfahrung beinhaltet und andererseits der kulturell-historischen Gebundenheit der Selbsterzählungen ihren Platz einräumen kann.
Neisser, Ulrich, Five kinds of self-knowledge, S. 35, in: Philosophical Psychology 1 (1988), S. 35-59.
Das
narrative
Selbst und die Virulenz des Nicht-Erzählten
33
„Die Kognitionsforschungen von Edelman, Rosenfield und Neisser legen nahe, dass es Zeit ist, restriktive Begriffe des Selbst und des Subjekts zu verwerfen, die aus ihnen wenig mehr als
metaphysische oder narrative Popanze machen. Sie öffnen den Weg für einen viel breiteren erfahrungsbezogenen Zugang zur Natur und den Ursprüngen von Subjektivität."39
Für die narrative Diskussion im engeren Sinn eröffnet Eakins Register zwei Anschlüsse, das extended self, d. h. das Selbst der Zeitlichkeit, Handlungsverknüpfung, Selbstwirksamkeit einerseits, und das conceptual self, nämlich das Selbst des Bezugs auf die Vielfalt kulturell bedingter sozialer Texte andererseits. Diese Texte müssen im Übrigen nicht alle narrativ sein. Denn es gibt auch eine ganze Reihe nicht-narrativer sozialer Skripte, welche für die Konstruktion eines Selbst in Frage kommen. Battersby40 hat in seiner Auseinandersetzung mit Strawson daraufhingewiesen. Einen Vorzug dieser Unterscheidung sehe ich zudem für die Diskussion der Frage, inwiefern das Leben selbst schon pränarrativ strukturiert ist. Polkinghorne41 unterscheidet hier zwei Positionen. Die eine Gruppe behauptet, die Strukturen von Leben und Narration seien kongruent, die andere behauptet, sie seien es nicht. Die meisten Narrationstheoretiker akzeptieren eine von den Poststrukturalisten beeinflusste Position, wonach die Sprache von einer extralinguistischen Realität geschieden ist, und wonach unsere sprachlichen Konstruktionen von den Objekten geschieden sind, auf die sie sich offensichtlich beziehen. Das Leben besteht aus einer bloßen Ereignisfolge; es ist nicht die innerlich verbundene Einheit einer Erzählung. Andere, wie etwa Carr, behaupten dagegen, dass das Leben narrativ strukturiert sei.
„Wir träumen narrativ, tagträumen narrativ, erinnern, antizipieren, hoffen, verzweifeln, glauben, zweifeln, planen, revidieren, kritisieren, konstruieren, klatschen, hassen und lieben in narrativer Form"42, formuliert Barbara Hardy. Auch Alasdair Maclntyre ist ein Vertreter der These, dass das gelebte Leben im Wesentlichen eine narrative Form habe. „Wir alle leben in unserem Leben Geschichten aus und [...] wir verstehen unser Leben in den Begriffen der Geschichten, die wir ausleben"43. Für Maclntyre sind die Geschichten untrennbar vom gelebten Leben. Narration ist also nicht eine kulturell erworbene Form, die sodann verwendet wird,
eine kohärente Identität zu konstruieren. „Wir haben eine angeborene und primitive Disposition zur narrativen Organisation, die uns erlaubt, sie schnell zu verstehen und zu gebrauchen"44. Paul Ricœur könne im Übrigen, so Polkinghorne, keinem der beiden Lager zugerechnet werden. Ihn sieht er als einen theoretisch überzeugenden Vermittler zwischen den beiden Positionen. um
Eakin, How our lives become stories, S. 25.
Battersby, Narrativity, S. 39. Polkinghorne, Ricœur, S. 32 f. Hardy, Barbara, Towards a poetics of fiction: An approach through narrative, S. 5, in: Novel 2 (1968), S. 5-14.
Maclntyre, Alasdair, After virtue: A study in moral theory, Notre Dame IN 1981, S. 212. Bruner, Acts of meaning, S. 80.
Wolfgang Kraus
34
Mir geht es an dieser Stelle nicht um eine Entscheidung zwischen den beiden Positionen. Ich möchte vielmehr den Bogen zurück zu Eakins Register des Selbst schlagen und darauf hinweisen, dass Eakins Modell es erlaubt, sie jeweils auf verschiedene Register zu beziehen, das extended self zum einen und das conceptual self zum anderen. Das klärt zwar noch nicht die Frage, wie die beiden interagieren, aber es ermöglicht eine „postpolemische" Vertiefung beider Diskussionen. Während die eine mehr auf kognitions- und entwicklungspsychologische Befunde und Modelle zurückgreifen wird45, kann die andere aus der reichen postmodernen und poststrukturalistischen Narra-
tologie schöpfen46.
Dimensionen von
Selbsterzählungen
Die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Formenpotential für die Selbstnarrationen findet nach Neissers Register auf der Ebene des conceptual self statt. Hier müssen Formen der Narrativierung von Leben gefunden werden. Voraussetzung dafür ist die kognitive Möglichkeit der Erfahrung von Temporalität eines extended self. Dabei geht es nicht nur um die narrative Konstruktion von Vergangenheit, sondern auch um die Positionierung des narrativen Selbst in die Zukunft. Denn „futuring"47, die Entwicklung einer individuellen Zukunftsperspektive, ist eine implizite Anforderung für die Konstruktion von Selbsterzählungen. Insofern handeln diese zwar in der Regel von der Vergangenheit, aber sie tun dies immer auch als Projektierung von Zukunft. Das Erzählen erzeugt nicht nur Sinn für gelebtes Leben, sondern auch eine Formidee für zukünftiges Handeln. Wie sich jemand selbst erzählt, ist nicht zufällig und geht nicht von selbst. Er greift dazu auf den Formenvorrat einer Gesellschaft zurück. Das betrifft die formalen Aspekte genauso wie den Inhalt und das Emplotment, also des Einweben der Warum-Frage in die Selbsterzählung. Im Gefolge der Arbeiten von Labov48 und anderen hat sich in den Sozialwissenschaften die kanonische Form eines „well formed narrative" als Bezugsrahmen herausgebildet. Die Literatur nicht nur der Postmoderne hat in ihren Experimenten des fiktionalen Erzählens allerdings gezeigt, dass die allermeisten dieser Erzählnormen in der Tat allenfalls Dimensionen, keinesfalls aber Regeln in einem normativen Sinne sein können. Auch die Behauptung eines quasi-natürlichen nichtfiktionalen Erzählens in Anlehnung an das Modell autobiographischen Erzählens hilft nicht weiter. Denn die Autobiographieforschung hat offengelegt, dass die so empfundene Quasi-Natürlichkeit des autobiographischen Erzählens Resultat eines langen Entwicklungspro-
-
Vgl. Eakin, How our lives become stories. Vgl. Kerby, The language of the self. Melges, Frederik T., Time and the inner future: A temporal approach to psychiatric disorders, New York 1982. Labov, William / Waletzky, Joshua, Narrative analysis: Oral versions of personal Essays on the verbal and visual arts, hrsg. von Helms, June, Seattle 1967, S. 12—44.
experience,
in:
Das
narrative
Selbst und die Virulenz des Nicht-Erzählten
35
normativen Veränderungen des Selbsterzählens charakterisiert ist. als fiktionale Kodierung gelebten Lebens ist nicht die Abbildung von Autobiographie Leben, sondern bezieht ihre konstruktiven Mittel aus dem fiktionalen Erzählen49. zesses
ist, der
von
Das erzählte Selbst als
performativer Akt
Die empirische Forschung zum narrativen Selbst kommt von einer anderen Ausgangssituation ebenfalls zu dem Ergebnis, die Normativität des Konzeptes einer „wohlgeformten Erzählung" zu problematisieren. Ihr Hauptargument ist, dass die individuellen Selbsterzählungen formal so unterschiedlich ausfallen, dass es keinesfalls ein normatives Konzept gibt, das alle diese Möglichkeiten abdeckt. Man spricht nicht nur über sich, wenn man aufgefordert wird, seine Lebensgeschichte zu erzählen; man tut das auch, wenn man etwa ein Erlebnis wiedergibt, von dem man selbst noch nicht so recht weiß, was man davon halten soll, wobei der Zuhörer in die Rolle des Kommentators oder Interpreten kommen kann, der am Prozess der Sinnstiftung teilnimmt. Es ist ganz sicher ein großer Unterschied, ob man jemandem eine Geschichte erzählt oder mit jemandem. Ochs und Capps50 schlagen daher ein nichtnormatives Modell von Dimensionen der Selbsterzählung vor. Episodisches Erleben, ein Einwand Strawsons gegen das Konzept des narrativen Selbst, ist aus ihrer Perspektive leicht integrierbar. Denn natürlich gibt es Selbsterzählungen, die episodenhaft dem Augenblick verhaftet sind. Die „große" Selbsterzählung als quasi-autobiographische Gesamtschau ist in ihrem Modell lediglich ein Spezialfall. Die Autorinnen konzedieren zwar, dass es so etwas wie ein „default narrativ" gebe. Das hat letztlich all die Kennzeichen von Kohärenz und Linearität, welche man von einer „klassischen" Erzählung erwartet. Aber, so betonen die Autorinnen, in der Wirklichkeit des Selbsterzählens mache es mehr Sinn, von narrativen Dimensionen zu sprechen. Diese werden im konkreten Fall des Sich-Erzählens höchst unterschiedlich konkretisiert. Es geht also nicht um eine Erzählung als eine normativ vorgegebene Form, sondern um den sozialen Prozess des Sich-Erzählens, der ganz unterschiedlich verläuft. Die narrative Konstruktion des Selbst findet situativ und kulturell kontextuiert statt und greift in unterschiedlicher Weise auf die Dimensionen von Selbsterzählungen zu.
Aus der Perspektive eines solchen Modells wird die in sich geschlossene Selbsterzähzu einem voraussetzungsvollen Spezialfall von Selbsterzählungen. Sie setzt eine Erzählsituation voraus (Interview, Therapie u. ä.), deren Zweck genau die Erzeugung einer solchen Narration ist. Weiter muss es diskursive Konventionen geben, die für eine solche Situation gelten und die Erzählung beglaubigen. Aber Ochs und Capps betonen, dass die narrative Konstruktion des Selbst weit über diesen Spezialfall, der in vielen Le-
lung
Lejeune, Philippe, L'autobiographie en France, Paris 2004. Ochs, Elinor / Capps, Lisa, Living narrative. Creating lives in everyday storytelling, Cambridge MA 2001.
36
Wolfgang Kraus
ben nie eintritt, hinausgeht. Denn zum einen sind wir, wie Kerby sagt, wohl bloß „parttime Montaignes", die eher selten über unser Leben in toto nachdenken, geschweige denn es erzählen. Zum anderen ist die Frage, so Kerby, ob es überhaupt so viele Menschen tun (wollen). Er ist der Auffassung, dass „die allermeisten keinen zentralen sinnstiftenden Handlungsfaden haben, sondern, um einen Begriff von Deleuze zu borgen, ein ,rhizomatisches' Leben führen, ein Leben in Teilen und Segmenten"51. Das Universum der Selbsterzählungen ist also wesentlich größer als die eine autobiographische „große Erzählung" des eigenen Lebens. Ein solches Modell umfasst nicht Erzählungen als Ergebnis, sondern Erzählen als performativen Akt, als diskursive Konstruktion. Ochs und Capps unterscheiden fünf Dimensionen: 1)
Erzählerschaft (Tellership) Erzählbarkeit (Tellability)
2) 3) Einbettung (Embeddedness) 4) Linearität 5) Moralische Haltung (Moral Stance) Erzählerschaft (Tellership) Der oder die Erzähler erwecken berichtenswerte Ereignisse durch eine Vielzahl von kommunikativen Ressourcen wie Sprechen, Schrift und die Vielfalt der nichtsprachlichen Kommunikation zum Leben. Es ist keineswegs die Regel, dass ein Erzähler einer passiven Zuhörerschaft gegenübersteht. Der „singuläre Selbstkonstrukteur" ist im Gegenteil häufig verwoben in ein Geflecht von Interaktionsabläufen, in dessen Verlauf andere an eben diesem Prozess als Miterzähler teilhaben. Hier bekommt der Satz Bakhtins, wonach sich das Leben „immer an der Grenze von zwei Bewusstseinen, zwei Subjekten"52 entwickelt, eine sofort nachvollziehbare Bedeutung. Die dabei stattfindenden Positionierungsprozesse sind nicht auf die Interaktion beschränkt. Sie verschlingen sich mit den innertextlichen Positionierungen der Protagonisten. Narratologie und Semiotik haben eine ganze Reihe von begrifflichen Apparaten zur Verfügung gestellt, die die Komplexität dieser Situation zu analysieren erlauben. Anders als beim Lesen eines Buches, das zeitlich und räumlich vom Autor getrennt, aus einem geschriebenen einen gelesenen Roman konstruiert, ist das In-Vivo-Erzählen in vielen Fällen ein gemeinsames Erzählen, wobei der oder die Zuhörer in unterschiedlichen Rollen, z. B. als Ko-Erzähler, als Kommentator oder auch als „Korrepetitor", auftreten können. Erzählen ist in solchen Fällen nicht das Abbilden von sedimentierter Erfahrung, sondern die gemeinsame Formsuche dafür mit einem zunächst offenen Ausgang für die Selbsterzähl-„Probe". Hier wird deutlich, dass es um das Erzählen und nicht um die -
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Kerby, Anthony Paul, The language of the self, S. 130, in: Memory, identity, community: The idea of narrative in the human sciences, hrsg. von Hinchman, Lewis P. / Hinchman, Sandra K., Albany 1997, S. 125-142. Bakhtin, Mikhail, Speech Genres and other late Essays, Austin 1986, S. 106.
Das
narrative
Selbst und die Virulenz des Nicht-Erzählten
37
Erzählung geht, um einen performativen Akt, der interaktiv gestaltet wird. Insofern als die Zuhörer eine Rolle in der Erzählung spielen, benötigt man sie zur Beglaubigung der Erzählung, insofern als sie Partner sind, benötigt man sie, um das eigene Verhalten, die Rolle, die man sich selbst zugedacht hat, zu sanktionieren oder aber eine völlige Reorganisation der Narration anzuregen. Es ist offenkundig, dass in vielen Fällen Selbsterzählungen erzählt werden, nicht um das Ergebnis einer Sinnsuche zu präsentieren, sondern gerade um Sinn zu suchen und zu konstruieren. Erzählbarkeit (Tellability) Erzählbar ist eine Geschichte dann,
wenn sie bei ihrer Präsentation der Frage „Na und?" Jerome Bruner, wenn sie Normen und Normverstöße verhandelt. „Die Funktion der Erzählung ist es, einen intentionalen Zustand zu finden, der eine Abweichung von einem kanonischen kulturellen Muster entschärft oder zumindest abschwächt."54 Sie verhandelt so den Gegenstand menschlichen Handelns und menschlicher Intentionalität und „vermittelt zwischen der kanonischen Welt der Kultur und der idiosynkratischen Welt von Glauben, Wünschen, Hoffnungen"55. Bernhard Waldenfels betrachtet die Erzählbarkeit von der „anderen" Seite. Er fragt nach dem Unerzählbaren und dessen Bezug zum Erzählten. Erzählen bedeutet aus dem Erlebensüberschuss auswählen, Leerstellen überbrücken, einen Anfang setzen und ein im Falle der Selbsterzählung immer nur vorläufiges Ende finden. Für Waldenfels ist das Unerzählbare das „Außer-ordentliche", das „nicht etwa das Negat der Erzählbarkeit [bildet], sondern ihre Kehrseite oder Hohlform [ist]. Das Unerzählbare wohnt der Erzählung inne, indem es diese zugleich übersteigt und sprengt"56. In seinen Überlegungen stößt Waldenfels auf die Figur des Pathischen, „auf all das, was uns zufallt, einfällt, auffällt, was uns überrascht, überkommt, kurzum, was uns widerfährt"57. Und er stellt die Frage, wie man das Leiden erzählen könne. Wenn man die passio als bloße Wirkung einer fremden actio erzähle, dann „beraubt man den Leidenden seiner Eigenperspektive"58. Aber narrativ erweist es sich durchaus schwierig, der Täterperspektive eine Opferperspektive gegenüberzustellen. Denn die Frage bleibt, von welcher Einheit hier mit unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird. Dennoch, so Waldenfels, kann man davon ausgehen, „dass Erzählungen ihre größte Spannkraft dort entwickeln, wo sie sich
entgeht53.
Sie tut
dies,
so
-
-
am
Unmöglichen versuchen"59.
Ryan, Marie-Laure, Tellability, in: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, S. 589-591. Bruner, Acts of meaning, S. 49 f.
Bruner, Acts of meaning, S. 52. Waldenfels, Bernhard, Unerzählbares, S. 21, in: Möglichkeiten und Grenzen der Narration, Wien 2002, S. 19-37. Waldenfels, Unerzählbares, S. 25. Waldenfels, Unerzählbares, S. 28. Waldenfels, Unerzählbares, S. 35.
Wolfgang Kraus
38
Eine Erzählung, die sich auf diese Spannung mit dem Unerzählbaren nicht einlassen mag oder kann, wird sich an Mustern orientieren, die um den Preis der Einhaltung von Normen Anerkennung bieten. In der Diskurssituation steht die Arbeit am Unerzählbaren dazu noch in Spannung zu dem, was situativ, vor anderen, erzählbar ist. Auf beiden Ebenen, der diskursiven Positionierung wie der narrativen Konstruktion, stoßen wir auf die Machtbestimmtheit der Erzählkonstruktionen. Edward Sampson60 spricht in diesem Zusammenhang von den „serviceable others", von „dienstbaren" Individuen und Gruppen, deren soziale Funktion es ist, die „Lesbarkeit" des Erzählers zu erhöhen. Viele binären Erzählmuster beinhalten solche Entmischungen, die mit der sozialen Abwertung anderer einhergehen. Erzählen findet in einem Möglichkeitsraum statt, dessen Grenzen zwar ausgelotet, aber nur um den Preis der Ausgrenzung und Abwertung überschritten werden können. Sich selbst erzählen ist nicht ungefährlich, die diskursive Überprüfung der Frage der Erzählbarkeit daher selbst schon Arbeit am Selbst. Tellability hat also auch etwas mit der Frage zu tun, ob jemandem eine Position zugestanden wird, von der her er sich erzählen kann. Aus der Perspektive der Individualisierungstheorie kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Die Frage der Erzählbarkeit kreist nicht nur um die Frage, ob jemand sich erzählen darf oder kann, sondern auch um den Zwang dazu, um die Not der Formfindung für das eigene Leben in einer individualisierten Gesellschaft. Sie verweist auf das Paradox, dass das unerschöpfliche Maß an medial verfügbaren narrativen Ready-Mades es dem individualisierten Individuum schwer macht, seine eigene Lesbarkeit zu sichern. Der einzelne gerät geradezu in einen Strudel der Selbstthematisierung, einem Kohärenzideal nachstrebend, das ihm immer wieder entgleitet. Die Folge ist eine ständige Erweiterung des Formenspektrums der Selbstthematisierung, was sich u. a. an der enorm wachsenden Zahl von „Nobody"-Autobiographien und „Lebensabschnitts"-Autobiographien
zeigt61.
Einbettung (Embeddedness) Die Dimension der Einbettung richtet unser Augenmerk darauf, dass Selbsterzählungen höchst unterschiedlich in das sie umgebende Diskursgeschehen eingebettet sein können. Das „verhörte" Selbst ist ein anderes als das „flirtende". Der Rahmen bestimmt, was und wie jemand sich erzählen kann. Das biographische Interview wird aus dieser Sicht sofort als ein höchst seltener Sonderfall erkennbar. Die diskursiven Rahmungen sind in großem Maße variabel. Sie verändern sich, abgesehen von den Teilnehmern, in dem Maße, wie sich soziale Institutionen und mediale Verfügbarkeiten verändern. Das prä-
Sampson, S. 4.
Edward E.,
Celebrating
the other. A
dialogic
account
of human nature, Boulder 1993,
Kraus, Wolfgang, Die Veralltäglichung der Patchwork-Identität. Veränderungen normativer Konstruktionen in Ratgebern für autobiographisches Schreiben, in: Die Ausweitung der Bekenntniskultur neue Formen der Selbstthematisierung? hrsg. von Burkart, Günter, Wiesbaden 2006, S. 235-259. -
Das
narrative
Selbst
und die
Virulenz des Nicht-Erzählten
39
sentierte und präsentierbare narrative Selbst variiert also je nach den Erzählumständen. Wenn diese Muster Spannung und Unabgeschlossenheit zulassen oder erfordern, dann sind andere Selbsterzählungen möglich und notwendig, als wenn dies nicht der Fall ist. Ein zweiter Aspekt der Einbettung betrachtet nicht die situative Einbettung der Erzählsituation, sondern die Frage, inwiefern eine Erzählung Teil einer größeren Erzählung ist, inwiefern sich jemand also z. B. erzählen kann als Teil einer historischen Bewegung oder aber augenblicksbezogen. Das eine schließt das andere nicht aus. Die Frage ist allerdings, welche Optionen in einer Gesellschaft grundsätzlich zur Verfügung stehen. Sieht man sein Leben oder seine Selbsterzählung als Teil einer großen Erzählung, z. B. „unser Land", „unsere Bewegung", dann ist es möglich, sich auf andere Erzählungen zu beziehen und damit die eigene zu validieren. Geschichten stehen also in Beziehung zueinander, sie erzeugen einen relationalen Raum, der Resonanz ermöglicht oder verhindert. Das von François Lyotard konstatierte Ende der großen Erzählung in den spätmodernen Gesellschaften macht diese Form der Einbettung nicht obsolet. Als individuell und reflexiv vorzunehmende funktioniert sie weiterhin. Ja, ihre Attraktivität für die Konstruktion eines narrativen Selbst scheint noch zu wachsen. Denn sie entlastet zumindest partiell von der Anstrengung der Formfindung in einer individualisierten Gesellschaft. -
-
Linearität Soziale Akteure sind gleichzeitig in einer Vielfalt von Handlungszusammenhängen verwoben. Der Faden eines Lebens lässt sich nur weben um den Preis, diese Vielfalt einem dominanten Diskurs unterzuordnen. Nach Ochs und Capps ist diese Spannung zwischen Dispersion des Erlebens und Kohärenz des Erzählens eine Grundspannung in der Konstruktion von Selbsterzählungen. Das Ringen darum ist Teil des Unternehmens der Selbstkonstruktion. Die Unilinearität ist einerseits ein Wahrnehmungsorganisator, sie stützt und orientiert. Andererseits ist sie eben auch ein Desorganisator, weil dabei Zusammenhänge ausgeblendet werden. Sie reduziert Komplexität und simplifiziert sie. Sie stützt herrschende Muster der Selbstwahrnehmung und unterschlägt andere. Wer diese Leistung nicht erbringen kann, lässt vermuten, traumatisiert, desorientiert oder wenig situationsbezogen zu sein. Linearität orientiert in der Zeit als erzählter Zeit. Alle Selbsterzählungen organisieren zwar Ereignisfolgen im Hinblick auf Zeit und Kausalität, aber nicht alle reihen sie uniform auf einer unilinearen Zeitachse und einer Ursachen-Wirkungs-Kette auf. Die Dimension der Linearität bezieht sich auf das Ausmaß, in dem Selbsterzählungen Ereignisse in einem einzigen, geschlossenen temporalen und kausalen Zusammenhang darstellen oder alternativ in verschiedenen, offenen, Ungewissen Pfaden. Relativ lineare Erzählungen zeichnen einen durchgeformten Ereignisfortgang, in dem ein Ereignis zeitlich dem anderen vorausgeht oder kausal zum nächsten Ereignis führt. Die Dimension der Linearität liegt im Zentrum der Spannung, die die
Wolfgang Kraus
40
Menschen dazu bewegt, sich selbst zu erzählen.62 Auf der einen Seite suchen die Erzähler die Klarheit und Kohärenz, welche die Linearität bietet. Sie ordnet Ereignisse in einen Zeitstrom und macht so selbst schreckliche Erfahrungen zumindest ansatzweise verstehbar. Auf der anderen Seite sind die Menschen, wie Vaclav Havel feststellt, „fragende Wesen". Eine unilineare Selbsterzählung lässt wenig Raum für solche Bedürfnisse. Nichtlineare Erzählungen dagegen öffnen die Erzählung für mehrere Wahrheiten und Perspektiven und die Erkenntnis, dass manche Erfahrungen sich eindeutigen Interpretationen entziehen. Als Beispiel für eine nichtlineare Erzählstrategie verweisen Ochs und Capps auf das „Sideshadowing"63, das in der hypothetischen Exposition von Alternatiwerläufen aus der Perspektive verschiedener Logiken und Positionierungen besteht. Es nimmt die Kontingenzen und multiplen Pfade, die von einem Moment gelebter Erfahrung zum nächsten führen, wahr und erkennt ihre Wichtigkeit als eigenständige Momente an. „Die Aufmerksamkeit des Sideshadowing für die unerfüllten oder unrealisierten Möglichkei-
ten der
Sicht von
Vergangenheit ist ein Weg, um die Affirmationen einer triumphalistischen, unilinearen
Geschichte zu unterbrechen, in der alles, was vergangen ist, verachtet wird, weil es irgendeiner unwiderstehlichen historisch-logischen Dynamik für mangelhaft befunden von
wurde."64
Sideshadowing ist also eine Strategie, nicht Realisiertes, Vergessenes, Verdrängtes, Unterdrücktes, Verworfenes zur Sprache zu bringen. Dies trifft etwa zu für traumatisierende Ereignisse und, allgemeiner, für solche Erzählungen, in denen der Erzähler Objekt der Handlungen Dritter war. Sie spürt damit der Frage nach „Agency" oder „Handlungsträgerschaft" nach und der Frage von Autonomie, Freiheit und Kontingenz. Es geht zum einen um die Präsentation, also um die Linearität der Erzählung, und zum anderen um die Positionierung des Hauptakteurs in der Geschichte als jemand, der erleidet, agiert, handelt, ohnmächtig ist und der sich in einer Geschichte befindet, die einer inneren Handlungslogik folgt. Moralische Haltung (Moral
Stance)
Die letzte Dimension im Schema von Ochs und Capps65 betrifft die Frage, wie normative Entscheidungen und Weitungen in den Selbsterzählungen verhandelt werden. Selbsterzählungen bilden Wirklichkeit nicht ab, sie präsentieren Perspektiven auf Ereignisse. Erzählen heißt auswählen und strukturieren. Die moralische Haltung von Erzählern wie Protagonisten spielt eine zentrale Rolle. Sie scheint auf als Standpunkt darüber, was gut und richtig ist und welches Leben zu führen ist. Moralische Standpunkte werden nicht
Ochs / Capps,
Living narrative, S. 41. Morson, Gary Saul, Narrative and freedom: The shadow of time, New Haven 1994; Bernstein, Michael A., Foregone conclusions: Against apocalyptic history, Berkeley 1994. Bernstein, Foregone conclusions, S. 3. Ochs / Capps, Living narrative, S. 45.
Das
narrative
Selbst und die Virulenz des Nicht-Erzählten
41
vermittelt, sondern durch eine Vielzahl von kulturellen Formen (Sprichwörter, Gesetze, Lieder usw.). Alltägliche Selbsterzählungen sind allerdings ein privilegiernur
narrativ
Weitergabe moralischer Urteile. Sie handeln häufig von Ereignissen, in denen ein Protagonist soziale Erwartungen enttäuscht hat. Indem diese Regelverletzung erzählt und eine moralische Position dazu eingenommen wird, entsteht ein diskursiver Ort, um Normen zu klären, zu bekräftigen oder zu revidieren. Die Erzähler bewerten die Protagonisten als moralisch Handelnde, deren Handlungen, Gedanken und Gefühle im Lichte lokaler Verständnisse von Richtigkeit interpretiert werden. Selbsterzählungen unterscheiden sich darin, wie stabil die Standpunkte und morali-
ter Ort
für die
Kodierung
und
Bewertungen sind. Manche bleiben stabil, manche sind unsicher und fluide. Nach Zygmunt Bauman ist dies charakteristisch für die postmoderne Situation. Aber, so Ochs und Capps, in der Frage nach Gut und Böse habe zu keiner Zeit eine einfache Klarheit geherrscht. Sie übernehmen dafür den Begriff Maclntyres vom „moral quest", der moralischen Frage als Suchen und Ringen: „Die Einheit des menschlichen Lebens ist die schen
Einheit einer narrativen Suche."66 Ein moralischer Standpunkt wird nicht gefunden oder übernommen, sondern er entwickelt sich auf dem Lebensweg. Eine rechtschaffene Person ist dann eine, die fragt und sucht und dabei (für sich) lernt, was richtig und falsch ist. Das beinhaltet auch die Übernahme von moralischen Standards und ihre mögliche spätere Destabilisierung. Maclntyre betont, dass die Verhandlung bezogen auf gelebtes Leben stattfindet und von daher eine Selbsterzählung voraussetzt. „Manche Suchen mögen scheitern, mit Enttäuschung, Abbruch oder Ablenkungen enden; und menschliche Leben mögen auf all diese Weisen ebenfalls scheitern. Aber die einzigen Kriterien für Erfolg oder Scheitern in einem menschlichen Leben als Ganzes sind die Kriterien für Erfolg oder Scheitern in einer erzählten oder erzählbaren Suche."67 Die Suche nach dem richtigen Leben kann als moralische Haltung in dem Dimensionenschema von Ochs und Capps gut untergebracht werden. Schwieriger wird es mit dem Postulat, dass der Bezug dazu ein menschliches Leben als Ganzes ist. Ein Ansatz, der auf die diskursive Konstruktion des Selbst in kleinen Geschichten rekurriert, kann schwerlich eine derart hohe Voraussetzung für die Entwicklung einer moralischen Haltung integrieren. Er verweist ja gerade auf die Situativität, auf das Unabgeschlossene, die Ko-Konstruktion von Selbsterzählungen und damit die Offenheit des Prozesses moralischer Selbst- und Fremdpositionierungen. Das bedeutet natürlich keine Beliebigkeit; die Selbsterzählungen, Erzählsituationen, Zuhörer, Plots stehen in Resonanz zueinander, aber es meint doch eine Offenheit in der Positionierung, die mit den Überlegungen Zygmunt Baumans leichter zu verbinden wäre. Moral Stance, eine ethische Position, ist also nicht etwas, was sich sichern lässt. Sie kann immer nur vorläufig sein und wird immer wieder in Zweifel gezogen werden. Hinzu kommt, dass sie ein Sollen impliziert, also auf Zukunft gerichtet ist. Sie will nicht
Maclntyre, Alasdair, The virtues, the unity of a human life, and the concept of a tradition, in: Memory, identity, community, S. 241-263. Maclntyre, The virtues, S. 257.
S. 256,
Wolfgang Kraus
42
vergangenes Verhalten einordnen und rechtfertigen, sondern es auch anschlussfähig für die Zukunft machen. Aber sie tut dies und sie muss es tun in der situativ bezogenen Kleinarbeit alltäglicher Selbsterfahrung und -reflexion. Und sie kann den großen Bogen einer geschlossenen Selbsterzählung dazu weder fordern noch voraussetzen. Mir scheint im Gegenteil die Episodenhaftigkeit im Sinne von, durchaus narrativ organisierten, „Schlüsselerlebnissen" das Charakteristische zu sein für die Entwicklung einer moralischen Position. Diese Episodenhaftigkeit, so meine These, verweigert sich gerade einer vorschnellen Einheit und hält so die Sinnfrage offen. Die Narrativierung des eigenen Selbst steht in der Spannung von Dispersion und Kohärenz. Das oben erwähnte Sideshadowing ist eine Erzählstrategie, die die Spannung halten möchte. Foreshadowing als von Bernstein kritisch analysierter Gegenpol impliziert dagegen in seiner extremen Ausprägung ein geschlossenes Universum, in dem „alle Entscheidungen schon getroffen sind, in dem der freie menschliche Wille nur in dem paradoxen Sinn existieren kann, das Unabwendbare zu wollen oder vergeblich dagegen zu protestieren. Dies ist der Fall, egal ob das Foreshadowing auf der theologischen, historischen oder psychologischen Ebene stattfindet"68. Gegen einen solchen Determinismus, in dem die Freiheit des Individuums verschwindet, setzt Bernstein das Sideshadowing. Es verficht „die Inkommensurabilität des konkreten Moments und weist die Tyrannei aller synthetischen Master-Schemata zurück; es weist die Überzeugung zurück, dass ein spezifischer Kode, ein Gesetz, ein Muster existiert, das darauf wartet, unter der Heterogentität der menschlichen Existenz entdeckt zu werden [...] Oder um in Robert Musils subtilerer ironischer Formulierung zu sprechen: wir müssen einfach die Realität der Unterdetermination anerkennen, die Tatsache, dass Ereignisse nicht aus irgendeiner logischen oder historischen Notwendigkeit heraus geschehen"69. nur
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Die Virulenz des möglich Gewesenen In Julian Barnes' Roman „Flauberts Papagei" denkt der Erzähler darüber nach, wie das Leben eines Menschen zu erfassen sei. Ein Zugang, den er neben anderen versucht, ist, die nicht geschriebenen Bücher Flauberts, seine nicht getroffenen Entscheidungen, die verpassten Gelegenheiten, nicht getanen Taten zu untersuchen. Vielleicht, so die Überlegung des Erzählers, ist es nicht das Handeln, was ein Leben ausmacht, sondern das Unterlassene, Gescheiterte, Verpasste. Ein Modell eines narrativen Selbst, das sich wappnen will gegen vorschnelle Schließungen, das sich offen halten will für die Grenzen zum Nichterzählten und Unerzählbaren, das das möglich Gewesene in seiner aktuellen Virulenz erhalten möchte, tut gut daran, der „großen Form" der Selbsterzählung skeptisch zu begegnen und sich offen zu halten für die Vielfalt diskursiver Selbstposi-
Bernstein, Foregone conclusions, S. 2. Bernstein, Foregone conculsions, S. 4.
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Das
narrative
43
Selbst und die Virulenz des Nicht-Erzählten
tionierungen. Denn in der Dynamik eines solchen offenen Referenzsystems und seiner unablässigen performativen Fortentwicklung sehe ich eine Garantie für dieses Offenhalten. Um das Selbst muss es einem dabei nicht bange sein. „Im Laufe des letzten Jahrhunderts, veränderte sich die Idee der Entwicklung des Selbst in der Literatur wie im Leben bis zur Unkenntlichkeit. Aber ob das Selbst als ganz oder fragmentiert, real oder fremd, intim oder unbekannt behauptet wird, die nichtfiktionale persona wie die persona in Romanen und Gedichten hat nie aufgehört, sich höchst eindrucksvoll mit einer Kraft und einem Reichtum an Ressourcen immer wieder neu zu erfinden. Wie immer die Geschichte gewesen war, gab es eine Erzählsituation, um sie zu fassen und einen Wahrheits-Sprecher [truth speaker], um sie zu interpretieren"70. -
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Gornick, Vivian, The situation and the story. The art of personal narrative, New York 2001, S. 26.
Norbert Meuter
Identität und Empathie Über den Zusammenhang von Narrativität und Moralität
In Das Selbst als ein Anderer spricht Ricœur von den „ethischen Implikationen der Erzählung".1 Um die Frage, ob es solche Implikationen gibt und wie sie aussehen könnten,
hat sich mittlerweile eine „Narrative Ethik" gebildet.2 Geschichten sind nicht nur durchso die zogen von speziellen moralischen Inhalten, Werten und Normen, sondern grundlegendere These das Phänomen der Moral überhaupt konstituiert sich erst in und mit Geschichten. Die nachfolgenden Überlegungen verstehen sich als Beitrag zu dieser Thematik. Die Begriffe Narrativität (1) und Moralität (2) sollen so bestimmt werden, dass mögliche Zusammenhänge (3) sichtbar werden. Die zentrale These lautet: Die Grundlagen moralischen Erlebens und Handelns liegen in Prozessen der Identitäts- und der Empathiebildung, und Geschichten ermöglichen, erzeugen, stabilisieren, dynamisieren sowohl Identität als auch Empathie. -
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1. Narrativität Geschichten sind lebensweltlich sehr vertraute Gegenstände: wir alle wachsen mit und in Geschichten auf, jeden Tag hören und sehen wir Geschichten, erzählen selbst welche und sind in ihnen „verstrickt".3 Die theoretischen Bemühungen um das Phänomen des Narrativen lassen sich entsprechend lange zurückverfolgen. Die von Aristoteles vorgeschlagene Analyse der klassischen Tragödie kann man als Strukturbestimmung verstehen, die auf alle Formen von Narrationen zutrifft. Geschichten bestehen demnach aus einer selektiven Zusammenführung von Elementen Ereignisse und Handlungen -, die nicht einfach zufällig bzw. „nach-einander" (meta), sondern „durch-einander" (dia) fol-
Ricceur, Paul, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 200 ff. u. a. Ellos, William J., Narrative Ethics, Alderdhot 1994; Newton, Adam Zachary, Narrative Ethics, Cambrigde / Mass. 1995; Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, hrsg. von Mieth, Dietmar, Tübingen 2000. So die berühmte Formel bei Schapp, Wilhelm, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch
Vgl.
und Ding, Frankfurt a. M. 1985.
Norbert Meuter
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gen. Das heißt: die Elemente einer Narration sind
sinnhaft miteinander verbunden. DieSinn" meint zunächst nichts anderes als die (mehr oder weniger) span„narrative die sich direkt der zeitlichen Selektion der Ereignisse und aus nungsvolle Entwicklung, Handlungen ergibt: es entsteht eine Richtung, die von einem Anfang über eine oder mehrere Richtungsänderungen (peripetieri) bis zu einem Ende verläuft.4 Zwar ist diese Bestimmung nicht unproblematisch,5 von ihr ausgehend lässt sich jedoch eine hinreichend abstrakte Definition entwickeln: eine Geschichte ist ein sich selbstorganisierender Strukturzusammenhang von Sinn und Zeit.6 Mit dem Begriff der Narrativität lassen sich die zentralen Eigenschaften bzw. Merkmale dieses Zusammenhangs bezeichnen. Selektiv werden im Folgenden die Merkmale Sinn, Zeit, Unwahrscheinlichkeit, Stabilität, Identität und Selbstorganisation diskutiert. ser
Sinn Geschichten generieren offenbar Sinn. Was aber ist Sinn wenn man darunter nicht lediglich das Gegenteil von Unsinn verstehen will? Eine kurze anthropologische Überlegung kann hier weiterhelfen. Mit dem Sinnbegriff lässt sich die anthropologische Differenz markieren: Tiere leben in einer (für sie) sinnfreien Umwelt, Menschen in einer sinnhaften Welt. Für sie gibt es keine sinnfreien Gegenstände: „Die Newton'schen Gesetze und das Erdbeben von Lissabon, die Planetenbewegungen und die Irrtümer der Astrologen, die Frostempfindlichkeit der Obstbäume und die Schadensersatzforderungen der Landwirte: alles hat Sinn"7 auch Unsinn. Der Umweltkontakt von Menschen und Tieren (bzw. von Organismen überhaupt) vollzieht sich in Form von Selektionen. Nicht alles wird wahrgenommen, sondern nur eine Auswahl aus dem Spektrum des Faktischen. Die Struktur des Organismus gibt dabei vor, was und wie selektiert wird. Der Rest bleibt unsichtbar. Der Unterschied zwischen menschlicher und tierischer Existenzform besteht nun jedoch darin, dass Tiere in einer sehr engen Weise an die konkrete Wahrnehmungssituation gebunden sind, sie sehen nur das, was situativ auch wirklich da ist. Dies gilt räumlich wie zeitlich. Das Tier ist an den „Pflock des Augenblicks" gebunden.8 Menschlicher Umweltkontakt dagegen zeichnet sich durch eine zunehmende Ausweitung und Loslösung von den unmittelbaren situati-
-
4
Aristoteles, Poetik, übersetzt und hrsg. von Fuhrmann, Manfred, Stuttgart 1982. Zur narrativen Rezeption von Aristoteles vgl. vor allem Ricœur, Paul, Zeit und Erzählung, Bd. I. Zeit und histori-
sche Erzählung, München 1988. hierzu vor allem die literaturwissenschaftliche Narrativitätsforschung, die neben den klassischen „Bauformen" auch die „antinarrativen" Muster des Erzählens in den Blick bekommt, u. a. Einführung in die Erzähltheorie, hrsg. von Martinez, Matias / Scheffel, Michael, München 2000. Ausführlicher in Meuter, Norbert. Geschichten erzählen, Geschichten analysieren. Das narrativistische Paradigma in den Kulturwissenschaften, in: Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. II: Paradigmen und Disziplinen, hrsg. von Jaeger, Friedrich / Straub, Jürgen, Stuttgart 2004, S. 140-155. Ich verzichte hier auf die systemtheoretischen Aspekte der Begriffsbestimmung. So Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1987, S. 110.
Vgl. 6
Identität
und
Empathie
Bedingungen aus. Und Sinnbegriff verwenden
ven
47
zur
Bestimmung
genau dieses Sachverhaltes lässt sich der
Sinnhaft wird etwas erst dadurch, dass prinzipiell auch etwas anderes möglich wäre. Ein Organismus, der mit Sinn operiert, vollzieht nicht nur permanent Selektionen, sondern die Tatsache, dass er dies tut, fließt als Faktor mit in die Auswahl ein. Dadurch wird aus (mehr oder weniger) instinkthaftem tierischem Verhalten sinnhaftes menschliches Erleben und Handeln. Erleben und Handeln heißt immer: man könnte auch anders erleben und handeln. Dies bedeutet: Sinn ist verbunden mit einer grundsätzlichen und (zumindest auf Dauer) unaufhebbaren Kontingenzerfahrung: das, was faktisch da ist, ist da, aber es könnte auch anders sein. Ich bin nicht länger „Gefangener" der faktischen Situation. Die Kontingenz wird zwar in vielen Fällen nicht zugelassen, etwa wenn beim Tabu Handlungsalternativen kategorisch ausgeschlossen werden. Aber selbst Tabus verlieren mit der Zeit ihre Kraft, und das Undenkbare erscheint schließlich als konkrete
Möglichkeit. Eine sinnhafte Welt hat demnach im Unterschied zu einer bloßen Umwelt keine Grenzen mehr. Zwar gibt es nach wie vor Beschränkungen der Realität, aber der Sinn auch dieser Beschränkungen lässt sich immer wieder neu und anders verstehen. Phänomenologisch erscheint Sinn demnach als ein unendliches Verweisungsgefüge von Perspektiven, die sich gleichwohl zu Einheiten integrieren. Im Sinnreich der Möglichkeiten gibt es durchaus Ordnungen, Muster, Formen, Gegenstände usw. Aber auch und gerade ihre Stabilität ist kontingent, muss erhalten, immer wieder neu aufgebaut oder eben durch andere Ordnungen und Formen ersetzt werden. Warum Geschichten Sinn generieren, ist nun klarer: selbst wenn sie noch so eng an der Realität orientiert sind, bilden sie diese doch nie einfach ab, sondern entwerfen eigene und neue Perspektiven. Narrationen erzeugen systematisch Kontingenzerfahrungen; sie brechen die Macht des Situativ-Faktischen. Eine Geschichte ist eine Möglichkeit, die Welt anders zu sehen und sogar: eine andere Welt zu sehen.
Zeit Geschichten organisieren Zeit und Zeiterfahrungen. Entscheidend ist auch hier, dass es sich um sinnhafte Zeit handelt. Auch tierische Organismen, die nicht mit Sinn operieren, leben in der Zeit, auch für sie gibt es Veränderungen (Veränderung ist gewissermaßen das, was auch ohne Sinn Zeit ist). Alle darüber hinausgehenden zeitlichen Erfahrungen sind jedoch bereits mit Sinn imprägniert. Die básale Form einer solchen Erfahrung ist die Unterscheidung von Vorher und Nachher. Mit Hilfe dieser Unterscheidung bildet sich zugleich die Erfahrung von Ereignissen aus: Ereignisse sind genau dasjenige, was zwischen Vorher und Nachher liegt. Die Ereignisse selbst verschwinden Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemässe Betrachtungen, Zweites Stück. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Werke in drei Bänden, Erster Band, hrsg. von Schlechta, Karl, Darmstadt 1997, S. 211.
Norbert Meuter
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permanent und irreversibel in der Vergangenheit, ihr Sinn jedoch ist reversibel. Anders formuliert: Sinn kann die Gegenwart in die Vergangenheit (und die Zukunft) hinein ausdehnen: etwas ist noch da, wo man es verlassen hatte, der endgültige Abschluss einer Handlung kann hinausgezögert werden, die Geschichte ist noch nicht zu Ende, ein Ereignis lässt sich noch ganz anders verstehen, es kann noch einen anderen Sinn annehmen. Menschliche Lebensvollzüge bewegen sich immer schon in dieser Sphäre des reversiblen Sinns. Vergangene Ereignisse werden permanent mit neuen Bedeutungen überzogen oder besser noch, da Ereignisse keine Identität außerhalb ihrer Bedeutung haben: vergangene Ereignisse werden permanent zu neuen vergangenen Ereignissen. Geschichten sind das Medium, in dem dieser Prozess stattfindet; sie machen die Reversibilität von Sinn erfahr- und handhabbar. Narrationen produzieren Ereignisse, auf die wir uns mit neuen und anderen Geschichten immer wieder neu und anders beziehen können. zwar
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Unwahrscheinlichkeit Bei aller Reversibilität von Sinn bleibt allerdings festzuhalten: auch sinnhafte Prozesse können nicht rückwärts laufen. Das bedeutet aber: auch und gerade sie haben eine Richtung. Anfang und Ende sind nicht austauschbar, ihre Differenz erzeugt eine strukturelle Asymmetrie und: zwischen ihnen baut sich eine immer größere Unwahrscheinlichkeit auf. Eine Geschichte beginnt selektiv mit einem kontingenten Ereignis. Etwas geschieht, zunächst gleichgültig was, und markiert einen Anfang. Dieses Ereignis wird zum Ausgangspunkt des nächsten Ereignisses, welches an die Selektivität des vorhergehenden anschließt und diese in seine eigene Selektion mit aufnimmt. Wenn man will, könnte man auch sagen: der Output jedes Ereignisses wird zum Input jedes nächsten Ereignisses. Eine Geschichte ist jedenfalls keine formale Reihe oder Kette, in der nach dem selben Muster immer gleiche Elemente hinzugefügt würden, sondern ein dynamisches Geschehen, in dem die Selektivität jedes Ereignisses an das nächste weiter „vererbt" wird. Und genau dadurch reichert sich immer mehr Unwahrscheinlichkeit an. Wenn man in einer Geschichte verstrickt ist, ist man schnell schon nach wenigen Peripetien an einem Punkt angelangt, den man nie für möglich gehalten hätte. Und doch ist er Ergebnis des Sinnprozesses. Narrationen erklären uns daher die Wirklichkeit,9 können uns jedenfalls verständlich machen, warum etwas so ist, wie es ist, auch wenn es noch so unwahrscheinlich ist: es ist das Resultat einer Geschichte, es ist geworden. -
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Stabilität Die Vermittlung von Zeit und Sinn, die von Geschichten geleistet wird, vollzieht sich in und mit der Ausbildung von Strukturen. Strukturen sind wiederholbare Muster und Formen. Sie regulieren und steuern die Selektivität von Prozessen und garantieren trotz der
Vgl. Danto, Arthur C, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M.
1980.
Identität
und
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Empathie
Ereignisse eine gewisse Reversibilität der Verhältnisse. Wenn eine Sequenz von Ereignissen wiederholt wird, entstehen lokale Sicherheiten. Solche Sicherheiten sind insbesondere für die spezifisch menschliche Erfahrungsweise, die konstitutiv mit dem Kontingenzproblem belastet ist, absolut notwendig. Die Erfahrung, dass alles immer auch anders sein könnte, führt zu Orientierungsverlusten. Strukturen schaffen im Reich der Möglichkeiten Stabilitäten. Man weiß schon, was als nächstes passieren wird: nach der Heirat kommen die Flitterwochen, auf den Ehebruch folgt die Scheidung. Narrationen produzieren solche Muster und Strukturen oder werden selbst zu „Mustergeschichten",10 an denen sich unser Erleben und Handeln orientieren kann. InsIrreversibilität der
besondere kleine Kinder wollen immer wieder dieselbe Geschichte hören und dulden keine Abweichungen. Dass auch Strukturen kontingent sind, lernt man erst später auszuhalten durch Geschichten. -
Identität Die narrativen Stabilitäten sind
so etwas wie das „Skelett" unserer Identität. In biographischen, autobiographischen, literarischen, historischen, therapeutischen, aber auch in alltäglich-lebensweltlich erzählten oder durchlebten Geschichten bilden, stabilisieren und verändern sich individuelle wie kollektive Identitäten." Der Zusammenhang eines Lebens muss narrativ verstanden werden, er entspricht der Einheit einer erzählten oder erzählbaren Geschichte. Eine solchermaßen verstandene narrative Identität ist allerdings keine statische oder bruchlose, sondern eine dynamische Identität, die sich permanent verändert und entwickelt, Widersprüche impliziert. Es handelt sich in der Terminologie von Ricœur nicht um eine idem- sondern um eine ¿pse-Identität.12 In phänomenologischer Tradition ließe sich von einem Stil sprechen. Geschichten wie Personen zeichnen sich durch einen je besonderen Stil aus, der ihre Individualität präsentiert.13 -
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Symbolisierung Perspektive lassen sich Narrationen als eine bestimmte Form der Symbolisierung konzipieren. Mit allen anderen Symbolformen teilen sie, wie weiter oben bereits erwähnt, ihren nicht-abbildenden Charakter. Geschichten präsentieren, repräsenIn einer weiteren
Zum Begriff der Mustergeschichte: Schwemmer, Oswald, Handlung und Struktur. Zur Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 1987. Der Zusammenhang von Narrativität und Identität ist gut untersucht, siehe mit unterschiedlichen Schwerpunkten u. a. Ricœur, Paul, Zeit und Erzählung, Bd. III. Die erzählte Zeit. München 1991; ders., Das Selbst als ein Anderer; Maclntyre, Alasdair, Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1987; Meuter, Norbert, Narrative Identität. Das Problem der personalen Identität im Anschluß an Ernst Tugendhat, Niklas Luhmann und Paul Ricœur, Stuttgart 1995; Kerby, Anthony Paul, Narrative and the Self, Bloomington 1991, Kraus, Werner, Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne, Pfaffenweiler 1996. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer. Meuter, Narrative Identität, S. 260 ff.
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durch die Organisation von Sinn und Zeit neu. Da wir aber überhaupt nur über einen symbolvermittelten Zugang zur Wirklichkeit verfügen,14 muss das Verhältnis von „Dichtung und Wahrheit" komplexer konzipiert werden, als es die formale Logik vorschlägt. Eine eineindeutige Unterscheidung von wahr und falsch ist keine universalisierbare Eigenschaft, sondern hat ihren Ort nur in sehr speziellen Geschichten eben denen der formalen Logik. Die meisten anderen Geschichten leben jedenfalls dann, wenn sie interessant sind auch und gerade von ihren Widersprüchen. Hinzu kommt, dass es sich bei Geschichten wohl eher um präsentative als um diskursive Symbolisierungen (in der Terminologie von Susanne Langer) handelt.15 Geschichten sprechen uns, auch wenn sie das diskursive Medium der Sprache verwenden, emotional ganz anders an als rein diskursive Symbolisierungen wie z. B. wissenschaftliche Theorien oder begriffliche Argumentationen. Sie können eine hochemotionale Bedeutung aufbauen, die uns in unserer tiefen Persönlichkeit berührt. Theorien können dies nicht außer vielleicht: man ist eine theoretische Persönlichkeit und hat zu Theorien ein emotionales Verhältnis.
tieren, gestalten Wirklichkeit, konfigurieren sie
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Selbstorganisation vorgeschlagenen Definition der Narration war von einem sich selbstorganisierenden Strukturzusammenhang die Rede. Dieser Aspekt der Definition zielt auf den Sachverhalt, dass der Sinn, der sich in Geschichten realisiert, sich nicht der intentionalen Sinngebung eines Subjekts verdankt. Vielmehr gilt umgekehrt: der in narrativen Prozessen realisierte Sinn ermöglicht, dass menschliche Individuen eine Persönlichkeit entwickeln und sich dann auch als Subjekte d. h. als Handlungsakteure ansprechen können. Subjekte sind demnach nicht die souveränen Gestalter ihrer Geschichten, sondern ebenso wie ihre Handlungen deren Effekte. Wir sind, wie es vermittelnd bei Maclntyre heißt, „nie mehr (und manchmal weniger) als die Koautoren unserer eigenen Erzählungen".16 Der systemtheoretische Begriff der Selbstorganisation bietet sich an, genau diesen Sachverhalt zu bezeichnen. Geschichten entwickeln aufgrund der gezeigten „Vererbung" der Selektivitäten eine Eigendynamik, gewissermaßen ein Eigenleben und entziehen sich der Kontrolle. Geschichten sind nicht handlungsintentional. Eine Narration ist nicht die Realisation eines Planes, sondern ein dynamisches Geschehen, das sich aus der jeweils sich entwickelnden Eigenlogik ergibt und aufgrund seiner PeriIn der oben
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Hierzu Cassirer, Ernst, Versuch über den Menschen. 15
16
Hamburg 1996. Langer, Susanne, Philosophie
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Einführung
in eine
Philosophie der Kultur,
auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Mittenwald hierzu auch Straub, Jürgen, Geschichten erzählen, Geschichten bilden. Kunst, 1979; Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung, in: Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, hrsg. von Straub, Jürgen, Frankfurt a. M. 1988, S. 81-169. Maclntyre, Verlust der Tugend, S. 285.
Identität
und
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Empathie
petien nicht steuerbar ist. Am Anfang steht nie fest, wie das Ende aussehen wird außer in
aber auch dort gibt es die Sinne sind Geschichten immer Individuen.
Hollywoodfilmen,
sem
Durchbrechung von Klischees.
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In die-
2. Moralität primär etwas kognitives, jedenfalls bleiben Emotionen als mehr oder weniger irrelevant aus der Moralphilosophie ausgeschlossen. Man sieht zwar durchaus, dass wir bestimmte Situationen überhaupt nur deshalb als moralische Situationen wahrnehmen können, weil sie mit bestimmten emotionalen Empfindungen verbunden sind. „Gefühle bilden", wie es bei Habermas heißt, „die Basis unserer Wahrnehmung von etwas als etwas Moralischem. Wer blind ist gegenüber moralischen Phänomenen, ist gefühlsblind".17 Im weiteren Verlauf der moralischen Entwicklung kommt es dann jedoch darauf an, den semantischen Gehalt dieser emotionalen Erfahrungsbasis zu erschließen und diesen dann von ihr zu differenzieren. Moral im eigentlichen Sinne ist an die symbolische Form der diskursiven Sprache gebunden, denn nur mit ihrer Hilfe lassen sich Argumente und Gründe formulieren, mit denen sich Handlungen als moralisch ge- oder verboten ausweisen können. Diskursive Sprache ist demnach nicht nur das eigentliche Medium der Moralität, sondern auch der Rationalität, wobei letztlich alle drei Aspekte eng zusammengehören. Bei aller Berechtigung dieses Programms (es kann nicht darum gehen, in Irrationalismen zurückzufallen!) bleibt die Frage, ob das Feld der Moral nicht doch wesentlich weiter ist als der Bereich der diskursiven Kognitionen und Argumentationen. Im Folgenden soll eine kurze Skizze vorgestellt werden, die eine gewisse Korrektur an kognitivistisch fokussierten Ethiken enthält. Es gilt, die emotionale „Basis" der Moral stärker in ihrem Eigenrecht zu sehen, ohne die Bedeutung kognitiver Prozesse zu vernachlässigen. In der kantischen Tradition ist Moral
Empathie / Sympathie Als Ausgangspunkt dient die Überlegung, dass konsumtiv für jegliches moralisches Verhalten die empathische Fähigkeit ist, andere Personen und deren Perspektiven zu erfassen. Nun ist Empathie, wie entwicklungspsychologische Studien zeigen, primär keine kognitive, sondern eine emotionale Fähigkeit,18 nämlich die emotionale Leistung, die Gefühlslage eines anderen unmittelbar zu verstehen, ohne selbst das entsprechende Gefühl haben zu müssen: es ist nicht mein Gefühl, sondern das des anderen. Erst wenn ich diese Unterscheidung die eben zunächst nur emotional erfahren wird und dauerhaft auf ihre emotionale Grundlage angewiesen bleibt vollziehen kann, bin ich überhaupt -
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Habermas, Jürgen, Kleine politische Schriften. Die nachholende Revolution, Frankfurt a.
M.
1990,
Bischof-Köhler, Doris, Spiegelbild und Empathie. Die Anfange der sozialen Kognition,
Bern
S. 142. 18
1989.
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in der Lage, mein Verhalten an meinen sozialen Interaktionspartnern zu orientieren. Dabei ist in moralischer Hinsicht jedoch zu beachten, dass die handlungsmotivierende Funktion der Empathie sowohl in den Dienst pro-sozialer wie anti-sozialer Verhaltensweisen treten kann.19 Man sollte daher begrifflich zwischen Empathie und Sympathie unterscheiden.20 Während Empathie die Fähigkeit bedeutet, die Gefühle und die Situation eines Anderen nachempfinden zu können, bezeichnet Sympathie die darüber hinaus gehende Bereitschaft, auf die empfundene Gefühls- und Situationslage des Anderen angemessen und zwar für den Anderen angemessen! zu reagieren. Kleinkinder sind dazu in der Regel ab einem Alter von ca. 18 Monaten in der Lage (wobei sie jedoch noch für längere Zeit einem z. B. traurigen Interaktionspartner dasjenige zum Trost anbieten, was sie selbst trösten würde: Schokolade). Das empathische Verhalten gründet zunächst in der Fähigkeit des Ausdrucksverstehens. Hier sind wir noch ganz im Bereich der Emotionalität. Die Gefühlslage des Anderen erschließt sich über die Wahrnehmung der leiblichen Expressivität, insbesondere der Mimik. Im Gesicht des Anderen ist sichtbar, ob er traurig oder wütend ist, ob er Freude oder Schmerz empfindet. Diese ausdrucksvermittelte Empathie steht am Anfang des moralischen Weltverhältnisses. Da Emotionen jedoch keine isolierten Entitäten sind, die bezugslos in einer Art luftleerem Raum existierten, sondern eingebettet in situative Kontexte, wird die ausdrucksvermittelte Empathie ergänzt und erweitert durch eine situationsvermittelte Empathie.21 Hier kommen nun zunehmend auch kognitive Aspekte hinzu. Das Kind lernt, immer mehr Situationen hinsichtlich ihrer emotionalen Bedeutung für andere einzuschätzen, wobei typische, sich wiederholende Verbindungen durchaus hilfreich sind: beim Autofahren ist Papa immer wütend; wenn Besuch kommt, ist Mama gestresst. -
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Identitätsbildung Entwicklungspsychologische Studien zeigen einen weiteren interessanten Aspekt. Die Empathiefähigkeiten des Kleinkindes gehen einher mit der Ausbildung eines Selbstverhältnisses. Dies ist von der „Logik" des Empathiebegriffs her auch zu erwarten: wenn ich das expressiv wahrgenommene Gefühl als Gefühl des Anderen identifizieren kann, verlangt dies, dass ich es nicht mit meinem Gefühl verwechsle. Dies setzt ein ausreichendes Selbstkonzept voraus. Entsprechend zeigen Kleinkinder, die den sogenannten Spiegel- oder Rouge-Test noch nicht bestehen, auch noch kein empathisches Verhalten.22 Der Andere kann nur dann als Wesen mit einer eigenen Perspektive für das Erleben und Handeln fungieren, wenn auch das eigene Selbst als eine solche Entität Dieser Punkt würde eine längere Diskussion erfordern; wichtig ist, dass es empirisch nachweisbare Faktoren für prosoziales Verhalten gibt; hierzu u. a. Harris, Paul L„ Das Kind und seine Gefühle, Bern / Göttingen 1992. Vgl. hierzu bereits Scheler, Max, Wesen und Formen der Sympathie, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, hrsg. von Frings, Manfred S., Bern / München 1973. Hierzu Bischof-Köhler, Spiegelbild und Empathie.
Identität
und
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Empathie
aufgefasst wird. Ohne hinreichende eigene Identität gelingt
es nicht, den Anderen in erfassen. Wir haben es bei Kleinkindern natürlich noch nicht mit voll ausgebildeten Identitäten zu tun, zu denen soziale Rollenübernahmen und -distanzierungen gehören, aber das empathische Kleinkind besitzt offenbar ein gewisses Gefühl nicht nur für das Selbst des Anderen, sondern auch für das eigene Selbst. Und dieses Gefühl bestimmt sein Verhalten. Das Selbst und der Andere sind bedeutungsvolle Orientierungspunkte der faktischen Wünsche und Präferenzen. So werden u. U. eigene Wünsche relativiert, weil die momentane Situation eines Interaktionspartners als bedeutsamer bewertet wird. Der Interaktionspartner, mit dem das empathische Kleinkind eine Situation teilt, ist demnach der erste und grundlegendste Bezugspunkt einer Selbstrelativierung, ein Absehen von der eigenen Perspektive ohne Zweifel einer der wichtigsten moralischen Eigenschaften, die wir kennen. Aber dies setzt eben voraus, dass auch die eigene Perspektive wahrgenommen, dass es schon ein Selbst gibt, das relativiert werden kann.
seiner Identität
zu
-
Wert des Anderen / Wert des Selbst von diesen Überlegungen lassen sich zwei fundamentale moralische Werte benennen: der Wert des Anderen und der Wert des Selbst.23 Wenn sich die empathischen und sympathischen Fähigkeiten soweit stabilisiert haben, dass andere Personen und deren Perspektiven nicht nur erkannt, sondern als Maxime für das eigene Erleben und Handeln awerkannt werden, kann man davon sprechen, dass der Andere als Wert erfasst wird. Dies ist gleichbedeutend mit der Bereitschaft, dem Anderen und seinen Perspektiven d. h. seiner Individualität gerecht zu werden. Der Wertbegriff selbst ist natürlich komplex und vielschichtig. Betonen sollte man, dass Werte tief mit unserer Emotionalität verbunden sind. Ähnlich wie Wünsche sind Werte hochemotionale und -bedeutsame Bezugspunkte unseres Erlebens und Handelns. Sie besitzen allerdings eine umfassendere Bindungskraft als bloße Wünsche, da sie diese strukturieren und in eine Ordnung bringen.24 Werte haben eine reflexive und integrative Funktion. Sie sind Ausdruck der Tatsache, dass wir unsere Wünsche, Präferenzen und generell unsere Erfahrungen aufeinander beziehen und nicht isoliert erleben. Sie drücken das aus, was wir für unser Leben oder doch für einen gewissen längeren Zeitraum und nicht nur für die jeweilige Situation als bedeutsam empfinden. In diesem Sinne sind sie identitätsstiftend, sind konstitutiv mit Erfahrungen der Selbstbildung verbunden. Dabei erfahren wir die Werte jedoch als etwas, was wir nicht selbst gemacht
Ausgehend
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bringt unbemerkt einen Farbfleck im Gesicht der Probanden an. Der Test gilt als bestanden, der Fleck bei Betrachtung im Spiegelbild zum Gegenstand explorativen Verhaltens gemacht wird; erstmals bei Gallup, Gordon, Chimpanzees: Self-recognition, in: Science 167 (1970), S. 86 f. Vgl. Meuter, Norbert, Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Man
wenn
Natur und Kultur, München 2006, S. 388 ff. Hierzu vor allem Taylor, Charles, Quellen des Selbst. Die Frankfurt a. M. 1996.
Entstehung der neuzeitlichen Identität,
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haben. Phänomenologisch betrachtet, werden Werte nicht hergestellt, sondern vorgefunden. Sie verdanken sich somit nicht nur Erfahrungen der Selbstbildung, sondern auch Erfahrungen, in denen wir unser Selbst überschreiten. Typische Erfahrungen solcher Selbstüberschreitung sind: religiöse Erlebnisse, Begegnungen mit der Natur, besondere soziale Erfahrungen wie z. B. rituelle Praktiken, aber auch intensive Gespräche mit oder die Liebe zu einem anderen Menschen. Werte, welche konkreten Inhalte sie auch annehmen, besitzen diesen Doppelaspekt von Identitätsbildung und Selbsttranszendenz.25 Sie sind damit von ihrer Struktur her eine Ausformung und Entwicklung der empathischen Fähigkeit. Der empathische Akt ist der erste Akt der Selbsttranszendenz und er ist untrennbar mit der Ausbildung der eigenen Identität verknüpft. Auch die eigene Identität, das eigene Selbst, ist daher als ein grundlegender moralischer Wert auszuzeichnen. Es kann nicht darum gehen, dem Anderen immer und in jeder Hinsicht entsprechen zu wollen.26 Der Andere kann sich mir und Dritten gegenüber z. B. unmoralisch verhalten, oder er kann sich in seinem Eigeninteresse missverstehen. Im ersten Fall bin ich u. U. gezwungen, mich gegen den Anderen zu wehren, während ich ihm im zweiten Fall vielleicht mit einer pädagogischen oder therapeutischen Einstellung begegnen muss. Ich muss dem Anderen und den Situationen, in denen er mir begegnet, jedenfalls differenziert gegenüber treten. Dies setzt jedoch voraus, dass ich mich selbst positioniere und den Anderen nicht bedingungslos anerkenne. Und dies bedeutet wiederum: nicht nur der Andere, sondern auch das Selbst stellt einen Wert da. Ich muss einen eigenen Standpunkt finden oder erringen, der es allererst erlaubt, die Perspektive des Anderen anzuerkennen. Ohne hinreichende eigene Identität geht dies
nicht.27
Symbolisierung Ich möchte noch auf einen Aspekt der Moralität eingehen, der mir im Hinblick auf den Bezug zur Narrativität bedeutsam erscheint. Als Ausgangspunkt kann wiederum das Phänomen der Empathie dienen. Die Entwicklungspsychologie kann hier mit einem weiteren interessanten empirischen Befund aufwarten.28 In dem Alter, in dem sich die ersten empathischen Fähigkeiten ausbilden, d. h. mit ca. 18 Monaten, beginnen Kleinkinder auch, Gegenständen bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, die diese eigentlich nicht besitzen. Sie tun z. B. so, als befände sich in einer Tasse Tee und dieser imaginäre Tee sei dann zu heiß oder zu kalt. Etwas später können dann Gegenstände für andere Gegenstände einstehen: z. B. Bauklötze für ein Haus. Oder es werden Puppen mit psychischen Eigenschaften versehen: sie wollen trinken oder baden etc. Hier handelt es sich, wie man leicht sehen kann, um Fälle erster Symbolisierungen: der reale Hierzu Joas, Hans, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1999. Vgl. hierzu die Argumentation gegen Lévinas bei Ricœur, Das Selbst als ein Auch hierzu Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, S. 407. Hierzu Harris, Das Kind und seine Gefühle, S. 65.
Anderer, S. 398 ff.
Identität
und
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Empathie
Bauklotz repräsentiert das Auto, die Puppe einen lebenden Interaktionspartner. Man kann nun die These aufstellen, dass sich mit der einsetzenden Symbolisierungstätigkeit auch die Konzepte des Selbst und des Anderen ausbilden und stabilisieren. Es wäre demnach die Entwicklung der Symbolfunktion, die im Phantasiespiel ihre erste Ausprägung findet, die sowohl die Identitätsbildung als auch das empathische Empfinden ermöglicht. Die Entdeckung des Selbst und des Anderen stellen einen gemeinsamen über die Symbolfttnktion vermittelten Prozess dar. Und Geschichten lassen sich nun als eine zwar nicht die einzige, ohne Zweifel jedoch eine bedeutsame Fortführung der ersten Symbolisierungstätigkeiten verstehen: das durch den Bauklotz repräsentierte Auto macht eine Fahrt, die Puppe durchlebt eine Situation. Bald sind auch sie in Geschichten verstrickt. -
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3. Narrativität und Moralität Nun
Frage: gibt es einen Zusammenhang zwischen Narrativität und Moralität? Ein Bezug liegt auf der Hand: indem Geschichten moralisch exemplarisches Handeln (im positiven wie negativen Sinne) explizit thematisieren, vermitteln sie spezifische Rezur
erster
geln, Werte, Normen und moralische Orientierungen. Narrationen sind „Forschungsrei-
durch das Reich des Guten und Bösen".29 Dieser Sachverhalt ist insbesondere in pädagogischen Kontexten einschlägig. Kinder erfahren und erlernen die moralische Bedeutung von Ereignissen und Handlungen vorrangig in Form von expliziten Erzählungen, in denen moralisch paradigmatische Situationen vorgestellt werden. Die Moral von der Geschieht darf heute zwar nicht mehr allzu offensichtlich präsentiert werden, wenn das pädagogische Ziel auch erreicht werden soll, aber auch die modernen Kinderbücher sind immer noch voll von moralischen Inhalten bzw. mehr oder weniger gelungenen Versuchen, diese zwischen die Zeilen zu schieben. Die Frage nach dem Zusammenhang von Narrativität und Moralität zielt jedoch auf etwas Grundlegenderes als die explizite Thematisierung moralischer Inhalte in erzählten Geschichten. Für eine weitere Diskussion kommt es zunächst darauf an, den Begriff der Narrativität noch in einer weiteren Hinsicht zu bestimmen, nämlich so, dass er nicht nur auf tatsächlich erzählte Geschichten Anwendung findet, sondern als ein Begriff unserer sen
'
Lebenspraxis fungiert.
Erzählte Narrationen und erlebte Geschichten Geschichten sind,
wenn sie erzählt oder überhaupt in einem Medium repräsentiert weroder Konstruktionen. Dafür d. h. für explizit erzählte GeFormen den, symbolische schichten lässt sich der Begriff der Narration reservieren. Die Frage ist, ob und wie die erzählten Narrationen mit den übrigen Lebens-, Handlungs-, und Erfahrungsvollzü-
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Ricceur, Das Selbst als ein Anderer, S. 201.
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Hierzu finden sich in der Literatur dualistische Positionen, die trennen. Demnach besitzen unsere Lebensselbst keine narrative keine Ordnung, Anfange, Mittelteile und Enden. Keine vollzüge Sequenz des wirklichen Lebens ist an sich tragisch, komisch, spannend usw. Bei diesen Charakterisierungen handelt es sich lediglich um retrospektive Überformungen und Stilisierungen mit Strukturen und Mustern, die tatsächlich nur in erzählten Narrationen vorkommen, nicht aber im Leben selbst.30 Die Gegenposition zu dieser Auffassung besteht in der Annahme, dass narrative Strukturen nicht erst das Produkt von Erzählern sind, die Ereignisse zusammenführen, die ohne sie keine Ordnung haben. Vielmehr formen sich narrative Strukturen bereits in Handlungen und in Lebensvollzügen aus: Geschichten werden gelebt, bevor sie erzählt werden. In dieser Sicht bezeichnet der Begriff der Narrativität ein Organisationsprinzip des Erlebens und Handels, ist primär kein Begriff der Ästhetik, sondern der Praxis.31 Zwischen beiden Annahmen lässt sich eine vermittelnde Position beziehen. Einerseits ist unser Erleben und Handeln sicher noch nicht in der Weise narrativ durchkomponiert, wie es die kunstvollen Narrationen der Literatur und der Geschichtsschreibung sind. Das Herausarbeiten einer narrativen Komposition ist ja in der Tat eine Leistung, die eigens erbracht und erlernt werden muss.32 Auf der anderen Seite ist aber unser Erleben und Handeln nicht ohne jegliche Ordnung und Struktur. Wenn wir z. B. ein Projekt über einen längeren Zeitraum verfolgen, dann müssen wir sehr komplexe integrative Leistungen erbringen, die ohne eine zumindest ansatzweise narrative Strukturierung nicht möglich wären. Generell vollziehen wir keine isolierten Einzelhandlungen, sondern diese sind schon im Handeln selbst immer Teil eines Zusammenhangs, den man wohl nur narrativ nennen kann.33 Die Implikation dieser Überlegungen liegt auf der Hand: wenn Narrativität bereits ein Organisationsprinzip des Erlebens und Handelns darstellt, dann ist Narrativität ein legitimer Grundbegriff der Handlungstheorie und damit auch der Moralphilosophie. Wir leben und handeln in narrativen Mustern, und der Sinn, der sich auf diese Weise genegen
zusammenhängen.
„Kunst" und „Leben" streng voneinander
Vgl. Mink, Louis O, Narrative Form as a Cognitive Instrument, in: The Writing of History. Literary Form and Historical Understanding, hrsg. von Canary, Robert H. / Kozicki, Henry, Madison 1978, S. 128-149.
Vgl. Maclntyre, Verlust der Tugend. entwicklungspsychologischen Studien über die Ausbildung narrativer Kompetenzen vgl. Wolf, Dagmar, Zur Ontogenese narrativer Kompetenz, in: Geschichtsbewusstsein. Psychologische Grundlagen, Entwicklungskonzepte, empirische Befunde, hrsg. von Rüsen, Jörn, Köln / Weimar /
Zu
Wien 2001, S. 137-175. Ricceurs Theorie der dreifachen Mimesis erlaubt es, das Zusammenspiel von erlebten Geschichten und erzählten Narrationen detailliert zu beschreiben. Danach ist die Komposition einer expliziten Narration (mimesis-lT) zwar immer eine schöpferische Leistung, die eine neue Perspektive auf die Wirklichkeit erzeugt, die dabei jedoch stets an prä-narrative Strukturen (mimesis-l), die dem Erleben und Handeln schon inhärent sind, anschließt. Durch die Rezeption der expliziten Narrationen in der Lebenswelt (mimesis-111) kann das Erleben und Handeln wiederum eine neue und reichere Strukturierung gewinnen; vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 1.
Identität
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was unserem Leben fremd und äußerlich gegenüberstünde. Dies auch und insbesondere für den moralischen Sinn einer Situation, eines Erlebnisses, gilt einer Handlung. „Moralischer Sinn" ist ja nur ein Sonderfall von Sinn überhaupt. Er
riert, ist nicht etwas,
wird immer dann relevant,
Situationen, Erlebnisse, Handlungen eine besondere, für annehmen. uns außergewöhnliche Bedeutung Abschließend sollen aus den aufgeführten Merkmalen von Narrativität und Moralität einige Grundaspekte einer möglichen narrativen Ethik skizziert werden. wenn
Subjektivität / Kontextualisierung Nimmt man das Strukturmerkmal der Selbstorganisation von narrativem Sinn ernst, kann es sich bei einer narrativen Ethik nicht um eine Ethik handeln, die ihren Fokus im klassischen Prinzip der Subjektivität findet. Wir sind einfach nicht die autonomen Subjekte unserer Handlungen und Aktionen, die wir gerne sein würden. Wir und damit sind Effekte der Geschichten, in die wir verstrickt sind. Wir könunsere Handlungen nen diese Geschichten nicht selbst „schreiben". Wir können zwar planen, zielstrebig etwas angehen, versuchen, dies oder jenes zu realisieren; ob und wie die Wirklichkeit sich dann aber entwickeln wird, entzieht sich unserer Kontrolle. Zumindest bleiben stets mehr oder weniger große unkontrollierbare Reste. Eine unvorhergesehene Peripetie kann alles wieder über den Haufen werfen. Eine solche (wie man vor einiger Zeit wohl noch gesagt hätte) narrative Dekonstruktion von Subjektivität schließt persönliche Verantwortung nicht aus, sondern ein. Nur wird es sich dabei um eine Verantwortung handeln, die in den konkreten narrativen Kontexten erst sichtbar wird, und nicht um eine vorgängige und abstrakte Eigenschaft von Handlungssubjekten. Welches Maß an Verantwortung jemand überhaupt ergreifen kann, lässt sich nicht isoliert von seiner oder ihrer Geschichte beschreiben. Das Zentrum einer narrativen Ethik liegt daher in der hermeneutischen, phänomenologischen, psychologischen, soziologischen Analyse konkreter Situationen und ihrer narrativen Kontexte, die untrennbar mit ihnen verbunden sind, und weniger in der Formulierung abstrakter Prinzipien oder Maximen. Eine narrative Ethik ist daher eher aristotelisch als kantisch wobei es nicht darum gehen sollte, beide Ethiktraditionen -
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...
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gegeneinander auszuspielen.34 -
Emotionalität /
Symbolisierung
Eine narrative Ethik nimmt die grundlegende Emotionalität der Moral ernst (ohne die Bedeutung kognitiver Anteile zu leugnen). Narrationen lassen sich, wie angedeutet, als präsentative Symbolisierungen verstehen, die im Unterschied zu rein diskursiven Symbolisierungen in der Lage sind, unserer Emotionalität eine artikulierte Form zu geben. Ähnlich wie Musik können Geschichten die konkreten Entwicklungsverläufe von EmoSo bei Maclntyre, Verlust der Tugend; zu einer Integration aristotelischer und kantischer Konzepte vgl. Hoffe, Otfried, Lebenskunst und Moral. Oder: Macht Tugend glücklich?, München 2007.
Norbert Meuter
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tionen und Stimmungen ausdrücken. Emotionen können z. B. langsam anschwellen oder plötzlich einsetzen; sie können ebenso plötzlich wieder vorbei sein oder lange nachhallen; sie können sich in Intervallen und Schüben entwickeln oder in einem stetigen Verlauf. Kurz: die „Form" einer Emotion kann ganz unterschiedlich sein. Wie immer sie aber auch sein mag, Geschichten können dieser Form folgen und ihr einen angemessenen Ausdruck geben.35 Sie vermitteln dabei zwar immer auch semantische Inhalte, diese lassen sich jedoch nicht zu normativen Sätzen kondensieren und isolieren, die ohne weiteres auf andere Geschichten übertragen werden könnten. Die Moral klebt gewissermaßen an der jeweiligen emotional-narrativen Form und lässt sich ohne Deformation nicht von ihr ablösen. Dies bedeutet keine Leugnung der kognitiven Aspekte der Moral. Werte, Normen, auch Maximen und Prinzipien haben durchaus ihren Ort in einer narrativen Ethik, sie lassen sich jedoch nicht aus rein begrifflichen und logischen Argumentationen ableiten, sondern müssen als allmähliche Abstraktionen emotionaler Erfahrungen konzipiert werden. Es geht also nicht darum, in unseren Emotionen einfach gefangen zu bleiben. Im Gegenteil: gerade in der Distanzierung und Relativierung von Emotionen muss man ja einen grundlegenden moralischen Impuls sehen. Um sich von Emotionen jedoch zu distanzieren, muss man sie kennen, und dies nicht nur schematisch, sondern möglichst in ihren Nuancen und Facetten. Geschichten ermöglichen genau dies, indem sie unseren Emotionen eine differenzierte symbolische Form geben. Diese Formgebung ist der erste Schritt der Distanzierung: wir agieren die Emotionen nicht mehr einfach aus, sondern gestalten sie narrativ. -
Kontingenz / Perspektivität Narrationen erzeugen, so hieß es weiter oben, systematisch Kontingenzerfahrungen; sie brechen die Macht des Situativ-Faktischen. In sozialer Hinsicht bedeutet Kontingenz Perspektivität. Meine Sicht auf die Welt ist nicht notwendig, andere Sichtweisen wären möglich und sind es faktisch auch: die Anderen haben welche. Moral, so der oben vorgestellte Gedanke, beginnt damit, dass ich die Welt in Perspektiven wahrnehme; die Perspektive des Anderen und meine eigene. Dabei ist es notwendig, dass sich beide Perspektiven gleichberechtigt artikulieren können. Wenn ich nur meine eigene Perspektive erleben kann, bin ich Gefangener meiner narzisstischen Identität, wenn ich nur die des Anderen wahrnehme, bin ich hilf- und korrekturlos meiner sozialen Umwelt ausgeliefert. Empathie und Identität sind zwei Seiten einer (moralischen) Sache. Der Andere und das Selbst sind zwei Werte, die sich nicht gegeneinander ausspielen lassen.
Dies darf allerdings nicht in der Weise missverstanden werden, dass die Form bereits vor und unabhängig von den Geschichten da wäre. Im Sinne der weiter oben angesprochenen Vermittlung von „Kunst" und „Leben" sind Geschichten aktiv an der Formung und Gestaltung unsere emotionalen Erfahrungen beteiligt. Emotionen besitzen zwar eine biologische Basis, sind aber immer auch Ergebnisse kultureller Traditionen. Narrationen sind das Medium dieser Traditionen.
Identität
und
Empathie
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Und genau in dieser Doppelstruktur liegt, so meine These, der zentrale Grundstein einer narrativen Ethik. Geschichten ermöglichen Identitätsbildungen und sie ermöglichen empathische Erfahrungen. Aber es handelt sich nicht nur um eine Ermöglichung, sondern auch um eine Gestaltung und Differenzierung, wobei errungene Stabilitäten immer wieder neu dynamisiert werden (können). Wir identifizieren uns in der Regel mit dem Helden der Erzählung, aber neben dem Helden gibt es noch andere Protagonisten, die ihre eigene Sicht auf die Dinge haben: Opfer, Mitläufer, Schurken, Ohnmächtige, Rebellen. Jede Sichtweise hat ihre eigene Geschichte und u. U. auch ihre Berechtigung. Manche Sichtweisen mögen dabei berechtigter sein als andere. Die Qualität einer Narration liegt darin, dass sie uns Mittel zur Verfügung stellt, genau dies herauszufinden: der Held ist nicht so heldenhaft, der Schurke nicht so schurkenhaft, wie es auf den ersten Blick erschienen ist. Geschichten machen erfahrbar, dass sich die bestehenden Perspektiven ändern können, sie stellen damit Normalitäten und Traditionen in Frage. Im narrativen Raum der Möglichkeiten können Bewertungsweisen für Personen und Handlungen immer wieder variiert und neue imaginiert werden. Jenseits ihrer konkreten moralischen Inhalte, sind Geschichten das Medium, in dem sich die moralische Doppelstruktur von Identität und Empathie entwickelt und zugleich symbolisch präsentieren lässt.
László
Tengelyi
Narratives
Handlungsverständnis
Dem Wort „Handlung" kommt in der deutschen Sprache ein glücklicher Doppelsinn zu. Einerseits verweist dieses Wort, wie wir mit vorläufiger Gültigkeit sagen können, auf Ereignisse in der Welt, deren Urheberschaft wir uns selbst zuschreiben. Andererseits bezeichnet es den Inhaltskern oder das Inhaltsgefüge erzählter Geschichten, besonders wenn sie in literarischer Darstellung vorliegen oder gar als Schauspiele auf der Bühne aufgeführt werden; in diesem zweiten Sinne ist mit „Handlung" das gemeint, was man ansonsten „Fabel" oder „Fabelkomposition" (fr. intrigue oder mise en intrigue, -
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eng. plot oder emplotment) nennt. Dieser Doppelsinn ist deshalb ein glücklicher, weil er einen verborgenen, dabei aber notwendigen Zusammenhang zwischen Handlung im Sinne eines selbstinitiierten Ereignisses in der Welt (Handlung,) und Handlung im Sinne narrativer Fabelkomposition (Handlung2) spürbar macht. In der Tradition westlichen Denkens wurden diese beiden Bedeutungen in der Tat seit Aristoteles immer wieder miteinander verknüpft, obgleich sie keineswegs in allen Sprachen von demselben Wort getragen waren. An einer berühmten und viel zitierten Stelle der Poetik heißt es: „"Eortv [...] ttjç [...] nfja^ecoc ó |aû6oç f] |at|ar)cuç.'" Da wir auf den Gedanken von |at|ar)crtç (Nachahmung) in unserem Zusammenhang keinen besonderen Wert legen, können wir den Sinn dieses Satzes hier auf etwas vereinfachende Weise wiedergeben, indem wir behaupten: „Der Ausdruck der Handlung ist die Fabel". Gemeint ist hier zunächst die Fabel eines Theaterstückes, eines Dramas, das Aristoteles jedoch gerade in dieser Hinsicht vom Epos keineswegs scharf unterscheidet, sondern mit ihm in der Gattung „erzählerischer Dichtung" (ôtr)Yr||aaTiKf] noir\oiç) zusammenfasst. Unter Fabel versteht er dabei nichts anderes als eine cruvÖEcrtc oder cruaTacrtç tgjv 7TQay|_iáxcov2, das heißt eine „Verknüpfung" oder ein „Gefüge der Handlungsbegebenheiten". So lässt sich die angeführte Poetik-Stelle wie folgt verstehen: Die Handlung (genauer: die Handlungi) kommt in der Handlung eines Schauspiels oder auch einer erzählten Geschichte überhaupt (das
Aristoteles, Poética, hrsg. von Gudeman, Adolf, Berlin / Leipzig 1934, 1450 a 3. A. a. O., 1450 a 3, 1450 a 14 und öfters.
László Tengelyi
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heißt: in der Handlung2) als eine Verknüpfung oder als ein Gefüge der jeweiligen Handlungsbegebenheiten zum Ausdruck. Dieser Gedanke soll hier zum Leitfaden einer Handlungsinterpretation genommen werden, die durch das Beiwort „narrativ" gekennzeichnet werden kann, weil die Handlung dabei vom Gesichtspunkt der Geschichtserzählung aus betrachtet wird. So gesehen weist die Handlung ein Muster auf, in dem sich das Selbstgetane mit Erlittenem verficht. Denn die Handlungsbegebenheiten, von denen in unserem Leitsatz die Rede ist, umfassen offenkundig nicht allein die jeweiligen Taten in ihrer zeitlichen Abfolge, sondern auch die Widerfahrnisse, die dem Handelnden im Laufe seines Handelns zustoßen. Zu diesen Widerfahrnissen gehören insbesondere die ungewollten nicht beabsichtigten und auch nicht vorhergesehenen Konsequenzen seines Tuns und Lassens, die der Gesamthandlung merkwürdigerweise keineswegs äußerlich bleiben, sondern ihr vielmehr ein für allemal anhaften, indem sie in ihren Sinn eingehen. In dieser Sicht erweist sich der Handelnde (agens) zugleich als Leidender (patiens). Das Widerspiel von actio und passio deutet hier darauf hin, dass wir uns mit der eingangs gegebenen Bestimmung der Handlung (im ersten Sinne des Wortes) nicht begnügen können: Es gilt zu bedenken, wieweit die Handlung (in diesem Sinne) als ein Ereignis in der Welt aufgefasst wird, dessen Urheberschaft wir uns selbst zuschreiben. Unsere erste Aufgabe besteht darin, die Gründe zu prüfen, die für diese Bestimmung sprechen. Dabei können wir uns auf Ergebnisse der analytischen Handlungstheorie stützen. In einem zweiten Schritt versuchen wir dann, die eingangs gegebene Kennzeichnung der Handlung zu berichtigen. Diese zweite Aufgabe macht, wie wir sehen werden, den Übergang zu einer (hermeneutisch angelegten) Handlungsphänomenologie erforderlich. -
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1.
Handlungsbeschreibung und Handlungszuschreibung
Abgesehen von Göttern,
sind es Menschen allein, die handeln können. Eine Handlung unterscheidet sich ebenso sehr vom tierischen Verhalten wie von einem Naturereignis. Worin liegt aber dieser Unterschied? Von alters her antwortet man auf diese Frage, indem man die Absichtlichkeit als das Unterscheidungsmerkmal der Handlungen anführt. Es hat aber seine Schwierigkeit mit dieser Antwort. Es ist nämlich leicht einzusehen, dass eine absichtliche Handlung nicht nur auf eine Weise beschrieben werden kann und nicht unter jeder Beschreibung absichtlich bleibt. Wenn wir sagen, dass Ödipus am bewussten Kreuzweg an einem hochmütigen Reisenden wegen erlittener Beleidigung Rache nimmt, so beschreiben wir keine andere Handlung, als wenn wir behaupten, dass Ödipus an diesem Kreuzweg seinen Vater tötet. Diese Handlung ist jedoch unter der einen der beiden Beschreibungen absichtlich, unter der anderen dagegen unabsichtlich. Ob eine Handlung absichtlich genannt werden kann oder nicht, ist demnach nicht unabhängig davon, welche Beschreibung zu ihrer Kennzeichnung gewählt wird. Deshalb
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Narratives Handlungsverständnis
sind wir jedoch nicht in der Lage, die absichtlichen Handlungen als eine fest umrissene Klasse von Ereignissen in der Welt zu bestimmen.3 Damit ist nicht gesagt, dass die absichtlichen Handlungen sich nicht als öffentlich zugängliche Ereignisse fassen ließen. Die zunächst im Gefolge der Spätphilosophie von Wittgenstein entwickelte analytische Handlungstheorie hat eindeutig gezeigt, dass die Rede von der Absichtlichkeit der Handlung sehr wohl an öffentliche Kriterien gebunden ist. Davon zeugt schon der einfache Umstand, dass der Handelnde, wenn er danach gefragt wird, seine Absicht als den Grund seiner Handlung nennen kann. Wer absichtlich handelt, versucht, seine Absicht zu verwirklichen. Daraus folgt, dass eine absichtliche Handlung immer eine Zweck-Mittel-Struktur aufweist: Sie lässt sich als eine mehr oder weniger angemessene Vorgehensweise zur Verwirklichung ihrer Absicht begreifen. Infolgedessen unterscheiden sich die absichtlichen Handlungen vor allem dadurch im Gegensatz zu Naturbegebenheiten und zum von allen anderen Ereignissen, dass sie tierischen Verhalten teleologische Erklärungen zulassen. In der Anfangsphase der analytischen Handlungstheorie wurde die teleologische Erklärung der Handlungen jeglicher Kausalerklärung entgegengesetzt. Man hob damit die Handlungsgründe von den Ursachen der Naturbegebenheiten scharf ab. In dieser Epoche sind Denker wie A. I. Melden und Stuart Hampshire4, aber auch eine Denkerin wie Elisabeth Anscombe5, eher dazu geneigt, die Rede von Handlung und Handlungsgründen und die Rede von Ereignissen und Ursachen als zwei ungleichartige Sprachspiele im Sinne des späten Wittgenstein zu betrachten. Durch diese Auffassung ist auch der Rückgriff auf den praktischen Syllogismus bei Aristoteles motiviert.6 Ein Versuch, Kausalerklärung und teleologische Erklärung miteinander in Verbindung zu bringen, wie er etwa von Georg Henrik von Wright7 unternommen wird, gilt zu dieser Zeit eher als eine Ausnahme. Im Rückblick findet man diese Neigung, Ursachen und Handlungsgründe voneinander scharf zu trennen, umso verwunderlicher, als das Begehren ein Phänomen ist, dem wie Ricœur mit Recht bemerkt8 ein gemischter Charakter von Handlungsursache und Handlungsgrund zukommt, da es sich vom Gesichtspunkt der Rechtfertigung von Handlungen als Sinn, vom Gesichtspunkt des für die Handlung notwendigen Antriebs dagegen als Kraft darstellt. Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass die anfangs in der analytischen Handlungstheorie vorherrschende Gegenüberstellung von Handlung und Ereignis bald schon in Frage gestellt wird. -
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8
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Der Grund dieses Sachverhalts liegt, wie wir in der Sprache logischer Semantik sagen können, in der Intensionalität der Absichtszuschreibungen. Siehe Davidson, Donald, Handlung und Ereignis, dt. von Schulte, Joachim, Frankfurt a. M. 1990, S. 77. Hampshire, Stuart, Thought and Action, London 1959. Anscombe, Gertrude Elisabeth Margaret, Intention, Oxford 1959. A. a. O., S. 57-74. Von Wright, Georg Henrik, Explanation and Understanding, Ithaca (New York) 1971. Ricœur, Paul, Soi-même comme un autre, Paris 1990, S. 83.
László Tenqelyi
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In der Tat erhebt Donald Davidson bereits im Jahre 1963 Einwände gegen diese Auffassung. In seinem Artikel Handlungen, Gründe und Ursachen verficht er die Doppelthese, der zufolge die Absicht mit dem Handlungsgrund zusammenfallt, der Handlungsgrund aber zugleich als die Ursache der Handlung zu gelten hat. Um diese Doppelthese zu erhärten, verweist er darauf, dass die Entstehung eines zur Handlung antreibenden Begehrens oder, allgemeiner, die Einnahme einer der Handlung günstigen Einstellung ein geistiges Ereignis ist, das mit der Handlung in kausalen Zusammenhang gebracht werden kann. Allerdings muss man dabei auf manche Vorstellungen verzichten, die sich im Laufe der Zeiten mit der Idee eines Kausalverhältnisses überhaupt verbunden haben. Es gilt vor allem deutlich zu sehen, dass es ein Irrtum ist, zu glauben, es sei keine kausale Erklärung gegeben worden, solange kein Gesetz genannt worden ist.9 Es gibt durchaus kausale Erklärungen, die einzelne Ereignisse miteinander verbinden, ohne sich dabei auf ein Gesetz zu berufen. Damit hängt weiterhin zusammen, dass ein Kausalverhältnis keineswegs ausschließlich durch Beobachtung und Induktion erkannt werden kann.10 Deshalb ist es zwar richtig, dass man sich in der Regel über seine eigenen Absichten ohne Beobachtung und Induktion im Klaren ist," aber es folgt daraus gleichwohl nicht, dass diese Absichten nicht zugleich als Handlungsursachen gelten könn-
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ten.12
Damit tut Davidson bereits die ersten Schritte auf dem Weg, der ihn dazu führen wird, die Handlungen als Ereignisse unter anderen Ereignissen in der Welt zu bestimmen. Es handelt sich bei dieser Bestimmung um eine ontologische Aussage, die deutlich macht, welches Seiende man annehmen muss, um von Handlungen sinnvoll reden zu können. In der Ontologie ist Davidson dem Ansatz von Quine verpflichtet, der die Entscheidung von Existenzfragen durch seine Formel „To be is to be the value of a bound variable"'3 in die logische Semantik unserer sprachlichen Ausdrucksformen (und, im Besonderen, unserer wissenschaftlichen Theorien) verweist. In der Tat untersucht auch Davidson, welche Entitäten vorausgesetzt werden müssen, damit unsere Sätze über Handlungen wahr und unsere Schlüsse aus diesen Sätzen gültig sein können. Dass die Handlungen Ereignisse unter anderen Ereignissen in der Welt sind, ist diejenige Antwort auf diese Frage, die sich aus seinen Untersuchungen ergibt. Die Berücksichtigung absichtlicher Handlungen drängt dazu, die gewohnte Substanzontologie, mit der die logische Semantik ansonsten operiert, zu erweitern. Die bloße Annahme wiedererkennbarer Einzeldinge als Träger von Prädikaten (bzw. Eigenschaften) ist nicht hinreichend, um den Eigentümlichkeiten der Handlungssprache Rechnung zu tragen. Erforderlich ist darüber hinaus auch die Annahme von Einzelereignissen als selbstständiger 9 10 11
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Davidson, Handlung und Ereignis, S. 39. A. a. O., S. 40 f. Vgl. Anscombe, Intention, S. 13-15. Davidson, Handlung und Ereignis, S. 40 f. Quine, Willard van Orman, On What There Is, in: ders., From a Logical Point of View. LogicoPhilosophical Essays, Cambridge (Mass.) / London l01994 ('1953), S. 15.
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Narratives Handlunosverständnis
Ontologisch gesehen gehören die absichtlichen Handlungen zu dieser letzteKategorie des Seienden. Nur dass sich an diesem Punkt die bereits gestreifte Schwierigkeit, dass die absichtlichen Handlungen von den jeweiligen Handlungsbeschreibungen nicht unabhängig sind, erneut geltend macht. Wie können wir jedoch dann die Handlungen mit gewissen Ereignissen unter anderen Ereignissen in der Welt gleichsetzen? Davidson findet einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit, indem er Handlungsfehler Irrtümer bei Handlungen betrachtet. Nehmen wir zwei Beispiele, die er selbst anführt: 1. Wenn ein Marineoffizier mit einem Torpedo die Tirpitz versenken will, aber Entitäten.
ren
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irrtümlicherweise die Bismarck trifft, so versenkt er die Bismarck unabsichtlich; was er tut, bleibt gleichwohl eine Handlung von ihm, es bleibt also eine Handlung, deren Urheberschaft er sich selbst zuzuschreiben hat. 2. In dem Gemach seiner Mutter tötet Hamlet den Mann hinter dem Gobelin absichtlich, ohne jedoch zu wissen, dass er damit Polonius tötet; die Tötung des Polonius bleibt gleichwohl eine Tat, zu der er sich bekennen muss. Diese beiden Beispiele sind dazu bestimmt, uns zu einer wichtigen Einsicht hinzuführen. In der Tat begreifen wir anhand von ihnen ohne Weiteres, dass Urheberschaft und Absichtlichkeit von Handlungen als zwei verschiedene Dinge zu gelten haben, die zwar nicht unabhängig voneinander sind, aber miteinander auch nicht gleichgesetzt werden können. Ihr Zusammenhang besteht darin, dass jemand dann und nur dann der Urheber einer Handlung ist, wenn „sich, was er tut, unter einem Aspekt beschreiben lässt, durch den sein Tun zu einem absichtlichen wird".14 Diese Einsicht versetzt uns in die Lage, wenn auch nicht absichtliche Handlungen, so doch Handlungen überhaupt als Ereignisse unter anderen Ereignissen in der Welt zu betrachten. Denn jetzt begreifen wir, dass die Beziehung, die zwischen einer Handlung und ihrem Urheber besteht, unabhängig davon ist, wie die Handlung beschrieben wird. Es trifft zwar zu, dass sie nur dann überhaupt einem Urheber zugeschrieben und als Handlung bezeichnet werden kann, wenn sie von jemandem zumindest unter einer Beschreibung absichtlich vollzogen wird. Ist aber diese Bedingung einmal erfüllt, so ist die Handlungszuschreibung unter jeder Handlungsbeschreibung gültig.15 Deshalb sind wir in der Lage, zwar nicht die absichtlichen Handlungen, wohl aber die Handlungen, deren Urheberschaft wir uns zuschreiben, als eine fest umrissene Klasse von Ereignissen in der Welt zu bestimmen.16
14 15
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Davidson, Handlung und Ereignis, S. 77. Alles kommt hier darauf an, den Unterschied zwischen Handlungsbeschreibung und Handlungszuschreibung deutlich zu sehen. Eine Handlung ist immer nur unter bestimmten Beschreibungen absichtlich; sie wird aber ihrem Urheber unabhängig von ihrer jeweiligen Beschreibung zugeschrieben. Daher „ist das Kriterium des Handelns zwar im semantischen Sinne intensional, doch die Ausdrucksweise selbst, durch die das Handeln zugeschrieben wird, ist rein extensional." (Siehe a. a. O., S. 78.) Ebd.
László Tengelyi
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Die Unabhängigkeit der Handlungszuschreibung von der jeweiligen Handlungsbeschreibung ist jedoch eine Eigentümlichkeit, die weniger harmlos ist, als sie aussieht. Denn aus ihr folgt, dass der Urheber einer absichtlichen Handlung zugleich als der Urheber aller ungewollten Konsequenzen dieser Handlung zu gelten hat. Die gemeinsame Urheberschaft verbindet aber diese Konsequenzen mit der absichtlichen Handlung anders, als die Naturkausalität die Ereignisse mit deren Wirkungen verbindet. Denn, wie Davidson treffend sagt, „liefert uns jede Konsequenz eine Tat; der Handelnde bewirkt, was seine Handlungen bewirken".17 Gemeint ist damit, dass jede neue Handlungsbeschreibung als eine Neubeschreibung der ursprünglichen Handlung gilt. Die Wirkungen, die von Naturbegebenheiten hervorgerufen werden, gehen nicht in den Sinn des auslösenden Ereignisses selbst ein; bei den Handlungen ist aber gerade dies der Fall. Ein Vulkanausbruch bleibt ungeachtet seiner mehr oder weniger verheerenden Wirkungen unter allen Umständen das, was er ist; dagegen bestimmt sich die Tötung eines hochmütigen Reisenden an einem Kreuzweg unter gewissen Umständen als ein Vatermord. Dieser Unterschied zeigt, dass „wir die Konsequenzen von Handlungen anders auffassen als die Konsequenzen anderer Ereig-
nisse".18
Vielleicht können wir sogar mehr sagen, wenn wir bedenken, dass sich die ungewollKonsequenzen der Handlungen nicht immer gleichzeitig mit ihnen einstellen, sondern in manchen Fällen erst später auftreten oder sich mit der Zeit entfalten. Offenbar können auch derartige Konsequenzen zur Neubeschreibung der ursprünglichen Tat verwendet werden. Um nur ein Beispiel zu nennen, können wir durchaus behaupten, dass der frühe Fichte durch seine kritische Aneignung von Kant den Deutschen Idealismus begründet, obgleich vom Deutschen Idealismus erst im Rückblick von Schelling und Hegel her die Rede sein kann. Für eine Ontologie der Handlungsereignisse ergeben sich daraus merkwürdige Konsequenzen. Es stellt sich heraus, dass der Sinn eines Handlungsereignisses im Gegensatz zum Sinn von Naturbegebenheiten in keinem Augenblick fertig vorliegt, sondern sich stets ändern kann. Gemeint ist damit eine Änderung, die nicht etwa durch den Fortschritt der Erkenntnis, sondern einzig und allein durch die Entfaltung der Handlungsfolgen bedingt ist. Manche Auswirkungen einer Handlung melden sich mit einem erheblichen Zeitunterschied. Dass Fichte eine Denkrichtung begründet hat, die nach einem halben Jahrhundert ihre unmittelbare Überzeugungskraft weitgehend einbüßen sollte, ist eine Tatsache, die erst im Nachhinein festgestellt werten
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17
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A. a. O., S. 87. Was Davidson auf diese Weise beschreibt, wird in der analytischen Philosophie mit einem Ausdruck von Joel Feinberg als „Akkordeoneffekt" bezeichnet. Siehe Feinberg, Joel, Action and Responsibility, in: Philosophy in America, hrsg. von Black, Max, Ithaca (New York) 1965, S. 146: „This well-known feature of our language, whereby a man's action can be described as narrowly or broadly as we please, I propose to call the ,accordion effect', because an act, like the folding musical instrument, can be squeezed down to a minimum or else stretched out. He turned the key, he opened the door, he startled Smith, he killed Smith all of these are things we might say that Jones did with one identical set of bodily movements." Davidson, Handlung und Ereignis, S. 89. -
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Narratives Handlungsverständnis
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den kann;
gleichwohl hat diese Handlungsbeschreibung als eine Neubeschreibung der ursprünglichen Handlung zu gelten. Angesichts dieser Eigentümlichkeiten der Handlungsereignisse ist man versucht, mit einem bei Kant entlehnten Ausdruck zu behaupten, dass die Handlungszuschreibung „keinen Zeitunterschied anerkennt".19 Unsere Überlegungen deuten daraufhin, dass wir uns mit der Bestimmung der Handlungen als Ereignisse unter anderen Ereignissen in der Welt nicht zufrieden geben können. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass unsere Betrachtung an diesem Punkt eine spekulative Wende nehmen und sich der Annahme einer überzeitlich-noumenalen Urheberschaft der Handlungsereignisse verschreiben musste. Denn wir haben bisher noch gar nicht bedacht, wie die unbeabsichtigten und unvorhersehbaren Konsequenzen einer Handlung mit der ursprünglich gewollten Tat zusammenhängen. Wie auch immer unsere Antwort auf diese Frage des Näheren beschaffen sein mag, Eines steht dabei von vornherein fest: Der Zusammenhang von Handlung und Handlungsfolgen wird nicht einfach vom äußeren Beobachter erfasst; die Handlungsfolgen widerfahren vielmehr dem Urheber der Tat selbst, sie werden von ihm zumindest teilweise unmittelbar erlebt oder mittelbar erfahren. Daraus folgt nicht nur, dass ein Handlungsereignis mit dem aristotelischen Ausdruck als ein „Gefüge von Handlungsbegebenheiten" gekennzeichnet werden kann, das jeweils Taten und Widerfahrnisse, Selbstgetanes und Erlittenes, actio und passio in sich vereinigt, sondern es ergibt sich aus dem Gesagten auch eine weitere Einsicht in die Natur desjenigen Ereignisses, das man Handlung nennt. Es stellt sich in der Tat heraus, dass der Zusammenhang von Handlung und Handlungsfolgen wesenhaft an die Sicht des Handelnden gebunden ist und sich von dieser Sicht kaum je ganz ablösen lässt. Anders als die Naturkausalität verbindet er daher nicht bloß verschiedene Ereignisse in der Welt untereinander, sondern er bezieht sie zugleich alle je einzeln und auch in ihrer Gesamtheit auf den Urheber der Handlung zurück. Damit enthüllt er sich als ein Erfahrungszusammenhang im Sinne einer Erfahrung, die der Urheber mit seiner eigenen Handlung macht (bzw. die wir von seinem Standpunkt aus mit seiner Handlung machen). Als Erfahrungszusammenhang gehört aber das Gefüge der Handlungsbegebenheiten nicht in eine Welt unpersönlicher Ereignisse, wie die Naturbegebenheiten es sind. Ricœur drückt diese Einsicht treffend aus, indem er darauf hinweist, dass die Handlung in ihrer Eigenart verfehlt wird, wenn in Bezug auf sie nur die Was- und die WarumFrage gestellt werden, die Wer-Frage dagegen unterdrückt wird.20 Ist der Zusammenhang von Handlung und Handlungsfolgen tatsächlich ein Erfahrungszusammenhang, der sich von der Sicht des Urhebers der Handlung nicht trennen lässt, so erhebt sich hier sogar die Frage nach der Selbstheit des Handelnden, und zwar im Sinne seines Selbstbleibens in allen Erfahrungen, die er mit seiner eigenen Handlung macht. Diese neu auftauchende Frage macht, wie Ricœur zeigt, den Übergang zu einer „hermeneutischen -
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Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. V, Berlin 1913, S. 99.
Ricœur, Soi-même comme un autre, S. 78 f. und öfters.
László Tengelyi
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Phänomenologie des handelnden Menschen"21 und zu einer „phänomenologischen Hermeneutik des Selbst"22 erforderlich.23 Wir können hinzufügen, dass die Beschreibung des sich fortbildenden Handlungssinnes gleichfalls einer phänomenologischen Herangehensweise bedarf. Machen wir mit der einmal von Davidson erwähnten Aufgabe Ernst, der zufolge es klarzustellen gilt, „wodurch ein Stück Lebensgeschichte zur Handlung wird",24 so müssen wir von der Ontologie unpersönlicher Ereignisse zu einer Phänomenologie lebensweltlicher Erfahrung zurückkehren, in der das Gefüge der Handlungsbegebenheiten selbst als Erfahrungzusammenhang fassbar wird.
2.
Handlungserfahrung und Handlungserzählung
Wodurch wird also ein Stück Lebensgeschichte zur Handlung? Unser bisheriger Weg führte uns von einer ersten Antwort auf diese Frage zu einer zweiten. Der Schlüsselbegriff der ersten Antwort war die Absichtlichkeit; die zweite Antwort ließ an deren Stelle einen anderen Begriff, den der Urheberschaft der Handlung, treten. Handlung ist demnach nicht allein das absichtliche Tun und Lassen, sondern jedes Stück Lebensgeschichte, dessen Urheberschaft man sich zuschreiben kann. So verstanden begreift jedoch die Handlung (Handlung]) Selbstgetanes und Erlittenes, Taten und Widerfahrnisse, das heißt ein „Gefüge von Handlungsbegebenheiten" im aristotelischen Sinne dieses Ausdrucks (Handlung2), in sich. Aus dieser Feststellung ergibt sich nun die Möglichkeit einer dritten Antwort auf Davidsons Frage: Ein Stück Lebensgeschichte wird dadurch zur Handlung, dass es sich zum Kern einer erzählten Geschichte verdichtet. Dass die Handlungen nach Erzählungen verlangen, wird seit Hannah Arendts Vita activa (ursprünglich: The Human Condition) immer wieder betont. Es wird jedoch selten hinzugefügt, dass die Verbindung zwischen Handlung und Erzählung durch die Erfahrung vermittelt wird, die der Handelnde mit seiner Handlung macht.25 Wird die Handlung unter einer einzigen Beschreibung betrachtet, so kann sie eindeutig bezeichnet, aber noch nicht erzählt werden. Erst der Erfahrungszusammenhang zwischen verschiedenen Handlungsbeschreibungen gibt den Inhaltskern einer erzählten Geschichte her. Die narrative Verstehbarkeit der Handlung erwächst gerade aus der Verknüpfung dieser Beschreibungen. Es lohnt sich, zwei verschiedene Arten dieser Verknüpfung näher zu betrachten. Die erste Verknüpfungsart von Handlungsbeschreibungen ergibt sich aus den verschiedenen Tätigkeitsformen, die auf Englisch practices, auf Französisch pratiques heißen O., S. 352. O., S. 380. Vgl. a. a. O., S. 106 f. und 135 f. Davidson, Handlung und Ereignis, S. 75. Siehe dazu vom Verf. Erfahren, Handeln, Erzählen, in: Möglichkeiten und Grenzen der Narration, hrsg. von Trinks, Jürgen, Wien 2002, S. 97-112, neu abgedruckt in: Tengelyi, László, Erfahrung und Ausdruck (Phaenomenologica, Bd. 180), Dordrecht / Boston / London 2007, S. 293-304. A. A.
a.
a.
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Narratives Handlungsverständnis
und in der deutschen Fachsprache manchmal als „Praktiken" bezeichnet werden. Ein Beruf, ein Spiel, eine Wissenschaft, eine Kunst sind ebenso Tätigkeitsformen im einschlägigen Sinn wie die sachgerechte Arbeit im Garten oder die traditionsgetreue Plauderei mit den Nachbarn. Diese Tätigkeitsformen sind Gepflogenheiten, die sich in vielen Fällen auf Institutionen stützen, ohne jedoch im engeren Sinne des Wortes selbst Institutionen zu sein. Wie Alasdair Maclntyre treffend bemerkt, sind das Schachspiel, die Physik und die Medizin Tätigkeitsformen, der Schachverein, die Universität und das Krankenhaus dagegen Institutionen.26 Eine Tätigkeitsform verbindet jeweils verschiedene Handlungsbeschreibungen untereinander. So hält etwa ein Philosophieprofessor eine Vorlesung über die Entstehung der Metaphysik, er legt seine Auffassung vom Unterschied zwischen Piaton und Aristoteles dar, er deckt einen Teil des fünften Moduls des neu eingeführten Bachelor-Studiengangs ab, er bereitet Studierende für die Modulabschlussprüfung vor, er übt seinen Beruf aus. Im Rahmen der Gesamttätigkeit eines Philosophieprofessors sind diese verschiedenen Handlungsbeschreibungen miteinander von vornherein verknüpft, ohne dass ihre Verbindungen logisch-analytischer Natur wären. Wir können darauf aufmerksam werden, dass die Handlung unter all diesen Beschreibungen als absichtlich zu gelten hat. Darin besteht gerade die Eigentümlichkeit dieser ersten Verknüpfungsart von Handlungsbeschreibungen. Die als „Praktiken" bezeichneten Tätigkeitsformen beruhen auf einer systematischen Gliederung der Hand-
lungsabsichten. Handlungen, die im Rahmen derartiger Tätigkeitsformen vollzogen werden, sind immer erzählungsfähig, aber selten erzählungswürdig. Denn der durchsichtige Zusammenhang, der hier die verschiedenen Handlungsbeschreibungen miteinander von vornherein verbindet, lässt für Schicksalswenden und sonstige Überraschungen nur wenig Raum übrig. Dagegen ist die zweite Verknüpfungsart von Handlungsbeschreibungen, die wir betrachten wollen, der eigentliche Nährboden erzählter Geschichten. Gemeint ist die Verknüpfung der Handlung mit ihren ungewollten Konsequenzen. Nicht erst seit Hegel wissen wir, dass „in der unmittelbaren Handlung etwas Weiteres liegen kann als in dem Willen und Bewußtsein des Täters" und dass die Handlung oft „sich umkehrt gegen den, der sie vollbracht", ja, dass sie „ein Rückschlag gegen ihn" werden kann, „der ihn zertrümmert".27 Bereits die griechische Tragödie ist von dieser Einsicht durchdrungen. Wenn wir daran denken, wie geradlinig der Zorn des Achilleus zum Tod seines Freundes Patroklos führt, begreifen wir zugleich, wie wenig sich das Epos oder zumindest die Ilias gerade in dieser Hinsicht von der Tragödie unterscheidet. Aristoteles, der in der Poetik das Drama und das Epos gleichermaßen im Auge hat, prägt zum ersten Mal die Begriffe, die geeignet sind, von diesem Grundzug der Handlung Rechenschaft zu geben. Ich meine die Begriffe tízqitiíteux (Umschlag, Wende oder Wendepunkt, Schicksalswechsel) und àvayvcoQiaiç (Erkennung, Erfah-
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Maclntyre, Alasdair, After Virtue. A Study in Moral Theory, London 21985 ('1981), S. 194. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Leipzig o. J., S. 64.
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Die Poetik kennt zwar mehrere Arten von Erkennung oder Erfahrung, darunter auch solche, die sich mit keinem Umschlag oder Wendepunkt verbinden. Aristoteles betont aber, dass diejenige Art von Erkenntnis oder Erfahrung für die Fabel (Handlung2) und daher auch für die Handlung (Handlung]) die bedeutsamste ist, die sich wie in König Ödipus mit einem Schicksalswechsel verbindet.28 Da jede Handlung ungewollte Konsequenzen heraufbeschwören und deshalb in gewissem Sinne in ihr Gegenteil umschlagen kann, trägt jede Handlung zumindest die Möglichkeit eines Schicksalswechsels in sich, den der Handelnde nicht vorhersehen kann und den er ebendeshalb erst im Nachhinein als unvermeidbare Konsequenz seiner ursprünglichen Tat zu erkennen oder zu erfahren hat. Es wäre gewiss ein fragwürdiges Verfahren, jeder Handlung tragische Züge verleihen zu wollen. Wer jedoch handelt, läuft immer Gefahr, die Erfahrung ungewollter Peripetien machen zu müssen. Daher ist es keine bloß zufällige Tatsache, dass sich das griechische Wort „Drama" auf das Handeln überhaupt bezieht. In dieser Bezeichnung kommt die Erkenntnis zum Ausdruck, dass die Handlung als solche der Kerngegenstand der als Schauspiel dargestellten Geschichten ist. Das Gewebe der Tätigkeitsformen, das sich durch unsere ganze Lebenswelt hindurchzieht, bietet einen gewissen Schutz gegen die ungewollten Handlungsperipetien. Dafür ist allerdings ein hoher Preis zu zahlen. Die Tätigkeitsformen fügen die einzelnen Handlungen einem umfassenderen Rahmen meistens sachlich bestimmter und oft durch lange Überlieferungen verfestigter, mehr oder weniger traditionsgebundener Zusammenhänge ein. Bis zu einem gewissen Grad lösen sie sie dadurch aus dem Erfahrungszusammenhang individueller Lebensgeschichte heraus und koppeln sie damit von der Selbstheitsbildung des Handelnden ab. Dass dieser Entpersonalisierungsprozess der Handlungen jedoch notwendig an Grenzen stoßen muss, ist von vornherein klar. Denn der Handelnde bleibt auch im Rahmen umfassenderer Tätigkeitsformen der Urheber seiner Handlungen. Die gemeinsame Urheberschaft verbindet aber die individuellen Handlungen selbst dann untereinander, wenn sie ganz verschiedenen Tätigkeitsformen angehören oder in einem Zwischenreich etablierter Praktiken angesiedelt sind. In diesen Querverbindungen zeichnet sich ein Erfahrungsweg ab, auf dem der Einzelne die Lebenswelt durchwandert. Allerdings ist dieser Erfahrungsweg gegen die ungewollten Konsequenzen der Handlungen beinahe gänzlich ungeschützt. So betrachtet bleibt eine Handlung jeweils ein Stück persönlicher
rung).
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Lebensgeschichte. Die narrative Deutung des Selbst, zu der Hannah Arendt eine erste Anregung gab und die dann von Alasdair Maclntyre, Paul Ricœur, David Carr, Charles Taylor und anderen verschiedentlich entwickelt wurde, geht davon aus, dass sich die Selbstheit des Selbst keineswegs nach dem Vorbild der sich inmitten von Veränderungen eine Zeitlang gleichbleibenden Dingsubstanzen aufgefasst werden kann, sondern mit der erzählten Ereignisfolge gleichgesetzt werden muss, die man „Lebensgeschichte" nennt. MaclntyAristoteles, Poética, 1452 a 31-32.
Narratives Handlungsverständnis
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versteht dabei schon das Leben selbst als eine „auf die Bühne gebrachte" oder „ins Werk gesetzte Erzählung" {enacted narrative); dagegen bestehen andere wie Ricœur auf dem Unterschied von Leben und erzählter Geschichte, allerdings hinzufügend, dass die Handlung und damit auch das Leben doch zumindest als eine „im Ansatz vorhandene Geschichte" aufgefasst werden kann. Phänomenologisch gebildete Autoren wie Carr und Ricœur geben zugleich zu verstehen, dass die erzählte Lebensgeschichte nur dann mit der Selbstheit des Selbst gleichgesetzt werden kann, wenn sie den Charakter einer Reflexion auf das Getane und Erlittene hat und daher Anspruch darauf erheben kann, eine Innenansicht der jeweiligen Handlungsbegebenheiten zu bieten. Aber wir können hier von diesen Abweichungen in den jeweiligen Fassungen der gleichen Grundidee absehen. Diese Grundidee selbst hat auf jeden Fall ihren Stellenwert in der zeitgenössischen Diskussion über die personale Identität. Trotzdem kann man nicht behaupten, dass die Vertreter der narrativen Deutung des Selbst aus der Tatsache der Handlungsperipetien alle Konsequenzen gezogen hätten. Dass es inmitten der Lebensgeschichte zu Umschlagsstellen und Schicksalswenden kommen kann, deutet darauf hin, dass grundsätzlich keine erzählte Geschichte den ganzen Reichtum an Sinnansätzen erschöpfen kann, die unseren Handlungen in ihrem jeweiligen Erfahrungszusammenhang anhaften. Daher bleibt jede narrative Deutung des Selbst einseitig. Weit entfernt, das Rätsel des gefühlsmäßig übrigens stets gesicherten Selbstseins und Selbstbleibens zu entschlüsseln, beruht sie auf einer einheitsstiftenden Bündelung von Sinnbildungsvorgängen, die in verschiedene Richtungen weisen und mehrere Fortsetzungsre
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möglichkeiten vorzeichnen.29 Aber die narrative Deutung des Selbst verbindet sich mit einem weiteren Gedanken von grundlegender Wichtigkeit, der zur ethischen Dimension der Handlung hinüberlei-
der durchaus haltbar zu sein scheint. Es handelt sich um den Gedanken, dass bei menschlichen Wesen und bei ihnen allein die Urheberschaft zu einer Rechenschaftsablegung verpflichtet. Wie Maclntyre zeigt, verstehen wir die Handlung vom Gesichtspunkt der Geschichtserzählung aus von vornherein so, dass jemand von ihr Rechenschaft ablegen oder zumindest zu einer Rechenschaftsablegung von ihr aufgefordert werden kann.30 Wir können hinzufügen, dass die Rechenschaftsablegung von einer Handlung mit der Darlegung der bewussten Absichten beginnt und darüber hinaus sich in dem Maße als auf eine narrative Verstehbarkeit des Gefüges der jeweiligen Handlungsbegebenheiten angewiesen erweist, in dem sie sich auch auf ungewollte Kontet und
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sequenzen der Handlung erstreckt. Aus diesen Überlegungen geht eine wichtige Schlussfolgerung hervor, die sich auf die Frage nach dem Zusammenhang von Handlung und Erzählung bezieht. Verlangen die Handlungen nach Erzählungen, so deshalb, weil sie sich einerseits der Verfügungsgewalt ihres Urhebers entziehen und unbeabsichtigte Folgen herbeiführen, andererseits aber ihrem Urheber gleichwohl samt dieser Folgen nicht einmal bloß zugeschrieben, -
Siehe dazu vom Verf. Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte, München 1998, besonders S. 39^15. Maclntyre, After Virtue, S. 209.
László Tengelyi
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sondern sogar zugerechnet werden. Dass die Urheberschaft von Handlungen den Menschen zu Rechenschaftsablegung verpflichtet und ihm damit Verantwortlichkeit aufbürdet, ohne die Herrschaft über die ungewollten Konsequenzen der absichtlich vollzogenen Taten jemals übernehmen zu können, kann als das Grunddilemma menschlicher Handlungsfreiheit bezeichnet werden. Die Handlungserzählung nährt sich von diesem Grunddilemma. Sie verleiht ihm eine eigentümliche Fruchtbarkeit, allerdings ohne es aufzulösen. Mit Ricoeur könnten wir hier von einer Neubeschreibung (redescription) und sogar einer Neugestaltung (refiguration) der Handlung durch die Erzählung reden. Welches Bild zeichnet sich aber von der Handlungsfreiheit vor unseren Augen ab, wenn wir sie vom Gesichtspunkt der Geschichtserzählung aus betrachten? Um zum Abschluss unserer Untersuchungen eine Antwort auf diese Frage zu geben, können wir zunächst einen Gedanken von Schelling heranziehen, der in den griechischen Tragödien ein Gleichgewicht der Notwendigkeit und der Freiheit zu entdecken meint.31 Zur Verdeutlichung dieser Formel beruft er sich auf König Ödipus, dem „das höchste denkbare Unglück" widerfahren sei, nämlich: „ohne wahre Schuld durch Verhängniß schuldig zu werden",32 der sich jedoch bereit fand, „auch für diese durch das Schicksal verhängte Schuld freiwillig [zu] büßen",33 um so „im Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit zu beweisen"34 und auf diese Weise deren Gleichgewicht mit der Notwendigkeit, dem Schicksal, dem Verhängnis wiederherzustellen. Diese Tragödiendeutung weist, selbst wenn sie als Interpretation des Ödipus-Dramas von Sophokles nicht über allen Zweifel erhaben sein sollte, wohl die einzige Möglichkeit auf, das Grunddilemma menschlicher Handlungsfreiheit aufzulösen. Die Freiheit fordert die ungewollten Konsequenzen der Handlung von der Notwendigkeit (oder auch von dem Schicksal, dem Verhängnis) zurück, indem sie sich zu ihnen als zu ihren eigenen Taten bekennt. Dass jedoch das Schicksal, „ohne wahre Schuld durch Verhängniß schuldig zu werden", zugleich als „Unglück" bezeichnet wird, verrät das Spekulative dieses Auswegs. Eine Rechenschaftsablegung von dem, was Schelling mit einem in sich gegensätzlichen Ausdruck als „unvermeidliches Verbrechen"35 beschreibt, verfangt sich im Modus des Als-Ob. Im wörtlichen Sinne ist die Idee eines Gleichgewichts der Freiheit und der Notwendigkeit kaum auf das menschliche Handlungsvermögen zugeschnitten. Deshalb tun wir gut daran, hier im Anschluss an Ricœur36 wieder einmal nur auf eine aristotelische Formel zurückzugreifen. An einer Stelle der Nikomachischen Ethik -
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Philosophie der Kunst (1802/03), in: Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. II, hrsg. von Frank, Manfred, Frankfurt a. M. 1985, S. 527 (= Sämtliche Werke, hrsg. von Schelling, Karl Friedrich August, Stuttgart / Augsburg 1860 ff, Abt. I, Bd. 5, S. 699.) A. a. O., S. 523 (= S. 695). A. a. O., S. 525 (= S. 697). Ebd. Ebd.
Ricœur, Soi-même comme un autre, S. 115 f.
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Narratives Handlungsverständnis
wird auf eine besondere Folge unserer Handlungen eingegangen, nämlich auf die Entstehung der „festen Grundhaltungen" (e£,£iç), in denen die „Trefflichkeiten" und die „Formen der Minderwertigkeit" (mit anderen Worten: die Tugenden und die Laster) bestehen. Es handelt sich auch hier um eine Handlungsfolge, die sich der Verfügungsgewalt des Handelnden entzieht; denn bei den festen Grundhaltungen sind wir „nur über den Anfang Herr".37 Gleichwohl behauptet Aristoteles übrigens mit einem bei Piaton entlehnten Ausdruck -, dass wir doch „irgendwie Miturheber [cnrvamoi] unserer Grundhaltung" sind.38 Wir können uns demnach nur bei unseren absichtlichen Handlungen eine volle Urheberschaft zuschreiben; bei den ungewollten Konsequenzen dieser Handlungen kommt uns nur eine Miturheberschaft eine partielle Handlungskausalität39 zu. Diese Miturheberschaft ist nach Aristoteles durchaus hinreichend, uns zu Rechenschaftsablegung zu verpflichten; wir waren ja doch „über den Anfang Herr", hatten also die Initiative in unseren Händen. Der Begriff der Miturheberschaft deutet aber gleichzeitig an, dass bei den ungewollten Konsequenzen unserer Taten sich unsere partielle Handlungskausalität mit einem weiteren Wirkungsmechanismus verbindet, der sich seinerseits unserer Verfügungsgewalt gänzlich entzieht. Wir gehen gleichsam eine Komplizenschaft mit der Erfahrungswirklichkeit ein. Nichts spricht eindeutiger gegen die Annahme einer überzeitlich-noumenalen Freiheitsidee etwa im Sinne von Kant als die Tatsache dieser Komplizenschaft mit der Erfahrungswirklichkeit. Wie Ricœur deutlich sieht, folgt aus dieser Tatsache eine Dezentrierung des Handlungssubjekts.40 Selbst wenn die Initiative ihm zukommt, bleibt es der Erfahrungswirklichkeit stets verhaftet. Drücken die erzählten Geschichten die Handlung als ein Gefüge der jeweiligen Handlungsbegebenheiten aus, so schildern sie sie gerade in ihrer Verflechtung mit den unterschiedlichen Wirkungsmechanismen der Erfahrungswirklichkeit. Erfüllen sie gleichzeitig die Funktion, die Werfrage bei der Handlung zu entscheiden,41 so eben dadurch, dass sie den Handelnden nicht nur als Urheber von Handlungsinitiativen erfassen, sondern ihn zugleich als dezentrierten Miturheber in seiner ganzen Wirklichkeitsgebundenheit darstellen. Damit sind die wichtigsten Beiträge umrissen, die ein narratives Handlungsverständnis, das ständig das ganze Gefüge der jeweiligen Handlungsbegebenheiten im Auge zu behalten sucht, zur Bestimmung von Handlungsfreiheit und Handlungssubjekt liefern kann. -
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Aristoteles, Ethica Nicomachea, hrsg. von Bywater, Ingram, Oxford 1959, III 8, 1114 b 32-1115 1.
A.a.O., 1114 b 23. Ricœur, Soi-même comme un autre, S. 115. A. a. O., S. 357. A. a. O., S. 76.
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a
Dieter Thomä
Vom Nutzen und Nachteil der Erzählung für das Leben
1. Kontroversen um die
Lebensgeschichte
„So will ich Dir denn mein Herz
so gut ich kann auf dieses Papier malen, wobei Du aber nie mußt, daß es bloße Kopie ist, welche das Original nie erreicht, nie erreichen kann." „Selbst das einzige, das wir besitzen, die Sprache [...] kann die Seele nicht malen, und was
vergessen
sie uns gibt, sind nur zerrissene Bruchstücke. Daher habe ich jedesmal eine Empfindung, wie ein Grauen, wenn ich jemandem mein Innerstes aufdecken soll; nicht eben weil es sich vor der Blöße scheut, aber weil ich ihm nicht alles zeigen kann, nicht kann, und daher fürchten muß, aus den Bruchstücken falsch verstanden zu werden."
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spricht, ist Heinrich von Kleist, der sich für einen „ganz unaussprechliche^] Mensch[en]" hielt.1 Kleists Bestimmung von Sprache im Allgemeinen und von Literatur im Besonderen ist der Spannung abgewonnen, die sie zum Leben aufbaut. Dieses Leben ist das große Abwesende und Anwesende zugleich. Einerseits gilt: Das Leben wird von der Sprache verfehlt. Und andererseits: Die Sprache ist unser einziger Besitz, das, wodurch das LeWer da
ben wird, was es ist. Nun müsste man sich mit dieser zerreißenden Spannung nicht abfinden, könnte man doch Kleists Klage zum Sonderproblem einer verwirrten Seele stempeln. Bekanntlich ist der Sonderling aber der Experte des Normalen, weshalb Kleists Verzweiflung den Weg weist zu einer Debatte um das Verhältnis von Sprache und Leben. Das Malen der Seele', das Kleist mit der Sprache vollbringen will, ist eine Variante des Versuchs, das Leben zu erzählen oder es sich in Form einer Erzählung vorzustellen. Das Problem des Aussprechens' des Lebens liegt auf zwei Ebenen. Nach den aus Kleist zitierten Passagen geht es darum, dass das Leben in seiner Fülle die Repräsentation vor Probleme stellt; demnach stieße das Erzählen nicht beim jeweils Gelebten, sondern erst beim ganzen Leben an Grenzen. Diesseits dieser Ambitionen auf die ,Ganzheit' des Lebens ergeben sich aber auch Probleme beim Bezug zwischen dem (einzeln) Gelebten und dem (einzeln) Erzählten, also bei jeder einzelnen Repräsentation. ,
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Kleist, Heinrich von, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, München 1987, S. 522, 626, 729 f.
Dieter Thomä
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Ungeachtet dieser Nöte mit dem Unaussprechlichen hat die Idee der Lebensgeschichgefunden, die geradewegs zum Junktim von Leben und Erzählung vorgeprescht sind. Um die Licht- und Schattenseiten dieses Junktims soll es im Folgenden gehen. te viele Verfechter
Es lohnt sich nicht, einen Streit anzuzetteln um die Tatsache, dass wir, wenn wir als Menschen leben, erzählen, das Erzählen also zu den von uns bevorzugt ausgeübten Tätigkeiten gehört. Strittig aber ist die These vom menschlichen Leben als Erzählung, die These also, dass dem menschlichen Leben als solchen die Form einer Erzählung zukommt. Die schiere Menge von Voten Pro und Contra ist in diesem Fall erdrückend. Aus der Kette von Fürsprechern des Junktims von Leben und Erzählung wird beispielhaft nur Sören Kierkegaard angeführt, der dem Menschen ein „Selbst" zuschreibt, das eine „Geschichte" habe, „in der er sich zu der Identität mit sich selbst bekennt."2 Von den Gegnern, die ihr eigenes (vielleicht etwas weniger vielstimmiges) Konzert veranstalten, lässt sich Montaigne paradigmatisch anführen. Er hält nichts davon, das Leben zur Geschichte zu formen; vielmehr hat er es auf eine Momentaufnahme abgesehen: „Ich muß meine Erzählung nach der Stunde richten." („Il faut accommoder mon histoire à l'heure".) „Das Leben ist eine schwankende, unregelmäßige und vielgestaltige Bewegung", „unsere Seelen", so hören wir ihn sagen, finden „sich oft von verschiedenen Leidenschaften bewegt", weshalb „wir uns täuschen würden, schlössen wir von dieser Folge" von Begebenheiten „auf ein zusammenhängendes Ganzes".3 Wenn man überprüft, wie sich Pro und Contra im Streit um Narrativität auf verschiedene Disziplinen verteilen, so fällt übrigens auf, dass die Psychologen in der Mehrheit zu den Verteidigern der Narrativität gehören, während viele Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, leidgeprüft von Biographismen aller Art, vor der Angleichung von Literatur und Leben warnen.4 Wie soll man diesen ziemlich stattlichen Streit Überschau-
3 4
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Kierkegaard, Sören, Entweder / Oder [1843], Bd. II, Düsseldorf 1957, S. 229. Montaigne, Michel de, Œuvres complètes, Paris 1962, S. 782, 796, 230 f. Für die Psychologie vgl. z. B. Bruner, Jeremy, Life as narrative, in: Social Research 54 (1987), S. 11-32; ders., The Narrative Construction of Reality, in: Critical Inquiry 18 (1991), S. 1-21; Kotre, John, Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt, München / Wien 1996; ders., Lebenslauf und Lebenskunst. Über den Umgang mit der eigenen Biographie, München / Wien 2001; Baldwin, Clive, Narrative, ethics and people with severe mental illness, in: Australian and New Zealand Journal of Psychiatry 39 (2005), S. 1022-1029. Für Literaur und
Literaturwissenschaft sei nur auf die bereits im Text zitierten Bemerkungen Robert Musils verwiesen; vgl. auch die Hinweise auf Goronwy Rees und V. S. Pritchett in Strawson, Galen, Gegen die Narrativität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53 (2005), S. 3-22, hier S. 11, 21; ausführlicher Rees, Goronwy, A Bundle of Sensations, London 1960, S. 15 („I find it difficult to believe that a continuous history of any person can be written without a degree of falsification which must make it, however dull or trivial it may be, in some sense a work of art. Indeed, one might define autobiography as the art of creating a self which does not exist"). Zu den Debatten in den verschiedenen Disziplinen vgl. Kreiswirth, Martin, Trusting the Tale: The Narrativist Turn in the -
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Human Sciences, in: New
Literary History 23 (1992), S. 629-657.
Vom Nutzen
und
Nachteil der Erzählung Für das Leben
77
oder gar zur Entscheidung bringen? Das Folgende ist ein Vorschlag in dieser Angelegenheit, der die Form eines Ordnungsrufs hat. Ich habe bereits angekündigt, dass es in meinem Beitrag um die Frage gehen soll, inwieweit sich das Leben des Individuums zu einer Erzählung fügt. Damit die Erzählung dem Leben nicht von außen ,zugefügt' wird, muss der Erzähler zusammenfallen mit der Instanz, die das Leben führt und handelt; streng genommen müssen demnach das Fortführen des Lebens und das Fortschreiben der Erzählung des Lebens koinzidieren. Die zeitlich übergreifende Biographie, wie sie in der Erzählung vorgeführt wird, bleibt dabei auf die aktuelle Lebensführung bezogen. Diese Bezugnahme ist, wie man sich leicht vorstellen kann, folgenschwer, denn der Arbeitsplatz des Erzählers befindet sich eben in dem Revier, auf dem er den Gegenstand seiner Erzählung findet. Die Figur des Erzählers wird in vielen Darstellungen zum Junktim von Erzählung und Leben allerdings an den Rand gedrängt; auf die Folgen dieser Tendenz werde ich noch zurückkommen, mich aber vor allem mit der Form der Lebensgeschichte befassen. en
2. Ein Vorschlag zur Systematisierung: technische, teleologische und deontologische Perspektiven auf die
Lebensgeschichte
Was nun die Idee der Lebensgeschichte betrifft, so ist zunächst zwischen deskriptiven und evaluativen Ansätzen zu unterscheiden. Im ersten Fall wird geradewegs behauptet, dass das menschliche Leben die Form einer Erzählung habe. Im zweiten Fall lautet die These, dass es erforderlich, erwünscht, geboten, eben einfach besser sei, dem menschlichen Leben die Form einer Erzählung zu geben. Für diese bewertende Perspektive können, wie meine Wortwahl schon deutlich macht, Gründe verschiedener Art und Güte aufgeboten werden. Ich komme darauf noch zurück. Eine der Kalamitäten der Erzählungsdebatte besteht darin, dass verschiedene Begründungsstrategien durcheinander geworfen werden. So sagt etwa Hannah Arendt: „Wenn es [...] stimmt, daß niemand, dessen Lebensgeschichte nicht erzählt werden kann, ein Leben hat, über das nachzudenken sich lohnt, folgt dann nicht, daß das Leben als Geschichte gelebt werden könnte, ja sollte, daß man im Leben daraufhinwirken muß, eine Geschichte wahr werden zu lassen?"5 Mit ,Können' und ,Sollen' werden verschiedene Begründungsstrategien vermischt, außerdem wird ein Rückschluss vom retrospektiven Erzählen eines Lebens zum proaktiven Leben desselben vorgenommen. Am leichtesten tut man sich, wenn man nun ans Sortieren der Argumente geht, mit dem deskriptiven Ansatz. Er tritt in zwei Varianten auf, die man grob danach unterscheiden kann, ob konstruktivistisch-nominalistisch oder realistisch-ontologisch argumentiert wird. -
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Arendt, Hannah, Menschen in finsteren Zeiten, München / Zürich 1989, S. 125.
Dieter Thomä
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Die Konstruktivisten enthalten sich der Aussage darüber, was das menschliche Leben eigentlich ist, und küren die Erzählung zum Leitmedium eines kontingenten, jederzeit revidierbaren Netzes von Verknüpfungen, das über die terra incognita des Lebens gespannt wird einer terra incognita, die in dieser Theorie selbst nicht noch eigens Beachtung findet, sondern allenfalls von anderen Disziplinen, insbesondere von den Lebenswissenschaften untersucht wird. (Daniel Dennett und Richard Rorty dürfen grob einer solchen Position zugeordnet werden.) Die Ontologen verbinden mit der These von der Lebens-Erzählung den stärkeren Anspruch, dass das Narrative in der Verfassung des menschlichen Lebens und Handelns selbst angelegt ist. (Alasdair Maclntyre und David Carr dürfen grob einer solchen Position zugerechnet werden.) So oder so soll man gar nicht anders können als sein Leben insgesamt als eine Erzählung aufzufassen und zu leben. Dies scheint mir eine zu weitgehende Auffassung zu sein. Die Konstruktivisten können sie nur aufrechterhalten, weil sie letztlich tautologisch argumentieren: Ein Mensch kann sich auf sein Leben gar nicht anders beziehen, von und mit seinem Leben gar nicht anders handeln als im Zuge eines permanenten Prozesses der narrativen Erzeugung von Identität. Es gibt kein Jenseits der Erzählung, also kann sich das Leben vom Erzählen nicht unterscheiden. Die Ontologen setzen in der Regel auf eine Kombination des handlungstheoretischen Arguments, dass Handlungssequenzen von sich aus eine narrative Struktur aufweisen, mit dem anthropologischen Argument, dass sich das menschliche Leben im zeitlichen Bogen zwischen Geburt und Tod rundet. Diese zwei Zeitdimensionen werden miteinander identifiziert. Warum es zu dieser Identifikation schlechterdings kommen muss, bleibt allerdings unklar zumal zur Kenntnis zu nehmen ist, dass dieser Eigenschaft offensichtlich ständig zuwidergehandelt wird; schreibt man diesem Zuwiderhandeln selbst einen ontologischen Status zu, ist die Sonderstellung der Erzählung desavouiert, deutet man es dagegen als Abfall von der Eigentlichkeit des Lebens, so führt man eine Unterscheidung ein, die sich unter der Hand in eine evaluative Beurteilung verwandelt. Ergiebiger als die Auseinandersetzung mit deskriptiven Thesen ist in der Tat die Beschäftigung mit evaluativen Thesen über das Leben als Erzählung. Ihnen liegt die Überzeugung zugrunde, dass das Leben besser sei, wenn es die Form der Erzählung annehme. Hier hängt alles davon ab, in welchem Sinne von besser oder schlechter die Rede ist. Anders gesagt: Es stellt sich die Frage nach den varieties of goodness6 Drei solcher Varianten des Guten lassen sich, wie mir scheint, in Thesen zum Leben als Erzählung -
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unterbringen:
Wright, Georg Henrik von, Varieties of Goodness, London 1963; vgl. zur Semantik des „Guten" auch Tugendhat, Ernst, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 59 ff; ders., Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993, S. 49 ff.
Vom Nutzen
1)
und
Nachteil
der
Erzählung Für
das
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Leben
Wenn dein Leben gut funktionieren
soll, muss es die Form einer Erzählung
haben. Damit du gut (glücklich) lebst, muss dein Leben die Form einer Erzählung haben. 3) Weil du gut (moralisch) handeln sollst, muss dein Leben die Form einer Erzählung haben. Ich möchte diese Leitfragen einer technischen, ideologischen und deontologischen Perspektive auf das Leben zuordnen.7 In einem ersten Durchlauf sollen diese drei Perspektiven ohne Stellungnahme meinerseits erläutert werden, im nächsten Abschnitt will ich sie dann in einem zweiten Durchlauf kritisch kommentieren, um schließlich im Schlussabschnitt in einem dritten Durchlauf die Rolle der Erzählung gemäß jenen verschiedenen Hinsichten positiv zu bestimmen. In dieser positiven Bestimmung werde ich von dem Junktim von Leben und Erzählung Abstand nehmen. Zu 1. In technischer Hinsicht geht es um Eigenarten des Lebens, die man bei der Ausführung desselben beachten muss, wenn es nicht schiefgehen, also glücken soll. (Wenn hier von ,Glücken' die Rede ist, dann hat dies mit eudaimonia nichts zu tun, sondern lehnt sich an bei der Redeweise vom ,Glücken' eines Sprechakts, die von John Austin8 eingeführt worden ist.) Das Vorbild, das hier wirkt, ist die technè des Handwerkers, der eine Arbeit (etwa die Verarbeitung von frischem Holz) besser oder schlechter ausführen kann je nachdem, wie genau er die Regeln beachtet, die gelten. Diesem Zugang zum Leben entspricht auch eine nicht-ästhetisch verstandene Lebenskunst' im Sinne der Könnerschaft.9 Die Erfordernisse, die bei der Lebensführung zu beachten sind, können einerseits mit der Binnenlogik der Tätigkeiten zu tun haben, die (z. B. in einer bestimmten Reihenfolge) ausgeführt werden müssen, andererseits aber auch mit den Vorgaben, die durch die Gegenstände, mit denen man zu tun hat, gesetzt werden. Der Ansatz beim Können oder bei praktischen Kompetenzen wird nun in dem hier zu verhandelnden Fall auf das Leben insgesamt ausgedehnt, das als solches zu .meistern' sein soll. Wenn hier
2)
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Ich entwickle hier ein Schema weiter, das ich in früheren unvollständigen Versionen vorgestellt habe in Thomä, Dieter, Schwierigkeiten mit dem Müssen. Überlegungen anläßlich der These von Charles Taylor, das Leben müsse als Geschichte gelebt werden, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44 (1996), S. 635-653; ders., Erzähle dich selbst, München 1998, S. 18 ff. Hier sind auch manche Punkte zum Verhältnis von Erzähl- und Lebensform detaillierter ausgeführt, die ich in diesem Beitrag nur streife. Vgl. zur Debatte allgemein u. a. Angehrn, Emil, Geschichte und Identität, Berlin / New York 1985; Kerby, Anthony Paul, Narrative and the Self, Bloomington / Indianapolis 1991; Meuter, Norbert, Narrative Identität, Stuttgart 1995, S. 158 ff; Newton, Adam Z., Narrative Ethics, Cambridge [MA] / London 1995; Schlette, Magnus, Die Selbst(er)findung des Neuen Menschen, Göttingen 2005, S. 301 ff. (Teil IV: „Autobiographik und Selbst(er)findung"). Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words) [1962], Stuttgart 1979, S. 36. Vgl. zu den Grenzen dieses Ansatzes Thomä, Dieter, Lebenskunst zwischen Könnerschaft und Ästhetik. Kritische Anmerkungen, in: Kritik der Lebenskunst, hrsg. von Kersting, Wolfgang / Langbehn, Claus, Frankfurt a. M. 2007, S. 237-260 (vgl. auch die anderen Beiträge in diesem Band). -
Dieter Thomä
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technisch' die Rede ist, soll übrigens keiner Mechanisierung des Lebens das Wort geredet werden, sondern es geht im weitesten Sinne um der Regelung zugängliche Tä-
von
tigkeiten. speziellen Fall soll die gelingende Lebensführung die Lebensgeschichte implizieren, sie soll also in einem technischen Sinne notwendig, d. h. für die Aus- und Durchführung des Lebens erforderlich sein; Nichtbeachtung oder Vernachlässigung führt zu einer Schädigung des Lebens. Charles Taylor sagt: „Es ist eine Sache der Notwendigkeit, daß mein Selbstverständnis zeitliche Tiefe aufweist und narrative Elemente enthält", „wir [müssen] unser Leben als Geschichte sehen".10 Die Notwendigkeit, von der hier die Rede ist, soll nach einer von Taylor selbst vorgeschlagenen Unterscheidung nicht als „advokatorischer" Appell an den Menschen, sondern als „ontologischer" Hinweis auf eine Gegebenheit des Lebens gelten." Gemäß meiner Kritik an „ontologischen" Aussagen zum Erzählungscharakter des Lebens muss man diesen Geltungsanspruch abschwächen, doch immerhin könnte man die „Notwendigkeit", von der Taylor spricht, so verteidigen, dass man sie als Implikation einer bestimmten Lebensführung In diesem
deklariert. Die Notwendigkeit besteht dann freilich nur unter der Voraussetzung, dass die Lebensführung oder die technische' Ausführung des Lebens tatsächlich so betrieben oder ausgeübt wird. Ihr liegen handlungstheoretische Prämissen zugrunde, wonach sich unser Alltag aus Handlungen zusammensetzt, die mit ihrem internen Aufbau aus Absichten und Ausführungen, Mitteln und Zielen eine interne Zeitstruktur haben und im Zuge einer sich immer weiter ausweitenden Integration das Leben als Ganzes umfassen -
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sollen.12
Zu 2. Die Frage nach der rechten Ausführung des Lebens, bei der man dessen Eigenarten zu beachten hat, betrifft das ,Wie' des Lebens; darüber hinaus verfolgt man das Ziel, ein gutes, d. h. glückliches Leben zu leben. Damit ist ein Gelingen über technisches Funktionieren hinaus gemeint. Welche Rolle spielt dabei die Erzählung? Die These, dass das menschliche Glück auf die Lebensgeschichte angewiesen ist, wird üblicherweise auf die aristotelische Forderung zurückgeführt, das Glück sei auf ein „volles Menschenleben" zu veranschlagen (vgl. NE 1098a, 18-20, vgl. 100a 5). Zum Glück gehört die Hoffnung, die jeden Leser eines Romans in einer Zeitung umtreibt, wenn er am Ende des täglichen Auszugs liest: Fortsetzung folgt.' Demnach verlangt das Glück die Einbeziehung der Vor- und Nachgeschichte und wird entsprechend umso vollkommener, je vollständiger diese Einbeziehung ist. Wenn das Glück sich vervoll-
Taylor, Charles, Quellen des Selbst [1989], Frankfurt a. M. 1994, S. 100-104. Vgl. Taylor, Charles, Cross-Purposes: The Liberal-Communitarian Debate, in: Liberalism and the Moral Life, hrsg. von Rosenblum, Nancy, Cambridge (MA) / London 1989, S. 159-182; ders., Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, in: Kommunitarismus, hrsg. von Honneth, Axel, Frankfurt a. M. / New York 1993, S. 103-130, hier S. 103-105
(Übers, geänd.).
Vgl. Carr, David, Time, Narrative, and History [1986], Bloomington / Indianapolis 1991, S. 30 ff.
Vom Nutzen
und
Nachteil
der
Erzählung Für
das
Leben
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zu Ende" geflochten wird,13 verlangt das Leben um des Glückes willen nach der Kohärenz der Geschichte. So vollzieht man den Schritt vom alltäglichen Erzählen zur Erzählung des eigenen Lebens. Umgekehrt wird demnach das Glück versehrt, ausgehöhlt, zerstört, wenn das Leben in Fragmente zerfällt. Nicht nur legt sich gemäß dieser Lesart die Sicherung der Kontinuität des Lebens nahe, um das Glück zu verstetigen, darüber hinaus wird behauptet, dass das Wohlbefinden, also auch das Befinden über das Glück selbst auf eine persönliche Ab- und Wertschätzung angewiesen ist, die über narrative Tiefe, einen Rückhalt in gelebter Erfahrung verfügen muss.14 Hier rekurriert die ideologische Forderung auf eine im weitesten Sinne technische oder formale Implikation: Der Rückgang auf die Lebensgeschichte erscheint als notwendige Voraussetzung für die Fähigkeit zur Wertschätzung. Hinter dieser Auffassung steht eine lange Tradition, an deren Beginn die sokratische These steht, dass zum guten Leben verbindlich die Fähigkeit zum Nachdenken über das gute Leben zu zählen sei. Die Qualifikation des Urteils über Lebensformen ist bei Sokrates freilich nicht an eine Lebensgeschichte gebunden. Zu 3. Während die technischen und Ideologischen Rechtfertigungen der Lebensgeschichte direkt von der Lebensführung ausgehen, kommt die deontologische Begründung für das Junktim von Erzählung und Leben von außen; ihr Ausgangspunkt sind die Sollensansprüche der Moral. Solche Ansprüche können sich mit Aussicht auf Erfolg nur an eine Person richten, die zu moralischem Handeln in der Lage ist; insbesondere muss sie sich Handlungen zurechnen, Verantwortung übernehmen, Versprechen halten und Rechtfertigungen aufbieten können. Daraus ergibt sich gemäß dieser Lesart die moralische Forderung, dass eine Person sich ihrer Lebensgeschichte vergewissert. Es ist nicht gewährleistet, dass derjenige, der diese Fähigkeiten aufweist, sich auch für das moralisch Gute entscheidet, er wird aber wenigstens in die Lage versetzt, seine Entscheidung verantwortlich treffen zu können. Erläutert wird diese Forderung z. B. in Sören Kierkegaards Gegenüberstellung der „ethischen" und der „ästhetischen Existenz" in Entweder/Oder; Jürgen Habermas' Bezug auf die Lebensgeschichte bewegt sich weitgehend in Nachfolge zu Kierkegaard, dessen Ansatz wiederum als eine Explikation des von der kantischen Déontologie vorausgesetzten Verständnisses der Person zu verstehen ist.15 Die Person geht nicht geradewegs in ihrer Geschichte auf, sondern operiert als moralische Instanz, die auf diese Geschichte zugreift. Die moralische Nutzung der Le-
kommnet, indem das „Gewebe des Tages
13
14
Formulierung von Alkman (7. Jahrhundert vor Chr.) wird zusammen mit einer schönen Wendung des Euripides, ,euaiona diazen', zitiert von F. Dirlmeier in seinem Kommentar zu Aristoteles, Nikomachische Ethik, Berlin 81983, S. 280. Vgl. zu einem solchen Junktim des .guten' und des ,ganzen' Lebens Spaemann, Robert, Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, in: ders., Philosophische Essays, Stuttgart 1983, S. 80-103, Diese
hier S. 91.
15
Entweder / Oder, Bd. II, S. 165 ff; Habermas, Jürgen, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a. M. 1988, S. 203 ff.
Kierkegaard, Sören,
Dieter Thomä
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stellt sich gegen den Pseudo-Determinismus, wonach man jetzt dies habe tun müssen, weil einem zuvor jenes widerfahren sei (bevorzugt: eine schwere Kindheit). Der Determinismus ist der Erzählung deshalb fremd, weil sie nur schwache (nicht kausale, sondern konsekutive oder assoziative) Beziehungen zwischen ihren Elementen aufbaut; zu diesem narrativen Prozess tritt bei der moralischen Haltung eine sich durchhaltende, pauschal zur Rechenschaft bereite Person.
bensgeschichte
3. Von den Grenzen der Lebensgeschichte Wenn ich nun die vorgestellten Ansätze ein zweites Mal mit kritischer Absicht durchgehe, so lasse ich mich von der Frage leiten, inwieweit der Nutzen der Erzählung für das Leben in einen Nachteil umschlägt, wenn man die Möglichkeiten der Lebensgeschichte überschätzt und sie überfordert. Nochmals zu 1. Zunächst komme ich zurück auf die Annahme, dass ein Rückgang auf die Lebensgeschichte für die rechte Führung des Lebens (im Sinne von dessen technischer' Ausführung) notwendig sei. Diese Annahme ist im Wesentlichen handlungstheoretisch begründet, sie ergibt sich aufgrund der zeitlichen Binnenstruktur einzelner Handlungen sowie im Zuge der Ausweitung dieser zeitlichen Dimension auf das ganze Leben. Leitend ist hier eine Auffassung des Lebens, die ich ,horizontal' nennen will. Im Zuge der Verkettung einzelner Handlungen ergibt sich eine Verschränkung von jeweils
gefassten Absichten, erfolgten Ausführungen, einbezogenen Erfahrungen etc. Was in dieser horizontalen' Sequenz allerdings nicht aufgeht, sind Hintergrundüberzeugungen im Sinne von sich durchhaltenden Werthaltungen, auf die man sich in einzelnen Handlungsentscheidungen stützt und die sich in ihnen zu bewähren haben. Neben diese Einstellungen treten Neigungen, Stimmungen, Gefühle, die im Leben mitlaufen, aber keinen zeitlichen Index tragen. Dies untergräbt die Vorstellung, dass eine auf das Leben als solches ausgreifende Erzählung eine Voraussetzung dafür sein soll, damit das Leben funktioniert. Vielmehr erschwert diese spezielle Form der Erzählung den Zugang zu jenen Aspekten des Lebens, die in der geschilderten horizontalen Folge nicht aufgehen. All diejenigen, die sich über die Abgründe der Seele, den „inneren Ozean" (Ralph Waldo Emerson) oder das „innere Afrika" (Jean Paul)16 des Lebens gebeugt haben, wissen, dass das narrative ,Präparat' eines in sich geschlossenen Lebenslaufs die Gefahren der Ausschließung, der Zensur, der Selbsttäuschung mit sich bringt. Durch die Lebensgeschichte mag gewährleistet sein, dass immer neue Wege beschriften werden, also auch der Wiederholungszwang durchbrochen wird, doch ihre of„inneren Ozean" vgl. Emerson, Ralph Waldo, Essays and Lectures, New York 1983, S. 272; „inneren Afrika" vgl. Jean Paul, Seiina, in: ders., Werke in zwölf Bänden, Bd. 12, München 1975, S. 1105-1236, hier S. 1182; vgl. zur Einordnung Jean Pauls in die Vorgeschichte der Psychoanalyse Lütkehaus, Ludger, „Tiefenphilosophie", in: ders., Tiefenphilosophie. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud, Hamburg 1995, S. 3.
Zum zum
Vom Nutzen
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Nachteil der Erzählung Für
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fensiv vorgetragene Geschlossenheit führt dazu, dass Ausschließungen und Verdrängungen umso schwerer aufzuspüren sind. Nochmals zu 2. Wie steht es nun um die lebensgeschichtliche Ausweitung und Aneignung, die um des Glückes empfohlen sein soll? Nach Martin Seel muss man sich damit abfinden, dass „in Sachen Glück [...] unser Tun immer ein Zutun" bleibt. Das aber heißt, dass das Glück dem narrativen Zusammenhang, in dem sich das Leben runden soll, entschlüpft; es behält ein Moment von Überraschung und Unwillkürlichkeit. Der Erzählung des eigenen Lebens entgeht der „transzendierende Charakter einer bestimmten Form episodischen Glücks", also der Umstand, dass „Glück darin bestehen kann, das eigene Wünschen auf unerwartete Weise zu überschreiten".17 Wer so zum Glück kommt, muss die Erzählung des eigenen Lebens, in die es einzubetten wäre, für ein Prokrustesbett halten. Mit ihrer Kohärenz verstellt gerade die Erzählung selbst eine Art von Glück, die Robert Walser schön beschrieben hat: „Ja, es gibt Stunden im Leben, wo wir gar nicht begreifen können, warum wir so guter Dinge sind. Munterkeiten stellen sich weder auf Befehl noch auf Wunsch ein; sie sind plötzlich da, können aber ebenso eigensinnig, wie sie herbeizufliegen [sie!] kamen, wieder verschwunden sein."18 Was das Glück auch ausmacht, ist das Unverhoffte, das nicht gezielt herbeizuführen ist, sondern sich einstellt. Wer dem situativen Glück frönt, ist den Netzen der Lebensgeschichte entschlüpft. Sie kommt, was das sich vollziehende Leben betrifft, einen Moment zu spät und zwar im strikten Sinn jenen Moment, in dem Glück erfahren wird. Zwar ist die Erzählung damit nicht am Ende, aber sie kommt, wenn man von der Situation her kommt, in anderer Weise ins Spiel, dient nämlich ggf. zu einer assoziativen Um-Schreibung des Überschwangs, die um die Einbeziehung des ganzen Lebens gar nicht bemüht ist. Mir geht es nicht darum, dieses episodische Verständnis des Glücks gegen die Ambition auf ein rundum glückliches Leben, also gegen ein holistisches Verständnis des Glücks durchzusetzen." Vielmehr nehme ich diesen Konflikt als Hinweis auf eine dahinter liegende, grundlegende Differenz zwischen dem präsentischen oder performativen Lebensvollzug einerseits, dem Lebenslauf andererseits. Diese Gegenüberstellung ist nicht ruinös, lässt sich aber nicht einfach aufheben. Statt dass sich vom Glück her ein eindeutiges Votum ergäbe, wonach das Leben der Form der Erzählung zu folgen hätte, gerät man in einen Zwiespalt. Hält man sich an das episodische Glück, kann die Erzählung ,ihr zuliebe' mobilisiert werden, indem sie situativ passende Anknüpfungen und Assoziationen beibringt; dabei bleibt jedoch der übergreifende Ausgriff auf das ganze -
Seel, Martin, Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt a. M. 1995, S. 91, 111; vgl. auch Thomä, Dieter, Die Unverftigbarkeit des Glücks und die Grenzen der Selbstbestimmung, in: Zum Glück, hrsg. von Neiman, Susan / Kross, Matthias, Berlin 2004, S. 247-268. Walser, Robert, Das Gesamtwerk, Bd. 3, Zürich / Frankfurt a. M. 1978, S. 90 („Aus Tobolds Leben"). Zur Unterscheidung zwischen „episodischem" und „übergreifendem" Glücksverständnis vgl. Seel, Versuch über die Form des Glücks, S. 62 ff.
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so mag dies zwar zur LebensGlück die offene, uneingespannte Gegenwart. geschichte führen, doch man raubt dem Immer wieder ist mit starker Suggestivkraft darauf hingewiesen worden, dass zwischen dem Leben und der Erzählung eine wunderbare Korrespondenz bestünde, weil sie nämlich gleichermaßen in Anfang, Mitte und Ende unterteilt sind. Diesem Hinweis folgte die These auf dem Fuße, dass die Erzählung für das Leben prädestiniert sei und umgekehrt. Diese Korrespondenz funktioniert aber nur dann, wenn man eine Außenperspektive einnimmt, also aus dem zu vollziehenden, zu lebenden Leben heraustritt. Um den Idealfall eines so gerundeten Lebens beizubringen, musste man dem Leben erstmal ein Ende setzen. Der Genuss, den diese Lebensgeschichte gewährt, ist mit Distanz zum Lebensvollzug geschlagen. Die autobiographische Nutzbarkeit jener Homologie zwischen Leben und Erzählung ist damit stark beeinträchtigt. Man musste seinem Leben ein Ende setzen, um in den Genuss dieser Einheit zu gelangen; diese Strategie ist nicht sehr empfehlenswert. Im Ästhetizismus ist eine solche Mortifikation des Lebens im Sinne eines umgekehrten Pygmalion-Effektes Programm geworden. Festzuhalten ist jedenfalls: In der teleologischen Perspektive auf das Lebens-Glück ist der Status der Erzählung des eigenen Lebens strittig; entsprechend bleibt ihre Rolle bei der Antwort auf die Frage, wie zu leben sei, unschlüssig. Man kann so oder anders leben abhängig davon, wie das Glück zwischen den Aspekten, die es ausmacht, gewichtet wird. Das heißt nichts anderes, als dass man die Erzählung des eigenen Lebens nicht zum ,Muss' glücklichen Lebens erklären darf. Es existiert eine interne Rivalität oder auch Komplementarität von Glückserfahrungen, die es verbietet, um des Glückes willen schlechterdings nur auf eine Karte die der Lebensgeschichte zu setzen. Nochmals zu 3. Wenn man nun vom Glück zur Moral überwechselt, so stellt sich die Frage nach den persönlichen Voraussetzungen, die man mitbringen muss, um moralischen Ansprüchen gerecht zu werden. Man muss über komplexe Fähigkeiten verfügen; das Sollen fordert das Können und Wollen heraus. Man muss wie erwähnt (s. o. Abschnitt II) in der Lage und willens sein, sich vergangene Taten zuzuschreiben und Normen auf sie anzuwenden, Verantwortung zu übernehmen und Versprechen abzugeben. Um der Aufrechterhaltung der Person als moralischer Instanz willen ist es unabdinglich, dass sie sich ihrer vergangenen Taten erinnert. Da man sich dieses Handlungszusammenhangs mit erzählerischen Mitteln vergewissert, scheint in diesem deontologischen Rahmen die Erzählung des eigenen Lebens zum ,Muss' avancieren zu können. Diese Verbindlichkeit ist aber, wie nun zu zeigen ist, doch beeinträchtigt. Hinzuweisen ist zunächst auf die Diskrepanz zwischen der externen Zuschreibung von Taten und der internen Beziehung auf das eigene Leben. Man erwartet zwar, wenn man einen moralischen Menschen zur Verantwortung zieht, dass dieser ohne Ausflüchte zu seinen Taten steht; insofern liegt nahe, dass er sich hierzu auf eine ungeschönte und ungekürzte Erzählung stützen muss. Doch bei der normativen Inanspruchnahme eines Menschen ist man nicht im strikten Sinne an dessen Leben insgesamt interessiert, sondern an den Taten, die moralisch relevant sind. Die Aspekte des individuellen Lebens,
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aus.
Setzt
man
dagegen auf das holistische Glück,
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Vom Nutzen
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Nachteil
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die für die verhandelte Sache nicht einschlägig sind, bleiben unbeachtet, weshalb auch die Erzählung, auf die der Normativist erpicht ist, ohne Not selektiv bleiben kann. Aus dem Lebens-Wandel werden einzelne Handlungen herausgegriffen. Die Erzählung muss in bestimmten Hinsichten einschlägig sein, kann also hinter dem eigenen Erleben der betroffenen Person weit zurückbleiben. Natürlich ist die Moral auf eine möglichst tiefgehende Erfassung der Motive des Handelnden bedacht und geht insofern von strittigen Handlungen auf ein Netz von Motiven und Erfahrungen zurück, das auch für die Beurteilung evtl. Schuld bedeutsam ist. Doch diese expandierende Erzählung unterscheidet sich von der Lebensgeschichte in dem gravierenden Punkt, dass sie von einem selektiven Erkenntnisinteresse geleitet ist und auf einen bestimmten Punkt zuläuft. Im Übrigen wäre es auch ein einigermaßen aufreibendes oder gar demütigendes Geschäft, würde man die Forderung nach einer vollständigen Rekonstruktion der Lebensgeschichte erfüllen wollen. Solche Vorsätze mussten sich eigentlich selbst erledigen spätestens seit der Zeit, als Lawrence Sternes Held „Tristram Shandy" feststellte, dass er für den ersten Tag aus seinem Leben schon mehrere hundert Seiten benötige. Hans Blumenberg bemerkt: „Die Steigerung der Genauigkeit des Erzählens führt dazu, daß die Unmöglichkeit des Erzählens selbst ihre Darstellung findet."20 Die Forderung nach Vollständigkeit demontiert sich selbst: Dass Authentizität etwa auf einen gläsernen Menschen angewiesen wäre, dessen Seele ganz offen läge, ist eine irreführende Vorstellung. (Gleichwohl kursiert diese Vorstellung bis heute bei inquisitorischen Strategien der Selbstaufklärung und auch bei manchen psychotherapeutischen Ansätzen.) Auch in deontologischer Perspektive gelingt es nicht, die Erzählung des eigenen Lebens zum Pflichtprogramm zu erheben. Ein solches Ansinnen ist gar nicht nötig, um der Moral Geltung zu verschaffen. -
4. Vom Nutzen der Erzählung für das Leben Bislang
fällt das Resümee zur Bedeutung der Lebensgeschichte für die Lebensführung eher kritisch aus. Dass um eines eher destruktiven Ergebnisses willen so viele Umstände gemacht werden, scheint mir durchaus gerechtfertigt und zwar deshalb, weil die These, das Leben müsse als Erzählung gelebt werden, zahlreiche Unterstützer anzieht und in verschiedensten Varianten kursiert. Gleichwohl genügt dieser destruktive Gestus nicht. Abschließend möchte ich nicht die Austreibung der Erzählung aus dem Leben erwirken, sondern das rechte Maß bestimmen, in dem sie zum Einsatz kommen kann. Darin unterscheiden sich die hier vorgestellten Überlegungen auch von anderen Versu-
Sterne, Lawrence, Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys [1760-67], München 1990, S. 265; Blumenberg, Hans, Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a. M. 2001, S. 69. Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass die „Genauigkeit" ein Anspruch ist, mit dem
sich szientistische Kriterien in die Beurteilung der Erzählung einschleichen. Doch um die Frage nach der Genauigkeit der Erzählung im Sinne von deren Angemessenheit für das Leben kann man sich damit nicht drücken. -
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chen aus jüngster Zeit, dem „narrativist turn" entgegenzutreten so etwa denjenigen von William Blattner und vor allem von Galen Strawson. Ein Seitenblick auf ihre Kritiken kann helfen, den Rahmen für die Bestimmung des Nutzens der Erzählung für das Leben zu definieren. Zunächst ist festzuhalten, dass Galen Strawson und William Blattner gar nicht auf dasselbe Konzept von Narrativität zielen. Blattners Ausgangspunkt ist die Engführung von Handlungs- und Erzähltheorie, die von David Carr vorgeschlagen worden ist, also die Interpretation von Handlungsmustern als Erzählformen, welche auf das ganze Leben ausgedehnt werden. Wie an der Auseinandersetzung mit der von mir als technisch' bezeichneten Variante der Lebensgeschichte deutlich geworden ist, bin ich einig mit Blattners Kritik21 an der Extrapolation von einzelnen Handlungsmustern zum Leben als ganzen. Seine Schlussfolgerung „We are not texts. [...] Life is not literature" teile ich; mir liegt nun aber an einer Klärung der Frage, wie Erzählungen im Leben sinnvoll zu .dosieren' sind. Während sich Blattner kritisch mit einem vom ,Kleinen' zum ,Großen' führenden Plädoyer für die Lebensgeschichte auseinandersetzt, gilt Galen Strawsons Angriff der so genannten „reichhaltigen Narrativen Einstellung" („richly Narrative outlook"). Seine Polemik richtet sich also gegen eine höchsten Ansprüchen an Integration genügende Form der Erzählung, eine „vereinheitlichende, Form-findende Konstruktion", eine „groß angelegte Kohärenz-suchende, Einheit-suchende, Gestalt-suchende [...] Tendenz".22 Das Etikett der „Narrativität", das er seinem Gegner zuteilt, ist aber irreführend, weil seine Einwände auf eine speziellen Anforderungen genügende Lebensgeschichte zielen, gar nicht auf Narrativität allgemein. Damit kommt es zu einer starken Verengung des Blicks auf die Erzählung. Diese Verengung zeigt sich allein daran, dass Strawson biographisch oder autobiographisch engagierte Autoren und Schriftsteller, die man doch unbesorgt für Erzähler halten möchte, in zwei Klassen meint aufteilen zu können und als Verteidiger und Kritiker der Narrativität gegeneinander stellt. Auf der Seite der Verteidiger stehen demnach u. a. Augustinus und Evelyn Waugh, auf der Seite der Kritiker Stendhal, Virginia Woolf, Proust (und ansatzweise sogar John Updike).23 Zwar folge ich Strawson bereitwilligst in der Einschätzung, dass jedenfalls Stendhal, Woolf und Proust mit dem herkömmlichen Modell der Biographie brechen. Doch halte ich es für absurd, diese Autoren aus dem Raum des „Narrativen" auszuschließen. Wie soll man das, was sie schreiben, sonst bezeichnen? Strawson gelangt zu diesem Urteil nur deshalb, weil er das „Narrative" mit dem „Diachronischen" zusammenschließt. Dass die Konsekution der Erzählung eine temporale Struktur aufweist, ist für ihn Anlass genug, deren Zeit mit der des Lebens zusammenzu-
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Blattner, William D., Life Is Not Literature, in: The Many Faces of Time, hrsg. von Brough, John B. / Embree, Lester, Dordrecht / Boston / London 2000, S. 187-201, hier S. 192. Strawson, Gegen die Narrativität, S. 3, 13 f. Strawson, Gegen die Narrativität, S. 5, 7.
Vom Nutzen
und
Nachteil der Erzählung Für das Leben
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schließen. Und doch ist die Identifikation der Diachronie der Erzählung mit der des Lebens irreführend. In Erzählungen wird keineswegs ,der Reihe nach' geschildert, wie jemand Schritt für Schritt lebt so wenig wie jemand, der lebt und handelt, permanent -
(implizit oder explizit) narrative Akte generiert. Gerne ermahnen Deutschlehrer ihre Schüler, Erzählungen nicht nur durch den stereotypen Anschluss ,und dann...', ,und dann...', ,und dann...' zu organisieren. Dahinter verbirgt sich nicht nur die Sehnsucht nach stilistischer Abwechslung, sondern auch die Einsicht, dass die Chronologie von Erzählungen keineswegs an historische Chronologie gebunden ist. Die in der Erzählung sich aufbauende Folge muss nicht einer realen Reihenfolge von Ereignissen entsprechen. Dies gilt auf zwei Ebenen: Zum einen kann die Erzählung den Windungen der Erinnerung nachgehen, ohne sich um die Chronologie des Erinnerten zu scheren, zum anderen erhebt sie auch nicht den Anspruch, die Chronologie der Erinnerungsakte selbst zu befolgen. Die Erzählung schädigt sich keineswegs selbst, wenn sie sich solche Freiheiten nimmt; vielmehr können diese Freiheiten zu ihrem Gelingen beitragen. Eine Pointe, die diese Einsicht ins Extrem treibt, geht auf Jean-Luc Godard zurück. Auf die Frage, ob er denn zugebe, dass Filme auch seine Filme „einen Anfang, eine Mitte und ein Ende" haben mussten, antwortete er: „Natürlich, aber nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge".24 Wenn man die Erzählung von der Chronologie, die Strawson ihr zur Last legt, befreit, dann allerdings ist sie aus dem menschlichen Leben nicht wegzudenken. Strawson sagt: „Je mehr man sich erinnert, erzählt und wiedererzählt, desto größer ist das Risiko, sich von einem genauen Selbstverständnis zu entfernen, von der Wahrheit des eigenen Seins".25 Nur: Was bringt Strawson von dieser emphatisch beschworenen „Wahrheit des eigenen Seins" in Erfahrung? Soll diese Wahrheit jenseits der Sprache liegen oder sich irgendeiner nicht-narrativ verfassten Sprache bedienen? Hier bleibt er die Antwort -
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schuldig. Bei Blattner und Strawson trifft man auf Modelle der Erzählung, die von vornherein mit starken Voraussetzungen zur Art dieser Erzählung operieren Voraussetzungen, die aber selbst nicht eingeholt oder gerechtfertigt werden. Ich schließe daraus, dass Spielraum für eine Neubestimmung der Erzählung bleibt. Ihn möchte ich jetzt nutzen, indem ich die drei Perspektiven auf die Erzählung, denen ich bislang gefolgt bin, ein letztes Mal zur Revision freigebe; sie beziehen sich auf das technische Funktionieren (l), die Teleologie des Glücks (2) und die Déontologie der Moral (3). Ein letztes Mal zu 1. Die Verankerung der Erzählung in der Lebens-Technik fand ihren Anhaltspunkt u. a. in der These, dass das Leben sich als eine Handlungsfolge bestimmen lässt, die narrativ aufgebaut ist. Ein Einwand, der dagegen erhoben wurde, berief sich darauf, dass das menschliche Leben nicht durchweg Handlungscharakter hat. Seit Aristoteles das „Leben" mit „Praxis" gleichgesetzt hat (Pol. 1254a7), seit Rousseau, ihn -
Zit. nach Perez, S. 6.
Gilberto, Self-Illuminated, in:
Strawson, Gegen die Narrativität, S. 19.
London Review of Books 26/7
(2004), S. 3-6, hier
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bekräftigend, schrieb: „Leben ist nicht atmen; leben ist handeln",26 bemüht sich die philosophische Anthropologie um die Definition des Handelns und das heißt notgedrungen auch: um die Bestimmung von dessen Gegenteil, also der Seite des Menschen, -
die dem Handeln entgegengesetzt ist. Eine lange gültige Standardlösung stützte sich auf den Dualismus von Körper und Geist, Natur und Freiheit; ihr zufolge war der Mensch ausschließlich über das Handeln zu definieren wobei Handeln hier im weitesten Sinne, also unter Einschluss geistiger Tätigkeit verstanden sein will. Aber lässt sich all das, was am Menschen gewissermaßen ,unpraktisch' ist, dem Körperlichen zuschlagen? Dieser Dualismus gerät nicht erst deshalb unter Beschuss, weil der Status des Geistes oder der Freiheit im Lichte neuerer neurowissenschaftlicher Erkenntnisse suspekt geworden wäre, er zieht vielmehr von früh an Kritik auf sich. Was heißt dies für die Erzählung? Da die Passionen, Gefühle, Stimmungen etc. die Schublade des Körperlichen sprengen, entziehen sie sich der wissenschaftlichen Beschreibung und Erklärung, deren Gegenstand körperliche Vorgänge sind. Für die Passionen existiert eine eigene Kultur der Symbolisierung und der Versprachlichung, weshalb ohne Not von „narrative emotions" gesprochen werden kann.27 Diese Versprachlichung tritt in narrativen Formen auf, kennt aber auch die Form der Hymne und überhaupt der Poesie. Auf der einen Seite wird die Erzählung also in ihre Grenzen verwiesen; andere sprachliche Formen wollen ihr den Rang streitig machen oder sogar ablaufen. Auf der anderen Seite bietet sich der Erzählung die Gelegenheit, ihre Ausdruckskraft unter Beweis zu stellen. An sie kann ich mich halten, wenn ich „im Schmerz" nach „Melodie und Rede" suche, um „die tiefste Fülle meiner Not zu klagen": „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,/ Gab mir ein Gott, zu sagen wie ich leide."28 Bei dieser Art des ,Sagens', das ein Erzählen sein kann, geht die Parallelführung von narrativer und historischer Sequenz zum Wohle der Erzählung verloren. -
Rousseau, Jean-Jacques, Emil oder über die Erziehung [1762], Paderborn 1971, S. 15. Interessanterweise ist dies einer der nicht so zahlreichen Punkte, an denen Rousseau mit Voltaire übereinkommt. Letzterer schreibt in einem Einwand gegen Pascalsche Kontemplation: „L'homme est né pour l'action, comme le feu tend en haut et la pierre en bas. N'être point occupé et n'exister pas, est la même chose pour l'homme." (Voltaire, Œuvres [Hg. Beuchot], Bd. 37, Paris 1829, S. 58) Nussbaum, Martha C, Narrative Emotions, in: dies., Love's Knowledge, Oxford u. a. 1990, S 286-313. Nussbaum verbindet mit diesem Ausdruck aber keinen .Imperialismus' der Erzählung bei der Zuständigkeit für Empfindungen. Sie betont vielmehr: „We have so far spoken as if writing could express all the human forms of feeling, in its own many forms. But writing is itself a choice, an act, and not a neutral act either. It is opposed to other forms of action or passion: to listening, to waiting, to keeping silent. And so its forms of feeling may be similarly confined, opposed to other forms." (a. a. O., S. 296) Goethe, Johann Wolfgang von, Torquato Tasso [1790], in: ders., Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 5: Dramen 1776-1790, Frankfurt a. M. 1988, S. 833. -
Vom Nutzen und Nachteil
der
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An dieser Stelle wird deutlich, dass die Debatte um den Status des Narrativen an der Beziehungslosigkeit zwischen den verschiedenen Diskursen krankt, die sich mit dem Verhältnis von Erzählungen und Handlungen befassen. Besonders deutlich wird dies an den verschiedenen Bezugnahmen auf die Zeit. Auf der einen Seite trifft man etwa auf die handlungstheoretische Position, die zielgerichtete Handlungen mit ,narrative turns' parallelisiert und annimmt, dass hier wie dort der gleiche Zeittakt befolgt wird. So liest man etwa: „Temporality is a cornerstone of William Labov and Joshua Waletzky's linguistic definition of narrative as two or more temporally conjoined clauses that represent a sequence of temporally ordered events".29 Ein solches Verhältnis der Repräsentation zwischen einer sprachlichen Sequenz und einer historischen Ereignisfolge ist für Erzählungen aber keineswegs zwingend und von ihnen spielerisch leicht außer Kraft zu setzen. Auf der anderen Seite trifft man in Linguistik und Sémiologie auf die These, dass die Erzählung vom Bezug auf historische Zeit freizuhalten sei. So plädiert Roland Barthes dafür, „den narrativen Inhalt zu ,entchronologisieren'" und von der .„wirklichen' Zeit" zu entkoppeln.30 Die Rede von Entchronologisierung scheint mir zu weitgehend, denn da sich die narrative Folge nach früher' und später' gliedert, kommt sie an der Zeit nicht vorbei. Doch diese Text-Zeit deckt sich (wie gegen Strawson bereits angedeutet wurde) nur unter besonderen Zusatzannahmen mit der historischen Zeit. Die Eigenständigkeit narrativer Abläufe behauptet sich gegenüber der äußerlich ablaufenden oder vergehenden Zeit ebenso wie gegenüber der Zeit des Handelns, die ideologisch (nach Absicht und Umsetzung) geordnet ist. Eine Leistung der Erzählung liegt gerade darin, dass sie eine eigene assoziative Ordnung aufbauen kann. In dem Maße, wie die Erzählung sich von dem Paradigma der Lebensgeschichte emanzipiert, entfernt sie sich vom Lebenslauf, kann aber auf andere Weise wieder auf das Leben zukommen. Ein letztes Mal zu 2. Mein Haupteinwand gegen die teleologische Begründung der Lebensgeschichte ergab sich aus der Doppelung in Lebenslauf und Lebensvollzug, welche sich im Doppelbegriff eines holistischen und eines episodischen Glücks spiegelt. Wenn man nun nach einer revidierten Form von Erzählformen fahndet, die dieser Doppelung gerecht werden, so muss man sich dem Moment zuwenden, der als wunder Punkt des Ideals einer in sich geschlossenen Lebensgeschichte gelten darf: Gemeint ist die Gegenwart. John Freccero hat in diesem Zusammenhang auf den blinden Fleck hingewiesen, der in Autobiographien an der Position des Autors auftritt. Freccero spricht von einer Verdoppelung des Selbst, das in die Figur, dessen Geschichte erzählt wird, und in die Figur des Erzählers auseinandergelegt wird, wobei freilich der Anspruch auf Authenti,
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Ochs, Elinor / Capps, Lisa, Narrating the Self, in: Annual Review of Anthropology 25 (1996), S. 19-43, hier S. 23. Der locus classicus dieser Interpretation sind Arthur Dantos handlungs- und geschichtstheoretische Überlegungen; vgl. Danto, Arthur C, Narration and Knwoledge, New York 1985.
Barthes, Roland, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, S. 136, 117, 132.
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gerade durch die Identität beider Instanzen (also einem autobiographischen Pakt) verbürgt werden soll. Die Authentizität muss die Erzähler-Instanz aber aus strukturellen Gründen aussparen: „The story of one's life is definitively concluded, yet one survives to tell the tale [...], the storyteller pretends somehow to have survived his own death."31 zität
Dieser blinde Fleck lässt sich deshalb nicht entfernen, weil man sich hier in dem Zirkel bewegt, sich als denjenigen erzählen zu müssen, der gerade erzählt etc. etc. Diejenigen, die der Erzählung im Hinblick auf die Lebensführung mehr zutrauen, schlagen vor, jeden nächsten Zug im Spiel des Lebens direkt als Fortsetzung einer gelebten Geschichte aufzufassen, die sich nahtlos aus dem Vorstehenden oder Vorgelebten ergibt. Diese Vorstellung ist nur dann plausibel, wenn die Vorgeschichte in fester Form vorliegt, was freilich der Tatsache zuwiderläuft, dass man sich im Lichte aktueller Herausforderungen auf einschlägige Erfahrungen besinnt, passende Erinnerungen mobilisiert etc. In dem Maße, wie diese retrospektive Umschreibung von der Gegenwart ausgeht, ist die Möglichkeit verbaut, diese Gegenwart selbst als Fortsetzung des eigenen vergangenen Lebens zu definieren. Der unweigerlich selektive Zugriff auf die Vergangenheit, der seinerseits in narrativer Form erfolgt, schafft Handlungsspielraum, unterläuft aber zugleich den Traditionalismus. Wer überhaupt nicht wüsste, was er tun sollte, und von der Vergangenheit wie von einem Orakel Auskunft erwartete, würde von ihr mit Schweigen gestraft. Siegfried Kracauer hat dazu die schöne Wendung geprägt: „Die Einflüsse, die das ,vor' mit dem ,nach' verbinden, erschlaffen wie Muskeln."32 Den blinden Fleck der autobiographischen Erzählung kann man, wie gesagt, nicht beseitigen, aber man kann sein Umfeld erhellen. Es ist definiert durch den Kontext, in dem sich das Leben dessen vollzieht, der, sofern er als Erzähler seiner selbst aktiv ist, den Lauf seines Lebens im Blick hat. Die Ausrichtung der Erzählung an der Biographie des Individuums birgt prinzipiell die Gefahr einer künstlichen Isolierung der Person und zwar sowohl des dargestellten Protagonisten wie auch der Instanz des Erzählers. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Beobachtung von Marthe Robert, dass in der Entstehungsgeschichte des modernen Romans Protagonisten bevorzugt wurden, die durch einen Kunstgriff dekontextualisiert waren, nämlich „Bastarde", Waisen- und Findelkinder.33 Was wie eine Erschwernis, eine biographische Belastung wirkt, erweist sich also als darstellerische Erleichterung, denn das Durchschlagen der Verbindung zur Vergangenheit erlaubt es, die Autonomie des Helden zu inszenieren und einen abgeschlossenen Gegenstand zu simulieren. Im Roman ist damit die Ausrichtung an einer Hauptfigur angelegt, die sich dann in der Autobiographie zur Selbstbezogenheit oder gar Selbstbesessenheit der Rede über sich selbst führen kann. Sie ist freilich bei modernen Vertretern des Romans und auch der Autobiographie auf Kritik gestoßen. Juli Zeh -
Freccero, John, Autobiography and Narrative, in: Reconstructing Individualism, hrsg. von Heller, Thomas C. u. a., Stanford 1986, S. 16-29, hier S. 20. Vgl. auch Lejeune, Philippe, Der autobiogra-
phische Pakt [1975], Frankfurt a. M. 1994. Kracauer, Siegfried, Geschichte Vor den letzten Dingen, Frankfurt a. M. 1971, S. 213. Vgl. Robert, Marthe, Roman des Origines et Origines du Roman, Paris 1972, S. 76, 78, 83, 91. -
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hat kürzlich die ,Ich'-Erzählung ins Visier genommen, in der eine Person „zwischen eigenem Bauchnabel und Tellerrand" lebt und auf diese Weise zwar die „Autorität" des alten allwissenden, gottgleichen Erzähler depotenziert, zugleich aber dessen große Welt ganz beiseite lässt und sich statt dessen in einem „horizontlosen Tummelplatz" wie in einem „Laufstall" einrichtet.34 Wenn manche Romane diverse Kunstgriffe unternehmen, um ein Individuum zu isolieren, so lassen sich andere nicht davon abhalten, es der Welt auszusetzen und ihm in verschiedensten Kontexten zum Auftritt zu verhelfen; Juli Zehs Beispiel hierfür ist Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Auch diesseits der Fiktion ist die Funktion der Lebensgeschichte nur dann vollständig zu erfassen, wenn die soziale und kommunikative Situation einbezogen wird, in der sich die Person beim Leben (seiner selbst) und beim Reden (über sich selbst) befindet. Ausdrückliche oder unausdrückliche Erwartungen werden von anderen an eine Person herangetragen. Auf diese Pluralität von Lesarten Dritter stützt sie sich bei Erfahrung, Einschätzung und Gestaltung ihrer aktuellen Situation. Es geht um ein soziales setting, in dem eine Person sich präsentiert, auftritt, agiert etc., und wenn man dieser Terminologie nachhört, so merkt man, dass keine Metapher zu dieser Konstellation besser passt als die des Theaters. Das heißt nichts anderes, als dass der Stellenwert des Narrativen im Leben nur dann angemessen bestimmt werden kann, wenn zugleich das Dramatische des Lebens einbezogen wird. Der Mensch mag sich mit mehr oder minder scharfen historisch-chronologischen Geltungsansprüchen narrativ über die eigene Situation verständigen. Doch diese Selbstverständigung steht im Zusammenhang mit dem dramatischen Kontext des sich vollziehenden Lebens. Gerade die dramatische Aufdringlichkeit des zu lebenden Lebens, in das jeder von uns verstrickt ist, mag dazu geführt haben, dass Erzähler und Romanciers den Hochsitz, von dem aus alles zu überblicken ist, aufgegeben haben und in ihre Figuren hineingeschlüpft sind, um sich den Dramen ihrer Figuren gewissermaßen auszuliefern. Michail Bachtin35 hat in diesem Zusammenhang, mit Blick u. a. auf Dostojewskij, von der „Polyphonie" der Literatur gesprochen; diese Wendung gehört in den fließenden Übergang vom narrativen zum dramatischen Paradigma, den ich im Sinn habe. Die Dramatik wird nicht nur auf der Ebene der Erzählung selbst (etwa durch Vielstimmigkeit) zum Ausdruck gebracht, sondern sie ist auch Bestandteil der Erzählsituation selbst. Es geht nicht um die Konservierung von Lebens-Geschichten, sondern um die Ermöglichung von Lebens-Spielen oder Lebens-Dramen im Sinne der Selbstbewährung und der Entfaltung von Interaktion. Die Geschichten, die das Leben schreibt, die Narrative, die aus der Literatur ins Leben hineintreten, haben selbst eine dramatische Seite, indem sie zu Mitteilungen werden, die man jemandem erzählt. In den heute die Debatte dominierenden Konzepten der Lebensgeschichte wird seltsamerweise fast durchweg die Tatsache unterschlagen, dass das Erzählen nicht nur ein direktes Objekt -
Zeh, Juli, Sag nicht Er zu mir, in: Literaturen, Heft 3 (2006), S. 30-33. Bachtin, Michail, Literatur und Karneval, Frankfurt a. M. 1990, S. 48 ff.
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(den Erzählgegenstand) sondern auch ein indirektes Objekt (den Adressaten der Erzählung) hat. Ein letztes Mal zu 3. Die Anforderung, die die Moral an die Person stellt, wird zur Überforderung oder zu einer im strikten Sinne nicht erfüllbaren Forderung, wenn man erwartet, dass eine Person für sich ,mit allem Drum und Dran', ,mit Haut und Haar' die Verantwortung übernimmt.36 Nicht nur ist es abwegig, die Verantwortung in dieser Weise (von außen) auszudehnen, sie lässt sich auch gar nicht (von innen) wahrnehmen es sei denn durch ein pauschales, gewissermaßen aus der Luft gegriffenes Bekenntnis, für alles verantwortlich zu sein. Was ,alles' ist, entzieht sich der Kenntnis und zwar in dem Maße, wie man über die eigene Biographie nicht verfügt. Dies schmälert aber die moralische Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung in keiner Weise und zwar deshalb nicht, weil diese Verantwortung immer konkret ist, also auf bestimmte Sachverhalte bezogen ist. Diese Eigenschaft wird schon semantisch angezeigt, indem die Verantwortung mit der Fähigkeit des Antwortens verschwistert ist (und zwar bekanntlich nicht nur im Deutschen, sondern auch in den romanischen Sprachen, in diesem Fall einschließlich des Englischen). Die Übernahme von Verantwortung nimmt ihren Ausgang von gezielten Herausforderungen, denen man sich stellt oder für die man sich bereithält. Wenn gefordert ist, dass man die Verantwortung für das eigene Leben übernimmt, so ist damit das jeweils zu lebende Leben inklusive eines aktuell motivierten Rückgriffs auf das gelebte Leben gemeint, nicht eine pauschalisierte Totalverantwortung. Blickt man auf die Vorwürfe oder Klagen, die hinter einer Aufforderung zur Verantwortung stecken, so zeigt sich, dass sie regelmäßig ausgelöst werden durch eine mangelnde Bereitschaft der betreffenden Person, sich einem genau zu bezeichnenden Sachverhalt zu stellen. Aus psychotherapeutischen Kontexten kennt man einerseits die Unfähigkeit zur Übernahme von Verantwortung, also die Neigung, die Schuld auf andere abzuschieben oder sein Leben als Verhängnis zu sehen, andererseits den Zwang, die Schuld nur bei sich selbst zu suchen und unter dieser Last in die Knie zu gehen. Beides lässt sich nur bekämpfen, indem man dem in der Regel präzise eingrenzbaren Fall auf die Spur kommt, der jenen generalisierten Einstellungen zugrunde liegt. Sehr wohl werden dabei Erzählungen mobilisiert; ohne sie wäre eine solche Spurensuche nicht möglich. Doch ihnen wäre gar nicht damit gedient, wenn man sie mit dem Anspruch belegte, Lebensgeschichten zu sein. Dies würde in der Psychotherapie die Latte für das, was am Ende der Behandlung zu stehen hätte, zu hoch legen und zu einem Prozess der Selbstsuche führen, der prinzipiell ins Unendliche ginge. Am Ende stünde eine fruchtlose Selbstbespiegelung, die zum Selbstzweck geworden ist.
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In welche systematischen Schwierigkeiten man gerät, wenn man sich gleichwohl „mit Haut und Haar" selbst verantworten will, lässt sich an Kierkegaard zeigen, bei dem eben diese Wendung auch vorkommt; vgl. Kierkegaard, Entweder / Oder, Bd. II, S. 277 f.; vgl. Thomä, Erzähle dich selbst, S. 42 ff, bes. S. 51.
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Erzählung Für das Leben
Wie bei der Revision des Ideologischen Bezugs auf die Erzählung, so erweist sich also auch in deontologischer Perspektive die Ergänzung der Erzählsituation und nicht als Schlüssel zu einem angemessenen Verdie Vervollständigung der Erzählung! ständnis von Nutzen und Nachteil der Erzählung für das Leben. Heinrich von Kleists von mir eingangs zitierte Klage, „nicht alles zeigen" zu können, seine Furcht, „aus den Bruchstücken falsch verstanden zu werden", scheinen gepaart mit einer Sehnsucht nach Selbstenthüllung, die doch ganz undurchführbar ist. Aber diese Sehnsucht ist nicht leitend für Kleists Schreiben, welches Intensität ohne Integration schafft. Wenn man nur auf den letzten von mir angesprochenen Punkt, die Verbindung von Moral und Erzählung blickt, dann sieht man auch, wie Kleist eine Zuspitzung der Erzählung betreibt, die dramatischen Charakter hat. Wenn die „Marquise von O..." die unheimliche Lücke in ihrer Biographie schließen, also jenen großen Unbekannten finden will, der ihr Leben aus der Bahn geworfen hat, dann geht es eben genau um dieses Ereignis und nicht um ein durcherzähltes Leben. Die Entschlossenheit, mit der sie eiwie Kleist sagt in nem losen Ende in ihrer Vergangenheit nachgeht, genügt, um sie einer ,,schöne[n] Anstrengung mit sich selbst bekannt" zu machen.37 Diese Bekanntschaft mit sich deckt sich genau nicht mit dem Zugang zu einer kohärenten Lebensgeschichte. Der Schauplatz dieser „Anstrengung" ist ein dramatischer Raum, in dem die Selbstfindung nicht das Ergebnis eines isolierten Prozesses, sondern die Frucht der Selbstbewährung ist. Zur Erzählung gehört, dass man sich der Welt aussetzt: der Welt, in der man lebt, und der Welt, in der man erzählt. ,Wenn man eine Reise tut, dann kann man etwas erzählen', sagt der Volksmund. Dies gilt auch für die Reise nach innen. Doch nur wenn man von ihr zurückkehrt, findet man das offene Ohr, auf das die Erzählung ebenso angewiesen ist wie das Leben. -
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Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, S. 126.
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Kurt Röttgers
Menschliche
Erfahrung:
Gewalt begegnet dem Text des Erzählens (Alexander und Schehrezäd)
Manchmal empfiehlt es sich, dem Sinn eines Begriffs, hier dem Begriff des Erzählens im Kontext menschlicher Erfahrung, von seinen Grenzen her auf die Spur zu kommen. Und die Ausgangsthese meiner Überlegungen ist, dass eine markante Grenze im Phänomen der Gewalt vorliegt. Ich werde mich also im Folgenden dem Erzählen von dieser seiner Grenze her anzunähern versuchen.1
1.
Ansteckungsgefahr
In der öffentlichen Darstellung, im Medialen zumal, nimmt Gewalt einen sehr breiten Raum ein. Gewaltverbrechen, Terrorismus, Kriege in der Nachrichtenberichterstattung, in Krimis, Western, „Action"-Filmen, Horrorfilmen, „Thrillern", in PC-Spielen, Spielekonsolen und inzwischen sogar auch auf Mobiltelefonen lassen für den Ethnologen der Gegenwartsgesellschaft den Eindruck entstehen, dass Gewalt unter Menschen die vorherrschende Interaktionsform sei. Je stärker in Industriegesellschaften die durchschnittliche Lebenserwartung steigt, desto mehr steigt zugleich das (unterstellte) Interesse am Töten und Getötetwerden. Und je mehr das Unfallrisiko reduziert wird, desto mehr scheinen die Menschen sehen zu wollen, wie die Körper verletzt und zerstückelt wer-
1
gilt auch für den Begriff menschlicher Erfahrung: Es bringt keinen Gewinn, ihn von der Immanenz der Betroffenheit, dass wir ja nun einmal alle Menschen sind, erschließen zu wollen. Man muss vielmehr eine Projektionsebene schaffen, auf die hin menschliche Erfahrung als etwas Klärungsbedürftiges abgebildet werden kann. Diese Funktion erfüllt im Folgenden der Begriff der Kommunikation, speziell des kommunikativen Textes, der sich mit einer eigenen „Logik" zwischen denen, die wir dann Menschen nennen können, entfaltet, die jedoch hier als Funktionspositionen dieses kommunikativen Textes als Selbst und Anderer begegnen. „Menschliche Erfahrung" taucht nicht außerhalb dieses Textes auf, was menschliche Erfahrung sein mag, definiert sich auf dieser Projektionsebene. Hier markiert beispielsweise das „Ding an sich" eine solche Grenze möglicher Erfahrungen, es ist das Ding, über das man nicht sprechen kann, über das man also mit WittDassselbe
genstein schweigen muss.
Kurt Röttoers
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den. Ist eine solche Entwicklung noch normal, ist sie pathologisch, oder handelt es sich um eine Paradoxie? Es gehen von Pädagogen usw., wenn wieder einmal von der Okkurrenz sinnloser Gewalt in unserer Gesellschaft berichtet worden ist, immer wieder einmal die Warnungen aus, dass die hohe Sichtbarkeit von Gewalt zu Nachahmungen führen könne. Und dann nutzen diverse Politiker auch immer wieder einmal die Gunst der Stunde, um sich durch Vorschläge der Einschränkungen von Freiheit zugunsten von Sicherheit beliebt zu machen. Schnell treten dann jedoch auch diejenigen Pädagogen usw. auf, die abwiegeln und sagen, nur diejenigen Personen würden durch sichtbare Gewalt zu eigener Gewalt angesteckt, die sowieso zu Gewalt neigten; denn niemand werde allein durch das Betrachten von Gewaltvideos zum Gewalttäter. Also folgern dann die gleichen oder ähnliche Politiker, dass es vorrangig darauf ankomme, jene zu erkennen, erkennungsdienstlich aufzuspüren, die „sowieso" schon zu Gewalt neigten, die „Schläfer" also in unserer rechtschaffenen Gesellschaft, die, momentan noch unerkannt, ihre Gewalttat emotional oder sogar schon intellektuell vorbereiteten. Wie die aggressiven Krebszellen in einem Organismus durch Früherkennung und operative Entfernung unschädlich gemacht würden, so müssten auch durch eine soziale Früherkennung die spätmodernen Gesellschaften von den „Schläfern" zukünftiger Gewalttaten gereinigt werden. Auf die Selbstüberwachung der Disziplinargeseilschaften2 allein wird nicht mehr vertraut. Und so sind wir denn schon aufgefordert, zunächst wenigstens auf Bahnhöfen, Flugplätzen, in U-Bahnen und an anderen öffentlichen Plätzen zum IM unserer Mitmenschen zu werden. Ist diese Spirale aus Gewalt-Begehren und Sicherheits-Hypertrophie unvermeidlich? Vermutlich ist es weniger leicht zu bestreiten, dass bei denjenigen, die sich der täglichen Gewalt-Präsentation aussetzen, eine Gewöhnung an deren Selbstverständlichkeit eintritt. Wie aber diese gewohnte Gewalt verarbeitet wird, ist wahrscheinlich offen: wird das Gewohnte zur moralischen Gleichgültigkeit, führt sie zum Gefühl allseitiger Bedrohtheit oder leitet die unendliche Wiederholung der Repräsentation an zu einer hochdifferenzierten Wahrnehmung von Gewaltphänomenen, führt der Gewaltschock vielleicht gerade zu einer moralischen Sensibilisierung oder führt er umgekehrt zu einer solchen Desensibilisierung, die nach einer ständig erhöhten Schockdosis verlangt, oder gar zur unreflektierten Nachahmung? Wir wissen es nicht so genau.
2.
Geschichtserzählungen voller Gewalt
Fest steht jedenfalls, dass schon die Geschichtserzählungen voller Gewalt sind. Bereits das zweite Kapitel der Menschheitsgeschichte hat einen Brudermord zum Thema. Sogar die olympischen Götter töten und werden getötet, quälen und lassen quälen, vom Gott 2
Disziplinargeseilschaften einerseits, Kontrollgesellschaften andererseits siehe Foucault, Michel, Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 21977; Deleuze, Gilles, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders., Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a. M. 1993, S. 254-262.
Zu
Menschliche Erfahrung
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Hiobs ganz zu schweigen. Die nachmythologischen Geschichten sind nicht minder in ihren Hauptkapiteln Geschichten von Kriegen, von Mord und Totschlag, so sehr dass der englische Soziologe Michael Mann in seiner „Geschichte der Macht" die Gewalt als eine von vier in der Geschichte bestimmenden Quellen der Macht glaubte darstellen zu können. Nach ihm bestimmt die Form der Organisierung kollektiver, d. h. militärischer Gewalt ganz wesentlich mit, welche Form eine Gesellschaft haben wird.3 Nicht nur für die Historiker, sondern auch für die Geschichtsphilosophen bilden Gewalttaten den zentralen Stoff ihrer Erzählungen. Selbst Hegel, von dem ja die vielfach verdächtigte Formel von der Vernunft in der Geschichte stammt,4 hat doch niemals in Abrede gestellt, dass das in der „Geschichte unmittelbar vor die Augen" Tretende von ganz anderer Art als die Vernunft sei: „die Handlungen der Menschen, die von ihren Bedürfhissen, ihren Leidenschaften, ihren Interessen, ihren Charakteren und Talenten ausgehen",5 sind „das Gewaltigste":
,,[S]ie haben ihre Macht darin, daß sie keine der Schranken achten, welche das Recht und die Moralität ihnen setzen wollen, und daß diese Naturgewalten dem Menschen unmittelbar näher liegen als die künstliche und langwierige Zucht zur Ordnung und Mäßigung, zum Rechte und zur Moralität. Wenn wir dieses Schauspiel der Leidenschaften betrachten und die Folgen ihrer Gewalttätigkeit, des Unverstandes erblicken, der sich nicht nur zu ihnen, sondern selbst auch und sogar vornehmlich zu dem, was gute Absichten, rechtliche Zwecke sind, gesellt, wenn wir daraus das Übel, das Böse, den Untergang der blühendsten Reiche, die der Menschengeist hervorgebracht hat, sehen, so können wir nur mit Trauer über diese Vergänglichkeit überhaupt erfüllt werden und, indem dieses Untergehen nicht nur ein Werk der Natur, sondern des Willens der Menschen ist, mit einer moralischen Betrübnis, mit einer Empörung des guten Geistes [...] über solches Schauspiel enden."6 Und er endet „mit richtiger Zusammenstellung des Unglücks" in der bekannten Formel von der „Geschichte als diese Schlachtbank", die ein Gefühl der „tiefsten, ratlosesten Trauer" zurück lässt.7 Hegel also stellt sich der Erfahrung dessen, was wir die Gewalt als Grundherausforderung des Textes und des Erzählens nennen wollen. Seiner Auflösung dieser Herausforderung, nämlich der Identifizierung eines Endzwecks jenseits aller leidenschaftsdiktierten oder sogar gutwollenden Handlungsintentionen, werden wir hier allerdings nicht folgen können.
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5 6 7
Mann, Michael, Geschichte der Macht, 2 Bde., Frankfurt a. M. /New York 1991, II, S. 429 ff. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, Werke, Frankfurt a. M. 1970, XII, S. 22 f. Ebd., S. 34. Ebd., S. 34 f. Ebd., S. 35.
Kurt Röttgers
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Grundherausforderung des Textes (des Erzählens) 3. Gewalt als
Ich möchte hier vielmehr zunächst zeigen, wie sich das Erzählen durch Gewalt bedroht sieht, und dann, wie es darauf reagieren kann. Dabei grenze ich zunächst einmal jedes verharmlosende, verstehende und erklärende, sowie jedes metaphorische Reden über Gewalt aus. Ich meine vielmehr die „nackte", die völlig sinnlose Gewalt, angesichts derer es uns die Sprache verschlägt, in der das Entsetzen die Fortsetzbarkeit des kommunikativen Textes und d. h. auch des Erzählens bedroht. Der Ermordete wird nichts mehr erzählen oder wird nicht mehr zuhören, seine Partizipation am kommunikativen Text des Miteinanderredens und des Einander-Geschichtenerzählens kommt in der Gewalttat unwiderruflich an ihr Ende. Daher der von Lévinas formulierte Grundsatz, der vom Anderen ausgeht: „Du wirst keinen Mord begehen."8 Der Text ist das, was im Zwischen von Selbst und Anderem geschieht und was Selbst und Andere erst bestimmt, daher ist Dennett zuzustimmen, wenn er sagt: „Unsere Geschichten sind gesponnen, aber zum großen Teil spinnen wir sie nicht; sie spinnen uns. Unser menschliches Bewußtsein und unser erzähltes Selbst sind ihre Produkte, nicht ihre Quelle."9 Das Überleben der Positionen von Selbst und Anderem ist daher notwendige Bedingung von Text, von Erzähltexten und anderen Texten. Verallgemeinern wir: Gewalt ist das Ende des kommunikativen Textes; die Möglichkeit dieses Endes, d. h. die Gewaltdrohung, läuft als permanente situative Bedrohtheit der Erzählsituationen nebenher. Gewalt interveniert in den kommunikativen Text, sie bedroht ihn mit absoluter Diskontinuität. Gewalt erscheint für den Text demnach als das Ereignis des (für ihn) Fremden: die Gewalt des Fremden. Man mag sich fragen, ob der Text nicht dieses Stimulans seines Todes braucht, ob er nicht ohne diese Bedrohtheit von seinem absoluten Außen zu Sterilität verdammt wäre. Wenn es so wäre, wäre der Text zugleich fundamental paradox strukturiert. Man musste dann sagen, dass er nur deswegen weitergeht, weil er permanent gefährdet ist, ja seine Fortsetzbarkeit seiner Gefährdung verdankt. Zugleich ergibt sich hier eine weitere Begründung für die kategoriale Unterscheidung des Frem-
8
Lévinas, Emmanuel, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg / München 1987, S. 285. Ich rede hier dieser radikalen, sinnlosen Gewalt, nicht von dem Phänomen kalkulierten und zweckbezogenen oder symptomatischen Einsatzes von Gewalt zu anderen Zwecken; in letzterem Fall wird nur ein von vornherein als zu überwindender Abgrund über einen Text-Bruch einkalkuliert, der Text geht nicht wirklich zu Ende. Sinnlose Gewalt ist von der Art, dass eine Warum-Frage unbenur von
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antwortet bleibt. 9
Dennett, Daniel C, Philosophie des menschlichen Bewußtseins, Hamburg 1994, S. 538; cf. auch Kierkegaard, Soren, Krankheit zum Tode, hrsg. von Hirsch, Emanuel, Düsseldorf 1954, S. 67-69: er spricht von demjenigen, der „verzweifelt er selbst sein will" und doch als „eigener Herr" nur ein „König ohne Land" ist.
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den und des Anderen10: der Andere ist die notwendige Bedingung des Textgeschehens, der Fremde ist potentiell! seine absolute Bedrohung. Daher ist der unsinnige Wunsch so verständlich, alle Fremden durch inkorporierendes Verstehen zu Anderen zu machen, d. h. zu positionalen Textpartizipienten. Die Kontinuität des kommunikativen Textes wird (potentiell) unterbrochen, d. h. erscheint als gebrochen durch das Ereignis der Gewalt. Das Paradoxon von Kontinuitätsbegehren und Diskontinuitätsbedarf des kommunikativen Textes hat Walter Benjamin auf die Formel gebracht zu sagen, dass genau das die Katastrophe sei, dass es kontinuierlich so weitergehe.11 Von ihr kann nur eine eschatologische Figur wie die der „göttlichen Gewalt" befreien. Die Form der Gewalt, die die unendliche und ermüdende Spirale der Rechtsbezogenheit der Gewalt zwischen Rechtssetzung (die ja, jedenfalls in den grundsetzenden Akten, nicht ihrerseits rechtskonform sein kann12) und Rechtserhaltung (polizeiliche und andere Staats-Gewalt) durchbricht und das Moment des revolutionären Sprungs aus der Kontinuität des Katastrophalen figuriert. Sie lässt momenthaft die Möglichkeit des Heils in den Beziehungen zwischen den Menschen aufblitzen.13 Wenn es die Grundfunktion des kommunikativen Textes des Erzählens von Geschichten ist, Kontinuität herzustellen, dann ist er zugleich die Austreibung des revolutionären Ereignisses aus dem Geschichtsbewusstsein. Die Geschichte erzählt zwar vor allem in der heute unter Fachleuten in Misskredit geratenen Form der Ereignisgeschichte von Ereignissen, aber indem sie historische Erklärungen (welchen Typs auch immer) bieten möchte, ist sie eifrigst bestrebt, ihnen den Ereignis-Charakter zu nehmen und sie in den Gang des Geschehens einzuordnen. Keinem Ereignis ist je in den Geschichtserzählungen dieses von Benjamin herausgestellte eschatologische Moment belassen worden.14 So kann Geschichte gar nicht dargestellt werden; das hat allerdings auch Benjamin nicht -
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erwartet.
Das aber heißt nichts anderes als dass der kommunikative Text des Erzählens von Geschichten umrahmt ist von der Möglichkeit des gewalthaften Abbruchs des Textes, so wie jede Ordnung vor dem Hintergrund des Chaos besteht. Das Ereignis in dem erwähnten emphatischen Sinne hat also stets den Doppelcharakter, einerseits die Bedro10
11 12
13
14
Röttgers, Kurt, Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg 2002, S. 289 ff; ders., Wildnis und Wahn, in: Die Fremde, hrsg. von Röttgers, Kurt / Schmitz-Emans, Monika, Essen 2007, S. XXX. Benjamin, Walter, Illuminationen, Frankfurt a. M. 1961, S. 272 f. Das wurde schon von Johannes Duns Scotus mit dem Begriff der absoluten Gewalt (Gottes) formuliert, siehe Röttgers, Kurt, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, Freiburg / München 1990, S. 80 ff. (2., leicht verbesserte Auflage unter http://sammelpunkt.philo.at:8080/archive/00000256/01/shspuk.pdf, S. 70 ff); zu Benjamin siehe Benjamin, Walter, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt a. M. 1965. Zur reinen Gewalt als Afformativ siehe Hetzel, Andreas, Zwischen Poiesis und Praxis. Element einer kritischen Theorie der Kultur, Würzburg 2001, S. 276. Benjamin, Walter, Geschichtsphilosophische Thesen, in: ders., Illuminationen, S. 268-281; siehe dazu Konersmann, Ralf, Erstarrte Unruhe. Walter Benjamins Begriff der Geschichte, Frankfurt a.
M. 1991.
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hung der Möglichkeit des Erzählens überhaupt zu sein, andererseits aber auch als Brechung des Erzählens die einzige Chance, die Kontinuität der Katastrophe zu verlassen. Dabei ist dann unter Katastrophe jede innovationsfeindliche Kontinuitätskonstruktion durch Homogenisierung zu verstehen. Es ist für den kommunikativen Text gleich be-
drohlich, wenn die Erzählsituation als solche zerstört wird, wenn also nicht mehr geredet, sondern nur noch gehandelt wird (Weltveränderung statt veränderter Welt-Interpretation15), wie auch wenn das Erzählen dadurch an sein Ende kommt, dass es nichts
Neues im Text mehr gibt.
4. Das Ende philosophische Text hat in seiner Geschichte
immer wieder einmal die Illusion gesolle sich selbst eines anderen erübrigen. Dafür kommen im Prinzip zugunsten nährt, er drei Modi inffage: 1. Das (mystische) Schweigen oder ersatzweise die Monotonie des Palavers oder des Geredes und der unwandelbaren Meinungen der Leute (das „Man"), inklusive ihrer moralischen Überzeugungen. Denn auch das wäre ein Ende des philosophischen Textes, wenn alles von einer monotonen Moral überzogen wäre; 2. der Übergang zum Handeln, wenn nichts mehr gesagt zu werden brauchte und das Handeln sich von selbst verstünde, weil alle im (möglicherweise auch in idealer Sprechsituation erzeugten) Konsens kommunikativ erstarrt wären, Philosophie endlich (freilich undialektisch) verwirklicht wäre und es keiner verschiedenen Interpretationen der Welt mehr bedürfte; auch die verschiedentlich an die Philosophie herangetragene Forderung der Praxisrelevanz ist nur die fordernde Antizipation eines solchen Zustandes, in dem nichts Philosophisches mehr gesagt, sondern nur noch gehandelt zu werden brauchte; die Philosophie habe nun 2500 Jahre Zeit gehabt, mit sich und der Welt ins Reine zu kommen, jetzt sei unabweisbar der Moment gekommen, wo sie zeigen müsse, was sie (außer Reden) könne: angesichts der XY-Katastrophe müsse nun reflexionsfrei, weil zeitsparend, gehandelt werden. Die reinste Form solch reflexions- und textfreien Handelns ist die Gewalt. Gewalt und Schweigen konvergieren in der Todeserfahrung. Die Vorstellung des Sterbenmüssens ist verbunden mit der höchsten vorstellbaren Gewalt, die einem Sterblichen begegnen kann; es ist in seiner realen Vollendung zugleich der unwiderrufliche Einbruch des Schweigens. Daher gibt es ein so großes Interesse an den letzten Worten,16 vor allem sterbender Philosophen, die seit Piatons Sokrates nicht nachgelassen hat, vermutlich Der
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15
dagegen Nietzsches Rat: „Nicht gewaltsame neue Vertheilungen, sondern allmähliche Umschaffungen des Sinns thun noth [...]." Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino, München / Berlin / New York 1980, II, S. Cf.
294. 16
„Leben Sie wohl und glücklich". Abschiedsbriefe aus fünf Jahrhunderten, hrsg. ja, Darmstadt 2007.
von
Behrens, Kat-
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3.
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geleitet von der phantastischen Vermutung, dass diese Worte, obwohl performativ eindeutig im diesseitigen Text beheimatet, zugleich semantisch vom Jenseitigen kündend, das Schweigen in den Text einbringen könnte;17 die Abdankung des philosophischen Diskurses zugunsten anderer Diskurse; diese bloße Konvertierung des Textes in einen anderen Diskurs hinein findet in der veröffentlichten Meinung den größten Applaus, ist aber als Selbstbeendigung des philosophischen Textes nur selten erwogen (Ausnahme: Spielarten des Positivismus) und vor allem kaum je praktiziert worden, wäre es doch nichts anderes als ein freiwilli-
ger Niveauverzicht. Der philosophische Text ist seinem Wesen nach kein erzählender Text, obwohl er zuweilen auch ins Erzählen übergegangen ist,18 z. B. in Voltaires Princesse de Babylone von 176819, die unverkennbar unter dem Einfluss der Geschichten aus 1001 Nacht stehen, auf die zurückzukommen wäre. Aber natürlich kommt der historischen Selbstvergewisserung der Philosophie das Erzählen zu, so dass seit Ende des 18. Jahrhunderts Erzählen auch konstitutiv für die Philosophie ist, z. B. in Form der Begriffsgeschichte. Allerdings ist die philosophische Reflexion und die Kultur des Erzählens als eigene Form der Philosophie weitgehend auf das 18. Jahrhundert beschränkt: Voltaire, Diderot, Montesquieu, Wieland, Lessing und einige andere. Ansonsten kommt erzählende Textualität vor allem und hier konstitutiv dem Bereich der Geschichte(n) zu.20 Es wäre zu prüfen, ob das Geschichtenerzählen ebenfalls den genannten drei oder gegebenenfalls weiteren Formen der Möglichkeit des Endes des Textes ausgesetzt ist. 1. Das Geschichtenerzählen kann im Schweigen versinken, wenn es nichts mehr zu erzählen gibt, das wiederum kann zwei Gründe haben: Erstens es gäbe keinen „Stoff mehr; denn das Erzählen muss etwas erzählen. Der Ausfall des Stoffs ist der fast unmögliche Fall, da das Erzählen sich wesentlich gestaltet als Wiederholung. Nur in dem extremen Sonderfall der absolut ungewandelten Erzählsituationen, in denen die Wiederholung zur Monotonie würde, und dem Fehlen neuer Geschichten, wäre dieses Ende des Erzählens erreicht.21 Zweitens würden Erzählsituationen dadurch unmöglich, dass niemand mehr zuhört, wenn jemand zu erzählen versucht. Auch das dürfte ein (momentan noch) seltener Fall sein; aber da wir allenthalben die zeitliche 17
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Weil dem Denken keine Gewalt geschehen dürfe, verlangt noch Gracian, dass der Kluge sich in Schweigen zurückzuziehen habe; dem opponiert der philosophische Text seiner Natur nach, siehe dazu Gedö, András, Die materialistische Dialektik in Identität und Wandel, in: Dialektik 11 (Wahrheiten und Geschichten), hrsg. von Holz, Hans Heinz, Regenbogen, Arnim / Sandkühler, Hans Jörg, Köln 1986, S. 163-187, hierbes. S. 181. Zu den literarischen Formen der Philosophie siehe Hadot, Pierre, Literarische Formen der Philosophie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie VII, hrsg. von Ritter, Joachim, Basel 1989, Sp. 848-858. Voltaire, Romans et contes, hrsg. von Groos, René, Paris 1940, S. 363-429. Röttgers, Kurt, Die Lineatur der Geschichte, Amsterdam / Atlanta GA 1994, bes. S. 149-166. Vielleicht gibt es Fälle von Demenz, in denen dieses annäherungsweise erreicht wird.
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Verkürzung des Bestehens von Situationen beobachten können, müssen wir auf dieFall vorbereitet sein und die so genannte Aufmerksamkeitsökonomie22 widmet diesem Phänomen bereits jetzt ihre Aufmerksamkeit. In durchdemokratisierten Gesellschaften sieht es nämlich kaum jemand ein, warum er einem anderen das Privileg zuerkennen sollte, dass dieser längere Zeit reden dürfte, die Situation dadurch kommunikativ asymmetrisch würde aber das ist beim Erzählen von Geschichten nun einmal nötig. So wollen Frauen heute den Männern nicht mehr zuhören, die Schüler nicht mehr den Lehrern und die von Fall zu Fall anstehende Umkehrung der Zuschreibung der Funktionspositionen des kommunikativen Textes fällt so manchem schwer. So wird Erzählen als Instruktionsform weitgehend als verpönt angesehen in einer Gesellschaft, die auf Partizipation setzt, im Effekt oft auf das allgemeine Durcheinanderreden. Unter solchen Bedingungen könnte das Erzählen allerdings ein Ende finden. Aber anders als im philosophischen Textende ist dieses Ende nicht selbstgewollt, sondern es stößt ihm zu. Von Nachrichten, News genannt, die von einem unendlichen Tätigsein in Politik und Sport berichten, wäre die Lebenswelt versorgt, ja gesättigt, ohne dass irgend jemand die Gelegenheit, ja vielleicht sogar nicht mehr den Mut fände, die News von gestern und vorgestern als eine Geschichte erzählend zu präsentieren. 2. Und das alles hängt natürlich bereits mit dem zweiten Textbeendigungstyp zusammen, der Gewalt nämlich. Hatten wir oben noch davon gesprochen, dass Gewalt mit dem Tode droht und damit ein höchst effektives Mittel ist, den Text abzubrechen, so wird man nun auch festhalten müssen, dass sie unter dem Handlungsaspekt betrachtet höchst ineffektiv ist: sie kann zwar den Text des Erzählens jederzeit abbrechen, aber sie ist nicht in der Lage, neue Kontinuitäten zu begründen. Der andere Aspekt an Gewalt ist das mit dem Gewalthandeln nicht eins zu eins abbildbare Erleben von Gewalt der Betroffenen. In das Erzählen finden diese zwei Typen Eingang in der Form der Heroik einerseits (Texte und Textbilder des Kampfes) und der Therapeutik andererseits (Texte und Textbilder des Leids), oder wenn man Namen nennen sollte: Nietzsches Gewalt nicht scheuender Wille zur Macht und Freuds Aufarbeitung der Traumata in einer „talking cure".23 3. Auch der dritte Textbeendigungstyp des philosophischen Textes begegnet dem Erzählen: der Übergang zum wissenschaftlichen Diskurs; das Erzählen ist dann (allerdings nur scheinbar) obsolet geworden, wenn wissenschaftliche Erklärungen an dessen Stelle gesetzt werden können. Wir müssten nicht umständlich erzählen, wie etwas geworden ist, was es ist, wenn es aufgrund einer durchschauten und angebbaren Gesetzmäßigkeit immer so ist, dass aus den vorliegenden Anfangsbedingungen die fraglichen Folgen sich ergeben. Aber das ist nur scheinbar so. Die Unisen
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22 23
Franck, Georg, Ökonomie der Aufmerksamkeit, München 1998. Freud, Sigmund, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1978, S. 163-286, eine der Patientinnen Freuds nannte die Psychoanalyse so, mit der
Doppeldeutigkeit von „thérapie de parole" und „thérapie de la parole".
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versalisierung zu allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ist überhaupt nur möglich aufgrund von Abstraktionen, die die kontingente Einzelkonstellation niemals erfassen können. ,Erkläre mir den glücklichen Zufall' ist eine paradoxe Forderung. Hier kann nur das Erzählen seine Dienste leisten. ,Erzähle mir, wie es zu dem glücklichen Zufall kam' ist eine durchaus sinnvolle Aufforderung, weil sie nur verlangt, in Form von Erzählungen die Bedingungen anzugeben, die den Raum für das glückliche Ereignis ließen.
5. Gewalterleben und Gewalthandeln Kehren wir aber nun zu dem Phänomen der Gewalt als Ereignis der Textbeendigung des Erzähltextes zurück. Aus dem Text heraus kann man es als zwangsläufig erscheinen lassen, dass nun das Maß voll ist, dass nun zu Gewalt, zum Handeln übergegangen werden müsse. Insbesondere in Form der Selbstlegitimation eines Gewalthandelns durch zuvor erfahrenes Gewalterleben wird solches in Erscheinung treten. Zwar findet hier dieser selbstlegitimatorische Übergang vom Erleben zum Handeln statt gemäß der Maxime „Gegen Gewalt hilft eben nur Gewalt", beachtenswert ist aber darüber hinaus, dass auch ein Übergang vom Textinhalt (Thema des Erzählens) zum Außerhalb des Textes (Jenseits des Erzählens) vorkommt. Der Erzähltext fungiert hier in etwa wie ein Modem, das eine sprachlos erlebte Gewalt in eine Gewalt im Text übersetzt und diese wieder in die Sprachlosigkeit einer Welt der Gewalt entlässt. Aber Texte sind zugleich mehr als Modems, denn sie können lügen.24 Im Übergang vom Trauma zum Thema und vom Thema zum legitimierten Handeln liegt deswegen ein Lügnerisches, weil nicht jedes Gewalterleben einen „Schuldigen" hat, der ein durch Erzählen legitimiertes Opfer eines Handelns sein dürfte (so genannte „strukturelle Gewalt"), und nicht jedes Gewalthandeln erzeugt ein Gewalterleben („Gewalt gegen Sachen", wie z. B. gordische Knoten).
6.
Thematisierung und Performativität
So wie wir Lebenden mitten im Leben vom Tode umfangen sind,25 so ist der (Erzähl-) Text mitten in seiner autopoietischen Entfaltung von seinem Jenseits im Schweigen, in der Gewalt und der Wissenschaft umfangen.26 Aber das ist noch nicht alles, wir haben schon gesehen, dass Gewalt auch als Thema des Erzählens, d. h. als Textinhalt, nicht nur als sein Jenseits vorkommt. Das ist in diesem Falle etwas dramatischer als bei einem Phänomen wie dem Stuhl, der in der Welt außerhalb des kommunikativen Textes vorkommt als das, was wir sehen und worauf wir uns dann setzen und innerhalb als 24
Röttgers, Kurt, Lügen(-)Texte
oder nur Menschen? in: „Dichter lügen", hrsg. Schmitz-Emans, Monika, Essen 2001, S. 37-60. Evangelisches Gesangbuch für Rheinland und Westfalen, Dortmund 1957, Nr. 305. „Wissenschaft" hier immer im Sinne von englisch „science" verstanden. Kurt /
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Röttgers,
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Kurt Röttgers
Denn der Stuhl draußen bedroht nicht den „Stuhl" mitsamt seinem Kontext, aber genau das ist bei Gewalt der Fall. Wir müssen also, um der Differenz auf die Spur zu kommen, konsequent zwischen der Thematik des Erzählens und seiner Performanz unterscheiden lernen. Denn selbstverständlich ist auch Erzählen eine Form des Handelns, von dem ein Erzählen handeln könnte. Konkret: Heroische Texte können in der Tat auch traumatisierend wirken. Erzählen ist per se schon die Zumutung an die Zuhörer, längere Zeit mehr oder weniger schweigend zuzuhören. Wenn nun diese Asymmetrie des Textes in der Zuweisung der Rollen von Selbst und Anderem mit einer heroischen Gewaltdarstellung verbunden ist, durch die den Zuhörern die Identität mit den Gewaltbetroffenen der thematischen Ebene zugewiesen wird, dann wird bereits das Erzählen selbst von den Anderen als Gewalt erlebt werden, d. h. als Ende des Textes als kommunikativen Textes antizipiert werden. Rassistisches Erzählen in Anwesenheit der Diskriminierten dürfte von diesem Extremtyp der Konvergenz der Betroffenheit von Thematik und Performanz zugleich sein.27 Ja, manche argwöhnen, dass bereits männliches (männlich perspektiviertes) Erzählen für Leserinnen von diesem Typ sei. So haben wir am Erzähltext sein Außerhalb nicht nur als Jenseits, sondern auch als Außenseite, als seine Performanz. Performanz ist das, was der Text in seinem Sprechen tut. Und es ist im Folgenden die Frage, ob und wie diese Performanz mit dem Thema, also dem, worüber der Text in seinem Sprechen redet, zusammenhängt.
„Stuhl".
7. Der Umweg über den Text Zu diesem Zweck unterscheide ich zwei prototypische Formen, die ich an zwei historischen und mythischen Figuren festmachen möchte: Alexander und Schehrezäd28. Alexander, auch genannt der Große, soll, als er vorhatte, Asien zu erobern, in Gordion mit einem Wirrwarr, dem gordischen Knoten, konfrontiert gewesen sein, über den das Orakel gesagt habe, wer dieses Wirrwarr entwirren könne, der würde Herr über Asien sein. Es war gewiss nicht sein Lehrer Aristoteles, der ihm angeraten hat oder hätte, das zu tun, was er tatsächlich tat. Er griff zum Schwert und schlug den Knoten kurzerhand entzwei. Soldaten kann man mit solch einem Gewaltakt (statt Tüftelei oder mathematischem Algorithmus) gewiss imponieren, aber was hätte sein Lehrer wohl zu so einem hitzigen Schritt und solch unbesonnener Entschlussfreude wohl gesagt und was müssen wir Philosophen einem solchen Haudegen bescheinigen? Andere vor ihm hatten mit Tüftelei das Problem zu lösen versucht, vergeblich. Ist das aber eine Rechtfertigung 27
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Zur sprachlichen Gewalt siehe Krämer, Sybille, Sprache als Gewalt oder: Warum verletzen Worte?, in: Verletzende Worte, hrsg. von Hermann, Steffen / Krämer, Sybille / Kuch, Hannes, Bielefeld 2007, S. 31-48. Ich wähle diese Schreibweise, die der Übertragung von Enno Littmann folgt: Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten, 6 Bde., übertr. von Littmann, Enno, Wiesbaden 1953 (repr. Frankfurt a. M. 1974). (Bekannt sind mir auch die Schreibweisen: Scheherazade und Schehrazad.)
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Sollte das Orakel solch einen Unsinn gemeint haben oder kann dummen Soldaten weismachen, diese sei die vom Orakel vorgesehene und freigegebene Lösung? Wir wissen, wie die Geschichte ausging und können deshalb vermuten, dass das Orakel etwas anderes gemeint haben muss, z. B. eine sinnende Lösung durch Erfindung eines topologischen Algorithmus, der das Problem aufzulösen vermag. Denn die Geschichte ging so aus: Asien ist viel größer, als Alexander annahm, daher kann diese momentane Gewalt zwar die Entschlusskraft und Folgebereitschaft bei soldatischen, gewaltbereiten Menschen erzeugen, diese reicht aber nicht aus, ganz Asien zu unterwerfen. Und schließlich war das Leben Alexanders viel kürzer, als er damals vermutete. Auch wenn er sich zur Kontinuitätssicherung des kommunikativen Textes des Orakelspruchs vergewissem konnte, war das Scheitern in dieser Lösung des Rätsels des gordischen Knotens schon angelegt. Dass die Amerikaner im 2. Golfkrieg nicht einmal Massenvernichtungswaffen im Irak versteckt haben, um sie dann als „Beweise" finden zu lassen, ist in heutigen Tagen ein ähnlicher Verzicht auf jeglichen legitimierenden Diskurs und der Übergang zur nackten Gewalt. Auf diese Weise wird man aber weder das moralische Paradoxon los, noch lassen sich Kontinuitäten machtvollen Handelns auf diese Weise begründen, wie die Entwicklungen seit „Ende" dieses Kriegs eindrucksvoll zeigen. Das moralische Paradoxon, das hier zur Gewalt greifen ließ, ist folgendes. Jeder Bewerter zweiter Ordnung ist in seinem Bewerten des Bewertens zugleich Bewerter erster Ordnung, jede Ethik definiert sich selbst als auf der Seite des (moralisch) Guten stehend. Mit anderen Worten, der Ethiker kann gar nicht anders, als den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Das schließt die hierarchische Auflösung des Paradoxons des Bewertens aus. Es bleiben auch hier nur rekursiv geschlossene Netze von Bewertungen, die keine „Letztbegründung" moralischer Normen zulassen. Angesichts dieser Paradoxie meint mancher, zur Gewalt greifen zu dürfen und zu müssen. Aber bisher haben wir nur das erste Kapitel der Geschichte von Alexander erzählt. Doch zunächst zur anderen Geschichte, derjenigen Schehrezâdes. Diese Prinzessin ist die Erzählerin von 1001 Geschichten. Wozu das? Wozu aus der Perspektive der Tatmenschen diese Zeitverschwendung. Diese Situation und dann auch die Lösung ist die genaue Umkehrung des Haudegens vor dem gordischen Knoten. Alexander wollte keine Zeit verlieren und griff zur Gewalt, um schnellstens Asien oder den Irak zu erobern Schehrezäd ist von Gewalt bedroht und will Zeit gewinnen. Die Gewaltdrohung für sie lautet: Entjungferung und anschließende Enthauptung.29 Die Lösung lautet: Schlage Umwege ein und verführe die oder den Zuhörer in der Erzählsituation, diese Umwege30 mitzugehen. Alexanders Devise lautet: Schluss mit dem Gerede (des Aristozum
Dreinschlagen?
man nur
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Erzählungen aus tausendundein Nächten I, S. 26. Blumenberg, Hans, Anthropologische Annäherung an die Rhetorik, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1993, S. 104—136: Kultur als Unterbrechung kurzschlüssiger Funktionalität ist vor allem eine Kultur der Umwege; ders., Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt a. M. 1987, S. 137 f.; sowie Serres, Michel, Hermes, Bd. V: Die Nordwest-Passage, Berlin 1994, S. 123 ff; ferner im Anschluss daran Röttgers, Kurt, Michel Serres. Strukturen mit Götterboten, in: Die
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teles und anderer), lasst uns tätig werden Schehrezâdes Devise lautet: Schluss mit dem Tun, lasst uns zum Erzählen übergehen.31 Ihr in Aussicht stehender Weg hätte sie in den Tod geführt. Ihr Aufbegehren gegen den Tod jedoch ist indirekt, vermittelt: sie erfindet und erzählt Geschichten, mehr als tausend an der Zahl. Das, was ihr blühen könnte, die Realität der Endlichkeit wird durch die Inhalte der Geschichten auf eine virtuelle Ebene gehoben, und so geht im Angesicht des immer möglichen Todes, d. h. des Abbruchs des Textes der kommunikative Text, der Schehrezäd und ihren König verbindet, weiter und weiter, u. a. auch den Tod und die Endlichkeit thematisierend.32 Nun könnte man meinen, dass wir beides brauchten: Taten und Erzählungen; denn wovon sollte das Erzählen sprechen, wenn nicht von großen Taten von Männern wie Alexander dem Großen oder George W. Bush, und wozu solcherart großartige Taten, wenn hinterher niemand von ihnen erzählen mag, bzw. niemand mehr solche Geschichten hören will? Das ist teilweise richtig, unterschlägt aber wichtige Differenzierungen, die wir oben schon eingeführt hatten, nämlich diejenige von Gewalthandeln und Gewalterleben und diejenige von Thema und Performanz der Geschichten. Alexanders Handeln ist eine Gewalt („Gewalt gegen Sachen"), zu der es, unmittelbar und soweit wir wissen, niemanden gibt, der dieses als Betroffener als Gewalt erlebt hätte. Und es ist jedenfalls in diesem ersten Kapitel der Geschichte eine rein performative, textbeendende Gewalt: ab jetzt wird gehandelt, statt geredet. Schehrezäd dagegen ist eine (potentiell) Gewalt Erlebende, in die Erzählsituation ist strukturelle Gewalt eingebaut aber auch das ist nur das erste Kapitel dieser Geschichte. Dieses Kapitel kippt in das zweite um, wenn wir betrachten, was sie tut, wenn sie erzählt. Sie kehrt die Asymmetrie der Erzählsituation um: die Dominanz der strukturellen Gewalt der Erzählsituation wird transformiert in die Asymmetrie der Dominanz ihres Erzählens. Ja, mehr noch, denn wovon erzählt sie: natürlich (auch) von Gewalt. Indem sie also erzählend die Situation dominiert, bannt sie die Gewalt von der Seite der Performanz auf die Seite des Themas. -
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Von Michel Serres bis Julia Kristeva, hrsg. von Jurt, Joseph, Freiburg 1999, S. 87-111, hier bes. S. 97 ff; cf. auch ders., Spuren der Macht, S. 488-537; cf. Konersmann, Ralf, Umweg und Methode, in: Vernunft und Freiheit in der Kultur Europas', hrsg. von Elm, Ralf, Freiburg / München 2006, S. 219-244; ders., Umwege der Kultur, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2006, S. 517. Das setzt Bildung voraus, während die Handlungsökonomie nur technisches Wissen benötigt. Von Schehrezäd wird gesagt: Sie „hatte alle Bücher gelesen, die Annalen und die Lebensbeschreibungen der früheren Könige und die Erzählungen von den vergangenen Völkern; ja, es wird erzählt, sie habe tausend Bücher gesammelt, Geschichtsbücher, die von den entschwundenen Völkern und von den einstigen Königen handelten, und auch Dichterwerke." (ebd.) Cf. auch Friedrich Nietzsche: „Dem Cultus des Genius' und der Gewalt muss man, als Ergänzung und Heilmittel, immer den Cultus der Cultur zur Seite stellen [...]." Nietzsche, Sämtliche Werke, II, S. 461. Röttgers, Kurt, Spuren der Macht und das Ereignis der Gewalt, in: Reden von Gewalt, hrsg. von Platt, Kristin, München 2002, S. 80-120, bes. S. 105 ff.
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Aber gleiches geschieht im zweiten Kapitel der Alexandergeschichte. Es ist ja, wenn wir von ihm hören, nicht der „wirkliche" Alexander, den wir vor uns haben, sondern der in Geschichten gefangene und durch Geschichtenerzählen präsentierte. Und wer weiß, ob an der Geschichte mit dem gordischen Knoten überhaupt etwas Wahres ist. Hätte in den ersten beiden Kapiteln der Name des Königs, dem Schehrezäd ausgeliefert war, auch Alexander lauten können, wenn wir die beiden Geschichten einmal mutwillig zusammenführen, so ist im zweiten Kapitel die Lage subvertiert: Schehrezäd erzählt von Alexander und seinesgleichen. Die Gewalttäter sind sozusagen virtualisiert.
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Signifikant und Signifikat Erzählen aus der Gegenwart
Bisher hatten wir von Thema und Performanz gesprochen. Wenn die Performanz der Gewalt begegnet, so gibt es zwei Möglichkeiten: Gewalt erscheint als Antisignifikant oder als Signifikat. Wenn aber das Thema der Erzählens Gewalt heißt, dann kann sie die dargestellte Gewalt im Kontext der Textbeendigung erzählen, d. h. als Geschichten vom Typ Alexander II, oder im Kontext der Subversion der Erzählsituation, d. h. eine Geschichte vom Typ Schehrezäd. Was auch immer das Erzählen tut, die Gewalt des Signifikats ist virtuelle Gewalt, sie bedroht nicht mehr aktual den kommunikativen Text in seiner Entfaltung, auch wenn der Name von Schehrezâds König Alexander gelautet hätte, sondern sie stellt nur die virtuelle Möglichkeit dessen dar. Sofern wir den Umweg über den Text gewählt haben, befinden wir uns in der Einbahnstraßen-Sackgasse der Virtualität, es gibt kein Zurück, jeder Versuch der Rückkehr aus dem Labyrinth steigert nur dessen Komplexität. Das heißt natürlich keineswegs, dass die oben eindringlich dargestellte, immerwährende Gefahr des Textabbruchs durch Gewalt damit ein für allemal gebannt wäre, im Gegenteil. Aber es ist eben nicht die virtualisierte Gewalt, die sich gewissermaßen zur Realität reinkarnierte oder resurgierte, sondern eine andere. Alexander, von dem wir diese und andere Geschichten hören, wird uns d. h. dem kommunikativen Text, der uns verbindet nie mehr gefährlich werden. Anthropomorphisierend gesprochen: jeder Einzelne von uns stirbt (die punktuelle Gewalt seines eigenen Todes), aber ,Wir' sterben nicht. Wir werden mit Hochachtung von seinem Tod sprechen und wiederholbar ist diese Gewalt des einzelnen Todes nur in seiner virtuellen Gestalt im Text des Erzählens von ihm. Aber wie ist es mit George W. Bush er kann uns doch weiter gefährlich werden, auch wenn wir die Geschichten seiner Gewalt erzählen können, nun ja, aber auch er hat es nicht mehr in seiner Macht, die erzählte Geschichte seines gewaltsamen Einmarsches in das Morgenland zu beenden; er hat es lediglich in der Hand, diese Geschichten zu komplettieren oder dafür zu sorgen, dass wir in Zukunft ruhmreichere Geschichten über ihn erzählen können. Und damit berühren wir das Thema der Geschichten aus der Gegenwart. -
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Die Erzählsituation setzt voraus, dass den Zuhörern erzählend etwas vertraut gemacht werden oder im wiederholten Erzählen in seiner Vertrautheit stabilisiert werden soll. Der Sache nach wird damit eine Gemeinsamkeit von Selbst und Anderem gewährleistet. Wenn nun von Gewalt erzählt wird, wird die Gefahr als gebannt stabilisiert oder Schehrezäd und ihr König bekennen durch die in 1001 Nächten erzeugten Gemeinsamkeit jenen schon erwähnten Lévinasschen Satz „Du wirst mich nicht töten" nein, ich werde es nicht tun, solange der Text unseres Erzählens uns verbindet; erst wenn nicht mehr erzählt werden kann und jener Satz nicht mehr sagbar ist, ist alles zu spät, und George W. Bush oder seinesgleichen übernehmen das Kommando.33 Aber noch etwas anderes ist erwähnenswert. Im Erzählen wird das erzählende Selbst sich selbst fremd, es distanziert sich nämlich von dem Vollzug und liefert sich ganz an das Thema aus. Denn Leben heißt zunächst einmal der Vollzug selbst, Leben heißt: sich lebendes und darin nicht reflektiertes und in temporaler Reflexion erzählbares Leben.34 Wer lebt, braucht zunächst einmal nicht zu erzählen, ja je mehr er erzählt, desto weniger lebt er jenes bloß lebende Leben, und wer überhaupt nicht gelebt hat, hat nichts zu erzählen, nicht einmal jene im Weiter- und Wiedererzählen präsenten Erzählungen aus zweiter Hand. Nun wissen wir zwar, spätestens seit Hegel, dass es Unmittelbarkeit nur als vermittelte Unmittelbarkeit gibt, aber genau das heißt auch: in exakt dieser Gestalt gibt es Unmittelbarkeit wirklich. Das Selbst, das sich erzählt, geht darin der Unmittelbarkeit des Vollzugs verlustig, es gibt sich aber zugleich die einzige Unmittelbarkeit, die ihm zur Verfügung steht: die vermittelte Unmittelbarkeit der Erzählungen vom Leben. Nun ist aber auch das Erzählen als Vollzug? eine Lebensform, und zwar vertrackterweise eine, die, weil sie die Vermittlung von Unmittelbarkeit leistet, für sich selbst diese Vermittlung nicht leisten kann. Oder anders gesagt: Das Erzählen kann nicht von seinem eigenen Vollzug erzählen. Genau das führt dazu, dass ein erzählendes Selbst sich selbst (partiell) fremd wird. Das gilt für das Signifikat. Das Selbst, das sich im Erzählen fremd wird, wird uno actu den Anderen, den Zuhörern vertraut, sie hören -
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Bekanntlich geht die Geschichte von Schehrezäd noch besser aus: Schehrezäd präsentiert dem König drei in den drei Jahren geborene Knaben in der Hoffnung, er werde ihr nun den Tod ersparen; er aber sagt: „O Schehrezäd, bei Allah, ich hatte dich schon freigesprochen, ehe diese Kinder kamen [...] Und ich rufe Allah zum Zeugen wider mich an, daß ich dich freigesprochen habe von allem, was dir schaden kann." (VI, S. 645) Und er bekennt, daß sie ihn vom „Töten der Töchter des Volkes" abgebracht habe. Aber die Gewalt (des Todes nämlich) bleibt im Hintergrund des Erzählens auch hier: „Und er lebte mit dem Volke seines Reiches in Glück und Seligkeit, in Freuden und Fröhlichkeit, bis Der zu ihnen kam, der die Freuden schweigen heißt und die Freundesbande zerreißt." (VI, S. 646) Kundera, Milan, Verratene Vermächtnisse, Wien 1994, S. 124: „Die Erinnerung ist nicht die Negation des Vergessens. Die Erinnerung ist eine Form des Vergessens", nämlich des Vergessens jesich lebenden Lebens. Cf. auch Thomä, Dieter, Erzähle dich selbst, München 1998, S. 254: „Das Eigenrecht des Lebensvollzugs gegenüber der Erzählung entlastet diese von dem Anspruch, nes
Form des Lebens selbst zu sein."
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auf den Erzählvollzug und sie hören, wovon er erzählt. Und sie allein sind es,35 die beides auf der Ebene des Signifikats weitererzählen können.36 Man könnte geneigt sein, das zu bedauern, dass das sich selbst lebende Leben nicht als gelebtes Leben direkt Eingang in die Geschichten finden kann. Zuweilen wird man es jedoch uneingeschränkt begrüßen müssen. Das Schweigen kann nicht schweigend in das Erzählen eingehen und die Gewalt nicht gewaltformig, und schließlich werden es die meisten Historiker begrüßen, dass das historische Erzählen sich nicht zugunsten (historischer) Sozialwissenschaften aufgegeben hat. Darauf, dass „zwischen den Zeilen" eben doch auch der Erzähltext Raum für Schweigen und Gewalt gibt, werden wir später zurückzukommen haben. Zunächst aber ist es angezeigt, auf die Fälle einzugehen, in denen ein erzählender Bruch vollzogen wird, um eine noch allzu bedrängende Gegenwart in den Inhalt der Geschichten zu bannen: Geschichten aus der Gegenwart. Sie werden frühzeitig erzählt, um einen Gegenwartskomplex wenigstens intellektuell zu verlassen, indem sich das Erzählen vom Erzählten unterscheidet, löst und sich auf es bezieht. Angesichts des Fortbestehens von Situationen, in die das Erzählen eingebettet ist (George W. Bush kann weiteres Unheil anrichten, obwohl wir bereits jetzt Unrühmliches von ihm erzählen), gleicht die Haltung des Erzählers dem frühreifen und altklugen Kind, das schon Bescheid weiß und die reflexive Distanz schon pflegt, noch bevor es richtig gelebt und erlebt hat. Dieses vermeintlich frühreife Erzählen (d. h. bevor noch die Geschichte sich als Sinngestalt geschlossen hat), ist damit eigentlich immer schon das Erzählen eines Lebens aus zweiter Hand.37 Die Distanzierungsgeste kann aber auch einer therapeutischen Absicht folgen; dann befreit das Erzählen von den Traumata, von den Leiden, den Leidenschaften und von den Obsessionen. Die Hoffnung ist, dass, wenn es gelingt, die wirren Widerfahrnisse des Lebens in eine narrative Ordnung zu bringen, solches auch eine Befreiung von dem bedrängenden Chaos der äußeren und der seelischen Ereignisse verheißt. Aber auch solches therapeutische Erzählen ist zu früh gewonnen und deswegen instabil. Gelingendes Leben ist von anderer Struktur als die erfolgreiche Einbettung in die Erzählung eines Lebens. Man könnte diesen Unterschied geradezu festmachen an der Unterscheidung des Werdens und der Geschichte bei DeMan könnte einwenden, dass doch ein Erzähler (später, wohlgemerkt!) sehr wohl erzählen kann, dass und was er früher erzählt hat. Das ist auf der Darstellungsebene des Erzählers richtig, nimmt man jedoch, wie hier, die Perspektive von Selbst und Anderem als Funktionspositionen des kommunikativen Textes des Erzählens ein, so wird man sagen müssen, dass dieser Erzähler sich darin auf den Anderen seiner Selbst bezieht: er hat sich selbst zugehört und genau davon kann er selbstverständlich später auch erzählen. Sommer, Manfred, Fremderfahrung und Zeitbewußtsein, in: ders., Lebenswelt und Zeitbewußtsein, Frankfurt a. M. 1990, S. 131-150. In dieser Weise wirkten die Gedichte von Loris auf die Zeitgenossen, man vermutete eine gereifte Persönlichkeit hoher gesellschaftlicher Stellung, z. B. einen älteren Diplomaten hinter diesem Pseudonym tatsächlich war es der Gymnasiast Hugo von Hofmannsthal, der einen Schulverweis fürchtete, wenn er unter seinem eigentlichen Namen Gedichte veröffentlichte. Der Geist des fin de siècle förderte solche allzu frühreife Selbststilisierung. -
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leuze / Guattari, wo diese Unterscheidung es zulässt, dass auch zu „historischen" Gegenständen wie etwa der Philosophie der Griechen oder eigenen biographischen Stationen eine Haltung des Werdens und nicht der Geschichte eingenommen wird: Griechewerden, Kindwerden statt Geschichten aus der Kindheit oder aus dem alten Griechenland zu erzählen.38 Es gibt ein weiteres Problem des Erzählens aus der Gegenwart. Das sich lebende Leben ist, wie gesagt, alles andere als die Unmittelbarkeit selbst, als Folge von Erlebnissen und Erfahrungen erscheint es vielmehr als ein déjà-vécu; denn die Erlebnisformierungen des Lebens sind immer schon diskursiv homogenisiert. In Ermangelung des Zugangs zu den Perspektiven zukünftigen Erzählens verwendet auch die Ersterzählung, diejenige, die die Gegenwart selbst zu erzählen beabsichtigt, altbewährte Deutungsmuster, ist daher im Prinzip, selbst wenn sie etwas ganz Neues zur Sprache bringen möchte, eine Wiederholung alter Geschichten. In diesem Sinne sagte auch Francis Jacques: „L'écriture de ma vie [...] doit associer le temps passé de l'homme qui est le sujet de l'énoncé, avec le temps présent de renonciation."- Frage ist, ist das möglich und wie.39 Dieter Thomä40 führt das Problem der Differenz von vergangenem Leben und gegenwärtigem Vollzug im Erzähltext des eigenen Lebens bis hin zur ethischen Problematik, dass das, was man damals im Bewusstsein sittlicher Autonomie getan hat, heute als heteronom bestimmt empfindet, weil es wohl mit dem erzählten, nicht aber mehr mit dem erzählend sich präsentierenden Selbst übereinstimmt. Aber selbst wenn man das klassische Problem der Selbstorganisation als (selbstbestimmte, selbstgefundene oder selbsterfundene) Einheit hinter sich gelassen hätte und dem postmodernen Bild des fragmentierten Selbst Wort verleihen möchte, durch das die Einheit der Erzählung zur Vielheit der Perspektiven gerät,41 bleibt doch das Problem des Übergangs von der Performanz zum Thema immer noch unangesprochen und das ist nicht nur, aber auch das Problem, das Tristram Shandy meint, wenn er feststellt, dass er 364mal schneller lebe als schreibe, weil er für das Beschreiben eines einzigen Tages ein ganzes Jahr gebraucht habe.42
Deleuze, Gilles / Guattari, Felix, Was ist Philosophie ?, Frankfurt a. M. 1996, S. 24, 110 u. ö.; cf. auch Wolf, Ursula, Was heißt es, sein Leben zu leben, in: Philosophische Rundschau 33 (1986), S. 242-265: im gelingenden Leben, im glücklichen Moment gelingt nicht eine Einbindung in die Le-
bensgeschichte, sondern in die Lebenssituation. Jacques, Francis, Différence et subjectivité. Anthropologie
d'un point de vue relationnel, Paris 1982, S. 200. Thomä, Erzähle dich selbst, S. 161; cf. auch Várela, Francisco, Ethisches Können, Frankfurt a. M. / New York / Paris 1994.
Lloyd, Geneviève, Being in Time. Selves and Narrators in Philosophy and Literature, London / New York 1993, S. 164 f.; das ist auch das beherrschende Thema von Kraus, Wolfgang, Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne, Herbolzheim 2000. Sterne, Lawrence, Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys, München 1989, S. 265.
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Bannung: Texte über Gewalt
In gewisser Weise ist die in den Geschichten erzählte Gewalt dem Text, der sie erzählt, immer fremdartig. Als Textelement ist sie zwar in Kontinuitätskonstruktionen einbezogen, aber auf der Ebene ihres Vorkommens, d. h. im Inhalt ist sie nicht selbst kontinuitätsforderlich: ein Erzählen, das nur partikulare Gewaltakte, nur Serien solcher Akte aufzählte, ergäbe keinen Sinn, so wie ja eine Kriminalstatistik keinen Kriminalroman abgibt oder auch nur dessen Gerüst darstellen könnte; ja nicht einmal die Protokolle eines Kriminaldezernats könnten diese Dienste erbringen. Man kann von erlebter Gewalt erzählen mit dem Ziel, selbst den Text zu beenden und zu Gewalt überzugehen. Man kennt dann die Schuldigen der erlebten Gewalt, sie werden die Opfer der durch das Erzählen von der erlebten Gewalt legitimierten Gegen-Gewalt sein. Diese Verursacher nackter, sinnloser Gewalt sind uns fremd und unverständlich, aber sie sind identifizierbar, man kennt sie und ihresgleichen: Albaner, Raucher oder Männer, und das ist das Erfreuliche für die Gegen-Gewalt-Bereiten sie kommen auch außerhalb unserer Geschichten vor als „dieselben". Aber mühelos lässt sich diese Rede vom Verursacher unseres Leids auch als eine Erzählfiktion erkennen. Und dann liest sich diese Identifizierungsgeste so: Wer immer den handelnden Übergang vom Text zu seinem gewalthaften Ende aus dem Text heraus anstrebt, der wird so erzählen, als ob die beabsichtigte Gewalthandlung als Gegen-Gewalt mit Zwangsläufig-
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der Geschichte „folgt". Aber dieser Punkt möglicher Doppel-Beschreibung, beispielsweise des Siegs des Deutschen Reichs über Frankreich 1871, ist bereits in der Immanenz des bzw. der Erzähltexte(s) die Unmöglichkeit des gemeinsamen Textes. An dieser Stelle tritt nun in dem sich selbst unmöglich machenden Text von Selbst und Anderem der Dritte in Funktion. Der Dritte im kommunikativen Text ist diejenige Funktionsposition, vor dem sich der Konflikt von Selbst und Anderem abspielt und der als Text sich bis zu seiner Aporie entfaltet. Es wird erwartet, dass er sich zugunsten des einen oder des anderen einmischt und den Konflikt so „löst", dass der Text weitergehen kann. Das kann so geschehen, dass der Dritte als Textpartner eingeschlossen, der Andere aber ausgeschlossen wird: der Text geht weiter und die Gewalt als Textende ist abgewendet. Es kann aber auch sein, dass es dem Dritten gelingt zu schlichten und der Text auf erweiterter Ebene fortgeführt werden kann (ménage à trois). Beim Geschichtenerzählen heißt das, dass seine Geschichten der gemeinsamen Geschichte integriert werden. Der Dritte mag aber nicht nur als Parteiverstärkung oder in der Form des Rechts auftreten, sondern auch als „Heiland"; dieser leitet das Gewalterleben an, das erfahrene Leid als selbstverschuldete Strafe oder als Sühne zu übernehmen. Wer die erlebte Gewalt so als Sühne uminterpretiert, hat sich von sich selbst, insofern zuvor Gewalt von ihm ausging, distanziert. „Es kam so über mich", wird man zuweilen hören und damit ist gemeint: es gibt die Gewalt des Fremden im Inneren meiner selbst / meines Selbst. „Wer zum Schwert greift, der soll durch das Schwert umkommen", heißt es. Die als Gegen-Gewalt interpretierte erlebte Gewalt wird oft ebenfalls auf einen Dritten bezogen; keit
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Aufgabe in diesem Arrangement ist dann die wirksame Wiederherstellung einer Ordnung der Gerechtigkeit. Weil die Funktionsposition des Dritten mehrdeutig bleibt, kann man an der Stelle, an der er auftritt, auch eine Brüchigkeit des Textes diagnostizieseine
ren.
10. Das Erzählen unmoralischer Geschichten Vieles spricht also dafür, das Erzählen, das Erzählen von Geschichten über Gewalt nicht einzustellen, dem oben angeführten Rat der Pädagogen usw. (wieder einmal) nicht folgsam sich zu zeigen. Ich möchte das im Folgenden zu der These verallgemeinern, dass es sich empfiehlt, unmoralische Geschichten zu erzählen. Es ist nicht nur so, dass die großen klassischen Novellensammlungen (Novelle ist ein altes Wort und eine andere Form der Präsentation von „News") von Schehrezäd über Boccaccio, Margarethe von Navarra bis hin zu Goethe stets von vielem Unmoralischem erzählten. Sondern es gibt auch gute systematische Gründe dafür.43 Wie schon gesagt, ist jede Ethik, die versucht, eine Moral zu reflektieren und zu begründen, selbst stets auf der Seite des von ihr definierten moralisch Guten, niemals auf der anderen Seite dieser Grenze, d. h. sie kennt die andere Seite gar nicht. Nun können wir in der Postmoderne sicher nicht mehr darauf vertrauen, dass es die Letztbegründung der Ethik gibt, die es überflüssig machen würde, die andere Seite kennen zu lernen und zwar nicht nur vorläufig noch nicht, sondern (höchstwahrscheinlich) überhaupt nicht. Wenn wir nun aber nicht auf dem moralischen Status quo erstarren wollen, d. h. das Grundanliegen der Ethik gutheißen müssen, dann können wir entweder weiter an der Fiktion einer „Letztbegründung" wursteln oder wir könnten einer Idee der symphilosophierenden Frühromantik folgen und moralische Experimente für das Nonplusultra einer ethischen Weiterentwicklung der geltenden Moral erklären. Nach der Idee von Friedrich Schlegel muss es, um zu einer Objektivität der Ethik zu gelangen, im Ausgangspunkt eine Pluralität oder eine Differenzstruktur der Moralen geben. Diese Pluralität wird von ihm durchaus individualistisch angesetzt, so dass eine plurale individuelle Bildung zur Selbständigkeit eine wichtige Bedingung moralischer Fortschritte ist. Weder allgemeine Prinzipien à la Kant, noch die herrschende Moral der Leute stehen als Kriterien reflexiver sittlicher Moralbildung zur Verfügung; also bleibt nichts anderes übrig als ein die Möglichkeiten auslotendes moralisches Experimentieren im Ausgang von möglichst prägnant ausgebildeten Individualisierungspunkten. Moralische Bildung Die damit angesagte Scheidung von Ästhetik des Erzählens und Moral seines Inhalts führt bei Rorty, Amélie, Les multiples visages de la moralité, in: Revue de Métaphysique et de Morale 99
S. 205-223, zu einer Reinigung der Moral von bloß ästhetischer Sensibilität, in meiner Kierkegaard-Interpretation des „Tagebuchs des Verführers" zu einer Reinigung der Ästhetik der Verführung von der Moral und der Religion, Kategorien der Sozialphilosophie, S. 417-426, damit in Kontrast zu einem Großteil der (religiös motivierten) Kierkegaard-Literatur, aber in Übereinstimmung mit Liessmann, Konrad P., Ästhetik der Verführung, Frankfurt a. M. 1991.
(1994),
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ist auf solche moralischen Experimente angewiesen, weil ihr die Sicherheiten unbezweifelbarer Prinzipien ebenso abhanden gekommen ist wie das Vertrauen in die herkömmliche Moral der Leute. Schlegel dachte als Medium solcher Experimente an „Essays" und gemeint sind dabei sicher die Essays Montaignes oder allgemein die französische Moralistik. Wir setzen an diese Stelle die allgemeinere und formalere Struktur des Narrativen; allerdings bleibt auch darauf hinzuweisen, dass uns in der echten Postmoderne nicht nur der Glaube an die letztbegründenden Prinzipien und das Vertrauen in die Meinungen der Leute abhanden gekommen ist, sondern auch etwas, von dem Schlegels zukunftsseliger Glaube an die Objektivität der Ethik noch getragen war: die geschichtsphilosophische Zuversicht. Für das Erzählen hätte das dann zur Folge, dass wir uns mit guten Gründen Geschichten über Gewalt und andere unmoralische Geschichten erzählen sollten,44 nicht weil wir sie als Leitlinien unseres Handelns verwenden sollten oder auch nur könnten,45 sondern weil die Simulation der Unmoral im Erzählen als Erzählhandeln ebensowenig unmoralisch ist wie das Wort „Schmutz" schmutzig ist. Und in dieser Lizenz zur Unmoral zum Zweck der ethischen Reflexion der geltenden Moralen ist die für geschichtliches Erzählen wichtige Unterscheidung wahrer von unwahren Geschichten notwendigerweise als irrelevant gesetzt. Ob Alexander den Knoten wirklich durchgehauen hat oder nur das Gerücht, auf das allein es ankam, hat verbreiten lassen, er habe es getan, ist für das Erzählen von unmoralischen Geschichten als simulierte moralische Experimente ganz unwichtig. Ebenso interessiert nicht, ob König Schehrijâr, wenn es ihn gegeben hat, sich als Entjungferungs- und Enthauptungsmaschine betätigt hat oder ob alle Tiere auf die Arche Noahs passten.46 Nicht Wahrheit der Einzelheiten ist entscheidend, sondern narrative Konsistenz und Lebensdienlichkeif17 im Sinne der Spiegelung der Vielfalt menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten. Insofern gibt es keine „Moral von der Geschieht'", wohl aber eine Ethik des Erzählens, die sich als Ethik der Selbsterhaltung von Erzählsituationen und des Fortgangs des kommunikativen Textes des Erzählens auswirkt.
Eine unmoralische Begriffsgeschichte habe ich erzählt in: Der Standpunkt und die Gesichtspunkte, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), S. 257-284. Röttgers, Die Lineatur der Geschichte, S. 321-342: „Die Moral von der Geschieht' zum Thema Ethik und Geschichte". Siehe dazu die (anonyme) „Berechnung" in dem Artikel „Die Arche Noah. Genügend Platz für alle Tiere? Eine theoretische Berechnung" unter http://fischinger.alien.de/arche.html. Ich verwende diesen Begriff Nietzschescher Provenienz statt den der „Selbstliebe" wie Thomä, Erzähle dich selbst, S. 159-261, obwohl wir uns in der Tendenz nahe kommen, auf ein lokales statt auf ein lebensumspannendes Erzählkonzept zu setzen. „Selbstliebe" lädt zu allerlei Missverständnissen geradezu ein, ist aber auch der Sache nach noch zu stark an einem substantialistischen Konzept vom Selbst orientiert; cf. dagegen Kraus, Das erzählte Selbst. -
III. Grundpositionen
Klaus-Dieter Eichler
Über den Umgang mit Erzählungen bei Piaton und Aristoteles
Ödipus:
„
Was für Geschichten?
Ich prüfe alles,
was man
sagt.
"
(V291) Bloße Erzählung'
zu sein, ist ein Urteil, das auf dem Markt der Philosophie weniger ein Lob denn einen Tadel ausdrückt. In Abwandlung einer berühmten Formulierung kann man von einer Erzählvergessenheit der Philosophie sprechen.2 Diese steht in einem auffallenden Kontrast zur lebenspraktischen Bedeutung der Erzählung, denn die Kunst des Erzählens in ihrer ursprünglichen Funktion ist eine Kunst des Erfahrungsaustauschs und der Vermittlung praktischer Weisheit. Im Folgenden soll an den Ausgangspunkt dieser Delegitimierung des Narrativen erinnert werden. Sie steht im engen Zusammenhang mit dem Übergang von der Oralität zur Schriftkultur.3 Dabei werden in einem ersten Teil Piatons Strategien im Umgang mit Erzählungen kurz thematisiert. Unter einer Erzählung (diëgësis) versteht Piaton das „was von Fabellehrern und Dichtern gesagt wird."4 Wenn der Dichter selbst redet, d. h. wenn
sind eine mündliche oder schriftliche Darstellungsform, die Handlungen, d. h. verund auch erfundenen Taten, und Ereignisse zum Inhalt haben. Sie vermitteln primär Ergangene fahrungen, die erst im Erzählen und Wiedererzählen Konturen gewinnen. In dieser Allgemeinheit ist die Aussage natürlich falsch. Man denke nur an Autoren wie Augustinus, Montaigne, Rousseau, Kierkegaard, Sartre, Camus etc. Ein Vorgang, der hier nicht weiter thematisiert wird, der aber in seiner Bedeutung Gegenstand einer intensiv geführten Diskussion ist. Vgl. dazu Goody, Jack / Watt, Ian / Gough, Kathleen, Entstehung und Folgen der Schriftkultur, Frankfurt a. M. 1986; Havelock, Erich A., Als die Muse schreiben lernte, Frankfurt a. M. 1992; Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, München 1992; Totzke, Rainer, Buchstaben-Folgen, Weilerswist 2006; Svenbro, Jesper, Anthropologie des Lesens im alten Griechenland, München 2005 und Eichler, Klaus-Dieter, Zum Gründungsmythos der europäischen Philosophie, in: Vernunft der Aufklärung und Aufklärung der Vernunft. Festschrift für Hans-Martin Gerlach, hrsg. von Bröse, Konstantin / Hütig, Andreas / Immel, Oliver, Berlin 2006, S. 25-36. Pol. 392c. Wenn nicht anders angegeben, wird Piaton nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher und Hieronymos Müller zitiert.
Erzählungen
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über etwas berichtet, ohne dass er das Gesagte einer anderen Figur in den Mund legt, dann ist es einfache Erzählung, haplos diëgësis (episch-narrativ); wenn der Dichter aber einen anderen „in Stimme oder Gebärde nachbildet", spricht Piaton vom „Erzählen durch Nachahmung", diëgësis diá mímeseos (dramatisch).5 Hier geht es darum, dass sich der Erzähler verbirgt, um jemand anderen in der Rede oder Gebärde präsent sein zu lassen. Das Gemeinsame dieser Unterscheidung ist die Kategorie des Erzählens. Diëgësis ist alles dichterische Tun, auch das mimetische nachahmende Sprechen einer anderen Stimme im Drama.6 Gerade diese Form der Erzählung unterliegt im besonderen Maße einer ethisch und politisch motivierten Kritik7, führt sie doch nicht nur zur Aufhebung der Identität der Handelnden und der Polis, sondern zur Gefährdung der Ordnung des Logos überhaupt. Ob und inwiefern Piatons eigene Schriften selbst von dieser Kritik betroffen sind, ist umstritten.8 Grundsätzlich gilt jedoch, wenn in der Mimesis sich er
Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass Piaton neben der epischen und dramatischen Erzählung auch eine aus beiden gemischte Form unterscheidet, (vgl. Pol. 392 d5 f.) An der Chrysesepisode aus dem ersten Gesang der Ilias zeigt Piaton den Unterschied zwischen Erzählung und Nachahmung. Bis Vers 16 erzählt Homer und versucht nicht, den Geist des Hörers anderswohin zu lenken um den Eindruck zu erwecken, als ob ein anderer als der Dichter spricht. Die einfache Erzählung lenkt den Hörer nicht ab, sie hebt die Distanz zwischen Erzähler und den Personen und Ereignissen, von denen gesprochen wird, nicht auf. Ab Vers 17 spricht Homer so, als ob Chryses sprechen würde. Die mimetische Darstellungsform ermöglicht es dem Dichter „sich selbst zu verbergen und somit auch seine Kunst zu verstecken." (Pol. 393c) Die mimesis ist wie die diëgësis eine narrative Form der Vermittlung „Erzählung (diëgësis) nun ist doch beides" (393b) aber eine solche, die ihren diegetischen Charakter, ihre narrative Mittelbarkeit verschleiert. Gefährlich ist die mimetische Darstellungsform, weil die handelnde Nachahmung von Handlungen dann, wenn sie wiederholt ausgeführt wird eine Handlungsdisposition, eine Gewohnheit des Handelns zu begründen vermag. „Oder hast du nicht bemerkt, dass die Nachahmungen, wenn man es von Jugend an stark damit treibt, in Gewöhnungen (ethè) und in Natur (physin) übergehen, es betreffe den Leib (soma) oder die Töne (phonë) oder das Gemüt (dianoia)". (Pol. 395dl 3) Die Wirkung derartiger Nachahmungen besteht in der Zerstückelung (katakekergmatistha'i) der menschlichen Natur (tou anthropou physis). (Pol. 395b3-6). Piaton machte sowohl Homer, dem Lehrer und Anführer der Tragiker (Pol. 595c 1 f.) als auch dessen attischen Nachfolgern zum Vorwurf, dass sie den Menschen eine ganz bestimmte (d. h. tragische) unwahre Sicht der Welt und des menschlichen Lebens auf eine sehr wirkungsvolle und deshalb besonders schädliche Art und Weise vermitteln. Es besteht in der Regel Übereinstimmung darin, dass zumindest die frühen Dialoge Piatons mimeta der mündlichen Reden des Sokrates und der Aktivität der „Handelnden" in den Dialogen darstellen sollen. Die Akteure werden als handelnde Personen und damit in „ethischer Hinsicht" als .besser' oder .schlechter' präsentiert. Die Werke der poiesis werden somit als mimesis menschlicher, ethisch relevanter Handlungen bestimmt. Damit ist für Piaton der enge Zusammenhang von Ethik und Poetik gegeben. Der Bezug auf Sokrates erfolgt jedoch in unterschiedlicher Akzentuierung. Das damit die Bedeutung von mimesis nicht ausreichend bestimmt ist, wird zu zeigen sein. Vgl. zur Dialogkomposition Meyer, Martin F., Form und Inhalt des platonischen Dialogs, in: Zur Geschichte des Dialogs, hrsg. von Meyer, Martin F., Darmstadt 2006, S. 27-39 und Westermann, Hartmut, Die Intention des Dichters und die Zwecke der Interpreten, Berlin / New York 2002. -
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der Erzähler / Poietes versteckt und hinter das und dem zurücktritt, dem er sich angleicht, so gilt diese Beschreibung auch für platonische Dialoge, die durch die Abwesenheit des Autors und die Darstellung der erga und logoi des toten Sokrates, der dadurch gleichsam wieder zu einer lebendigen Person wird, charakterisiert sind. Würde der Verfasser der Dialoge (Piaton) sich selbst nicht verbergen, hätte er die diëgësis ohne Mimesis vollzogen.9 Während bei Piaton die Erzählung durch mimesis den Gegensatz zur einfachen Erzählung darstellt, wird bei Aristoteles, der in einem zweiten Teil der Gegenstand der Untersuchung sein wird, die mimesis (Darstellung, Nachahmung) zur übergreifenden Kategorie der dramatischen und der einfachen diegetischen-epischen Komposition, d. h. auch die narrative Repräsentation einer Erzählung wird als mimesis bestimmt. Der Unterschied zwischen Epos und Tragödie liegt für Aristoteles vor allem in der Art der Darstellung, während das Epos berichtet (apangellein) und zwar in der Ich- oder der personalen Erzählform, lasse, so Aristoteles, die Tragödie „alle Personen als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten".10 Dabei wird dem poietischen Diskurs eine relative Autonomie gegenüber den Bereichen der Ethik und Politik eingeräumt. Im 25. Kapitel der Poetik heißt es gegen Piaton gerichtet -, dass die „Richtigkeit in der Dichtkunst nicht ebenso beschaffen (sei) wie in der Staatskunst, und überhaupt die Richtigkeit nicht so beschaffen wie in irgendeiner anderen Disziplin ist" (Poet. 1460b 13-15), d. h. die Dichtkunst (Poietik) ist eine Tätigkeit mit eigenen, inneren Prinzipien und Regeln. Aristoteles behauptet nicht, dass die poetische „Richtigkeit" völlig unabhängig von den Kriterien der Ethik und der Politik sei. Insofern redet er keiner Autonomie des Ästhetischen gegenüber dem Inhalt des Dargestellten das Wort. Ethische und politische Überlegungen sind hier nicht irrelevant, sondern in Urteile integriert, die den ganzen Kontext der dramatisierten Situation sorgfältig in Betracht ziehen." Gerade an diese -
Der mimetische Charakter der Dialoge hat zur Folge, dass Piaton in eigener Person rein gar nichts sagt. Das bedeutet, dass die Form des Dialogs es ermöglicht, die eigene Person und ihre Ansichten nicht unmittelbar im Geschehen vorzustellen. Auch bei Aristoteles heißt es: „Der Dichter soll möglichst wenig in eigener Person reden, denn insoweit ist er nicht Nachahmer." (Poet. 1460a7-8) Die methodische Differenz, die zwischen der Person des Autors und den literarischen Figuren notwendigerweise besteht, wird hier zur Bedingung literarischer und mimetischer Darstellung über-
haupt gemacht.
Hinsichtlich der Möglichkeit, in der man alle Gegenstände nachahmen kann, existieren grundsätzlich zwei Varianten: „entweder zu berichten in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, dass man unwandelbar als derselbe spricht oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen". (Poet. 1448al9-24) Von Erzählung (diëgësis, apangellein) ist bei Aristoteles konsequent nur im Zusammenhang mit den Epen Homers die Rede. (Poet. 1459al6-
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1459b30) Vgl. dazu Halliwell, Stephen, Aristoteles und die Geschichte der Ästhetik, in: Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, hrsg. von Buchheim, Thomas / Flashar, Hellmut / King, Richard A., Hamburg 2003. Geht man davon aus, dass nach Aristoteles die Tragödie mimesis von menschlichen Handlungen ist, so liegt es nahe, dass der Theorie dramatischer Handlungen seine, als Handlungstheorie verstandene, Ethik zugrundeliegt.
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des Aristoteles knüpfen in der Gegenwart Bemühungen der Konstitution einer narrativen Ethik an.12 So naheliegend es ist, beim Versuch der Etablierung einer schwach normativen Ethik an Aristoteles anzuknüpfen, so wenig sollte dabei jedoch vergessen werden, dass die erste systematische Auseinandersetzung mit dem Modell der mimesis und dem Status der diëgësis im Kontext sittlicher paideia von Piaton durchgeführt wurde. Geht Piaton vom charakterbildenden Wert ethischer Unterweisungen in Gestalt literarisch komponierter Dialoge aus, so trennt Aristoteles den ethischen Diskurs von der moralischen Praxis viel entschiedener. Das Hören ethischer Vorlesungen ist nur für diejenigen nützlich, die charakterlich bereits vorgebildet sind und eine geeignete Seelenhaltung besitzen. „Rede (logos) und Belehrung (didachë) aber haben wohl kaum bei allen entscheidenden Einfluss, sondern die Seele des Hörers muss erst durch vorherige Gewöhnung dazu bereitgemacht werden, sich in Zuneigung und Hass vom Edlen leiten zu lassen, bearbeitet wie ein Stück Land, das den Samen nähren soll. Denn wer dem Gefühl und der Leidenschaft lebt, hört nicht auf das abratende Wort und wenn, so würde er es wiederum nicht verstehen." (NE 1179b) Der Hörer der ethischen Vorlesungen braucht das Wissen nicht mehr unmittelbar zu applizieren, da er es implizit in Gestalt einer charakterlichen Grundverfassung bereits besitzt.
Untersuchungen
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Schon die frühen griechischen Philosophen entdeckten, dass die Darstellung objektiven und allgemeingültigen Wissens ohne Erzählung auskommt, ja überhaupt nur formuliert werden kann in Abstraktion von seiner lebensweltlichen Verankerung. Beim Versuch die Gesamtheit der Dinge in der Welt aus ihnen immanenten natürlichen Ursachen zu erklären, treten an die Stelle von Erzählungen (Mythen) über handelnde Götter sachliche Prinzipien, deren Zusammenhang nicht mehr erzählt, sondern erklärt wird und dessen Erkenntnis nicht eine Folge persönlicher Erfahrung ist. Das Erzählen von Geschichten, handeln sie nun von den Taten der Götter (Mythen)13 oder von den eigenen, seien sie selbst erlebt oder aus zweiter Hand, mündlich oder schriftlich verfasst, kurz gesagt, die narrative Praxis in toto kann über ihren eigenen Status nur um den Preis ihrer Auf-
dazu Lesch, Walter, Hermeneutische Ethik / Narrative Ethik, in: Handbuch Ethik, hrsg. von Düwell, Markus / Hübenthal, Christoph / Werner, Micha H., Stuttgart / Weimar 2002, S. 231-242 und die paradigmatischen Arbeiten von Ricœur, Paul, Zeit und Erzählung, Bd. I—III, München 1988-1991 und ders., Das Selbst als ein Anderer, München 1996. Ricœur entwickelt systematisch
Vgl.
anhand einer subtilen Interpretation der aristotelischen Poetik die Bedeutung der aristotelischen Analysen der dichterischen mimesis und der Struktur des mythos (Erzählung, Fabel) für eine Konzeption narrativ vermittelter Identität. Wird von der „Welt" erzählt, dann tritt sie in Gestalt von Handelnden, von Handlungen oder als Objekte von Handlungen auf und damit als eine Welt, die von Anfang an in Beziehung zu den handelnden Menschen steht, der Anthropomorphismus der mythischen Welt ist erzählungsbedingt. Dies ist der Erzählstruktur selbst geschuldet, d. h. dem schlichten Sachverhalt, dass man es in Erzählungen mit einem Anfang und mit einem Ende, einer Ausgangssituation und einem Endzustand zu tun hat und dass zwischen beiden ein Transformationsprozess stattfindet, ein Prozess, der auf Verknüpfung von Handlungen beruht.
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hebung keine theoretische Auskunft geben. Erzählungen, vor allem mündliche, sind eingebettet in die Lebenswelt14 und in der Regel nachträgliche15 Darstellungen von Handlungen. Sie benötigen gewöhnlich keine Begründung oder Interpretation. Sie berichten von Ereignissen, Handlungen und Widerfahrnissen zwischen denen sie im Prozess des Erzählens, retrospektiv, einen nachvollziehbaren kohärenten Zusammenhang erzeugt, in der Regel berichten sie klar genug, um dem Zuhörer oder dem Leser eine ausreichende Vorstellung von dem zu vermitteln, wovon sie erzählen. Man kann nicht zugleich eine Geschichte erzählen und den Sinn dieser Geschichte erklären. Die Glaubwürdigkeit einer Erzählung kann ihr nicht nachträglich verliehen werden. Sie konstitu-
iert sich im Akt des Erzählens.16 In der Reflexion über sie, gar in der Frage nach ihrer Wahrheit, wird sie aus ihrem lebensweltlichen Zusammenhang der Erzählsituation herausgerissen und verliert ihre pragmatische Funktion praktische Weltorientierung zu sein. Wer eine Geschichte erzählt, tut dies in der Absicht, das erzählte Geschehen einem Hörer oder Leser präsent zu machen, wer über sie spricht, tut das mit dem Ziel, etwas über ihren Inhalt, ihre Form, ihre Bedeutung, ihr Wesen sachlich mitzuteilen. Erzählen heißt auch, sich zu distanzieren, sowohl von dem Geschehen, über das erzählt wird, wie auch von dem, dem diese Geschehnisse widerfuhren, denn nur der kann eine Geschichte erzählen, der selbst nicht mehr vollständig der Sphäre dessen angehört, worüber erzählt wird. Nur derjenige, der eine gegenüber den erzählten Ereignissen zukünftige Position innehat, kann ein Geschehen als Geschichte erzählen, die über einen Anfang und ein Ende verfügt. Der Erzähler konstituiert einen Bruch in der Zeit, indem er sich als erzählendes Selbst generiert und damit Konturen einer narrativ vermittelten -
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Identität gewinnt.17 Schon ein recht frühes Zeugnis europäischer Kultur die Erzählung Homers über Odysseus Aufenthalt bei den Phäaken gibt darüber Auskunft. Auf der letzten Station vor der Heimkehr nach Ithaka lässt Homer seinen Haupthelden ausführlich die Geschichte seiner Irrfahrten erzählen. Die gut ein Fünftel der Ilias umfassende Ich-Erzählung macht deutlich, wie Odysseus zu dem geworden ist, der er ist und verleiht nach-
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„Die Erzählung gehört wie die Sprache zum Humus der Kultur", menologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M. 2004, S. 48. Es
so
Waldenfels, Bernhard, Phäno-
gehört zu den Grundmerkmalen einer Erzählung, dass sie sich auf Vergangenes bezieht. Zu den
Paradoxa, die sich daraus ergeben vgl. ebd., S. 48-65.
Da sich der Sinn einer Erzählung als ganzer erst im Verlauf der Handlung erschließt bildet sie einerseits in ihrer episodischen Dimension eine offene Abfolge von Ereignissen (dann und dann und so weiter), andererseits bildet sie eine bedeutungsvolle Totalität, die sich in einen zusammenfassenden Gedanken übersetzen lässt; die „Pointe", die „Moral" oder das „Thema" der Erzählung. Die Erzählung ist diejenige Artikulationsform, in der objektive Zeit und subjektives Zeitempfinden zusammen geführt werden. Ereignisse und Prozesse werden aus der Perspektive von Handlungssubjekten beschrieben und dergestalt die Geschichte eines Subjekts als eine erzählbare Geschichte konstituiert. Die Identität einer Person erwächst aus der Geschichte, die sie selbst erzählt. Insofern bildet die narrative Identität eine Brücke zwischen Deskription und Präskription. Erzählung und Bewertung fallen nicht auseinander, wir beurteilen, indem wir erzählen. Erzählungen bewerten implizit, indem sie zeigen als wer jemand sich durch seine Handlungen erweist.
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der Formulierung einen Sinn, mit der er nach langem Schweigen das Geheimnis seiner Identität preisgab: „Ich bin Odysseus."18 Die schrittweise Wiedergewinnung seiner Identität im Prozess des Erzählens schuf die Voraussetzung für die selbstbewusste Nennung seines Namens. Erst am Schluss seiner Erzählung ist er die Person, die sich mit den Worten „Ich bin Odysseus" zu Beginn vorstellte. Was bedeutet hier das Sprechen über sich selbst? In dem Augenblick, indem Odysseus sich selbst nennt und von seinen Erlebnissen spricht, legt sich für ihn die Zeit seines Lebens in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinander. Die erzählte Geschichte schafft eine zweite Wirklichkeit, entstanden aus der Differenz von Erzählzeit und erzählter Zeit, das Geschehene erscheint im Gesprochenen noch einmal, es ist aber jetzt von dem erinnernden Nachvollzug des Sprechenden abhängig und der Erzähler weiß um diese eigene Gestaltungsmöglichkeit seiner eigenen Geschichte. Er ist hat er seine Geschichte auch als Reagierender erlebt jetzt als Erzählender aktiv Gestaltender und für deren Verlauf, ob nun wirklichkeitsgetreu wiedergegeben oder nicht, verantwortlich. Er fasst seine Erlebnisse in Geschichten und legt so seine Vergangenheit für sich und die ihm Zuhörenden fest. Es entsteht in der Erinnerung ein Wissen, das sich von der unmittelbaren Erfahrung abgehoben hat. In Erzählsituationen, wie der von Homer geschilderten, wird überhaupt erst ein von der Situation ablösbares Selbst konstituiert. Es trennt sich in seiner Gegenwärtigkeit von Vergangenheit und Zukunft.19 Die Wahrheit ist in den epischen Gesängen ein Moment des Erzählens selbst. Sie besteht in einer genauen und lückenlosen Widergabe des Geschehenen. Das Wissen der tradierten Geschichten hat seinen letzten Grund im Augenzeugenwissen der Musen, den Töchtern des Zeus und der Mnemosyne, das die Authentizität des Erzählten verbürgen soll. Das Wissen des Erzählers ist das Wissen der Überlieferung, es ist trotz aller Vermitteltheit authentisches Wissen, vermitteltes Augenzeugenwissen darüber, wie es wirklich gewesen ist. Dieses Vertrauen in die Weisheit des allwissenden Erzählers wird in Piatons Forderung nach einer rational begründbaren dianoia des Erzählten zerstört und als Schein
fraglich
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Od. 9.19. Dem Leser narrativer Texte widerfährt etwas scheinbar Paradoxes: er nimmt das dargestellte Geschehen zugleich als offen und gegenwärtig und als abgeschlossen und vergangen auf. Als etwas Vergangenes erscheint das Geschehen, insofern es von Anfang an als abgeschlossenes Ganzes aufgefasst und im Präteritum erzählt wird. Als gegenwärtig und offen nimmt der Leser das Geschehen auf, insofern er die Figuren als in das Geschehen der erzählten Welt verstrickte Personen versteht und ihre Handlungsperspektiven nachvollzieht. Der Leser oder Hörer sieht die Handelnden dann in Entscheidungssituationen gestellt und als potentiell agierende in eine offene Zukunft blickend, die sie ihren Wünschen, Kenntnissen und Hoffnungen gemäß zu beeinflussen suchen, ohne diese jedoch mit Gewissheit vorhersagen zu können. Figuren als Handelnde zu verstehen, setzt voraus, dass wir uns Geschehensverläufe vorstellen können, die alternativ zu dem stehen, was tatsächlich in der erzählten Welt eintritt.
Über den Umgang mit Erzählungen bei Platon und Aristoteles
entlarvt.20 Das
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argumentativ ausweisbare Wissen um die dianoia ist aber eine SpezialiPhilosophen, der nunmehr als entschiedener Konkurrent des Dich-
tät des Wissens des ters
auftritt.2'
Während mündliche tradierte Erzählungen in Abhängigkeit vom Kontext variieren22 und als in Geschichten verwoben erlebt werden,23 wächst unter den Bedingungen einer schriftlichen Überlieferungspraxis das Interesse an einzelnen Aussagesätzen und deren logischen Verknüpfungen, die nicht mehr nur kontext- und situationsspezifisch „wahr" sind, sondern als schriftlich fixierte Aussagen in jeder zukünftigen Rezeptionssituation wahr und verständlich bleiben sollen. Eine kontextunabhängige Wahrheit ist nur mögDer Dichter trägt vor, als wäre er ein anderer, er ahmt in seinem Vortrag denjenigen nach, den er als Sprechenden vorgibt. Diese Erzählung durch Darstellung (sowohl in der Tragödie wie in der Komödie) erzeugt im Unterschied zur epischen Erzählung, dem Bericht des Dichters selbst (Pol. 393c), den Schein, dass der Dichter, auch die Kenntnisse derer besitzt, die er sprechen lässt. Da er nicht in der Lage sein kann, alles zu wissen, ist dieser Anspruch eine Täuschung. Das macht ihn vergleichbar mit den Sophisten, die beanspruchen über eine Kunst zu verfügen, die sie in die Lage versetzt, über alles sprechen zu können. Neben dieser primär epistemologisch motivierten Kritik der nachahmenden Erzählung tritt eine ethische hinzu. Gut und Böse werden in der narrativen Darstellung in Bewegung, als narrativ geordnete Folge von Ereignissen und Handlungen dargestellt und nicht wie Piaton fordert als argumentativ gesichertes System von Gegensätzen abgehandelt. Piatons Vorwurf an die Dichter, sie hätten unwahres Scheinwissen und für die Menschen unwahre Erzählungen zusammengesetzt und vorgetragen (Pol. 377d) fasst eine gesamte Tradition der „Wissensvermittlung" durch die Dichtung in dem scharfen Diktum zusammen: polla pseudontai aoidoi („vieles lügen die Dichter"). Dieser Gegensatz wird jedoch von Piaton auch relativiert. Würden die Dichter wirklich lügen, dann wären sie im Besitz der Wahrheit, denn Lügen ist eine Fähigkeit, die der Erkenntnis der Wahrheit bedarf. In Pol. 598b wird vorgeführt, dass die Dichter und Maler nicht die Wahrheit in die mimesis setzen, sondern in die phantasmata. Es geht also nicht primär um den bewussten Akt absichtlichen Lügens, sondern um den Irrtum, die Selbsttäuschung, einen nicht direkt intendierbaren Zustand des Erkennens und Verhaltens. Das Verhältnis von Erzählung und argumentativem Diskurs ist nicht nur unter den Gegensatz nicht überprüfbar / überprüfbar zu subsumieren. Dieser stützt sich im wesentlichem auf ein äußeres Kriterium. Eine Erzählung berichtet über Geschehnisse so, wie angenommen wird, dass sie sich zugetragen haben, ohne sie zu erklären, daher ist die Verknüpfung ihrer Teile kontingent. Nach Aristoteles folgt diese Verknüpfung allein den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit. Die Glaubwürdigkeit tragischer und überhaupt poetischer Handlungen ist nach Aristoteles auch nicht eine Resultante ihrer verbürgten Geschichtlichkeit, denn das Unmögliche, das glaubwürdig ist, verdient den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist. (Poet. 1451b32) Entlang dieser Kontingenzen entsteht im Erzählen „ein flexibles, komplexes, feinmaschiges Gewebe, das den Menschen bindet, hält und schützt." (Joisten, Karen, Zur „Heimat" verurteilt?, in: der blaue reiter Journal für Philosophie 23, 1 (2007), S. 53.) Die Aufführung der mündlich tradierten Mythen erfolgt in konkreten Situationen, dabei bleibt die erzählte Geschichte anders als die schriftlich fixierte Erzählung in Wortlaut und Inhalt nie völlig identisch. Sie wird stets an die Erfordernisse der Aufführungssituation und an die Zuhörerschaft, deren Vorlieben und Kenntnisstand angepasst. Geschichten lassen sich nicht von außen auf Wahrheit hin beurteilen, das würde bedeuten, die Geschichte vom Verstricktsein in sie zu lösen oder anzunehmen, es gäbe eine Geschichte, in die man sich nachträglich verstrickt. Bei Wilhelm Schapp heißt es: „Das Verstricktsein ist nicht etwas, was -
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lieh, wenn der Sinn einer Erzählung in seiner Bedeutung stabil bleibt, wenn sie von Situation zu Situation auf Gleiches referiert und damit gerade von ihrer Spezifik abstrahiert. Dadurch wird es möglich, den Blick nicht mehr auf die Inhalte (das Gemeinte) zu richten, sondern auf die formale Struktur des Gesagten, auf die Textur. Ganz allgemein ist Poiesis, wie Diotima im Symposion sagt, alles „was nur für irgendetwas Ursache (aitia) wird, aus dem Nichtsein in das Sein zu treten [...] und von der gesamten Poiesis wird nun ein Teil (die Dichtung) ausgesondert, der es mit der Musikä und den Metren zu tun hat, und dieser mit dem Namen des Ganzen benannt. Denn dies allein wird Poiesis genannt und die diesen Teil der Poiesis innehaben, Poietai."24 Dieser Prozess des Ins-Sein-Tretens ist technisch-rational analysierbar, hinsichtlich seines Gegenstandes, seines ergons, seines telos, seines Gelungen- und Misslungenseins (arete). Nach einer bei Diogenes Laertios überlieferten Anekdote soll Sokrates im Anschluss die Vorlesung des platonischen Lysis gesagt haben: „Beim Herakles, was der junge Mensch doch alles über mich zusammenlügt." Diogenes kommentiert dieses vernichtende Urteil mit der Bemerkung „der Verfasser (Piaton) hat mancherlei zu Papier gebracht, was Sokrates nie gesagt hat."25 Sokrates wirft Piaton hier vor, was dieser den Dichtern vorzuwerfen scheint, zu lügen. Wenn es Piaton nur um die Darstellung und Kopie des historischen Sokrates gegangen wäre, ist die sokratische Entrüstung verständlich. Doch Piaton intendiert nicht eine historisch verbürgte Darstellung, er ist kein Historiograph sondern „Philosoph". Und als solcher ist er der Meinung, dass ein philosophischer Dialog keine Erzählung dessen sein kann, was sich ereignet hat, auch keine bloße Mitteilung philosophischer Einsichten. Piaton gibt den Schreibverzicht des Sokrates auf, doch er schreibt in einer Form, die das mündliche Philosophieren des Sokrates als Ausdruck einer bestimmten Lebensform den Lesern zur Nachahmung anrät und die es ihm zugleich ermöglicht, mit seiner eigenen Person hinter das Geschriebene zurückzutreten.26 Insofern fallt seine eigene Form der Darstellung in bestimmter Hinsicht auch unter die Kritik der nachahmenden mimesis. Er schreibt, als ob er Sokrates wäre, um den Eindruck der Authentizität aufrecht zu erhalten. Philosophische Einsichten aber, so die „Pointe" der sokratischen „Lehre", müssen selbst hervorgebracht werden, als Selbsterkenntnis. Deshalb werden in platonischen Dialogen Personen vorgeführt, die sich um an
Geschichte hinzukommt, sondern es macht die Geschichte erst zur Geschichte. Ebenso wenig hat es Sinn zu sagen, all das, worin man verstrickt wäre, sei nicht wahr. Solange und sowie man in die Geschichte verstrickt ist, ist sie wahr." (Schapp, Wilhelm, In Geschichten verstrickt, Frankfurt a. M. 31985, S.150) Symp. 205bc. Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, dt. von Apelt, Otto, hrsg. von Reich, Klaus, Hamburg 1967, III 35. Piatons Dialoge sind keine Kopien oder tote Schattenbilder mündlicher Unterweisungen des Sokrates. Mit der Dialogform intendiert er eine auf Verlebendigung und Vergegenwärtigung abzielende Darstellungsstrategie, die die inkriminierte Unbeweglichkeit des Geschriebenen konterkariert. zur
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Begründungen bemühen, es werden paradigmatisch diejenigen Einstellungen dargestellt, die Theorie ermöglichen bzw. verhindern, um so den Leser zur Nachahmung des in der Gestalt des Sokrates verkörperten Ideals der theoretischen und praktischen Einstellung zu bewegen. Die Dialoge repräsentieren keine Protokolle von wirklichen, sondern sind fingierte Darstellungen von möglichen Gesprächen. Die mimesis der vergangenen Gespräche des Sokrates wäre dann nicht die wesentliche Funktion der platonischen Dialoge.27 Offensichtlich geht es weniger um die in der Schrift niedergelegte mimesis von Gesagtem, sondern um die den schriftlichen Dialogen nachträgliche mimesis des Lesers, seine Anverwandlung an die philosophische Haltung des Sokrates. Insofern stellen die Dialoge Aufforderungen zur „Nachahmung" durch den Leser dar. Die Absicht besteht hier in der Konstitution einer moralischen Haltung des Lesers, die zu ihrer Genesis keiner Nachahmung im Sinne einer Kopie bedarf,28 sonErkenntnisse und deren
Solange die mimesis als eine nachträgliche Kopie interpretiert wird, ist sie an den Diskurs der Wahrheit im Sinne einer (Nicht)-Übereinstimmung gebunden; entweder wird etwas nachgeahmt, was tatsächlich ist, dann ist die mimesis qua mimesis zwar immer noch defizitär aber doch „in gewisser Hinsicht wahr"; oder es wird nachgeahmt, was nicht seiend ist, dann ist sie unwahr (pseudos). Wird dieses Verständnis von mimesis zugrunde gelegt, dann ist die Empörung des Sokrates über die „Lügen" Piatons berechtigt. In Derridas Schrift Dissemination wird bei der Thematisierung des Zusammenhangs von Nachahmung und Gedächtnis unter Bezugnahme auf den Philebos auf einen anderen Aspekt hingewiesen. Derrida betont, dass das Verhältnis von Reproduzierendem zum Reproduzierten stets den Bezug auf vergangene Gegenwart impliziert. Das Nachgeahmte ist vor dem Nachgeahmten. (Derrida, Jacques, Dissemination, Wien 1995, S. 211) Das Verhältnis kann sich aber auch umkehren. „Sokrates fragt sich im Philebos, ob es nicht ausgeschlossen sei, dass die grammata und die zographemata Bezug zur Zukunft hätten: Schwierig zu denken sei es, dass ein Nachgeahmtes zukünftig sei im Hinblick aufsein Nachahmendes, dass das Bild dem Vorbild vorausgehe [...]". (ebd., S. 204) Denn „wenn das Nachahmende in letzter Instanz kein Nachgeahmtes, der Signifikant in letzter Instanz kein Signifikat, das Zeichen in letzter Instanz keinen Referenten hat, so kann ihre Operation nicht mehr im Vorgang der Wahrheit einbefasst werden, sondern befasst im Gegenteil diesen ein, wobei das Motiv der letzten Instanz untrennbar ist von der Suche nach der arche, dem eschaton und dem telos". (ebd., S. 211) Wären die Dialoge Piatons bloße Nachahmungen, d. h. Aufzeichnungen von Gesprächen des Sokrates, wie sie tatsächlich stattgefunden haben, dann wären sie gemäß der Unterscheidung im Sophistes unter die Kategorie der eikastike zu subsumieren. Trifft dies nicht zu, würden sie zur Klasse der phantastike gehören. Piaton will aber eine Form des philosophischen Gesprächs vorstellen, das es nachzuahmen gelte, indem es als paradeigma verwendet wird. Der Phaidros thematisiert dieses Problem mit Bezug auf die Schrift. Als ein Dialog über die grammata ist er zugleich ein Programm über das graphein wie auch eine Gebrauchsanweisung für das richtige Lesen der Dialoge. Hier wird der Ausdruck mimesis in zweifacher Bedeutung vorgeführt, einmal als mimesis des Vergangenen der geschriebenen Wiederholung des Vergangenen, dessen was gesagt wurde und zugleich als eine Anweisung dazu, wie zu lesen ist. Im Protagoras wird dies im Anschluss an die Interpretation des Simonidesgedichts deutlich: „Man bedarf keiner fremden Stimme und keiner Dichter, die man nicht befragen kann, über das, was sie sagen, so dass auch die welche ihrer in Reden erwähnen, teils sagen, dieses habe der Dichter gesagt, eine Sache wird besprochen, welche sie nicht auszumitteln vermögen, sie unterhalten sich lieber selbst, indem sie sich in ihren eigene Reden einander versuchen und versuchen lassen." „Sol-
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dem im Wesentlichen ein autonomes Projekt darstellt.29 Ausdrückliche Reflexionen, etwa im Sinne einer Poetologie, auf die Vor- und Nachteile der dialogischen Schreibweise, sind in Piatons Dialogen nicht allzu häufig anzutreffen. Eine solche Explikation würde dem deiktischen und paradigmatischen Charakter des geschriebenen Dialogs, dem eher eine exemplarische Inszenierung der Wirkung der Dialogform auf Leser (Hörer) entspricht, widersprechen. Eine ausführliche Darstellung der Abfolge von Vermittlungsstufen, die das sokratische Zeugnis zu durchlaufen hat, bevor es die Gestalt der Dialogschrift annimmt, gibt Piaton zu Beginn des Theaitetos?0 Dabei entlarvt er den Eindruck der Unmittelbarkeit, der vom fertigen Text aufgrund seiner dramatischen Form hervorgebracht wird, als einen künstlich erzeugten Schein. Betrachten wir diesen Bericht über die Prinzipien der Komposition etwas genauer. Im Einführungsgespräch des Dialogs begegnen sich Eukleides und Terpsion, zwei aus Megara stammende Schüler des Sokrates. Eukleides berichtet Terpsion von seiner vor kurzem stattgefundenen Begegnung mit dem schwer verwundeten Theaitetos, der nach Teilnahme an einer siegreich bestandenen Schlacht gegen die Thebaner, aus Korinth kommend und auf dem Weg nach Athen, in Megara Zwischenrast machte. Diese Begegnung mit Theaitetos hat in Eukleides Erinnerungen an den schon vor längerer Zeit hingerichteten Sokrates wachgerufen, der mit Theaitetos kurz vor seinem Tod ein längeres Gespräch geführt hatte. Über dieses hatte ihm Sokrates damals schon berichtet. Auf die Frage, ob Eukleides erzählen könne, was für Unterredungen dies zwischen Sokrates und Theaitetos gewesen seien, antwortet dieser: „Beim Zeus, gewiss nicht so mündlich. Aber ich habe gleich damals, als ich nach Hause kam, Aufzeichnungen (hypomnëmata) darüber angefertigt, hernach habe ich bei mehrerer Muße nachgesonnen und sie aufgeschrieben (egraphon), und sooft ich nach Athen kam, erfragte ich von Sokrates, wessen ich mich nicht recht erinnerte, und brachte es in Ordnung, [...] so fast die ganze Unterredung nachgeschrieben ist." (Tht. 142d-143a). Was wird hier von Piaton, dem im Dialog nicht erwähnten Autor, dem Leser mitgeteilt? Eukleides schreibt ein Gespräch zwischen Sokrates und Theaitetos auf, an dem er ehe Männer" so Sokrates weiter „sollten ich und du lieber nachahmen und, die Dichter beiseite setzend, aus uns selbst miteinander redend". (Prot. 37c ff.) Nicht mit „fremden" Stimmen soll der Dialog geführt werden, sondern das Paradigma des philosophischen Gesprächs soll nachgeahmt
werden. dazu Nietzsches Aphorismus aus der Fröhlichen Wissenschaft: „Nachahmer. A.: ,Wie? Du willst keinen Nachahmer? B.: ,Ich will nicht, dass man mir etwas nachmache, ich will, dass Jeder sich etwas vormache: das Selbe, was ich thue." Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino, München 62003, KSA 3, S. 516. Eukleides, ein Hörer des Dialogs, ist zugleich der Dialogschreiber, den Piaton über die Kunst der Textherstellung bereitwillig Auskunft geben lässt. Die Aufgabe der Dialogschrift besteht somit weder darin, den Leser hypomnematisch auf das mündliche Lehrgespräch hinzuweisen, noch darin, ihn zur Dechiffrierung eines verborgenen Sinns zu animieren. Eine ausführlichere Problematisierung dieses Zusammenhangs kann hier nicht vorgenommen werden. Dann müssten alle Dialoganfange, Rahmenhandlungen und Erzählebenen platonischer Dialoge analysiert werden.
Vgl.
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selbst nicht teilgenommen hat. Er datiert dieses Gespräch kurz vor der Hinrichtung des Sokrates. Die mangelhafte Gedächtniskraft des Eukleides wird als Motiv des Aufschreibensangedeutet.31 Das im Gedächtnis des Eukleides Festgehaltene dient als Vorlage seiner eigenen Schrift. Wenn er sich nicht mehr richtig erinnern kann, nimmt er das Gedächtnis des Sokrates in Anspruch. Um die graphischen hypomnëmata zu produzieren, bedarf es also der Hilfe des eigenen wie des Gedächtnisses des Sokrates. Ausdrücklich erwähnt Eukleides im weiteren Verlauf des Gesprächs, dass die dialogische Form des Textes das Resultat einer kompositorischen, d. h. poietischen Tätigkeit sei. Er erklärt: „Dies hier ist die Schrift (Buch), und so habe ich sie aufgeschrieben; nicht in Erzählform (diëgësis), wie sie Sokrates mir erzählte, sondern als Diskussion (dialegomenon) mit den Partnern, mit denen er nach seiner Rückkehr diskutiert hat. Diese waren nach seinem Bericht der Geometriker Theodoros und Theaitetos. Ich wollte in der Schrift lästige Einschübe zwischen den einzelnen Diskussionsbeiträgen vermeiden, in denen Sokrates von sich selbst berichtet, wie ,da sagte ich'[...] oder von den Antwortenden, dass er zustimmte oder nicht ,derselben Meinung' war. Deshalb habe ich Sokrates unmittelbar mit seinen Partnern in meiner Schrift diskutieren lassen und derartige Einschübe
weggelassen." (Tht. 143b5-c5)32 Eukleides schrieb das Gespräch also auf, doch nicht in der narrativen Form, die Sokrates' mündliche Wiedergabe der Unterredung mit Theaitetos ausgezeichnet hat, aber um den Eindruck der Authentizität zu erzeugen (als ob von Sokrates stammend) doch als ob unmittelbar mit er hätte. so, jenem geredet Terpsion äußert nun den Wunsch, die von Eukleides verfasste Schrift (biblion) zu lesen. Da beide über genug Muße verfügen, lassen sie sich das Buch von einem Sklavenjungen vorlesen. Damit ist die Überleitung zum Hauptteil des Dialogs vollzogen, zu ei-
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Vgl. dazu die Schriftkritik im Phaidros, die in der medialen Schriftlichkeit eine externe, mit fremden Zeichen operierende Erinnerungshilfe (hypomnësis) sieht, die aber durch ihre entlastende Wirkung zugleich selbst zur Verschlechterung der „inneren Gedächtniskraft" des Menschen beiträgt. (Phs. 275a)
Die Auskünfte des Eukleides über die Prinzipien seiner Komposition offenbaren eine Strategie des „Verbergens". So wird Sokrates als ein Erzähler verborgen, denn seine diëgësis verwandelt sich in einen diálogos, der Bequemlichkeit halber, wie es heißt. Zugleich verbirgt sich nach dem Prooimnion Eukleides als Schreiber. Und es verbirgt sich der den Dialog vorlesende Knabe, der ebenfalls nicht mehr als Erzähler vorkommen wird. Weiterhin bedarf es kleiner Eingriffe und Korrekturen, damit die Lektüre nicht so beschwerlich wird. Die Kleinigkeiten, die Eukleides weglässt, sind solche, die das aufgezeichnete Gespräch in die Vergangenheit verlegt hätten. Dass die Korrekturen Hinweise auf die Vergangenheit betreffen ist deshalb bemerkenswert, da in der Zwischenzeit Sokrates hingerichtet wurde und sein Gedächtnis somit nicht mehr als Korrektiv des schriftlich wiedergegeben Gesprächsverlaufs dienen kann. Nach dem absehbaren Tod des Theaitetos wird die Schrift des Eukleides die einzige Quelle sein, die über das Gespräch Auskunft gibt. Der tote Sokrates wird durch dialogische Inszenierung Piatons wieder vergegenwärtigt. Ob es sich bei der Wiedergabe seiner Worte um eine authentische Aufzeichnung handelt oder um Worte, die so nie gesprochen wurden, ist eine Frage, die niemals mehr zu beantworten sein wird, da das lebendige Gedächtnis beider Protagonisten des Gesprächs nicht mehr in Anspruch genommen werden kann. -
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Dialog, in dessen Mittelpunkt die Frage steht, was denn das Wesen (eidos) des Wissens sei. Der Leser wird somit zu Beginn der Lektüre dazu aufgefordert, sich in die Situation der Zuhörer Eukleides und Terpsion zu versetzen und so zu lesen, als kämen ihm die Stimmen der Protagonisten Sokrates und Theaitetos unmittelbar zu Ohren. Eine wesentliche Funktion des Prologs besteht darin, beim Leser den Eindruck der Authentizität des Gesprächs zwischen Sokrates und Theaitetos hervorzurufen. Ihm wird geschickt suggeriert, einen Dialog zu lesen, dessen Ursprung bis auf ein von Sokrates geführtes Gespräch zurückzuführen ist. Dieser Eindruck täuscht jedoch. In Wirklichkeit wird von Piaton gerade nicht die Nähe sondern die Distanz hervorgehoben, die den Akt der endgültigen Niederschrift vom dargestellten Vorgang, dem ursprünglichen Ereignis des Gesprächs, trennt. Eukleides berichtet über einen Vorgang, an dem er selbst nicht teilgenommen hat, die diëgësis, wird in hypomnëmatischer Gestalt festgehalten. Erst später erfolgt die Niederschrift. Die dramatisierende mimesis ist kein unmittelbares Abbild der Wirklichkeit, sondern eine fiktive Rekonstruktion derselben, sie ist auch nicht das tote Abbild eines Lebendigen, sondern sie repräsentiert die künstliche Verlebendigung eines Toten. Sie täuscht Leben und Gegenwart vor. Reflektiert man auf die von Piaton dem Eukleides in den Mund gelegte Geschichte der Entstehung des Dialogs Theaitetos, so umfasst diese Genesis in ihrer ersten Phase die Weitergabe von im Gedächtnis gespeichertem Wissen eine orale traditio -, die von Gedächtnis zu Gedächtnis erfolgt.33 Das mündlich tradierte Überlieferungsgeschehen findet ein definites Ende, sobald die hypomnëmata einer literarischen Bearbeitung unterzogen werden. Nachdem der Dialog niedergeschrieben ist, vermag Eukleides es nicht mehr „mündlich" über das Gespräch Auskunft zu geben. (Tht.l42d) Er verweist auf die Schrift, anstatt zu erzählen, er kann nicht mehr wie im Phaidros gefordert „innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern", d. h. er vertraut den äußeren Zeichen der Schrift (Phs. 275a), denen er jedoch zugleich den Anschein der Unmittelbarkeit und der Lebendigkeit gibt. Der schriftlich verfasste Dialog ist also keine bloße Gedächtnisstütze; er erinnert nicht an Kenntnisse, die ihren eigentlichen Sitz im Gedächtnis des Wissenden haben. Die Schrift ersetzt das Gedächtnis. Der dramatisch gestaltete Text scheint mit einer
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Unter dem Aspekt der Thematisierung des Zusammenhangs von Schrift und Gedächtnis wird in der Einleitung des Theaitetos deutlich: Sokrates, der sich am ursprünglichen Gespräch beteiligte, verfügt über die Kenntnis darüber in seinem Gedächtnis als Erfahrungswissen. Aber er verschriftlicht dieses Erfahrungswissen nicht. Eukleides, der als Unbeteiligter das Gespräch aufschreibt, tut dies mit Hilfe des Sokrates, auf dessen Gedächtnis er sich als Wahrheitszeugnis verlässt, aus einer gewissen Gedächtnisschwäche heraus. Er selbst benötigt die Schrift als Gedächtnisstütze. Aus dem Buch, dem aufgeschriebenen Gedächtnis, erfahrt Terpsion von dem Gespräch. Damit verschiebt sich die Grundlage der Erzählung, denn wo Sokrates mit dem guten Gedächtnis dem Eukleides die Unterredungen erzählen konnte, da „erzählt" diese Unterredung dem Terpsion ein Buch, das von einem Knaben, der wiederum keinerlei Erinnerung an die Gespräche besitzt, um die es im Buch geht, vorgelesen wird.
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eigenen Stimme zu sprechen. Eukleides kann in die Rolle des Zuhörers schlüpfen, weil er vorher den Bericht über das Gespräch dramatisiert hatte. Er vergisst dabei, dass er selbst der Urheber der Rede ist, die er als Hörer vernimmt. Für Piaton ist ein derartiger (Selbst)-Täuschungsmechanismus charakteristisch für die mimetische Darstellungsweise überhaupt. Immer wenn sich der Dichter der Technik dramatisierender Mimesis bedient, redet er so „als ob ein anderer der Redende wäre als er selbst". (Pol. 393a) Dort wo z. B. Homer seine Helden in wörtlicher Rede sprechen lässt, gibt der Dichter sich alle erdenkliche Mühe „uns dahin zu bewegen, dass uns nicht Horneros scheine der Redende zu sein". (Pol. 393b) Die mimetische Darstellungsform ermöglicht es dem Dichter, „sich selbst zu verbergen und somit auch seine Kunst zu verstecken. (Pol. 393c) Die mimesis ist wie die diëgësis eine narrative Form der Vermittlung, aber eine solche, die ihren diegetischen Charakter, ihre narrative Mittelbarkeit verschleiert. Selbst Eukleides verbirgt seine Präsenz als Autor mit solchem Erfolg, dass er sie selbst nicht mehr wahrnimmt. Er versteht sich als ein neutrales Glied einer Überlieferungskette, das den sokratischen Logos unverfälscht aufbewahrt.34 Er meint vielmehr als Hörer der Stimme des Sokrates zu lauschen, aber in Wirklichkeit handelt es sich um seine eigene Stimme, die die Stimmen des Sokrates simuliert. Vorgeführt wird dadurch einerseits die Täuschungsmacht der mimetischen Darstellungsform, andererseits wird der Selbstbetrug deutlich, dem jeder Dialogleser ausgesetzt ist, sobald er sich auf die Inszenierung der Gesprächssituation durch Piaton einlässt und die Position fiktiver Zuhörerschaft einnimmt. Der Leser glaubt den Text sprechen zu hören, in Wirklichkeit ist er es, der ihm sein Leben und Stimme leiht. Auf dieser mimetischen Aktivität des Lesers beruhen die besondere Wirkung der dialogischen Schreibweise und die Ambivalenz ihrer Wirkung. In der Politeia insistiert Piaton darauf, den Gebrauch mimetischer Darstellungsformen Kriterien zu unterwerfen und zu regulieren.35 Wer sich mimetisch betätigt, setzt sich der Gefahr aus, „von der Nachahmung das Sein davonzutragen" (Pol. 395c-d), die Das inszenierte Verfahren auktorialer Selbstverleugnung, das Piaton am
Beispiel des Eukleides de-
monstriert, wird von ihm selbst praktiziert. Der Dialogleser, der den wirklichen Sokrates beim Reden gleichsam zuzuhören und beim Handeln zuzusehen meint, ist in der gleichen Weise „vergesslich" wie der
Dialogschreiber
Eukleides. In Wirklichkeit vergessen beide ihre Rolle als Ko-
Autoren, d. h. als Mit-Verursacher einer Illusion und Geschichte, die sie selbst mit hervorbringen. Hierin gleichen beide dem mimetischen Künstler, der in seiner Rede den Eindruck zu erzeugen weiß, als spräche ein anderer.
Gleichsam als die Normalform der Erzählung gilt die epische Dichtung. Demgegenüber bringt die Sprache der Tragödie Gefährliches hervor, weil der tragische Dichter „das dem Dichter Angehörige zwischen den Reden hinauswerfend nur die Wechselreden übrig lässt." (Pol. 394b) Während die mythologischen Erzählungen mit einer gewissen Nachsicht behandelt werden, muss die mimesis der Tragödie verbannt werden, weil sie Fehler enthält, die kein Zensor beseitigen könnte, da sie in der tragischen Form selbst verankert sind. Dies wird noch übertroffen von der mimesis des Schauspielers. Der ästhetischen Sphäre werden von Piaton zwei Vorwürfe gemacht; sie genügt weder den begrifflichen Anforderungen von Konsistenz und Identität mit sich selbst, noch den moralischen Anforderungen der Eindeutigkeit und Ordnung (Wahrhaftigkeit).
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Nachahmung kann leicht, wie schon mehrfach betont, in „Gewöhnung und in Natur übergehen" (ebenda). Der Nachahmer gleicht sich mit der Zeit dem an, was er imitiert. Deshalb muss der „verständige" Mann genau darauf achten, welche Gegenstände und allem Personen er in mimetischer Form darstellt. Nur dann „wenn er in der Erzählung auf eine Rede oder Handlung eines wackeren Mannes kommt", wird er sie „als selbst jener seiend vortragen wollen und sich einer solchen Nachahmung nicht schämen". (Pol. 396c) Der mimetische Vortrag der Rede eines anderen markiert deshalb eine besonders intensive Form ihrer Aneignung.36 Anders als der Zuhörer, der bei einem wirklichen Gespräch anwesend ist, ist der Dialogleser genötigt, sich den fiktiven Gesprächsteilnehmern anzugleichen, um sich der Täuschung überlassen zu können, ihre Worte zu vernehmen. Der geschriebene Dialog bringt die logoi nicht direkt und unmittelbar im Dialogleser als Teil und Moment einer selbst gemachten Erfahrung hervor, sondern er bringt sie ihm nahe, so dass er sie sich aneignen und sich mit ihnen identifizieren kann. Dieser Prozess der Identifizierung erfolgt allerdings über den Umweg der Verschriftlichung, der Vergegenständlichung und Objektivierung des von Sokrates Gesagten. Piaton plädiert deshalb für einen qualifizierten Gebrauch der mimetischen Darstellung. Sie ist nur demjenigen gestattet, der über die Unterscheidung zwischen nachahmenswerten und nicht nachahmenswerten Charakteren verfügt, also in der Lage ist ein angemessenes moralisches Urteil zu fallen. In diesem Kontext bekommt die mimetische Darstellung eine positive Bedeutung für die sittliche paideia, was sie für eine narrative Ethik interessant macht. Im Kontrast zur entschiedenen Schriftkritik des Phaidros, scheint dem geschriebenen Dialog somit etwas zu gelingen, was eigentlich der mündlichen Unterweisung vorbehalten sein sollte, die Vermittlung von Wissen mit der moralischen Formung des Subjekts zu verbinden. Damit zeichnet sich die Möglichkeit ab, den Primat der Mündlichkeit auf dem Gebiet sittlicher paideia in Frage zu stellen und durch den philosophischen Dialog zu ersetzen, indem die Unmittelbarkeit des im Gedächtnis gespeicherten logos transformiert wird in die bewusst hergestellte Unmittelbarkeit der Dialogschrift. vor
Im Buch III der Politeia wird mit der Gegenüberstellung von mimesis und diëgësis auf den Handlungsaspekt der Nachahmung verwiesen. Der Dichter, der die Rede eines anderen nicht diegetisch referiert, sondern in mimetischer Form wiedergibt, produziert kein bloßes Abbild fremder Rede. Er schlüpft in die Rolle dessen, den er nachahmt, er identifiziert sich mit ihm und verhält sich so, „als wäre er ein anderer" (Pol. 393c). Der mimetisch dramatisierende Dichter verfahrt wie ein Schauspieler: Er will sich selbst „einem anderem nachbilden in Stimme und Gebärde" (Pol. 393c) und versucht, sich so weit wie möglich ihm anzugleichen. Zu diesem Zweck zitiert er nicht lediglich die Worte, die der andere artikuliert, sondern er imitiert sein Sprachgebaren, er erzeugt nicht nur ein der dargestellten Wirklichkeit ähnliches eidölon. Er macht sich selbst dem Dargestellten ähnlich. Ob man den Handlungen eines Menschen nacheifert oder seine Reden in mimetisch-dramatischer Form reproduziert, markiert noch keinen qualifizierten Unterschied. In beiden Fällen liegt eine Nachahmung durch Handlung vor.
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Wenn es dem Schreiber grundsätzlich nur darum ginge zu visualisieren, was er gehört hat, das Gespräch also nur zu verschriftlichen, was kann er dann anderes tun, als sich „zu verstecken" und zurückzutreten hinter das, dem er sich angleicht? Würde er dies nicht tun, hätte er die diëgësis ohne mimesis vollzogen. Was aber, so zeigt uns der Anfang des Theaitetos, wenn sich für mimesis ausgibt, was eigentlich poiesis ist, wenn also die Stimmen der Abwesenden nicht nur verklungen, sondern niemals erklungen sind, die in die Seele eingeschriebene Schrift kein Erinnerungsbild sondern ein phantasma wäre, das den Namen des Sokrates trägt, der allein aus der Schrift und ihrer Lektüre wiederersteht, als wäre der philebeische Maler am Werk?37 Die Vielfalt der von der Figur des Sokrates ausgehenden philosophischen Richtungen wäre ein Indiz dafür. Diogenes, der die Anekdote des von Sokrates der Lüge bezichtigten Piaton erzählt, tut dies in der Absicht, Piaton als philosophischen Denker, d. h. als Verfasser philosophischer Lehrschriften zu inthronisieren. Er steht damit in der Tradition eines alten Streits darüber, ob die platonischen Dialoge nun literarischer oder philosophischer Natur sind. Piaton, so seine Meinung, wäre mit einer Zuordnung zu den Schriftsteilem
„Sokrates: Unsere Seele scheint mir einem Buch zu gleichen. Protarchos: Wie das? Sokr.: Das mit den Wahrnehmungen zusammentreffende Gedächtnis, und was sonst zu diesen Zuständen gehört, scheinen mir dann in unsere Seelen gleichsam Reden einzuschreiben; und wenn sie richtig geschrieben haben, dann ist dieses Ereignis eine richtige Vorstellung und es gehen daraus richtige Reden in uns hervor, wenn aber diese Schreiber bei uns Falsches schreiben, so entsteht das Gegenteil von dem Richtigen. Prot. : Allerdings. Sokr.: So nimm denn auch an, dass noch ein anderer Meister sich zu derselben Zeit in unseren Seelen befindet. Prot.: Was für einer? Sokr.: Ein Maler der nächst dem Schreiber des Gesprochenen Bilder davon in der Seele zeichnet. Prot.: Wie tut das der nun wieder und wann? Sokr.: Wenn einer vor dem Gesicht oder welcher Sinn es sonst sei, das damals Vorgestellte und Ausgesprochene losmachend die Bilder des Vorgestellten und Gesprochenen irgendwie in sich selbst sieht. Oder geschieht das etwa nicht bei uns? Prot.: Doch. Sokr.: Sind nun nicht der richtigen Vorstellungen und Reden Bilder auch richtige, die der falschen aber falsche? Prot.: Welches doch? Sokr.: Ob uns mit dem Gegenwärtigen und Vergangenen dieses zwar notwendig so begegnet, mit dem Künftigen aber nicht." (Phil. 38e ff.) Dieser Maler produziert im Hinblick auf Schriften (grammata), d. h. auf Engramme in der Seele, die sich als Buch beschrieben findet, ohne eigene Anschauungen, Bilder, nur aus der Lektüre dieser Engramme. Ihre Herkunft verdanken sich die grammata zwar der Anschauung, der Maler produziert aber seine Bilder ausschließlich im Blick auf die sich in der Seele befindenden Schriften, gleichsam wie in einer fensterlosen Bibliothek. Es ist nicht die Seele selbst, die diese Bilder verfertigt, sondern ein zweiter Künstler (dëmiourgos). Die Vorlage für seine Bilder ist die Schrift. Diese Bilder sind phantasmata, die sich auf Künftiges beziehen. Sie sind dann keine Ab-bilder mehr von etwas, sondern Vor-Bilder für etwas oder jemanden.
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nicht einverstanden gewesen. In De vita philosophorum wird unterschieden in dramatische (dramatikoi), erzählende (diëgëmatikoi) und gemischte (meiktoi) Schriften. Nur Werke, die tragikoi sind, dürfen anhand stilistischer also literarischer Kriterien gedeutet werden. Diogenes favorisiert ein disziplinenbezogenes Schema, nachdem sich eine Einteilung in naturphilosophische (physikoi), logische (¡ogikoi), ethische (ethikoi) und politische (politikoi) Schriften ergibt. Diese Einteilung wird ergänzt durch die Differenzierung hinsichtlich des Argumentationsstils (maieutikoi, peirastikoi, endeiktikoi und
anatreptïkoï)?% Dem Urteil des Diogenes in Bezug auf Piatons Dialoge hätte schon dessen Schüler Aristoteles heftig widersprochen. Aristoteles stellte, folgt man der Poetik und der Rhetorik, den literarischen, d. h. poietischen Charakter der sokratischen Dialoge klar heraus. (Poet. 1447 bl2, Rhet. III, 16,8). Dies ist eine logische Konsequenz seiner inhaltlichen Bestimmung der poiesis. Denn es ist nicht das Versmaß (metron), das von den „Vielen" mit der poiesis irrtümlich verbunden wird, das zur Charakterisierung dichterischer Werke herangezogen werden darf, sondern: poiesis ist mimesis von praxis. Das metron wird reduziert auf ein bloßes Mittel der Darstellung und ist nicht das Definitionsmerkmal. Dichterische Werke sind mimeseis, d. h. Darstellungen menschlicher Handlungen. Da Piatons Dialoge mimetischen Charakter besitzen, fallen sie unter die Kategorie der poiesis. Mit Blick auf die Art und Weise der mimesis (Poet. 1448 al9-b3) unterscheidet Aristoteles zwischen der dramatischen Darstellung {drama), die handelnde Personen in ihren Aktionen präsentiert, und narrativen Formen der Darstellung, wie Bericht (apangellein) oder Erzählung (diëgësis). Eine aus dramatischen und narrativen Elementen gemischte Form findet keine Erwähnung. Dies ist kein Zufall, denn der Stagirit muss die Existenz mimetischer Werke, die aus narrativen und dramatischen Partien zusammengesetzt sind, verschweigen, um seine eigene gattungspoetologische Systematik nicht zu gefährden, in der die Epik gerade als erzählende und darstellende Dichtung (diëgmatikë mimesis) (Poet. 1459b36 f., 1459a 17, 1459b26 f.) definiert wird und zwar in Differenz zur Tragödie und Komödie, der dramatisch-darstellenden Dichtung (dramatikë mimesis). (Poet. 1448b34-38) Ungeachtet der Differenz in Bezug auf die Nichterwähnung der „gemischten Form" gelangt auch Aristoteles, ähnlich wie sein Lehrer Piaton, zu einer Dreiteilung literarischer Stilformen, indem er zusätzlich differenziert zwischen zwei Möglichkeiten der Narration. Der Dichter kann entweder wie in manchen Partien des Epos „als ein anderer" sprechen oder aber ohne Veränderung „als derselbe". Im ersten Fall gestaltet der Dichter eine Sprecherrolle, d. h. er konstituiert eine bestimmte literarische Figur, die etwas zu erzählen oder zu berichten hat. Im zweiten Fall gestaltet der Dichter eine nicht unbedingt mit dem Autor zu identifizierende auktoriale Erzählerperspektive. -
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Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, III 35.
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Die aristotelische Poetik gründet auf zwei Voraussetzungen: Die Werke der Dichtung sind mimesis39 und sie gehören zum Bereich der poiesis. Die Zuordnung zur Poetik bestimmt die Dichtung als Werk (ergon) eines zielgerichteten Tuns, das im Unterschied zu den Zielen der Praxis außerhalb dieses Tuns liegt. Sie ist an den von ihnen hergestellten Produkten orientiert, die nach vollzogenem Prozess des Hersteilens von diesem abgetrennt existieren. Entsprechend ausgerichtet ist auch die zugehörige Form der technë; sie vereinigt das Wissen um das jeweilige Ziel, den Gebrauch des Hervorgebrachten, mit dem um die Form (eidos), die verbunden mit Materie (hylë) den Gegenstand konstituiert, und schließlich dem Wissen um die zur Hervorbringung des Gegenstandes notwendigen Werkzeugen. Die Poetik wird deshalb bestimmt als eine technë, die dieses Wissen um Ziel und Wesen der poiesis formuliert, sie handelt „von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muss, wenn die Dichtung gut sein soll." (Poet. 1447a8-l 1) Der Vergleich mit der Struktur der technë verstellt jedoch einen wesentlichen Differenzpunkt, denn das Produkt der poiesis bleibt an das Handeln gebunden, an die Aufführung oder Rezitation oder an die Lektüre, das Produkt der Dichtung hat Realität nur in actu, es ist angewiesen auf Darstellung. Dargestellt werden handelnde Menschen (prattontes). Die Handelnden, denen das mimetische Tun gilt, sind „notwendigerweise entweder gut oder schlecht. Denn die Charaktere fallen fast stets unter diese beiden Kategorien. Deshalb werden Handelnde dargestellt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder auch ebenso wie wir." (Poet. 1448al-5) Mimesis ist also nicht im Sinne einer bloßen Nachahmung zu verstehen. Aristoteles reflektiert vielmehr auf die Tätigkeit des Nachahmens, die in einer Darstellung besteht, und zwar sowohl auf der Ebene der Aufführung oder Rezitation, bei der die Schauspieler (mimoumenoi) oder Redner „darstellen" und zwar handelnde Menschen, als auch auf der Ebene der Dichtung, die ebenfalls handelnde Menschen zum Gegenstand der Nachahmung hat. Insofern ist hier von einer doppelten Mimesis die Rede. In beiden Fällen wird der aktivische Sinn der mimetischen Tätigkeit betont.40 Das Darstellen ist das Ziel der dichterischen poiesis, es ist selbst das Produkt, d. h. die Tätigkeit des poietes besteht im Hervorbringen eines Darstellungsvorgangs, eine Tätigkeit, die nun nicht mehr hervorbringt, sondern wiedergibt. Wenn Aristoteles also von den poietischen Gattungen als mimesis von praxis spricht, zielt er weder auf die technë als einem Akt des „Hervorbringens", d. h. den „schöpferischen Vorgang", noch auf das Produkt als ein Werk, sondern auf das Produkt als Vorgang des Darstellens. Dadurch ist die Darstellung nicht wie die Nachahmung auf Vorbilder in der Wirklichkeit angewiesen und hat der Dichter auch nicht die -
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empfiehlt sich die Wiedergabe von mimesthai und mimesis mit dem Begriff des ,Darstellens'. Auf eine ausführliche Begründung muss ich hier verzichten. Nachahmung und Darstellung sind, wie Ricœur betont, „im dynamischen Sinn des Zur-Darstellung-Bringens, der Umsetzung in darstellende Werke" zu verstehen. (Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 57) Es
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Aufgabe, das wirkliche Geschehen mitzuteilen, sondern das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche, das, was „geschehen könnte". (Poet. 1451a36) Insofern drückt sich in der poiesis eine performative Erfahrung aus, eine Erfahrung des „Gemachtseins" und des „Machens", die unmittelbar ethische Konsequenzen impliziert. Auf diese hat Hegel in seiner Einschätzung der antiken Tragödie explizit Bezug genommen; Tragödien sind Dokumente wie Medien „des sittlichen Verstehens und Begreifens", die „ewigen Muster des sittlichen Begriffs"41.
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 17, hrsg. von Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Frankfurt a. M. 1969, S. 132.
Sven Kramer
Narrativität und Ethik: Walter Benjamin
Seiner Denk- und Arbeitsweise entsprechend, hat Walter Benjamin keine abgeschlosseTheorien aufgestellt, die dann in Form von Abhandlungen präsentiert worden wären. Von ihm liegt deshalb weder eine Moralphilosophie noch eine ausgearbeitete Theorie des Erzählens vor. Vielmehr entstanden die meisten seiner Schriften „bei Gelegenheit von"1 um auf eine Kategorie zurückzugreifen, die der frühe Georg Lukács einmal zur Charakterisierung des Essays herangezogen hat. Benjamin bevorzugte die kleinen Formen: den Aphorismus, das Denkbild, das Porträt, die Rezension, das Traktat, den Essay. Sie sind seinem Denken kongenial, das immer die eigene situative Eingebundenheit mitreflektierte. Obwohl also eine Theorie des Erzählens bei Benjamin fehlt, liegen von ihm in unterschiedlichen Schriften wichtige Überlegungen zum Erzählen vor. Auf zwei Bereiche trifft dies ganz besonders zu: auf die Literatur und auf die Geschichte. Erst in der Auseinandersetzung mit den einzelnen Einlassungen zeichnen sich die Konturen eines Zusammenhangs von Narrativität und Ethik ab, der mehrere Gravitationszentren umfasst, welche wiederum relativ unabhängig voneinander bleiben. Die folgende Darstellung wird zunächst den Fragen nachgehen, die das Erzählen in Bezug auf die Literatur aufwirft, um sich später jenen zuzuwenden, die mit der Geschichtsschreibung zunen
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sammenhängen.2 In seinem Essay Der Erzähler3 der mündlichen
Überlieferung
zu:
dem Jahre 1936 ordnet Benjamin das Erzählen „Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die
aus
Lukács, Georg, Die Seele und die Formen, Neuwied / Berlin 1971, S. 27.
Benjamins Verständnis vom Erzählen ist schon mehrmals Gegenstand wissenschaftlicher Darstellungen gewesen, vgl. u. a.: Wohlfarth, Irving, Krise der Erzählung, Krise der Erzähltheorie, in: Erzählung und Erzählforschung im 20. Jahrhundert, hrsg. von Kloepfer, Rolf u. a., Stuttgart u. a. 1981, S. 269-288; Honold, Alexander, Erzählen, in: Benjamins Begriffe, Bd. 1, hrsg. von Opitz, Michael / Wizisla, Erdmut, Frankfurt a. M. 2000, S. 363-398; Gagnebin, Jeanne Marie, Geschichte und Erzählung bei Walter Benjamin, Würzburg 2001. Vgl. Benjamin, Walter, Der Erzähler, II, S. 438^65. Nachweise aus Benjamins Schriften werden direkt im Text ausgewiesen, und zwar aus der folgenden Ausgabe: Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften, Bd. I—VII, hrsg. von Tiedemann, Rolf/ Schweppenhäuser, Hermann, Frankfurt a. -
M. 1972-1989. Zitiert mit der römischen Band- und der arabischen Seitenzahl.
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Sven Kramer
Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben" (II, 440). In der Grundsituation des Erzählens versammeln sich ein Erzähler und sein Publikum, damit jener den Horchenden eine Geschichte mündlich mitteilen kann, die er nicht schriftlich fixiert, sondern in seinem Gedächtais bewahrt hat. Im Vortrag wird das Erzählte minimal variiert; es gibt kein Original, sondern lediglich Aktualisierungen eines Stoffes. Während das Erzählen also seinem Charakter und seiner Herkunft nach zunächst in die Sphäre der Oralität gehört, ist es doch in die Literalität eingewandert: „Wer einer Geschichte zuhört, der ist in der Gesellschaft des Erzählers; selbst wer liest, hat an dieser Gesellschaft teil" (II, 456). Alexander Honold hat darauf hingewiesen, dass diese Übertragung des Erzählens in die Sphäre der Schrift nicht ganz unproblematisch ist, denn streng genommen umfasse die verschriftlichte Erzählung nicht mehr die „ursprüngliche Erzählform der mündlichen Mitteilung"4, die sich durch die physische Präsenz der Stimme auszeichne. Was nun das orale Erzählen betrifft, so benennt Benjamin für das 20. Jahrhundert einige Domänen, in denen es sich erhalten hat. Das Märchenerzählen gehört ebenso dazu wie das Erzählen von Alltagsgeschichten. In beiden Fällen setzt das Erzählen produktive, heilsame Effekte frei. Benjamins Theorie des Märchens grenzt es vom Mythos ab: „Der erste wahre Erzähler ist und bleibt der von Märchen. Wo guter Rat teuer war, wußte das
Märchen ihn, und wo die Not am höchsten war, da war seine Hilfe am nächsten. Diese Not war die Not des Mythos. Das Märchen gibt uns Kunde von den frühesten Veranstaltungen, die die Menschheit getroffen hat, um den Alp, den der Mythos auf ihre Brust gelegt hatte, abzuschütteln" (II, 457 f.).
Anhand
Odysseus, den er an der Schwelle von Mythos und Märchen verortet, zeigt Benjamin, dass Vernunft und List dem Mythos den Nimbus der Unbezwingbarkeit genommen hätten (vgl. II, 415): „Der befreiende Zauber, über den das Märchen verfügt, bringt nicht auf mythische Art die Natur ins Spiel, sondern ist die Hindeutung auf ihre Komplizität mit dem befreiten Menschen" (II, 458). Insbesondere von den Kindern nimmt das Märchen dadurch die Angst vor den mythischen Gewalten. Es räumt den Menschen einen ersten eigenen Handlungsspielraum gegenüber den sie dominierenden von
Mächten ein. Dem so verstandenen Märchenerzählen käme nur dann eine ethische Dimension zu, wenn die unterstellte Funktion den Kindern die Furcht zu nehmen als ein pädagogisches Ziel normativ festgeschrieben werden würde. Während die ethischen Implikationen hier eher schwach ausgeprägt sind, treten sie in den Gedanken des Denkbilds Erzählung und Heilung5 deutlicher hervor: „Das Kind ist krank. Die Mutter bringt's zu Bett und setzt sich zu ihm. Und dann beginnt sie, ihm Geschichten zu erzählen" (IV, -
4
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Honold, Erzählen, S. 377. Honold sieht allerdings einen übergreifenden Zusammenhang durch die „Besonderheit von Benjamins Begriff der Mitteilung [gegeben], der die vordergründige transi-
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tive Bedeutung (>etwas mitteilenSich-Mitteilens< erweitert" (ebd.). Damit ist ein Anschluss an die Medialität aller sprachlichen Mitteilung hergestellt, der Oralität sowie Literalität umfasst. Benjamin, Walter, Erzählung und Heilung, IV, S. 430.
Narrativität
und
Ethik: Walter Benjamin
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430). Benjamin entwickelt nun den Gedanken von der Heilung durch Erzählen und wirft die Frage auf, „ob nicht die Erzählung das rechte Klima und die günstigste Be-
dingung
manch einer Heilung bilden mag. Ja ob nicht jede Krankheit heilbar wäre, sie bis an die Mündung sich auf dem Strome des Erzählens wenn nur weit genug verflößen ließe?" (IV, 430). Zweifellos trüge das Erzählen als Heilmittel zu jenem guten, auf das Glück ausgerichteten Leben bei, das die Ethik seit jeher zu befördern suchte. Und so unscheinbar der kleine Text Benjamins daherkommt, so weit reichen doch die in ihm angestoßenen Gedanken. Man wisse ja, schreibt er mit einem deutlichen Verweis auf die Psychoanalyse, „wie die Erzählung, die der Kranke am Beginn der Behandlung dem Arzte macht, zum Anfang eines Heilprozesses werden kann" (IV, 430). Insbesondere zur Zeit der frühen Studien über Hysterie setzten Sigmund Freud und Josef Breuer einige Hoffnung in die kathartische Kraft des Aussprechens. Zu diesem Zwecke unterzogen sie ihre Patienten, bevor Freud die Technik der freien Assoziation weiter ausgearbeitet und zur eigentlichen Psychoanalyse fortentwickelt hatte, zunächst noch der Hypnose. Diese frühe Theorie postulierte, „daß die einzelnen hysterischen Symptome sogleich [...] verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang [...] zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekte Worte gab."6 Auf diese Weise würden körperliche Symptome „wegerzählt"7 werden können. Freud und Breuer nehmen in diesem Zusammenhang die Wendung von der „talking cure"8 auf. Dabei liegt eine Vorstellung zugrunde, die das Symptom als das Resultat einer physiologischen Hemmung oder Stockung ansieht, die durch Abreagieren verflüssigt werden müsse: Die „Psychotherapie [...] hebt die Wirksamkeit der ursprünglich nicht abreagierten Vorstellung dadurch auf, daß sie dem eingeklemmten Affekte derselben den Ablauf durch die Rede gestattet"9. Ganz ähnlich auf die Metaphorik von Stauung und Verflüssigung zurückgreifend schreibt Benjamin: „Bedenkt man, wie der Schmerz ein Staudamm ist, der der Erzählungsströmung widersteht, so sieht man klar, daß er durchbrochen wird, wo ihr Gefalle stark genug wird, alles, was sie auf diesem Wege trifft, ins Meer glücklicher Vergessenheit zu schwemmen" (IV, 430). -
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Breuer, Josef / Freud, Sigmund, Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene (Vorläufige Mitteilung), Teil I der Studien über Hysterie, in: Freud, Sigmund, Gesammelte Werke, Bd. I, Werke aus den Jahren 1892-1899, hrsg. von Freud, Anna, Frankfurt a. M. "1972 [1952], S. 85, im Original hervorgehoben. Breuer, Josef/ Freud, Sigmund, Beobachtung I. Frl. Anna O..., in: Freud, Sigmund, Gesammelte Werke, Nachtragsband, Werke aus den Jahren 1885-1938, hrsg. von Richards, Angela, Frankfurt a. M. 1987, S. 233. Breuer / Freud, Beobachtung I. Frl. Anna O..., S. 229. Breuer / Freud, Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene, S. 97, im Original z. T.
hervorgehoben.
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Benjamin traut dem Erzählen in ausgewählten Situationen der direkten Kommunikation also einiges zu. Es stellt >das rechte Klima< für das kommunikative Verhalten her und wirkt ganz besonders im Umgang mit Kindern. Indem das Märchen Rat weiß, nimmt es von den Kindern die Furcht; hier wirkt das Erzählte Mut machend auf die Zuhörer ein. Im Modell des Heilens durch Erzählen ist es das Aussprechen vor Zuhörern, weniger das Ratgeben, das die Veränderung bewirkt. Beide Funktionen sind jedoch bereits in eine grundlegende Krise geraten, denn die Zeit der Erzählung, so Benjamin, sei vorbei. Wie Freud sich anlässlich des Ersten Weltkriegs genötigt sah, schwerwiegende Korrekturen an seiner Theorie vorzunehmen er führte den Todestrieb als den Gegenspieler des Eros ein -, so wirft dieses Ereignis bei Benjamin ein neues Licht auf die zeitgenössischen Rahmenbedingungen des Erzählens: „Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? nicht reicher ärmer an mitteilbarer Erfahrung" (II, 439). Das Modell des Verflößens eines Widerstandes auf den Strom des Erzählens, um ihn zum Verschwinden zu bringen, ist hier nicht mehr zuständig. Die Entfesselung der Technik hat Eindrücke generiert, die mit den oben angesprochenen >Krankheiten< kaum noch etwas gemeinsam haben: „Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Men-
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schenkörper" (II, 439). Freud reagierte auf diese Eindrücke auch mit der Modifikation seiner Traumatheorie. Der Begriff des Traumas ist heute noch zuständig, wenn es um das von Benjamin angesprochene Verstummen geht. Dem heilenden, dem Rat gebenden Erzählen tritt das Verstummen durch Traumatisierung gegenüber, in dem die Ratlosigkeit sowie die Überforderung der Erfahrung gebunden liegen. In Freuds Theorie ist es die Durchbrechung des Reizschutzes, die den psychischen Apparat überfordert; die psychische Bindung der Reizmengen bleibt erfolglos, die Psyche reagiert dysfunktional.10 Die einhergehenden Folgen hat die neuere Traumaforschung genauer beschrieben; zu ihnen gehört auch das Verstummen der Traumatisierten. Traumapatienten suche so Gottfried Fischer und Peter Riedesser der Zwang heim, „die traumatische Situation quasihalluzinatorisch -
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durchleben zu müssen, ohne sie in Worte fassen zu können"11. Als einen Schritt zur Linderung der Traumafolgen im Traumaverlauf sehen viele Wissenschaftler ein „verändertes Script oder Drehbuch, in dem die traumatische Erfahrung zwar enthalten ist, jedoch in erträglicher Dosierung und Verarbeitung"12. Das Verfertigen einer individuellen Traumaerzählung ist somit wichtig, um das inkommensurable Erlebnis der kognitiven Bearbeitung zugänglich machen zu können. Mit diesem Abschnitt in der postexpositori-
Vgl. Freud, Sigmund, Jenseits des Lustprinzips,
in: ders., Studienausgabe, Bd. III, hrsg. von Mitscherlich, Alexander u. a., Frankfurt a. M. 1981, S. 213-272, bes. S. 239. Fischer, Gottfried / Riedesser, Peter, Lehrbuch der Psychotraumatologie, München / Basel 21999, S. 90. Fischer / Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, S. 117.
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sehen Phase des Traumas sind auch ethische Erwägungen verbunden. Fischer und Riedesser schreiben, hier finde „eine Art Weichenstellung statt. Korrektive Umgebungsfakoder toren können den Übergang in die Erholungsphase entscheidend erleichtern"13 aber, falls sie ausbleiben, zur Verfestigung der posttraumatischen Belastungsstörung führen. Mit anderen Worten: Da die Entwicklung des Traumas einen dynamischen Prozess darstellt, der sich zwischen dem Traumatisierten und seiner Umgebung abspielt, ist die Gesellschaft aufgefordert, Bedingungen zu schaffen, in der die Erstellung und die sympathisierende Aufnahme einer Traumaerzählung gelingt. Solche Situationen betreffen zunächst die Gesprächssituation zwischen dem Patienten und dem Arzt, sodann die Kommunikation in Patienten-Selbsthilfegruppen. Der Zugang zu diesen Angeboten muss von der Solidargemeinschaft gewährleistet werden. Darüber hinaus gibt es aber auch Psychiater und Psychoanalytiker, die die gesamte Gesellschaft in der Pflicht sehen, sich das Trauma kollektiv anzueignen und zwar insbesondere bei Traumata, die von dieser Gesellschaft selbst veranlasst wurden. So spricht Jonathan Shay mit Bezug auf die traumatisierten Veteranen des Vietnamkriegs von der Notwendigkeit einer Vergesellschaftung ihres Traumas.14 In diese Richtung gehen Benjamins Überlegungen allerdings nicht. Er setzt sich nicht für die Restituierung des Erzählens ein; vielmehr konstatiert er den historischen Verlust des Erzählens als eines Verhaltens, das sich der Erfahrung noch sicher sein konnte. 1933, in dem Aufsatz Erfahrung und Armut,'5 betont er: ,,[D]ie Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat" (II, 214). Erfahrungen werden nicht mehr wie noch kurz zuvor von Generation an Generation weitergegeben; eine neue „Armseligkeit" (II, 214) und „Erfahrungsarmut" (II, 215) hätten die Menschen befallen. Dies affiziert auch das Erzählen, denn: „Der Erzähler nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung" (II, 443). Er ist deshalb jemand, „der dem Hörer Rat weiß" (II, 442), und „Rat, in den Stoff gelebten Lebens eingewebt, ist Weisheit" (II, 442). Der Verlust an Erfahrung, den die Produktivkraftentwicklung, die Entfesselung der Technik, mit sich gebracht hat, schlägt sich also in einer historisch bedingten „Ratlosigkeit" (II, 443) nieder, die bewirkt, „daß es mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht" (II, 439). -
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Fischer / Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, S. 119. Vgl. Shay, Jonathan, Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust, Hamburg 1998, S. 96. Vgl. ähnlich auch Bohleber: „Die sogenannten >man made disasters< wie Holocaust, Krieg, ethnische Verfolgung und Folter zielen auf die Annihilation der geschichtlich-sozialen Existenz des Menschen [...]. Die traumatische Erfahrung in ein übergeordnetes Narrativ einzubinden, kann dem Einzelnen deshalb nicht in einem rein individuellen Akt gelingen, sondern es bedarf abgesehen von einem empathischen Zuhörer auch eines gesellschaftlichen Diskurses über die historische Wahrheit des traumatischen Geschehens und über dessen Verleugnung und Abwehr" (Bohleber, Werner, Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse, in: Psyche 54 (2000), S. 797-839, S. 823). Vgl. Benjamin, Walter, Erfahrung und Armut, II, S. 213-219. -
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Immerhin gesteht Benjamin dem Erzählen als einer Form der Prosa noch einen auch randständigen Platz in der modernen Kunst zu. Allerdings übermittelt die zugehörige Variante des Erzählens keinen Rat in der Form einer Moral, einer praktischen Anweisung oder einer Lebensregel. Benjamin bezieht sich in der Folge auf eine andere Gestalt des Ratgebens: „Rat ist ja minder Antwort auf eine Frage als ein Vorschlag, die Fortsetzung einer (eben sich abrollenden) Geschichte angehend" (II, 442). Mit dieser veränderten Definition des Ratgebens eröffnet er der Erzählung ein neues Spielfeld und erschließt ihr eine Bedeutung für die zeitgenössische Gegenwart. Das präskriptive Ratgeben durch eine Autorität, der der Status der Weisheit zugeschrieben wird, ist endgültig vorbei. An seine Stelle tritt in gewisser Weise die Ko-Autorschaft des Lesers, der die >sich eben abrollende Geschichte< selbst deuten und fortschreiben soll. Diese Art des Ratgebens erfordert eine innere Anlage der Erzählung, die dem Leser die Freiheit der Deutung lässt. Es sei, schreibt Benjamin in diesem Sinne, „schon die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten. [...] Das Außerordentliche, das Wunderbare wird mit der größten Genauigkeit erzählt, der psychologische Zusammenhang des Geschehens aber wird dem Leser nicht aufgedrängt. Es ist ihm freigestellt, sich die Sache zurechtzulegen, wie er sie versteht" (II, 445). Unter der Hand verändert Benjamin also die Parameter für das Ratgeben: Das hier ausgeführte Ratgeben steht in deutlicher Reibung zu dem zuvor in -
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Anspruch genommenen. Die neue Ratlosigkeit teilt die Erzählung mit dem Roman. Ihn sieht Benjamin nicht indem er ihn der nur als den Nachfolger und Überwinder der Erzählung, sondern auch Literalität zuordnet als einen grundsätzlichen Gegenspieler des Erzählens: „Es hebt den Roman gegen alle übrigen Formen der Prosadichtung [...] ab, daß er aus mündlicher Tradition weder kommt noch in sie eingeht" (II, 442). Nur im komplexen Kosmos der Schrift entfaltet sich der Roman. Ihm liegt keine Intention zur lebendigen Kommunikation mit anderen Menschen zugrunde: „Der Romancier hat sich abgeschieden. Die -
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Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seiwichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann" (II, 443). Diese Position ist keine willkürlich eingenommene, sie verdankt sich vielmehr dem Status des Individuums in einer Welt, in der ihm fundamentale Orientierungen genommen wurden. Benjamin bezieht sich in diesem Kontext zustimmend auf Lukács' Formel von der transzendentalen Obdachlosigkeit,16 in die die modernen Menschen in der säkularisierten, technisierten Welt versetzt seien. Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich in diesem Horizont neu der Roman mache sie zu seinem Mittelpunkt: „Hie >Sinn des Lebens< da >Moral von der Geschichten mit diesen Losungen stehen Roman und Erzählung einander gegenüber" (II, ne
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455).
Benjamin spricht allerdings unpräzise von der „transzendentalen Heimatlosigkeit" (II, S. 454).
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Benjamin hat sich
immer wieder mit Repräsentanten aus beiden Genres auseinander dabei seine literaturtheoretischen Positionen im Angesicht der Literatur geund gesetzt schärft: Mit Johann Peter Hebel, E.T.A. Hoffmann, Gottfried Keller, Adalbert Stifter und Nikolai Lesskow, mit Christoph Martin Wieland, Johann Wolfgang von Goethe, Honoré de Balzac, Fjodor M. Dostojewski, Marcel Proust, André Gide, Robert Walser, Marieluise Fleißer, Julien Green, Louis Aragon, Franz Hessel und Paul Scheerbart. Hier zeigt sich einerseits, dass er der Erzählung neben dem Roman durchaus einen Platz in der Literatur der Gegenwart einräumt. Andererseits sieht er den Roman in einer Krise
befangen.
Ein Autor, den er explizit als einen Erzähler anspricht, ist Oskar Panizza.17 Über ihn, der um die Jahrhundertwende von Land zu Land ziehen müsste, um der Verfolgung durch die Justiz zu entgehen, die ihm seine literarischen Invektiven gegen den Klerus und die Krone nicht durchgehen lassen wollte, der deswegen in Haft kam, und der die letzten Jahrzehnte seines Lebens in der Psychiatrie verbrachte, stellt Benjamin ausdrücklich fest: ,,[E]s gibt keinen, der schlechter schreibt. Sein Deutsch ist beispiellos verlottert" (II, 646). Sogleich macht er aber klar, dass dieses Kriterium für die phantastischen Erzählungen Panizzas nicht einschlägig sein könne, denn das Erzählen sei, „im Gegensatz etwa zum Romanschreiben, nicht Bildungs- sondern Volkssache" (II, 646). Die Orientierung am Maßstab des Oralen greift hier auf den Bereich der literarischen Erzählung über. Mit Bezug auf die phantastische Erzählung, die so alt sei wie die Epik selbst, geht Benjamin nun auf das Verhältnis von Stoff und Erzählung im Prozess der Überlieferung ein:
„Gewiß sind Odyssee und Ilias, sind die Märchen der 1001 Nacht gleichsam Stoffe gewesen, die nur erzählt wurden; genauso wahr aber ist der Satz, die Stoffe dieser Ilias, dieser Odyssee, dieser Märchen aus 1001 Nacht haben erst im Erzählen sich zusammengewoben. [...] Erzählen [...] ist mit seinem Fabulieren und Spielen, seiner von Verantwortung entbundnen Phantastik,
im Grunde dennoch nie bloßes Erfinden sondern ein weitergebendes, abwandelndes Bewahren im Medium der Phantasie gewesen. [...] Immer [...] behielt das wahre Erzählen einen im besten Sinne konservativen Charakter, und wir können keinen der großen Erzähler losgelöst denken vom ältesten Gedankengute der Menschheit" (II, 642).
Passage spricht das Erzählen das Geschichtenweben einerseits als eine innovative, produktive, konstruierende Praxis an. Andererseits weist sie ihm eine genuine, bewahrend-verwandelnde Funktion innerhalb der Überlieferung zu. Die Epik auch die Erzählung ist deshalb mit der Erinnerung eines Gemeinwesens zuinnerst verbunden. Das Gedächtnis, so Benjamin, sei „das epische Vermögen vor allen anderen" (II, 453). In seiner Auseinandersetzung mit dem Werk Franz Kafkas,18 den Benjamin als einen bedeutenden Erzähler anspricht, zeigt sich schließlich, dass das moderne Erzählen für Benjamin auch in der Literalität eine Domäne besitzt. Er setzt am Parabelhaften, am Diese
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Gleichnishaften 17 18
von
Kafkas Texten
an
und konstatiert, dass diesen Texten die Dimensi-
Vgl. Benjamin, Walter, E.T.A. Hoffmann und Oskar Panizza, II, S. 641-648. Vgl. insbesondere Benjamin, Walter, Franz Kafka, II, S. 409-438.
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Ratgebens fehlt: „Kafka war vor allem ein großer Erzähler. [...] [I]mmer ist ein großer Erzähler ein großer Ratgeber [...]. Und eher als einen Rat zu geben, der allein on
des
ihm selbst bestimmt war, hätte er als der Erzähler, der er war den andern seine Ratlosigkeit mitgeteilt. Ja, eben das hat er in seinen großen Büchern getan" (II, 1233 f.). Kafkas Parabeln bewahrten eine „Rätselfrage" (II, 410), eine „wolkige Stelle in ihrem Innern" (II, 420), die zwar die Position anzeigt, an der die Lehre, der Rat, die Moral hätten erscheinen müssen, die diese Lehre selbst aber nicht mehr ausbuchstabierten.19 Demgegenüber erfüllen die Texte jene Funktion, die dem Erzählen nach dem Verlust des Ratgebens bleibt: Kafkas Parabeln seien so „beschaffen, daß man sie zitieren, zur Erläuterung erzählen kann" (II, 420). Sie stellen damit den Gegenpol zur Information dar. Die in den modernen Medienumwelten omnipräsente Information verbirgt nichts; sie ist selbsterklärend. Damit aber erlischt sie im Moment ihrer Übermittlung. Benjamin unterscheidet davon die Erzählung: „Die Information hat ihren Lohn mit dem Augenblick dahin, in dem sie neu war. [...] Anders die Erzählung; sie verausgabt sich nicht. Sie bewahrt ihre Kraft gesammelt und ist noch nach langer Zeit der Entfaltung fähig" (II, 445 f.). In dieser Bestandsfähigkeit, in ihrer lang andauernden Aktualisierbarkeit, erkennt er nicht nur die besondere Qualität der Kafkaschen Parabeln. Vielmehr bezeugt Kafkas Schreibweise, dass die Erzählung in der Lage ist, auch im Medium des Literalen ihren legitimen Platz innerhalb der modernen Literatur einzunehmen. Dies wird in anderer Weise, nämlich über den Begriff der Epik, auch an Benjamins Auseinandersetzung mit innovativen Formen des Romans deutlich. Ohne hier umfassend auf Benjamins Romantheorie eingehen zu können, muss doch seine Auseinandersetzung mit der Romankrise in den Zwanziger Jahren kurz erwähnt werden, weil durch sie eine veränderte Form der Epik thematisch wurde, die auch den Status des Erzählens betrifft. Anlässlich des Romans Berlin Alexanderplatz (1929) von Alfred Döblin und im Anschluss an dessen programmatischen Aufsatz Der Bau des epischen Werks diagnostiziert Benjamin eine neue Annäherung von Erzählung und neuem Roman.20 Während der Roman sich bislang auf das Individuum und dessen Innerlichkeit konzentriert hatte, blieb die Erzählung bei der registrierenden Außensicht. André Gides Konzept des roman pur habe die Tendenz des Romans als „reines Innen" (III, 232) noch einmal auf die Spitze getrieben. In Döblins Roman trete dieses Element dagegen vollkommen in den Hintergrund. Der Grund, den Benjamin hierfür angibt, ist der Ge-
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Im Anschluss an Jacques Derrida (vgl. ders., Préjugés. Vor dem Gesetz, Wien 1992) bezieht WerHamacher die wolkige Stelle auf die für Kafka zentrale Funktionsweise des Gesetzes und zwar auf dessen „Vorbehalts- und Entzugsstruktur" (Hamacher, Werner, Die Geste im Namen, in: ders., Entferntes Verstehen, Frankfurt a. M. 1998, S. 280-323, S. 286): „die wolkige Stelle in der Parabel ist das Gesetz, das seine Darstellung verbietet, aber zugleich ist es selber dies verbotene Gesetz: ist also das verbotene und das verbietende und also das sich selbst und jedes Selbst verbietende Gesetz, das Gesetz als Entzug des Gesetzes, ein Gesetz ohne Gesetz. [...] Wolkige Stelle heißt also Verbot noch (der Darstellung) des Verbots und also Unmöglichkeit noch des Heißens, der Benennung, der Sprache" (Hamacher, Die Geste im Namen, S. 287). Vgl. Benjamin, Walter, Krisis des Romans, II, S. 230-236.
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brauch der Montage: „Die Montage sprengt den >Romanzeitlosen Wahrheit< ist am Platz" (V, 578). Nötig ist nach Benjamin vielmehr die Einsicht, dass unsere Erklärungsmuster ebenso wie die auf uns gekommenen Kulturgüter zutiefst mit der Geschichte der Herrschaft verschränkt sind. Denn die Erklärungen legitimieren regelmäßig das Gewordensein des gegenwärtigen Zustands; sie vollziehen die Kontinuität des Gewordenen nach. Kontinuierlich überliefert wird aber nur das, was jene für überlieferungswürdig halten, die jeweils die Mächtigen sind. Davon handelt das berühmte Zitat: -
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zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgü-
„Wer immer bis
Vgl. Benjamin, Walter, Das Passagen-Werk, V.
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[...] Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in de[m] es von dem einen an den andern gefallen ist" (I, 696). ter.
brechen und sich nicht „zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben" (I, 695), ist eine von Benjamins politisch-ethischen Triebfedern, die seinen Versuch einer anderen Geschichtsschreibung motiviert den Versuch, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten" (I, 697). Eine etablierte Art der Geschichtsdarstellung, von der er sich in den späten Aphorismen Über den Begriff der Geschichte (1940)29 dauernd abgrenzt, ist diejenige des Historismus. Inwiefern er die geschichtswissenschaftliche Schule des Historismus dabei angemessen dargestellt hat, bleibt eher skeptisch zu beurteilen.30 Es ist vor allem der Ausspruch Leopold von Rankes, in dem dieser beansprucht, Geschichtsdarstellung müsse die Vergangenheit erkennen, wie sie sich ereignet habe, den Benjamin als Gegenbild seines eigenen Verfahrens funktionalisiert: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen >wie es denn eigentlich gewesen istEs war einmalgegen den Strich bürstet