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German Pages 595 [596] Year 1960
ERKENNTNIS UND WERTUNG
FR. V I N D I N G K R U S E
ERKENNTNIS UND WERTUNG Das
Grundproblem
der Erkenntnislehre der
und
Ethik
B E R L I N 1960 W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J . G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S B U C H H A N D L U N G J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG . GEORG R E I M E R KARL J . T R Ü B N E R . V E I T & COMP.
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Archiv - Nr. 62 00 79/60 BIANCO LUNOS B O G T R Y K K E R I A/S KOPENHAGEN
INHALTSVERZEICHNIS 1. A B S C H N I T T DAS G R U N D P R O B L E M D E R E T H I K
13
1. Kapitel Die Gegenwart. Das Kulturproblem. Können die ethischen Werte, die Moral und das Recht wissenschaftlich begründet werden?...
15
2. Kapitel Frühere Versuche die Moral und das Recht zu begründen
2. WAS IST WISSEN ERKENNTNIS?
wissenschaftlich 26
ABSCHNITT
UND
WISSENSCHAFTLICHE 79 3. Kapitel
Die alte und die neue Naturerkenntnis
(Altertum
und Renaissance)
81
4. Kapitel Die kritische Erkenntnislehre
89 5. Kapitel
Kritik der Erkenntniskritik
97 6. Kapitel
Die Grundelemente der menschlichen ihr gegenseitiges Verhältnis
Erkenntnis
und 111
1. Unsere Erkenntnis von Verschiedenheit und Gleichheit; Sinnesempfindungen 2. Unsere Erkenntnis von Ursache und Wirkung 3. Unsere Erkenntnis des gesetzmäßigen Zusammenhanges (Ursache und Wirkung) im Verhältnis zu unserer Erkenntnis von Gleichheit und Verschiedenheit 4. Die sinnliche Wahrnehmung und die anderen Fähigkeiten des Erkennens
112 120
143 158
7. Kapitel Die Grundlagen-illusion in der bisherigen Erkenntnislehre Der Bereich des Unbeweisbaren
160 169
8. Kapitel Ist es möglich, das Wesen der Erkenntnis zu erkennen ? 1. Verschiedenheit und Gleichheit Unser Grundbegriff: Wirklichkeit 2. Die gesetzmäßigen Zusammenhänge
171 178 181 201
9. Kapitel Die verblaßten
Vorstellungen
211 10. Kapitel
Kann die Wissenschaft
begründet werden? Wissen und Wertung .. 225
11. Kapitel ZUSAMMENFASSUNG Die Begründung und gegenseitige Kritik der Erkenntnisfaktoren. Das System der Wissenschaften I. Die Begriffe »apriorisch« und »subjektiv« im Verhältnis zu den Erkenntnisfaktoren II. Die Begründung der Erkenntnisfaktoren. Die interne Kritik der Erkenntnisfaktoren III. Beschreibende und wertende Erfahrungswissenschaft
256 256 262 284
12. Kapitel Wissenschaftlicher
Beweis oder
Begründung
305
13. Kapitel Wissenschaftliche Grundbegriffe und Methoden I. Definitionen u n d ihre Grenzen II. Fehler der Methode a. Die allesumfassenden Begriffe b. Falsche Analogien c. Unklare, Undefinierte Begriffe III. Deduktion u n d Induktion, der Induktionsschluß u n d die gesetzmäßigen Zusammenhänge Die neueste Entwickelung innerhalb der Atomtheorie 1. Die Methode der visuellen Übertragung 2. Die Methode der kraftmäßigen Übertragung
315 315 318 319 321 323 323 339 352 359
3. A B S C H N I T T DIE ETHISCHE, ÄSTHETISCHE RELIGIÖSE WERTUNG
UND 371
14. Kapitel Die Ethik I. Die individuelle Ethik 1. Körperliche u n d geistige Gesundheit 2. Erwerbstüchtigkeit. Charakter 3. Psychische Naturgesetze f ü r Lust u n d Unlust Versuch einer experimentellen, klinischen Ethik auf Grundlage bekannter Menschenschicksale Ethische Familienwerte II. Die soziale Ethik
373 373 375 376 379 395 411 415
15. Kapitel Die ästhetische
Wertung
436 16. Kapitel
Die letzte Synthese.
Welt und Menschenleben
469
ANMERKUNGEN
Anmerkungen 477 Über griechische Philosophie 479—484 Über die Bedeutung der Araber 484-485 Über Rechtsphilosophie und Ethik 485-491 Über die »apriorische« Ethik 491-499 Über den Utilitarismus 499-504 Über den Behaviourismus 504-508 Über den Wertnihilismus 508-522 Über Gleichheits- und Berührungsassociation 522-529 Elementpsychologie und Gestaltpsychologie 529-533 Über Kants »apriorische« Methode 533-535 Zur Frage der Grundlagen-illusion 535-541 Über die Stellung Humes zur Vorstellung der äußeren Welt. 541—543 Die verschiedenen Theorien vom Verhältnis zwischen Seele und Leib 543-553 Verblaßte Vorstellungen 553-555 Über den Pragmatismus und von der ökonomischen Erkenntnistheorie 556-563 Über Theorie und Politik in der Nationalökonomie 564-568 Über Physiologie und Mentalhygiene 568-571 Über den Buddhismus 571-574 Zur Frage der ästhetischen Wertungen 575-577 Physiologische und psychologische Ästhetik 577-584 Religionsgeschichtliche Forschung 584-585 Namenverzeichnis 587
1. A B S C H N I T T
DAS G R U N D P R O B L E M DER ETHIK
1.
Kapitel
DIE GEGENWART DAS K U L T U R P R O B L E M : K Ö N N E N D I E E T H I S C H E N W E R T E , D I E MORAL U N D DAS R E C H T , WISSENSCHAFTLICH BEGRÜNDET WERDEN?
Die Zeit, die wir heute erleben, trägt auf den wichtigsten Gebieten des Daseins das Gepräge der größten, geistigen Verwirrung und Zersplitterung. Auf politischem, sozialem, moralischem und religiösem Gebiet prallen im zwanzigsten Jahrhundert grundsätzlich verschiedene Lebensanschauungen aufeinander. In großen Gemeinschaften sind diese Zusammenstöße allmählich so heftig, feindselig und fanatisch geworden, daß jegliche Versöhnung unmöglich erscheint. Gleichzeitig werden die Werte zutiefst bezweifelt und umstritten, die man bisher für die tragende Grundlage des Wirkens der gesamten Menschheit gehalten hat: Werte wie Moral — persönliche Moral und Gesellschaftsmoral — und Religion. In Wirklichkeit ist es die gesamte, bisherige Grundlage der menschlichen Lebensführung, die durch den gegenwärtigen Zweifel und Kampf erschüttert wird. Beginnen wir mit den Verhältnissen innerhalb der äußeren Machtwelt. In der politischen Frage, also im Problem der richtigen Staatsführung, ist unser gesamter Erdkreis bekanntlich gespalten in zwei einander heftig bekämpfende, wesensverschiedene Systeme und Lebensanschauungen: das demokratische System (im weiteren Sinne), das in den angelsächsischen, nordischen und gewissen anderen Ländern herrscht, und das autoritäre oder diktatorische System, das in Spanien, Portugal, Rußland und einigen anderen Staaten vorherrscht. Vorläufig soll hier für keines dieser Systeme Partei ergriffen werden. Später werde ich versuchen, sie unbefangen zu bewerten, an dieser Stelle aber nur in großen Zügen eine Darstellung des tatsächlichen Gegensatzes zwischen Beiden geben. Wohl bestehen im Einzelnen beträchtliche Unterschiede zwischen einigen Verfassungen innerhalb der demokratischen Länder; beispielsweise sind die Verfassungen Englands und der nordamerikanischen Freistaaten, die der Schweiz und der nordischen Länder in
16 gewissen Beziehungen sehr verschieden. Im Ganzen aber sind den V e r f a s s u n g e n aller d e m o k r a t i s c h regierten L ä n d e r gewisse G r u n d züge g e m e i n s a m : das Volk w ä h l t zur gesetzgebenden V e r s a m m l u n g i n n e r h a l b eines b e s t i m m t e n R a h m e n s verhältnismässig f r e i zwischen P e r s o n e n u n d politischen A n s c h a u u n g e n ; d a d u r c h entstehen verschiedene Parteien, die m i t e i n a n d e r f ü r ihre politische G r u n d a n schauung, ihr P a r t e i p r o g r a m m k ä m p f e n , u n d d a m i t u m das Recht ringen, die Gesetzgebung des L a n d e s zu beeinflussen. Nach diesem System h a t die Volksmehrheit d u r c h die von i h r selbst gewählte, gesetzgebende V e r s a m m l u n g die Möglichkeit, die Richtlinien der Gesetzgebung u n d der gesamten Leitung d e r Gem e i n s c h a f t zu b e s t i m m e n . W i e die verschiedenen politischen P a r teien, wesentlich d u r c h die Presse u n d öffentliche V e r s a m m l u n g e n , frei f ü r ihre A n s c h a u u n g e n k ä m p f e n d ü r f e n , h e r r s c h t ü b e r h a u p t in diesen L ä n d e r n die sogenannte Äußerungsfreiheit, also eine Freiheit des einzelnen Bürgers, A n d e r e n öffentlich seine Gedanken u n d Ans c h a u u n g e n mitzuteilen u n d f ü r deren Verbreitung zu k ä m p f e n . D u r c h die Entwickelung, die in n e u e r e r Zeit allmählich in d e n sog e n a n n t e n demokratischen, freien L ä n d e r n s t a t t g e f u n d e n hat, sind doch der E i n f l u ß des Volkes auf die Gesetzgebung u n d seine Äußer u n g s f r e i h e i t in der T a t recht eingeschränkt worden. In den a u t o r i t ä r oder diktatorisch regierten L ä n d e r n gibt es n u r eine Partei, nämlich die, deren F ü h r e r der oberste Leiter des Staates ist, u n d n u r eine öffentlich a n e r k a n n t e G r u n d a n s c h u u n g . Die alten,
Die parlamentarische und die demokratische Regierungsform sind wohl zu unterscheiden: sowohl England als auch die USA haben eine demokratische Regierungsform, doch hat nur England eine parlamentarische. Letztere besagt in erster Linie, daß die Regierung von der Mehrheit des Unterhauses (des Kongresses oder einer anderen, gesetzgebenden Versammlung) bestimmt wird. Das ist in England der Fall, wo das Ministerium aus der Mehrheit des Unterhauses hervorgeht, nicht aber in USA, wo die Minister nicht von dem Kongress bestimmt, sondern — sowohl realiter als auch formaliter — vom Präsidenten ernannt werden, der selbst auch nicht vom Kongress, sondern durch die direkte Wahl vom Volke gewählt wird. Wie es eine demokratische Regierungsform gibt, die nicht parlamentarisch ist, kann es umgekehrt auch eine parlamentarische geben, die nicht demokratisch ist, wie z. R. die Regierungsform, die in England vor dem Wahlgesetz des Jahres 1832 herrschte, wo (dank einer scharfen, teilweise willkürlichen Wahlzensur) nur eine kleine Minderheit des Volkes Stimmrecht hatte.
17 politischen Parteien aus der letzten demokratischen Vergangenheit dieser Länder sind aufgelöst, die Bildung neuer Parteien ist verboten. Die Äußerungsfreiheit in der oben genannten Bedeutung, also die Freiheit eines Jeden jegliche beliebige politische oder soziale Anschauung öffentlich, in Presse oder Versammlungen, vorzutragen, ist wesentlich eingeschränkt worden; die Presse und andere öffentliche Ausdrucksmittel (Rundfunk, Film, Theater) sind in diesen Ländern in recht weitem Umfang der Staatsleitung unterstellt. Die Gesetzgebung wird durch den Führer des Staates und seine Ratgeber bestimmt; und es gibt wohl auch in diesen Staaten Versammlungen, die vom Volke, oft nach den Direktiven der Regierung, gewählt werden, aber sie sind, wenn nicht theoretisch, so doch praktisch, auf dem Gebiete der Gesetzgebung nur beratend. Auch innerhalb der autoritär regierten Länder bestehen in gewissen Beziehungen Unterschiede. Ein tiefgehender Unterschied liegt darin, daß man in den westeuropäischen Staaten Portugal und Spanien von anderen sozialen Grundanschauungen aus regiert als in SowjetRußland. Die in Portugal und Spanien herrschende Geistesrichtung behauptet grundsätzlich das private Eigentumsrecht und die private Initiative, wenngleich sich die autoritäre Regierung auch dieser Länder vorbehält, dieses Eigentumsrecht und diese Initiative da weitgehend zu begrenzen, wo diese privaten Faktoren auf Kosten entscheidender Gemeinschaftsrücksichten ausgenutzt werden. Durch diese Anerkennung einer recht großen Freiheit der privaten, bürgerlichen Erwerbstätigkeit und des privaten Eigentumsrechtes besteht immer noch eine gewisse Übereinstimmung zwischen der Regierungsform dieser beiden westeuropäischen Staaten und derjenigen der anderen, demokratischen Länder. In Sowjet-Rußland dagegen wird das Erwerbsleben durch die Regierung von einer ganz anderen sozialen Grundauffassung aus geleitet, nämlich der sozialistischen, indem der Staat hier versucht hat, das private Eigentumsrecht und die private Initiative soweit möglich zurückzudrängen. Anfangs versuchte die Sowjet-Regierung diese privaten Faktoren gänzlich auszuschalten; da es der Regierung jedoch bisher nicht gelungen ist, eine sozialistische Gesellschaftsordnung durchzuführen, sucht sie das Wirken der privaten Wirtschaftskräfte auf verschiedene Weise zu begrenzen; allerdings ist die Haltung der Regierung diesen Kräften gegenüber sehr schwankend. Indessen besteht ein tiefer Unterschied zwischen diesen beiden Typen autoritär oder absolut regierter Staaten nicht nur mit Bezug auf 2
Erkenntnis und Wertung
18 die soziale Grundanschauung; es gibt auch einen einschneidenden Unterschied im Verhältnis zu den ererbten Lebenswerten, den moralischen und den religiösen. Sowohl in Portugal als in Spanien behaupten die führenden Richtungen, daß diese Werte für die Kraft und Entwickelung des Volkes eine Lebensbedingung seien. Die alten, bürgerlichen, moralischen Ideale werden in diesen Staaten als strenge Forderung an den Einzelnen hochgehalten; der Religion als Lebensmacht erweist man Ehrfurcht, unerachtet, daß sich der autoritäre Staat auch gegenüber der Organisation der Religion, der Kirche, seine begrenzende Oberhoheit vorbehält. Der Sowjet-Staat hat sich dagegen in der ersten, kommunistischen Periode auch der Religion gegenüber feindlich, dann neutral gestellt. In der neuesten Zeit betont der Sowjet-Staat immer stärker den Wert einer strengen .moralischen Haltung der Bevölkerung, und zwar sowohl in sexueller Beziehung, vor Allem im Verhältnis zwischen Ehegatten — deshalb ist u. a. die Möglichkeit der Ehescheidung in der neueren russischen Gesetzgebung stark begrenzt worden — als auch mit Bezug auf Arbeitsverhältnissen, wo eine strenge, moralische Disziplin durchgeführt wird. In den demokratischen Ländern begegnet man unter der dort herrschenden Äußerungsfreiheit den beiden Richtungen mit entgegengesetzter Haltung den moralischen und religiösen Werten gegenüber. Und das gilt sowohl der positiven als der negativen Richtung. Mensch und Gesellschaft unserer Zeit sind also auf politischem, sozialem, moralischem und religiösem Gebiet in zutiefst widerspruchsvolle Lebensanschauungen gespalten. Durch diese entscheidenden Gegensätze werden Mensch und Gesellschaft im zwanzigsten Jahrhundert vor die größten Fragen gestellt, und zwar sind diese nicht nur Probleme, die zur Erörterung gestellt werden, sondern sie entscheiden über nichts Geringeres als Leben und Tod der Menschheit, über ihr Schicksal, ihre Kultur. Diese Fragen lauten: Ist der Weg der Völker zur Rettung und zur Erhaltung der Kultur immer noch der Weg, der der Menschheit von den neuen Gesellschaften angewiesen wurde, die sich im siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert durch Aufruhr und Revolutionen gegen den zu jener Zeit in den Staaten herrschenden Absolutismus emporrangen, und die die Erklärung der Menschenrechte schufen und zu ihrem Banner erhoben? Oder weisen die neuen, starken, autoritären Staaten den Weg in die Zukunft? Durch die Revolution des Jahres 1688 zerschlug das englische Volk
19
den Absolutismus der Könige (der Stuarts) und schuf vor allen anderen Völkern ein freies Verfassungsleben. Dessen charakteristischste Züge waren, daß Gesetze nur unter Zustimmung der vom Volke gewählten Vertretung, des Parlaments, gegeben werden konnten, daß insbesondere ohne dessen Zustimmung keine Steuern erhoben werden durften, daß die Gerichte von der Regierung unabhängig sein sollten, und daß die persönliche Freiheit, die Äußerungsfreiheit und das Eigentum des Bürgers durch die Gesetze und die Gerichte gegen Willkür seitens der Regierung geschützt wurden. Das Wesentlichste dieser Grundsätze wurde bereits in der Erklärung der Bürgerrechte des Jahres 1689, the declaration of rights, festgesetzt, deren Einhaltung der neue König (William III.) bei seiner Thronbesteigung versprechen mußte. Die gleichen Grundsätze kehrten in den declarations of rights wieder, die die nordamerikanischen Freistaaten nach der Losreißung von England 1776 allmählich in ihre Verfassungsgesetze einschrieben; sie erhielten 1789 durch die französische Revolution ihren begeisterten Ausdruck in der Erklärung der Nationalversammlung über die unverlierbaren Menschen- und Bürgerrechte, und im neunzehnten Jahrhundert drangen sie in den meisten europäischen Staaten in deren demokratisch-parlamentarischen Verfassungen nach englischem Vorbild durch. Die Erfahrungen, welche die Staaten seither unter diesen Verfassungen gemacht haben, waren keine ausschließlich guten. Der glückliche Zustand, von dem man in der Morgenröte der freien Verfassungen träumte, ist nicht eingetreten. Die freie Volksherrschaft hat in den modernen Staaten, wie in denen des Altertums in ihrer demokratischen Periode, zahlreiche Partei- und Klassenkämpfe mit sich gebracht, die den Hintergrund für die Entstehung der Diktatur in den Staaten bildeten, wo diese Kämpfe besonders zerrüttend gewesen waren und auf die Ordnung und Sicherheit der Gemeinschaft unmittelbar zersetzend gewirkt hatten. Sind nun diese Grundsätze einer freien Demokratie in der Erklärung der Menschenrechte immer noch richtungsweisend für das Verfassungsleben der Gemeinschaften? Oder werden die sogenannten freien Verfassungen, die im siebzehnten Jahrhundert von England ausgingen und im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert allmählich in den meisten Staaten siegten, nun im zwanzigsten Jahrhundert das Feld räumen und wieder der Alleinherrschaft weichen, so wie diese in Spanien, Portugal, Rußland und anderen Ländern wieder entstanden ist, wo die politische, soziale und geistige Leitung 2»
20 des gesamten Volkes von oben die heftigen Kämpfe zwischen Parteien, Klassen und Anschauungen, die unter den freien Verfassungen überall entstanden waren, abgelöst hat? Wird es vielleicht allen modernen Staaten künftig so gehen, wie es den Kulturstaaten des Altertums, den Staaten der griechischen und römischen Welt erging, in denen längere Zeiträume hindurch die freie Volksherrschaft und die Diktatur einander wechselweise ablösten? Wird es also so gehen, daß wir nach einer Periode der Alleinherrschaft im sechzehnten und siebzehnten und teilweise im achtzehnten Jahrhundert, und nach der Zeit der freien Volksherrschaft im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert nun im zwanzigsten Jahrhundert hundert Jahre oder länger eine Periode der Alleinherrschaft erleben werden? Doch ebenso fundamental, ebenso lebenswichtig für die Gemeinschaften wie diese zentrale politische Frage ist die soziale: sollen das private Eigentumsrecht und die private Initiative die tragende Grundlage des Erwerbslebens der Gemeinschaft bilden, wie es in den demokratisch-parlamentarischen Ländern und in überwiegendem Maße auch in den meisten autoritären Staaten der Fall ist, oder soll der Staat das gesammte Erwerbsleben übernehmen, so wie es der größte der Diktaturstaaten, nämlich Sowjet-Rußland, anstrebt? Hinter diesen großen politischen und sozialen Fragen liegt jedoch eine noch größere, eine für das menschliche Leben noch einschneidendere Frage, nämlich das Problem der moralischen und rechtlichen Wertungen. Diese Wertungen stellen ein merkwürdiges Phänomen dar, das sich bei jeder menschlichen Handlung und Gebahrung als Macht erweist. Sie setzen sich als Richter über alle menschlichen Unternehmungen, über das persönliche Leben der Menschen ebenso wie über die Einrichtungen, die sie geschaffen haben, hierunter die größte aller menschlichen Institutionen, die Gesellschaft und ihre Rechtsordnung, ein. Alle neuen Bewegungen innerhalb der Gesellschaft, die besonnenen ebenso wie die ungestümen, gehen von diesen Wertungen aus. Revolutionen gegen eine bestehende Gesellschaftsordnung entstehen aus einer grundsätzlichen Wertung der bestehenden Gesellschaft als schlecht. Und wenn man um die oben genannten, grundsätzlich verschiedenen politischen und sozialen Systeme kämpft und zwischen ihnen wählt, so gehen Alle, sowohl die jeweiligen Anhänger als die Gegner der verschiedenen Syseme, von bestimmten Wertungen aus, nämlich davon, welche Rechtsordnung der Gesellschaft sie auf die Dauer für die beste halten.
21 Indessen ist es kein W u n d e r , daß m a n sich über die großen politischen und sozialen F r a g e n nicht hat einigen können, daß vielmehr die ganze W e l t darüber in Zwietracht und Streit liegt. Denn über die tiefsten F r a g e n des Menschenlebens, die f ü r alle anderen die Voraussetzung
bilden,
über
moralischen — und
die
rechtlichen
—
Wer-
tungen selbst, herrschen in neuerer Zeit die einschneidendste Uneinigkeit und Unklarheit. W i e oben erwähnt, besteht in den verschiedenen Diktaturstaaten
eine
durchaus
verschiedene
Einstellung
den
reli-
giösen und zu gewissen Zeiten auch den moralischen W e r t e n gegenüber, und in den demokratischen L ä n d e r n k ä m p f e n die einander i m höchsten
Maße wiedersprechenden
Anschauungen
um
diese
sowie
u m die politischen und sozialen Probleme. Die Zeit bewegt sich an der Oberfläche, w e n n sie glaubt, die größten politischen und sozialen F r a g e n lösen zu können, ohne zuerst an die L ö s u n g des P r o b l e m s der W e r t u n g e n politischen
und
alles Menschlichen sozialen
heranzugehen, das hinter
Systemen, hinter
allen
persönlichen
gemeinschaftsbedingten Handlungsregeln liegt. Man kann mit Abänderung
eines
alten
klugen
Wortes
sagen:
suchet
zuerst
allen und einer die
Lösungen dieser, der tiefsten F r a g e des Menschenlebens, dann w i r d Euch die Lösung aller anderen F r a g e n dieser W e l t gegeben. Die Ethik
ist die wissenschaftliche Untersuchung der moralischen
Phänomene. Die Rechtslehre
ist die wissenschaftliche
Untersuchung
der rechtlichen Phänomene. Es ist natürlich wichtig, daß die Ethik 1) eine Beschreibung der Moral, der Moralregeln, gibt, nach denen man tatsäch lebt, w i e die Rechtslehre j a in der positiven wissenschaft
eine
Besprechung
des
Rechtes
gibt,
das
Rechts-
tatsächlich
Geltung hat. Die Ethik und die Rechtslehre können jedoch nicht auf diese tatsächlich beschreibende T ä t i g k e i t beschränkt werden. Es zeigen sich nämlich große Unterschiede sowohl zwischen den verschiedenen V ö l k e r n als auch zwischen den verschiedenen Epochen in der Entwickelung der Menschheit mit Bezug auf die tatsächlich befolgte Moral und auf das in den L ä n d e r n geltende, positive Recht
(Gesetze
und Gerichtspraxis). Durch eine historische und vergleichende
Un-
tersuchung der zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen
Völ-
kern gültigen Moral- und R e c h t s f o r m e n w i r d man aber notwendigerweise zu der F r a g e g e f ü h r t : Lassen sich trotz der vielen Unterschiede
Das Wort Ethik ist aus dem griechischen Worte ethos gebildet, das sowohl Sitte, herkömmliche Regel als auch Charakter bedeuten kann.
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zwischen Moral und Recht verschiedener Zeiten und Völker gewisse gemeinsame, fundamentale, moralische und rechtliche Grundsätze aufzeigen, zu denen sich die Menschheit im Laufe der Geschichte von tieferen zu höheren Entwickelungsstufen immer weiter emporgerungen hat, die die primitiven Völker auch heute bei weitem nicht erreicht haben und denen selbst die Kulturvölker in den heutigen Volksgemeinschaften nur unvollkommen folgen? Hieraus entsteht die zweite und wichtigste Aufgabe der Ethik und der Rechtslehre: nach der faktischen Beschreibung zu untersuchen, 2) ob es möglich ist, die Moral und das Recht wissenschaftlich zu begründen. Falls dies möglich ist, wird man fundamentale ethische und rechtliche Gesetze oder Grundsätze für das menschliche Verhalten finden können; die Ethik und die Rechtslehre werden danach die überlieferte Moral und das überlieferte Recht kritisch untersuchen können, und es ist hiernach nicht gegeben, daß ethisch und rechtlich Begründetes mit den geltenden, überlieferten Moral- und Rechtsbegriffen übereinstimmen wird. Die Lösung oder Nicht-Lösung der Kardinalfrage nach der Begründung der moralischen und rechtlichen Werte selbst wird für den zukünftigen Weg der Menschheit entscheidend werden; und gerade in dieser Lebensfrage steht unsere Zeit überall im Zeichen der Auflösung und des Widerspruchs. Im Laufe der Entwickelung der neueren Wissenschaft entstanden allmählich Richtungen, die den alten geistigen Werten, der Moral und der Religion gegenüber sowohl in deren bisherigen Formen als auch in deren innerstem Grund, eine stark kritische Haltung einnahmen. Der freie, wissenschaftliche Geist, der sich in der Renaissance zu zeigen begann und der im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert entscheidend zum Durchbruch kam, unterwarf respektlos alle Phänomene, alle Werte, auch die Moral und die Religion, einer von der Auffassung der Vergangenheit unabhängigen, kritischen Untersuchung. Und Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts entstand sowohl in der Philosophie als auch in der ästhetischen Literatur eine Richtung, die leugnet, daß es überhaupt möglich sei, die Moral, ob nun die überlieferte oder sonst irgend eine andere, zu begründen. Das freie Recht zur vollen Lebensentfaltung, auf allen Gebieten, ungehemmt von den Regeln der Moral wie von den Vorstellungen der Religion, wurde die Lösung der Zeit. Und der Gedanke, daß die überlieferte religiöse Auffassung mit ihrem Glauben an absolute, moralische
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Ideale ein zurückgelegtes Stadium in der Entwickelung der Menschheit sei, griff immer mehr um sich. Gerade zu der Zeit aber, in der der philosophische und ästhetische Negativismus oder Relativismus auf dem Gebiete der Moral und der Religion immer weiter um sich greift, setzen plötzlich und heftig neue, kräftige Gegenbewegungen ein. Die Menschheit scheint sich wieder nach absoluten und ewigen Idealen zu sehnen. Gegen den Negativismus macht die autoritäre Staats- und Lebensanschauung in scharfer Weise Front und behauptet, wie früher, den stärksten Glauben an die ererbten, moralischen Werte. Diese Geistesrichtung erstrebt sowohl in Spanien als auch in Portugal — und in der letzten Zeit sogar in Sowjet-Rußland — um ihre eigene Sprache zu sprechen: eine moralische Hebung des Volkes und nicht zum wenigsten eine Ausbildung hoher, moralischer Ideale innerhalb der Jugend; der Teil der wissenschaftlichen und ästhetischen Literatur der vergangenen Zeit, der der Moral als Lebenswert gegenüber eine negative oder relativistische Haltung einnimmt, wird in diesen Ländern verdrängt. Gleichzeitig tauchen in anderen Ländern neue religiöse Strömungen auf, die große Teile der Bevölkerung ergreifen und die ebenfalls absolute, moralische Forderungen an den Einzelnen stellen. Demgegenüber macht der philosophische Negativismus und Relativismus geltend, daß die Verfechtung der moralischen Ideale als absolute Richtschnur für das Menschenleben seitens der neuen politisch-autoritären und religiösen Bewegungen letzten Endes auf einem unwissenschaftlichen Glauben, einer unbeweisbaren Behauptung beruhe. Eine Verfechtung moralischer Forderungen und Ideale, ja selbst der Gebote des Rechts, gehört dieser Auffassung nach, ebenso wie die Behauptungen der Religion, in Wirklichkeit der Mystik an. Wohl kann die Regierung der autoritären Staaten durch staatliche Propaganda zugunsten des Glaubens an bestimmte moralische und staatliche Ideale auf die Mehrheit des Volkes einwirken, wie die Kirche in älterer Zeit zugunsten ihrer moralischen und religiösen Ideale einen starken Einfluß auf das Volk ausübte. Die genannte philosophische Richtung behauptet aber, daß es für das Geistesleben schädlich sei, wenn eine solche, gleichgerichtete Einwirkung die freie Untersuchung der moralischen wie auch aller anderen Ideen ablöse. Zwischen diesen beiden, fundamental verschiedenen Lebensanschauungen wird also gegenwärtig der Kampf geführt. Und dieser wird immer mehr zu einem Kulturproblem, zu einer Frage der Existenz und der Zukunft unserer Kultur. Die eine Partei behauptet:
24 wenn die Menschheit auf moralischen und geistigen Gebieten von einer geistigen Gleichrichtung seitens des Staates und nicht von einem freien Meinungsaustausch und von einer freien, philosophischen Untersuchung aus geleitet werden solle, so könne die Gesellschaft, deren geistiges und politisches Leben, leicht in ein Stadium geraten, das jener Zeit entspreche, in der ein religiöser Fanatismus Europa in die Religionskriege mit ihren Verwüstungen und ihren Verfolgungen Andersgläubiger stürzte; in dem A u f f l a m m e n einer starken nationalen Selbstbehauptung und der damit verbundenen B e k ä m p f u n g der Gegner, wie es die letzte Zeit erlebte, sieht diese Richtung die Anzeichen einer kommenden Zeit, in der Kriege zwischen den Völkern und Verfolgungen Andersdenkender eine Gefahr f ü r die menschliche Kulturgemeinschaften darstellen werden. Seitens "der autoritären Richtung behauptet man dagegen: während die Wissenschaft auf dem Gebiete der äußeren Natur zum Nutzen der Menschheit zu den größten technischen Fortschritten geführt habe, so habe sie auf den inneren, seelischen Gebieten, hier besonders durch die philosophischen Untersuchungen der moralischen Phänomene, zu einem allgemeinen W i r r w a r r der verschiedensten Anschauungen und schließlich zu einem alles-überwiegenden Skeptizismus und Negativismus allen Moral- und Rechtsbegriffen gegenüber gef ü h r t ; diese geistige Auflösung habe sich von der Philosophie auf die allgemeine Literatur ausgedehnt, habe dadurch das Volk und nicht zum mindesten die Jugend beeinflußt und eine allgemeine, moralische Schlappheit und Haltlosigkeit hervorgerufen, die die größte aller Kulturgefahren geworden sei, indem diese moralische Zersetzung die Lebenskraft unserer Rasse und damit deren ganze Z u k u n f t zu bedrohen scheine. W i l l m a n in diesem Kampf auf T o d und Leben zwischen zwei grundverschiedenen Lebensanschauungen, deren Gegensätzlichkeit auf allen Gebieten des heutigen Menschen- und Gemeinschaftlebens spürbar ist, ein gerechtes Urteil fällen, gibt es meines Erachtens keinen anderen W e g als den streng wissenschaftlichen. Allerdings muß eingeräumt werden, daß eine wirklich wissenschaftliche Forschung gerade auf dem Gebiete des Seelenlebens, wo die moralischen und rechtlichen Phänomene und deren Gegenströme wirken, mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, Schwierigkeiten, die größer sind als jene, denen die naturwissenschaftliche Erforschung der äußeren Natur begegnet. Die Schwierigkeiten können uns aber nicht davon entbinden, eine streng wissenschaftliche Untersuchung auch dieser Tiefen des Seelenlebens ebenfalls zu versuchen. Erst müssen
25 wir in die tiefen Schachten des Menschenlebens hinabsteigen, wo Zweifel und Glauben miteinander um die W e r t e oder moralischen Kräfte ringen, die vom Volke bisher für die tragenden W e r t e der Menschheit gehalten wurden, bevor wir dazu berechtigt sind, in die Gemeinschaft hinauszutreten und für oder gegen diese Kräfte zu wirken. Die wichtigste Vorbedingung einer wirklich wissenschaftlichen Untersuchung ist, daß man ohne jegliche Art von Vorurteilen an sie herangeht. F ü r die Wissenschaft ist das Moralische und das Unmoralische von vornherein gleich gut oder gleich schlecht — oder richtiger: zu Beginn der Untersuchungen sind Beide vollkommen gleichgestellt. Beide befinden sich auf dem Anklage- und Verteidigungsstadium, wo sie vor dem unparteiischen Richter stehen. Moral und Unmoral sind innere, psychische Phänomene, die die Wissenschaft vor allen untersuchen und objektiv prüfen muß, ebenso objektiv wie Eisen und Kohle, ebenso gefühlsmäßig gleichgültig, wie sie die Atome der Grundstoffe untersucht. Hier gibt es drei Möglichkeiten. Entweder kommt die wissenschaftliche, ethische Untersuchung zu dem Ergebnis, daß die Moral sich nicht nur nicht begründen lasse, sondern daß sie wissenschaftlich widerlegt werden könne. Oder es stellt sich heraus, daß die Moral sich allerdings nicht wissenschaftlich begründen lasse, daß ihre Berechtigung andererseits auch nicht widerlegt werden könne. Schließlich besteht die dritte Möglichkeit, daß die Moral wissenschaftlich begründet werden könne. In dieser Lebensfrage der Moral sind Moral und Recht schicksalsverbunden. Denn die Regeln des Rechts bilden nur den Teil der Moralregeln, den die Gesellschaft mit äußerer Macht, durch die Rechtshandhabung und deren Technik durchzusetzen, die Pflicht und die Kraft zu haben glaubt. Das hier vorliegende Werk wurde im Jahre 1942 zum ersten Mal in dänischer Sprache veröffentlicht. Der Titel lautete: Erkendelse og Vurdering. Die zweite Auflage erschien (ebenfalls in dänischer Sprache) im Jahre 1952. Danach wurde das Buch in das Englische übertragen und erschien in England (unter dem Titel: The Foundation of Human Thought 1949). Die obenerwähnten sozialen Probleme und das Problem der Demokratie und der Diktatur und damit auch die Frage der rechten Staatsverfassung der Zukunft sind in dänischer Sprache in meinem Buch: Det kommende Samfund (Die kommende Gesellschaft), das 1944 erschien, behandelt. Dies Buch ist ebenfalls ins Englische übersetzt und erschien 1950 unter dem Titel: The Communitg of the Future. Eine schwedische Übersetzung erschien 1956 unter dem Titel: Mot ett ngtt Samhälle.
2.
Kapitel
F R Ü H E R E V E R S U C H E D I E MORAL U N D DAS R E C H T W I S S E N S C H A F T L I C H ZU B E G R Ü N D E N Es scheint natürlich, die Untersuchung damit einzuleiten, daß man den Erfahrungen und der Einsicht der Vergangenheit die Frage stellt: Welche Versuche hat man in früheren Zeiten unternommen, un die ethischen Werte zu begründen? Als jene geistige Tätigkeit, die wir Wissenschaft nennen, sich in der geistigen Entwickelung des menschlichen Geschlechtes zu zeigen beginnt, sind es keineswegs die inneren, seelischen Erscheinungen, wie die moralischen, deren Untersuchung sie sich als Aufgabe stellt. Diese Erscheinungen entgingen vielmehr infolge ihres unhandgreiflichen Charakters der Aufmerksamkeit der beginnenden Wissenschaft. Denn diese erste Forschung war gänzlich nach Außen gerichtet, gegen die Erscheinungen der äußeren Welt gewandt, gegen Naturerscheinungen wie die Erde, das Meer, die Himmelskörper, die Sonne, die Gestirne u. Ä. Um die unsichtbaren seelischen Kräfte und ihren ursächlichen Zusammenhang zu entdecken und zu erforschen ist ein höher entwickelter Stand wissenschaftlicher Tätigkeit erforderlich. überall, wo das, was wir wissenschaftliche Erklärung nennen, sich zum ersten Male in der menschlichen Geistesentwickelung zeigt, äußert es sich als ein unbewußt und unsicher tastendes, später jedoch in höherem Maße bewußtes und planmässiges Suchen nach einer anderen Ursache oder anderen Ursachen als denjenigen, die das menschliche Geschlecht in seiner Kindheit als den einzigen wahren Ursprung aller Dinge und ihrer Äußerungen, nämlich übernatürliche Wesen, betrachtete. Die übernatürliche Erklärung stellt die erste Ursachserklärung des menschlichen Geschlechtes dar; und sie beruht auf einem Analogieschluß, den der Mensch von sich und seinen eigenen Kräften aus auf die äußere Natur und deren Tätigkeiten zieht. Wenn der primitive Mensch sieht, daß alle jenen Wirksamkeiten und Änderungen
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innerhalb seines nächsten Gesichtskreises, von denen er selbst direkte Kenntnis hat, seinem eigenen Eingreifen und seinen Kräften oder denen anderer, lebendiger Wesen zu verdanken sind, liegt es ihm nahe anzunehmen, daß die Wirksamkeiten oder Änderungen, die er in der Natur betrachtet, ebenfalls durch die Kräfte und durch das Eingreifen lebendiger Wesen verursacht werden. Und da diese Naturänderungen oft sehr viel stärker und gewaltsamer sind, als diejenigen, die seine Kräfte und die seiner Mitmenschen imstande sind hervorzurufen, werden die Gewalten, die dahinter stehen, als mächtige, übernatürliche Wesen betrachtet, die durch ihre Tätigkeit sowohl fördernd als auch störend in sein Schicksal und in dasjenige seiner Genossen einzugreifen vermögen und von denen die Menschen deshalb abhängig sind, Mächte, die sie fürchten und mit denen sie gerne gut stehen möchten. Der Himmel hat seinen Gott, das Meer den seinigen, die Flüsse die ihrigen und so weiter; und ungeachtet, daß die Namen dieser Mächte sich von Volk zu Volk ändern (Zeus, Juppiter, Wotan, Poseidon etc.), bleibt die Grundvorstellung von den Göttern doch stets dieselbe. Der Analogieschluß wird immer weitergeführt, so daß man sich die Götter schließlich auch in menschlicher Gestalt vorstellt, wenn auch mit übernatürlicher Größe und mit übernatürlichen Kräften ausgestattet; und genau wie man Menschen durch Geschenke bewegen will, eine günstige Haltung einzunehmen, genau so versucht man nun auch die Götter durch besondere Gaben, die Opfer, freundlich zu stimmen. Man begnügt sich jedoch nicht damit, die Götter als Urheber der äußeren Welt, der Natur selbst und ihrer Tätigkeit, zu betrachten. Auf diesen älteren Stufen der Entwickelung des menschlichen Geschlechtes finden wir dieselbe Ursachserklärung solchen Erscheinungen wie Moral und Recht gegenüber. Die Regeln der Moral und des Rechtes — die auf diesen Entwickelungsstufen identisch sind — sind den Menschen Gebote der Götter selbst. Was wir eine wissenschaftliche Erklärung der Naturerscheinungen nennen, zeigt sich wie bekannt zum ersten Male bei dem griechischen Volke und dort beginnt sie, die primitive Erklärung dieser Phänomene durch göttliches Eingreifen zu verdrängen. Die Ägypter und die Babylonier waren, wohl infolge der besonderen Naturverhältnisse und deren Begleiterscheinungen — der Fruchtbarmachung durch die periodischen Überschwemmungen des Flusses, durch Dürre, Urbarmachung und Aufteilung des Landes — genötigt gewesen, den Weg mathematischen und astronomischen Denkens einzuschlagen, aber
28 nur auf den Gebieten der reinen Landmesserkunst und der praktischen Zeitberechnung durch Beobachtung der Himmelskörper. Ein bewußtes Denken oder Philosophieren über die Welt und ihre Entstehung erreichten sie aber nicht; in dieser Beziehung blieben sie am Glauben an das Eingreifen der Götter haften. Der Grieche Thaies von Milet (c. 600 Jahre v. Chr.), der übrigens von seinen Reisen her mit der ägyptischen und babylonischen Mathematik und Astronomie vertraut war, hat als erster gefragt, woraus das innere Wesen der Welt bestehe, aus welchem Stoff sie gebildet sei. Einem seefahrenden Griechen, vom Weltmeere stark beeindruckt, scheint es durchaus natürlich zu dem Ergebnis zu kommen, daß der Urstoff, aus dem die Welt seiner Ansicht nach besteht, das Wasser sein müsse; die Länder haben sich als Inseln aus dem Meere erhoben; und seine Annahme schien dadurch bestätigt zu werden, daß die Pflanzen nicht ohne Feuchtigkeit entstehen können und daß überhaupt nichts — weder Pflanzen noch Tiere — ohne das Element des Wassers zu existieren vermag. Hiermit ist ein philosophisches Denken ingang gesetzt worden, das durch mannigfaltige, wechselnde Annahmen, Hypothesen bezüglich desselben Urstoffproblemes bis auf unsere Zeit fortlebt. Es wird natürlich nicht wundernehmen, daß die Nachfolger des Thaies innerhalb der Naturphilosophie bald andere Lösungen, andere Urstoffe entdeckten, als er. Einer meinte zum Beispiel, daß nicht das Wasser, sondern die Luft den Urstoff darstelle; wiederum Einer dachte, er müsse eine Art feurigen Stoffes sein. Das griechische Denken auf dem Gebiete der äußeren Natur entwickelte sich übrigens in dieser und der späteren Zeit nach zwei neben einander laufenden Richtungen. Auf der einen Seite bauten die Griechen das praktische Wissen, das sie als Erbe von den Ägyptern und Babyloniern übernommen hatten, zu einer Reihe von Fachwissenschaften: Mathematik, Astronomie und Physik (Pythagoras, Euklid, Archimedes usw.) aus. Auf der anderen Seite aber lief parallel damit ein abstraktes, naturphilosophisches Denken über das innere Wesen der Welt. Neben dem obenerwähnten Streit über die Art des Urstoffes entstand ein Zwist, inwieweit das innerste Wesen der Welt unveränderlich oder aber einer ständigen Wandlung unterworfen sei. Eine Richtung behauptete, daß die Welt, alles Lebende, eine Einheit darstelle und ewig unveränderlich sei und daß die Mannigfaltigkeit der äußeren Welt und alle ihre Wandlungen lediglich einen Schein seien (die eleatische Schule). Eine andere philosophische Lehre meinte dagegen, Alles sei in unaufhörlicher Wandlung, in ständiger Bewe-
29 gung, in stetem W e r d e n , und alles Bleibende .alles konstante Sein eine Illusion ( H e r a k l i t ) . E n d l i c h entstand a u c h eine Richtung, die zwischen diesen A u f f a s s u n g e n zu vermitteln suchte, i n d e m sie behauptete, d a ß der Urstoff a u s zahlreichen kleinen E l e m e n t e n — Atomen — bestehe und d a ß diese ewig, unveränderlich u n d unteilbar, d a ß es v i e l m e h r j e n e Mischungen und V e r b i n d u n g e n seien, die diese A t o m e mit einander bilden, die alle W a n d l u n g verursachen und alle die vielfältigen, verschiedenen Gegenstände hervorbringen, die unsere Sinne w a h r n e h m e n . D a s A t o m sei ein letztes Element, das sich mit anderen vermischt und v e r b u n d e n werde, selbst aber keine Mischung darstelle ( D e m o k r i t ) . Diese ständigen Streitigkeiten u m das innerste W e s e n der W e l t , u m die A r t des U r s t o f f e s , ob die W e l t ewig u n v e r ä n d e r l i c h oder aber in ständiger B e w e g u n g sei, m u ß t e n schließlich m ü ß i g v o r k o m m e n , weil keine der streitenden A u f f a s s u n g e n irgend w e l c h e n w i r k l i c h e n Beweis f ü r ihre Richtigkeit a n f ü h r e n k o n n t e ; sie w a r e n ohne A u s n a h m e bloß A n n a h m e n , reine V e r m u t u n g e n , letzten E n d e s rein subj e k t i v e Ansichten. Deshalb begann m a n allmählich d a r a n zu zweifeln, d a ß es überhaupt m ö g l i c h sei, das W e s e n der W e l t , die innerste B e s c h a f f e n h e i t der Natur zu ergründen. E s entsteht eine kritische Geistesrichtung, die Alles in S u b j e k t i v i s m u s a u f l ö s t : w a s f ü r m i c h w a h r sei, sei es nicht f ü r d i c h ; es gebe überhaupt keine objektive, keine f ü r alle gültige W a h r h e i t . W a h r sei, w a s m i r in j e d e m gegebenen A u g e n b l i c k w a h r scheine. Mehrere Philosophen dieser R i c h t u n g bezweifelten a u c h die Richtigkeit der sinnlichen W a h r n e h m u n g ; sie verneinten die Existenz einer äußeren W e l t . Der Mensch w u r d e der M a ß s t a b aller Dinge. Diese A u f f a s s u n g m u ß t e aber a u c h in rein menschlichem Sinne Konsequenzen m i t sich f ü h r e n . Jedenfalls w u r d e der E g o i s m u s f ü r viele dieser Philosophen (der Sophisten) die einzige R i c h t s c h n u r des Handelns. W e n n m a n die bedeutenderen unter den Sophisten ganz gerecht beurteilen will, m u ß m a n j e d o c h einräumen, d a ß ihr Negativismus rein e r k e n n t n i s m ä ß i g berechtigt w a r , w e n n m a n ihn in Relation zur philosophischen Spekulation betrachtet, die diesen D e n k e r n vorausging. A u f diesem Hintergrund von Streitigkeiten z w i s c h e n grundverschiedenen W e l t a u f f a s s u n g e n , von allgemeinen Z w e i f e l n mit B e z u g
Das griechische Wort atomos, aus dem unser Wort Atom gebildet ist, bedeutet »unteilbar«.
30 auf jede Wahrheitserkenntnis und von Auflösung entstand Sokrates. Er war insoweit mit den Sophisten einig, als er erkannte, daß er vom innersten Wesen der Natur, von der äußeren Welt überhaupt nichts wüßte. Die diesbezüglichen Streitigkeiten interessierten ihn nicht. Es gab indessen eine Erkenntnis, die er als die größte und wichtigste betrachtete, ja, als die einzige für den Menschen notwendige ansah: sich selbst zu erkennen. Er erklärte, daß er nichts von der Naturerkenntnis, weder in ihrer Ganzheit noch in ihren Einzelheiten, verstünde. Er sagte überhaupt von jeder anderen Erkenntnis als der Selbsterkenntnis: »Ich vermag noch nicht, was die Inschrift in Delphi fordert: mich selbst zu erkennen, und es scheint mir, so lange man in dieser Beziehung unwissend ist, lächerlich zu sein, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen.« In der Selbsterkenntnis glaubte Sokrates ein sicheres Wissen zu finden, nämlich von dem für die Menschen in diesem Leben Wichtigsten: vom Wege zur Glückseligkeit. Im Gegensatz zur Naturerkenntnis könnte die Selbsterkenntnis zu einem sicheren Wissen führen, das die Naturerkenntnis nie geben könnte, und sogar zu einem Wissen über Etwas, das für den Menschen wertvoller wäre als die Themen, mit denen die Naturerkenntnis sich beschäftigte, nämlich über das einzig Notwendige, die Glückseligkeit des Menschen (eudaimoneia). Alle streben danach, glücklich zu werden. Alle haben es folglich nötig den Weg zu kennen, der zu diesem Ziele führt. In dieser Kenntnis, in diesem Wissen vom Wege zum Glück liegt laut Sokrates alle wahre Tüchtigkeit, alle Tugend, alle Moral verborgen. Es ist die Grundbetrachtung von Sokrates, daß Tugend und Tüchtigkeit Wissen sei, daß alles unrichtige, unethische Handeln auf fehlender Einsicht beruhe, also auf mangelhaftes Wissen von der Art, wie das Ziel des menschlichen Willens, das Glück, verwirklicht werden könne, daß also niemand freiwillig Fehler begehe, niemand mit Absicht Böses tue. Wenn diese Grundbetrachtung von Sokrates richtig ist, daß alle Tugend und jede Tüchtigkeit auf Wissen beruhe, dann wäre damit die stärkste wissenschaftliche Begründung der Moral gegeben. Denn keine Begründung könnte stärker sein als diejenige, die zeigt, daß die Moral selbst eine Wissenschaft sei. Wie ist Sokrates nun zu dem Ergebnis gekommen, daß die Moral tatsächlich ein Wissen sei? Die griechische Stadtgemeinschaft hatte zu jener Zeit einen hohen
31 Stand mit Bezug auf die Kultur des Handwerkes erreicht und dasselbe galt jedem technischen Können durch Umbildung der Stoffe zu praktischen Zwecken, vor Allem zur Errichtung von Gebäuden mit ihren zahlreichen verschiedenen Einrichtungen, zur Anordnung von Marktplätzen und zum Bau von Straßen, von Mauern um die Städte, von Wasserleitungen, von Schiffen, von Wagen etc. Die Griechen verstanden es, alle technischen Erfahrungen, die die Ägypter, die Babylonier und andere Völker gemacht hatten, geschickt auszunutzen, sie zu kombinieren, und auf dieser Grundlage erzielten sie bedeutende, technische Fortschritte. Alle diesen technischen Arbeiten erforderten ein bedeutendes fachliches Können, große Tüchtigkeit in der Berechnung vom Verhältnis zwischen Zweck und Mitteln. Dasselbe galt den anderen Leistungsgebieten oder Künsten, die in einer hochentwikkelten Stadtgemeinschaft, wie der griechischen, auch innerhalb der freien Gewerbe — von der Bildhauer- und Malerkunst bis zur Heilkunde — entstanden, überall wurde in immer steigendem Maße technische und fachliche Fähigkeit und Einsicht erforderlich. Das griechische Wort, das man später von der moralischen Tugend verwendete — Arete — bedeutete in der homerischen Zeit Tapferkeit, Kraft und Schnelligkeit, also die für die kriegerische Tätigkeit unentbehrliche Tüchtigkeit, bezeichnete aber dann später jedes fachliches Können innerhalb der rein praktischen Gewerbe und erst viel später erlangte es die Bedeutung einer generellen Eigenschaft: der Tugend. Eine so tiefveranlagte und nachdenkliche Natur wie Sokrates mußte es in Staunen setzen und in tiefster Weise beeindrucken, daß man in allen Handwerkszweigen und Künsten, deren hohe Technik in den griechischen Städten so schöne Erzeugnisse geschaffen hatte, nach immer höherem Können und tieferer Einsicht in das Verhältnis zwischen dem Zweck und den Mitteln strebte, daß man aber innerhalb des höchsten menschlichen Anliegens, unseres Glücks oder unserer Wohlfahrt, kein entsprechendes Streben nach Einsicht oder Können finden könnte. Auf allen anderen Gebieten war man darüber klar, daß man nichts ohne fachliche Einsicht und Tüchtigkeit erreichen könnte; aber auf dem Gebiete, das als das wichtigste von allen zu betrachten sei, ging Alles einfach aufs Geratewohl. Was Sokrates seine Mitmenschen lehren wollte, war also eine fachliche Einsicht in oder ein Wissen von den Wegen, die zum menschlichen Glück, zur Wohlfahrt, zum Gedeihen führte. Im Dialoge »Menon« von Piaton sagt Sokrates: »Alles, was die Seele unternimmt und
32 ständig ausübt, führt letzten Endes zum Glück, wenn die Einsicht sie leitet, aber zum Entgegengesetzten, wenn die Unvernunft die Macht hat. Wenn die Tugend also eine Eigenschaft der Seele ist, die notwendigerweise nützlich sein muß, dann muß sie Einsicht sein, weil Alles in der Seele an sich weder nützlich noch schädlich ist, aber nützlich oder schädlich wird, je nachdem es mit Einsicht oder Unvernunft verbunden wird. Von diesem Gesichtspunkt aus muß die Tugend eine Einsicht sein, weil sie nützlich ist.« Mit Bezug auf die Güter des Lebens: Gesundheit, Stärke, Schönheit, Reichtum und Ähnliches hebt Sokrates an derselben Stelle hervor, daß sie ausschließlich nützlich oder für uns heilsam werden, wenn wir sie richtig gebrauchen; aber diese richtige Verwendung könne uns nur das Wissen lehren, jenes Wissen oder jene Einsicht, die Tugend darstellt. Das rechte Wissen aber bestehe - wie er es in einem anderen Dialog von Piaton, »Protagoras«, betont — oft in der rechten Maßkunst oder Mäßigung, durch die man, indem man im gegebenen Augenblick eine kleine Unlust wählt, in der Zukunft ein größeres Glück erzielt, während umgekehrt diejenigen, die im Augenblick ihren Gelüsten unterliegen, ein kleineres Gut gewinnen, ohne zu wissen oder ohne daran zu denken, welch' große Folgen ihre Handlung in der Zukunft mit sich führen würde. Das individuelle Leben des Einzelnen ist der Ausgangspunkt der sokratischen Moralbegründung und auch ihr erstes Gebiet, doch wird genau dieselbe Begründung und Wertung verwendet, wenn wir die Zustände oder die Institutionen der Gesellschaft betrachten. Wie Sokrates untersucht, ob eine individuelle Eigenschaft, ein sogenanntes Gut, eine Handlungsweise des Einzelnen diesem vorteilhaft oder schädlich sei, genau so prüft er ebenfalls, ob die verschiedenen Staatseinrichtungen den Menschen nützlich seien oder nicht, und dabei unterwirft er die verschiedenen Einrichtungen des demokratischen Regimes der Stadt Athen oft einer scharfen Kritik, da er der Ansicht war, daß man auf diesem Gebiet jenen Anspruch auf ein besonderes Wissen, auf eine besondere Einsicht, die man sonst in allen fachlichen Gewerben und Tätigkeiten als notwendig erachtete, außer Acht ließe. Die Förderung der menschlichen Wohlfahrt wurde damit auch die wichtigste Richtschnur für alle staatlichen und überhaupt für alle gesellschaftlichen Einrichtungen. Gemeinsame menschliche Wohlfahrt und die Eignung und die Zweckmäßigkeit, diese zu fördern, wurden zum entscheidenden Maßstab für den Wert jeder sozialen Handlungsweise und jeder derartigen Einrichtung. Von die-
33 sem Gesichtspunkt aus erkannte Sokrates keine Staatseinrichtung als autoritär an sich an. Er beugte sich vor keiner staatlichen Einrichtung, weil sie sich allein auf die durch ererbte Traditionen erworbene Autorität stützte. Er erkannte nur eine Staatseinrichtung an, nämlich diejenige, deren Nutzen oder Vorteil, d. h. deren Eignung das menschliche Glück zu fördern, bewiesen werden könnte. Da versteht man freilich auch, weshalb Sokrates allmählich als der große Aufrührer betrachtet wurde, der das Vertrauen auf die ererbten Staatseinrichtungen, und zwar sogar auf die demokratischen Institutionen erschütterte und untergrub und — indem er sie der obenerwähnten Kritik und Prüfung unterwarf — die Jugend verdarb und selbst dem Staate gefährlich wurde. Gegen diese Grundauffassung des Sokrates: daß Tugend Wissen sei, daß man nur aus Unwissenheit moralisch unrichtig handeln könne, daß niemand mit Absicht das Böse tue, hat das Denken späterer Zeiten Einspruch erhoben. Gewiß muß es auch erkannt werden, daß man ein genaues Wissen, eine klare Vorstellung von einer Tugend, wie z. B. der Selbstbeherrschung, haben kann, ohne diese Charaktereigenschaft selbst zu besitzen. Dennoch dürfte die Betrachtung von Sokrates einen gewissen Kern der Wahrheit enthalten. Der Frage nach Rechtschaffenheit im praktischen Leben gegenüber wird es sich ja oft zeigen, daß unklares Denken und verworrene, moralische Begriffe oft innig zusammengehören, und was die Frage nach der Beherrschung einer Leidenschaft betrifft, wird derjenige, der einer solchen nachgibt, im Augenblick der Handlung oder bereits vorher für sich selbst eine Reihe von Argumenten mobilisiert haben, die seiner Ansicht nach die Argumente gegen das Nachgeben der Leidenschaft gegenüber zu überwiegen schienen. — Nach Sokrates kam ja auch ein Anderer, der von denen, die ihn schädigten und töteten, aus seiner tiefen Einsicht in das Leben sagte: »Sie wissen nicht, was sie tun!« Richtig ist es aber, daß die Grundbetrachtung des Sokrates, daß man nur aus Unwissenheit unmoralisch handele, kaum aufrechtzuerhalten ist. Wichtiger ist es indessen, daß einige der wesentlichen Eigenschaften auf dem moralischen Gebiete nicht in erster Reihe auf Vernunft, sondern auf Gefühl beruhen. Wie ich später zu zeigen versuchen werde, steht die rein intellektuelle Fähigkeit selbst: die schädlichen Folgen seiner Handlung für die Mitmenschen vorauszusehen oder im Voraus zu berechnen, rein psychologisch in inniger Verbindung, ja in direktem Verhältnis zur Stärke des Gefühls, das 3
Erkenntnis und Wertung
34 man für diejenigen hegt, welche die Handlung eventuell schädigen könnte. Wenn Sokrates' Versuch, die Moral als Wissen zu begründen nicht gelang, hat sein Scheitern aber eine noch tiefere Ursache. Die hat man in der Ethik jedoch noch nicht erkannt. So weit ich zu sehen vermag, liegt die tiefere Schwierigkeit für Sokrates' Auffassung darin, daß er das W o r t : Wissen in einem besonderen Sinne auffaßt, und daß er — bevor er die Moral oder die Tugend als Wissen definierte — überhaupt nicht erörtert hat, was er mit dem Begriff Wissen meinte und auch nicht untersucht hat, ob das Wort in verschiedenen Bedeutungen aufgefaßt werden könnte. Sokrates pflegte j a in seinen Gesprächen ein besonderes Gewicht darauf zu legen, daß man genau wüßte, wovon man bei einer Diskussion sprach, um allmählich klare Definitionen derjenigen Begriffe zu erreichen, die hinter den Worten verborgen lagen. So wäre es zum Beispiel ganz im Sinne von Sokrates gewesen, wenn einer seiner Zuhörer ihm die folgende Frage gestellt hätte: »Sag' mir nun einmal, o Sokrates, wenn du sagst, daß Tugend Wissen sei — was meinst du dann eigenlich mit diesem letzten Wort? Faßt du hier das Wort Wissen im selben Sinne auf, in dem wir es z. B. in der Mathematik, in der Physik, in der Naturwissenschaft überhaupt verwenden — oder denkst du vielleicht etwas ganz Besonderes dabei?« Wenn jemand dem Sokrates diese Frage gestellt hätte, wäre er vielleicht infolge seiner gründlichen Natur genötigt worden, sich zunächst ein bißchen mit jener Naturwissenschaft zu beschäftigen, für die er sich sonst nicht interessierte, denn dann hätte er erkannt, daß kein Teil des menschlichen Wissens sich von den anderen Teilen als weniger bedeutungsvoll ausscheiden lasse, daß also alles menschliche Wissen oder alle menschliche Wissenschaft innig zusammenhänge und daß lediglich ein Überblick über die für alle Wissenschaften gemeinsamen Grundbegriffe und eine Untersuchung derselben Klarheit über die tiefsten Probleme des Menschenlebens bringen könnten. Zu diesen Grundbegriffen aller Wissenschaft gehört selbstverständlich der Begriff des Wissens selbst, nämlich was dieses Wort eigentlich bedeutet, und was es heißt, etwas auszusagen: »denn« — so würde ein Zuhörer von Sokrates' eigener Methode aus sagen können — »Du kannst doch nicht erwarten, o Sokrates, daß du uns davon zu überzeugen vermagst, daß Tugend Wissen sei, bevor du uns zuerst erklärt hast, was Wissen tatsächlich i s t . . . « Und es ist an sich j a auch möglich, daß die Erwägungen des Sokrates und seine Beantwortung der an ihn gesteil-
35 ten Frage das Denken in ganz neue Bahnen gelenkt hätten, so daß wir von jener fundamentalen Unklarheit befreit worden wären, die alle späteren Denkrichtungen, die nach ihm aufgekommen sind, j a sogar jede spätere Ethik — sowohl die der Epikuräer und der Stoiker im Altertum als auch die des Utilitarismus und die Pflichtethik der neueren Zeit — kennzeichnet. Es gab indessen keinen solchen Zuhörer, der Sokrates eine entsprechende Frage stellte. Und wir können hinzufügen: es hat auch später niemanden gegeben, der diese Frage stellte. Diese wichtigste aller Fragen wurde vergessen. Alle spätere griechische Ethik schloß sich in gewissen Hauptpunkten dem Sokrates an, selbst wenn sie sehr oft unter sich uneinig war und sich in mehrere Schulen oder verschiedene Richtungen aufteilte. Der eine dieser Hauptpunkte ist der Ausgangsort der ethischen Erwägungen von Sokrates selbst, nämlich daß das menschliche Glück oder die menschliche Glückseligkeit das Ziel aller Morallehre sei. Darin sind alle seine Nachfolger einig. Die Uneinigkeit beginnt aber, wenn man danach angeben will, worin dieses Glück bestehe. In der Frage nach den Wegen, das wahre Glück zu erreichen, teilte die griechische Ethik sich in verschiedene Richtungen. Aber selbst auf diesem Gebiete gab es doch einen Punkt, wo sie alle einig waren und wo sie sich Sokrates anschlössen. Und zwar dreht es sich dabei um den alten, griechischen Gedanken, daß es eine gewisse Grenze oder ein gewisses Maß geben müsse, selbst den Gelüsten und dem Genuß gegenüber, daß — mit anderen Worten — das Maßlose oder Grenzenlose schädlich sei. Piaton bemüht sich — vor Allem in den späteren Dialogen — näher zu untersuchen, worin dies höchste Gut, das Lustgefühl oder das Glück, eigentlich bestehe. Von den Erfahrungen seines eigenen Lebens heraus kommt er zu dem Ergebnis, daß jenes, das wir Lust oder Lustgefühl nennen, verschiedene Sachen umfasse, daß man also eine Grenze zwischen schlechten und guten Gelüsten setzen müsse. Lustgefühle schönen Farben oder Gestalten gegenüber, beim Hören schöner Töne oder beim Einatmen schöner Düfte oder aber beim Erkennen reiner Lustempfindungen, die gar keine Unlust oder gar keinen Schmerz enthalten, gehören zu den guten Gelüsten. Aber das Maßlose oder Grenzenlose auf dem Gebiete der Genüsse und der Gelüste müsse vermieden werden. Die Seele müsse alle Kräfte harmonisch in sich vereinigen, ohne Übermaß nach irgend welcher Seite — die höchste Tugend sei deshalb die Tugend der maßvollen Gesinnung, die alle übertriebenen Neigungen bezwingt. 3*
36 Betrachtungen dieser Art liegen denn auch tatsächlich hinter der Behandlung der Probleme der Gesellschaft durch Piaton. In seinem Hauptwerke über die Führung der Gemeinschaft »Der Staat« (Politeia) hebt er hervor, daß im Staate alle individuellen Gelüste im strengen Zaum gehalten werden müssen. Es dürfe nicht so sein, daß jedermann sich erlaube zu tun, was ihm gerade einfällt, oder sich mit dem zu beschäftigen, was eben ihm gelüstet. Die Wirksamkeit der Gesellschaft sei auf einer Arbeitsteilung begründet, nach der jeder seine bestimmte Arbeit auszuführen habe, denn nur dadurch werden die einzelnen Bedürfnisse in harmonischer Weise zufriedengestellt. Der Staat sei folglich nicht — wie die Sophisten meinten — durch ein willkürliches übereinkommen der Einzelnen entstanden, sondern habe seine tiefliegende Grundlage im Bedürfnis der menschlichen Natur selbst, denn niemand könne allein existieren, jeder habe dagegen eine Menge von Sachen nötig, die nur die Gemeinsamkeit der Gesellschaft und die Arbeitsteilung ihm zu schaffen vermögen. Von dieser Arbeitsteilung folge aber, daß jeder die Arbeit ausführen müsse, die seiner Natur und seinen Fähigkeiten am besten entsprecht. Diejenige Tugend, die eine ganz besondere Bedeutung für die Gesellschaft habe, sei: die Gerechtigkeit. Nach Piaton besteht der Grundgedanke der Gerechtigkeit aber darin, daß jeder seine eigene Tätigkeit ausübe und daß niemand sich mit Sachen beschäftige, die ihn nicht angehen (Piaton, Politeia, Buch 2, 374 a—d ff), also: jeder tue das Seinige, diejenige Tätigkeit in der Gesellschaft, für die er besonders geeignet ist. Eine starke fachliche Ordnung und Führung des Staates werde eine Folge sein. Piaton nimmt damit eine scharfe Haltung gegen den Individualismus und die Demokratie seiner Zeit ein. Er huldigt einer autoritären Führung mit einer scharfen Staatskontrolle des Geisteslebens (sowohl der Dichtung als der Kunst), damit das Volk nicht durch schlechte geistige Einflüsse verdorben werde, und einer planökonomischen Organisierung des Erwerbslebens. In der Demokratie folge jeder seiner eigenen Neigung, in ungebundener Freiheit des Handelns und des Redens; im Staate wie innerhalb der Familie verschwinde dadurch jede Autorität. Und jeder bilde sich ein, der Führung des Staates kundig zu sein. Aber diese Führung stelle in der Tat eine Kunst dar, die nur die Tüchtigsten und Weisesten meistern. Wie jede andere fachliche Tätigkeit erfordere auch die Wirksamkeit des Staatsmannes eine besondere Sachkenntnis und eine sorgfältige Vorbereitung. Von den Herrschern eines Staates verlangt Piaton die weitest gehende, wissenschaftliche
37 Ausbildung und die gründlichste praktische Erfahrung. Er sagt: »Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Städten, sagte ich, oder die, die man heute Könige oder Machthaber nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn dies nicht in eines zusammenfällt: die Macht in der Stadt und die Philosophie, und alle die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder dem anderen streben, gewaltsam davon ausgeschlossen werden, so wird es, mein lieber Glaukon, mit dem Elend kein Ende haben, nicht für die Städte und auch nicht, meine ich, für das menschliche Geschlecht. Und eher wird auch die Staatsverfassung, die wir vorhin beschrieben haben, nicht — soweit das überhaupt möglich ist — verwirklicht werden noch das Licht der Sonne erblicken (Politeia, Buch 5, 473 b—e)«*). Deshalb habe die Ausbildung der Herrscher die allergrößte Bedeutung für die Grundlegung eines gesunden, staatlichen Lebens. Aber welterfahren wie Piaton j a war, meinte er durchaus nicht, daß die Philosophen nur kraft ihrer wissenschaftlichen Ausbildung regieren sollten. Nach ihrer Ausbildung in dieser Beziehung sollten sie durch vieljährige Arbeit draußen im praktischen Leben dieses und seine Bedürfnisse kennen lernen. (Vgl. Piaton, Politeia., D. übers, besonders S. 297, 308, 313, 335 ff., 337-396). Aristoteles setzt in seinen ethischen Untersuchungen den Gedankengang von Sokrates und Piaton voraus. Jede menschliche Tätigkeit habe als Ziel ein Gut zu erreichen. Aber welches Gut sei nun das höchste? Alle werden antworten: das Glück oder die Glückseligkeit. Aber worin besteht denn dies Glück? Nach Aristoteles besteht es in der Möglichkeit, die dem eigenen Wesen eigentümliche Tüchtigkeit, die Vollendung der eigenen Fähigkeit zu entwickeln. Da aber die dem Menschen eigene Fähigkeit oder Tüchtigkeit (im Gegensatz zum Tier) die Vernunft oder die geistige Tätigkeit sei, bestehe das Glück folglich in der vernunftmäßigen Wirksamkeit der Seele. Diese Grundgedanken hat Aristoteles in seinem Hauptwerk »Ethica Nikomachea« weiter entwickelt. Hier hebt er eingangs hervor, daß es unter den Menschen sehr verschiedene Meinungen darüber gebe, worin das Glück eigentlich bestehe. Für einige bestehe es im materiellen Genuß,
*) Die Zitate aus der Politeia Piatons sind der deutschen Ubersetzung von Rudolf Rufener: Piaton: Der Staat. Der Gerechte, Artemis Verlag, Zürich, 1950, entnommen. S. 294. Das folgende Zitat ebenfalls. - »D. übers«, weist auf die Seiten dieser Übersetzung hin.
38 anderen sei die Ehre das Glück, wieder Andere finden es im Reichtum. Aristoteles meint indessen, daß es möglich sei, eine allgemeingültige Form des Glücks zu finden, die all die bereits erwähnten Güter übertrifft. Er schließt seine Betrachtungen in dieser Weise ab: Jedem, der eine bestimmte fachliche Tätigkeit ausübt, z. B. einem Flötenspieler, einem Bildhauer oder jedem Meister überhaupt, dem ein Werk oder eine Handlung obliegt, beruht alles Gute und alles Wohlsein auf seinem Werk, auf einem Handeln, das für ihn etwas Besonderes ist. Und er frägt: »Sollte es nun wohl für Zimmermann und Schuster ein Werk und eine Hantierung geben, für den Menschen aber keine?« Es müsse also für den Menschen an sich eine Tätigkeit, ein Handeln da sein, das etwas für ihn als Menschen Besonderes darstelle und als das Seinige betrachtet werden könne. Und er sagt: »Was wäre das nun eigentlich? Das Leben hat er nämlich auch mit den Pflanzen gemeinsam, wie es scheint, wir suchen aber etwas ihm eigenes. Daher ist von der Nähr- und Wachstumskraft abzusehen. Das nächste wäre eine Wahrnehmungskraft, die er aber auch ersichtlich mit Pferd, Rind und jedem Tier gemein hat. Es bleibt nur die Betätigung des vernünftigen Seelentums, das zum einen Teil der Überlegung folgt, zum andern sich selber ausübt und d e n k t . . . « * ) . Als Aufgabe des Menschen als solchem bleibt ein Dasein, das zum vernunftbestimmten Handeln geeignet ist oder anders ausgedrückt: die Tätigkeit des Menschen ist ein mit Vernunft verbundenes, seelisches Wirken. Die besondere menschliche Fähigkeit ist somit nicht die des Körpers, sondern die der Seele. Das menschliche Glück besteht daher nach seiner Ansicht in einer seelischen Wirksamkeit in Tugend und Tüchtigkeit. Das Glück ist für ihn ein seelisches TätigSein. Aristoteles spricht diesen Gedanken sehr oft aus und gibt ihm wechselnden Ausdruck. An anderer Stelle sagt er beispielsweise: »Was nämlich früher gesagt wurde, das paßt auch jetzt: was jedem von Natur zugehörig ist, ist das Stärkste in ihm und auch das Lustvollste, für den Menschen also ein Leben in der Vernunft, wenn sie vor Allem den Menschen ausmacht. Dieses Leben ist also auch das glückseligste.« (Aristot. X, 7).
*) Die Zitate aus der Ethica Nikomachea sind der deutschen Übersetzung von Paul Gohlke: Aristoteles, Nikomachische Ethik, Verl. Ferdinand Schöningh, Paderborn, 1956, entnommen. Vgl. S. 28 und das spätere Zitat S. 282.
39 Die Ethik des Aristoteles hängt innig mit seiner Erkenntnislehre zusammen. In dem Problem der alten griechischen Naturphilosophie findet er den Weg, um zwischen dem, was man den Stoff, und jenem, das man die Gestalt, die Form der Dinge und der Wesen nennt, zu unterscheiden. Der Stoff ist in der Welt das Unwirksame, das Passive, die Gestalt oder Form das aktive und schöpferische Element, das infolge einer den Dingen und Wesen innewohnenden Tendenz dem Zweck nachstrebt, die jedem Einzelnen eigentümliche Vollkommenheit zu verwirklichen. Er bedient sich hier in der Tat einer Analogie aus der Tätigkeit des Menschen (z. B. das Gestalten des Steines, des Holzes oder eines anderen Stoffes dem Zweck nach in ein diesem entsprechendes vollkommenes, aber höheres Sein: ein Haus, ein Gerät, ein Schiff) auf die gesamte Natur und zwar sowohl auf die organische als auch auf die unorganische Welt. Und eben dadurch entsteht eine Einheit zwischen der Erkenntnislehre und der Ethik des Aristoteles, indem das menschliche Streben nach Glück, nach dem diesem Wesen eigentümlichen Gut, gleichzeitig ein Streben nach der für dieses Wesen vollkommenen Gestalt darstellt. Deshalb scheint ihm die Welt in Wirklichkeit eine ethische Welt zu sein, die überall von einem Streben von einer niedrigeren Entwickelungsstufe nach einer höheren bewegt wird. Aristoteles betont, daß es im Menschen außer der Vernunft auch Naturkräfte oder Triebe gebe, die gegen die Vernunft kämpfen. Wer diese Triebe beherrschen kann, wer vollkommene Selbstzucht besitzt, gehorcht der Vernunft in der Seele. Dabei kommt er wie Piaton auf den Gedanken des rechten Maßes oder des Maßhaltens und entwickelt damit seine Lehre, daß die Tugend in allen Lebensverhältnissen die rechte Mitte zwischen zwei gegensätzlichen Zuständen sei, die als Übertreibungen zu bewerten sind. Wer jeder Lust fröhne und sich keiner enthalte, werde zügellos, aber wer jeder Freude entfliehe, werde abgestumpft. Das Meiste im Leben werde durch ein Zu-viel oder Zu-wenig verdorben. Wie Piaton unterscheidet auch Aristoteles zwischen zwei verschiedenen Arten der Lustgefühle, von denen er die eine Art als wertvoller oder reiner denn die andere betrachtet, und genau wie sein Lehrer rechnet er das Lustgefühl oder die Freude an Farben, an Tönen, an allerlei Künsten und an der Tätigkeit des Denkens als das Wertvollste. Als Gegensatz hebt er hervor, daß während die Freuden durch Farben, Töne etc. dem Ohr, dem Auge, dem Geruchsinn und allgemeinen Berührungen entstammen, sind die Genüsse, die wir mit Tieren gemeinsam haben, sowie die-
40 jenigen, die unsere Selbstsucht betreffen — der Geschmack beim Essen und T r i n k e n und der Geschlechtstrieb — an lokal begrenzte Teile des Körpers geknüpft. Nicht jeder Genuß sei begehrenswert, die erstgenannten Freuden erheben sich aber nach der Ansicht des Aristoteles infolge ihrer Art und ihres Ursprunges über die anderen. In der Frage nach der F ü h r u n g der Gesellschaft ist Aristoteles — genau wie Sokrates und Piaton — den Auswüchsen der zu seiner Zeit herrschenden Demokratie gegenüber kritisch eingestellt. Im Gegensatz zu den Verhältnissen unter diesem Regime, wo es oft nur auf reinen Zufällen beruht, wer die Leitung haben werde, behauptet er, daß die F ü h r u n g des Staates wie jedes andere Gewerbe oder F a c h ein besonderes Wissen oder besondere Sachkenntnisse erfordere und daß nur derjenige Herrscher sein dürfe, der die größte Kenntnis innerhalb seines Gebietes und praktische E r f a h r u n g auf dem Gebiet der Gesellschaft besitze. A m höchsten stehe derjenige Staat, w o der Einzelne herrscht, wenn er hervorragende Tüchtigkeit besitzt. Im wirklichen Leben geschehe das aber nur sehr selten, große Stärke oder Fähigkeit zum Herrschen sei selten mit der höchsten Einsicht und Weisheit verknüpft. Deshalb verfalle die Alleinherrschaft oft und leicht in eine Tyrannei, die schlechteste aller Regierungsformen. In Ermangelung des besten Regimes, der Leitung eines einzelnen hervorragenden Herrschers sei deshalb die Aristokratie oder eine Staatslenkung durch wenige, besonders tüchtige und einsichtsvolle Männer die rechte Verfassung.
Die spätere griechische Philosophie konnte sich mit den genannten drei großen Denkern nicht messen. In dem Problem, worin das Glück bestehe, spaltete sich die spätere griechische Ethik in mehrere Richtungen, von denen zwei besonders zu nennen sind, da sie zwei verschiedenen Lebensbetrachtungen A u s d r u c k gaben, nämlich die epikureische und die stoische Schule. Epikur definiert die Philosophie als »eine Tätigkeit, die durch Erwägungen und Erörterungen das glückliche Leben zustande bringt«. Es ist ein populäres Mißverständnis, daß Epikur und seine Schule das Glück allein in den materiellen Genüssen sehen. Der Satz, daß die Lust oder das Glücksgefühl das einzige wahre Gut sei, ist f ü r Epikur nur der Ausgangspunkt, und er hält ihn für eine unmittelbar einleuchtende Tatsache, die keines besonderen Beweises bedarf. Das Streben nach Lust sei das eigentliche W e s e n des Men-
41 sehen, der Endzweck all seiner Handlungen. Alle Tugenden sind nur Mittel, dieses Gut, das größtmögliche Lustgefühl, zu erreichen. Epikur betont den Wert der körperlichen Genüsse, hält jedoch die seelischen Freuden für größer. Es ist ihm besonders daran gelegen, die Glückseligkeit auf weitere Sicht, für die Dauer des ganzen Lebens sicherzustellen. Deshalb sind Besonnenheit, Abwägung des auf die Dauer Vorteilhaften und Unvorteilhaften, Überblick und Selbstbeherrschung auch nach Epikur notwendige Elemente der rechten Lebenskunst. Es gilt, jede Unruhe, alle Störungen und Schmerzen zu vermeiden, es sei denn, daß der Schmerz eine Bedingung zur Erlangung eines noch größeren Lustgefühles oder Glücks sei. Ein ungestörtes Privatleben in Frieden und Glück, im ruhigen Genuß der Jedem angemessenen Güter hält Epikur für das höchste Ziel: man tue wohl daran, sich von den öffentlichen Angelegenheiten fernzuhalten. Der Staat ist ihm nur eine gegenseitige Versicherungsoder Schutzanstalt, seine Aufgabe sei es, den einzelnen Menschen durch seine strafenden Gesetze ein ruhiges und von Anderen ungestörtes Leben zu sichern, indem diejenigen, die auf irgend einer Weise störend oder schädigend in das friedliche und glückliche Dasein Anderer eingreifen wollen, durch das Gesetz davon abgeschreckt werden. Will man den Gegensatz zwischen der Ethik der epikureischen und der stoischen Schule in einzelnen Zügen kennen lernen, müßte man wohl hervorheben, daß der Ausgangspunkt des Denkens der Stoiker eine wesentlich pessimistischere Lebensbetrachtung ist als die der Epikureer; daß die Stoiker einen weit schärferen Blick für die möglichen Schmerzen und Qualen des menschlichen Lebens haben, als die andere Geistesrichtung, und daß es deshalb gelte, den Menschen dazu zu bringen, sich über diese Schmerzen zu erheben; dies sei aber nicht möglich, wenn man sie nicht gleichzeitig von ihrer Abhängigkeit von den Genüssen und Glücksformen befreie, die von den Meisten für die größten gehalten werden, die aber oft plötzlich in den Stürmen und unberechenbaren Wechselfällen des Erdenlebens untergehen. Die Stoiker hatten einen tiefen Einblick in das Leiden des Menschenlebens getan. Sie huldigten dem sokratischen Gedanken, daß Ethik Weisheit, Einsicht in das Leben sei, und ihr Ziel war dasselbe wie das der Epikureer: das menschliche Glück. Ihre Einsicht in das Leben zeigte ihnen aber, daß Illusionen und Irrtümer die Menschen blind in die Stürme der Leidenschaften hineinführen und sie in Schuld verstricken und daß alles Leben in Gemütsbewegungen
42 und Begierden Leiden bedeutet. Erstens erkannten die Stoiker, daß die menschlichen Triebe unberechenbare Möglichkeiten an Leiden und Schmerzen in sich bargen und daß die Menschen nur dann von den Leiden, die ihnen von dieser Seite her drohe, erlöst werden können, wenn sie lernen, sich von diesen zerrüttenden Kräften zu befreien oder aber sie zu bezwingen. Ferner haben die Stoiker aber mit eindringlicher Schärfe festgestellt, daß die Güter, die die Menschen gewöhnlich als Quellen zur Lust und zum Genuß betrachten — Reichtum, Gesundheit, Familie, Macht und Ähnliches — wie die Erfahrung zur Genüge zeigt, oft den größten Zufällen unterworfen und Katastrophen von Außen her ausgesetzt sind, die der Mensch selbst nicht beherrscht. Das Idealbild eines Weisen ist den Stoikern deshalb ein Mensch, der sich nicht nur von allen Leidenschaften befreit hat, sondern sich ebenfalls von den Gütern der äußeren Welt unabhängig zu machen vermochte. Er entgeht dem Leiden und gewinnt den inneren Frieden und das innere Glück. Aus dieser Lebenseinsicht folgt eine ausgeprägte Tendenz der Stoiker zur Askese, zu einem Abstandnehmen von dieser Welt und ihren äußeren Reizen, eine ähnliche Tendenz, wie wir sie bei anderen, gleichzeitigen und späteren Geistesrichtungen antreffen — wie beispielsweise in der indischen Philosophie und Religion, namentlich im Buddhismus und im frühen und mittelalterlichen Christentum. Bei diesen finden wir den gemeinsamen Zug: ein Abstandnehmen, ein Sich-erheben über diese Welt und ihre Güter, eine Verneinung der Begierden und Triebe des Lebens, und zwar von der Erkenntnis heraus, daß eine Bindung des Lebens an diese Güter und Neigungen früher oder später ins Unglück führen müsse. Diese Lebensferne kann zur Lebensverneinung führen, wie es im Buddhismus der Fall ist, der das Leid, das mit allem Menschenleben mit all seinen Gütern, Begierden und Katastrophen verbunden ist, so intensiv empfunden hat, daß er in der vollkommenen Auslöschung des menschlichen Lebens im gewöhnlichen Sinne das höchste Ziel erkennt. Die Stoiker dagegen hatten den Glauben an ein gewisses Glück nicht aufgegeben; sie glaubten an eine, die ganze Natur beherrschende Weltvernunft, der jeder einzelne Mensch seine Vernunft unterzustellen hatte, eine höhere Weltordnung, Gott. Sie hatten die Hoffnung auch nicht aufgegeben, eine gewisse Verbesserung der menschlichen Gesellschaft zu erreichen. Etliche Stoiker nahmen, hauptsächlich als Staatsmänner und Gesetzgeber, am praktischen Leben teil und erreichten oft einen nutzbringenden Einfluß auf die Richtung der
43 Gesetzgebung; sie waren aber darüber klar, welches Schicksal sie auf dem Schauplatz dieser äußeren Welt gewärtig sein könnten. Sie trachteten deshalb danach, sich von den Geschehnissen und dem äußern Lauf der Welt unabhängig zu machen und die höchste Befriedigung in ihrem Inneren zu suchen. Auch wenn sie von den Machthabern der Welt in öde Gegenden verbannt wurden, wenn sie fern von Familie, Reichtum und Macht waren, wollten sie doch behaupten, daß sie alles Ihrige mit sich führten (omnia mecum porto). Sie glaubten, sich durch die Beherrschung des Gemütes und durch Unterwerfung unter der Weltordnung über alle Schicksalsschläge und Wechselfälle erheben zu können: Reichtum und Armut, Gesundheit und Krankheit, Ehre und Schande, Leben und Tod. Die griechische Ethik, sowohl die der drei großen Denker — Sokrates, Aristoteles und Plato — als auch der folgenden Richtungen, wie die Epikureer und die Stoiker, haben, wie ich oben zu zeigen versuchte, gewisse Seiten des ethischen Problems erhellt, und ihr Denken zeugt von einer tiefen Einsicht in die Verhältnisse des Menschenlebens. Eine wissenschaftliche Begründung der moralischen Werte, der Moral und des Rechts, vermochten sie aber nicht zu geben. Denn sollte ein solcher Beweis geliefert werden, hätten sie — wie ich in meiner Darstellung der Lehre des Sokrates darzutun suchte — eine Untersuchung des Begriffes Wissen durchführen müssen, da die meisten unter ihnen ja auch die Behauptung aufstellten, daß Moral und Recht Wissen oder Vernunft seien. Man versteht deshalb, daß sich die Ethik in verschiedene Richtungen spaltete, die unter sich weit verschiedene, sittliche Ideale oder Werte hochhielten, denn einen objektiv-wissenschaftlichen Maßstab für die verschiedenen Werte und damit eine feste Richtlinie für das menschliche Leben für die Führung und Entwickelung von Moral und Recht, hatten diese Richtungen nicht aufzeigen können. Deshalb ist es auch ganz natürlich, daß im Anschluß an die großen ethischen Denker und parallel mit den späteren entgegengesetzten Systemen eine Geistesrichtung entstehen konnte, die sich — des Streites zwischen den verschiedenen Auffassungen müde — allen moralischen Werten gegenüber zweifelnd stellte, nämlich der Skeptizismus. Die Skeptiker behaupteten, daß eine objektive Erkenntnis der äußeren Dinge unmöglich sei, da jede Sinneswahrnehmung auf subjektiven, ständig veränderlichen Eindrücken beruhe, und eine Begründung der sittlichen Werte also gleichfalls unmöglich, da auch diesem Gebiete
44 das Subjekt der einzige Maßstab sei, wie auch dessen individuelle Gefühle die Quelle aller Werte seien. So lösten die Skeptiker alle Wertbegriffe auf und behaupteten die Nichtigkeit und Gleichgültigkeit jedes allgemein gültigen Maßstabes sowohl in der Naturerkenntnis als auch in der ethischen Wertung. Und fragte man sie, wie man denn nun sein Leben führen sollte, wenn es überhaupt keine richtungsweisende W e r t u n g gäbe, so verwiesen sie — wenn sie sich der Konsequenz überhaupt bewußt waren — auf die tatsächlich herrschenden Sitten und Gebräuche, die Rechtsgepflogenheit und das Gesetz des betreffenden Gebietes oder Landes. F ü r eine solche Handlungsweise aber konnten sie natürlich — von ihrem eigenen Ausgangspunkt aus — ebenso wenig wie für jede andere Handlungsweise oder W e r t u n g irgend eine Begründung geben. In dieser letzten Periode, in der sich das Denken des Altertums in verschiedene Richtungen mit entgegengesetzten ethischen Idealen oder in Skepsis allen sittlichen W e r t e n gegenüber auflöste, setzte nun eine andere neue geistige Macht ein, eine Religion, mit der positivsten Behauptung der höchsten ethischen Ideale. Diese neue Religion, das Christentum, das allmählich die meisten Geister ergriff und die Macht in der Gesellschaft übernahm, leistete natürlich keinen wissenschaftlichen Beweis f ü r die sittlichen Ideale. Stattdessen brachte es einen unverrückbaren Glauben an diese W e r t e und das sogar in der Form unbedingtester Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung. Mit der Kirche als der einzigen geistigen Macht des Mittelalters wurde alles Denken wie auch alle Kunst und Dichtung dem Glauben unterstellt und in seinen Dienst genommen. Die freie, wissenschaftliche Untersuchung, die in intellektueller A u f l ö s u n g und in Zweifel geendet war, mußte deshalb dieser neuen, siegreichen geistigen Macht gegenüber das folgende Jahrhundert hindurch schweigen. Solch große Perioden geistiger Einheit, Geschlossenheit und unerschütterlichen Glaubens, wie sie das christliche Mittelalter darstellt, haben etwas Erhabenes an sich und besitzen eine eigene Anziehungsk r a f t auf die Gemüter. Goethe sagt mit Recht: »Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar f ü r Mit- und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher F o r m es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheinglanze prahlen sollte, verschwinden vor
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der Nachwelt, weil sich Niemand gerne mit Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälen mag.« Die Erfahrung zeigt aber, daß in der Entw i c k l u n g der Menschheit neben der geistigen Macht, die die Religion darstellt, eine zweite geistige Macht immer mehr zur Geltung kommt, nämlich die Wissenschaft. Auch wenn sie seitweise beiseite gedrängt wird, so wird sie doch früher oder später immer wieder auftauchen und ihre ewige Frage stellen: Warum? Niemals wird der Mensch davon ablassen, zu suchen und Begründung zu verlangen. Das gilt sowohl unserem Weltbild gegenüber als auch der Richtschnur unseres persönlichen Lebens. Hier schwieg die Wissenschaft tausend Jahre. Schließlich aber zeigte sie sich wieder. Die Wiedergeburt der Wissenschaft ist ein wichtiges Glied in der gesamten Zeit, die wir die Renaissance nennen. In dieser Periode geschah nicht nur dies, daß die griechische und römische Literatur, sowohl die wissenschaftliche als auch die poetische, und ebenso die antike Kunst, zu neuem Leben geboren und in Europa allgemein bekannt und gepflegt wurden. Indem das geistige Leben Europas auf diese Weise wiederum die Verbindung mit der Kultur des Altertums herstellte, errichtete man gleichzeitig auf dieser Grundlage und auf den damit verbundenen neuen Erfahrungen ein neues Weltbild, eine neue Naturwissenschaft und eine neue Technik. Natürlich gab es auch im christlichen Mittelalter ein gewisses methodisches Denken; dies ging jedoch im Wesentlichen darauf aus, die Dogmen des christlichen Glaubens mit Aristoteles in Einklang zu bringen. Innerhalb dieses engen Gesichtskreises wurde ein bedeutendes, umfassendes und scharfsinniges Denken, das scholastische, ausgebildet, dessen vornehmster Vertreter Thomas von Aquino ist. Aber schon im fünfzehnten und Anfang des sechzehnten Jahrhunderts beginnen mehrere Denker, wie Cusanus und Pomponazzi, mit dem scholastischen Denken zu brechen, das sich damals hauptsächlich mit Kommentaren und Auslegungen der Bibel und der Werke des Aristoteles abgab, während die obengenannten Denker sich gleichzeitig der Natur zuwandten und mit anderen Philosophen des Altertums Fühlung nahmen. Der Übergang vom christlichen Mittelalter zur Wiedergeburt der Wissenschaft in der Renaissance geschieht stufenweise. Die ersten Impulse zu einer Erneuerung des europäischen Geisteslebens kamen teils von den Arabern, teils von den Griechen aus dem immer mehr dahinsiechenden, byzantinischen Reich. Als das arabische Reich im siebenten und achten Jahrhundert aufgebaut wurde und sich auf
46 dem Höhepunkt seiner Macht von Persien bis nach Spanien erstreckte, entstanden dank des lebhaften Verkehrs zwischen den einzelnen Teilen dieses mächtigen Reiches nicht nur ein Welthandel und eine beträchtliche materielle Kultur, die auf das mittelalterliche Europa kräftig einwirkte, sondern es entwickelte sich allmählich auch eine arabische Geisteskultur und innerhalb dieser eine Wissenschaft, die ebenfalls große Bedeutung für Europa erhielt. Durch die Berührungen des arabischen Weltreiches mit Griechenland unter dem byzantinischen Kaisertum stifteten die Araber schon im neunten Jahrhundert Bekanntschaft mit der wissenschaftlichen Literatur des griechischen Altertums, vor Allem mit ihrer Mathematik, Astronomie und Physik, und trugen auf dieser Grundlage zu deren Weiterentwickelung bei. Von den arabischen Universitäten, die den neuen Völkern des Westens am nächsten lagen, besonders von der Universität zu Cordoba in Spanien, ging schon im zehnten und elften Jahrhundert, vor Allem auf dem Gebiete der Naturwissenschaft, der Mathematik und der Heilkunde, ein starker wissenschaftlicher Einfluß auf das christliche Europa aus. Aber auch technisch wurden die Araber durch den Handel ihres ausgedehnten Weltreiches Vermittler und Förderer des Fortschrittes, unter anderem auf dem Gebiete des Bauhandwerkes. So sollen sie durch ihren Handel mit Ostasien in China den Kompaß kennengelernt und bereits im neunten Jahrhundert verwendet haben; im zwölften Jahrhundert machte auch die europäische Seefahrt davon Gebrauch und wagte sich nun mit größerer Kühnheit auf die Weltmeere hinaus. Die praktische Anwendung der Astronomie durch die Araber wirkte in gleicher Richtung. Von hier geht eine direkte Ursachenverbindung zu der großen Besegelung des Weltmeeres, die 1492 zu der Entdeckung Amerikas führte. Der geistige Horizont Europas wurde hierdurch erweitert, während gleichzeitig der Handel mit den neuentdeckten Erdteilen Europa einen ständig wachsenden materiellen Aufschwung brachte. Diese Erweiterung des Horizontes ist einer der wichtigsten Wesenszüge des Zeitalters, das wir die Renaissance nennen, und sie ermutigte zu noch kühnerer Forschung und zu immer größerem überblick über die Natur; schon im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert hatten die westeuropäischen Völker ihre Lehrmeister, die Griechen und die Araber, beträchtlich überflügelt. In dieser Zeit nämlich schufen Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton das neue Weltbild, das die ptolemäische Anschauung, wonach die Erde den Mittelpunkt der Welt bildete - eine Anschau-
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ung, die das christliche Mittelalter übernommen hatte — mit einer Auffassung des Weltalls ersetzte, nach welcher unser Erdball Teil eines größeren Zusammenhanges wurde. Gleichzeitig mit dieser Einwirkung, die in dieser Weise schließlich zu einer neuen Naturwissenschaft und zu einem neuen Weltbild führte, kam Europa gegen Ende des Mittelalters in direkte Verbindung mit der Wissenschaft des Altertums, deren Einfluß zu einer Wiederaufnahme der Forschungen auch auf dem Gebiete der Soziologie und endlich zu einer neuen Aufstellung der ethischen Grundprobleme auf der Stufe führte, wo die Philosophie des Altertums sie hinterlassen hatte. Bereits im vierzehnten Jahrhundert — also lange vor dem Fall des byzantinischen Kaiserreiches und der Eroberung Konstantinopels (1453) — begannen die griechischen Gelehrten das griechische Reich, das immer noch durch die Angriffe der Türken bedroht wurde und dessen endlicher Fall befürchtet werden mußte, zu verlassen; so wurde die geistige Verbindung zwischen Griechenland und Italien, die seit dem sechsten Jahrhundert abgebrochen war, wiederhergestellt. Diese ausgewanderten Griechen förderten im hohen Maße das direkte Studium der griechischen Altertumsliteratur, indem sie einerseits große Sammlungen alter Handschriften dieser Literatur mit sich brachten und andererseits durch ihren Unterricht Begeisterung für diese Werke hervorriefen. Eine gewisse Kenntnis lateinischer und stellenweise auch gewisser griechischer Schriftsteller hatte sich wohl immer noch selbst im älteren Mittelalter, besonders in den Klöstern, erhalten; dieses Interesse und diese Kenntnis aber waren nur gering im Vergleich zu dem eingehenden Studium aller bewahrten griechischen und lateinischen Schriften, die sich durch die Unterweisung der griechischen Gelehrten über ganz Italien und von dort über das übrige Europa verbreitete. Hierdurch aber erhielt man nicht nur eine genaue Kenntnis der griechischen Naturwissenschaft und Mathematik — die man bisher im wesentlichen nur aus zweiter Hand, nämlich durch die arabische Wissenschaft, kennen gelernt hatte — also der Anschauungen von Pythagoras, Euklid und Archimedes — sondern auch der ethischen Auffassung eines Sokrates, eines Piaton und eines Aristoteles sowie der Lehre der Epikureer, der Stoiker und der Skeptiker. Wie die neue Naturwissenschaft, teils mittelbar durch die Araber, teils unmittelbar auf den Ergebnissen der Wissenschaft des griechischen Altertums weiterbauend, einen Hauptzug des Geisteslebens der
48 Renaissance darstellt, so muß es auch als ein Wesenszug dieses Geisteslebens angesehen werden, daß man nun — wie bereits erwähnt — mit einem Nachdenken über die ethischen Probleme, wie dem griechischen, Fühlung bekam, das auf rein menschlicher Grundlage eine natürliche Erklärung der ethischen Werte und, wenn möglich, eine wissenschaftliche Begründung derselben suchte. Sowohl naturwissenschaftlich als ethisch stand die neue Zeit im Widerspruch zu dem Autoritätsglauben der mittelalterlichen Kirche. Das neue Weltbild widersprach dem Weltbild der Kirche, die es, selbst unter Anwendung von Verfolgung bis ins sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert hinein festhielt; die Versuche einer rein menschlichen Begründung von Moral und Recht standen ja ebenfalls im Gegensatz zu dem Geist der mittelalterlichen Kirche, für die die Auffassung der Regeln der Moral und des Rechts als Gebote Gottes jede weitere Begründung überflüssig machen mußte. Schon zu einem frühen Zeitpunkt der Renaissance begegnen wir Denkern, die, mit der Philosophie des Piaton und des Aristoteles vollkommen vertraut, die Begründung der Ethik im Menschenleben selbst und ihre Unabhängigkeit von der Religion verfochten. Pomponazzi ist vermutlich der erste, der in neuerer Zeit für die Selbständigkeit der Ethik eingetreten ist. In einem Werk (über die Unsterblichkeit der Seele) vom Anfang des sechzehnten Jahrhunderts sucht er darzutun, daß die moralischen Gesetze unerschütterlich bestehen bleiben, unberührt von Allem, was man eventuell über das Schicksal der Seele nach dem Tode meinen möchte. Der Zweck dieser Gesetze sei im Leben selbst zu suchen; sie seien keine fremden und äußeren Gebote, die durch Hoffnung und Furcht durchgesetzt werden müssen, sondern selbständige Forderungen, die unserem eigenen Wesen entspringen. Lohn oder Strafe nach dem Tode seien also zur Aufrechterhaltung der moralischen Gesetze unnotwendig: sie sicherten ein Gut, das seinen Zweck und seinen Wert in sich selbst trüge. — Die jüngsterweckte eingehende Kenntnis der ethischen Grundgedanken von Sokrates, Piaton und anderen griechischen Schriftstellern riefen überhaupt eine starke geistige Bewegung hervor. Die natürliche Denkweise der Griechen wirkte auf die Logik und die kunstfertigen Gedankengebäude der mittelalterlichen Scholastik völlig auflösend. Die intellektuelle Bescheidenheit eines Sokrates und seine Skepsis einem absoluten Wissen von der Welt gegenüber, so wie seine Betonung der Selbsterkenntnis als der wichtigsten Erkenntnis übten auch auf diese Zeit eine starke Wirkung aus. Unter den Denkern dieser geistigen
49 Einstellung ist besonders Montaigne zu nennen. Er betont (in seinen Essays, die 1580 erschienen), daß eine jede äußere und übernatürliche Begründung der Moral überflüssig und schädlich sei; wirklich wertvoll sei nur diejenige Handlung, die nicht durch äußere Vorschriften bestimmt sei, sondern aus den inneren Normen hervorgehe, die wir in uns trügen. So müsse die Moral auch der Unterstützung seitens der Religion entraten, die ihre Gebote an Hoffnung und Furcht knüpfe. Indem Montaigne Sokrates anführte, hob er die Grenzen unserer Erkenntnis und das Relative darin hervor; er stellte sich skeptisch allen bestimmten, dogmatischen Vorstellungen von der Gottheit gegenüber; Gott werde von den verschiedenen Völkern unter sehr verschiedenen Formen und Gestalten verehrt. Montaigne, der in der Zeit der Religionskriege lebte, hatte also dieselbe Freiheit des Geistes wie sein Zeitgenosse, Frankreichs großer König, Heinrich IV. Die griechische Philosophie reizte indessen die denkenden Geister der Renaissance nicht nur zu einer Beschäftigung mit den Moralregeln, sondern führte sie auch dazu, eine natürliche Begründung der Gesellschaft, des Staates und der von diesem festgelegten Regeln, der Rechtsregeln, zu suchen. Namentlich die Untersuchungen Piatons und Aristoteles' über den Staat und den Grundbegriff der menschlichen Gesellschaft, die Gerechtigkeit, mußten das neue Geistesleben natürlich auch bald in Betrachtungen über die Gesellschaftsordnung und die Motive zu einer solchen hineinführen. Althusius, der Ende des sechzehnten und Anfang des siebzehnten Jahrhunderts lebte, hob hervor, daß die Ursache dazu, daß die Menschen erst in kleineren, später in größeren Gemeinschaften zusammenfanden, darin zu suchen sei, daß die einzelnen Menschen, solange sie isoliert in der Natur lebten, oft hilflos und in Bedrängnis waren und folglich der Stütze anderer Menschen bedurften. Um einander gegenseitig zu helfen, hätten sie deshalb in ältester Zeit durch eine ausdrückliche oder stillschweigende Übereinkunft die Gesellschaft gebildet und bestimmten Personen, der Obrigkeit, eine gewisse Gewalt innerhalb der Gesellschaft, die Leitung des Staates, übertragen. Doch ebenso wie das Bedürfnis des Volkes, die menschlichen Bedürfnisse, die Ursache zu diesem übereinkommen oder Vertrag zur Bildung der Gesellschaft und zur Errichtung der Regierungsgewalt gewesen seien, so sei und bleibe es auch die Aufgabe des Staates, das Wohl des Volkes zu fördern; und so gehe denn jede Regierungsgewalt vom Volke aus. Grotius entwickelte etwas später Anschauungen, die mit den hier angeführten des Althusius überein4
Erkenntnis und Wertung
50 stimmten. Die Gesellschaft, die Regierung und die Regierungsgewalt verdanken auch seiner Meinung nach ihre Entstehung einer Übereinkunft zwischen freien Menschen; durch den Zusammenschluß suchen diese Rechtssicherheit zu erreichen und überhaupt das gemeinsame Wohl zu fördern. Grotius betont die Unabhängigkeit der Rechtsregeln von der Religion; der Mensch sei mit einem natürlichen Geselligkeitstrieb ausgestattet; weiter betont er, daß nicht nur zwischen den einzelnen Individuen innerhalb der einzelnen Gesellschaften, des einzelnen Staates, sondern auch zwischen den verschiedenen Staaten untereinander sowohl im Kriege als auch im Frieden gewisse Rechtsregeln, eine gewisse Rechtsordnung, herrschen müssen; durch seine Hervorhebung und Entwickelung dieser Rechtsregeln (in seinem Hauptwerk 1625) wurde er der Begründer des Völkerrechts. Hobbes ist einig mit Althusius und Grotius bezüglich der Entstehung der Gesellschaft durch ein übereinkommen zwischen den Menschen zu ihrem gemeinsamen Wohl. Er ist aber pessimistischer in seiner Betrachtung der menschlichen Natur; er stimmt mit Grotius nicht darin überein, daß der Mensch einen ursprünglichen Drang zum Gemeinschaftsleben in sich habe. In verschiedenen Arbeiten (die um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts herum erschienen) erklärt er, daß unser Wissen über die Zustände unter wilden Völkerstämmen und über die europäischen Völker auf ihren ältesten, barbarischen Stufen auf nichts Anderes hinauslaufe, als daß es der ursprüngliche Drang des einzelnen Menschen sei, die meistmöglichen Güter der Natur und die größtmögliche Macht über Andere an sich zu raffen. In diesem Naturzustand stießen viele Einzelwillen im Kampf um diese Güter, im allgemeinen Raub zusammen. Aber die Menschen würden nach bitteren Erfahrungen entdecken, daß dieser Naturzustand, dieser Krieg Aller gegen Alle (bellum omnium contra omnes) ein so großes Übel darstelle, daß sie gemeinsame Mittel dagegen suchen müßten und daß sie weit größere Gewalt über die Güter der Natur erhielten, wenn sie mit einander in Gemeinschaft und Frieden lebten und wirkten. Die tiefste Ursache aller Moralund Rechtsregeln sei denn die Forderung, die der Selbsterhaltungstrieb diktiere: daß unter den Menschen Frieden herrschen müsse; aus diesem Bedürfnis nach Frieden entsprängen alle Tugenden und dieser sei durch eine starke Staatsmacht sicherzustellen. Die Autorität der Staatsmacht müsse unbedingt sein. Das Wohl des Volkes sei das höchste Ziel der Staatsmacht; die Gesellschaft und der Staat seien ja um des Volkes willen und nicht des Regenten wegen er-
51 richtet worden. Eine starke und absolute Regierungsgewalt sei aber im Interesse des Volkes, da sie den Frieden sichern könne. So wurde Hobbes der eigentliche Begründer der Alleinherrschaft; eben zu seiner Zeit setzte sich der Absolutismus in Frankreich und in einer Reihe anderer Staaten des Festlandes durch; eine Zeitlang sah es aus, als ob er auch in England den Sieg davontragen sollte. Aber an sich war es nicht das absolute Königstum, das Hobbes interessierte. Er erlebte sowohl die Stuarts als auch Cromwell, den unumschränkten Herrscher der Republik. Es wäre grundlos, Hobbes dahin zu verdächtigen, daß er sich auch bei diesem letzteren durch eine Verfechtung der absoluten Staatsform in jeder Weise einschmeicheln wollte. Was Hobbes mit seinem ängstlichen und nervösen Naturell fürchtete, war die Menge, die leicht zu Unruhen und Aufruhr zu verleiten war; zur Zügelung der unberechenbaren Masse und zur unbedingten Sicherung des Friedens im Staate hielt er eine starke, unumschränkte Herrschermacht für notwendig. Ob ein König oder der Leiter der Republik, Cromwell, diese starke Staatsmacht durchführte, müßte dem Zwecke nach eine untergeordnete Frage sein. Hobbes erlebte nicht den endlichen Fall der Stuarts und die Einführung der freien Verfassung unter Wilhelm III.; er starb einige Jahre vor der Revolution im Jahre 1688. Sein Nachfolger innerhalb der englischen Philosophie, John Locke, der vom Anbeginn ein Gegner des Absolutismus var, mußte während Hobbes' letzter Lebensjahre das Land verlassen und war unter den Landflüchtigen, die gemeinsam mit Wilhelm von Oranien diese Revolution vorbereiteten. Seine wissenschaftlichen Arbeiten über Gesellschaft und Regierungsmacht (1690) gestalteten sich deshalb ganz natürlich als eine Verteidigung dieser Revolution und der neuen freien Verfassung. Locke stimmt mit seinen Vorgängern, Althusius, Grotius und Hobbes, darin überein, daß die Gesellschaft durch eine freie Übereinkunft entstanden sei, die einen Naturzustand ablöst, und daß jede Regierungsmacht nur des Volkes wegen bestehe und die Aufgabe habe, diesem das größte Glück zu sichern. Zwar meint er nicht, daß Hobbes darin Recht habe, daß der Naturzustand ein Kriegszustand gewesen wäre, aber er erkennt, daß ein Naturzustand so große übel im Gefolge habe, daß nur eine feste Staatsordnung sie beseitigen könne. Indem er davon ausgeht, daß jede Gemeinschaft und jede Regierungsgewalt nur um des Volkes willen bestehe, erklärt er, daß allein der freiwillige Anschluß des Volkes jede gesetzmäßige Regierung begründe und berechtige. So müsse die freie Übereinkunft, 4*
52 die den Naturzustand ablöste, einer neuen Regierung gegenüber gewissermaßen immer wieder stillschweigend oder ausdrücklich durch Anschluß seitens der Mehrheit des Volkes erneuert werden. Und wenn eine Regierung, wie die der Stuarts, diesen Anschluß verliere und allgemein verhaßt werde, sei ihre Beseitigung durch das Volk berechtigt. Wilhelms Übernahme der Königsgewalt war seiner Ansicht nach eine ideelle Regelung, denn ein freies Volk übertrug ihm die Regierung gegen das Versprechen seinerseits, dessen Rechte zu respektieren. Die höchste Gewalt bleibe indessen beim Volke. Das zeige sich, wenn ein Konflikt zwischen der vollziehenden und der gesetzgebenden Gewalt (König gegen Parlament) entsteht — ein Zusammenstoß, bei dem das englische Volk ja unter den Stuarts besonders schmerzliche Erfahrungen gemacht hatte; denn ein derartiger Konflikt könne lediglich vom Volke entschieden werden. Die gesetzgebende Gewalt müsse die höchste Gewalt sein, und sie müsse von der richterlichen Gewalt und anderen Staatsfaktoren getrennt werden. Durch feste Gesetze und unabhängige Richter werden die bürgerlichen Rechte am besten gewährt. Locke meinte im übrigen, daß der Mensch von Natur gewisse Rechte habe, wie das Recht zur persönlichen Freiheit und das Eigentumsrecht; und dieser Rechte gehe er nicht verlustig, weil er einer Gesellschaft beitrete, sondern sie müssen ihm im Gegenteil durch diese Gesellschaft und deren Organe garantiert werden. Diese Rechte seien vor Willkür zu beschützen. So dürfe eine Regierung die Bürger nicht willkürlich des Eigentumsrechtes berauben; deshalb dürfen Steuern nicht ohne Zustimmung der Volksmehrheit erhoben werden. Wie das Eigentumsrecht, so müsse auch die persönliche Freiheit als ein Naturrecht den Bürgern zugesichert werden. Sklaverei in jeder Form sei naturwidrig. Diese Grundsätze Lockes lassen sich denn in Kürze folgendermaßen zusammenfassen: eine Regierung kann nur mit Anschluß der Volksmehrheit eingesetzt oder weitergeführt werden; die Gesetze und Gerichte haben die Bürger gegen Willkür seitens der vollziehenden Regierungsgewalt zu schützen; es gibt gewisse fundamentale, in der menschlichen Natur begründete Rechte wie in erster Linie die persönliche Freiheit und das Eigentumsrecht, die die Staatsgewalt besonders zu sichern hat. Diese Grundsätze übten den größten Einfluß auf die Denker und in der Folgezeit auf die Entwickelung von Gesellschaft und Staat aus. Sie beeinflußten vor allem die französischen Denker wie Montesquieu, Voltaire, und Rousseau, und durch
53 diese das ganze Geistesleben des übrigen Europa. Endlich aber setzte sich Lockes Rechts- und Staatslehre, nicht zuletzt durch die Werke der letztgenannten hervorragenden Autoren, bei der Umbildung der Staaten auch im Leben der Völker durch. Das Verfassungsleben Englands, der Kampf des englischen Volkes für die Verfassungsfreiheit und die bürgerlichen Rechte, die ihren klarsten Audruck in den Staats- und Rechtsidealen Lockes erhielten, wurden das Banner, unter dem sich die Völker gegen mittelalterliche Unterdrückung und menschenunwürdige Rechtszustände erhoben. Die natürlichen Grundrechte, die in der Folgezeit auch Menschenrechte genannt wurden, erhielten schon zu Lockes Zeit ihren praktischen Ausdruck in der declaration of rights, die die Einleitung und Grundlage der Regierung Wilhelms bildete (s.o. S. 2). Die nordamerikanische und die französische Revolution entstanden zunächst als ein Kampf für diese Menschenrechte und schrieben diese in die Verfassung der neuen Gemeinschaften ein. Doch das Ideal der Menschenrechte erhielt weit über diese Staaten hinaus eingreifende Bedeutung und schuf die Gesellschaft von Grund aus um. So wurde der Kampf der Bauern gegen die Leibeigenschaft und jeden unfreien Rechtszustand im Namen der Menschenrechte und durch diese zum Siege geführt. Ein innerer, ursächlicher Zusammenhang führt von Sokrates und seiner Begründung der Gesellschaft, der Moral und des Rechtes im menschlichen Glück über die Denker der Renaissance, die im Anschluß an diese Auffassung den Staat und seine Regierung durch den Zusammenschluß der Menschen zum menschlichen Wohl gerechtfertigt fanden, zu John Locke und den übrigen englischen Vorkämpfern für einen Anschluß der Regierung an das Volk und eine Sicherung der bürgerlichen Menschenrechte und zu den späteren Umbildungen von Staat und Gesellschaft im Namen der gleichen Ideale. Sokrates' kritische Prüfung aller Regeln und Einrichtungen von ihrer Bedeutung für das menschliche Glück aus, sein Aufruhr gegen alle ererbten, ungerechten Formen der Staatsleitung, riefen einen Geist ins Leben, der wohl lange Zeit hindurch bekämpft und mit Gewalt unterdrückt, aber nie ganz ausgerottet werden konnte. Wohl gab es Jahrhunderte, ja mehr als ein Jahrtausend, da eine sklavische Autoritätsanbetung wieder zur Macht kam, nämlich im Zeitalter des römischen Kaisertums und im Mittelalter. Als aber mit der Renaissance das freie Denken durch die erneute Fühlung mit der antiken Gedankenwelt auf freier menschlicher Grundlage wieder erwachte, erhob sich allmählich aufs neue, doch immer eindringlicher, die alte
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sokratische Frage nach der Nützlichkeit der ererbten Regeln und Staatseinrichtungen für das Wohl der Menschen oder des Volkes. Vor dieser Frage fielen nach und nach die überlieferten Staatssysteme, der erbliche Absolutismus, die Adels- und die Kirchenherrschaft und die Unfreiheit ganzer Bevölkerungsschichten. Aber die Prüfung war so tiefschürfend, der Widerstand so hart, daß ein Sieg oft erst durch Revolutionen errungen wurde. Überhaupt entstand im siebsehnten und achtzehnten Jahrhundert ein starkes Vertrauen darauf, daß die menschliche Vernunft dazu imstande sei, mit dem menschlichen Wohl als Endziel nicht nur die richtige Verfassung, sondern darüber hinaus ein ganzes System von natürlichen Rechtsregeln, zu erdenken, die unter den Gliedern der Gesellschaft zu gelten hätten, ein Naturrecht, welches, da es auf der unvergänglichen, menschlichen Natur und dem Gesellschaftsvertrag zum Glück der Menschheit aufgebaut wurde, universell, für alle Länder und Zeiten gültig sein sollte. Im Gegensatz dazu stand das in den verschiedenen Ländern geltende positive Recht, das oft — nicht zuletzt zu jener Zeit — eine planlose, zufällige Anhäufung verstreuter, gesetzlicher Bestimmungen und Rechtsgebräuche darstellte, die noch dazu in vielen Fällen veraltet waren und ihre Entstehung einem willkürlichen, nicht von der Vernunft diktierten Eingreifen verdankten. Aus diesem Grunde variierte das positive Recht beträchtlich von Land zu Land und von Zeit zu Zeit. Schon Aristoteles unterschied zwischen natürlichem Recht und positivem Recht und auch bei den römischen Juristen finden wir diese Scheidung ausgedrückt. Doch erst die Rechtsphilosophen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts gestalteten bewußt und systematisch ein Naturrecht auf der Grundlage der Übereinkunft oder des Gesellschaftsvertrages zum Wohle der Menschheit, das ihrer Auffassung nach der menschlichen Natur entsprang. Dieses Recht ist es, das Goethe in seinem »Faust« das »Recht, das mit uns geboren ist« nennt und das er als Ideal im Gegensatz zu dem in den Ländern geltenden, zufälligen, positiven Recht aufstellt, das zu lernen der Jugend ein Grauen ist, das sich wie eine ewige Krankheit forterbt und sich langsam von Geschlecht zu Geschlecht weiterschleppt. Diese Auffassung des Naturrechtes, der sich die meisten Rechtsphilosophen und Juristen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts anschlössen, ist für die Entwickelung des Rechts in den Kulturstaaten von größter Bedeutung gewesen. Nicht allein bahnten ihre bedeutenden Führer, wie gezeigt wurde, durchgreifenden Än-
55 derungen in den Verfassungen und sozialen Verhältnissen der Länder den W e g , sondern die führenden Philosophen und Juristen k ä m p f t e n auch f ü r durchgreifende Reformen auf einer Reihe besonderer Gebiete des Rechtslebens, sowohl innerhalb des Strafrechts als des Privatrechts. Einmal erklärten sie, daß die Regeln des Naturrechts überall da gültig seien, wo das positive Recht keine Regeln enthalte; ja, viele behaupteten sogar, daß das positive Recht, w o es mit dem Naturrecht in Widerspruch sei, diesem weichen müsse. Letzteres ließ sich selbstverständlich i m allgemeinen nicht durchf ü h r e n ; doch geschah es auf gewissen Gebieten; so k a m es in europäischen Staaten dieser Zeit einmal über das andere vor, daß mittelalterliche, barbarische Strafregeln unter dem E i n f l u ß des Naturrechts in der Rechtspraxis gemildert oder gar nicht befolgt wurden. Innerhalb des Privatrechts gab es in den einzelnen Staaten oft Gebiete, die dank dem sporadischen und unvollständigen Charakter der überlieferten Gesetze überhaupt nicht gesetzlich geregelt waren. Hier entfaltete das Naturrecht eine sehr bedeutende und nützliche, auffüllende Wirksamkeit. Denn die Regeln, die die Philosophen und Juristen des Naturrechts hier aufstellten, waren in vielen Fällen keineswegs abstrakt konstruiert oder lebensfern, sondern im Gegenteil aus einem natürlichen, auf den verschiedenen Lebensgebieten in der Gesellschaft vorhandenen Bedarf entstanden und hatten sich oft scSion im voraus bewährt, indem sie in die Vertragspraxis aufgenommen worden waren. Doch gab es auch Naturrechtsphilosophen, die ohne jede praktische Erfahrung Rechtsgrundsätze und Rechtsideale aufstellten, die die tatsächlichen Verhältnisse nicht genügend berücksichtigten und daher im praktischen Leben notwendig Schiffbruch erleiden mußten. W e n n das Naturrecht im großen Ganzen die enorme, praktische Bedeutung für die Umbildung oder Umwälzung von Verfassungen und sozialen Rechtszuständen, f ü r die S c h a f f u n g des Völkerrechts, f ü r die Ausfüllung und den weiteren A u f b a u der Regeln des Privatrechts, f ü r die Verbesserung und Milderung vieler, veralteter Rechtsregeln und endlich auch f ü r die Schaffung ganz neuer bürgerlicher Gesetzbücher erhielt, so ist das zweifellos der Tatsache zu verdanken, daß die führenden Naturrechtsphilosophen durchaus keine lebensfernen Leute, sondern oft ausgeprägte Männer des praktischen Lebens waren, die in inniger F ü h l u n g mit ihrer Zeit und deren Bedürfnissen standen; deshalb trafen ihre Naturrechtstheorien oft gerade das, was das praktische Rechtsleben brauchte.
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Die Lehrer des Naturrechts waren vor Allem Männer wie Althusius, Grotius, Locke, Montesquieu u. a., die im praktischen Leben gestanden und in den Kämpfen des Lebens mitgestritten hatten, und die aus ihrer eingehenden Kenntnis der Lebensverhältnisse heraus für durchgreifende Reformen innerhalb der Gesetzgebung und der Rechtspraxis eintreten konnten. Das neunzehnte Jahrhundert brachte, vor allem mit Männern wie Savigny und Puchta, eine kräftige Reaktion gegen das Naturrecht. Man muß freilich auch zugeben, daß selbst die bedeutendsten Führer des Naturrechts dem Wert des ererbten Rechts und einer gewissen Kontinuität mit diesem kein genügendes Verständnis entgegenbrachten, und daß ihnen ebenfalls das Verständnis dafür fehlte, daß das langsame, organische Wachstum der Rechtsformen im Leben oft ein gewichtiges Erfahrungszeugnis für ihren Wert darstellen konnte. Andererseits war diese Einseitigkeit des Naturrechts auch seine Stärke. Es hätte nicht als der befreiende und erfrischende Sturm wirken können, der Europas viele veraltete, mittelalterliche Rechtsordnungen beiseite fegte, hätte es eingehendes, historisches Wissen und Verständnis und einen tiefen Respekt vor dem langsamen, organischen Wachstum der Rechtsordnungen besessen. Als einen besonderen Beweis für das mangelnde historische Verständnis seitens des Naturrechts hat man oft dessen Erklärung der Gesellschaftsbildung und der Errichtung der Regierungsgewalt aus einem Übereinkommen oder Vertrag der Einzelwesen angeführt, da ein solcher Vertrag natürlich im Allgemeinen nicht nachweisbar und die Gesellschaftsbildung überhaupt ein historisch äußerst vielgestaltiges Phänomen ist. Dazu sei noch bemerkt, daß die Naturrechtslehre ausdrücklich betonte, daß man sich die Entstehung dieses Gesellschaf tsvertrages ebensogut stillschweigend wie ausdrücklich gemacht vorstellen könne; es steht in Frage, ob die führenden Geister dieser Richtung diesen Vertrag überhaupt als eine wirkliche, historische Begebenheit aufgefaßt haben. Es war ihnen jedenfalls am wichtigsten, die Bildung der Gesellschaft und der Regierungsgewalt als einen Zusammenschluß der Menschen zu ihrem gemeinsamen Wohl vernunftmäßig zu begründen. Auch betonte einer der Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts bereits früh klar und bestimmt, daß die Übereinkunft (Konvention), welche der Gesellschaftbildung gewöhnlich zugrunde gelegt wird, nicht als ein Versprechen, sondern nur als ein allgemeiner Sinn, ein Gefühl für gemeinsames Interesse,
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»a general sense of common interest«, aufgefaßt werden dürfe. Die gegenseitige Achtung des menschlichen Eigentumsrechts beruhe demnach nicht auf einem Versprechen und auf einer Übereinkunft nur in dem Sinn, wie sie beispielsweise vorliegt, wenn zwei Männer gemeinsam in einem Boot rudern, Hume III, 263 (1739). Weiter hebt Hume hervor, daß der von den Staatsphilosophen angenommene ursprüngliche, wilde Naturzustand, unter welchem die Menschen isoliert lebten und kämpften, eine Fiktion sei, da die Menschen immer in Familiengemeinschaften gelebt hätten. Der Ausgangspunkt des Naturrechts und jeder Ethik und Rechtsphilosophie war also der sokratische: die Wertung der Gesellschaft und aller ihrer Einrichtungen, aller Moral- und Rechtsregeln, von ihrer Zweckdienlichkeit zur Förderung menschlichen Glücks und Wohles aus. Ausdrücke wie: das Bürgerwohl, das auf das Bürgerglück abzielende, das allgemeine Wohl, sind die Lieblingsausdrücke des achtzehnten Jahrhunderts. Und in dem rastlosen Reformierungseifer dieses Jahrhunderts kam man gar nicht auf den Gedanken, zu zweifeln oder darüber zu reflektieren, worin nun dieses Wohl der Gemeinschaft oder dieses Glück des Einzelnen eigentlich bestehe. Die meisten Philosophen, die in der Zeit von der Renaissance bis zum achtzehnten Jahrhundert die Morallehre und das Naturrecht behandeln, gehen von dem sokratischen Standpunkt, daß also die Begründung der Moral und des Rechts in dem menschlichen Suchen nach Glück liege, und daß die Vernunft oder die Weisheit die Wege dazu weisen könne, als selbstverständlich aus. Die gründlichste Darstellung dieses Gedankenganges finden wir bei Locke. Den Gedankengang des Sokrates und der griechischen Ethik überhaupt weiterführend erklärt er: Indem alles menschliche Streben darauf ausgehe, Glück oder Lust zu gewinnen und Schmerz zu vermeiden, könne die Vernunft unsere Handlungen nach diesem Ziele ausrichten, was besagen will, daß sich der beständige Wunsch nach höherem und dauernderem Glück den augenblicklichen, niederen Wünschen überordne (Locke I 340 f f ) . Er sagt auch: »The highest perfection of intellectual nature lies in a careful and constant pursuit of true and solid happiness (Locke, I, 348).« Einzelne Philosophen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts beginnen indessen tieferschürfende Untersuchungen über die Psychologie der Gefühle und der Leidenschaften anzustellen, und dadurch erhebt sich allmählich die Frage, ob die Moral — und das
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Recht — wirklich, wie es die sokratische Philosophie behauptet, auf Vernunft beruhe, oder ob sie im Gefühl verankert sei. Ein eingehendes, psychologisches Verständnis der menschlichen Gefühle und Leidenschaften treffen wir vor Allem bei Spinoza und Hume an. Spinozas Hauptwerk: Ethica (1677) enthält nur in den ersten beiden Teilen die spekulative Weltanschauung, die sich nicht aufrechterhalten läßt; in den folgenden Teilen gibt er Beiträge zur Psychologie und Ethik der Gemütsbewegungen und der Leidenschaften, die noch heute wertvoll sind. Er hebt (wie vor ihm Bacon) hervor, daß alle Leidenschaften und Gefühle immer nur durch entgegengesetzte und stärkere Leidenschaften und Gefühle gehemmt oder ausgeschaltet werden können; und er betont mehrmals die Kraft und den schicksalsbestimmenden Einfluß der menschlichen Gemütsbewegungen und Leidenschaften auf das Leben (Spinoza, 182, 186-88, 196-97). Andererseits meint er in Übereinstimmung mit dem traditionellen Gedankengang, daß der Mensch eine gewisse Fähigkeit dazu habe, seine Gefühle und Leidenschaften durch die Vernunft zu leiten. Die Tugend bestehe eben darin, unter der Leitung der Vernunft zu handeln; dies ist ein oft wiederholter Hauptsatz Spinozas, den ja auch Sokrates lehrte. Der Weise hat dem Unwissenden die Macht der Seele über Leidenschaften voraus (WW 192-93, 198, 202-03, 211, 268). Wie aber das Verhältnis dieser Macht der Seele oder der Oberleitung der Vernunft, zu den Gefühlen, Gemütsbewegungen und Leidenschaften näher beschaffen ist, bleibt unklar. Hume sieht das Problem klarer und schärfer, aber auch seine Ausführungen enden meines Erachtens in einem Rätsel. In seinem Hauptwerk (A Treatise of Human Nature, 1739) sagt er — in seiner Behandlung der Psychologie der Gefühle und der Moral — daß sowohl in der Philosophie als auch im täglichen Leben nichts gewöhnlicher sei, als das Gerede vom Kampf zwischen Leidenschaft (und Gefühl) und Vernunft, und die Behauptung, daß die Vernunft den Vorzug vor den Leidenschaften haben müsse und auch, daß die Menschen nur moralisch handeln, sofern sie ihre Handlungen mit der Vernunft in Einklang bringen. Diesem hergebrachten Gedankengang gegenüber behauptete Hume, daß die Vernunft niemals ein Motiv zu irgend einer Handlung des menschlichen Willens, daß der Beweggrund zu einer Handlung, der Beweggrund des Willens, vielmehr stets nur ein Gefühl oder eine Leidenschaft sein könne. Da die Moral nun Willensakte, Handlungen, hervorbringen könne, müsse die Wurzel im Gefühl, nicht im Verstände zu suchen sein. Sollte die
59 Unterscheidung zwischen Gut und Böse auf einem Vernunftschluß beruhen, so müsse es sich beweisen lassen, daß dieser entweder mit einer Beobachtung der Gegenstände der Wirklichkeit oder mit einem gewissen Verhältnis zwischen diesen, wie Gleichheit oder Unterschied in Qualität, Quantität oder Anzahl übereinstimme. Nichts von diesem treffe aber zu. Hume bemerkt besonders, daß wir in den Urteilen unseres Verstandes über die Wirklichkeit immer ausdrückten, daß etwas sei oder nicht sei, während die Sätze der Moral so ausgedrückt werden, daß etwas sein solle oder nicht sein solle. Aber wenn unsere Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Moralisch und Unmoralisch danach nicht auf einer Unterscheidung der Vernunft beruhe, könne sie nur auf einem Unterschied des Gefühls begründet sein, nämlich des Gefühls von Lust oder Unlust. Wenn wir wahrnehmen, daß ein Mord begangen wird, sage die Wirklichkeitsfeststellung unseres Verstandes nichts anderes aus, als daß eine gewisse, äußere Handlung unter den und den äußeren Umständen in der Umwelt begangen werde, sie gebe uns aber keinerlei moralische Wertung. Diese entstehe erst durch das Gefühl — hier: das der Unlust — das die Handlung in uns erwecke und das die Ursache zu unserer Verurteilung der Handlung sei. (Hume II, 193 ff, III 233 ff., 240 ff., 245 ff.). Laster sei überhaupt durch Unlust, Tugend durch Lust bezeichnet, diese Gefühle von Lust und Unlust hätten aber einen besonderen Charakter. Hume ist indessen weder ganz klar noch ganz konsequent. Während er, wie gesagt, allgemein ausspricht, daß alle unsere Handlungen unseren Gefühlen oder Leidenschaften entspringen, sagt er an anderen Stellen, daß die Vernunft dennoch auf eine gewisse Weise mit unseren Handlungen und deren Leitung zu tun habe. Er erklärt, daß wir in der Wahl der Mittel zur Erlangung von Lustgefühlen oder zur Vermeidung von Unlust Vernunftschlüsse anwenden. Das Motiv unserer Handlung gehe zwar nicht von der Vernunft aus, die Handlung selbst könne aber von dieser geleitet werden (II, 194). In seiner Behandlung der Rechtslehre sagt er, daß die Gerechtigkeit eine »künstliche Tugend« (»the rules of justice« seien »artificial« II, 258); aus mehreren Äußerungen geht hervor, daß Hume damit meine, daß die Menschen zu einer Rechtsordnung, die die Arbeitsteilung und die Verteilung der Güter, die Anerkennung des Eigentumsrechtes, den persönlichen Rechtsschutz u. a. betrifft, durch Anwendung von Verstand und Urteilskraft gelangen. Wenn der Mensch isoliert lebt und wirkt, ist seine Arbeitskraft zur Ausführung einer so be-
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deutenden Arbeit zu gering, auch muß er viele verschiedene Arbeiten ausführen, so daß er es zu keiner besonderen Tüchtigkeit in jeder einzelnen bringen könne. Durch die Vereinigung der Kräfte werde die Macht des Menschen beträchtlich gesteigert; durch die Teilung der Arbeit (»the partition of employment«) werde die Tätigkeit jedes Einzelnen gehoben. Diese Vorteile wie auch die Sicherheit der Person und des Eigentums, sowie andere Vorteile der Gesellschafts- und Rechtsordnung, entstammen nicht der Natur, nicht den ursprünglichen menschlichen Gefühlen und Leidenschaften, denn die Menschen seien in unkultiviertem Zustande egoistisch und kurzsichtig und nur auf ihren eigenen Bedarf und den ihrer Familie bedacht; diese Rechtsordnungen sind dagegen durch eine Art Kunst oder Kunstfertigkeit entstanden, und diese besteht in »the judgement and understanding for, what is irregulär and incommodious in the affections« (hier hervorgehoben), (vgl. Hume III, 262). Auf diesem Gebiet — dem rechtlichen — vermag die Vernunft also einen regulierenden Einfluß auf die Gefühle und Leidenschaften auszuüben. Wir finden also weder bei Spinoza noch bei Hume eine nähere Erklärung dafür, wie unsere Handlungen angeblich durch unsere Gefühle und Leidenschaften bestimmt und motiviert werden, wenn — wie man gleichzeitig erkennt — diese und damit unsere Handlungen doch von einem ganz anderen Faktor als Gefühl und Leidenschaft, nämlich von der Vernunft, geleitet und reguliert werden können. Wenn das Verhältnis von Vernunft und Gefühl in dieser Weise in der Moral auch allmählich ein psychologisches Problem zu werden begann, so stand doch, wie aus den Anschauungen der letztgenannten Denker hervorgeht, der Teil der sokratischen Lehre noch immer fest, der sagt, a) daß die Moral jedenfalls im wesentlichen Grade durch das Wissen, den Verstand, durch dessen oberste Leitung bestimmt werde. Der andere Teil des sokratischen Standpunktes, der sagt, b) daß es Ziel und Zweck der Moral und des Rechts sei, den Menschen das größtmögliche Glück zu verschaffen, wird, wie gezeigt wurde, von den Denkern der Renaissance und der überwiegenden Zahl der späteren Moral- und Rechtsphilosophen angenommen. Diese Auffassung wurde für das Naturrecht, für den Reformtrieb und die Revolutionen des achtzehnten Jahrhunderts bestimmend. Bezüglich der Verteilung des Glücks oder der Güter verfochten mehrere Moralund Rechtsphilosophen des frühen, achtzehnten Jahrhunderts — im
61 Gegensatz zu den großen Ungleichheiten in der damaligen Gesellschaft — das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen als das Endziel unseres Handelns und der Gesetze der Gesellschaft (Hutcheson und Beccaria). Früh begegnen wir auch bei den einzelnen Philosophen dem Sprachgebrauch, daß Alles, was zur Förderung des menschlichen Glücks diene oder dazu führe, ob Handlungen, Einrichtungen, Gesetze u. a., nützlich sei. So definiert Spinoza als gut Alles, was für uns, für die Aufrechterhaltung unseres Daseins nützlich ist, und er erklärt, daß nichts den Menschen nützlicher sei als der Mensch, daß zur Aufrechterhaltung des menschlichen Daseins nichts nützlicher sei als das gute Zusammenleben und die einträchtige Zusammenarbeit zwischen den Menschen (Spinoza 177, 183, 190—91). Und Hume bemerkt bei der Erwähnung einiger Rechtsregeln, daß sie durch ihren Nutzen, utility, bestimmt oder begründet seien (II, 283). Er benutzt aber abwechselnd mit diesem Wort auch Ausdrücke wie interest, selfinterest, public interest. Auch die psychologische Grundlage des Utilitarismus finden wir bei mehreren Vorgängern, besonders bei Locke und Hume bereits klar hervorgehoben. Locke erklärt, was unseren Willen bewege und überhaupt das Ziel alles menschlichen Handelns sei, sei das Streben nach Glück, nach der Erlangung der meistmöglichen Lust (pleasure) und der Vermeidung des Schmerzes (pain); was wir gut nennen, sei das, was das Lustgefühl hervorbringe oder steigere, was wir schlecht nennen jenes, das Schmerz verursache (Locke I, 302—3, 34z, 354). Hume äußert, daß das Gefühl von Lust und Schmerz die wichtigste Quelle und die treibende Kraft alles menschlichen Handelns sei (Hume I, 417): »The perception of pain and pleasure — the chief spring and moving principle of all its (des Menschen) actions.« Es war deshalb nichts Neues, als Bentham in seinem Hauptwerk (An introduction to the principles of morals and legislation, 1789) erklärte, das gemeinsame Ziel alles menschlichen Handelns, aller Moral und öffentlicher Wirksamkeit sei das menschliche Glück; der Nutzen einer Handlung oder einer Einrichtung bestehe in deren Fähigkeit zur Förderung dieses Glücks und zur Verhinderung des Unglücks, des Schmerzes; der Grundsatz vom Nutzen (the principle of utility) — der die Grundlage seines gesammten Werkes bildet — sei daher der Grundsatz, der jegliche Handlung in Übereinstimmung mit ihrer Tendenz zur Vermehrung oder Verminderung des Glücks der betreffende Menschen billige oder mißbillige, indem diese Wer-
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tung sowohl bei Handlungen der Einzelnen als der Regierung in Anwendung gebracht werde. Das Ziel der Moral und des Rechts müsse überhaupt das größte Glück der größten Anzahl von Menschen sein (Bentham, 1, 4, 12). Bedeutende Verdienste hat sich Bentham aber dadurch eingelegt, daß er bewußter und systematischer als seine Vorgänger versuchte, den Ursprung der menschlichen Handlungen und der Moral von diesen Faktoren aus zu erklären. Nach Bentham wird alles menschliche Handeln und Verhalten von den beiden menschlichen Gefühlen Lust und Schmerz geleitet, von einem Streben, so viel Lust wie möglich zu erlangen und Schmerz soweit möglich zu vermeiden. Dieses Gesetz beherrscht das gesamte menschliche Leben. Auch wenn wir einer moralischen Tugend folgen und dieser ein starkes Lustgefühl opfern oder mitunter geradezu einen Schmerz der Lust vorziehen, ist dieses doch in Wirklichkeit nur scheinbar, denn was in solchen Fällen vorgeht, ist faktisch nur, daß wir ein dauerndes Lustgefühl einem vorübergehenden vorziehen, indem das Quantum des Lustgefühls beim moralischen Verhalten auf die Dauer die damit verbundenen Schmerzen überwiegt. Unter den Faktoren, die für uns die Größe einer Lust oder eines Schmerzes bestimmen, nennt Bentham besonders die Intensität, die Dauer, die Sicherheit oder Unsicherheit und die Nähe oder Ferne dieser Gefühle (Bentham 12 ff., 15 ff., 35 ff.). Bentham sagt über die Verteilung der Lust und des Glücks oder richtiger: der Güter, die dieses herbeiführen, daß es unrichtig sei, daß die Güter, die die Quellen des Lustgefühles darstellen, hierunter besonders der Reichtum, Einigen im Übermaß, vielen Anderen aber nur in allzu geringem Maße zugeteilt werden, da es sich ja nicht bloß darum handele, das größtmögliche Quantum Lustgefühl isoliert, sondern bei der größtmöglichen Anzahl Menschen zu schaffen. Eine bessere, gerechtere Verteilung der Güter innerhalb der Gesellschaft, ein Entgegenwirken der Ausnutzung der sozial Schwächeren waren deshalb ein bestimmender Faktor in gewissen Bestrebungen Benthams zu einer Reform der Gemeinschaft, übrigens liegt vielleicht sein größtes Verdienst darin, daß er, von dem Grundsatz des größten Glücks für die größte Anzahl ausgehend, viele Gedanken zu Reformen der Gesellschaft auf dem Gebiete des Eigentumsrechts, der Rechtspflege, des Strafrechts und des Verfassungsrechts brachte — Gedanken, die auf die spätere Rechtsentwickelung, nicht zum wenigsten in England selbst, einen bedeutenden Einfluß ausübten und von denen manche auch wertvolle Fortschritte enthalten.
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Nach dem von Bentham bewußt und konsequent angewendeten Sprachgebrauch, demzufolge die Grundlage jeder Moral und jedes Rechts der Grundsatz des Nutzens, the principle of utility, ist und dieser Grundsatz sich also für ihn mit dem principle of the greatest happiness of the greatest number deckt, wrird seine Ethik natürlich Utilitarismus genannt. Er gewann ganz oder teilweise Zustimmung und Anschluß bei den meisten Moral- und Rechtsphilosophen der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. So erhielt Benthams Lehre in England einen warmen Anhänger in Stuart Mill, dessen wichtigster Einsatz im übrigen auf dem Gebiet der Erkenntnislehre liegt (in seinem Hauptwerk: A System of Logic, 1843) der aber eine kurze und klare Darstellung von Benthams Auffassungen gibt. In Deutschland ist Ihering von dieser Lehre beeinflußt. Er betont, daß Zweck und Ziel des Menschen die Selbsterhaltung sei; die Natur erreiche diesen Zweck dadurch, daß der Mensch unwillkürlich das Lustgefühl suche und den Schmerz vermeide; indem der Mensch durch dieses Streben erreiche, daß die Summe der Lustgefühle normalerweise die der Schmerzen übersteige, werde das Leben aufrechterhalten. Neben dem allgemeinen Kausalgesetz für die gesamte Natur, nach dem jede Wirkung oder Veränderung ihre Ursache hat, gelte für die organische Welt das Gesetz, daß jede Handlung ihren Zweck habe. Die menschlichen Zwecke seien die Schöpfer alles menschlichen Handelns, alles menschlichen Verhaltens; der Zweck sei daher der Urheber der gesamten Rechtsordnung wie auch der Moral. Deshalb nennt Ihering sein Werk auf diesem Gebiete: Der Zweck im Recht. Der allumfassende Zweck, aus dem sämtliche, großen und kleinen Zwecke oder Interessen des Menschenlebens entspringen, sei die Aufrechterhaltung des Lebens selbst, die Sicherung von dessen Glück oder Wohl, die Abwehr von Schmerz oder Unglück. Auf einem wichtigen Punkt aber meint Ihering mit Bentham nicht einig sein zu können; er erklärt, der Zweck der Moral und des Rechts sei die Aufrechterhaltung nicht des einzelnen Individuums, sondern des menschlichen Lebens in seiner Ganzheit — »das Leben der Gattung Mensch« —, wie diese in der Gesellschaft organisiert ist. Indem die Gemeinschaft als ein Organismus, als ein selbständiges Wesen gefaßt werde, werde es der Zweck der Moral und des Rechts, dem Leben und der Wohlfahrt dieses Wesens, der menschlichen Gemeinschaft, zu nutzen und ihre Existenzbedingungen zu sichern. Nur auf diese Weise kann Ihering sich die uneigennützigen, selbstaufopfernden Handlungen erklären. Nützlich sei, was unseren Zwecken dien-
64 lieh und förderlich ist. Moral und Recht gehen aber auf das, was der Gesamtheit dienlich und förderlich ist, also auf das Gemeinnützige aus (Iherung, I, 25.26, vgl. 1 ff., 43, vgl. 35 ff., 339 ff., II, 121 ff., 133—67). Hier übersieht Ihering doch vermutlich, daß die Gemeinschaft als selbständiges Wesen oder organische Einheit nur ein Bild ist (siehe E R 73—75)) und daß man durch dieses Bild doch nicht um Benthams Ausgangspunkt herum kommt, der kein anderer ist als der sokratische: das Glück des einzelnen Menschen. Wenn man überhaupt die Moral und das Recht vom menschlichen Glück oder Wohl aus erklären will, muß man notwendig mit den einzelnen Menschen und nicht mit mehreren oder vielen Individuen dieser Gattung als Einheit beginnen. Der Utilitarismus ist im zwanzigsten Jahrhundert einer scharfen und eingehenden Kritik unterworfen worden, und zwar ganz besonders in dem Lande, in dem er entstanden ist und wo er seine bedeutendsten Vorkämpfer erworben hatte, nämlich in England. Innerhalb der englischen Philosophie unseres Jahrhunderts hat man die Behauptungen dieser ethischen Richtung einer strengen, bis in alle Einzelheiten gehenden Prüfung unterworfen; besonders hervorzuheben sind hier die gründlichen und scharfsinnigen Untersuchungen von G. E. Moore und Hastings Rashdall (G. E. Moore: Principia ethica, 3. Ausg. 1929, Hastings Rashdall: The theory of good and evil. A treatise on moral philosophy. 2. Ausg. 1924, 1. u. 2. Bd.). Hinter dem Utilitarismus liegt, wie betont worden ist, die gleiche Lehre, die den Ausgangspunkt des Sokrates bildete, und die in der nachsokratischen griechischen Philosophie ebenfalls großen Anhang fand, nämlich daß alles menschliche Streben auf Glück oder Lustgefühl und auf die Vermeidung von Unlustgefühl ausgehe, eine Lehre, die oft Hedonismus genannt worden ist (nach dem griechischen Wort für Lust, Lustgefühl: hedone). Die Kritik des Utilitarismus richtet sich nun teils gegen die besondere Ausgestaltung, die er dem Hedonismus gab, teils gegen diesen selbst. Was die besondere Ausgestaltung betrifft, so herrschte übrigens eine gewisse Unsicherheit in der Formulierung des principle of utility; dieses wurde von Bentham erst als das größtmögliche Glück der größtmöglichen Anzahl Menschen gefasst (diese Formulierung wurde die gebräuchlichste) ; da hier aber zwei Größenelemente — die Intensität des Glücks oder der Lustgefühle und die Anzahl der Personen, unter denen es verteilt ist — zusammenstoßen, deren jeweilige Grenzen sich nicht festlegen lassen, wählte er später nur die Formulierung:
65 das größtmögliche Glück (vgl. die Einleitung zu Benthams angf. ges. Werken 18). Nun bedeutet wohl auch diese Formulierung, daß die Ausbreitung des Glücks auf so viele Menschen wie möglich ein wichtiges Ziel sei — tausend glückliche Menschen geben, so meinte man, eine größere Gesamtsumme an Glück als einzelne oder wenige Glückliche. Die letzte Formulierung läßt die Verteilung noch weit mehr in zweiter Linie kommen, als die erste. Man hat mit Recht geltend gemacht, daß man bezüglich dieses Grundbegriffes des Utilitarismus: das größte Quantum Glück folgerichtig annehmen müsse, daß beispielsweise das grosse Quantum Lust, das zehntausend Menschen bei einem Stiergefecht oder einem Gladiatorenkampf so intens empfinden, die Leiden eines Einzelnen oder einiger weniger Menschen weit überwiegen müßte, und daß dies also ethisch berechtigt sein müsse. Und doch wird eine solche Quantumsberechnung entschieden zu dem höheren moralischen oder humanen Bewußtsein unserer Zeit in Widerstreit stehen. Eine solche anstößige Berechnung läßt sich nur vermeiden, wenn man auf eine Rangordnung innerhalb der Lustgefühle eingehen und sie in höhere und niedrigere scheiden will. Man erinnert sich hier eines ethischen Grundsatzes von Kant, daß ein Mensch nie bloß als Mittel für andere, sondern immer als Zweck an sich zu behandeln sei. — Weiter wendet man ein: wenn das Ziel des Menschenlebens das größtmögliche Glück oder Lustgefühl sei, so könne dieses die Menschen nie dazu bringen, sich für die Verteilung oder Ausbreitung des Glücks zu interessieren, sondern werde den Einzelnen immer nur dazu führen, das größtmögliche Glück für sich selbst zu suchen. Daß Z sich nicht nur für das Glück des A, sondern auch für das des B, ja für das Glück aller anderen Mitglieder der Gesellschaft interessieren solle, daß er etwas von seinen eigenen Gütern abgeben müsse, damit B oder Andere ebensolche erlange, das lasse sich überhaupt nicht begründen. In der neuesten, englischen Philosophie wird betont, daß zwischen dem egoistischen Hedonismus: dem Streben des Einzelnen nach eigenem Glück, und dem universellen Hedonismus oder Utilitarismus: dem Wirken des Einzelnen für das Gemeinwohl, eine Kluft sei, die keine noch so umfassende Induktion, keine noch so zahlreichen und mannigfaltigen Erfahrungen überbrücken können. Dies ist indessen ein Einwand, der jede Ethik überhaupt trifft. Weiter muß man sich darüber klar sein, daß Bentham im Satz vom größtmöglichen Glück mit dem Größen- oder Quantumsbegriff operiert, der der äußeren und nicht der inneren, seelischen Welt ange5
Erkenntnis und Wertung
66 hört. Es fragt sich daher, ob man sich auf letzterem Gebiete nicht anderer Wörter, anderer Formulierungen bedienen müsse. Es ist wohl eine Tatsache, die wir immer wieder feststellen, daß ein Lustgefühl »größer« sei als ein anderes, und daß mehrere in Abständen auf einander folgende Lustgefühle größeres Glück geben als ein einzelnes von gleicher Art. Vielleicht sollte man aber das Wort »größer« vermeiden und »intensiv« vorziehen, wenn von Lust — oder Unlustgefühlen — die Rede ist; und wenn Bentham bei seiner Betrachtung über die Größe des Lustgefühls die Intensität und die Dauer betont, so muß hervorgehoben werden, daß diese beiden Größen im umgekehrten Verhältnis zu einander stehen. Je intensiver ein Glück oder ein Lustgefühl ist, desto kürzer ist in der Regel seine Dauer. — Der Einwand gegen die quantitative Betrachtungsweise dürfte also eher eine Schwierigkeit in der Formulierung betreffen. Während Bentham sich allein an die sogenannten quantitativen Bestimmungen, also die Intensität, die Dauer und die Anzahl der Lustgefühle hielt, macht Stuart Mill geltend, daß es auch qualitative Unterschiede gebe, nämlich zwischen den sogenannten höheren und niederen Lustgefühlen oder Genüssen (Mill II, 16—21). Diese Unterscheidung zwischen höheren und niederen Lustgefühlen ist ja — sowohl in der Philosophie als in der Religion — uralt. So sahen wir, wie sowohl Plato als auch Aristoteles und selbst Epikur diese Unterscheidung gekannt haben. Sie wurde durch die neue Weltreligion, das Christentum, vertieft; bei den Philosophen der Renaissance aber begegnen wir Versuchen, diese Sonderung auf rein menschlicher Grundlage zu begründen. Eine wirkliche Begründung wurde jedoch weder damals noch später gegeben. Stuart Mill sucht die Unterscheidung mit einem Hinweis auf die psychologische Tatsache zu begründen, daß diejenigen Menschen — oder die meisten unter ihnen — die beide Arten von Lustgefühlen, die sogenannten höheren oder geistigen und die niederen, verspürt haben, die ersteren vorziehen und für kein Quantum anderer Lust auf sie verzichten wollen (Mill, II, 16). Dagegen macht die Kritik der neueren englischen Philosophie folgenden Einwand: wenn es wirklich so sei, daß man nicht nur auf die Quantität, sondern auch auf die Qualität des Lustgefühles Wert legen sollte, so müsse Mill auch einräumen, daß man im menschlichen Leben auch nach anderem strebe, als nach der größtmöglichen Lust; und damit scheint die Grundlage des Utilitarismus und des Hedonismus ins Schwanken zu geraten. — Nun
67 wäre allerdings an sich auch eine andere Alternative denkbar, nämlich daß es sich möglicherweise dartun ließe, daß die sogenannten höheren Lustgefühle entweder hinsichtlich ihrer Intensität, ihrer Dauer und ihrer Anzahl den anderen überlegen sein könnten. Auf diesen Gedanken scheint Mill aber nicht eingegangen zu sein (vgl. 1. St. 21); jedenfalls haben weder er noch Andere einen Beweis für eine solche Umrechnung des »Qualitativen« zum »Quantitativen« im Lustgefühl geliefert. Aber ob man nun Begriffe wie Quantität oder Qualität verwendet — die »Messung« der Lustgefühle oder die Bestimmung ihrer verschiedenen Bedeutung für das Menschenleben scheint ein komplizierteres Problem zu sein, als der Utilitarismus es sich vorgestellt hat. Noch gewichtiger sind jedoch die Einwände, die den eigentlichen Kern des Utilitarismus und des Hedonismus überhaupt treffen und die dahin ausgehen, daß die Lehre dieser Richtungen, alles menschliche Streben sei ein Streben nach Lustgefühl oder Glück, psychologisch unrichtig sei. Die Lehre kann übrigens entweder bedeuten a) daß der Mensch Glück, Lustgefühl und Vermeidung von Unlust tatsächlich psychologisch erstrebe, oder b ) daß er ausschließlich nach Glück oder Lustgefühl als dem einzigen rechten Ziel alles menschlichen Handelns streben solle. a. der psychologische Hedonismus (und Utilitarismus) ist unhaltbar, denn 1) lassen sich mannigfaltige Fälle im wirklichen Leben aufzeigen, in denen Menschen sowohl als Tiere von einem Selbsterhaltungsinstinkt der Gattung oder des Individuums heraus handeln, ganz ungeachtet, ob die Handlung Lust oder Leiden oder sogar den Tod herbeiführt. In der Tierwelt wie bei den Menschen schützt beispielsweise die Mutter ihre Nachkommen gegen jede Gefahr, auch wenn sie sich selbst dadurch den größten Leiden, ja dem Tode aussetzt. Der einzelne Mensch führt zu seiner eigenen Selbsterhaltung ebenfalls instinktiv Handlungen ohne Rücksicht auf Lust oder Unlust aus. Es läßt sich aber auch zeigen, 2) daß der Mensch bei der Wahl zwischen Lustgefühlen durchaus nicht immer die größtmögliche Summe an Lustgefühlen wählt. W e r von einer unwiderstehlichen Leidenschaft, einem Trieb beherrscht wird, der unterliegt einmal ums andere dem Drang zu einem augenblicklichen Genuß, obgleich ihm durchaus bewußt ist, daß darauf zahlreiche Leiden und Sorgen seiner warten — anhaltender Gram über ein vergeudetes Leben und
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68 anderes, was auch seiner eigenen Meinung nach bei weitem den augenblicklichen Genuß überwiegt, dem er trotzdem nicht hat widerstehen können. Die Befriedigung des Triebes kann ja sogar den Untergang eines Individuums nach sich ziehen. Die Menschen handeln mit anderen Worten nicht so vernünftig oder planmäßig nach dem Ziel: der größtmöglichen Summe von Lust, wie es der psychologische Hedonismus und der Utilitarismus wahr haben möchten. Dazu ist der Mensch in allzu hohem Grade ein Instinkt - und Triebwesen. Wenn Bentham sein Werk mit den Worten beginnt: »Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure« und kurz darauf sagt: »They govern us in all we do, in all we say, in all we t h i n k . . . « dann gibt er uns also damit kein Bild der gesamten Wirklichkeit, sondern nur eines großen Teilgebietes. Sprechen wir von Gefühlen als Motiv, hat Bentham also nicht Recht, über Gefühle als Zweck siehe b. b. Muß man aber nun in dieser Weise erkennen, daß es nicht immer die größtmögliche Lust ist, die tatsächlich erstrebt wird, könnte man vielleicht geltend machen, daß dies Ziel dagegen erstrebt werden sollte. Damit geht man vom psychologischen zum ethischen Problem über; diese beiden Fragen werden indessen oft mit einander vermengt. An eben der Stelle, wo Bentham, wie oben angeführt wurde, äußert, daß die beiden Faktoren, Lust und Schmerz, tatsächlich unser gesamtes Handeln leiten, sagt er gleichzeitig, daß diese Faktoren allein bestimmen, was wir tun sollten und müßten, ohne daß er sich dieses Überganges vom Psychologischen zum Ethischen bewußt wird. Der gleichen Verwechselung begegnen wir bei Stuart Mill, der erklärt, der einzige Beweis dafür, daß Etwas wünschenswert sei, liege darin, daß Menschen es wünschten, und jeder Mensch wünsche und erstrebe das Glück; deshalb sei das Glück oder das Lustgefühl — und die größtmögliche Lust — wünschenswert (Mill II 66). Mill zeigt aber durch seine eigene Unterscheidung, zwischen höheren und niederen Arten der Lust, daß nicht jede Lust, die erstrebt wird, auch wünschenswert sei. Dadurch kommt man um den wesentlichen Unterschied zwischen a) dem, was tatsächlich ist, und b ) dem, was sein sollte, nicht herum. Ist man sich indessen dieses Unterschiedes bewußt, kann man natürlich den Utilitarismus ohne weiteres dahin ändern, daß man einerseits zugibt, daß wir in der Tat oft Genüsse wählen, die — wenn das Leben als ein Ganzes betrachtet wird — nicht die größte Totalsumme von Glück geben (a 2), daß man aber gleichzeitig darauf besteht, daß wir in all unse-
69 rem Handeln diese Summe erstreben sollen. Aber selbst dann bleibt eine Frage da, die der Klärung bedarf, nämlich die Frage (a 1) nach dem Verhältnis zwischen dem Selbsterhaltungstrieb — des Individuums wie der Gattung — und dem Streben nach dem größtmöglichem Glück. Weiter muß aber betont werden, daß mit b, mit der Frage, wie wir sein sollten, oder was wir erstreben sollen, nicht nur für den Utilitarismus und Hedonismus, sondern für jede Ethik die fundamentale Frage entsteht: warum soll der eine Mensch A nicht nur A's Glück, sondern auch das des anderen Menschen B erstreben, weshalb soll er nicht für seine eigene Wohlfahrt, sondern auch für die der Gemeinschaft wirken? Aber eine noch tiefer schürfende Frage erhebt sich und sie rührt an der Grundlage aller Ethik, aller Moral- und Rechtsbegriffe, nämlich diese Frage: was will das überhaupt besagen, daß wir so oder so sein, so oder so handeln sollen? Und wie können wir überhaupt erkennen, daß wir das eine oder das andere tun sollen? Alle Erkenntnis, alles Wissen scheint ja allein bestimmen zu wollen, daß Etwas so oder so ist. Keine noch so umfassenden Kenntnisse oder Erfahrungen von dem, was tatsächlich ist, scheinen uns eine Vorstellung davon geben zu können, daß Etwas sein soll. Bisweilen können wir von einer Reihe von Dingen aus, die sind, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Folgerung ziehen, daß das eine oder andere möglicherweise geschehen werde; aber anscheinend führt kein Wissen, keine Kenntnis des Tatsächlichen dazu, daß Etwas geschehen solle. Ein Versuch der Überwindung dieser Schwierigkeit ist gemacht worden; es wurde erklärt, daß neben den universellen Grundbegriffen und Gesetzen wie Zeit, Raum und Kausalität, die für unsere gesammte Sinneserfahrung gelten, ein anderer, ebenso allgemeiner Grundbegriff, ein ebenso universelles Gesetz für das Handeln gelte, nämlich der Pflicht-Begriff, das allgemeine moralische Grundgesetz. Kant ist es, der diese ethische Grundbetrachtung angestellt hat. In der Erkenntnislehre erklärt er, daß das Kausalgesetz nicht der Erfahrung, der Sinneswahrnehmung entspringe, sondern apriorisch, d. h. eine Form sei, unter der unser Geist alle Sinneswahrnehmung, alle Erfahrung aufnehme, und daß dieses Gesetz deshalb für alle Erfahrung gültig sei; und ebenso gebe es ein universelles moralisches Gesetz, welches ebenfalls nicht aus der Erfahrung komme, denn die Erfahrung könne niemals ein allgemeines Gesetz begründen. Das moralische Gesetz gelte aber ebenso allgemein und unbedingt für
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jedes Handeln, wie das Naturgesetz, das Kausalgesetz, für Alles gelte, was in der Natur geschehe. Das universelle moralische Naturgesetz, das nicht aus der Erfahrung stamme, sondern von ihr unabhängig sei, unterwirft den Menschen in allen seinen Handlungen ohne Rücksicht auf Lust oder Schmerz einer unbedingten Pflicht (einem kategorischen Imperativ). Deshalb wird diese Ethik als Pflicht-Ethik jener Ethik gegenübergestellt, die wie der Utilitarismus auf dem Lustgefühl, dem Wohlergehen als Wert aufbaut, nämlich der WertEthik. Fragt man Kant, welches dieses allgemeine moralische Gesetz denn sei, das dem Kausalgesetz gleichgestellt werden könne, so antwortet er, es laute: Du sollst so handeln, daß die Regel, der du folgst, allgemeines Gesetz werden kann, und dieses Gesetz solle ein rein formales Vernunftgesetz sein. Aus diesem formalen Grundgesetz meint Kant die ethischen Grundsätze logisch herleiten zu können, die ihm die wichtigsten sind, vor Allem den Grundsatz, daß ein Mensch den Andern niemals bloß als Mittel, sondern immer nur als Zweck behandeln dürfe. Es ist indessen unrichtig, wenn Kant glaubt, daß sich diese und ähnliche Grundsätze aus dem oben genannten obersten universellen, formalen Gesetz herleiten lassen. Denn wenn dieser wirklich rein formal, also ohne Inhalt ist, dann ist es nicht ersichtlich, wie er plötzlich einen ethischen Inhalt bekommen könnte. Viele Menschen folgen als ethischem Grundgesetz, daß man immer sich selbst nützen solle, ungeachtet ob man damit Anderen schädige. Wenn man dieses als ein für alle Menschen geltendes Gesetz ablehnen will, dann muß man eine andere Begründung geben als Kants formale. Der gedankliche Fehler, den Kant hier begangen hat, ist der, daß er von vornherein davon ausgeht und postuliert, daß man eine unsittliche Handlungsweise, eine Handlungsweise, die — wenn sie gang und gäbe würde — der Menschheit in ihrer Gesammtheit zum Schaden gereichen würde, nicht als allgemeine Regel für das Handeln aufstellen könne. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter Kants formalem Gesetz unbewußt die Erschleichung, daß nur eine solche Handlungsweise zu einer allgemeinen Regel für das Handeln gemacht werden könne, die die Menschen in ihrer Gesammtheit billigen; und das könne nur die Handlungsweise sein, die der Menschheit nützt. Kants Pflicht-ethik endet also schließlich, wenn sie durchdacht wird, in einer Wert-ethik, noch dazu in der Form, die diese letztere zu seiner Zeit durch Bentham und Andere anzunehmen begann, nämlich in der Form des Utilitarismus, der das sittliche Ideal gerade im Wohl der Menschheit, im größtmöglichen Glück für die größt-
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mögliche Anzahl von Menschen sah. Hiermit gerät Kants Ethik in die gleichen Schwierigkeiten wie jede andere Wert-Ethik. Ein Gleichstellen einer ethischen Erkenntnis mit einer tatsächlichen Kausalerkenntnis scheint nicht möglich zu sein. Von unserem Wissen um das, was tatsächlich ist, scheint keine wissenschaftliche Brücke zu dem zu führen, was sein soll, oder dazu, daß man auf eine bestimmte Weise handeln soll. Innerhalb der Ethik und der Soziologie macht sich daher in neuester Zeit eine kräftige Tendenz geltend, daß eine wirklich wissenschaftliche Moral-Untersuchung sich auf die Konstatierung der tatsächlich existierenden Gesellschaftsformen, der tatsächlich existierenden Sitten und Gebräuche, Moralauffassungen u. ä. beschränken müsse, und daß die Rechtslehre sich ebenfalls damit begnügen müsse, festzustellen, wie das tatsächlich geltende Recht, die geltenden Gesetze und Rechtsgebräuche beschaffen sind, und die von Zeit zu Zeit und Volk zu Volk wechselnden Gesellschaftsformen, Rechtsregeln, Sitten und Gebräuche historisch zu beschreiben; alle Betrachtungen darüber aber, wie die Gesellschaftsformen, die Regeln des Rechts und der Moral sein sollten, seien unwissenschaftlich, da sie über die Aufgabe der Wissenschaft — die Feststellung dessen, was wirklich ist — hinausgehen und unter die politische und soziale Agitation fallen. So zeige sich denn auch, daß die verschiedensten politischen und sozialen Anschauungen hervortraten, wenn man zu der Frage überging, wie die Gesellschaft und die Moral und das Recht dieser Gesellschaft sein sollten, Anschauungen, die für die verschiedenen Menschen in hohem Maße individuell und subjektiv geprägt sind. Begriffe wie »gut« und »böse«, »Wert«, »Pflicht« u. ä. entbehren daher dieser Auffassung nach jeder wissenschaftlichen Allgemeingültigkeit und sind nur Ausdruck individueller Lust- und Unlustgefühle bestimmter Menschengruppen zu bestimmten Zeitpunkten. Diese Gefühle wechseln von Volk zu Volk, von Zeit zu Zeit, von Individuum zu Individuum; und uns fehle jeder wissenschaftliche Maßstab zur Entscheidung darüber, weshalb eine Art von Gefühlen einem gewissen menschlichen Verhalten gegenüber »richtiger« sein sollte als die anderen. Auf diesem Gebiete könne es keine andere Wissenschaft geben als eine streng beschreibende Schilderung der ethischen sowie der unethischen Phänomene, ohne Bevorzugung des einen oder des anderen, eine Feststellung der tatsächlichen Kausalzüsammenhänge auf den individuellen und sozialen Gebieten des Menschenlebens.
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Nach dieser Auffassung ist die Ethik — die Morallehre und die Rechtslehre — in der Bedeutung, wie sie diese Lehre seit der griechischen Philosophie des Altertums bis in unsere Zeit hinauf gehabt hat, nämlich als eine Lehre darüber, wie der Mensch handeln »soll« — kein Wissen und kann überhaupt niemals ein Wissen sein. Wissen und Wissenschaft ist und bleibt Wissen darüber, was ist. Ein Wissen darüber, daß Etwas sein soll, ist unverständlich und in Wirklichkeit einfach Mystik. Das Denken unsrer Zeit auf diesen wichtigsten Gebieten des Menschenlebens ist also in dem gleichen Negativismus und Skeptizismus geendet, wie das Denken des Altertums bereits gegen dessen Ende hin. Wir sind also gegenwärtig, nach der ethischen Entwickelung und dem intensiven Denken zweier Jahrtausende über ethische Probleme nicht einen Schritt weiter gekommen als Sokrates und die Problemstellung nach ihm. Sokrates behauptete, wie wir gesehen haben, daß die Ethik, als eine Lehre, wie wir handeln sollen, ein Wissen sei. Der Skeptizismus der späteren griechischen Philosophie leugnete dies. Unser heutiger Skeptizismus oder Negativismus allen ethischen Vorstellungen gegenüber leugnet, wie oben gezeigt wurde, ebenfalls, daß eine Lehre darüber, daß Menschen auf eine bestimmte Weise handeln sollen, eine Lehre von Gut und Böse, von Wert und Pflicht auf irgend einer Art von Wissen und Wissenschaft beruhe. Behauptung steht hier noch immer gegen Behauptung. Wie ich zu Beginn dieser Untersuchung der ethischen Strömungen im Laufe der Zeiten zu zeigen versuchte, hat man sich der Hauptthese des Sokrates gegenüber einer Vergeßlichkeit in der Problemstellung schuldig gemacht. Die erste und wichtigste Vorbedingung zur Erkenntnis der Wahrheit ist eine richtige Problemstellung. Ich behaupte aber, wie ich bereits anfangs betonte, daß das Problem der Begründung der Ethik, der Begründung von Moral und Recht, niemals richtig gestellt worden ist. Als Sokrates behauptete, daß die Ethik, die Lehre vom richtigen Handeln, ein Wissen, eine Wissenschaft sei, hätte man, wie ich gezeigt habe, die Frage stellen müssen: was hat man denn nun eigentlich, tiefer gesehen, unter Wissen und Wissenschaft zu verstehen? Diese Grundfrage wurde aber nicht gestellt. Und doch ist sie ja nichts weniger als das Grundproblem der Ethik. Doch mehr noch: sie ist gleichzeitig nichts mehr und nichts weniger als das Grundproblem aller Wissenschaft. Sie ist das Problem, mit dem vor Allem jedes Denken, das sich wissenschaftlich nennen will, einzusetzen hat. Wir müssen eindringlich untersuchen,
73 was wir unter dem Phänomen: etwas wissen oder etwas erkennen, überhaupt verstehen, bevor wir entscheiden können, ob irgend eine Art seelischer Tätigkeit inner- oder außerhalb des Bereiches von Wissen und Erkenntnis liegt. Hier geht es wie immer bei den tiefsten und schwierigsten Fragen: anfangs hält man eine Sache für ganz selbstverständlich; hier geht man also anfangs davon aus, daß es einleuchtend sei, was das besagen will: etwas wissen. Sobald man aber beginnt, etwas tiefer über diese Frage nachzudenken, zeigt es sich, daß es alles Andere als klar und einfach ist. Betrachtet man die zahlreichen Beispiele, die Sokrates in Piatons Dialogen aus der Welt des Handwerkes, der Kunst und aus anderer Technik heranzieht, erhält man eigentlich den Eindruck, daß Sokrates sich in seiner Vorstellung vom Wissen an eine bestimmte populäre Auffassung gehalten habe, die zu seiner Zeit recht gewöhnlich gewesen mag und auch heute bei der Allgemeinheit gang und gäbe ist — daß nämlich Wissen eine Vorstellung davon und Einsicht darin sei, wie ein Ding handwerksmäßig oder im weiteren Sinne technisch ausgeführt werden könne. In der täglichen Umgangssprache heißt es: er weiß, wie er dieses oder jenes Ding ausführen oder hervorbringen soll. Dieser Sprachgebrauch, diese Anwendung des Wortes liegt recht nahe bei der Verwendung des gleichen Wortes in Verbindung mit naturwissenschaftlichen Experimenten. So sagen wir beispielsweise, daß ein Chemiker weiß, daß aus einer Vereinigung der Stoffe X und Y der Stoff Z entstehe. Ähnlich sagen wir: wenn der Handwerker den Stoff x, zum Beispiel ein Stück Metal, auf eine bestimmte Weise mit dem Gerät y, z. B. einem Hammer, bearbeitet, dann weiß er, daß ein ganz bestimmter Gegenstand z das Resultat werde. Sokrates vergaß indessen hierbei zu fragen: läßt sich diese Bedeutung des Wortes Wissen, die auf einer technischen oder experimentellen Anwendung des naturwissenschaftlichen Kausalsatzes beruht, und die uns sagt, daß durch Mischung oder Behandlung von Stoffen dieses oder jenes geschehen werde oder könne, überhaupt mit dem sogenannten Wissen darüber vergleichen, daß wir Menschen so und so handeln sollen, und kann man dieses ethische Wissen ein Wissen nennen? Weiter aber untersuchte Sokrates nicht diesen anderen Begriff des Wissens im Vergleich zu einem dritten Begriff, nämlich Wissen in der Bedeutung, daß Etwas sei, existiere. Wenn Sokrates sich für diese letzte, dritte Bedeutung des Wortes Wissen — also ein Wissen darüber, wie die Welt tatsächlich sei — nicht weiter interessierte, so lag es daran, daß er gerade dieser Art des Wissens das größte
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Mißtrauen entgegenbrachte. Wenn wir sagen, daß etwas existiere und so oder so beschaffen sei, dann stimmt dies der populären Auffassung nach mit dem überein, was wir die Wirklichkeit oder die wirkliche Welt nennen. Wenn wir sagen, daß der Erdball oder ein Planet so und so groß sei, dann meint die populäre Auffassung, daß diese unsre Aussagen die Wirklichkeit, die wirkliche Welt, decken. Wie aber die Welt wirklich sei, darüber erklärt Sokrates, daß er nichts wisse. Dieser sokratische Negativismus läßt sich nun unserer Erkenntnis der wirklichen Welt gegenüber nicht abweisen: eines ist unsere Erfahrung, unsere Auffassung der Wirklichkeit, ein anderes, ob unsere Erfahrung, unsere Auffassung mit der Wirklichkeit, der wirklichen Welt, übereinstimme. Aus dem Gesagten ist vermutlich ersichtlich geworden, daß wir fürs erste das Wort Wissen jedenfalls in drei verschiedenen Bedeutungen fassen, daß sich jede der beiden entgegengesetzten Geistesrichtungen — die Verfechtung der Ethik als ein Wissen einerseits und der Negativismus der Ethik als ein Wissen andererseits — auf ihre Bedeutung stützt, und daß man von Beiden mit einem gewissen Recht sagen kann, daß die Bedeutungen, die sie dem Worte Wissen beilegen, ein wenig populär, d. h. nicht genau durchdacht sind. Jede der beiden Auffassungen kritisiert den Wissensbegriff der Anderen, doch keine von Beiden hat ihren eigenen Begriff kritisch durchdacht.
Wenn man bedenkt, daß wir also immer noch, wie schon im Altertum, im unklaren darüber sind, ob die ethischen Werte, Moral und Recht, auf individuellen Gefühlen oder auf Wissen beruhen, und daß man sich darüber schon deshalb nicht einigen kann, weil man dem Problem nicht auf den Grund gekommen ist, worin das, was wir Wissen oder Wissenschaft nennen, tiefer gesehen besteht, so kann es nicht wundernehmen, daß unsere Zeit, sofern unsere Kultur einer Katastrophe wie den Weltkriegen und den darauf folgenden Staatsumwälzungen ausgesetzt wird, eine leichte Beute der fanatischsten, einander feindlich gesinnten Lebensanschauungen werde, denen jede Möglichheit eines gegenseitigen Verständnisses abgeht. Manche kluge Köpfe verzweifeln an der Zukunft unserer Kultur, ja, der Menschheit. Das neunzehnte Jahrhundert ließ sich durch die vielen äußeren, technischen Fortschritte dazu verleiten, an eine große Zukunft für die Herrschaft der Vernunft zu glauben; man glaubte an eine Höherentwickelung der Volkmassen zu größerer Ver-
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nunft, größerer Verträglichkeit, so daß der Haß zwischen Rassen und Staaten, zwischen Religionen untereinander und zwischen einander widersprechenden, sozialen Lebensanschauungen überwunden werden könnte. Die Herrschaft der Freiheit und der Vernunft, von der man in der Morgenröte der Volkserhebungen und Umwälzungen, die die Erklärung der Menschenrechte schufen, träumte, sollte allmählich durch eine ständig sich weiter entwickelnden, von der Vernunft geleiteten Demokratie in der Masse der Völker verwirklicht werden. Dieser Glaube des neunzehnten Jahrhunderts an die wachsende Vorherrschaft der Vernunft und der Freiheit im Volke und in den Völkern, an Demokratie und an Fortschritt, ist unter den Kriegen und Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts als eine Illusion zerronnen. Anstatt des Eindringens der Vernunft und der Wissenschaft in die breiten Schichten der Völker sehen wir eine Wiedererweckung des Hasses zwischen den Völkern und zwischen tief verschiedenen politischen und sozialen Bewegungen. Objektives, allseitig abwägendes Denken wird unter diesen Kämpfen als unmöglich abgelehnt, als eine Illusion, die nur in endlose Streitigkeiten und alles aufgebenden Skeptizismus hineinführe, während die Zeit Glauben fordert, unbedingten und unerschütterlichen Glauben an große Volksideale, an absolute Richtlinien . . . Und man muß ja im gewissen Sinne diesen neuen Bewegungen Recht geben; wenn in den Werkstätten der Wissenschaft selbst eine solche Uneinigkeit über die grundlegendsten Fragen der Menscheit, über die größten Lebenswerte herrscht, wenn man sich, wie im Vorangehendem gezeigt wurde, über Moral und Recht, ja über den Grundbegriff der Wissenschaft nicht einigen kann, wenn man sich in einen Skeptizismus oder Negativismus verrannt hat, den wir gegen das Ende des Altertums erlebt haben und jetzt wiedererkennen, in eine Auflösung und Verwirrung, wo Behauptung gegen Behauptung steht, so kann man sich nicht darüber wundern, daß die Massen der Völker sich der Mystik und einem begeisterten Glauben an die verschiedensten, religiösen und nationalen Ideale oder Lebensanschauungen anheimgeben. Und da diese einander tief widersprechenden Lebenseinstellungen, die diese verschiedenen Völkermassen ergriffen haben, außerstande sind, einander auf dem Wege der Vernunft zu überzeugen oder sich einander verständlich zu machen, steht die Zeit heute schließlich in einem Chaos fanatischer Kämpfe zwischen Lebensanschauungen, Völkern und Rassen. Wenn der geistige Generalstab, der der beste Führer des Volkes sein sollte, nämlich die Wissenschaft, in den zentralen Fragen des mensch-
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liehen Lebens versagt, dann m u ß sie sich darein schicken, daß die Lenkung der Volksmassen an diejenigen übergeht, die an die Gefühle und Leidenschaften im Volke appellieren. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, daß die stille W e r k s t a t t der Wissenschaft eine Freistätte gegen Fanatismus und Haß werden kann und daß sie — inmitten all der geistigen Verwirrung und Auflösung und der Kriege zwischen den Völkern — in den großen Lebensfragen der Menschheit noch eine Mission hat. Die Wissenschaft kann gegenüber der drohenden geistigen und materiellen Zerstörung der Kultur die Rettung der Menschheit werden. Ich glaube, daß Piaton mit seiner (früher angeführten) Äußerung recht h a t : »Wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Städten, sage ich, oder die, die m a n heute Könige und Machthaber nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn dies nicht in eines zusammenfällt: die Macht in der Stadt und die Philosophie, und all die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder dem anderen streben, gewaltsam davon ausgeschlossen werden, so wird es, mein lieber Glaukon, mit dem Elend kein Ende haben, nicht f ü r die Städte und auch nicht, meine ich, f ü r das menschliche Geschlecht. Und eher wird auch die Staatsverfassung, die wir vorhin beschrieben haben, nicht — soweit das überhaupt möglich — verwirklicht werden noch das Licht der Sonne erblicken (Piaton, Pol., V, 473 b—c)«. Soll die Philosophie oder die Wissenschaft aber der Führer der Völker werden, dann m u ß sie, wie ich zu zeigen versuchte, vor Allem ihre Grundbegriffe tiefschürfend erklären, denn diese sind schließlich und endlich die leitenden Begriffe des Menschenlebens. Als Ergebnis der obigen Untersuchung läßt sich aber wohl feststellen, daß wir keine Klarheit über die ethischen Werte, die Moral und das Recht, über das Problem, ob diese Faktoren auf individuellen Gefühlen oder ob sie auf allgemeingültigem Wissen beruhen, gewinnen können, bevor wir das Grundproblem aller Wissenschaft und allen Wissens untersucht und darüber volle Klarheit erlangt haben: Worin besteht das menschliche Wissen und die wissenschaftliche Erkenntnis?
Im Folgenden werde ich versuchen, neben der realen Untersuchung auch sprachlich-logisch zu analysieren, welche verschiedenen Bedeutungen wir
77 so wichtigen Wörtern wie »Wissen«, »wissenschaftliche Erkenntnis«, »Wirklichkeit«, »Wahrheit«, »Erfahrung«, »innere und äußere Welt«, »Ursache«, »Wirkung«, u. ä. beilegen. Schon oben S. 72—73 wurde nachgewiesen, dass das Wort »Wissen« in mindestens drei verschiedenen Bedeutungen aufgefaßt wird. In der folgenden Darstellung werde ich versuchen eine Analyse der hier genannten wissenschaftlichen Grundbegriffe zu geben; in dieser Weise werden die Begriffe »Wirklichkeit«, »Wahrheit«, »Wissen (S. 148 ff., 181 ff., 224 ff., 255 ff.), die Begriffe »subjektiv« und »apriorisch« (S. 207 ff.) analysiert u. s. w.
2. A B S C H N I T T
WAS IST W I S S E N UND WISSENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS?
3.
Kapitel
D I E A L T E UND D I E N E U E N A T U R E R K E N N T N I S Als das erste wissenschaftliche Denken erwachte, glaubte es verwegen, sich ein Wissen über die wirkliche Welt verschaffen und sie verstehen zu können. In mancher Beziehung konnte die fortschreitende Entwickelung der Menschen auch solche kühne Erwartungen berechtigen. Der menschliche Geist meinte bereits in mancher Hinsicht zu wissen, wie die Welt sei. Er glaubte, das Wesen der äußeren Dinge zu kennen, wenn er ihre sogenannten Eigenschaften feststellte: die verschiedene Farbe, Gestalt, Größe, Konsistenz der Dinge usw.; er hatte durch eine handwerkliche Ausnutzung dieses Wissens große praktische Resultate erzielt, indem er diese Dinge versuchsweise bald auf die eine, bald auf die andere Weise behandelte, so daß sie ihre ursprünglichen Eigenschaften veränderten und andere Farben, Formen, Größen usw. annahmen. So war es denn auch nicht weiter merkwürdig, daß der menschliche Geist sich schließlich erkühnte zu glauben, er könne hinter die verschiedenen Eigenschaften der vielen verschiedenartigen Dinge dringen. Dieses Streben, hinter die äußeren, anscheinend vielen, verschiedenen Eigenschaften der Dinge dringen zu wollen, ist an sich ein sonderbares, seelisches Phänomen. Hier hat die Religion gewiß ursprünglich mitgewirkt (wie im 2. Kapitel erwähnt wurde). Der primitive Mensch glaubte ja, daß so wie er selbst die Dinge mit eigenen Händen veränderte, so ständen auch andere lebende Wesen, die Götter, hinter den Veränderungen der Dinge in der Natur (vgl. S. 11). Aber auch als ein eigentlich wissenschaftliches Denken einsetzt, als Thaies und die anderen griechischen Naturphilosophen eine andere Erklärung als die philosophische zu suchen beginnen, bleibt der Drang, hinter die äußeren Dinge und ihre Eigenschaften zu gelangen, doch weiter bestehen. Gleichzeitig aber enthüllt sich ein eigenartiges Streben nach geistiger Vereinfachung. Hinter den Versuchen des Thaies und der anderen griechischen Naturphilosophen, alle Erscheinungen als von einem und dem6
Erkenntnis und Wertung
82 selben Urstoff herrührend zu erklären, verbirgt sich ein inneres Bedürfnis, alle die mannigfaltigen verschiedenen Dinge mit ihren zahlreichen verschiedenartigen und außerordentlich variierenden Eigenschaften auf ein und dieselbe Urquelle zurückzuführen, eine Einheit in der Mannigfaltigkeit zu suchen, gleichgültig ob nun das Wasser, das Feuer oder ein anderes Element als der Weltgrundstoff betrachtet wurde, den man für die Urquelle all der vielfältigen, äußeren Dinge der Welt hielt. Doch schon sehr bald in dieser ersten naturphilosophischen oder naturwissenschaftlichen Periode menschlichen Denkens beginnt die Begrenzung des menschlichen Gedankens sich zu zeigen. Während nämlich allgemeine Einigkeit bezüglich des praktischen Wissens über die äußeren Dinge herrschte — daß sie die und die Eigenschaften hätten und daß sich durch Behandlung mit diesen oder jenen Geräten bestimmte Resultate, nämlich Veränderungen in den Dingen, hervorrufen ließen — so entstand bezüglich des Wissens, das man hinter die äußeren Dinge und ihre Eigenschaften suchte, bald die größte Uneinigkeit: ein Naturphilosoph bestand auf dem einen Stoff als Urstoff der Welt, ein Anderer auf einem ganz anderen. Und während man sich bezüglich der äußeren Dinge zu rein praktischem Gebrauch darüber einig war, daß viele unveränderlich und in Ruhe, andere in Bewegung oder Veränderung begriffen waren, so wurden in dem Denken, das hinter die äußeren Dinge suchte, wie früher erwähnt (S. 28), grundsätzlich verschiedene Theorien vertreten; die eine, daß die Welt im tiefsten Innern unveränderlich sei, und daß all die äußeren, verschiedenartigen Bewegungen nur scheinbar seien, und die ganz entgegengesetze Auffassung, daß Alles in der Welt Bewegung sei und endlich auch Demokrits vermittelnde Ansicht, nach welcher die Welt aus unzähligen kleinen Elementen, den Atomen, zusammengesetzt sei, die unveränderlich und ewig seien, deren Mischungen und Bewegungen aber die Ursache all der scheinbar mannigfaltigen, verschiedenen Dinge und jedweder Veränderung hervorbringen. Da die Auffassungen der verschiedenen Naturphilosophen einander widersprachen und keine als die einzig richtige erwiesen werden konnte, war es nur ganz natürlich, daß sich ihnen gegenüber eine allgemeine Skepsis breitmachte. Sokrates fällte das endgültige Urteil über die spekulativen Natursysteme und ihre Theorien über eine Welt, die hinter der äußeren Welt und ihren Erscheinungen oder
83 richtiger hinter unserer sinnlichen Auffassung derselben lag, als er äußerte, daß wir darüber nichts wissen. Hier begegnen wir bereits zwei grundverschiedenen Auffassungen des Begriffes Wissen. Eine Auffassung behauptet, daß unsere Sinne uns kein wahres Wissen über die Welt gäben, daß hinter der vielfältigen Welt, die unsre Sinne uns zeigen, eine einheitliche Welt, eine einzige Substanz, ein Grundstoff oder Element und nur ein einziges Phänomen, nämlich Bewegung, lägen. Eine andere Auffassung machte geltend, daß wir von einer solchen, hinter unsrer Sinnesbeobachtung liegenden Welt in Wirklichkeit nichts wüßten. Mit der Renaissance begann das europäische Denken wieder auf der griechischen Philosophie und Naturerkenntnis aufzubauen; gleichzeitg wurde der geistige Horizont durch die Entdeckungen erweitert und das neue Denken ging mit Kopernikus, Kepler und Galilei weit über das hinaus, was die Naturwissenschaft des Altertums erreicht hatte. Kopernikus schenkte uns ein neues Weltbild. Dieses neue Weltbild, nach welchem die Erde sich um die Sonne bewegt, hatte die Besonderheit, daß es von dem Weltbilde, das unsere unmittelbare Sinneswahrnehmung uns lehrte und auf dem die (ptolemäische) Auffassung des Altertums beruhte, sehr erheblich abwich. So war es denn durchaus verständlich, daß die im ausgehenden Altertum vorherrschende Skepsis einer Naturerkenntnis gegenüber, die hinter die äußere Welt zu dringen sucht, wieder schwand; ein neues naturphilosophisches, spekulatives Denken begann. Die Ergebnisse des Kopernikus, Keplers und Galileis zeigten uns insgesamt eine Welt, die von den kleinsten Körpern bis zu den allergrößten in Bewegung war, und sie lehrte uns die Gesetze dieser Bewegungen. Die Einfachheit in der Auffassung der Natur war der Leitstern der drei großen Naturforscher. Die einfachste Erklärung des Weltalls und seiner Erscheinungen aber ist die, welche es — mit einer mathematischen Simplifizierung — als eine Welt auffaßt, die ausschließlich aus quantitativen (d. h. quantitativ bestimmbaren) Körpern und deren Bewegung besteht. Hierdurch wird die Erforschung der Welt auch am leichtesten, da sich dann Alles messen läßt. Galileis Leitsatz lautete: messe Alles, was meßbar ist, und mache dir meßbar, was sich noch nicht messen läßt. Wenn man aber nun die Dinge in der Natur so einfach auffaßte: quantitativ meßbare Körper und ihre ebenfalls meßbaren Bewegungen, dann müßten sich alle qualitativen Unterschiede der Dinge, wie deren Farben, Laute, Gerüche u. ä. in 6*
84 letzter Instanz auch auf rein quantitative Verschiedenheiten zurückführen lassen. Hier griff Galilei einen Gedanken auf, den Demokrit bereits im Altertum verfolgt hatte, denn indem er durch seine großartige Vereinfachung die Mannigfaltigkeit des Universums auf unteilbare und unvergängliche Atome zurückführte, war die Entstehung der Sinneswahrnehmung oder der Empfindung von Farben, Lauten u. ä. der Dinge einfach dadurch erklärt, daß Atome von den äußeren Gegenständen ausgestoßen wurden und das Sinnesorgan trafen. Was wir die Qualitäten der Dinge — im Gegensatz zu ihren Quantitäten — nennen, also ihre Farben, Laute, Gerüche u. ä., kämen also augenscheinlich nicht den Dingen selbst zu, sondern entständen durch die besondere, subjektive Weise, in der unsere Sinnesorgane die von Außen, von den Dingen herkommenden, kleinsten Teile empfinden. Die sogenannten qualitativen Eigenschaften der Dinge wurden damit in quantitative umgesetzt. Auch die neue Psychologie schien, was den Organismus betrifft, die mechanische, quantitative Naturauffassung zu bestätigen. Hier war es vor Allem von großer Wirkung, daß Harvey (1578—1657) den Blutkreislauf im Organismus nachwies, wonach das Herz durch seine Kontraktion das Blut in den Körper hineinpreßt (wie eine mechanische Pumpe). Die damaligen und späteren Philosophen, vor allem Descartes und Hobbes, schlössen sich der mechanischen, quantitativen Naturauffassung der neuen Naturwissenschaft an und beleuchteten und begründeten sie weiter. Gleichzeitig erhoben sie aber die Frage nach den Konsequenzen dieser Auffassung für die seelische Welt, nämlich ob sich die Vorgänge, Gefühle und Vorstellungen der menschlichen Seele und diese selbst auch als Bewegungen materieller, quantitativ bestimmter Teile, in diesem Zusammenhange solche des menschlichen Organismus, erklären ließen. Descartes (1596—1650) erklärt alle materiellen Erscheinungen durch ausgedehnte Gegenstände und ihre Bewegung, oder aber durch Bewegung innerhalb der Teile ausgedehnter Gegenstände. Er nimmt aber an, daß die Seele des Menschen ein vom Körper, von der ausgedehnten Substanz verschiedenes Wesen, eine selbständige Substanz, sei. Wohl war auch er, und zwar selbständig, zu dem Ergebnis gekommen, daß die sinnliche Wahrnehmung nur Bewegung in den Teilen der Sinnesorgane sei, die dadurch entstanden sein müsse, daß kleine Partikeln der äußeren Dinge auf die Sinnesorgane aufprellen. Harveys Entdeckung ließ ihn nun den Organismus mit seinen Sinnen und Nerven als einen Mechanismus
85 auffassen, wo ein äußerer Reiz der Sinne oft ganz mechanisch auf dem Wege der Nerven unwillkürliche Bewegungen seitens des Organismus hervorruft, die schon Descartes »Reflexbewegungen« nannte; hieraus ließe sich seiner Meinung nach die Bewegungen der Tiere völlig erklären. Beim Menschen aber trete gleichzeitig ein Bewußtsein auf, und mit diesem begegnen wir einer Welt, die von der äußeren, materiellen gänzlich verschieden sei. Nach Descartes ist die Seele ein vom Körper grundsätzlich verschiedenes Wesen. Die Haupteigenschaft der äußeren, materiellen Welt sei die Ausdehnung, während die Haupteigenschaft der Seele Bewußtsein sei. Die Seele könne aber auf den Körper einwirken; sie vermöge durch das Gehirn und die Nerven in die Bewegungen des Körpers einzugreifen. Hobbes (1588—1679) vertritt dagegen als allgemeine Weltauffassung, daß Alles — die äußeren Dinge, die wir mit unseren Sinnen auffassen, sowohl als die hinter diesen Dingen liegende Welt — aus ausgedehnten Gegenständen und deren Bewegungen bestehe, daß jede Veränderung Bewegung größerer oder kleinerer Körper sei und daß auch die sogenannten seelischen Erscheinungen in Wirklichkeit nur körperliche Bewegungen darstellen. Die sinnliche Wahrnehmung wäre demnach nichts anderes als Bewegung in den kleinsten Teilen des wahrnehmenden Körpers; die Entstehung der Sinnesqualitäten erklärt er, wie Galilei und Descartes, dadurch, daß die äußeren Dinge einen Reiz auf unsere Sinnesorgane ausüben. Aber nach Hobbes sind Fühlen und Denken ebenfalls nur Bewegungen im Herzen oder im Gehirn. Der Gegenstand der Wissenschaft sei überhaupt nur das Körperliche, und die fundamentalen Eigenschaften des Körpers seien Ausdehnung und Bewegung. Hobbes ist damit der erste Vertreter der überall konsequent durchgeführten mechanischen, materiellen Weltauffassung, die in den folgenden Jahrhunderten großen Einfluß erhalten, ja, bis ins neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert hinein große Teile des Denkens und des allgemeinen Geisteslebens beherrschen sollte. Während also für Descartes zwei Substanzen existierten, die Materie oder die ausgedehnte Substanz, und die Seele, deren Kennzeichen das Bewußtsein war, gab es für Hobbes nur eine Substanz in der Welt, nämlich die materielle oder ausgedehnte. Bald entstand indessen eine dritte Auffassung, die von den Beiden Abstand nahm: Spinoza behauptete, daß es wohl nur eine Substanz gäbe (die Natur oder Gott), daß sie aber zwei Eigenschaften, sogenannte Attribute
86 hätte, nämlich Geist und Materie. Die Natur ist für Spinoza in all ihren Stufen und Graden beseelt, wenn auch in verschiedenem Maß. Im menschlichen Organismus habe jeder Prozess jedenfalls sowohl eine körperliche, ausgedehnte als auch eine seelische Seite. Es gebe also nicht zwei verschiedene Prozesse, eine körperliche Bewegung, Bewegung in den Sinnesorganen, den Nerven oder dem Gehirn, und eine seelische. Sie stellen nur zwei Seiten eines Vorganges dar; es sei also lediglich ein einziger Prozess, der sich von Außen als Bewegung äußerer, materieller Teile des Körpers, von Innen gesehen als Empfindungen, Gefühle und Gedanken manifestiere. Hier geschah also das Gleiche wie in der Philosophie des Altertums: die spekulativen Systeme gelangten mit Bezug auf die Welt, die hinter den Dingen liegt, die uns unsere Sinne zeigen, zu einander widersprechenden Ergebnissen. Und dies mußte notwendigerweise, wie bereits innerhalb der griechischen Philosophie, eine Skepsis diesen verschiedenen Systemen und ihren Spekulationen über das Innerste der Welt gegenüber hervorrufen. Außerdem arbeiteten die neue Naturwissenschaft und auch die neue Philosophie, die sich nach der Renaissance entwickelte, mit Grundbegriffen, die weder an sich noch in ihrem Zusammenhang gesehen genügend geklärt wurden. Die genannten, einander widersprechenden Auffassungen über das Verhältnis zwischen Seele und Körper benutzten zum Beispiel beide den Begriff Substanz und zwar sowohl die körperliche als die geistige Substanz, von denen die erstere durch Ausdehnung, die letztere durch das Bewußtsein oder das Denken gekennzeichnet war. Wenn aber in dem obenerwähnten Streit über die beiden Substanzen von der einen Seite geltend gemacht wurde, daß beide selbständig und von einander unabhängig seien, daß sie aber in Wechselwirkung zu einander stehen können, während die andere Seite behauptete, daß es in Wirklichkeit nur eine einzige Substanz gebe — über deren genauere Beschaffenheit man sich übrigens nicht einigen konnte — wäre eine Untersuchung dieses Substanzbegriffes selbst wohl am Platze gewesen. Die exakten, fachlichen Naturwissenschaften, die Physik, die Astronomie, die Physiologie u. ä. arbeiteten allein mit der ausgedehnten Substanz, der Materie oder dem Stoff und den Bewegungen der materiellen Körper. Gleichzeitig begannen aber schon Kepler und Galilei mit dem Begriff der Kraft als Ursache zu der Bewegung der Körper zu operieren. Hiernach wäre es angebracht gewesen zu fragen, wie dieser Begriff näher aufzufassen sei und in welchem Verhältnis der Begriff der Kraft zu dem Begriff des Stoffes
87
oder der materiellen Substanz stände. Dazu wäre um so mehr Grund gewesen, als ein bedeutender Denker, Leibniz, die Auffassung vertrat, daß aller Stoff, ja, alle Substanz Kraft sei. Und in genauer Übereinstimmung hiermit behauptete er weiter, daß nicht nur die Sinnesqualitäten wie Farben, Laute etc., sondern auch Ausdehnung und Bewegung subjektiv und nur ein Schein für unsere Sinne seien. Angesichts dieser widerstreitenden Anschauungen über das Innerste der Welt, ihre Substanz oder Substanzen, ist es natürlich, daß man sich wie im Altertum von der Welterkenntnis skeptisch ab und der Selbsterkenntnis zu wendet. Im Altertum war es Sokrates, der das Denken der Zeit von der Welterkenntnis der Selbsterkenntnis zuwandte und bei ihm führte die Selbsterkenntnis zur Ethik. Jetzt, im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, richtete sich die Selbsterkenntnis auf eine kritische Untersuchung unseres Verstandes, seiner Wirkungsformen lind seines Vermögens, die Welt zu erkennen. Bereits Bacon, Descartes und Hobbes begannen die verschiedenen Seiten der menschlichen Erkenntnis zu untersuchen und das Problem der richtigen, wissenschaftlichen Methode aufzustellen. Die große entscheidende Wendung tritt jedoch erst mit John Locke ein. Er sucht durch Selbstbeobachtung bewußt und systematisch auf die Spur zu kommen, woher die wichtigsten Vorstellungen unserer Selbsterkenntnis stammen, sucht die Herkunft dieser Vorstellungen zu zeigen (»a true history of the first beginnings of human knowledge«), um dann kritisch zu prüfen, wie viel oder wie wenig Erkenntnis unsere Vorstellungen von der Welt uns von dieser geben. Hierbei wünschte er auch zu untersuchen, woher die umfassenden Begriffe wie Substanz, Kraft u. ä., die in der spekulativen Philosophie des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts so stark umstritten waren, eigentlich stammten. In der früheren Philosophie hatte man auch mit Begriffen operiert, die Einige für angeboren hielten, wie dem Ursachenbegriff und den logischen und moralischen Ideen oder Grundsätzen. Doch war man im Zweifel darüber, ob dies richtig sei oder ob nicht auch diese Begriffe aus der Erfahrung stammten. Locke war der Ansicht, daß Streit und Zweifel in der Philosophie niemals ein Ende nehmen würden, ehe wir durch kritische Selbsterkenntnis zur Klarheit darüber gekommen wären, wie die umfassenden, spekulativen Begriffe und die sogenannten angeborenen Vorstellungen, ja überhaupt alle unsere Vorstellungen von der Welt in unserem Bewußtsein entständen. Locke begann mit anderen Worten, was wir heute eine psychologische Untersuchung der Grundbegriffe
88 unseres Verstandes nennen und nahm auf dieser Grundlage eine Prüfung der Gültigkeit dieser Begriffe vor. Man kann daher mit Recht sagen, daß die kritische Erkenntnislehre erst mit Lockes Hauptwerk: An essay concerning human understanding, 1609, ihren Anfang nimmt. Dieses Werk gibt auf erfahrungspsychologischer Grundlage die erste zusammenhängende und systematische Darstellung der Grundprobleme der menschlichen Erkenntnis. So bedeutet Locke für die Erkenntnislehre, was Sokrates für die Ethik bedeutete. Beide wenden ihr Denken von der Naturerkenntnis ab und richten es auf die Selbsterkenntnis.
4.
Kapitel
DIE KRITISCHE E R K E N N T N I S L E H R E Locke meinte durch seine Fahndung nach dem Ursprung unserer Vorstellungen sich darüber Klarheit verschaffen zu können, welche von diesen Vorstellungen der Wirklichkeit entstammen und mit ihr, mit der Natur, wie sie wirklich ist, übereinstimmten oder — wie Locke es selbst ausdrückte: welche von unserer Vorstellungen, ideas, wirklich und wahr, »real and true« wären. Seine Nachfolger, Berkeley und Hume, setzten diese Methode, nämlich den Ursprung unserer Vorstellungen psychologisch zu suchen, fort. Auch Kant suchte — bestimmter und systematischer als seine Vorgänger — ausfindig zu machen, welche Teile unserer Erkenntnis subjektiv seien und der besonderen Form unseres Geistes zugeschrieben werden müßten, und welche von Außen kämen. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der Fachwissenschaften und der Fachspezialisierung. Ein gewaltiger Stoff von Erfahrungen aus vielerlei Gebieten sowohl der Naturais der Geisteswissenschaft wurde gewonnen und eine Reihe von bedeutungsvollen Entdeckungen und Erfindungen wurden gemacht. Aber die Erkenntniskritik war nicht die starke Seite des neunzehnten Jahrhunderts. Und Ende desselben und weiter im zwanzigsten Jahrhundert beginnen eine Reihe von neuen Untersuchungen innerhalb der Erkentnislehre zu erscheinen, die mehr oder weniger an die neue Naturwissenschaft anknüpfen, vor Allem die Arbeiten von Ernst Mach, Kroman, Meyerson, Bertrand Russell und Herbert Iversen. Locke ist, wie ich bereits an anderer Stelle betont habe, der geistige Vater des 18. Jahrhunderts. Durch seine Kritik des erblichen Absolutismus und seine Verfechtung von Demokratie und Verfassungsfreiheit wurde er der Wegweiser für die Philosophen des 18. Jahrhunderts wie Montesquieu, Voltaire und Rousseau und für die neuen Staaten und Verfassungen, die im 18. und 19. Jahrhundert entstanden. Auf dem Gebiete der Religion wurde er der geistige Urheber des Rationalismus. Wenn das 18. Jahrhundert überhaupt das
90 Jahrhundert der Vermunft wurde, das alle überlieferten Einrichtungen und Vorstellungen, von der Staatsform angefangen bis zur Religion, der Kritik unterwarf, so hatte Locke seinen großen Anteil daran. Die größte Leistung auf dem Gebiete der Kritik aber vollbrachten er und nach ihm die Denker des 18. Jahrhunderts, als sie auch den Verstand selbst, das Erkenntnisvermögen des menschlichen Verstandes der Kritik unterzogen. Was wir Erfahrung nennen, war Locke gleichbedeutend mit den diese sind es ja auch, die wir gleich und Sinnesempfindungen; unmittelbar unter Erfahrung verstehen, wenn wir erst darüber zu reflektieren beginnen. Die sinnlichen Erfahrungen sind die Grundelemente all unserer Erkenntnis; für Locke geben sie die Wirklichkeit wieder. Von den Sinnesempfindungen werden Kopien als Vorstellungen in unserem Bewußtsein, in der Erinnerung, aufbewahrt. Durch die Sinnesempfindungen und die von diesen abgeleiteten Vorstellungen werden unsere Gefühle, Stimmungen und Leidenschaften in Bewegung gesetzt. Von diesen inneren Empfindungen bleiben, wenn sie vorüber sind, Vorstellungen also als schwache Kopien, als Erinnerungen im Bewußtsein übrig. Für Locke und seine Nachfolger bilden die sinnlichen Empfindungen den Stoff der Erfahrung (material), den unser Verstand darauf aktiv bearbeitet: er fügt sie zu den Komplexen von sinnlichen Empfindungen zusammen, die wir Dinge nennen, ordnet sie in Zeit und Raum, stellt sie zueinander in Beziehung (relations), wie Gleichheit oder Verschiedenheit zweier Sinnesempfindungen (oder Empfindungskomplexe) im Verhältnis zu einander, ihre gegenseitige Beziehung als Ursache oder Wirkung, ihre Identität, d. h. die konstante Gleichheit von Empfindungskomplexen (Dingen) zu jeder Zeit (die Gleichheit der Dinge mit sich selbst). Alle Vorstellungen von diesen Beziehungen zwischen Sinnesempfindungen gehen über diese Empfindungen selbst hinaus und sind Erdichtungen unseres akti-
Kant hat im Folgenden eine kurze, treffende Charakteristik seiner Zeit, des 18. Jahrhunderts gegeben: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregten sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.« (Kant, IV, 8, Anm.).
91 ven Geistes. Außendinge erfahren wir, wie hervorgehoben wurde, nur als Komplexe sinnlicher Eindrücke. Eine äußere Substanz, die hinter diesen Komplexen liegen und sie »tragen« sollte, die die Ursache zu deren Entstehung in unserem Bewußtsein darstellte, also das Ding an sich, nehmen wir niemals sinnlich wahr. Schon Locke unterstrich dies nachdrücklich und stellte sich der Vorstellung von einer äußeren Substanz kritisch gegenüber; Berkeley und Hume verwarfen gänzlich die Vorstellung der äußeren Welt, der materiellen Substanz. Hume verwarf zugleich die Vorstellung von einer immateriellen, seelischen Substanz. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung sei, wie Hume dargelegt hat, lediglich eine Aufeinanderfolge zweier sinnlicher Empfindungen — das Feuer als Ursache, das Schmelzen des Bleis als Wirkung; irgend eine innere Verbindung zwischen diesen Sinneseindrücken, eine Ursächlichkeit, liege nicht in diesen, nicht in den Objekten, sondern in uns. Eine »notwendige« Verbindung zwischen Ursache und Wirkung sei auf ein aus Gewohnheit und Glauben geborenes, subjektives Gefühl in uns zurückzuführen: das zahlreiche, konstante Aufeinanderfolgen der gleichen Ursache und Wirkung habe uns schließlich zu dem Glauben gebracht, daß die gleiche Wirkung — d. h. sinnliche Empfindung — wieder eintreffe, wenn wir die Ursache sehen, d. h. diejenige sinnliche Empfindung erhalten, die wir in der Aufeinanderfolge der Eindrücke zum ersten Male hatten. Kant, der inkonsequent eine äußere Welt, das Ding an sich annahm, meinte im Gegensatz zu Hume, daß der Kausalsatz — nach seiner Formulierung: jede Veränderung hat eine Ursache — nicht aus der reinen Erfahrung, aus aufeinanderfolgenden Sinnesempfindungen entstehe, sondern daß er eine apriorische, der Struktur unserer erkennenden Vernunft entspringende, notwendige Form all unserer Erfahrungen darstelle. Weiter meint er, daß unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit (der Größenbegriffe) und unsere Raum- und Zeit-auffassung ebenfalls apriorische Geistesformen seien (Zeit und Raum: Anschauungsformen, Kausalbegriff und Größenbegriff: Verstandesformen). Für Hume waren Zeit und Raum auch keine Vorstellungen, sondern entstammten der »order or manner«, in der diese Empfindungen auftreten; und der Größenbegriff, unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit überhaupt, war — wie früher erwähnt — weder für Hume noch für Locke eine Vorstellung, die von den Sinnesempfindungen oder inneren Komplexen (Dingen) herrührte, sondern von Beziehungen zwischen diesen, relations of ideas, die »inventions of our mind« wären. Locke und Hume sagten aber im Gegensatz zu Kant nicht, daß diese Vor-
92 Stellungen von Beziehungen zwischen Sinnesempfindungen, Zeit und Raum, das Größenverhältnis, das Kausalverhältnis, notwendige Formen seien, ohne welche unser Geist überhaupt keine Erfahrung machen könne. Besonders was das Kausalverhältnis betraf, so leugnete Hume ja eben, daß dieses uns Erfahrung im kantischen Sinne einer allgemeingültigen, unbedingt notwendigen Beziehung gebe. Die Erfahrung, die sinnliche Wahrnehmung, gebe uns lediglich Aufeinanderfolge von sinnlichen Empfindungen; aber mögen die Suksessionen von Ursachen und Wirkungen auch noch so zahlreich sein, es ließe sich dennoch kein allgemeingültiger, absolut notwendiger Satz daraus herleiten, der sagt, daß eine Veränderung, eine Wirkung, immer eine Ursache habe. Die neue Erkenntnislehre des 18. Jahrhunderts und ihre kritische Prüfung der Fähigkeiten unseres Geistes, das Universum zu erkennen, endete also, wie ersichtlich, mit dem Ergebnis, daß wir nicht dazu imstande wären, eine Welt außer uns zu erkennen. Selbst diejenigen, die wie Locke und Kant, ein Ding an sich annahmen, gaben zu, daß uns dessen wirkliche Natur, der innere Bau der Dinge und die Verbindung zwischen ihren Eigenschaften vollkommen unbekannt sei. Aber selbst die Annahme einer Außenwelt ließ sich, wie Berkeley und Hume erwiesen, von Lockes eigenen Voraussetzungen aus folgerichtig nicht aufrechterhalten; das Gleiche galt Kants Annahme. Die Sonderung zwischen einer äußeren und einer inneren Welt fiel weg und es gibt schließlich und endlich nichst Anderes in der Welt als unsere eigenen Erlebnisse, Sinnesempfindungen, Vorstellungen und Gefühle von Lust und Unlust. In dieser Beziehung ist es ziemlich gleichgültig, ob wir — wie es Locke und seine Nachfolger taten — die Dinge als Komplexe betrachten, die wir aus den Sinnesempfindungen als den Elementen zusammensetzen, oder ob wir — der neueren Ganzheits- (oder Gestalt-) Psychologie folgend — die Dinge als Ganzheitseindrücke betrachten, die wir später in verschiedene Sinnesempfindungen zerlegen. In beiden Fällen kommen wir nicht über uns selbst, über unsre Sinneseindrücke hinaus und gelangen zu keinem Beweis der äußeren Dinge und deren Existenz. Über die Erkenntnislehre Lockes, Berkeleys und Humes sowie über die von Kant vgl. mein »Erkendelseslaeren og Naturvidenskabens Grundbegreber«, Kop. 1941, S. 27—164. Dieses Werk wird im Laufe kurzer Zeit in englischer Übersetzung erscheinen.
93 Die Erkenntnistheorie des 19. und 20. Jahrhunderts, die weiter keine besonders neue, selbständige Leistung vollbracht hat, hat die negativen Ergebnisse der vier großen Erkenntniskritiker bestätigt. Stuart Mill, der die letzten Erkenntnisprobleme zu umgehen sucht und die Dinge der Umwelt zum Ausgangspunkt nimmt, erkennt — wie Berkeley und Hume — offen an, daß diese Dinge letzten Endes nur Möglichkeiten zukünftiger konstanter Komplexe unserer Sinnesempfindungen seien. Ernst Mach hebt hervor, daß die Sonderung zwischen einer äußeren und einer inneren Walt als eine Fiktion aufgegeben werden müsse, da sie nur unfruchtbare Probleme wie etwa das des Verhältnisses zwischen Geist und Materie mit sich führe; mit Berkeley und Hume übereinstimmend nimmt Mach überhaupt an, daß alles Existierende unsere Sinnesempfindungen, Vorstellungen, Gefühle u. a., kurz Erlebnisse ins uns selbst seien, daß die sogenannten äußeren Dinge nur relativ stabile Empfindungskomplexe seien und daß unsere gesamte Verstandeserkenntnis nur darauf hinaus laufe, möglichst übersichtliche und vereinfachte Totalauffassungen der gesamten vielfältigen Empfindungen und Vorstellungen zustande zu bringen. Kroman erkennt, daß sich der Kausalsatz, der Grundsatz über den notwendigen ursächlichen Zusammenhang nicht beweisen lasse, sondern ein Postulat sei. Bertrand Rüssel gibt zu, daß der Negativismus Berkeleys und Humes so sicher begründet sei daß er sich erkenntnistheoretisch nicht widerlegen lasse. Endlich schließt sich Herbert Iversen Berkeleys und Humes Erkenntnislehre unvorbehalten an; er betont mit Recht, daß sie die unwiderlegliche, strenge Konsequenz der Voraussetzungen ist, von denen auch Locke und Kant und alle spätere Erkenntnistheorie ausgehen. Alles in der Welt sei mentale Erlebnisse — unsere eigenen Erlebnisse zu bestimmten Zeitpunkten, von den fernsten Sternen des Universums — und vom gesamten Universum — bis zum benachbarten Haus, von Alexanders Indienzug bis zum letzten europäischen Krieg und bis zum Regenwetter oder Sonnenschein in diesem Augenblick. Streng genommen gebe es nur mein mentales Erlebnis in diesem Augenblick, denn Alexanders Zug ebenso wie der Regen, der vor einer Minute aufgehört hat, seien ja letzten Endes auch nur meine augenblickliche Vorstellung von diesem Zug und diesem Regen. Deshalb fallen, wie Iversen betont, als letzte Konsequenz der unwiderleglichen Erkenntnislehre Berkeleys und Humes auch der Begriff der Zeit wie die Begriffe Außenwelt, Raum und der Kausalzusammenhang fort. In Wirklichkeit ist dies dasselbe, was
94 Russell sagen will, wenn er erklärt, daß es möglich sei — und nicht widerlegt werden könne —, daß die ganze W e l t vor einigen Minuten geschaffen wurde. W e n n derart als das einzig Wirkliche, als das » E i gentliche«, nur mein Erlebnis in diesem Augenblick übrig bleibt, dann hört, wie Iversen auch zugibt, alle Erkenntnis a u f . * )
*) Ungefähr gleichzeitig mit dem Werke Herbert Iversen entstanden Richtungen, die — wie er — jeder Metaphysik und allen moralischen und rechtlichen Wertungen jedwelche wissenschaftliche Wahrheit aberkannten, die jedoch nicht, wie er, die Möglichkeit jeder wissenschaftlichen Erkenntnis verneinten. Diese Richtungen bilden den sogenannten logischen Positivismus oder Empirismus, der besonders in Oesterreich von dem Wienerkreise und in Schweden von der Upsalaschule entwickelt worden ist. Um Morits Schlick, der im Jahre 1922 Professor der Philosophie an der Universität Wien wurde (er hatte bereits im Jahre 1918 ein Ruch: Allgemeine Erkenntnislehre herausgegeben), sammelte sich ein Kreis von Philosophen und Mathematikern wie Carnap, Neurath, Feigl, Kraft, Hahn, Menger u. a. Dieser Kreis oder diese Richtung, die eine Reihe von Kongressen organisierte und eine Zeitschrift herausgab, schloß sich einem gemeinsamen, philosophischen Programm auf der Grundlage der von Schlick dargestellten Anschauung und Methode an. Diese Richtung hob hervor, daß eine wissenschaftliche Behauptung nur durch empirische Beobachtung, durch Sinneswahrnehmung, bewiesen oder verifiziert werden könne. Da eine Behauptung demzufolge wahr oder falsch werde, je nachdem sie durch diese sinnliche Wahrnehmung verifiziert werden könne oder abgelehnt werden müsse, sei jede Metaphysik als etwas Übersinnliches unbeweisbar und sinnlos. Dasselbe gelte aber auch allen anderen Wertungen sowohl moralischer als auch rechtlicher Art, denn Behauptungen auf diesem Gebiete gehen ja alle darauf hinaus, festzustellen, daß etwas sein müsse. Dies könne aber niemals durch Sinneswahrnehmungen verifiziert werden, da solche nur als Ziel haben können festzustellen, ob etwas sei oder nicht sei. Die moralischen und rechtlichen Feststellungen seien deshalb sinnlos, genau wie die Postulate der Metaphysik. Ähnliche Anschauungen sind von dem schwedischen Professor Axel Hägerström und seinen Anhängeren, der sogenannten Uppsala-schule, vorgetragen worden. Der logische Positivismus hebt übrigens hervor, daß es außerordentlich wichtig sei, daß die Philosophie eine eingehende Analyse der Wörter und Begriffe gebe, die die Wissenschaften im Allgemeinen und sie selbst verwenden und so weit möglich bestimmte Definitionen von ihnen formulieren, während die bisherige Philosophie, vor Allem die metaphysische, die Grundbegriffe wie Substanz, Umwelt, Sein, Werden, Entwickelung, Ursache und Wirkung u. ä. gebraucht hat, ohne diese Begriffe näher zu untersuchen oder empirisch zu begründen, also ohne sie mit der sinnlichen Wahrnehmung zu konfrontieren. Weder durch seine Bekämpfung der Metaphysik noch durch seine Beto-
95 Auf w e l c h e m W e g e , d u r c h w e l c h e M e t h o d e ist die E r k e n n t n i s l e h r e n u n zu diesen Ergebnissen g e k o m m e n ? Die G r u n d l a g e d e r g e s a m m t e n b i s h e r i g e n E r k e n n t n i s l e h r e v o n L o c k e bis auf die h e u t i g e Zeit w a r die Selbsterkenntnis. Die N a t u r e r k e n n t n i s w a r als G r u n d l a g e d e r E r k e n n t n i s l e h r e u n b r a u c h b a r , d a die e i g e n e n G r u n d b e g r i f f e d e r N a t u r w i s s e n s c h a f t , R a u m , Zeit, K a u s a l b e g r i f f u. ä., j a e b e n selbst d e r E r k e n n t n i s k r i t i k u n t e r z o g e n w e r d e n sollte. Die S e l b s t e r k e n n t n i s w u r d e n a c h L o c k e die G r u n d l a g e d e r E r k e n n t n i s k r i t i k , w i e sie n a c h S o k r a t e s die G r u n d l a g e d e r E t h i k w u r d e . A b e r auf d i e s e n b e i d e n z e n t r a l e n , m e n s c h l i c h e n Gebieten i s t die U n t e r s u c h u n g auf j e n e r G r u n d l a g e , w i e gezeigt w u r d e , völlig
nung einer erindringlichen Analyse der Grundbegriffe, mit denen die ältere Philosophie unkritisch operierte, bezeichnet der logische Positivismus oder Empirismus etwas wesentlich Neues, aber nur eine Wiederholung von Gedanken, die die kritische, empirische Erkenntnistheorie in England, vor Allem Locke, Berkeley und Hume hervorgehoben und von denen sie bereits eine eingehende Analyse gegeben haben — vgl. vor Allem Lockes Analysen des Substanzbegriffes, Humes tiefschürfende Untersuchung des Kausalverhältnisses u. ä. und ihre auf dieser Grundlage gegebene Kritik der philosophischen Metaphysik (vgl. oben S. 86 f., 90 f.). Was im Besonderen die Kritik der moralischen und rechtlichen Wertungen durch den logischen Positivismus und die Uppsalaschule betrifft, muß vermeintlich erkannt werden, daß die erkenntnistheoretische Untersuchung dieser Richtung das Problem nicht von Grund aus prüft. Wenn die Wienerschule und die Schule von Uppsala behaupten, daß die Wertungen moralischer und rechtlicher Art nicht von der E r f a h r u n g verifiziert werden können und daß diese immer ausschließlich darauf hinausgehe, festzustellen, ob etwas sei oder nicht sei, aber nicht ob etwas sein müsse, solle oder dürfe, haben diese Richtungen es versäumt, den Begriff der E r f a h r u n g zu analysieren und zu bestimmen, obgleich sie sonst, wie schon erwähnt, stark die Bedeutung der sprachlichlogischen Analyse der Wörter und Begriffe betonen. Im Übrigen sind die Anhänger der Wienerschule — eben so wenig wie die der Uppsalaschule — immer ganz konsequent, wenn es sich um das Wertungsproblem handelt. Schlick selbst hat beispielsweise in seinem Buch »Fragen der Ethik« die Wertungsaussagen als empirisch angesehen und schloß sich einer gewissen Form des Utilitarismus an. Diesem hat sich auch ein Anhänger von Hägerström, Lundstedt, angeschlossen. Es muß ferner erwähnt werden, daß mehrere Philosophen, die in einigen Fragen mit dem logischen Positivismus einig sind, sonst ganz selbständige philosophische Anschauungen vertreten haben. Das gilt besonders den hervorragenden philosophischen Denkern Wittgenstein, Karl Popper, A. J. Ayer und Gilbert Ryle.
96 negativ ausgefallen: die wissenschaftliche Erkenntnis lasse sich nicht begründen und die ethischen Werte lassen sich ebenfalls nicht begründen. Die Selbsterkenntnis ende in dem einen mentalen Erlebnis in dem bestimmten Augenblick; und wie dieses Erlebnis nicht zu einer Erkenntnis der Welt außer uns führen könne, ebensowenig könne es zu einer Wertung des Erlebnisses, zu einer etischen Qualitätsbeurteilung leiten. Diese beiden Erlebnisse auf dem zentralen Gebiete des Menschenlebens sind eng mit einander verknüpft. In der Ethik gingen, von Sokrates bis in unsere Zeit, mannigfaltige Bestrebungen darauf hinaus, die ethische Wertung als eine Erkenntnis, als ein Wissen zu begründen. Deshalb mußten wir, wie ich anfangs betont habe, zuerst untersuchen, was Wissen, was wissenschaftliche Erkenntnis ist, und ob sie sich begründen läßt. Wenn aber die moderne Erkenntniskritik in dieser Weise durch eine immer größere Vertiefung des Erkenntnisproblems zu dem Ergebnis gekommen ist, daß das, was wir wissen und wissenschaftliche Erkenntnis nennen, sich überhaupt weder begründen noch beweisen lasse, dann fällt bereits aus diesem Grunde die Frage nach einer Begründung der Ethik fort. Hier entsteht indessen meines Erachtens ein Problem, das das fundamentalste aller Probleme ist und das ich kurz folgendermaßen ausdrücken möchte: Wenn die Erkenntniskritik, wie wir gesehen haben, zu dem für alles Wissen und alle wissenschaftliche Erkenntnis negativen Resultat gekommen ist, daß diese Erkenntnis überhaupt nicht bewiesen oder begründet werden könne, so ist doch selbst dieses für jede Wissenschaft vernichtende Resultat auf dem Wege eines Denkprozesses zustande gekommen. Aber welche Art von Denken stellt dieser Prozess dar, worin besteht er und ist er denn unangreifbar? Die Erkenntnislehrer des 18., 19. und 20. Jahrhunderts haben vergessen, ihren eigenen erkenntniskritischen Prozess einer Untersuchung und kritischen Prüfung zu unterwerfen. Solange dies nicht geschehen ist, wird sich meiner Ansicht nach eine Lösung des Erkenntnisproblemes nicht finden lassen. Erst wenn man eben diesen Denkprozess bloßgelegt hat, durch welchen Locke, Berkeley, Hume und Kant und ihre Nachfolger aus der neuesten Zeit zu ihren kritischen Ergebnissen gelangt sind, besteht eine Möglichkeit, über das Verhältnis der Psychologie zur Erkenntnistheorie und über die Methode dieser Erkenntnistheorie selbst Klarheit zu erhalten.
5.
Kapitel
KRITIK DER ERKENNTNISKRITIK Wenn wir nun diesen Denkprozess näher in Augenschein nehmen und herauszufinden suchen, welcher Vorstellungen die Erkenntnislehrer sich in ihrer eigenen erkenntniskritischen Tätigkeit bedient haben, so stellt sich, wie ich im Folgenden beweisen werde, die eigentümliche Tatsache heraus, daß sie Alle, Locke, Berkeley, Hume und Kant im 18. Jahrhundert ebenso wie die Erkenntniskritiker des 19. und 20. Jahrhunderts, in ihrer eigenen Kritik unserer Erkenntnis, ohne sich dessen bewußt zu werden, gerade die gleichen Grundvorstellungen verwenden und zugrunde legen, die ihre eigene Untersuchung schließlich als subjektiv und eben auf dem Gebiete, auf dem sie sich ihrer bedienen, als unanwendbar bezeichnen. Beginnen wir mit dem Begründer der modernen Erkenntnistheorie, Locke: als erstes Ergebnis der Selbsterkenntnis, der psychologischen Selbstwahrnehmung, die er seiner Erkenntniskritik zugrunde legt, stellt er als etwas Unanfechtbares auf, daß in unserem Bewußtsein zuerst Sinnessempfindungen entstehen und daß unsere gesamten Vorstellungen mittelbar oder unmittelbar von Sinnesempfindungen herrühren oder sich auf diese zurückführen lassen, weshalb er die Ansicht, daß es angeborene Vorstellungen gebe, bekämpft. Locke sieht hier aber nicht, daß er, ohne sich dessen bewußt zu sein , während seines gesamten eigenen Denkprozesses ohne weiteres nicht weniger als drei Grundvorstellungen benutzt und seinem ganzen Gedankengang zugrunde legt, die er später als höchst zusammengesetzte Vorstellungen stempelt, die erkenntnistheoretisch kritisiert werden: Zeit, Gleichheit und Verschiedenheit und Kausalzusammenhang. Während Lockes eigenen Denkprozesses geschieht nämlich allmählich das Folgende: erst vergleicht er die in seinem Bewußtsein vorgefundenen Sinnesempfindungen und die Abdrücke von Sinnesempfindungen in der Erinnerung - die wir Vorstellungen nennen — und dann stellt er fest, daß zwischen sinnlichen Empfindungen und den Vorstellungen eine Gleichheit, nämlich mit Bezug 7
Erkenntnis und Wertung
98 auf ihren Inhalt (meine heutige Gesichtsempfindung des Lichtes und meine morgige Vorstellung davon) und auch ein Unterschied bestehe (denn die Vorstellung ist schwächer, nicht so lebhaft wie die Sinnesempfindungen selbst), weiter daß die Sinnesempfindungen in der Zeit den Vorstellungen vorausgehen und daß diese letzteren von den Sinnesempfindungen »herstammen«, d. h. daß zwischen diesen beiden ein kausaler Zusammenhang bestehe. Ferner hat er mit den beiden großen Gruppen: den Sinnesempfindungen (ideas of sensation) und allen anderen, nämlich den »inneren« Erlebnissen (ideas of reflection), Allgemeinuorstelhingen benutzt. Wenn Locke weiterhin sagt, daß wir die Sinnesempfindungen oder richtiger Kopien davon in der Erinnerung als das, was wir jetzt Vorstellungen nennen, aufbewahren und daß wir einfache Sinnesempfindungen und Vorstellungen zu Vorstellungen von Dingen, Substanzen, verbinden oder zusammensetzen, dann stellt all dieses »Aufbewahren«, »Verbinden« und »Zusammensetzen« j a einen Kausalzusammenhang dar; und diese Kausalerklärungen entlehnt Locke sogar der äußeren, physischen Welt, und setzt in dieser Weise unbewußt voraus, daß unser Bewußtsein psychische Erscheinungen in der gleichen Weise behandele, wie wir die äußeren Dinge aufbewahren und zu größeren Ganzheiten zusammensetzen oder verbinden. Lockes wahre Geschichte (true history) über den ersten Ursprung alles menschlichen Wissens aus den sinnlichen Empfindungen ist also im Ganzen ein Unterscheiden und ein Vergleichen von psychischen Phänomenen und eine Kausalerklärung ihres Ursprunges in der Zeit. Das heißt ja aber in Wirklichkeit, daß die Selbsterkenntnis, die Erkenntnispsychologie, ihrem gesamten Denken, ihren Erklärungen und ihrer Erkenntniskritik die gleichen Voraussetzungen, die gleichen Prinzipien zugrunde lege, die die Naturwissenschaft und andere Fachwissenschaften anwenden und als Grundlagen benutzen. Diese Grundvorstellungen aber: Beziehungen zwischen Sinnesempfindungen, den Dingen, von Gleichheit und Verschiedenheit, Allgemeinvorstellungen von Dingen, die Zeit und das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, sind alle zusammengesetzte Vorstellungen von Beziehungen, ideas of relation, also Erfindungen unseres Geistes, inventions of our mind. Hieraus folgt, daß die Selbsterkenntnis, die psychologische Selbstwahrnehmung kein wahreres Bild der wirklichen, psychischen Welt gibt, als die Naturwissenschaft von der wirklichen Natur der physischen Welt. Auch Lockes Erklärung unserer Vorstellung von der Zeit als einer
99 zusammengesetzten Vorstellung, die dadurch entstanden sei, daß die unaufhörliche Veränderung, der ständige Wechsel verschiedener Sinneseindrücke in uns das Bewußtsein der Reihenfolge und der Dauer hervorrufe (die Grundelemente unseres Zeitbegriffes), ist eine eindringliche Kausalerklärung. Das Gleiche gilt Lockes Erklärung des Ursprungs unserer Vorstellungen von Raum und Kraft (Locke I 153 ff., 219 ff., 242 ff.). Berkeley gibt eine eingehende Erklärung vom Ursprung unserer Raumauffassung als darin begründet, daß unser Bewußtsein gewisse Gruppen von sinnlichen Empfindungen (Lichtempfindungen, Laute) mit anderen Gruppen von Sinnesempfindungen (Bewegungs- und Berührungsempfindungen) verbinde und, bestärkt durch das konstant wiederholte Folgen der letzteren auf die ersteren, vom Anblick farbiger Flächen auf Abstand schließe (Berkeley 35 ff., 52 ff.). Diese ganze Erklärung Berkeleys ist aber eine sinnreiche und äußerst zusammengesetzte Kausalerklärung mit einigen Reihen von Ursachen und Wirkungen, eine mindest ebenso zusammengesetzte Kausalerklärung psychischer Erscheinungen, wie es die Erklärungen sind, denen wir in der Physik und Chemie begegnen. Nach Berkeleys eigenen Auffassungen, die er an anderer Stelle ausspricht, gebe aber Kausalzusammenhang keine tiefere Erklärung, sondern zeige uns lediglich Reihen rein äußerer Art von zwei auf einander folgenden Sinnesempfindungen, die sich bisher als konstant erwiesen haben, über deren künftiges Auftreten wir jedoch nichts wissen können; der Kausalzusammenhang oder die Naturgesetzte seien daher ganz unbeweisbar (Berkeley 170 ff.). Auch Hume bedient sich bei seinen psychologischen Beobachtungen beständig unbewußt gerade derjenigen Grundbegriffe, deren Subjektivität er in seiner Untersuchung nachweist. Durch Unterscheiden und Vergleichen kommt er zu einer Einteilung der psychischen Phänomene in große Gruppen, vor Allem sinnliche Empfindungen und Vorstellungen. Diese stellen in Wirklichkeit zwei umfassende Allgemeinvorstellungen dar. über das Verhältnis zwischen diesen Beiden stellt er nun ohne weiteres als ein ganz allgemeines Gesetz fest, daß die einfachen Vorstellungen von Sinnesempfindungen abgeleitet und eine Art Kopien oder schwächere Wiedergaben von diesen seien, die im Bewußtsein aufbewahrt werden (Erinnerung), und daß die Sinnesempfindungen den Vorstellungen zeitgemäß vorausgingen (Hume, I, 311 ff.: »all our simple ideas in their first appearence are derived from simple impressions which are 7*
100 correspondent to them«, Hume I, 314) und (als nächstes Haupgesetz): »our simple impressions are prior to their correspondent ideas« (Hume I, 316—17, von mir hervorgehoben). Diese ganze »Ableitung« (derivation) ist indessen nichts Anderes als ein psychischer Kausalzusammenhang, der auch noch dazu zu einem allgemeinen Naturgesetz gemacht wird. Aber nach Humes eigener, tiefschürfender Untersuchung des Kausalproblems im weiteren Verlauf der Darstellung zeigt es sich, daß jede allgemeine, notwendige Kausalerklärung dieser Art letzten Endes nichts Anderes als ein unbeweisbarer, subjektiver Glaube in uns selbst ist. Selbst Humes psychologische Erklärung der Entstehung des Kausalitätsglaubens ist eine eingehende, psychische Kausalerklärung: eine gegenwärtige lebhafte Sinnesempfindung (die Ursache) ziehe eine Vorstellung von einer früher gehabten Sinnesempfindung nach sich oder führe diese mit sich (die Wirkung), die oft mit der erstgenannten sinnlichen Empfindung verbunden gewesen sei. Hume benützt auch hier das Wort »produce«. Er sagt nämlich, daß durch die konstante Wiederholung der Reihenfolge Ursache und Wirkung nichts Neues in diesen Gegenständen hervorgebracht, »produced« sei (Hume I 458—59). »Produce« ist aber ebenso wie »derive« ein typisches Wort für den Kausalzusammenhang. Das gleiche gilt W ö r tern wie »verbinden« und »mit sich führen«. Hume sagt auch ganz allgemein, daß die Beziehung von Ursache und Wirkung »arises entirely from experience«. Das von mir hervorgehobene W o r t zeigt deutlich, daß Hume hier selbst ganz unbedenklich mit dem Kausalzusammenhang operiert. Wenn Hume erklärt, daß die Ausdehnung dadurch entstanden sei, daß unser Bewußtsein die mannigfachen kleinen ausgedehnten farbigen Punkte zu einem Ganzen zusammenfasse, dann liegt hier ebenfalls eine Kausalerklärung vor. ( I 345 f f . ) . Endlich kann in dieser Verbindung hervorgehoben werden, daß Locke beständig eine äußere Welt oder Substanz voraussetzt, die die Ursache der sinnlichen Empfindungen sein solle, obgleich er selbst in seiner Untersuchung der Vorstellung von der äußeren Welt oder Substanz nachweist, daß diese äußere Welt lediglich eine jener zusammengesetzten Vorstellungen sei, die subjektive Erfindungen unseres eigenen Geistes darstellen. Und selbst Hume kann sich von dieser Vorstellung, die er sonst unbarmherzig als unbeweisbar stempelt, nicht völlig befreien. W i e ich an anderer Stelle betont habe, sagt er nämlich am Ende seiner Untersuchung des Kausalitätsproblemes,
101 daß unsere Vorstellung von einem wirklichen Kausalzusammenhang, d. h. einer notwendigen, allgemeinen Verbindung zwischen den beiden Objekten Ursache und Wirkung, letzten Endes nichts anderes als eine »internal impression of the mind« sei (hier hervorgehoben). Die Notwendigkeit, die das wesentliche in jedem Kausalzusammenhange darstellt, liege lediglich in uns, »in the mind, not in the objects« (Hume I 460). Hume arbeitet hier mit »external and internal objects«, mit »spirit« und »body«, also mit der Scheidung zwischen einer äußeren und einer inneren Welt, die er sonst entschieden verneint (Hume I 324, 478-505, 516-33). Für das gesammte Seelenleben findet Hume ein allgemeines Gesetz, nämlich daß der menschliche Geist die Fähigkeit habe, Empfindungen und Vorstellungen zu verbinden (»unite«). »Verbinden« ist aber en Wort für einen Kausalzusammenhang, das noch dazu der äußeren Welt entnommen ist. Die Erscheinung, daß Vorstellungen sich ständig mit einander verbinden oder einander anziehen, vergleicht Hume sogar mit der Anziehung, die zwischen den Gegenständen der physischen Welt stattfinde. Gegen Kant läßt sich der gleiche Einwand wie gegen die englischen Empiriker nicht richten, nämlich daß er in der Erkenntnislehre selbst Vorstellungen und Grundsätze anwende, denen er selbst später die Gültigkeit abspricht. In der Erkenntnislehre will er die empirische Psychologie, deren sich Locke, Berkeley und Hume bedienen, überhaupt nicht anwenden. Empirische Psychologie und empirische Naturwissenschaft sind beide angewandte Philosophie. Die reine Philosophie enthalte dagegen die apriorischen Prinzipien, mit denen die Erfahrungswissenschaften wohl verbunden seien, mit denen sie aber nicht verwechselt werden dürfen. »Also muß empirische Psychologie aus Metaphysik gänzlich verbannt sein,« (Kant, III, 548 ff.). Die Erkenntnislehre müsse in ihrer Methode rein apriorisch sein, aller Erfahrung vorausgehen, auf »ewigen, unveränderlichen«, apriorischen Gesetzen aufbauen. Untersuchen wir nun näher diese apriorische, transzendentale Erkenntnislehre Kants, die von aller Erfahrung, auch der psychologischen, unabhängig sein soll, so stellen wir fest, daß er zuerst zwischen den Sinnesempfindungen als Stoff und den Formen unseres Geistes sondert, was eine Hervorhebung allgemeiner Verschiedenheiten und Gleichheiten zwischen diesen beiden Gruppen psychischer Erscheinungen bedeutet, und daß er erklärt, daß die Formen unseres Geistes die Sinnesempfindungen als Stoff bearbeiten (»den rohen Stoff sinnlicher Empfin-
102 düngen bearbeitet«), wobei es sich also um ein psychisches Kausalverhältnis handelt. Er verwendet also, wie die englischen Empiriker, psychologische Gleichheits-Verschiedenheits- und Ursachs-erklärungen; und hätte Hume Kants »Kritik der reinen Vernunft« (1781) erlebt, hätte er mit Recht zu Kant sagen können: »Du wirfst uns vor, daß wir in der Erkenntnislehre der empirischen Psychologie bedienen; was tust du nun selbst? Du konstatierst genau wie wir psychologische Verschiedenheiten und Gleichheiten, nämlich in der Gruppe sinnlicher Empfindungen und in der Gruppe Formen, die wir relations of ideas, order or manner u. ä. nennen; du konstatierst genau wie wir das psychische Kausalitätsverhältnis zwischen diesen beiden Gruppen von Phänomenen usw.« Darauf könnte Kant nur antworten: »Jawohl, aber ich betrachte — im Gegensatz zu Euch — die Formen, unter denen unser Geist die Erscheinungen nach Gleichheiten und Verschiedenheiten, Kausalverhältnissen, Raum und Zeit ordnet, als ewige, unveränderliche, für alle, sowohl psychische als physische Erscheinungen gültige Grundbegriffe und Grundsätze.« Da Kant diese Formen überall anwendet und da diese nur den Erscheinungen, nicht dem Ding an sich gelten, gibt seine Erkenntnislehre, die nach ewigen, unveränderlichen Prinzipien absolut sicheres Wissen geben soll, doch nicht die absolute Wahrheit, keine Erkenntnis der Welt an sich, weder der psychischen noch der physischen. Und worauf wendet er in seiner Kritik der reinen Vernunft diese ewigen Formen an? Hierauf wäre zu antworten: auf sinnliche Empfindungen, Zeit, Raum usw., im Ganzen natürlich auf psychische Phänomene. Diese ewigen Formen: die Auffassung von Gleichheiten und Verschiedenheiten und von Kausalbeziehungen, können ja nicht frei in der Luft schweben. Sie brauchen immer Etwas, womit sie arbeiten können, entweder äußere Naturerscheinungen oder innere psychische Zustände. So bleibt denn allein Kants Behauptung übrig, daß diese ewigen Formen, diese Prinzipien apriorisch, unabhängig von der Erfahrung seien, indem sie nicht aus der Umwelt und deren Eindrücken, sondern aus der Struktur unseres eigenen Geistes herrühren, daß daher seine Erkenntnislehre über diese reinen Formen auch apriorisch, über jede Erfahrung erhaben sei, da sie von uns und nicht von den Sinneseindrücken aus der Umwelt hervorgerufen seien, die dagegen ewig und gültig von diesen Formen beherrscht werden. Dadurch aber beruht Kants apriorische tranzendentale Erkenntnislehre auf einem »Kreisschluß«. Sie geht von dem aus, was sie beweisen sollte. Denn — wie ich anderswo hervorgehoben habe
103 — bleibt es eine unbeweisbare Behauptung, daß die sinnlichen Empfindungen, die den Stoff der Erfahrung bilden, der Umwelt entstammen und daß die Formen — Raum, Zeit, Gleichheit, Verschiedenheit, Kausalitätsprinzip u. ä. — ausschließlich der Struktur unseres Geistes zugehören. Wenn es nun nicht bewiesen werden kann, daß die Formen gänzlich unserem Geiste entstammen und deshalb unumgänglich und notwendig allen unseren Erfahrungen, allen unseren Sinneseindrücken ihren Stempel aufprägen, haben wir keinerlei Sicherheit dafür, daß diese Formen ewig und selbst für die Welt der Erscheinungen gültig seien. Deshalb ist Kants eigene, sogenannte reine Erkenntnislehre auch nicht apriorisch, ewig und gültig. Seine diesbezügliche Theorie und damit auch seine gesamte Erkenntnislehre sind Postulate. Locke, Berkeley, Hume und Kant haben — wenn wir Kants Postulate beiseite lassen — die Auffassung gemeinsam, daß unser Bewußtsein die sinnlichen Empfindungen als einen Stoff bearbeite. Die sinnlichen Empfindungen werden durch das Bewußtsein aufbewahrt und in größere Einheiten, in Zeit, Raum, in Dinge, in Gleichheiten und Verschiedenheiten und in ursächliche Beziehungen zusammengesetzt und verbunden. Die englischen Empiriker nennen diese Tätigkeit der Bearbeitung: composition, connection, uniting; Kant bedient sich hauptsächlich des Wortes »Synthese«. Die Erfahrung ist, wie Kant sich ausdrückt, ein »Produkt«, das unser Verstand hervorbringt, indem er den Stoff, die sinnlichen Empfindungen, »bearbeitet«. Diese ganze erkenntnistheoretische Auffassung unseres Verstandes, unserer Erkenntnis als Bearbeitung, Formung, Erzeugung oder Produktion, als ein Verbinden und Zusammensetzen eines Stoffes, ist eine Kausalerklärung durch und durch, eine Beschreibung eines Kausalzusammenhänges, die ihre Ausdrücke sogar einer bekannten ursächlichen Beziehung innerhalb der äußeren Welt entlehnt, nämlich der Bearbeitung, Formung, Zusammensetzung eines oder mehrerer Stoffe zu vielfältiger zusammengesetzten Dingen durch den Handwerker. Jenes Bild einer äußeren, mechanischen Ursächlichkeit übertragen diese Erkenntnislehrer also auch auf die psychischen Erscheinungen, um die psychischen Vorgänge zu erklären. Die englischen Empiriker benutzten also in diesem Hauptpunkt ihrer Erkenntnislehre Erkenntnisformen, ideas of relations, nämlich die Kausalbeziehung — noch dazu in einer Form, die aus der äußeren Welt stammt - und die Gleichheits- und Verschiedenheits-Beziehungen,
104 denen sie selbst, besonders nach Humes konsequenter Untersuchung, von ihren eigenen Voraussetzungen aus die Gültigkeit absprechen müssen. Und Kant baut die gleiche Grundauffassung auf derselben Kausalbeziehung und dem Gleichheits- und Verschiedenheitsverhältnis auf; er hält diese Beziehungen oder Formen für ewig gültig, weil er glaubt, daß sie völlig im Gefüge unseres Geistes beruhen, geht hiermit aber von dem aus, was bewiesen werden sollte. Die Erkenntnistheorie des 19. und 20. Jahrhunderts hat diese Behandlung des Erkenntnisproblems fortgeführt: sie hat entweder zur Erklärung unseres Erkenntnisprozesses eben die Grundvorstellungen und Sätze angewendet, denen man nach einer solchen Erklärung und Untersuchung die Gültigkeit abspricht, oder ihre Schlußfolgerungen haben sich im Kreise bewegt. So erklärt Ernst Mach, wie an anderer Stelle gezeigt wurde, unsere Erkenntnis als eine »Anpassung«, teils eine Anpassung der Gedanken an die Sinnesempfindungen und teils eine Anpassung dieser letzteren an umfassende Begriffe, wodurch wir das Material der mannigfaltigen Empfindungen in große Ganzheiten »ordnen« oder »einordnen«. Und bereits vor dieser umfassenden Einordnung treten die Empfindungen in Komplexen auf, in Elementkomplexen, deren dauerhaftere wir Dinge nennen. Aber dieses ganze Anpassen, Einordnen und Zusammenfassen von Elementen in Komplexe ist eine Reihe von Kausalerklärungen: und die Vorstellung der Anpassung ist sogar einem äußerst komplizierten und teilweise umstrittenen Kausalzusammenhang der äußeren Welt entnommen, nämlich der Anpassung der Pflanzen und Tiere an die natürliche Umgebung. Die Sonderung zwischen einer äußeren und einer inneren Welt ist aber nach dem Ergebnis von Machs eigenen Untersuchungen nur eine Fiktion; und der Kausalzusammenhang stellt nichts Anderes dar, als sinnliche Empfindungen in konstanter Reihenfolge; eine innere notwendige Verbindung zeigen die Sinnesempfindungen, die eigentliche Erkenntnisquelle, uns nie. Endlich ist die Vorstellung vom Ich als einer inneren, psychischen Einheit ohne Realität — dasselbe gilt auch jeder Vorstellung von einer äußeren Welt. Aber danach ist Machs gesamte erkenntnistheoretische Auffassung der Erkenntnis als Anpassung unseres Geistes an irgend etwas Anderes, an die Umgebung oder die Sinnesempfindungen oder unsere Anpassung oder Bearbeitung dieser letzteren als eine innere Kausalbeziehung ohne irgend welche Realität. Schließlich sei noch bemerkt, daß Machs gesamte Erkenntnispsychologie auf Sonderungen und Gruppierungen der see-
105 lischen Erscheinungen aufgebaut ist, vor Allem zwischen den Sinnesempfindungen einerseits und der ordnenden, sammelnden und anpassenden Tätigkeit andrerseits. Alle solche Sonderungen und Gruppierungen beruhen aber auf Beziehungen von Gleichheit und Verschiedenheit zwischen psychischen Erscheinungen; solche Beziehungen aber sind von der zusammenfassenden, ordnenden Tätigkeit unseres Geistes geschaffen und nicht von den Sinnesempfindungen an sich, der eigentlichen Erkenntnisquelle. — Wie viele andere Erkenntnisphilosophen seit Locke, hält auch Herbert Iversen die Psychologie für die einzige Grundlage einer tieferschürfenden Kritik unserer Erkenntnis. Aber auch er ist sich nicht bewußt, daß er in seiner eignen, erkenntnispsychologischen Untersuchung mit Grundvorstellungen oder Formen des Erkennens operiert, die er selbst nach der Untersuchung als unbeweisbar ansieht. Die beschreibende Psychologie, die Iversen für die tiefste, wissenschaftliche Untersuchung hält, kann ohne Erkenntnis von Gleichheit und Verschiedenheit zwischen den psychischen Phänomenen überhaupt nicht arbeiten, kommt ohne diese überhaupt nicht von der Stelle. Iversen wäre zu seiner Grundvorstellung: dem geistigen Zustand in einem bestimmten Augenblick, überhaupt nicht gelangt, hätte er nicht zwischen Reihen mentaler Zustände unterschieden und verglichen; erst nach den Erlebnissen, die dieses Unterscheiden und Vergleichen der verschiedenen oder einander gleichenden mentalen Zuständen darstellt, bildet er, ohne sich dessen bewußt zu sein, in Wirklichkeit nichts Geringeres als eine allgemeine Vorstellung, den Allgemeinbegriff: mentalen Zustand. Im ersten Teil seiner Untersuchung operiert Iversen noch mit mehreren mentalen Zuständen und beschäftigt sich hier eingehend mit dem psychischem Phänomen der Wiedererkennung, also eben dem Bewußtsein einer Gleichheit zwischen einem gegenwärtigen mentalen Zustand, z. B. einem Sinneseindruck, und einem früheren solchen (Iversen S. 32). Er erklärt indessen über zwei solche Zustände A und B, daß der »Zustand A verschwunden ist, wenn B erlebt wird, und die Vergleichung zweier (oder mehrerer) Zustände ist natürlich im Grunde genommen unmöglich« und nur eine unbedachte populäre Ausdrucksweise. Er sieht hier nicht, daß er ohne dieses Vergleichen zwischen mehreren, mentalen Zuständen niemals zu seiner Grundvorstellung: Mentalzustand in einem bestimmten Augenblick, gekommen wäre. Als er dann schließlich zu dem Ergebnis kommt, daß es nur einen einzigen mentalen Zustand gebe und daß die Zeit somit verschwinde,
106 erkennt er gleichzeitig, daß ein solcher Zustand Erinnerungen an einen früheren Zustand enthalten könne (ultra-präsente Qualität). Es ist aber einfach unmöglich zu einer solchen Erkenntnis zu gelangen, ohne zwei mentale Zustände zu unterscheiden und zu vergleichen, nämlich einen Zustand, der eine solche Erinnerung enthält, und einen, der dies nicht tut. Aber selbst wenn man von der Inkonsequenz absieht, die ein Zustand mit Erinnerungsanklängen an einen früheren von dem Standpunkt eines einzigen Erlebnisses aus gesehen darstellt, würde Iversen nicht einmal dieses Erlebnis erkennen, ja, er würde es nicht einmal erleben, ohne Unterscheidung von einem unmittelbar vorausgehenden Erlebnis, auf dessen Hintergrund es auftritt und ohne welches es überhaupt nicht zu denken wäre. Die ganze Zeit nur ein einziges Erlebnis zu haben, heißt gar kein Erlebnis haben. Das lehrt die einfachste, deskriptive Psychologie und bereits Hobbes und Locke haben das hervorgehoben. Es gehört unlösbar zu jedem, selbst dem einfachsten Erkennen und Erleben, daß man einen Eindruck bekommt, daß ein Zustand vorliegt, der von einem anderen verschieden ist. Das Gegenteil ist Bewußtlosigkeit, also weder Erkenntnis noch Erlebnis. Iversens einziges Erlebnis, der ödeste, einsamste Ort, kann überhaupt nicht öde und nicht einsam sein, denn ein sogenanntes einziges Erlebnis entsteht überhaupt nicht, es sei denn, daß es mit anderen, vorausgegebenen Erlebnissen in Verbindung stehe, die von dem ersten verschieden oder in gewissen Punkten mit ihm gleich seien. Es ist vielleicht zu viel gesagt, daß ein Erlebnis, auch unser jetziges Erlebnis, sobald es zu unserem Bewußtsein gelangt, bereits vergangen sei. Das gilt aber jedenfalls für zahlreiche Erlebnisse. Iversen hätte niemals eine Zeile seines Buches schreiben oder einen Gedanken darin denken können, ohne sich jedenfalls seines einzigen Erlebnisses bewußt zu werden. Aber selbst dieses Bewußtsein wäre ihm psychologisch unmöglich ohne ein Bewußtsein von der Verschiedenheit oder Gleichheit dieses Erlebnisses im Verhältnis zu früheren. Es ist also ersichtlich, daß selbst die folgerichtigste Durchführung der Erkenntnispsychologie und der Erkenntnistheorie, von Locke über Hume und Kant bis zu den letzten Untersuchungen des 19. und 20. Jahrhunderts nicht umhin kann, bei der Begründung auch des negativsten Standpunktes, der Leugnung jeder Erkenntnis, sich eben der Erkenntnis von Verschiedenheit und Gleichheit, ja der Allgemeinvorstellungen zu bedienen, deren Möglichkeit sie selbst bestreitet. Die neuere Erkenntnislehre hat, wie nachgewiesen wurde, vom
107 18. bis ins 20. Jahrhundert ihre Kritik unserer Erkenntnis auf der Selbsterkenntnis basiert (entweder der psychologischen Selbsterkenntnis Lockes, Humes u. a. oder Kants logischer, transzendentaler Selbsterkenntnis). Dahinter lag wohl der Gedanke, daß die Selbsterkenntnis das sicherste W i s s e n gebe, da wir uns selbst, unser eigenes Bewußtsein am besten kennen (vgl. auch Kant IV, 8 und 11); gleichzeigtig war damit sicher auch eine recht unklare Vorstellung verbunden, daß sich die Selbstbeobachtung, die W a h r n e h m u n g unserer E m pfindungen, Vorstellungen u. ä. eine ganz einfache, direkte Wahrn e h m u n g sei, zu welcher eine Anwendung der zusammengesetzten Grundbegriffe und Grundsätze, auf denen die Naturerkenntnis fußt, nicht notwendig sei, und daß die einfache Selbstbeobachtung deshalb gerade besonders dazu geeignet wäre, diese Grundbegriffe und Grundsätze zu bestimmen und zu kritisieren. Diese A u f f a s s u n g beruht auf einer Selbsttäuschung. W i e ich eben gezeigt habe, können die Selbsterkenntnislehrer in der Selbstbeobachtung und ihrer darauf begründeten Kritik unserer Erkenntnis und deren Grundvorstellungen keinen Schritt weiterkommen, ohne rein unbewußt gerade diejenigen Grundvorstellungen — Zeit und Raum, Gleichheit und Verschiedenheit und Kausalität — zu verwenden und zugrunde zu legen, die sie entweder — wie die englischen Empiriker oder Philosophen wie Mach und Iversen — kritisieren und als ungültig erklären, oder denen sie — wie Kant — apriorische Gültigkeit zuerkennen, jedoch ohne irgend welchen Beweis dafür. Und es ist selbstverständlich in diesem Zusammenhang belanglos, ob diese Begriffe und Sätze, w i e in der Erkenntnispsychologie und der Erkenntnistheorie, zur Erklärung psychischer Erscheinungen oder, wie in der Naturwissenschaft, zur Erörterung physischer Phänomene verwendet werden. W e n n die Erkenntnislehre aber in dieser Weise, ohne sich darüber im Klaren zu sein, Zeit und Raum, Gleichheit und Verschiedenheit und den Kausalzusammenhang in der Untersuchung benutzt, u m
Die Raumvorstellung ist die einzige Vorstellung, welche die Erkenntnispsychologie und die Erkenntnistheorie streng genommen nicht zu benutzen brauchen, da diese lediglich die Beschreibung und Erklärung psychischer Zustände betreffen. Man bemerke doch, daß die Erkenntnislehrer sogar die Raumvorstellung bei der Erklärung psychischer Phänomene verwendet haben, indem sie nach einer unbewußten Analogie zur äußeren Welt davon sprechen, daß der Verstand den »Stoff« der Sinnesempfindungen »forme«.
108 uns zu beweisen, daß gerade diese Grundbegriffe uns keine gültige Erkenntnis — oder eine apriorisch gültige Erkenntnis ohne Beweis — vermitteln, dann hat sie nicht entdeckt, daß sie dabei den Ast durchsägt, auf dem sie selbst sitzt. Sie hat selbst unbewußt die Grundlage untergraben, auf der sie ihre ganze Kritik unserer Erkenntnis aufgebaut hat. Dies bedeutet nichts Geringeres, als daß sämtliche Ergebnisse, zudenen die moderne Erkenntnislehre, von Locke angefangen über Berkeley, Hume und Kant bis hinab zu den Denkern des 20. Jahrhunsind. Wenn die wissenschaftderts, gekommen ist, unbeweisbar lichen und allgemein-menschlichen Erkenntnismittel: Zeit, Raum, Gleichheit und Verschiedenheit und Kausalität in der Naturwissenschaft keine Erkenntnis geben, dann können sie ebensowenig eine Erkenntnis der inneren Welt, unseres Bewustseins liefern. Von der gesamten, bisherigen Erkenntnistheorie muß daher gesagt werden, daß sie sich entweder selbst widerlegt oder aber im Kreise läuft und keinen Beweis für ihre Behauptungen bringt. Ihre Ergebnisse entbehren daher jeder Grundlage. Der Gedanke ist mit jenem bekannten Beweis verwandt: daß A immer die Unwahrheit spricht, wird dadurch bewiesen, daß A es selbst sagt. Hierdurch ist allerdings nicht bewiesen, daß A die Wahrheit sagt, aber es ist auch nicht bewiesen, daß er unwahr spricht. Das heißt mit anderen Worten, daß die Beweisführung nicht von der Stelle kommt. Wenn Locke, Berkeley, Hume und ihre konsequenten Nachfolger im 19. und 20. Jahrhundert erklären, daß unsere Begriffe von Raum, Zeit, Gleichheit, Verschiedenheit und Kausalität uns keine Erkenntnis von der Welt geben, sondern nur subjektive Formen unseres eigenen Geistes seien, und wenn sie, um dies beweisen zu können, gerade die gleichen Formen verwenden, dann ist diese Beweisführung auch nicht von der Stelle gekommen. Kant betrachtet wohl die gleichen Formen als für die Welt der Erscheinungen unbedingt gültig, eben weil sie subjektiv sind, da aber diese Auffassung unbeweisbar ist, so ist man mit seiner gesamten Kritik der Erkenntnis auch nicht weiter gekommen. Wenn aber in dieser Weise alle Behauptungen und Ergebnisse, zu denen die Erkenntnislehrer gekommen sind, unbeweisbar sind, wenn sie weder haben beweisen können, daß die menschliche Erkenntnis und deren Grundbegriffe uns keine wahre Erkenntnis der Wirklichkeit geben, noch daß sie uns eine solche geben, wenn die gesamte Erkenntniskritik bisher also einen Marsch auf der Stelle darstellt,
109 dann muß in dem Ausgangspunkt und der Methode aller bisherigen Erkenntniskritik selbst etwas verkehrt sein. Bei einer näheren Betrachtung zeigt es sich denn auch, daß die größte Unklarheit und Unsicherheit bezüglich der Frage herrscht, welcher Methode die Erkenntnistheorie zu folgen habe. Es herrschen hier, wie berührt wurde, zwei entgegengesetzte Richtungen, die empirische und die apriorische. Während die großen Erkenntnislehrer des 18. Jahrhundert auf manchen Punkten mit einander übereinstimmten, besteht zwischen Locke, Berkeley und Hume einerseits und Kant andererseits ein einschneidender Gegensatz gerade in der Frage der Methode der Erkenntniskritik. Die Methode der drei erstgenannten Denker war empirisch, indem sie ihre Erkenntnislehre auf einer Erfahrungswissenschaft, der Psychologie, gründeten. Kant will dagegen, wie hervorgehoben wurde, auf empirischer Grundlage eben nicht aufbauen, da diese Psychologie nichts anderes als angewandte Philosophie sei, die die reine Philosophie nach Prinzipien apriori voraussetzte. Alle Erfahrung enthält nach Kant als Grundlagen apriorische Verstandesformen, die reine Vernunft, nach der sich alle Erfahrung richtet und die zuerst zu untersuchen sei. Diese Untersuchung könne aber nicht selbst erfahrungspsychologisch sein, sie müsse nach ewigen, unveränderlichen Gesetzen vorgehen und eine für ewige Zeiten vollständige Übersicht über diese reinen, von der Erfahrung gänzlich unabhängigen Verstandeselemente geben (vgl. Kant IV, 9 ff, 69 ff., III 9 ff, 547 ff.). Aber diese ganze, über alle Erfahrung erhabene Erkenntnislehre Kants beruht, wie oben gezeigt wurde, auf dem, was er beweisen sollte, nämlich auf der Konstruktion: Stoff-Form, deren letztere in uns liege. Deshalb bleibt Kants gesammte Kritik, seine ganze Analyse, oder »Zergliederung unserer apriorischen Erkenntnis« letzten Endes nur Psychologie, also Kants eigene Selbstbeobachtung der Vorstellungen und Begriffe, die er apriorisch nennen zu können meinte — Raum, Zeit, Größenbegriff, Kausalbegriff — im Gegensatz zu Empfindungen und Vorstellungen wie Farbe, Laut, Geschmack etc. Aber selbst wenn man wohl erkennen muß, daß Kants apriorische Methode, soweit sie von aller Erfahrungspsychologie unabhängig sein sollte, unhaltbar ist, so muß andererseits auch erkannt werden, daß bei Locke, Berkeley und Hume ebenfalls eine tiefe, erkenntnistheoretische Schwäche vorliegt, wenn sie die Erkenntnislehre auf Erfahrungspsychologie gründen wollten, ohne diese als Grundlage für die Erkenntnislehre näher zu prüfen. Die Grundvorstellungen, die sie in ihrer eigenen erfahrungspsychologischen Methode anwendeten,
110 haben sie keiner näheren Kritik unterworfen. Es muß eine Sonderung zwischen Psychologie und Erkenntnistheorie vorliegen; wo aber diese Sonderung gezogen werden soll, bleibt eben das entscheidende Problem. Kant hat dieses Problem empfunden, als er erklärte, daß er seine Kritik unserer Erkenntnis weder auf Erfahrungspsychologie noch auf irgend einer anderen empirischen Wissenschaft aufbauen, sondern eine »Kritik der reinen Vernunft« nach »Prinzipien a priori« geben wollte. Kant hat sich indessen einem apriorischen Denken über die Probleme der Erkenntnislehre in die Arme geworfen, das gänzlich unbeweisbar und mindestens ebenso unkritisch ist wie das Denken Lockes, Berkeleys und Humes über diese Probleme und das im Gegensatz zu dieser erfahrungs-psychologischen Methode die große Schwäche hatte, daß es der schrankenlosesten, philosophischen Spekulation die Schleusen öffnete. Noch heute ist dieses Grundproblem der Erkenntnislehre, das Problem der Methode, nicht gelöst. Und das ist, soweit mir ersichtlich, der Grund dazu, daß auch im 19. und 20. Jahrhundert innerhalb der Erkenntnislehre und damit in der Philosophie überhaupt immer noch grundsätzlich verschiedene Geistesrichtungen gegeneinander kämpfen, denn es hat zur Folge, daß auch das Grundproblem der Ethik ungelöst geblieben ist. Hier finden wir den tieferen Grund dazu, daß die romantische spekulative Philosophie die erkenntniskritische Geistesrichtung des 18. Jahrhunderts ablösen und verdrängen konnte, daß diese Spekulation später im 19. Jahrhundert von der empirischen Psychologie und Erkenntniskritik verdrängt wurde und daß in neuester Zeit, Ende des 19. und nun im 20. Jahrhundert, apriorische und spekulative Richtungen, wie der Neu-Kantianismus und der Neu-Hegelianismus, aufs neue entstanden sind und die Begrenzung der bisherigen Erkenntnislehre aufzeigen. Um Klarheit über dieses Grundproblem, die Methode der Erkenntnislehre, zu erhalten, muß man meiner Auffassung nach zuerst 1) die Grundelemente der menschlichen Erkenntnis und ihre näheren Beziehungen zu einander durch eine erfahrungspsychologische Untersuchung feststellen und beleuchten. Gleichzeitig muß man aber 2) selbstkritisch darüber klar werden und feststellen, welcher Erkenntniselemente oder welches Erkenntnisvermögens wir uns gerade bei dieser psychologischen Feststellung und Beleuchtung bedienen.
6.
Kapitel
DIE G R U N D E L E M E N T E DER MENSCHLICHEN E R K E N N T N I S UND IHR GEGENSEITIGES VERHÄLTNIS Der Zweig der Philosophie, der mit Lockes kritischer Erkenntnispsychologie eingeleitet wird, wird oft als Erkenntnistheorie, mitunter auch Erkenntnislehre, bezeichnet. Das W o r t Erkenntnislehrc wird oft in weiterem, Erkenntnistheorie aber in engerem Sinne aufgefaßt, weil die letztere dann lediglich die Untersuchung umschließt, die sich zur Aufgabe macht, die Grenzen unserer Erkenntnis zu bestimmen, während die Erkenntnislehre auch die Logik und überhaupt alle Untersuchungen über wissenschaftliche Methode miteinbegreift. Im Folgenden werden die Bezeichnungen Erkenntnistheorie und Erkenntnislehre als gleichbedeutend verwendet. Diese Wissenschaft soll meiner A u f f a s s u n g nach den allgemeinen Teil sämtlicher Fachwissenschaften bilden. Sie m u ß daher zunächst die Grundbegriffe, mit denen alle Fachwissenschaften in ihren Untersuchungen operieren und auf denen sie aufbauen, ohne sich selbst ihnen gegenüber kritisch stellen zu können, untersuchen und dadurch die Reichweite der menschlichen Erkenntnis vermittels dieser Grundbegriffe, also ihre Grenzen, zu bestimmen suchen. Diese Grundbegriffe sind teils die umfassendsten B e g r i f f e : Wirklichkeit, Existenz, Erfahrung, Wissen, induktiv, deduktiv, empirisch, apriorisch, und teils die B e g r i f f e : Raum, Zeit, Gleichheit und Verschiedenheit, Ursache und W i r k u n g , Veränderung, Bewegung, Kraft, Stoff und Ding. Dann aber m u ß die Erkenntnislehre oder die Erkenntnistheorie die
Den deutschen Bezeichnungen: Erkenntnistheorie und Erkenntnislehre entsprechen im Englischen die Wörter: Epistemology und Metaphysics. Auch hier werden die beiden Wörter oft in der gleichen Bedeutung benutzt, doch auch oft, wie im Dänischen, jeweilig das Eine oder das Andere in engerem oder weiterem Sinne.
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richtigen wissenschaftlichen Methoden — die logisch-mathematische und die real-wissenschaftliche — zu ermitteln suchen, wozu namentlich die Prüfung der genannten Grundbegriffe beitragen kann. 1. U N S E R E E R K E N N T N I S VON V E R S C H I E D E N H E I T U N D GLEICHHEIT. S I N N E S E M P F I N D U N G E N Die ersten und grundlegendsten Elemente unserer Erkenntnis sind, wie ich im Folgenden zeigen werde, unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit zwischen den Sinnesempfindungen und diese letzteren selbst. Ohne diese Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit kann weder unser Denken noch unser Wahrnehmen einen Schritt weiter kommen. Sie stellt den elementarsten Ausgangspunkt des gesamten Denkens und Wahrnehmens dar. Das Unterscheidungsvermögen setzt voraus, daß das Bewußtsein Eindrücke bewahren kann, nachdem der Reiz von Außen aufgehört hat; denn einen Eindruck zu unterscheiden ist nur möglich, wenn ein anderer Eindruck vorhanden ist, von dem er unterschieden werden kann, weil er mit dem ersten nicht identisch ist. Dieses Unterscheiden ist aber mit einem Zusammenfassen der beiden Eindrücke in unserem Bewußtsein unlösbar verbunden. Betrachten wir die einfachste Erscheinung im Bewußtsein, zwei kurz auf einander folgende oder gleichzeitige Empfindungen (z. B. zwei auf einander folgende Töne oder zwei gleichzeitige Gesichtsempfindungen, z. B. das Rot und Grün einer Blume), dann sind hier die Betätigungen gleich im Gange, denen wir auf den höheren Stufen des Bewußtseins immer und immer wieder begegnen. Wir haben hier zunächst 1) das Vermögen, Eindrücke zu bewahren, denn daß der Eindruck bewahrt wird, ist wie gesagt die Voraussetzung dafür, daß er als Gegensatz zu einem anderen empfunden werden kann und umgekehrt. Dann haben wir hier weiter 2) das Vermögen zu unterscheiden, zu sondern. Das Bewahrungsvermögen ist indessen nicht nur von einem Unterscheiden begleitet, sondern gleichzeitig von 3) einem Zusammenfassen, einer Art des primitiven Vergleichens. Hier sind also bereits auf dem Stadium des Empfindens die Faktoren tätig, die später in jeder Vor Stellungsverbindung und Vergleichung zum Ausdruck kommen: 1) das Vermögen, die Eindrücke zu bewahren, das die Ursache ist, daß es überhaupt etwas gibt, das man Vorstellungen nennt, und 2) und 3) nämlich das Vermögen, die Eindrücke zu unterscheiden und zusammenzufassen, das die Vorbedingung für die Be-
113 rührungs-Assoziation, die V e r k n ü p f u n g der Vorstellungen und deren Vergleichung darstellt. So werden durch Bewahrung, Unterscheidung und Vergleichung alle allgemeinen Vorstellungen und Begriffe erzeugt. Daß diese beiden Erscheinungen: die sinnlichen Empfindungen selbst und unser Vergleichen und Unterscheiden nicht von einander zu trennen sind, zeigt auch eine andere Beobachtung. Gäbe es weder Verschiedenheit noch Gleichheit zwischen sinnlichen Empfindungen, würden wir diese letzteren gar nicht erhalten. W ä r e kein Unterschied zwischen den Sinnesempfindungen vorhanden, würden wir überhaupt gar keine Empfindungen erhalten. W e n n es umgekehrt keine Sinnesempfindungen gäbe, die einander gleichen, wenn unsere Sinnesempfindungen also alle völlig verschieden wären, wenn sie also eine einzige verworrene, kaleidoskopische, unaufhörlich wechselnde Masse bildeten, würden wir sicherlich auch nichts wahrnehmen, keine sinnlichen Empfindungen haben — jedenfalls wäre jede W a h r n e h m u n g , jede A u f f a s s u n g von Sinnesempfindungen und jedes Denken unmöglich. Ein einziger, ununterbrochener, unaufhörlich wechselnder Strom von Sinneseindrücken würde unser Bewußtsein überwältigen und betäuben. So wie unser Bewußtsein beschaffen ist, kehren aber im Wirbel der Verschiedenheiten ständig die gleichen Hauptarten sinnlicher Empfindungen wieder. Die sinnliche W a h r n e h m u n g zeigt uns Dinge sehr verschiedener Größe und Gestalt, aber alle haben sie die gleiche Eigenschaft der Größe und die gemeinsame Eigenschaft der Gestalt; weiter haben die Dinge sehr verschiedene Farben, sie haben aber alle die gemeinsame Eigenschaft der Farbe usw. Und selbst innerhalb derselben Hauptart begegnen wir vielen Sinnesempfindungen, die einander ganz oder teilweise gleichen. So stoßen wir auf viele Dinge, die rot, viele, die blau sind, viele wiederum, die die gleiche Größe oder die gleiche Gestalt haben usw. W e n n aber die sinnlichen Empfindungen und die A u f f a s s u n g von Gleichheit und Verschiedenheit demnach unlösbar mit einander verbunden sind, dann wird es ersichtlich, daß Lockes, Humes und Kants scharfe Sonderung zwischen sinnlichen Empfindungen einerseits und den Vorstellungen von Verschiedenheit und Gleichheit andererseits als einer Form, unter welcher unser Verstand die Sinnesempfindungen behandle und bearbeite, unkorrekt ist. Es ist unberechtigt, die Sinnesempfindungen als den passiven und den Vorgang des Unterscheidens und des Vergleichens als den aktiven Teil un8
Erkenntnis und Wertung
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seres Bewußtseins zu bezeichnen. Die Sinnesempfindung erweist sich, wie aus dem Dargelegten hervorgeht, als ein zusammengesetztes Produkt. Selbst eine ganz einfache Sinnesempfindung, wie beispielsweise ein einzelner Ton, eine einzelne Farbe, läßt sich nicht als ein von einem unterscheidendem und vergleichenden »Wirken« getrenntes Element auffassen, sondern ist bereits in ihrer Entstehung unlösbar mit diesem verbunden. Ob in diesem Vorgang etwas Aktives oder Passives liegt, ist uns völlig unbekannt. Bezüglich des Erkenntnisvermögens einen Unterschied zwischen den sinnlichen Empfindungen als »Erfahrung«, als empirischem Stoff, und unseren Vorstellungen von Verschiedenheit und Gleichheit als Erfindungen oder apriorischen Formen unsres Geistes festzustellen, ist somit unbegründet. Wir können, wie gezeigt wurde, ebenso wenig sinnlich empfinden, also ebenso wenig wahrnehmen, wie logisch denken, ohne das Vermögen zu unterscheiden und zu vergleichen. Diese Fähigkeit oder Tätigkeit unseres Bewußtseins muß als ein Grundfaktor jeder menschlichen Erkenntnis aufgefaßt werden. Sie läßt sich weder beweisen noch widerlegen. Ob sie uns eine wahre Erkenntnis der Welt gibt, wissen wir nicht; aber sie ist eine letzte Grundvoraussetzung, ohne die keine Denktätigkeit und keine Wahrnehmung der Welt oder unserer selbst zustandekommt. Unterscheiden und Vergleichen sind die Vorbedingungen nicht nur jeder Empfindung, sondern, wenn bewußt entwickelt, jeder klaren und streng wissenschaftlichen Sinneswahrnehmung, die das zusammenstellt, was wirklich zusammengehört, und das trennt, was sich nicht gleicht. Weiter ist die Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit die letzte Grundvoraussetzung jeder Mathematik und jeder Logik. Und jede naturwissenschaftliche und sonstige fachwissenschaftliche Begriffsbildung und Systematik wird nur mittels der unterscheidenden und vergleichenden Tätigkeit möglich. Vor allem Anderen ist aber zu bemerken, daß die Selbsterkenntnis, die psychologische Wahrnehmung ohne ein Unterscheiden und Vergleichen überhaupt nicht möglich wäre, nicht arbeiten und nicht weiterkommen könnte. In unserem Bewußtsein unterscheidet die Selbstwahrnehmung zwischen den einzelnen Sinnesempfindungen: rot, blau, rund, viereckig, hart, warm, und konstatiert Gleichheit, wenn die gleiche sinnliche Empfindung wiederkehrt. Die Sonderung zwischen den sinnlichen Empfindungen einerseits und der unterscheidenden und vergleichenden Tätigkeit unseres Bewußtseins andererseits ist ja selbst das erste Ergebnis dieser Tätigkeit. Mittels des gleichen
115 Vermögens zu unterscheiden und zu vergleichen sondern wir zwischen sinnlichen Empfindungen und den diesen entsprechenden Vorstellungen. Locke, Berkeley, Hume und Kant bedienen sich bei ihrer Selbsterkenntnis Alle des Unterscheidungs- und Vergleichungsvermögens, ungeachtet, daß diese Selbsterkenntnis bei den drei Erstgenannten empirische Psychologie, bei Kant eine »transzendentale Selbsterkenntnis« als höchster Gerichtshof ist. So muß sich ihre Erkenntniskritik denn gefallen lassen, daß sie mit dem gleichen Erkenntnismittel kritisiert wird; und es kann, wie hervorgehoben wurde, bereits hier, von diesem höchsten Gerichtshof aus, festgestellt werden, daß ihre erkenntnistheoretische Hauptsonderung und Folgerung unbeweisbar ist: nämlich die Sonderung zwischen sinnlichen Empfindungen als »Stoff«, »materials«, und Gleichheit und Verschiedenheit und anderen Beziehungen, »relations«, als den von unserem Geist geschaffenen Formen (»inventions«, »Verstandesform«). Auf dem Stadium der sinnlichen Empfindungen ist die unterscheidende und vergleichende Tätigkeit eng an die Empfindung selbst geknüpft, ohne doch mit ihr identisch zu sein. Die Wahrnehmung läßt sich, wie oben betont wurde, ohne ein Unterscheiden und Vergleichen zwischen den einzelnen sinnlichen Empfindungen nicht denken. Dagegen ist Unterscheiden und Vergleichen, besonders zwischen zwei Vorstellungen (beispielsweise zwischen zwei Bildern, deren ich mich im Augenblick entsinne), oder sinnlichen Wahrnehmung durchaus möglich — und aus diesem Grunde sind wir imstande zwischen den Sinnesempfindungen und der unterscheidenden und vergleichenden Tätigkeit zu sondern. Aber im übrigen beginnt diese Tätigkeit bereits auf der Stufe der Empfindung allmählich ihre Selbständigkeit, d. h. ihre Verschiedenheit von den sinnlichen Empfindungen selbst zu zeigen. Betrachte ich in diesem Augenblick ein Gemälde, das einige Häuser mit roten Dächern und ein paar grüne Bäume zwischen den Häusern darstellt, dann erhalte ich, unmittelbar und unreflektiert, einen Gesamtkomplex von Gesichtsempfindungen, von Farben und Umrissen, gleichzeitig aber habe ich ein mehr oder weniger klares Bewußtsein oder eine »Empfindung«, daß die rote und die grüne Farbe an verschiedenen Stellen des Gesichtsfeldes wiederkehren, nämlich in den verschiedenen Häusern und den grünen Bäumen. Auch diese »Empfindung« von Gleichheit kann vielleicht ganz unreflektiert sein, sie kann aber auch später als eine 8*
116 v o l l k o m m e n b e w u ß t e und klare Feststellung einer Gleichheit der F a r b e zwischen mehreren Gegenständen des Bildes, n ä m l i c h den Häusern u n d den B ä u m e n auftreten, die, von der F a r b e abgesehen, im übrigen sowohl an Größe als an Gestalt verschieden sind. A b e r dieses B e w u ß t s e i n oder diese » E m p f i n d u n g « von Gleichheit u n d V e r schiedenheit zwischen den einzelnen sinnlichen E m p f i n d u n g e n — im diesem F a l l e also G e s i c h t s e m p f i n d u n g e n — ist bereits hier v o n den S i n n e s e m p f i n d u n g e n selbst verschieden. E s ist eine andere psychische Fähigkeit, deren W i r k e n hier neben den sinnlichen E m p f i n dungen leise einzusetzen beginnt. W e i t stärker aber erweist sich die Selbständigkeit dieser F ä h i g k e i t , w e n n ich eine Gleichheit »empfinde« oder »finde« z w i s c h e n einer Sinnesempfindung, die ich gestern — oder vor einem Monat — hatte, also zwischen einer V o r stellung und einer gegenwärtigen Sinnesempfindung, i n d e m i c h beispielsweise heute dasselbe Haus sehe, das ich gestern oder vor einem Monat sah. Schließlich w i r d die Grundverschiedenheit der S i n n e s e m p f i n d u n g e n — und der diesen entsprechenden Vorstellungen — einerseits u n d des V e r m ö g e n s der A u f f i n d u n g von Gleichheit und Verschiedenheit andererseits besonders deutlich, w o dieses Vermögen mit zwei Vorstellungen operiert, beispielsweise einem k l e i n e n u n d einem großen Kreise, die ich gestern in einem Geometriebuch
Wenn das Auffinden von Gleichheit und Verschiedenheit seitens unseres Bewußtseins im obengenannten Fall der Gleichheit zwischen einer Sinnesempfindung von gestern — oder vor einem Monat — und einer heutigen seine Selbständigkeit und seine grundsätzliche Verschiedenheit von den sinnlichen Empfindungen so klar enthüllt, dann liegt es daran, daß der Zeitunterschied zwischen diesen beiden Sinnesempfindungen hier so relativ groß ist, daß es ganz deutlich wird, daß es sich bei unserem »Auffinden der Gleichheit« zwischen zwei an sich isolierten, durch einen langen Zeitraum von einander getrennten, sinnlichen Empfindungen um einen neuen psychischen Faktor neben den Sinnesempfindungen handeln muß. Wo, wir dagegen eine Gleichheit zwischen zwei Elementen desselben Gesichtskomplexes finden wie z. B. zwischen zwei roten Häusern des obengenannten Bildes, tritt die vergleichende Tätigkeit im Verhältnis zu den sinnlichen Empfindungen nicht so selbständig, nicht so scharf hervor, weil wir hier zwei Sinnesempfindungen — die der beiden roten Häuser — gleichzeitig erhalten. Wir fühlen sie als gleichzeitig im Gesichtsfeld. Deshalb ist es aber doch möglich, daß ein kleiner Zeitraum zwischen ihnen verstrichen ist, ein Zeitinterval, das zwar so außerordentlich klein ist, daß unser Bewußtsein dessen nicht gewahr wird, das sich aber doch vielleicht in gewissen Fällen experimentell psychologisch feststellen ließe.
117 sah und an die ich gegenwärtig denke, d. h. die ich mir ins Bewußtsein gerufen habe. Es ist also festzustellen, daß diese Auffindung von Gleichheit und Verschiedenheit seitens unseres Bewußtseins sich auf dem Stadium der Empfindung zwar nicht von den sinnlichen Empfindungen trennen läßt, im übrigen aber eine von diesen und ihren entsprechenden Vorstellungen verschiedene Tätigkeit oder Fähigkeit ist. Für Locke, Berkeley und Hume gab es in unserer Erkenntnis zwei Hauptgruppen von Erscheinungen, nämlich Sinnesempfindungen und die von diesen abgeleiteten Vorstellungen, seien diese nun einfach oder zusammengesetzt. Sie waren gleichzeitig darüber im klaren, daß außer diesen beiden psychischen Erscheinungen noch eine dritte vorliege, nämlich die verbindende, ordnende und bearbeitende Tätigkeit unseres Verstandes; sie dachten sich aber, daß Vorstellungen von Beziehungen (ideas of relations) zwischen Sinnesempfindungen und Vorstellungen dank dieser Tätigkeit entständen; dazu gehörten auch Vorstellungen von Gleichheit und Verschiedenheit zwischen sinnlichen Empfindungen und Vorstellungen. Diese Philosophen überschritten also nicht ihr psychisches Hauptschema: Sinnessempfindungen und Vorstellungen. Im Allgemeinen untersuchten sie aber diese besonderen Vorstellungen von Beziehungen zwischen anderen Vorstellungen oder Sinnesempfindungen näher. Allein die Existenz dieser besonderen Vorstellungen stimmte mit der Hauptthese dieser Denker nicht gut überein, daß unsere gesamten Vorstellungen von Sinnesempfindungen herstammen, und zwar entweder von einfachen, z. B. einer Farbe, oder von zusammengesetzten, z. B. einem Ding; denn während wir eine rote Farbe und einen viereckigen, roten Gegenstand sinnlich wahrnehmen können, läßt sich dagegen eine »Beziehung« zwischen zwei Dingen, beispielweise einer Gleichheit zwischen einem Ding, das ich gestern gesehen habe, und einem, das ich heute sah, nicht »sinnlich wahrnehmen«. Hierüber herrscht Unklarheit bei Locke, Berkeley und Hume. Sie lassen hier eine allgemeine Untersuchung vermissen. Nur Hume hat eine einzige von diesen merkwürdigen Vorstellungen untersucht, nämlich unsere Vorstellung von dem Verhältnis zwischen den Vorstellungen oder den sinnlichen Empfindungen: Ursache und Wirkung. Dabei kommt er freilich auch folgerichtig zu dem Ergebnis, daß diese Vorstellung von dem Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung gerade nicht einer sinnlichen Empfindung entstamme. Ganz dasselbe gilt indessen der Vorstellung von der-
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jenigen Beziehung zwischen zwei Vorstellungen oder Sinnesempfindungen, die besagt, daß eine Gleichheit zwischen ihnen bestehe. Dieses »Auffinden« einer Gleichheit zwischen zwei Vorstellungen oder Sinnesempfindungen seitens unseres Bewußtseins ist eben so wenig eine Sinnesempfindung wie unsere Auffindung einer Kausalverbindung zwischen zwei Vorstellungen oder Sinnesempfindungen. Hume hätte deshalb auch folgerichtig zu dem Ergebnis kommen müssen, daß unser »Auffinden« oder »Fühlen« einer Gleichheit zwischen zwei sinnlichen Empfindungen ein rein »inneres« Empfinden oder Fühlen (an impression of reflection), nämlich eine Empfindung oder ein Gefühl in uns selbst sei, d. h. daß es nicht den sinnlichen Empfindungen den Dingen an sich entstamme (es liegt »in the mind, not in the objects«), da »innere« Empfindungen gerade zu den Sinnesempfindungen (als den äußeren Objekten) in Gegensatz gestellt werden. Und dies entspricht denn auch der Grundauffassung Humes, die er von Locke übernommen hat, daß nämlich alle Vorstellungen von Beziehungen, hierunter von Gleichheit und Verschiedenheit zwischen Objekten (d. h. sinnlichen Empfindungen und Vorstellungen) zusammengesetzte, von unserem verbindenden, ordnenden Verstand geschaffene Vorstellungen seien. Diese Konsequenz des Standpunktes von Locke und Hume kommt auch bei Kant deutlich zum Ausdruck. Nach ihm rührt die Grundvorstellung von Gleichheit und Verschiedenheit ebensowenig von den Sinnesempfindungen her, wie die Vorstellung von Ursache und Wirkung. Sie liegen beide »in uns«, womit Kant sich der Ausdrucksweise Humes bedient. Beide sind sie Formen der verbindenden Tätigkeit unseres Geistes (der Synthese). Indessen findet man weder bei Kant noch bei Locke oder Hume eine nähere Erklärung dieser besonderen, psychischen Erscheinung, nämlich der Gleichheit- und Verschiedenheit feststellenden Tätigkeit unseres Bewußtseins. Es ist schwierig, einen Ausdruck zu finden, der diese Tätigkeit, dieses Vermögen sprachlich vollkommen deckt. Es wäre an sich natürlich zu sagen, daß wir eine Gleichheit zwischen zwei sinnlichen Eindrücken »empfinden« oder »fühlen«. Das Wort Empfindung aber bezeichnet gewöhnlich Sinnesempfindungen, hierunter Organempfindungen, und mit dem Wort Gefühl bezeichnet man das Gefühl von Lust oder Unlust; Gleichheit und Verschiedenheit zu finden ist aber weder eine Sinnesempfindung noch ein Gefühl von Lust oder Unlust. Die gewöhnliche Einteilung der psychischen Phänomene ist bekanntlich die Dreiteilung: Erkenntnis, Gefühl und Willen. Unser
119 Auffinden von Gleichheit und Verschiedenheit gehört zur ersten Gruppe; und dieses Vermögen bezeugt, wie gezeigt wurde, daß die Erkenntnis mehr enthalte, als nur sinnliche Empfindungen und von diesen hergeleitete Vorstellungen. Unser Auffinden von Gleichheit und Verschiedenheit läßt sich folgendermaßen beschreiben: ein jetzt in unserem Bewußtsein auftauchender Sinneseindruck (oder eine Vorstellung) trifft einen früher empfangenen Sinneseindruck, der als Vorstellung im Bewußtsein aufbewahrt ist und der nun dadurch wieder hervorgerufen wird, daß der erstgenannte Sinneseindruck (oder die Vorstellung) den aufbewahrten trifft und ihn ganz oder teilweise deckt. Wenn wir einen Sinneseindruck (z. B. ein gelbes Haus mit rotem Dach) gehabt haben und dieser verschwindet, wird in unserem Bewußtsein ein schwächeres Abbild, eine mehr oder weniger unbestimmte Kopie aufbewahrt; und dieser in der Erinnerung beruhende Rest eines Erlebnisses kann in unserem Bewußtsein wieder ins Leben gerufen werden, wenn späterhin ein neuer Sinneseindruck auf uns einwirkt, der den älteren ganz oder teilweise deckt (z. B. ein Eindruck des gleichen Hauses in derselben oder einer anderen Beleuchtung, oder auch eines ganz anderen Hauses, das wie das früher gesehene gelbe Mauern und ein rotes Dach hat), oder wenn wir infolge einer Berührungs-Assoziation von einer Vorstellung a eine Vorstellung b erhalten, die im Bewußtsein »neben« a liegt, wenn wir beispielsweise von einer Vorstellung von dem Haus Nr. 1 aus an das Haus Nr. 3 denken, das in derselben Straße neben Nr. 1 liegt. Will man nun diese psychische Tätigkeit, dieses Auffinden einer Gleichheit, diese Wiedererkennung im weiten Sinne, mit einem selbständigen sprachlichen Ausdruck bezeichnen, könnte man vielleicht das Wort »Deckung« verwenden. Man könnte also sagen, daß es in unserer Erkenntnis außer den — teils einfachen, teils zusammengesetzten — Sinnesempfindungen und den von diesen abgeleiteten Vorstellungen die psychische Erscheinung gibt, daß sinnliche Empfindungen und Vorstellungen einander ganz oder teilweise decken oder aber ganz oder teilweise von einander abweichen, daß man also feststellt, daß sie einander ganz oder teilweise gleichen oder von einander verschieden sind. Aber man kann natürlich auch den ganz allgemeinen Ausdruck: Auffinden von Gleichheit und Verschiedenheit benutzen. Bezüglich des Verhältnisses der bisherigen Erkenntniskritik zu diesem fundamentalen Erkenntnisvermögen kann ich nach dem
120 früher gesagten das Ergebnis kurz folgendermaßen zusammenfassen: 1) Wenn Locke und Hume mit ihrer Behauptung recht haben, daß unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit eine subjektive Form sei, die in uns, nicht in der Wirklichkeit liege, dann muß schon aus diesem Grunde gerade ihre Sonderung zwischen Sinnesempfindungen als Stoff und den Formen unseres Geistes und die darauf begründete Behauptung jedes Beweises entbehren. 2) Wenn diese Behauptung dagegen, wie nachgewiesen wurde, unbeweisbar ist, dann kann das Unterscheiden und Vergleichen unserer psychologischen Beschreibung keinerlei Grundlage für die Sonderung geben. 2. U N S E R E E R K E N N T N I S V O N U R S A C H E UND WIRKUNG
Die Auffindung von Gleichheit und Verschiedenheit seitens unseres Bewußtseins ist indessen nicht das einzige Grundelement unserer Erkenntnis. Es gibt im Bewußtsein eine andere Tätigkeit oder Fähigkeit, ohne die sowohl unsere allgemeinmenschliche als auch unsere wissenschaftliche Erkenntnis unvollständig sein würde. Eine Bestimmung dieser Erscheinung ist ebenfalls außerordentlich schwierig, u. a. auch weil ihre Entstehung sehr kompliziert erscheint. Kurz läßt es sich so sagen, daß wir Sinnesempfindungen nicht nur im gegenseitigen Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit erkennen, sondern auch in dem gegenseitigen Verhältnis, das die eine als Ursache, die andere als Wirkung kennzeichnet. Aber was verstehen wir eigentlich darunter? Und wie sind wir überhaupt dazu gekommen, eine Sinnesempfindung (oder einen Komplex von Sinnesempfindungen) als Ursache einer anderen und diese andere Sinnesempfindung (oder diesen anderen Komplex von solchen) ihrerseits als Wirkung jener ersteren zu betrachten? Derjenige, der mit diesem Problem bisher am gründlichsten gearbeitet hat, ist ja, wie früher erwähnt, Hume. Seine psychologische Auseinandersetzung der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ist bis zu einem gewissen Punkt vorzüglich: auf diesen Punkt aber scheint mir seine Erklärung zu versagen. Aber bisher hat man nicht Klarheit darüber finden können, worin der Fehler in seinem Gedankengang eigentlich steckte. Hume stellt fest, daß drei Bedingungen erfüllt sein müssen, damit zwei sinnliche Empfindungen als Ursache und Wirkung aufgefaßt
121 werden können, nämlich daß die beiden Sinnesempfindungen räumlich mit einander verknüpft sind, daß sie zeitlich nach einander folgen, und daß uns eine notwendige Verbindung zwischen ihnen zu bestehen scheint. Eben bei der psychologischen Erklärung dieses letzten Phänomens, der notwendigen Verbindung, geht Hume meines Erachtens in die Irre. Er sucht sehr eingehend nachzuweisen, daß unsere Vorstellung von dieser inneren Verbindung weder von den beiden sinnlichen Empfindungen Ursache und Wirkung selbst, noch von einer dritten herrühre, sondern daß sie in folgender Weise entstehen: wenn es sich gezeigt habe, daß die Sinnesempfindung a, oder die Ursache, die Sinnesempfindung b, die Wirkung, im Gefolge habe, und wenn a sich das nächste Mal als Sinnesempfindung zeige, dann ziehe sie die in der Erinnerung als Vorstellung aufbewahrte b nach sich und teile dieser etwas von ihrem eigenen Leben mit; und wenn wir in zahlreichen Fällen a und b gleichermaßen in konstanter Reihenfolge nach einander haben auftreten sehen, dann entstehe durch die Gewohnheit allmählich die bestimmte Erwartung ihrer Reihenfolge auch in der Zukunft und die Vorstellung von einer inneren, notwendigen Verbindung oder eines Bandes zwischen ihnen, also eine Vorstellung in uns, nicht aber in den sinnlichen Empfindungen oder den Objekten (Hume I 392 ff., 450 ff.). Diese Erklärung ist meines Erachtens nicht richtig. In Wirklichkeit verhält es sich sonderbarerweise so, daß bloß ein einzelner Fall, eine vereinzelte Sinneswahrnehmung (oder ein einzelner Sinneskomplex) in unserem Bewußtsein die eigentümliche Vorstellung von einer Ursache und unser Suchen nach einer solchen hervorrufen könne. Diese Sinneswahrnehmung ist das Phänomen der Veränderung. Sehen wir das Eis schmelzen, so fragen wir sofort: was ist die Ursache? Hume — und nach ihm Mill — nimmt nun an, daß der
"Wenn im Folgenden der Kürze halber das Wort Sinnesempfindungen verwendet wird, wie z. B. die Sukzesssion zweier Sinnesempfindungen, ist damit ein Komplex von Sinnesempfindungen gemeint; es sei denn, daß klar aus dem Zusammenhang hervorgehe, daß lediglich eine einzelne sinnliche Empfindung, z. B. rot, gemeint ist. Eine Ursache und eine Wirkung stellen nämlich in der Regel einen ganzen Komplex von Sinnesempfindungen dar. So ist beispielsweise die Wirkung: das Blei schmilzt, ein Komplex folgender sinnlicher Empfindungen: die Farbe des Bleis, seine Form während des Schmelzens, sein Umfang u. ä. Ebenso ist die Ursache: das Feuer, ein Komplex von Farben (rot, weißglühend), Form, Umfang, Wärmeempfindung u. ä.
122 Kausalsatz auf Induktion beruhe, auf einer Schlußfolgerung von vielen Fällen der Sukzession zweier Sinnesempfindungen auf alle Fälle dieser Art, und zwar auch in der Zukunft. Aber diese induktive Kausaltheorie ist eine einfache Folge der Erkenntnispsychologie Humes. Nach dieser gibt es nur Empfindungen und von diesen hergeleitete Vorstellungen. Die Ursache ist eine Empfindung, die Wirkung eine andere, die der ersten zeitmäßig folgt. Nach diesen psychologischen Voraussetzungen war es Hume unmöglich, den Ursprung des Kausalgesetzes anders zu erklären, als durch Assoziation zwischen der Empfindung oder Vorstellung der Ursache und derjenigen der Wirkung. Diese Erklärung ist aber, soweit ich sehen kann, psychologisch unrichtig. Der Kausalsatz entsteht nicht dadurch, daß wir wiederholt, ja tausendmal Wirkung auf Ursache haben folgen sehen, denn dann würden wir ja nicht, wenn wir eine Veränderung sehen, sofort nach deren Ursache fragen. Außerdem verhält es sich nicht so, daß wir immer erst die Ursache und dann die Wirkung sehen. In vielen, ja vielleicht in den meisten Fällen sehen wir zuerst eine Veränderung, d. h. eine Wirkung, und erst danach beginnen wir die Ursache zu suchen. Aber gleich das erste Mal, wenn wir eine Veränderung bemerken, fragen wir: was rief diese Veränderung hervor, was ist die Ursache? Wir beobachten zuerst — und zwar ausschließlich — die Veränderung: das Schmelzen des Eises, das Ausschlagen der Bäume, das Zusammenstürzen oder Brennen des Hauses, das Einschlagen des Blitzes, das Fallen des Steines auf die Erde, das Rollen des Donners, das Brausen des Stromes, die Wellen des stürmischen Meeres, die Sprengung und den Fall von Felsstücken im Gebirge u. ä., und erst dann suchen wir die Ursache. Als die Menschen sich zum ersten Mal des Phänomens der Veränderung bewußt wurden, nahmen sie mythische Gestalten, Götter, als Ursachen der Veränderungen an. Ihr Bedürfnis, eine Ursache zu finden, schuf diese Wesen — oder richtiger: ließ ihre Phantasie diese Wesen erschaffen. Die Götter primitiver Völker sind nämlich eben Veränderungsgötter: Regen- oder Donnergötter, Wachstumsgötter, Sonnengötter, Meeresgötter (wenn das Meer in stürmischer Erregung ist, ist der Gott zornig), Windgötter, Totengötter, Quellen- und Baumnymphen, Najaden und Dryaden, Flußgötter usw. Daß der Kausalsatz den assoziativen Ursprung, den Hume ihm beilegt, nicht hat, geht auch daraus hervor, daß wir noch heute unser Bedürfnis nach Erkenntnis nicht durch die bloße Wahrnehmung einer Veränderung oder der Aufeinanderfolge der beiden Er-
123 scheinungen Ursache und Wirkung befriedigt sehen. So fühlen wir uns durchaus nicht durch die bloße Wahrnehmung befriedigt, daß die Annäherung der W ä r m e das Schmelzen des Eises hervorruft, was Humes Sukzession von Ursache und W i r k u n g ist; wir wollen auch wissen, wie dies genauer vor sich gehe, wir wollen die hinter der äußeren Sinneswahrnehmung liegenden inneren Verhältnisse kennen lernen. Die Molekulartheorie und die kinetische Wärmetheorie erklären bekanntlich das Phänomen der W ä r m e als Bewegung der Moleküle in den Körpern. W o h e r stammt also dieses Bedürfnis nach einer in die Tiefe gehenden Kausalerklärung? In welchem Maße eine Theorie von den Erfahrungsfällen abhängt, auf denen sie aufgebaut ist, wird an Humes und Kants Kausaltheorien ersichtlich. Diese Denker haben nämlich, als sie sich ihre
Locke und Hume fassen bisweilen unbewußt diejenigen Fälle, bei denen wir in Wirklichkeit zuerst die Wirkung und darauf die Ursache wahrnehmen, als eine Verbindung auf, wo wir zuerst die Ursache sehen. Uns Allen geht es häufig ebenso. So sehen wir beispielsweise eine Tapete bleichen. Wir stellen später fest, daß Sonnenlicht die Ursache dieser Veränderung ist, darauf aber gehen wir unbewußt dazu über, die Reihenfolge als 1) Ursache — 2) Wirkung, das Sonnenlicht als Ursache, das Bleichen der Tapete als Wirkung aufzufassen. Wenn Hume das Verhältnis von Ursache und Wirkung als eine Sukzession von zwei Sinnesempfindungen darstellt, ist im übrigen dazu zu bemerken, daß die Wirkung, die Veränderung allein immer aus zwei oder mehreren sinnlichen Empfindungen besteht, nämlich aus dem früheren und dem gegenwärtigen Zustand: erst der Schnee im gefrorenen, weißen Zustand, dann im geschmolzenen (außer möglichen Zwischenformen des schmelzenden Zustandes); und erst dann finden wir eine dritte Sinnesempfindung, die Sonnenwärme, als Ursache. Wenn das Feuer das Blei zum Schmelzen bringt, sehen wir zuerst das Feuer und das feste Blei, dann das Blei im schmelzenden und im geschmolzenen Zustand. Draußen in der Natur folgen die zwei Sinnesempfindungen oder Vorgänge, in denen die Veränderung, die Wirkung, besteht, konstant, immer aufeinander. Während Blei im festen Zustand nicht immer, sondern im Gegenteil selten Blei im flüssigen Zustand in der Folge hat und dann nur in der Weise, daß wir in der Regel gleichzeitig die Ursache, das Feuer, gewahren, so sehen wir hingegen in der Natur immer Nacht auf Tag, Sommer auf Winter, den Laubfall auf das Ausschlagen der Bäume folgen u. ä., aber hier sehen wir nicht die Ursache der Veränderung. Auch hier gibt es einen »Gegenstand«, in dem die Veränderung vor sich geht, wie das Blei, das schmilzt, nämlich die Wälder oder den Teil des Himmelraumes, der innerhalb des
124 A u f f a s s u n g bildeten unbewußt verschiedene Gruppen von Fällen vor A u g e n ; deshalb sind beider Theorien unvollständig und in ihrem Gesichtskreis begrenzt worden. Hume hat sein Augenmerk auf die Fälle gerichtet, in denen wir zuerst die Ursache und dann die Wirkung sehen, z. B. das Licht bringt, indem es sich dem W a c h s nähert, dieses z u m Schmelzen, wie das Feuer das Blei zum Schmelzen bringt; oder auf solche Fälle, in denen wir wenigstens hinterher die Reihenfolge unserer Erlebnisse auf diese Weise auffassen. Kant hat dagegen die Gruppe von Fällen vor Augen, in denen wir erst die Wirkung, die Veränderung sehen und danach die Ursache suchen und finden, wie z. B. das Schmelzen des Schnees und des Eises. Der Fall Humes ergibt sich natürlich aus seiner Assoziation zweier Sinnesempfindungen; er stellt deshalb die Theorie auf, daß wir von der
Bereiches unserer Wahrnehmung liegt. Auch hier fragen wir nach der Ursache und auch hier fand der primitive Mensch der ältesten Zeit die Ursache der Veränderung in dem Eingreifen mythischer Wesen. Später, nach der langsamen und mühsamen Denkarbeit von Jahrtausenden, sind die Menschen, wenn auch mit wechselnden Erklärungen, der Ptolemäischen und der Kopernikanischen, zur Ursache vorgedrungen. Heute betrachten wir bekanntlich die Rotation der Erde um ihre eigene Achse und um die Sonne als Ursache (des Wechsels von Tag und Nacht, Sommer und Winter usw.). Es läßt sich gegen Hume nicht einwenden, daß die konstante, zeitgemäße Aufeinanderfolge zweier sinnlicher Empfindungen nicht notwendig eine Sukzession von Ursache und Wirkung sein müsse, indem Tag und Nacht konstant aufeinander folgen, ohne daß wir deshalb sagen, daß der Tag die Ursache der Nacht sei. Denn Hume fordert für die Kausalsukzession sowohl daß die beiden Sinnesempfindungen oder Vorgänge zeitmässig auf einander folgen, als auch daß sie einander zwar nahe, aber dennoch räumlich von einander getrennt sind. Tag und Nacht, Sommer und Winter sind nicht zwei verschiedene, räumlich getrennte »Gegenstände« (im weiten Sinne), sondern eine Veränderung (Licht- und Temperaturveränderung) innerhalb desselben Gegenstandes, nämlich in dem Teil der Luft oder des Himmelraumes, der über unserer Erde und deshalb innerhalb des Bereiches unmittelbarer menschlicher Wahrnehmung liegt. Und hier erinnern wir uns der oben betonten Tatsache, daß die bloße Veränderung aus zwei Sinnesempfindungen oder Vorgängen bestehe: das Blei im festen und im geschmolzenen Zustande, der Raum über uns bei Tag und bei Nacht, im Sommer und im Winter. Die Bewegung der Erde als Ursache der beiden Glieder der Veränderung, Tag und Nacht, Sommer und Winter, entspricht also dem Feuer im Verhältnis zu den beiden Gliedern der Bleiveränderung, dem festen und dem geschmolzenen Zustand.
125 vielfach wiederholten Sukzession dieser beiden Sinnesempfindungen darauf schließen, daß sie auch künftig einander nachfolgen würden, daß aber dieser vorgreifende Schluß bei Wahrnehmungen der Ursache auf eine noch nicht eingetroffene Wirkung ganz unsicher sei. Schluß Kant dagegen denkt bei seinen Fällen an den rückgreifenden von der Wirkung, der Veränderung, auf die Ursache, und behauptet, daß der Satz, daß jede Veränderung eine Ursache haben müsse, ein Satz a priori von der gleichen Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit wie die Sätze der Mathematik sei, und daß diese strenge Allgemeinheit sich durchaus nicht von Humes Auffassung heraus erklären lasse, nach welcher der Kausalsatz eine durch häufige Wiederholung des Auftretens einer Ursache und einer Wirkung in der gleichen Reihenfolge entstandene Gewohnheit sei (Kant, III, 29). Allein die Tatsache, daß diese beiden Denker in ihrer Kausaltheorie verschiedene Gruppen von Erfahrungen vor Augen haben, zeigt, daß das Problem der Kausalität komplizierter ist, als sie es sich gedacht haben. Sowohl Hume als Kant sind sich bewußt, daß wir die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung als eine notwendige auffassen. Doch haben sie sich keine befriedigende Erklärung dafür geben können. Beide meinen, daß diese Notwendigkeit als eine subjektive Erscheinung in uns liege. Hume behauptet indessen, es handle sich um ein rein inneres Gefühl, für dessen Berechtigung die Erfahrung keinerlei Beweise liefere, indem er vorgreifend an die noch nicht eingetroffene Wirkung denkt. Kant behauptet dagegen, daß die notwendige Kausal Verbindung zwar ein subjektives, aber dennoch unentbehrliches Element aller Erfahrung sei, ein Element, das notwendig sei um überhaupt Erfahrungen machen zu können, indem er mittels eines Rückschlusses von der Wirkung auf die Ursache meint, daß wir uns überhaupt nicht denken können, eine Veränderung zu erfahren, ohne nach deren Ursache zu fragen und sie zu finden. Kant gibt keine psychologische Erklärung dafür, wie unsere Vorstellung von dieser notwendigen Verbindung zwischen Ursache und Wirkung entstanden sei. Er faßt sie als eine Form des Denkens auf, die, wie die Axiome der Mathematik, aus der Natur unseres Verstandes hervorgegangen sei. Kants lebensferne, transzendentale, apriorische Methode hat ihn hier gehindert, eine tiefere, psychologische Erklärung zu suchen. Hume dagegen erklärt, wie erwähnt, unser Gefühl dieser Notwendigkeit aus der vielmals wiederholten Sukzession. Aber diese Erklärung ist unzulänglich. Wie ich oben nachzu-
126 weisen suchte, wird schon ein einzelner Fall einer Veränderung unsere Vorstellung von einer Ursache und von einer notwendigen Verbindung von einer Ursache und von einer ebenfalls notwendigen Verbindung zwischen dieser und der Wirkung, hervorrufen. Der Kausalbegriff und die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung müssen daher anderen Quellen unseres Bewußtseinslebens entstammen. Die Fälle von Kausalverbindungen, die Hume erwähnt, sind dieselben, die Locke nennt, nämlich die Ursachen und Wirkungen des täglichen Lebens in den äußeren Dingen der Umwelt: das Feuer bringt das Wachs oder das Blei zum Schmelzen u. ä. Kant hat sicher auch Kausalverbindungen der äußeren Dinge der Umwelt vor Augen (vgl. z . B . Kant III 164). Wie erwähnt geht Kant aber im Gegensatz zu Hume von der Veränderung aus und schließt rückgreifend auf die Umwelt. Nun hat der Mensch meines Erachtens den ersten Anstoß zur Vorstellung von einer Fähigkeit der Verursachung, von einer inneren und notwendigen Verbindung zwischen Ursache und Wirkung, aber nicht von den Veränderungen der äußeren Dinge aus erhalten können. W i r müssen den Ursprung unseres Begriffes der Ursache auf einem ganz anderen psychologischen Gebiete, als dem der Gesichtsempfindungen und anderer Empfindungen (wie Berührungsempfindungen) suchen, die uns die äußeren Dinge der Umwelt und ihre Veränderungen verleihen. In erster Linie rührt unser Kausalbegriff von inneren Erlebnissen, von Zuständen in uns selbst her, von denen wir dann auf den Zustand in der Umwelt analogisieren. Diese Dinge eines inneren Erlebnisses sind, soweit ich sehen kann, zwei. A. Das eine dieser inneren Erlebnisse ist das der Kraft. Bereits Malebranche betonte, daß wir in unserer eigenen Kraft eine Kausalverbindung zwischen einem Willensakt und einer materiellen Bewegung erleben. Allerdings sähen wir nur gesetzmäßige Beziehungen zwischen äußeren Bewegungen, nicht aber eine notwendige und verständliche Verbindung zwischen dem Willensakt und der materiellen Bewegung; der Begriff der Kraft beruhe in so weit auf einer Fiktion. Malebranche ist mit diesem Gedankengang der Vorläufer Humes; aber er hat den Sinn für die Kraft als Element unserer Kausalitätsauffassung, der Hume fehlt. Malebranche war indessen nicht über das richtige, psychologische Verhältnis dieses Problems im klaren.
127 Im 19. Jahrhundert hat Maine de Biran das Erlebnis unseres W i l lens, unserer Muskelkraft und der aus dieser sich ergebenden Körperbewegung als Faktoren, die für die Bildung des Kausalbegriffes, für unsere A u f f a s s u n g von Verursachung, bestimmend gewesen seien, stark hervorgehoben. In der modernen Psychologie hat Frithiof Brandt dieses Verhältnis besonders beleuchtet und er betont, daß der Kausalbegriff überhaupt seinen Ursprung in Erlebnissen des Muskelsinnes habe, in der eigentümlichen E m p f i n d u n g der Muskelanstrengung, und daß wir unmittelbar ein Kausalitätsverhältnis (eine Beziehung zwischen Ursache und W i r k u n g ) jedesmal erleben, w e n n wir Dingen der Umwelt gegenüber mit unseren Muskeln eingreifen. Es gibt also ein unmittelbares Erlebnis der Verursachung. Hume bemerkte nicht, daß wir tatsächlich sinnliche E m p f i n d u n g e n (nämlich den Berührungs- und Muskelsinn) haben, durch die wir eine Kausalität erleben; aber er hat darin recht, daß wir durch eine Gesichtsempfindung ein Kausalitätsverhältnis nicht wahrnehmen. Die Notwendigkeit zwischen Ursache und W i r k u n g lasse sich aber überhaupt nicht wahrnehmen (Frithiof Brandt I. 113— 114, II 18, 2 9 7 - 9 8 , 3 0 0 - 3 0 2 ) . W i r erleben also selbst unmittelbar die Verursachung als eine innere Beziehung zwischen uns und der Umwelt. Wir w i s s e n aus eigner Erfahrung, daß es sich, w e n n wir ein Messer mit der Hand in ein Holzstück stoßen, für uns u m mehr handele, als u m Sinnesempfindungen in rein äußerer Reihenfolge: a, der Anblick des Messers und seiner Bewegung auf das Holz zu, und b, der Einschnitt in das Holz. Neben diesen Gesichtsempfindungen, die H u m e s Auffassung von Ursache und Wirkung als zwei auf einander folgende sinnliche E m p f i n d u n g e n a und b äußerlich befriedigen, fühlen wir als innere Organempfindung eine Kraft in unserer Hand, die die Bewegung des Messers in das Holz hervorruft. Die Kraft, die hinter dieser Handlung liegt, der Beschluß unseres Willens und dessen Ein-
über die verwandten Anschauungen Malebranches und Maine de Birans in dieser Beziehung vgl. Brunschvicg 6 ff. 19 . . — Für Berührungsempfindungen verwendet die neuere Psychologie auch den Ausdruck »Tast-empfindungen«. Hier in diesem Buch wird das Wort »berühren« vorgezogen, weil »tasten« eine bewußte oder unbewußte Absicht enthält (sich vorwärtstasten, antasten), mehr oder weniger zielbestimmt ist, während »berühren« sowohl Bewußtes als Unbewußtes, Gewolltes und Ungewolltes, Zielbestimmtes oder Zufälliges bezeichnet.
128 wirken auf die Muskeln der Hand sind unsichtbar; keine Gesichtsempfindung des Ablaufes der äußeren Handlung enthüllt diese innere Kraft, diesen inneren Zusammenhang. Aber gerade dieser ist es, der uns die Vorstellung von der inneren Verbindung der beiden Gesichtsempfindungen gibt, von der Hume spricht, die er jedoch nicht finden kann, da er nur zwei Gesichtsempfindungen hat, in diesem Fall also die Bewegung der Hand als Ursache und den Einschnitt als Wirkung. Der inneren Verbindung gemäß müssen wir aber unseren Willen und die Muskelkraft die tiefste, eigentliche Ursache des Einschnittes im Holz nennen. Handelt es sich um ein Tier oder einen Menschen, die durch den Biß der Zähne oder durch einen Messerstich einen Riß im Holz hervorrufen, schließe ich analog auf eine ähnliche innere Verbindung hinter den Begebenheiten, wie ich sie in mir selbst beobachte, also auf die Muskelkraft dieses Tieres oder dieses Menschen als Ursache der Bewegung und der Beschädigung des Holzes. Humes Erfahrungsfeld war zu eng. Teils dachte er, wie gesagt, nur an die ursächlichen Verbindungen innerhalb von Dingen selbst und teils war sein psychologischer Gesichtskreis zu beschränkt. An sinnlichen Empfindungen kannte und erkannte Hume nur: Gesichts-, Gehör-, Berührungs-empfindungen u. ä., mit anderen Worten die Sinnesempfindungen, die uns die äußeren Dinge vermitteln; und damit hängt die doppelte Begrenzung Humes zusammen. Dagegen hat Hume diejenigen Empfindungen nicht gekannt, die die modernen Psychologen Organempfindungen nennen, also unsere inneren Empfindungen von Muskelspannung und Kraft u. ä. Dieser sein begrenzter psychologischer Gesichtskreis erweist sich gerade darin, daß er den Begriff »Kraft« als Ursache zu Bewegung ablehnt, denn er hat eine Kraft niemals gesehen oder gehört oder sie als äusseren Gegenstand berührt. Dieser begrenzte psychologische Horizont Humes hat ihn des wichtigen Beitrages zum Verständnis der »notwendigen Verbindung« zwischen den beiden Gesichtsempfindungen, der Ursache und der Wirkung, die unsere eigene innere Muskelempfindung liefert, beraubt. Und dadurch ist er in die Erklärung des Kausalzusammenhanges als eines rein äusseren, konstanten Aufeinanderfolgens zweier Gegebenheiten oder sinnlicher Empfindungen hineingezwungen worden. In dem Fall, wo der Mensch selbst eine Reihe von Ursachen und Wirkungen ingangsetzt, wenn ich beispielsweise selbst ein Messer in ein Holzstück stoße, liegt nach Humes Auffassung eine Sukzes-
129
sion folgender zwei Sinnesempfindungen vor: 1. die Bewegung meiner Hand und mit ihr die Bewegung des Messers in das Holz, und 2. der Einschnitt in das Holz; 1 ist die Ursache und 2 die Wirkung. Humes Erklärung der »notwendigen« Verbindung zwischen diesen beiden sinnlichen Empfindungen ist, daß wir auf jene Ursache, die Bewegung der Hand und des Messers in einen Gegenstand hinein, jene Wirkung, die Beschädigung, so oft haben einander folgen sehen, daß durch Gewohnheit schließlich der Glaube in uns entstanden sei, daß wir, wenn wir das nächste Mal die Sinnesempfindung 1 (oder richtiger einen Teil davon) erhalten, danach auch die Sinnesempfindung 2 bekommen würden. Schon die rein äußeren Veränderungen in den Gegenständen der Umwelt (z. B. das Schmelzen des Schnees) zeigten, daß diese Erklärung unrichtig ist, wie oben nachgewiesen wurde, da schon ein einzelner Fall einer Veränderung die Vorstellung von einer Ursache herbeiführt. In dem eben genannten Fall aber, wo der Mensch selbst die Reihe der Begebenheiten von Ursachen und Wirkungen einleitet, wird dies noch deutlicher sein, denn wenn ich nur ein einziges Mal mit meiner Hand das Messer in das Holz jage und dadurch einen Riss in diesem hervorrufe, habe ich eine klare Vorstellung von einer notwendigen ursächlichen Verbindung zwischen diesen Begebenheiten bekommen; ich brauche nicht Humes zahlreiche Fälle und die von ihm betonte Gewohnheit, um anzunehmen, daß dieselbe Kraft das nächste Mal dieselbe Bewegung des Messers und den Einschnitt im Holz hervorrufen werde. Und gleichzeitig sehen wir, daß Humes Beschreibung der Kausalreihe 1, die rein äußere Ursache, die Bewegung der Hand und des Messers und 2, die Wirkung im Holz, unrichtig ist, denn der Beschluß meines Willens und die Muskelanspannung sind Ursache (1), die Bewegung der Hand und des Messers Wirkung (1) und der Einschnitt im Holz ist die Wirkung dieser Wirkung, Wirkung (2). Anfangs, auf dem primitiven Stadium, faßt der Mensch, wie oben betont wurde, auch den Verlauf der Naturereignisse, die ohne Mitwirkung der Menschen oder der Tiere vor sich gehen, z. B. die Bewegung der Flüsse oder das Einschlagen des Blitzes, in Analogie zu unserem eigenen menschlichen In-Bewegung-setzen von Dingen durch innere Kräfte als Ausschlag des Eingreifens höherer Wesen auf. Aber selbst nach der Aufgabe dieser menschlichen Analogie wird die innere, notwendige Verbindung zwischen Ursache und Wirkung im äußeren Verlauf der Begebenheiten mit Kräften erklärt, die hinter dem wirken, was unsere Gesichtsempfindungen uns zeigen. Und 9
Erkenntnis und Wertung
130 diese Analogie findet, wie früher nachgewiesen wurde, immer noch die weitestgehende Anwendung in der modernen Naturwissenschaft. Wenn z. B. unsere Gesichtsempfindungen uns ein Metallstück zeigen, das meine Hand einem Magneten bis auf einen gewissen Abstand nähert, worauf das Metallstück dann von dem Magneten selbst angezogen wird, so weiß ich von mir aus, von meinem Organgefühl her, daß hinter den Gesichtsbildern der äußeren Erscheinung — meiner Hand, die das Metallstück dem Magneten nähert — jene innere Erscheinung liegt, die uns die Gesichtsempfindungen nicht zeigen, nämlich meine Muskelkraft, welche die Ursache der Bewegung meiner Hand und des Metallstückes ist, obwohl ich diese Ursache nicht in der Umwelt erkenne, sondern nur als Organempfindung in meiner Hand fühlen kann, während andere Menschen sie weder sehen noch fühlen, sondern nur auf dem Wege der Schlußfolgerung — nämlich des Analogieschlusses — erkennen können. Wenn wir dann beobachten, daß das Metallstück — nachdem meine Hand es losgelassen hat — nach dem Magneten hingezogen wird, schließen wir analog, daß auch hier eine Ursache der Bewegung vorliegen müsse, eine Kraft im Magneten selbst, die unsere Gesichtsempfindungen uns nicht enthüllen und die die »äußere Welt« nicht offenbart, die aber eine Erscheinung sein muß, die hinter der äußeren Welt tätig ist und — in Analogie zu derjenigen Kraft, welche hinter der Bewegung meiner Hand wirkt — als ein innerer, den Gesichtsempfindungen verborgener Faktor im Dasein den »inneren, notwendigen« Zusammenhang zwischen den Erscheinungen erwirkt. Wenn die Naturwissenschaft ferner gewisse Phänomene wie Wärme, Elektrizität und Radioaktivität als Bewegungen von Molekülen, Jonen, Elektronen, Protonen u. ä. erklärt, dann gehen wir damit wiederum hinter die Gesichtsempfindungen, zu einem inneren, ursächlichen Zusammenhang, zu Bewegungen unsichtbarer, kleinster Teilchen; und selbst hinter dieser Bewegung und gegenseitigen Verbindungen kleinster Teilchen nehmen wir Kräfte an. Aber sowohl bei der Annahme von kleinsten Teilchen als von Kräften beruht unsere Auffassung, wie ich an anderer Stelle nachgewiesen habe, auf Analogieschlüssen, oder auf dem, was ich Übertragungsmethode genannt habe*). Diesen magnetischen und elektrischen Phänomenen gegenüber muß
*) Man vergleiche diesbezüglich mein Buch: Erkendelseslaeren og Naturvidenskabens Grundbegreber, Kbhvn., 1941, S. 283 ff.
131 Humes Kausalerklärung notwendigerweise eine rein äußerliche bleiben. Die beiden, auf einander folgenden Sinnesempfindungen sind bei dem magnetischen Phänomen; 1. die Anbringung des Metallstückes in einem gewissen Abstand vom Magneten, und 2. die Bewegung des Metallstückes auf den Magneten zu. Nach Humes rein äußerlicher Betrachtung ist 1 die Ursache und 2 die Wirkung, aber dies gibt unserer heutigen Auffassung keine wirkliche ursächliche Erklärung. Der menschliche Geist gibt sich mit der äußeren Sukzession, mit der er sich nach Hume begnügen sollte, nicht zufrieden; Hume kann nicht erklären, daß unsere Erkenntnis die Bewegung des Metallstückes auf den Magneten zu als Ausgangspunkt neuen Denkens, nämlich als eine Veränderung betrachtet und angesichts dieser die Frage stellt: was ist die Ursache dieser Bewegung? Und damit ist man bereits in den Bereich des Kraftbegriffes eingetreten. Und wenn auf 1 die Anbringung von Zink und Kupfer in einer besonderen Flüssigkeit 2 als Folgeerscheinung Elektrizität in Begleitung von Lichtphänomenen in einem verbindenden Draht auftritt, kann Hume erklären, daß 1 die Ursache von 2 sei; aber auch mit dieser äußeren Sukzession hat sich die heutige Naturwissenschaft nicht begnügen können. Die tiefere Kausalerklärung dieser Wissenschaft (Bewegung von kleinsten Teilchen, Jonen und Elektronen in der genannten Flüssigkeit und in den Metallen) ist von Humes Psychologie aus gesehen gänzlich unvorstellbar. Indessen liegt eine wichtige Wahrheit in Humes Auffassung der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung als einer bloßen Aufeinanderfolge von sinnlichen Empfindungen. Eins ist, daß diese Auffassung Humes die Entstehung unseres Kausalbegriffes nicht psychologisch erklären kann. Ein anderes ist aber, daß die tiefere Kausalerkenntnis, in die unser von der heutigen Naturwissenschaft bedingte Begriff der Ursächlichkeit hineinführt, über die sinnliche Wahrnehmung der äußeren Welt, die uns lediglich aufeinander folgende Sinnesempfindungen zeigt, hinausführt, sobald wir den Bereich unserer eigenen Muskelkraft als Ursache von Bewegungen und Veränderungen in der Umwelt verlassen. W i r deuten diese aufeinanderfolgenden Sinnesempfindungen, wie eben dargelegt wurde, durch Analogieschlüsse von unserer eigenen Kraft oder von anderen naheliegenden Erscheinungen aus. Diese Deutungen von Analogien aus müssen wir aber ständig durch neue Sinneswahrnehmungen kontrollieren. Die Sinnesempfindungen in konstanter Sukzession stehen fest; ihre Deutung aber kann im Laufe der Zeiten wechseln. Mit9*
132 unter beobachten wir in der Natur nur die beiden Glieder der Veränderung, nämlich den vorhergehenden und den gegenwärtigen Zustand in konstanter Sukzession, aber niemals die Ursache. Diese wird uns nie sichtbar oder auf andere Weise annehmbar; wir müssen sie auf dem gedanklichen Wege finden. Aber immer suchen wir hinter dieser Konstanz oder Regelmäßigkeit im Auftreten der Naturerscheinungen einen tieferen Zusammenhang, der uns die Ursache der Veränderung enthüllt. Ein Beispiel hierfür ist die Veränderung von Tag zu Nacht, von Sommer zu Winter. Da uns die Ursache hier niemals sichtbar wird, wir sie viel mehr nur auf gedanklichem Wege erschließen können, geschieht es, daß die Menschen in einer Periode eine Erklärung finden, die in einer späteren verworfen wird. Die primitiven Menschen, die in frühester Zeit eine konstante, gesetzmäßige Aufeinanderfolge der Phänomene Tag und Nacht konstatierten, konnten sich jedenfalls nicht recht lange mit der Feststellung dieser Gesetzmäßigkeit begnügen. F r ü h begann die Phantasie eine tiefere Ursache zu ersinnen; man nahm an, daß höhere Wesen, Götter, hinter den Erscheinungen ständen. Später, als die wissenschaftliche Erklärung die mythologische verdrängte, nahm man mehr als ein J a h r tausend hindurch die ursächliche Erklärung der Gesetzmäßigkeit an, nach der die Sonne sich (ebenso wie die anderen Himmelskörper) um die Erde drehe; diese ptolemäische Kausalerklärung wurde erst in neuerer Zeit von einer ganz anderen, nämlich der kopernikanischen verdrängt, nach der es die Erde ist, die sich u m die Sonne dreht. In neuester Zeit hat sich die Atomforschung bisweilen damit begnügen müssen, eine statistisch häufige Gesetzmäßigkeit zwischen gewissen Phänomenen zu konstatieren, ohne — bislang — eine tiefere Ursache finden zu können; einige sind der Meinung, daß sich eine solche niemals finden lassen werde. Eine tiefere Ursache oder ein tieferer Kausalzusammenhang wird sich indessen ausschließlich als ein einfacherer, notwendiger gesetzmäßiger Zusammenhang herausstellen, wie seinerzeit, als die Erklärung des Kopernikus diejenige des Ptolemäus ablöste. Wohl k a n n man sprachlich bis auf weiteres zwischen einer Gesetzmäßigkeit
Primitive Völker nehmen in der Regel an, daß die sichtbaren Wirkungen oder Veränderungen eine unsichtbare Kraft oder Macht, mystische Wesen, Zauberei u. ä. als Ursache haben. Dies gilt nicht zum wenigsten dem für die Menschen einschneidensten Ereignis, dem Tod. Vgl. Brunschvicg, 91 ff.
133 im Auftreten der Erscheinungen und einem Kausalzusammenhang sondern (Meyersons Légalité und Causalité). In letzter Instanz aber wird sich der sogenannte Kausalzusammenhang auch als gesetzmäßiger Zusammenhang herausstellen. Hume hat einen scharfen Blick für den äußeren, gesetzmäßigen Zusammenhang; und in seiner Auffassung liegt die Wahrheit, daß wir, wenn wir uns ausschließlich an unsere Gesichtsempfindungen und andere äußere Sinnesempfindungen (des Gehörs, des Tastsinnes) halten sollten, niemals weiter kommen würden als zu einer Feststellung der äußeren Gesetzmäßigkeit. Hume aber erkennt nicht, daß der menschliche Geist nie, nicht einmal auf der primitivsten Stufe seiner Entwicklung, unterlassen kann, nach einer tieferen Ursache hinter dieser äußeren Gesetzmäßigkeit zu fragen. Hier treten unsere von Hume übersehenen, inneren Organempfindungen in den Dienst unseres Denkens oder unserer Phantasie, indem sie unser Erlebnis eigener Kraft als Ursache zur Veränderung innerhalb der Umwelt analog auf die Bewegungen anderer lebender Wesen und später auf diejenigen aller äußeren Dinge und die daraus folgenden anderen Veränderungen innerhalb der äußeren Welt übertragen. Ob diese Analogie aber berechtigt sei, ist eine andere Frage (siehe unten). B. Es gibt indessen eine andere Quelle unseres Kausalbegriffes als unser Erlebnis der eigenen Kraft als nach Außen hin wirkender Ursache in der Umwelt; diese zweite Quelle hat man aber bisher nicht erkannt. Soweit ich sehen kann, ist sie aber sogar die wichtigste Quelle des Kausalbegriffes. Es gibt nämlich ein anderes Erlebnis, das einen ebenso starken, unmittelbaren Eindruck auf die Menschen gemacht hat, wie das Erlebnis eigener Kraft; und es ist das Erlebnis des Schmerzes. Die Veränderungen in der Umwelt, die dem Menschen Schmerz zufügen, sind von tiefgreifender Bedeutung für das Wohl und Wehe des Menschen; vor Allem gilt dies für den primitiven Menschen. Jedesmal wenn ein solcher Mensch eine Wunde erhält, sei es durch den Biß oder den Stich anderer Lebewesen, oder durch den Schlag eines fallenden Baumes, Steines oder eines anderen Dinges, war seine erste instinktive Frage: wer hat das getan oder was hat dies bewirkt? Hier entsteht also unwillkürlich eine Vorstellung, die später bewußt zu dem Begriff Ursache wird. Während die meisten Veränderungen der Umwelt auf den primitiven Menschen kaum einen besonders nachhaltigen Eindruck machen, setzt dagegen die besondere Gruppe
134 derjenigen Veränderungen, die Schmerz zufügen, den Menschen in die heftigste Bewegung und bringt ihn sofort dazu, nach dem Verursachenden oder Schuldigen zu suchen. Auf dem primitiven Stadium decken sich Ursache und Schuld. Es ist hier von Bedeutung, daß das Wort »Ursache« selbst ethymologisch eben ursprünglich Vorstellungen von Schuld und Feststellung von Schuld oder Nichtschuld ausdrückt. Im Altdänischen bedeutet »orsagh« Entschuldigung, »orsaka«, altnordisch »orsekr« bedeutet »ohne Sache«, ohne Klagesache, straffrei. »Orsaken« ist: sich von einer Beschuldigung zu reinigen, die Bezichtigung abzuweisen, sich zu entschuldigen. Das lateinische Wort für Ursache, »causa« (französisch und englisch »cause«) bedeutet gleichzeitig Schuld und »entschuldigender Grund«). Der Schmerz setzt alle lebenden Organismen, vor allem Tiere und Menschen, in Bewegung. Er ist für alle lebenden Organismen ein Gefahrensignal, das den Selbsterhaltungstrieb in Funktion setzt. Bei seiner instinktiven Abwehrmaßnahme muß jeder Organismus zunächst die Stelle im Dasein, das Glied der Umgebung, von dem die Schmerzempfindung herrührt, empfinden, fühlen und später erkennen. Selbst tierische Organismen niederen Ranges mit nur wenig ausgebildeten Sinnesempfindungen ziehen sich bei einer Verwundung von dem Ort zurück, von dem der Angriff und damit der Schmerz ausgegangen ist. In diesem selbst bei den niedrigeren Organismen vorhandenen Gefühl des Schmerzes und eines Angriffes von Außen und in der vagen Ahnung des Gliedes der Umwelt, von dem sowohl der Schmerz als damit der Angriff kamen, liegt wohl der allererste Keim des wichtigsten Teiles unserer Kausalerkenntnis, nämlich desjenigen, der von der Wirkung (der Veränderung) aus nach der Ursache frägt. Ursache ist also hier den Tieren und selbst dem primitiven Menschen vor allem Anderen: Ursache und Wirkung des Schmerzes, d. h. dasjenige Glied in der Umgebung des getroffenen Organismus, das ihm den Schmerz zugefügt hat. Aber gleichzeitig hiermit tritt nun das zweite große Erlebnis des primitiven Menschen auf: das Gefühl der eigenen Kraft als Ursache von Bewegungen in der Umwelt, darunter auch solches zur Abwehr von Angriffen und zu eigenen Angriffen auf Andere, um diesen nun den Schmerz zuzufügen. Woher kommt es nun, daß der Mensch von einem ursprünglichen Nachsinnen vor allem über die Veränderungen, die Schmerz mit sich führen, dazu übergeht, allen Veränderungen nachzugrübeln? Soweit mir ersichtlich ist, liegt das daran, daß der Mensch, und also auch der primitive, unwillkürlich auf eine gewisse Beständigkeit seiner Um-
135 weit eingestellt ist. Das Dauernde, das Feste ist im menschlichen Dasein die Regel. Die Veränderung ist die Ausnahme. Die Erde, auf der der Mensch lebt, ist fest, die Berge, die das Tal umgeben, in dem er haust, sind fest und dauernd; die W ä l d e r und Seen bleiben ebenfalls. Des Menschen W o h l und W e h e hängt von dieser Stabilität der Umgebung ab, denn sie gibt seiner Arbeit und seinem ganzen Leben Sicherheit und Ruhe. Auf jede Unterbrechung dieses Zustandes, also auf jede Veränderung, reagiert der Mensch und er stellt vor Allem die F r a g e : W a r u m ? W a s ist die Ursache der Veränderung? Als sich der Mensch zum ersten Mal des Phänomens der Veränderung in der Umwelt bewußt wurde, nahm er, wie früher erwähnt, als Ursache der Veränderungen, in Analogie zu sich selbst, mythische Gestalten, Götter, an; und er glaubte diese Veränderungen, diese Verletzungen der Stabilität, die für die Menschen j a oft Katastrophen darstellten, dadurch abwehren zu können, daß er den Göttern Opfer (Geschenke) darbrachte. Erst auf einer weit späteren und höheren Stufe der intellektuellen Entwickelung geben die Menschen diese Erklärung und dieses Hilfsmittel auf und suchen solche Brüche der Stabilität, solche Unglücksfälle, selbst abzuwehren und vorauszuberechnen, indem sie äußeren, wahrnehmbaren Erscheinungen als Ursachen der Veränderungen nachspüren und sich einprägen, welche Ursachen zu den verschiedenen W i r k u n g e n führen. Das starke Bedürfnis der Menschen nach Beständigkeit, also danach, daß die Dinge im L a u f e der Zeit ihre Identität mit sich selbst bewahren, findet indessen darin Ausdruck, daß der menschliche Geist auf einer noch späteren und noch höheren Stufe der intellektuellen Entwickelung sich nicht mehr damit begnügt, die verschiedenen Reihen von Ursachen und W i r k u n g e n bloß wahrzunehmen und sich einzuprägen, sondern eine tiefere, hinter das äußere der Erscheinungen vordringende E r k l ä r u n g sucht, die wieder eine gewisse Stabilität, eine gewisse, trotz der Veränderung bestehende Identität des alten und des neuen Zustandes herstellt, indem sie teils Kräfte, die konstant sind und immer bestehen, selbst
Die Tiere können Schmerz gegenüber lokal reagieren. Sie können also den Teil ihres Körpers, der dem Schmerz ausgesetzt war, dem Bereich der Schmerzquelle entziehen. Die Organismen der niedrigsten Entwickelungsstufe, die Amöben und die Infusorien, reagieren nicht lokal, sondern total, indem sie den ganzen Organismus von der Schmerzquelle entfernen.
136 wenn sie ihre Gestalt ändern, teils kleinste Teile (Moleküle, Atome) annimmt, die auch unveränderlich sind. Man sucht damit alle sichtbaren Veränderungen (in Analogie zu unserer eigenen K r a f t ) auf ein Eingreifen jener konstanten Kräfte oder auf Bewegungen jener kleinsten Teile, der Grundelemente des Weltstoffes, zurückzuführen. Die Erscheinungen: Veränderung und Verschiedenheit werden damit allerdings nicht aus der Welt gebracht. Sie werden nur vereinfacht. W o r i n besteht nun diese Erscheinung: Veränderung innerhalb der Umwelt, auf die wir mit der Frage nach der Ursache reagieren? Sie besteht in zwei Phänomenen, die gewöhnlich Lokalveränderung und qualitative Veränderung und in der vorliegenden Darstellung Platzveränderung und Gegenstandsveränderung genannt werden, also: entweder in Bewegung eines Gegenstandes, Veränderung des Platzes eines Gegenstandes i m Raum, oder in einer Veränderung innerhalb des Gegenstandes selbst (z. B. das Schmelzen des Bleis, das Bleichen der Tapete, das Verbrennen der Kohle etc.). W e n n Hume beständig von Ursache und W i r k u n g als zwei Phänomenen spricht, von denen wir zuerst die Ursache und dann die W i r k u n g sehen, so gilt dies, wie oben nachgewiesen wurde, in der T a t nur f ü r ein begrenztes Gebiet. Dieses Gebiet oder diese Veränderungen sind, soweit mir ersichtlich, teils Platzveränderungen, bei denen wir eine in Bewegung befindliche Kugel an eine ruhende Kugel anprallen und diese in Bewegung setzen lassen, oder ein Pferd einen W a g e n ziehen sehen u. ä., teils Veränderungen in einem Gegenstand, die wir selbst durch unsere Muskelkraft hervorbringen, z. B. wenn wir ein Holzstück mit einem Beil spalten. Bei Veränderungen, die wir nicht selbst bewirken und die keine Platzveränderungen sind, z. B. bei dem Schmelzen des Schnees, dem Bleichen der Tapete, dem Ausschlagen der Bäume, erleben wir, wie hervorgehoben wurde, in der Regel zuerst die Veränderung, also die W i r k u n g , und finden dann erst später die Ursache; und erst wenn diese gefunden ist, erhalten wir allmählich durch die Gewohnheit unsere Vorstellung von der Ursache — in den oben genannten Fällen also Sonnenlicht und Sonnenwärme — als einer Erscheinung, die der W i r k u n g — hier dem Schmelzen und dem Bleichen — vorausgeht. Bei Erscheinungen wie dem Schmelzen des Bleis und der Verbrennung der Kohle ist es in den meisten Fällen der Mensch selbst, der als erste Ursache die Veränderung mittels seiner K r a f t durch eine Bewegung bewirkt, indem er das Blei oder die Kohle zum Feuer bringt. Im täglichen, gewohnheitsmäßigen Sprach-
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gebrauch aber sagen wir, daß das Feuer (oder dessen Annäherung an das Blei oder die Kohle) die Ursache, das Schmelzen oder Verbrennen die Wirkung sei. Die Auffassung von Ursache und Wirkung als zwei sukzessive, sinnliche Empfindungen ist jedoch unvollständig. Die Veränderung, die Wirkung allein, besteht aus mindestens zwei Sinnesempfindungen, nämlich dem früheren und dem gegenwärtigen Zustand, und oft stellt sie eine ganze Reihe von Sinnesempfindungen mit gradweisen Übergängen dar (vgl. oben S. 121, Anmerkung). Beim Schmelzen des Bleis treten nicht nur Sinnesempfindungen des vergangenen und gegenwärtigen Zustandes, des festen und des geschmolzenen Bleis auf; während des Schmelzens gibt das Blei eine ganze Reihe von Sinneseindrücken, die mit vagen, kontinuierlichen Übergängen unmittelbar auf einander folgen. Zwischen diesen Sinneseindrücken besteht sowohl eine Gleichheit — es ist immer noch das gleiche Blei an demselben Platz — als auch eine Verschiedenheit — die Form und Dichte des Bleis verändert sich während des Schmelzens gradweise und die Farbe zum Teil ebenfalls. Von dem Bedürfnis unseres Bewußtseins nach Beständigkeit, nach einer anhaltenden Identität der Dinge mit sich selbst aus halten wir so lange wie möglich daran fest, daß wir trotz aller Veränderung immer noch das gleiche Ding, trotz des Schmelzens also immer noch das gleiche Blei vor uns haben. Erst allmählich müssen wir doch einsehen, daß es wohl derselbe, aber dennoch auch nicht derselbe Gegenstand sei: er hat sich aber nicht von selbst geändert. Es ist etwas von Außen hinzugekommen. Wenn wir aber entdecken, daß von Außen etwas Neues, nämlich das Feuer, hinzugekommen ist, dann finden wir in einer neuen Stabilität oder Identität trotz der Veränderung wieder Ruhe, und in unserem Bewußtsein entsteht eine ähnliche Schlußfolgerung wie jene von Grund auf Folge auf dem Gebiete unseres rein logischen oder mathematischen Denkens: Feuer + Blei in fester Form ist gleich Blei in geschmolzenem Zustand. Eine wirkliche Identität, wie die logische, ist jedoch, wo es sich um Dinge der Umwelt während ihrer Verwandlung handelt, nicht vorhanden. Selbst wenn wir die Grundelemente (die Atome, die Protonen und die Elektronen) als ewig und immer mit sich selbst identisch auffassen würden, erreichen wir nur eine Annäherung an Identität, denn die Grundveränderung, die Tatsache nämlich, daß die Dinge durch die Zeit ihren Platz im Räume wechseln, können wir nicht ableugnen. Die Wirkung, die Veränderung, als einzelne, von der Ursache
138 scharf gesonderte Sinnesempfindung aufzufassen, wie es Hume tut, gibt, wie aus dem oben Angeführten hervorgeht, kein psychologisch richtiges Bild des Vorganges. Diese scharfe Trennung in zwei ganz einfache Elemente macht den Übergang zwischen ihnen, zwischen dem Vorher und dem Jetzt, und die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung besonders unverständlich. Wir begreifen unsere Vorstellung von einer notwendigen Verbindung besser, wenn die Wirkung, also die Veränderung, immer mindestens zwei sinnliche Empfindungen und in vielen Fällen des Lebens auch draußen in der Natur (das Schmelzen des Schnees, das Ausschlagen der Bäume) eine lange Reihe von Sinnesempfindungen mit gradweisen Übergängen darstellt, während deren wir nach und nach an die Veränderung gewöhnt werden und eine neue Stabilität suchen, indem wir den Faktor finden, der uns den veränderten Zustand zu »bewirken« scheint, nämlich die Ursache. So ist denn das Ergebnis der vorstehenden Untersuchung, daß der Ursprung des Kausalbegriffes in unserem Bewußtsein ein sehr vielfältiger ist. Der erste Anstoß zur Bildung der Vorstellung von einer Ursache und einer inneren Kausalverbindung in unserem Bewußtsein ist, wie ich nachzuweisen suchte, nicht von zahlreichen Wiederholungen derselben zwei sukzessiven, äußeren Begebenheiten und der daraus folgenden Gewohnheit gekommen, sondern hat aus bloß einem einzelnen Erlebnis der eigenen Kraft als Ursache von Bewegung innerhalb der Umwelt und aus einem einzelnen Erlebnis eigenen, uns von irgend einem Gliede der Umgebung zugefügten Schmerzes psychisch natürlich entstehen können. Man braucht an sich nicht auf die ältesten Zeiten zurückzugehen, um dieses einzusehen, wenn auch das religionshistorische Material, das wir besitzen, bestätigt, daß — wie oben gezeigt wurde - menschliche und menschenähnliche Kräfte die zuerst angeschauten Ursachen von Veränderungen innerhalb der Umwelt und in uns selbst sind. Es dürfte aber feststehen, daß es jedesmal, wenn der Mensch durch Kraftanwendung eine neue Bewegung in Gang setzte, und jedesmal, wenn ihm aus der Umwelt ein neuer Schmerz zugefügt wurde, nur dieses einen Erlebnisses und nicht einer vielmaligen, gewohnheitsmäßigen Wiederholung bedurfte, um die Vorstellung einer Ursache tief in seinem Bewußtsein einzuprägen. Ein anderes ist, daß der Mensch mit der fortschreitenden Entwickelung des menschlichen Gedächtnisses almählich viele Erlebnisse solcher Verbindungen und Erlebnisse von mehreren Fällen
139 derselben Kausalverbindung in seinem Bewußtsein hat aufbewahren können. Und als der Mensch durch die Sinneswahrnehmung lernte, auch Reihen von Ursachen und W i r k u n g e n im Bereich der äußeren Dinge zu sehen, obwohl jene Veränderungen weder von seiner K r a f t ausgingen, noch ihm Schmerz zufügten, wurde die Erinnerung an diese Ursachenreihen durch deren ständige Wiederholung von unserer W a h r n e h m u n g natürlich befestigt. W a s diese Ursachenreihen der äußeren Dinge betrifft, enthüllt Humes A u f f a s s u n g eine wichtige W a h r h e i t ; denn wenn der Mensch erst mittels seiner eigenen K r a f t und seines Schmerzes die Vorstellung von einer Ursache erhalten hat, wird seine Wahrnehmung, daß zwei Erscheinungen in der Umwelt wiederholt einander folgen, ihn natürlich auf den Gedanken bringen, daß zwischen diesen beiden Erscheinungen außerhalb des Menschen eine ähnliche innere, notwendige Verbindung bestehe, wie er sie selbst erfahren hat, wenn seine eigene Kraft einen äußeren Gegenstand in Bewegung setzte oder eine Veränderung in einem solchen Gegenstand hervorrief. Sobald der Mensch die Regelmäßigkeit in der W i r k u n g seiner Handlungen feststellte, sobald er sah, daß eine besondere Kraftanwendung in einer bestimmten Richtung immer und immer wieder dieselbe W i r k u n g hatte, so lag auch, wenn er in der Umwelt auf eine Erscheinung wiederholte Male dieselbe Veränderung der äußeren Dinge folgen sah — der Stoß und die Bewegung der Kugel, die Sonnenwärme und das Schmelzen des Schnees — die Annahme sehr nahe, daß die erste Erscheinung die Ursache oder die »Urheberin« der folgenden, der Veränderung, sei und daß sie k ü n f t i g jene ebenso notwendig herbeiführen werde, wie
Besonders lebhaft und intens ist die Kausalverbindung dem menschlichen Bewußtsein in denjenigen Fällen eingeprägt worden, in denen sich der Mensch durch eigne Kraft Schmerz zugefügt hat. Habe ich mir beispielsweise nur ein einziges Mal mit einem Messer die Hand verletzt, dann habe ich damit eine völlig zureichende Vorstellung von einer Wirkung erhalten, die nach dieser selben Ursache auch künftig eintreten werde, so daß ich zu dieser Vorstellung von einer notwendigen Verbindung, d. h. einer Ursächlichkeit, eine durch wiederholte Fälle entstandene Gewohnheit durchaus nicht notwendig habe. Und selbst als sich in ältester Zeit der primitive Mensch zum ersten Male an einem scharfen Stein schnitt, hat seine künftige Schlußfolgerung von derselben Ursache auf dieselbe Wirkung auch nicht mehr, als dieses einen Falles bedurft, um in ihm als die notwendige Verbindung, die wir Kausalzusammenhang nennen, lebendig zu werden.
140 die Willenskraft des Menschen Veränderungen in den Dingen hervorzurufen vermag. Die Erinnerung an vielmals beobachtete Reihen derselben Ursachen und Wirkungen ist für den Menschen von immer größere Bedeutung geworden, indem er allmählich aus der Erfahrung lernte, jene Ursachenreihen zu eigenem Vorteil, und zwar sowohl zur Vermeidung von Schäden als auch zur Erzielung leichterer Lebensbedingungen nutzbar zu machen. Auf diesem Gebiete hat die von Hume hervorgehobene, wiederholte Aufeinanderfolge von Ursachen und Wirkungen in mannigfaltigen, verschiedenartigen Verbindungen eine außerordentlich große Rolle gespielt. Dank dieser hat der Mensch in der Schlußfolgerung von der Ursache auf die Wirkung allmählich eine beträchtliche, gewohnheitsmäßige Routine erreicht. Gleichzeitig aber führt das Bedürfnis des menschlichen Geistes nach Stabilität, nach Identität, zu der Annahme, daß selbst in der realen Veränderung in der Umwelt, im Übergang von Ursache auf Wirkung — ebenso wie bei dem logischen Schluß von Grund auf Folge - trotz Allem eine gewisse Identität zwischen dem früheren und dem gegenwärtigen Zustand bestehe, denn schon durch unsere alltägliche Ursachenerklärung finden wir in der Auffassung Beruhigung, daß die Veränderung ja nicht von selbst, nicht »unerklärlich« sei und durch ein Wunder geschehe, sondern ihre Begründung in dem früheren Zustand a + einem neuen Element b habe, und daß die Schlußfolgerung, die Veränderung, das Ergebnis der Prämissen a + b sei. Wir gelangen jedoch, wie berührt wurde, zu einer eingehenderen, mehr verstandesmäßig begründeten Identität zwischen diesen Prämissen und der Schlußfolgerung, wenn wir mit der tiefer schürfenden, naturwissenschaftlichen Erklärung, und zwar mit der Molekular- und Atomtheorie, annehmen, daß sich der Weltstoff an sich, daß sich seine Grundelemente trotz der vielen scheinbaren Veränderungen in der sichtbaren Welt selbst nicht verändern. Denn da die Grundelemente, die Moleküle und Atome, Elektronen, Protonen u. ä. unveränderlich sind, bestehen alle Veränderungen im Universum nur in Bewegungen dieser bleibenden Elemente. Erklären oder Erkennen heißt Unbekanntes durch Bekanntes zu deuten. Wenn wir Wärme, Elektrizität u. ä. als Bewegungen kleinster Teilchen (Moleküle, Jonen, Elektronen) »erklären«, so heißt dies, daß wir die bisher unverständlichen Erscheinungen, Wärme und Elektrizität, in solche übersetzen, die wir aus dem täglichen Leben kennen, nämlich in Bewegungen von Körpern. Diese Erklä-
141 rung möchte ich die visuelle Übersetzung nennen, indem wir eine Reihe von uns unverständlichen Naturphänomene gleichsam in eine uns, hier: unserem Gesichtssinn, verständliche Sprache »übersetzen«. Wollen wir nun diese und andere Bewegungen näher erklären, gibt es nur ein Phänomen, das wir besser kennen als Bewegungen, und das ist die Willenskraft, die wir in uns selbst erleben, und mit deren Hilfe wir unsere eigenen Bewegungen hervorrufen. Diese Erklärung möchte ich die kraftmäßige Übertragung nennen. Aber abgesehen von unseren eigenen Bewegungen nehmen wir hinter den Bewegungen im Universum keine Kraft wahr. Wenn daher die Molekül- und Atomtheorie alle Veränderungen als Bewegung von Körpern — von den größten bis zu den allerkleinsten des Universums — oder (wie das Licht) als solche zwischen Körpern erklärt, stellen wir nichts Anderes fest, als nur gewisse gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen den Bewegungen. Der Kausalbegriff muß das Schicksal des Kraftbegriffes teilen. Kraft und Ursache sind alte, im menschlichen Bewußtsein tief eingeprägte Begriffe, die wir ungern fahren lassen und die zu entbehren wir uns kaum vorstellen können. Es ist daher verständlich, daß Kant meinen könnte, der Kausalbegriff sei eine in der Struktur unseres Verstandes liegende, apriorische Form, ohne die wir überhaupt keine Erscheinungen erfahren oder verstehen können. Eine Kraft oder Ursache als ein innerer, wirkender Faktor, der eine Wirkung »erzeugt«, ist aber eine Hypothese, zu deren Verifikation wir keine Möglichkeit zu haben scheinen. Da wir keine Kraft oder Ursache der Bewegung im Universum wahrnehmen können, bleibt es Aufgabe der Naturwissenschaft, die gesetzmäßigen Zusammenhänge zwischen den Erscheinungen des Universums festzustellen und zu registrieren — eine Registrierung, die in praktischer, technischer Beziehung von größter Bedeutung ist, die aber vor allem, streng wissenschaftlich gesehen, auf dem gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaft das einzig richtige ist. Durch die oben vorgenommene Untersuchung des psychologischen Ursprungs des Kausalbegriffes ist mir wohl gelungen nachzuweisen, daß diese psychologische Auseinandersetzung von einem ganz anderem Gebiet aus in eben die gleiche Richtung weist, in die auch meine von der bisher vorliegenden gänzlich verschiedenen Untersuchung der Grundbegriffe der Naturwissenschaft hineingeführt hat, obwohl diese beiden Untersuchungen von mir gänzlich unabhängig von einander unternommen sind, ohne daß ich von der Einen her an die Andere gedacht habe. Denn soweit mir ersichtlich, geht aus dieser psycholo-
142 gischen Untersuchung hervor, daß der Kausalbegriff seinen Ursprung in menschlichen Erlebnissen hat, die für das Leben und die W o h l fahrt der Menschen von tiefster Bedeutung sind, nämlich in unseren eigenen Erlebnissen von Schmerz und Kraft. W e n n der Kausalbegriff aber demnach unseren eigenen menschlichen, psychologischen Erlebnissen jener Zustände, nämlich des Schmerzes und der Kraft entstammt, so folgt daraus, daß wir nicht ohne weiteres dazu berechtigt sind, diese menschlichen Erlebnisse auf das Universum und die Bewegung seiner Körper zu projizieren. Es steht dem nichts im Wege, daß wir der Kürze halber in der Physik ständig mit den Begriffen der Kraft und der Ursache operieren — wie beispielsweise in Newtons Gesetzen der Schwerkraft von der Kraft als Ursache von Bewegungsveränderungen — oder daß wir von »ursächlichen« Zusammenhängen sprechen. W i r müssen uns aber bei einem solchen Sprachgebrauch immer der Tatsache erinnern, daß dabei nur von der Feststellung und Registrierung gesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen den Erscheinungen des Universums die Rede ist. Die erkenntnistheoretische Untersuchung der Grundbegriffe der Naturwissenschaft, vor allem der Begriffe Veränderung, Bewegung, Kraft und Ursache, die in meinen Buch: »Erkendelseslaeren og Naturvidenskabens Grundbegreber 1 )« vorgenommen wurde, und die obige psychologische Untersuchung derselben Grundbegriffe scheinen zu demselben Resultat zu führen. In diesem Ursprung des Kraft- und Ursachenbegriffes liegt jedoch andererseits kein Beweis dafür, daß die Erlebnisse von Kraft und Schmerz, die zu unserem Kausalitätsverständnis geführt haben, für unsere Erkenntnis des Universums wertlos sein sollten. Das starke Bedürfnis des menschlichen Geistes nach dem » W a r u m ? « zu fragen und den W e g zu dem Hinter-dem-äußeren-liegenden zu suchen, wird uns auch künftig antreiben, »tiefere«, d h. einfachere, gesetzmäßige Zusammenhänge in der Natur zu finden. Dieser Drang zu fragen und sich zu wundern, dieses ständige W a r u m ist eine gewaltige Triebfeder der wissenschaftlichen Erkenntnis gewesen; ohne diese Frage wären wir nicht von dem ptolemäischen zu dem kopernikanischen Weltbild gelangt; ohne sie wären wir nicht hinter die äußeren Erscheinungen der Wärme, der Elektrizität, der Radioaktivität vorgedrungen und zu jenem tieferen Verständnis dieser Phäno-
Die Erkenntnislehre und die Grundbegriffe der Naturwissenschaft, Kop. 1941.
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mene gekommen, das uns die kinetische Wärmetheorie und die Atomphysik ermittelt haben. Hinter unserem Fragen, unserem Suchen nach tieferem Verständnis liegt außer unserem Erlebnis des Schmerzes und der Kraft wohl auch unser Bedürfnis nach Identität, nach Unveränderlichkeit und Ewigkeit, unser Drang, trotz der anscheinenden Veränderung eine Identität zwischen dem früheren und dem gegenwärtigen Zustand herzustellen, ein Drang, der doch nie befriedigt wird, denn an der fundamentalen Veränderung: Bewegung kommen wir nicht vorbei. Aber sowohl bei der Ablösung der ptolemäischen Lehre durch das kopernikanische System von Bewegungen als auch bei der Ablösung der unmittelbaren Auffassung der Wärme, der Elektrizität u. ä. durch die Molekül- und Atom-theorien bedeuteten diese Änderungen in unserer Art, die Bewegung der Körper im Universum zu betrachten, letzten Endes nichts Anderes, als daß ein früher angenommener, gesetzmäßiger Zusammenhang durch einen neuen, ebenfalls gesetzmäßigen Zusammenhang abgelöst wurde, den man heute für einfacher und richtiger hält als den älteren. Aber wie weit auch immer der menschliche Gedanke den Vorgang des Verstehens führen wird, muß er sich doch darüber klar sein, daß er an einer Stelle innehalten muß. Und auf dem gegenwärtigen Stande der Naturwissenschaft scheint das Verständnis bis auf weiteres bei der Wahrnehmung gesetzmäßiger oder statistisch häufiger Zusammenhänge zwischen den Bewegungen des Universums haltmachen zu müssen. 3. U N S E R E E R K E N N T N I S D E S G E S E T Z M Ä S S I G E N ZUSAMMENHANGES (URSACHE UND WIRKUNG) IM V E R H Ä L T N I S ZU U N S E R E R E R K E N N T N I S VON G L E I C H H E I T UND V E R S C H I E D E N H E I T Unsere Auffassung gewisser sinnlicher Empfindungen in den gesetzlichen Beziehungen zu einander, die wir Ursachen und Wirkungen nennen, geht weit über unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit zwischen den Sinnesempfindungen hinaus; aber unsere Erkenntnis vom gesetzmäßigen Zusammenhang oder die Kausalerkenntnis fußt auf unserer Erkenntnis von Gleichheit und Verschiedenheit, geht von ihr aus und wäre ohne sie undenkbar. Veränderung, Wirkung, läßt sich überhaupt nicht auffassen ohne mehrere, j a mitunter eine ganze Reihe sinnlicher Empfindungen, die sowohl von einander verschieden sind, als auch einander gleichen; und diese Eindrücke werden von der oder den Sinnesempfindungen,
144 die wir Ursache nennen, getrennt, gleichgültig ob wir die letztere nun sofort wahrnehmen oder sie erst später finden. D a ß aber die gleiche Verbindung einer bestimmten Ursache und W i r k u n g sich wiederholt, ist ein Gleichheitsurteil. Aber obgleich sowohl unsere Erkenntnis von Gleichheit und Verschiedenheit demnach unserer A u f f a s s u n g von gesetzmäßigen Zusammenhang in allen Veränderungen vorausgeht und deren Grundlage bildet, gehört diese letztere A u f f a s s u n g doch auch zu den Grundelementen unserer Erkenntnis. W i e die Sinnesempfindungen beständig in Gleichheit oder Verschiedenheit von einander auftreten, so finden wir sie auch unablässig in denjenigen gesetzmäßigen oder regelmäßigen Reihen, die wir gewöhnlich und auch innerhalb der Fachwissenschaft Ursachen und W i r k u n g e n nennen. W i r können diesen gesetzmäßigen Zusammenhängen oder Reihen eine besondere Deutung nach einer inneren V e r k n ü p f u n g beilegen, die die sinnliche W a h r n e h m u n g an sich nicht gibt, es sei denn, daß es sich um unsere E m p f i n d u n g der eigenen Muskelkraft oder des eigenen Schmerzes handelt; diese Deutung kann überdies sowohl zu den verschiedenen Zeiten als auch innerhalb der gleichen Zeit auf den verschiedenen Gebieten wechseln (göttliche Wesen, Kräfte, Bewegungen kleinster Teilchen) und gehört daher nicht zu den unvermeidlichen, letzten Elementen unserer Erkenntnis. Aber die konstanten, regelmäßigen, zeitlich aufeinander folgenden Reihen derjenigen Sinnesempfindungen, die wir Ursachen und W i r k u n g e n nennen, sind mit der sinnlichen W a h r n e h m u n g eng verknüpft. W i r erhalten j a nicht nur eine Sinnesempfindung wie z. B. Feuer und stellen eine Gleichheit zwischen diesem und dem Feuer, das wie gestern gesehen haben, und einen Unterschied zwischen ihm und dem daneben fest, sondern sehen auch, wie das Feuer das Blei schmilzt, d. h. daß unsere Gesichtsempfindungen des Bleis in fester F o r m und seiner Anbringung über dem Feuer von unseren Gesichtsempfindungen des Bleis in immer flüssigerer Form abgelöst werden. In derselben Weise beobachten wir, daß der F l u ß Baumstämme mit sich reißt, daß der W i n d die Blätter des Waldes bewegt u. s. w . Nun verhält es sich allerdings nicht so, daß jegliche sinnliche Wahrnehmung ohne Ursachenerkenntnis unmöglich wäre. So vermag ich durchaus in diesem Augenblick einen stillstehenden Komplex von Gesichtsempfindungen, beispielsweise des P a r k s vor meinem Fenster, zu haben; hier gibt es keine Veränderung, die mich in die Kausalerkenntnis hineinzwingt; und ich k a n n Verschiedenheiten und
145 Gleichheiten — z. B. zwischen den Bäumen des Parks — wahrnehmen, ohne daß ich einen Kausalzusammenhang zu erfahren brauche. Eines ist indessen, daß wir stabile, mit sich selbst identische Dinge eine gewisse begrenzte Zeit hindurch wahrnehmen können; dies ist aber doch nur ein kleinerer Ausschnitt unsere gesamten sinnlichen Wahrnehmung. Fassen wir diese als eine Ganzheit auf, erleben wir zwar in der Umwelt eine gewisse begrenzte Zeit hindurch unveränderliche Komplexe stabiler, dauernder Dinge, aber gleichzeitig in unserem Bewußtsein einen ununterbrochenen Strom von Veränderungen innerhalb der Umwelt und unser selbst, nämlich von wechselnden Lauten, Beleuchtungen u. ä. Unsere Wahrnehmung als Ganzheit wäre sicherlich ebenso wohl ein Chaos, wenn die mannigfaltigen Veränderungen nicht beständig in regelmäßigen Reihen, in gesetzmäßigen Zusammenhängen auftreten würden, wie wenn die Dinge nicht in regelmäßigen Gruppen mit Gleichheit und Verschiedenheit aufträten. Wir sind wohl zutiefst auf eine feste, unveränderliche Umwelt dauernder Dinge, auf einen Ewigkeitszustand eingestellt; aber wenn diese stabile, dauernde Welt nun dennoch durch viele Veränderungen aufgelockert wird, so ist es doch, wenn man so sagen darf, dazu angetan, uns mit den Veränderungen zu versöhnen, daß selbst in diesen eine gewisse Beständigkeit vorhanden ist, nämlich jene gesetzmäßigen Zusammenhänge, in denen die Veränderungen stets auftreten. Selbst in der Inconstantia dieser Welt gibt es eine Constantia, die es uns gestattet, uns mit der Unbeständigkeit abzufinden und zu versöhnen, uns auf sie einzustellen und deren Entstehung und Verlauf vorauszuberechnen. Man muß daher sicherlich annehmen, daß nicht allein Gleichheiten und Verschiedenheiten zwischen den Sinnesempfindungen, sondern auch die gesetzmäßigen Verbindungen zwischen ihnen mit der Wahrnehmung, dem Strom sinnlicher Empfindungen, psychisch untrennbar verbunden sind. Ein Ausschnitt aus unserem täglichen Leben wird dies beweisen. Wir wandern beispielsweise einen Weg entlang; zu beiden Seiten liegen Felder, weiter entfernt einige Häuser, im Hintergrund der Wald und neben diesem das Meer. Dies alles stellt weder völlig chaotische Sinnesindrücke noch eine vollkommen einheitliche Wahrnehmung dar — in beiden Fällen würden wir vermutlich nichts empfinden, ja überhaupt kein Bewußtsein haben. Wir erleben viele und große Unterschiede zwischen den Eindrücken, zwischen den Feldern zu beiden Seiten des Weges, zwischen den verschiedenen Stücken des Feldes, zwischen den Bäumen des Waldes, den Wellen, den Wasser10 Erkenntnis und Wertung
146 mengen des Meeres, zwischen den Häusern usw. Wir erleben weiter in mancher Beziehung das Feste, das Beständige des Daseins, das uns ein gewisses Sicherheitsgefühl verleiht: die feste Erde, die dauerhaften Häuser, den Wald und das Meer, die Beide heute wie vor vielen Jahrhunderten an derselben Stelle liegen. Aber gleichzeitig erleben wir auf dem Hintergrund dieser Dauerhaftigkeit auch viele Veränderungen: der Wind geht in Wellen über das Korn des Feldes, bewegt die Blätter des Waldes, erregt die Wogen des Meeres; auch wir selbst bewegen uns, während unsrer Wanderung. Aber untrennbar mit all diesen Veränderungen ist die unaufhörliche Wiederholung, die stetige Regelmäßigkeit verbunden, worin alle diesen Bewegungen in der Natur und in uns selbst auftreten, der feste Zusammenhang, der alle Veränderungen beherrscht, uns mit ihnen vertraut macht und bewirkt, daß wir jene selbst bis zu einem gewissen Grade beherrschen, sie ausnutzen und stabilisieren können. Wie also die sinnliche Wahrnehmung zwar aus schnitt weise, nicht aber in ihrer Ganzheit ohne gesetzmäßige Zusammenhänge und niemals ohne Verschiedenheit und Gleichheit vorgehen kann, so verhält es sich auch mit dem Denken. Ein großer Ausschnitt des Denkens ist ohne Kausalerkenntnis möglich. In aller Formalwissenschaft — der Mathematik und der formalen Logik —, die unveränderliche Objekte, Figuren, Zahlen u. ä. betrifft, bedienen wir uns nur des Vermögens, Verschiedenheit und Gleichheit festzustellen. Man kann folglich sagen, daß überhaupt keine Wissenschaft, keine sinnliche Wahrnehmung und kein Denken ohne unsere Erkenntnis von Verschiedenheit und Gleichheit möglich wäre, während dies von unsrer Kausalerkenntnis dagegen nicht gesagt werden könnte. Deshalb habe ich die Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit auch als die allererste, fundamentale Voraussetzung jeder Erkenntnis an die Spitze gestellt. Selbst die Kausalerkenntnis ist, wie gezeigt wurde, ohne das Vermögen Verschiedenheit und Gleichheit zu finden, unmöglich. Soviel läßt sich aber über unsere Kausalerkenntnis sagen, daß alle Realwissenschaft ohne sie unvollständig bleibt. Wohl können wir mit Hilfe von Gleichheiten und Verschiedenheiten auch innerhalb der Realwissenschaft ein ganz neues System von Allgemeinbegriffen schaffen, die die mannigfaltigen Einzelwahrnehmungen in große harmonische Ganzheiten zusammenfassen, aber das Verständnis dieser Allgemeinbegriffe, und das der realen Erscheinungen überhaupt, erhält erst durch jenen gesetzmäßigen Zusammenhang, den wir gewöhnlich Kausalzusammenhang nennen, ihre wirkliche Tiefe. Das gilt der Physik und der Chemie ebenso wie der Geschichte und der
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Psychologie, der Biologie ebenso wie der Staatswissenschaft und der Sprachwissenschaft. Während in der Formalwissenschaft das Denken ausschließlich ein Denken in Gleichheiten und Verschiedenheiten bedeutet, heischt es dagegen in aller Realwissenschaft sowohl ein Denken in Gleichheiten und Verschiedenheiten als auch in Ursachen und Wirkungen. Und es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß in allen Realwissenschaften »denken« und »in ursächlichem oder gesetzmäßigen Zusammenhang denken« in weitem Sinne ein und dasselbe sei. Eine Erscheinung verstehen heißt hier, sie in gesetzmäßiger Beziehung zu anderen Erscheinungen wie auch unter dem weiteren Gesichtswinkel der Allgemeinbegriffe zu sehen. Selbst die Erkenntnistheorie kann über die Feststellung von Gleichheit und Verschiedenheit nicht hinauskommen, ohne ihre Zuflucht zu dem gesetzmäßigen Zusammenhang zu nehmen. In der obengegebenen Auseinandersetzung des Verhältnisses zwischen sinnlichen Empfindungen und unserem Vermögen Gleichheit und Verschiedenheit festzustellen, bedienen wir uns eines gesetzmäßigen Zusammenhanges, einer Kausalerklärung. In der oben verfochtenen Erklärung des Ursprunges des Kausalbegriffes und des Kausalsatzes sind es, wie ich nachzuweisen suchte, eben neue gesetzmäßige Zusammenhänge auf psychischem Gebiet, (S. 120 ff.) die dieses Thema beleuchten. Von diesen beiden letzten Grundelementen der Erkenntnis, unserer Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit und von gesetzmäßigem Zusammenhang gilt, daß wir keine Gewißheit dafür haben können, daß sie uns eine wahre Erkenntnis der Welt, der sogenannten äußeren sowohl als auch der inneren, oder des Daseins überhaupt geben. Aber andererseits läßt es sich auch nicht beweisen, daß diese Grundelemente unserer Erkenntnis subjektiv seien, wie Locke, Hume und Kant behaupten. Alles was wir sagen können ist, daß der menschliche Geist das Dasein in Gleichheiten und Verschiedenheiten und in den gesetzmäßigen Zusammenhängen auffaßt, die wir Ursachen und Wirkungen nennen; ob aber das Dasein, das Universum im Innersten, so ist, wie es jene Grundelemente unserer Erkenntnis angeben, darüber wissen wir gar nichts. Es ist möglich, daß unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit und vom gesetzmäßigen Zusammenhang nur subjektive Formen darstelle, in denen unser Geist das Dasein allein begreift. Es ist aber auch möglich, das sie uns ein wahres Bild des Daseins geben. Um dieses Hauptpunkt näher zu verstehen ist es indessen not10*
148 wendig, über den Begriff der Wirklichkeit zur Klarheit zu kommen und zu untersuchen, ob ihm verschiedene Bedeutungen beigelegt werden. Bei Locke, Berkeley und Hume wird der Begriff der W i r k lichkeit in der Bedeutung: sinnliche Wahrnehmung gefaßt. Nach diesen Philosophen sind alle diejenigen Vorstellungen wirklich, »real«, die auf sinnliche Vorstellungen zurückgeführt werden können, seien sie nun einfach (rot, schwarz, hart, weich) oder in Komplexen zusammengesetzt, die wir Dinge nennen. Dagegen sind alle Vorstellungen von Beziehungen zwischen Sinnesempfindungen (einfachen oder zusammengesetzten), ideas of relations, von unserem Geist geschaffen, inventions of our mind. Z u diesen ideas of relations gehören nach dieser Ansicht, die bei Locke und Hume folgerichtig durchdacht ist, unsere A u f f a s s u n g von Gleichheit und Verschiedenheit, Ursache und Wirkung, Raum und Zeit. Der Kürze wegen werden im Folgenden die hervorgehobenen Vorstellungen von Beziehungen zwischen den Sinnesempfindungen Relationen genannt; sie werden von Locke, Berkeley, Hume und Kant zu den sinnlichen Empfindungen in Gegensatz gestellt. Den drei englischen Empirikern ist der W i r k lichkeitsbegriff = sinnliche Empfindung. In dieser decken sich für jene Denker der Begriff der Wirklichkeit und der Begriff der Erfahrung. Die Vorstellung von Rot in einem Komplex von anderen Vorstellungen ist »real«, weil sie mit unseren »experience« von Dingen, d. h. mit unseren sinnlichen Empfindungen (einfachen und zusammengesetzten) übereinstimmt. Kant sondert im Einklang mit diesen Vorgängern auch zwischen Sinnesempfindungen und Relationen. Er sieht aber — im Gegensatz zu den englischen Empirikern — ein, daß die sinnlichen Empfindungen und die Relationen in der E r f a h r u n g nicht von einander zu trennen sind: »Erfahrung ist ohne Zweifel das erste Produkt, welches unser Verstand hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet«. Und wohl könne die Erfahrung uns keine allgemeinen und notwendigen Urteile geben, aber nichts desto weniger gebe es in unseren Erfahrungen selbst Erkenntniselemente allgemeiner und notwendiger Natur; und eben diese seien Relationen. So können wir nur in der Form des Raumes und der Zeit sinnlich empfinden. Da unsere Sinnesempfindungen überhaupt unaufhörlich in den Relationen auftreten und, wie oben gezeigt, sich von ihnen nicht trennen lassen, ist der Begriff der Wirklichkeit, mit dem wir in der Wissenschaft und im täglichen Leben allgemein arbeiten, gleich den
149 im Raum und Zeit, in Gleichheiten und Verschiedenheiten und in gesetzmäßigen Zusammenhängen auftretenden Sinnesempfindungen. Diese Erkenntniselemente, nämlich sinnliche Wahrnehmung + Relationen, machen unsere Erfahrung der Welt aus. Diesen Wirklichder sich mit dem Begriff Erfahrung deckt, nenne ich keitsbegriff, im Folgenden Wirklichkeitsbegriff 1. Aber ob diese unsere Erfahrung der Welt, die nach unserer Auffassung Wirklichkeit ist, sich mit der absoluten Wirklichkeit, mit der Welt an sich deckt, wissen wir nicht. Diesen letzten Wirklichkeitsbegriff nenne ich im Folgenden Wirklichkeitsbegriff 2 oder den absoluten Wirklichkeitsbegriff. Locke war darüber klar, daß zwischen unseren Sinneseindrücken von den Dingen und den Dingen an sich möglicherweise ein Unterschied bestehe. In Berkeleys und Humes Philosophie aber wurden die Dinge an sich, die äußere Welt, abgeschafft. Kant unterschied dagegen scharf zwischen der Welt an sich (das Ding an sich), also dem absoluten Wirklichkeitsbegriff 2, und unserer Erfahrung oder Auffassung der Welt, also Wirklichkeitsbegriff 1, Sinnesempfindungen + Relationen. Für die englische, empirische Erkenntnislehre in ihrer konsequentesten Form, nämlich in derjenigen Humes, ist also das Endergebnis, daß es nur einen Wirklichkeitsbegriff und zwar Wirklichkeitsbegriff 1 -f- Relationen, also die Sinnesempfindungen allein gebe, daß wir nicht wissen, woher diese letzteren kommen, daß aber die Relationen vielmehr in uns selbst liegen und der Natur unseres Verstandes entstammen, folglich subjektiv seien. Für Kant existiert, wie erwähnt, sowohl Wirklichkeitsbegriff 1 als auch 2. Er ist mit Hume darin einig, a) daß unser Geist die sinnlichen Empfindungen durch die Relationen bearbeite und 2) daß die Relationen subjektiv seien. Aber indem er auch die absolute Wirklichkeit, das Ding an sich anerkennt, behauptet er c) daß der Wirklichkeitsbegriff 1, die Sinnesempfindungen -f- Relationen, überhaupt subjektiv sei; er gebe uns nicht den Wirklichkeitsbegriff 2 wieder. Nach dem oben Ausgeführten sind alle drei Behauptungen, a, b und c unbeweisbar. Damit fällt der Hauptpunkt sowohl in der Erkenntnistheorie Humes als in derjenigen Kants. Weiterhin läßt sich bezüglich unserer Welterkenntnis meiner Ansicht nach kein Unterschied zwischen den beiden Grundelementen: unserer Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit und unserer Auffassung vom gesetzmäßigen Zusammenhang, machen. Sie sind, soweit mir ersichtlich, in dieser Beziehung gleichgestellt. Wir haben
150 demnach keinerlei Gewißheit, daß unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit uns eine wahrere Erkenntnis des Daseins vermitteln sollte, als unsere Auffassung vom gesetzmäßigen Zusammenhang. Allerdings ist es seit Locke und Hume bis in unsere Zeit hinein innerhalb der Erkenntnistheorie eine recht gewöhnliche Auffassung geworden, daß zwischen unserer Erkenntnis von Gleichheit und Verschiedenheit und unserer Erkenntnis von Ursache und Wirkung streng unterschieden werden müsse, daß die erstere Erkenntnis sicheres Wissen geben solle, die letztere dagegen nicht. Nach Lockes Untersuchung im 2. Teil seines Werkes geben nur Sinnesempfindungen — einfache oder zusammengesetzte — Wissen, nämlich von dem einzelnen Ding, das wir im Augenblick wahrnehmen, von dessen Eigenschaften. Im 4. Teil, der, jedenfalls was große Abschnitte betrifft, einer älteren, mehr dogmatischen Periode seiner Entwickelung angehört, rechnet er als sicheres Wissen die Wahrnehmungen von Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung, von Gleichheit und Verschiedenheit zwischen unseren Vorstellungen. Sicheres, generelles Wissen gebe es aber nach dem zweiten Teil seines Werkes nur in der Mathematik u. ä.; es gelte also ausschließlich den von uns selbst erfundenen Objekten und niemals der Wirklichkeit, über das Kausalverhältnis ist Locke gänzlich im Unklaren; wollte er aber konsequent sein, könnte er dieses Verhältnis nur zu dem unsicheren Wissen rechnen, da es die Wirklichkeit betrifft. Hume übernimmt den Begriff des sicheren Wissens von Locke, sondert aber diesbezüglich klar zwischen Beziehungen von Gleichheit und Verschiedenheit und der Beziehung: Ursache und Wirkung. Hume betont, daß zwischen den beiden Sätzen: 1) a ist gleich b, und 2) a ist die Ursache von b) ein tiefgreifender Unterschied vorhanden sei. Sie beträfen beide wohl Beziehungen zwischen zwei Vorstellungen, aber 1) gebe sicheres Wissen, was bei 2) nicht der Fall sei. Nun sind jedoch alle Vorstellungen von Beziehungen — sowohl die von Gleichheit und Verschiedenheit als die von Ursache und W i r kung — nach Locke Erfindungen des menschlichen Geistes und liegen nicht in den sinnlichen Empfindungen von den Dingen — dem Wirklichkeitsbegriff Lockes. Das generelle sichere Wissen gelte nicht der Wirklichkeit. Dieses Wissen besitzen wir, wie Locke gezeigt hat, nur bei den von der Wirklichkeit unabhängigen Begriffen der Mathematik und der Logik. Wenn Locke aber konsequent gewesen wäre, hätte er behaupten müssen, daß alles sichere Wissen von Beziehungen, selbst zwischen einzelnen Fällen, z. B. von Gleichheit
151 zwischen zwei Sinnesempfindungen als einer von unserem Geist geschaffenen Beziehung (idea of relation) nicht der Wirklichkeit im Sinne Lockes gelte. Nach ihm bestehe die Wirklichkeit j a nur in den Sinneseindrücken von den äußeren Dingen, nicht aber in den Beziehungen, in die unser Geist sie setzt. Doch ganz dasselbe müßte Hume behaupten, wenn er folgerichtig sein würde, da er von den gleichen Voraussetzungen, nämlich den Sinnesempfindungen als Prüfsteinen f ü r die Gültigkeit der Vorstellungen als Wirklichkeitsbegriffen ausgeht. Hume hat zwar im Einklang mit Berkesley Lockes Vorstellung einer äußeren Welt, dem Ding an sich, als Ursache unsrer Sinnesempfindungen aufgegeben; diese Aufgabe geschah aber auch von Lockes eigenen Voraussetzungen aus. Da wir das Ding an sich, eine äußere von unseren Sinnesempfindungen getrennte Welt, niemals gesehen oder gehört, noch irgend wie eine andere sinnliche E m p f i n d u n g davon gehabt haben, hätte Locke die Vorstellung von einer äußeren Welt folgerichtig als unwirklich abweisen müssen. Aber obwohl Hume bloß erkennt, daß unsere Sinnesempfindungen aus »unbekannten Ursachen« hervorgehen, hält er doch an ihnen als Prüfsteinen für die Wirklichkeit unserer Vorstellungen fest. Der Vorstellung von einem Ding an sich, von der äußeren W e l t an sich, erkennen er und Berkeley gerade deshalb Wirklichkeit ab, weil es keine sinnlichen Empfindungen gibt, die dieser Vorstellung entsprechen. Das gleiche tun ihre Nachfolger in der heutigen Erkenntnistheorie (wie z. B. Ernst Mach und Herbert Iversen). Ebenso spricht Hume der Vorstellung von einer inneren, notwendigen Verbindung zwischen Ursache und W i r k u n g die Wirklichkeit ab, da wir nur sinnliche Empfindungen von Ursache und W i r k u n g , aber keine solche von einer notwendigen Verbindung zwischen ihnen hätten: die notwendige Verbindung sei lediglich ein subjektives Gefühl in uns. Hätte Hume aber das Gleichheitsverhältnis ebenso gründlich und folgerichtig durchdacht wie das Kausalverhältnis, hätte er, wie oben gezeigt, von der Verbindung: Gleichheit zwischen zwei Sinnesempfindungen genau dasselbe geltend machen müssen, wie von der Verbindung: Ursache und W i r kung. Gestern hatten wie eine Sinnesempfindung von einem roten Gegenstand, heute haben wir wiederum eine solche. Die sinnliche W a h r n e h m u n g selbst zeigt uns also nur zwei, in der Zeit getrennte Empfindungen. Daß diese beiden selbständigen, von einander getrennten Sinnesempfindungen einander darin gleichen, daß sie rot sind, ist eine Verbindung zwischen ihnen, die unser Geist etabliert; sie liegt in uns. Sie ist, wie alle ideas of relation, eine Schöpfung,
152 eine Erfindung unseres Geistes. Kant, der hier die letzten Konsequenzen der Grundauffassung Lockes und Humes zieht, behauptet denn auch von hieraus mit Recht, daß nicht nur das Kausalverhältnis, sondern auch das Gleichheitsverhältnis eine subjektive Form des Geistes sei, in der wir die sinnlichen Empfindungen, den Stoff der Erfahrung, zusammenfassen. Wenn das Gleichheitsverhältnis demnach — von Lockes und Humes Wirklichkeitsbegriffen, den (einfachen oder zusammengesetzten) Sinnesempfindungen, aus — nicht mehr Wirklichkeit hat als das Kausalverhältnis, so bleibt allein die Behauptung Lockes und Humes übrig, daß das Gleichheitsverhältnis sicheres Wissen, das Kausalverhältnis aber kein solches Wissen gebe. Der Begriff »sicheres Wissen« ist von dem Begriff Wirklichkeit streng zu trennen, denn die Mathematik gibt uns sicheres, ja sogar sicheres generelles Wissen, die Wirklichkeit aber im Sinne Lockes und Humes, die sinnlichen Wahrnehmungen, gibt uns niemals ein solches. Ebenso müßten Locke und Hume behaupten, daß das Gleichheitsurteil über nur zwei einzelne Sinnesempfindungen zwar sicheres Wissen vermitteln, aber als eine idea of relation nur eine Erfindung unseres Geistes sei. Hume behauptet wie oben angeführt, daß der Satz: a ist gleich b, sicheres Wissen gebe, was der Satz: a ist die Ursache von b nicht tue. Bezüglich der gegenseitigen Beziehungen zweier Vorstellungen können wir ein sicheres Urteil über deren Gleichheit oder Verschiedenheit fällen (z.B. bezüglich ihrer Größe oder Qualität), aber wir können nicht mit derselben Sicherheit aus einer Vorstellung, die wir Ursache nennen, eine Vorstellung ableiten, die wir deren Wirkung nennen. Wie in meiner Kritik der Induktionsphilosophie von Stuart Mill nachgewiesen wurde, beruht die Sicherheit im Gleichheitsurteil darauf, daß es zwei vergangene Fälle oder auch einen vergangenen und einen gegenwärtigen Fall betrifft, während der Kausalschluß — wie Hume ihn auffaßt — einen gegenwärtigen Fall (z. B. das Feuer, das wir eben jetzt sehen) und einen zukünftigen, das Schmelzen als dessen kommende Wirkung, angeht. Halten wir uns hingegen an einen vergangenen Kausalzusammenhang, z. B. das Schmelzen eines Metalls, das wir gestern als Folge des Feuers beobachteten, so können wir mit ebenso großer Gewißheit aussprechen, daß auf a (das Feuer) b (das Schmelzen) folgte, wie das zwei Sinnesempfindungen c und d, eine rote Rose, die ich gestern, und eine, die ich heute beobachtete, einander gleichen. Hume will behaupten, daß ein einzelner Fall von c und d uns zwar ein Wissen
153 von Gleichheit zwischen ihnen zu geben vermöge, daß uns aber kein einzelner Fall von a und b Wissen von einem Kausalverhältnis zwischen a und b vermittele. Wie ich früher nachzuweisen suchte, läßt sich diese Auffassung nicht länger geltend machen, wenn wir uns an unser eigenes Erlebnis halten. Ein einzelner Fall einer Veränderung, deren Ursache wir finden, und ein einzelner Fall einer Ursache, die wir eine Wirkung hervorrufen sehen, genügen, wie im Vorhergehenden gezeigt wurde, um uns die Vorstellung der notwendigen Verbindung zwischen ihnen zu vermitteln. Und unwillkürlich fragen wir nach der Ursache, sobald wir nur eine bestimmte Veränderung — und zwar schon zum ersten Mal — sehen. Während man also Hume in seiner Auffassung der Entstehung der Kausalbeziehung und des Kausalbegriffes in unserem Bewußtsein psychologisch nicht Recht geben kann, muß man ihm dagegen erkenntnistheoretisch zugestehen, daß dieser Kausalbegriff, diese notwendige Verbindung, die wir bereits nach einer einzelnen Veränderung feststellen, aus der sinnlichen Wahrnehmung selbst nicht hervorgehe. Diese notwendige, ursächliche Verbindung ist dagegen, wie ich oben dargetan habe, eine menschliche Deutung, aus unseren Erlebnissen von Schmerz und Kraft entstanden. Ein einzelnes Erlebnis einer Veränderung vermittelt uns — wie nachgewiesen wurde —, wenn wir die Ursache, d. h. die vorausgegangene Veränderung gefunden haben, sofort das Gefühl eines notwendigen, gesetzmäßigen Zusammenhanges, während wiederholte Sukzessionen dieser beiden Veränderungen (Ursache und Wirkung) unseren Glauben an jene Gesetzmäßigkeit bestärken. Ein einzelnes Erlebnis zweier, einander ganz oder teilweise deckender Sinnesempfindungen (z. B. Farben) schenkt uns eine Auffassung von Gleichheit zwischen diesen. Beide Erlebnisse aber vermitteln uns lediglich die Erinnerung eines Zusammenhanges, der in der Vergangenheit liegt, jedoch kein sicheres Wissen über die Zukunft. Man kann also die gesetzmässige Beziehung oder das Kausalverhältnis nicht derart mit dem Gleichheitsverhältnis vergleichen, daß man bei dem einen, nämlich dem Gleichheitsverhältnis, ausschließlich Fälle der Vergangenheit, bei dem Kausalverhältnis aber zugleich solche der Zukunft in Betracht zieht. Von Lockes und Humes Anschauung, daß unsere Auffassung der Gleichheit von a und b »sicher« sei, bleibt denn allein übrig, daß wir jene Ubereinstimmung oder Deckung zwischen a und b instinktiv und klar erleben, sie »erfühlen«. Zieht man aber die letzten Kon-
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Sequenzen aus Lockes und Humes eigener Auffassung, so liegt auf der Hand, daß diese instinktiv sichere Auffassung uns lediglich ein subjektives Erlebnis, jedoch keine Erkenntnis der Wirklichkeit vermittele (nur eine idea of relation). Ebenso gibt selbst ein wiederholtes Erlebnis von a und b in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Aufeinanderfolge nach Hume nur ein subjektives Gefühl einer ursächlichen Beziehung zwischen a und b und keine Erkenntnis der Wirklichkeit. Was die Erkenntnis der Zukunft anbelangt, wissen wir nicht das Geringste darüber, inwieweit eine bisher beobachtete gesetzmäßige Verbindung oder ursächliche Verbindung, nämlich daß die Wirkung b der Ursache a nachfolge, auch künftig eintreten werde, denn dies würde voraussetzen, daß die Natur in solchen Fällen die gleiche Regelmäßigkeit bewahrte, wie in denen der Vergangenheit; dafür haben wir aber gar keine Garantie. Bezüglich des Gleichheitsverhältnisses haben wir erstens einmal keine Gewißheit, daß die Gleichheit, die wir zwischen zwei Gegenständen — dem gestern wahrgenommenen und dem heute gesehenen — festgestellt haben, auch künftig bei einer neuerlichen Wahrnehmung von a und b auftreten werde, denn auch dieses würde eine Konstanz oder Gesetzmäßigkeit der Natur voraussetzen, über die wir weder Gewißheit noch Wissen haben. Aber selbst wenn wir uns an das rein Psychische halten, haben wir auch nicht die geringste Sicherheit, daß wir künftig überhaupt zwei oder mehrere Sinnesempfindungen erhalten werden, die einander gleichen. Niemand hat uns verbrieft, daß das gesamte Universum, wir selbst einbegriffen, nicht eines Tages ein vollkommenes Chaos sein werde. Wir glauben, daß die Gesetzmäßigkeit, die wir bisher in der Natur erfahren haben, auch in Zukunft bestehen werde. Aber dies ist und bleibt ein Glaube. Wenn Locke und Hume in ihrer Erkenntnislehre unsere Auffassungen von Gleichheit — Verschiedenheit, Ursache — Wirkung als Beziehungen zwischen Sinnesempfindungen (relations) kritisieren, die unser Geist selbst erzeugt, geschieht dies wie gesagt von der Sinneswahrnehmung als Wirklichkeitskriterium aus. Auch Kant hält diese Beziehungen — im Verhältnis zu den Sinnesempfindungen — für subjektiv, betrachtet sie aber doch als notwendige Glieder unserer gesamten Erfahrung und damit auch aller Wirklichkeit in der Bedeutung des Wortes, die ich oben Wirklichkeitsbegriff 1 = Erfahrung genannt habe. Unsere gesamte Erkenntnis aber — sowohl
155 sinnliche Empfindungen als Relationen — ist nach Kant im Verhältnis zur Welt an sich, zum Wirklichkeitsbegriff im absoluten Sinne, also Wirklichkeitsbegriff 2, subjektiv. Wie früher betont ist keine dieser Anschauungen richtig. Wie ich mich oben nachzuweisen bemühte, lassen sich die Sinnesempfindungen und unser Unterscheiden und Vergleichen nicht trennen; und ebenso wie unsere sinnlichen Empfindungen immer in Gleichheiten und Verschiedenheiten auftreten, so erscheinen sie auch unaufhörlich in jenen gesetzmäßigen Zusammenhängen, die wir in der Umgangssprache und in der Fachwissenschaft Ursachen und Wirkungen benennen. Gleichheiten und Verschiedenheiten wie gesetzmäßige Zusammenhänge der Veränderungen gehören somit ebenso zu unserer Erfahrung, zur Wirklichkeit im gewöhnlichen Sinne des Wortes, wie die sinnlichen Empfindungen selbst. Ob aber dieser Wirklichkeitsbegriff 1, den absoluten Wirklichkeitsbegriff 2, das Ding an sich, deckt oder ob er subjektiv ist, das wissen wir nicht. Kants Behauptung, daß Begriff 1 im Verhältnis zum Begriff 2 rein subjektiv sei, ist unbeweisbar. Bezüglich des Kausalverhältnisses macht Hume geltend, daß Wirklichkeitsbegriff 1 uns nur eine konstante Reihenfolge oder einen stetigen Zusammenhang zwischen den Sinnesempfindungen zeige, die wir Ursachen und Wirkungen nennen, nicht aber eine notwendige Verbindung, während Kant behauptet, daß die notwendige Verbindung — ausgedrückt im Kausalsatz, der sagt, daß jede Veränderung eine Ursache habe — ein vom Wirklichkeitsbegriff 1 untrennbares Element, eine allgemeine und notwendige Denkform in unserer gesamten Erfahrung sei, für Wirklichkeitsbegriff 2 aber keine Geltung habe. Hume hat darin Recht, daß die Wirklichkeit im Sinne 1, die Erfahrung, uns lediglich eine bisher festgestellte regelmäßige Reihenfolge oder einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen den Sinnesempfindungen zeige, die wir in der Umgangssprache Ursache und Wirkung nennen, nicht aber eine notwendige, allgemeingültige Verbindung darstelle. Kant hat seinerseits darin Recht, daß wir unwillkürlich, sobald wir das Phänomen der Veränderung wahrnehmen, ein jener Erscheinung vorausgehendes Phänomen suchen, mit dem die Verbindung in gesetzmäßigen Zusammenhang steht und das wir gewöhnlich Ursache nennen. Humes Auffassung der Ursache als einer Sinnesempfindung und der Wirkung als einer anderen deckt überhaupt nicht das gewöhnliche psychische Verhältnis, sondern den relativ kleineren Bereich,
156 wo wir selbst die Ereignisse herbeiführen, beispielsweise wenn wir dem Blei das Feuer nähern und das Metal dadurch zum Schmelzen bringen. Wie ich ferner oben nachzuweisen suchte, ist das Hauptfaktum draußen in der Natur und dasjenige, das wir zuerst wahrnehmen, die Veränderung oder die sukzessiven Veränderungen, d. h. eine ganze Reihe von sinnlichen Empfindungen, und diese sind es, die man gewöhnlich später die Wirkung nennt. Was wir in der Natur wahrnehmen, ist in der Tat lediglich Regelmäßigkeit oder Gesetzmäßigkeit innerhalb der Veränderungen. Dann erst machen wir uns daran, die Ursache zu suchen. Diese besteht indessen laut der modernen Naturwissenschaft augenscheinlich lediglich in anderen Veränderungen, nämlich Bewegungen, indem beispielsweise die »Ursache« aller derjenigen Veränderungen, die wir Wärmeerscheinungen nennen — Schmelzen, Erstarren u. ä. — in Bewegungen der Moleküle zu suchen sei. Eine »Ursache« jener letzten Bewegungen im Universum, ja aller Bewegungen des Universums läßt sich in der Erfahrung, dem Wirklichkeitsbegriff 1, nicht nachweisen, denn als Ursache der Bewegungen kann nur die Kraft in Frage kommen. Wir nehmen aber in unserer Erfahrung nur jene Bewegungen und (abgesehen von unserer eigenen Muskelkraft) keine Kräfte wahr. Von Humes beiden Begriffen Ursache und Wirkung ist nun nur der letzte übrig, den wir künftig besser Veränderung nennen wollen, da er selbständig, von der Ursache gelöst, sein muß. Alles was die Erfahrung, die Wirklichkeit 1, uns zeigt, ist nur ein gewisser gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen den Veränderungen. Dieser gesetzmäßige Zusammenhang innerhalb des Universums gehört aber ebenso wie die Gleichheiten und Verschiedenheiten in diesem Universum zu unseren letzten, grundlegenden Erkenntnissen und gilt vielleicht auch der Wirklichkeit 2, dem Ding an sich. Welches neue Verständnis der Bewegungen im Universum man auch immer suchen will, so muß man doch überall, bei einem jeden Verständnisvorgang, jene beiden letzten Erkenntnisfähigkeiten anwenden und sich auf sie stützen. Die Gleichheiten und Verschiedenheiten und die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den Sinnesempfindungen sind auch für jene Ordnung bestimmend, in der die Sinnesempfindungen in unserem Bewußtsein auftreten, nämlich Zeit und Raum. Unsere gesamten Erlebnisse, die sogenannten inneren ebenso
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wie die sogenannten äußeren, kommen in unserem Bewußtseinn nur in jener eigentümlichen Reihenfolge vor, die wir Zeit nennen. Sie wird, mit einem der Umwelt entnommenen Bilde, als ein Strom von Erlebnissen in den einzelnen Augenblicken von Sinnesempfindungen, inneren Organempfindungen, Vorstellungen, Gefühlen usw. gedacht. Aber zu dieser Vorstellung von der Reihenfolge der Erlebnisse könnten wir überhaupt nicht kommen, wenn wir nicht zuerst zwischen den einzelnen, verschiedenartigen Sinnesempfindungen u. ä. unterscheiden würden und darauf bei aller Verschiedenheit auch zu Gleichheiten gelangten, durch die die Wiedererkennung und die Erinnerung an vergangene Erlebnisse entsteht. Ohne die Erinnerung an frühere Erlebnisse könnten wir ja nicht zu unserer Vorstellung von der Zeit gelangen. Auch unsere Vorstellung vom Raum würde ohne die Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit nicht entstehen; sie erfordert sogar zugleich die Schlußfolgerung von gesetzmäßigen Zusammenhängen. Wenn die nativistische Theorie innerhalb der neueren Psychologie auch wohl darin im Recht ist, daß die sinnlichen Empfindungen uns nicht nur Eindrücke von Flächen und deren Umrissen, sondern auch einen gewissen Eindruck von Tiefe geben, so hat Berkeley jedenfalls darin Recht, daß unsere Raumauffassung in ihrer Gesamheit und voller Ausdehnung in hohem Maße auf Schlußfolgerungen unseres Verstandes beruhe. Berkeley hat aber nicht näher angegeben, worin diese Schlüsse im Einzelnen bestehen; sie sind aber, soweit ich sehen kann, Schlüsse, die von Gleichheit und Verschiedenheit und von Gesetzmäßigkeit ausgehen. Indem wir zwischen Gesichtsempfindungen und Bewegungs- und Berührungs-empifindungen unterscheiden, nehmen wir wahr, daß wir, um Berührungsempfindungen mit gewissen Bewegungsempfindungen verknüpfen zu können (wenn wir einen Gegenstand, den unsere Gesichtsempfindungen uns zeigen, berühren wollen), erst eine Reihe von Bewegungsempfindungen durchleben, d. h. mittels der Muskelkraft unseren Körper in Richtung auf das Gesichtsbild in Bewegung setzen müssen; und indem wir eine Gruppe Bewegungsund Berührungsempfindungen, die in der genannten Weise mit einem Gesichtsbild verknüpft sind, mit einer zweiten, mit einem anderen Gesichtsbild verbundenen Gruppe von Bewegungs- und Berührungsempfindungen vergleichen, erhalten wir eine ausgeprägte, vertiefte Auffassung von Abstand, von verschiedenen Abständen und nach und nach vom Raum überhaupt. In der Anwendung verschie-
158 dener Arten von Muskelkraft zur Erzielung verschiedener Bewegungen unseres Körpers mit nachfolgenden Berührungsempfindungen liegt eine Gesetzmäßigkeit, deren wir uns bedienen und die wir immer genauer vorausberechnen. 4. D I E S I N N L I C H E W A H R N E H M U N G U N D DIE A N D E R E N F Ä H I G K E I T E N D E S E R K E N N E N S
Für Locke, Berkeley und Hume ist der Begriff Wirklichkeit, wie oben erwähnt, gleich den Sinnesempfindungen. Es sind daher lediglich diejenigen Vorstellungen wirklich, die sich von Sinnesempfindungen herleiten lassen; sie allein geben eine Wirklichkeit wieder. Daraus folgt, daß alle Vorstellungen von Beziehungen, wie Zeit und Raum, Gleichheit und Verschiedenheit, Ursache und Wirkung, die nicht von sinnlichen Empfindungen abgeleitet werden können, als in uns liegend, von der besonderen Form unseres Geistes geschaffen und also als nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmend anzusehen seien. Kant hat dieselbe Grundauffassung wie seine englischen Vorgänger. Auch ihm sind die sinnlichen Empfindungen Stoff, den wir von Außen empfangen, während Raum und Zeit, Gleichheit und Verschiedenheit, Ursache und Wirkung subjektive, in uns liegende Formen der Auffassung darstellen, die die Wirklichkeit, die Welt an sich nicht wiedergeben. Wenn man diese Auffassung unserer Erkenntnistätigkeit Elementenpsychologie nennt, so gilt diese Bezeichnung also nicht nur der sogenannten empirischen Schule, nämlich Locke, Berkeley und Hume, sondern ebenso wohl Kant, der die diesbezügliche Grundansicht jener Schule übernommen hatte; und das Unrichtige dieser Elementenspychologie des 18. Jarhunderts lag, wie dargelegt wurde, durchaus nicht darin, daß die englische Schule übersehen haben sollte, daß es in unserem Bewußtsein viel mehr und Anderes gebe als die Elemente, die sinnlichen Empfindungen, denn die englische Schule betonte ebenso wie Kant gerade besonders kräftig, daß außer diesen Elementen zusammenfassende, ordnende und bearbeitende Tätigkeit am Werke sei, die Hume »the uniting principle« nannte — für ihn ein Grundgesetz des Bewußtseinslebens — und die Kant als »Synthese« bezeichnete. Dagegen lag eine gewisse Einseitigkeit in der genannten psychologischen Auffassung des 18. Jahrhunderts insofern, als sie eine zu scharfe Scheidung zwischen den sinnlichen Empfindungen einerseits
159 und dem psychischen Vorgang andererseits vornahm, dem wir in den Relationen: Gleichheit und Verschiedenheit, gesetzmäßigem Zusammenhang, Zeit und Raum begegnen. Man faßte die Sinnesempfindungen als Elemente auf, die zuerst vorhanden seien und die unser Geist erst später mittels der Relationen zu größeren Einheiten zusammenfüge. Insoweit ist der Ausdruck Elementenpsychologie daher zutreffend. Man begriff die zusammenfassende Tätigkeit der Relationen den Sinnesempfindungen gegenüber auf eine ähnlich äußerliche Weise, wie wir den Handwerker im Verhältnis zu dem Material, dem Stoff auffassen, aus dem er ein Haus oder andere Dinge gestaltet und aufbaut. Diese Analogie ist in Wirklichkeit eine Abstraktion, welche Erscheinungen scharf von einander trennt, die in unserem Bewußtsein organisch aufs engste zusammenhängen. Die Analogie ist gewiß vom Anbeginn als F r u c h t eines abstrahierenden Denkens entstanden, das seinen A n f a n g nahm, als die älteren Philosophen in der Antike und besonders in der Renaissance zwischen der sinnlichen W a h r n e h m u n g und dem Denken zu sondern begannen (sensus und intellectus). Diese A u f f a s s u n g läuft im Ganzen darauf hinaus, daß wir die sinnlichen Empfindungen als einen Stoff passiv empfangen, den unser Denken darauf erst aktiv bearbeitet. Diese Ansicht ist nur auf einem sehr beschränkten Gebiet berechtigt. Die sinnlichen Empfindungen lassen sich, wie oben dargetan wurde, von unserer A u f f a s s u n g von Gleichheit und Verschiedenheit nicht trennen. Ferner treten die sinnlichen Empfindungen unaufhörlich in jenen gesetzlichen Zusammenhängen auf, die in allen Veränderungen wiederkehren. Weiter treten sie auch in der Regel im zeit-räumlichen Zusammenhang auf. In W i r k l i c h k e i t können wir erst, wenn wir zu den Vorstellungen kommen — also zu den, den sinnlichen Empfindungen entstammenden Abbildern, die wir im Bewußtsein bewahren, selbst nachdem die Sinnesempfindungen aufgehört haben — die bearbeitende Tätigkeit unseres Bewußtseins scharf von den Vorstellungen als Elementen scheiden, und zwar teils in das freie Kombinieren vieler verschiedener Vorstellungselemente seitens unserer Phantasie und teils in unser Zusammenfassen zahlreicher individueller, sinnlicher Bilder (z. B. von verschiedenen Tieren) zu allgemeinen Vorstellungen (dem Begriff T i e r ) . In unserer Erfahrung bilden die Sinnesempfindungen und die Relationen (Gleichheit und Verschiedenheit, gesetzmäßiger Zusammenhang, Raum und Zeit) eine unlösbare Verbindung; und wie früher betont wurde, fehlt jegliche Grundlage f ü r eine Sonderung
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zwischen Sinnesempfindungen und Relationen im Verhältnis zum Wirklichkeitsbegriff (sowohl 1 als auch 2) und ebenso für Lockes, Humes und Kants Behauptung, daß die Relationen subjektiv seien. Es soll später nachgewiesen werden, daß auch eine Erkenntniskritik einzelner Sinnesempfindungen und einzelner Relationen gegeben werden kann. Diese Kritik geht aber in einer Richtung, die der Sonderung zwischen Sinnesempfindungen und Relationen widerspricht.
7.
Kapitel
DIE GRUNDLAGEN-ILLUSION IN D E R B I S H E R I G E N E R K E N N T N I S L E H R E Im vorhergehenden habe ich mehrfach den eigentümlichen Fehler in der wissenschaftlichen Methode zu beleuchten versucht, der in der Erkenntnislehre nicht nur des 18., sondern auch des 19. und 20. Jahrhunderts begangen wurde und den ich in Kapitel 5 zu charakterisieren versuchte. Zur vorläufigen Kennzeichnung nannte ich diesen wissenschaftlichen Methodenfehler einen gewaltigen »Kreisschluß«. Das Gefährliche an ihm ist, daß er so tief im Denkvorgang versenkt ist und verborgen liegt, daß selbst die scharfsinnigsten Denker unter den Erkenntnistheoretikern ihn bisher nicht nur nicht entdeckt haben, sondern ihn auch selbst unbewußt begehen und auf seiner Grundlage arbeiten. Der Denkfehler besteht darin, daß man bei der Untersuchung des Erkenntnisproblems, ohne sich dessen bewußt zu sein, mit Begriffen und Beziehungen operiert, die man entweder a) erst beweisen soll, oder b) die man durch eben die gleiche Untersuchung am Ende als unwirklich erkennt. Es ist schwierig, ein Wort zu finden, das diesen Grundfehler der wissenschaftlichen Methode ganz deckt. Auch nicht das Wort Kreisschluß oder Zirkelschluß kann als zutreffend betrachtet werden; es trifft nur a. Der Fehler ist in der Regel noch fundamentaler. Man nimmt unbewußt als Ausgangspunkt das an, was die Untersuchung selbst wiederlegt und untergräbt, nämlich b, und verwendet es während der gesamten Untersuchung. Man könnte vielleicht diesen ganzen verborgenen Methodenfehler, a und b, eine Grundlagen-Illusion, a allein kann man füglich einen Kreisschluß (eine petitio principii) nennen. Aber b, das einer Erkenntnistheorie noch verderblicher ist, läßt sich vielleicht am besten als Grundlagen-Vernichtung oder Grundlagen-Illusion im engeren Sinne bezeichnen. Sie besteht darin, daß man unbewußt in jenen merkwürdigen Denkvorgang hineinschlittert, daß man durch seine eigene Untersuchung infolge gewisser Denkformen eben diese Denk11 Erkenntnis und Wertung
162 formen selbst unterminiert. Das Resultat dieser erkenntnismäßigen Selbst-Vernichtung oder Grundlagen-Illusion ist in allen Fällen, daß die gesamte Untersuchung in Wirklichkeit nicht von der Stelle kommt und daß man also vor vorne beginnen kann. Daß man sich bisher über diese merkwürdige Grundlagen-Illusion nicht klar geworden ist, stellt meines Erachtens den Grund dar, weshalb die großen Erkenntnislehrer des 18. Jahrhunderts festfuhren und in einem unendlichen Streit um die Methode der Erkenntnislehre stecken blieben; die spätere Erkenntnislehre, die jenen Doktrinen im 19. und 20. Jahrhundert folgten, ist keinen wesentlichen Schritt über sie hinausgekommen, sondern bewegt sich immer noch in den gleichen Sackgassen des Denkens und deshalb ist der Streit um die Methode der Erkenntnislehre auch heute noch nicht zum Abschluß gebracht worden. Die Grundlagen-Illusionen sind in dem Denken der vier großen Erkenntnislehrer tief verwurzelt; und so gründlich und eingehend sind die Untersuchungen dieser Denker, daß die Gleise, in die sie die Erkenntnislehre hineinführten, faktisch für alles spätere Denken bis auf unsere Tage bestimmend geworden sind. Die beiden philosophischen Hauptrichtungen des 19. Jahrhunderts, die Romantik und der Positivismus, bedeuteten auf dem Gebiet der Erkenntnislehre einen Rückschritt und gingen im Vergleich zu jenen führenden Geistern des 18. Jahrhunderts nur wenig in die Tiefe. Als nun im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit Männern wie Mach, Kroman, Meyerson, Russell und Iversen ein erkenntnistheoretisches Denken mit mehr oder weniger Anknüpfung an die neue Naturwissenschaft aufgenommen wird, beginnen sie mit Lockes, Berkeleys, Humes und Kants Problemstellung und folgen in weitem Umfange den engen, gedanklichen Gleisen dieser Erkenntnislehrer, weshalb sie sich denn auch in den großen Problemen wie dem Kausalproblem und dem Problem der äußeren Welt verfahren und nicht weiter kommen. Und die Streitfrage um die Methode der Erkenntnislehre, die zwischen der empirischen und der apriorischen Richtung dank dieses Gegensatzes der Methode Kants und derjenigen seiner englischen Vorgänger entstand, ist noch nicht geklärt. Hier seien nun zunächst die wichtigsten Fälle von GrundlagenIllusionen, die ich oben näher aufgezeigt habe, kurz zusammengefaßt. Locke faßt nach Galilei gewisse Sinnesempfindungen als sekundär auf (die subjektiven Sinnesqualitäten: Farbe, Laut u. ä.), obwohl man zu dieser Auffassung nur durch Anwendung des Kausalzusam-
163 menhanges kommen kann, dem er infolge seines eigenen Ausgangspunktes und seiner Untersuchung die Realität abspricht (»relation« ist »invention«). Denselben Fehler begeht er, wenn er das Ding an sich als Ursache unserer Sinnesempfindungen ansieht, obwohl ein solches Kausalverhältnis so gut wie alle anderen Resultate infolge seiner eigenen Untersuchung rein subjektiv sind und sich in keiner Weise auf das Ding an sich anwenden lassen. Auf der gleichen Linie liegt Humes Operieren mit Objekten und unbekannten Ursachen, da seine eigene Untersuchung der Objektvorstellung und dem Kausalverhältnis jegliche Realität abspricht. Die Grundlagen-Illusion reicht indessen noch tiefer in die Erkenntnislehre hinein als in den genannten Fällen. Wenn Locke, Berkeley und Hume zwischen den Erkenntniselementen verschiedener Art sondern und sie in Sinnesempfindungen, Vorstellungen und Relationen gruppieren, wenn sie ferner Vorstellungen von Sinnesempfindungen ableiten und endlich im Ganzen eine ordnende, bearbeitende Tätigkeit des Bewußtseins den als Stoff aufgefaßten Sinnesempfindungen gegenüberstellen, so bedeutet dieses ganze Sondern, Gruppieren und Ableiten und die Vorstellung von einer Einordnung und Bearbeitung eine unablässige Anwendung der Relationen: Gleichheit und Verschiedenheit und Ursache und Wirkung, die dieselben Denker in eben derselben Untersuchung als unwirklich erkennen oder folgerichtig nennen müßten. Es läßt sich, wie oben nachgewiesen wurde, in dieser Beziehung kein Unterschied machen zwischen unserer Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit, der logischen Erkenntnis einerseits, und unsrer Auffassung von gesetzmäßigen Zusammenhängen, unserer Kausalerkenntnis andrerseits. Beide sind sie nach Locke und Hume als ideas of relations subjektiv. Wäre Hume sich hier über die radikale Konsequenz seines eigenen Standpunktes und also auch desjenigen Lockes völlig im klaren gewesen, hätte seine Skepsis am Ende nicht nur der Vorstellung von der Außenwelt und dem Kausalverhältnis, sondern auch den einfachsten Beziehungen von Gleichheit, der Logik, und damit der letzten Grundlage aller Wissenschaft gegolten. Folgerichtig hätte Hume überhaupt nicht sein Hauptwerk schreiben dürfen, denn dessen glänzende Logik hätte er nicht begründen können, da sie nicht von einer sinnlichen Empfindung herrührt. Alle seine scharfsinnigen, psychologischen und erkenntnistheoretischen Ausführungen in seinem Werk »Treatise on human understanding« über Zeit und Raum, Kausalbeziehung und andere Relationen und 11»
164 über die äußere Welt sind schließlich und endlich nichts anderes als eine Hervorhebung von Gleichheiten und Verschiedenheiten und von ursächlichen Beziehungen im Bewußtsein, also lediglich Relationen, die in uns, in unserem Glauben und unserer Phantasie und nicht in den Objekten, nicht in der Wirklichkeit liegen. Wenn Hume lediglich mittels seiner Logik, seiner Erkenntnis von Gleichheit und Verschiedenheit, also einer Relation, zu einer Verneinung der Existenz der äußeren Welt und der ursächlichen Beziehung hat gelangen können, so beruht diese Verneinung also in der Tat nur auf einen »inner feeling«; und die äußere Welt und ihre Kausalbeziehungen bleiben demnach von seiner gesamten scharfsinnigen Beweisführung, von allen seinen eingehenden Betrachtungen unangefochten bestehen. Sollen die äußere Welt und deren kausale Beziehungen als unwirklich zu Fall gebracht werden, so muß das in einer ganz anderen Weise, nach einer völlig anderen wissenschaftlichen Methode geschehen. Sie lassen sich jedenfalls nicht von Hume zur Strecke bringen. Mit anderen Worten: Humes gesamte, umfassende Untersuchung hat uns nicht um einen Schritt weiter gebracht. Bei Kant liegt die Grundlagen-Illusion auf einem anderen Punkt. Gegen Kant kann man nicht einwenden, daß er die Relationen in seiner apriorischen, logischen Erkenntniskritik selbst anwende, denn er ist sich bewußt, daß wir ohne Relationen (Anschauungs- und Verstandesformen) überhaupt weder denken noch erfahren können. Sie geben keine absolute Wahrheitserkenntnis, keine Erkenntnis des Dinges an sich, das ich im vorhergehenden den Wirklichkeitsbegriff 2 genannt habe; daher kann Kants Erkenntniskritik, seine »Kritik der reinen Vernunft« ebenfalls keine absolute Wahrheitserkenntnis in diesem Sinne geben. Kant meint aber: da die Relationen unsere subjektiven Erkenntnisformen darstellen, die nicht wie die sinnlichen Empfindungen (der rohe Stoff) von außen kommen, sondern apriorisch sind, also latent in der Struktur unseres Geistes liegen, schon bevor wir Erfahrungen machen, und — wenn wir solche machen — unsere gesamte Erfahrung notwendig und allgemein prägen müssen, so geben sie uns eine unbedingt gültige Erkenntnis (der Wirklichkeit 1 ) ; und seine Erkenntniskritik müsse deshalb auch vor jeder Erfahrung apriorisch gültig und eine völlig einleuchtende Selbsterkenntnis sein, die apriorisch, ewig gültig eine vollständige Übersicht über unsere gesamten Anschauungs- und Verstandesformen gebe. (Kant IV 69 f, III 9 f, 547 f.). Kant macht sich, wie früher hervorgehoben, hier 1) eines Kreis-
165 Schlusses schuldig. Er geht von dem aus, was er vor allem Anderen beweisen sollte, nämlich daß sich wirklich eine scharfe Sonderung zwischen den seelischen Empfindungen und den Relationen, zwischen »Sinnlichkeit und Verstand« vornehmen lasse, daß die Sinnesempfindungen von Außen kommen und daß dagegen die Relationen in uns liegen und für die Dinge an sich nicht gelten. Da nichts von diesen Betrachtungen sich beweisen läßt, fällt Kants gesamtes Gedankengebäude damit. Aber 2) verwickelt sich Kant auch in eine Grundlagen-Vernichtung oder Grundlagen-Illusion im engeren Sinne. Das Entscheidendste ist hier nach meiner Ansicht, daß Kant zu dem Ding an sich als Gegensatz zu der von uns aufgefaßten Erscheinungswelt, also zu einem Unterschied zwischen Wirklichkeitsbegriff 1 und 2, überhaupt nur gelangen kann, indem er sich unseres Unterscheidungs- und Vergleichungsvermögens, d. h. unserer Auffassung, daß es etwas gebe, das von etwas Anderen verschieden sei, bedient. Unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit gehört aber nach Kant zu unseren subjektiven Verstandesformen, gilt also nur für die Erscheinungswelt, für den Wirklichkeitsbegriff 1; so kann er von seinem eigenen Standpunkt, seinen eigenen Prämissen aus nie und nimmer an das Ding an sich, den Wirklichkeitsbegriff 2, herankommen. Dazu kommt ferner, daß Kant, nachdem er erst zwischen Wirklichkeit 1 und 2 gesondert hat, noch dazu eine ursächliche Beziehung zwischen 1 und 2 etabliert, indem die sinnlichen Empfindungen von Außen kommen sollen, nämlich durch »Gegenstände, die unsere Sinne berühren« (Kant III 27). Das Kausalverhältnis gehört aber auch zu den subjektiven Verstandesformen, die nur der Erscheinungswelt gelten und sich in keiner Weise auf das Ding an sich anwenden lassen. Diese letztere Grundlagen-Illusion ist aber meines Erachtens nicht so entscheidend wie die erste. Denn die letzte: das Ding an sich in ursächlicher Beziehung zu den Sinnesempfindungen wäre ja gar nicht entstanden, hätte er nicht erst mit Hilfe unserer subjektiven Verstandesform: unserer Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit, eine scharfe Trennung zwischen zwei Welten vorgenommen, und zwar der Erscheinungswelt, Wirklichkeit 1, und der Noumenwelt, Wirklichkeit 2. Die entscheidende Grundlagen-Illusion besteht also darin, daß Kant die fundamentale Sonderung seiner Erkenntnislehre zwischen der nicht-erkennbaren Welt, der Welt an sich, und der von uns durch unsere apriorischen Geistesformen aufgefaßten Welt auf einer jener subjektiven Formen, nämlich auf der Verschiedenheits-
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und Gleichheitserkenntnis fußen läßt. Die Sonderung, dank welcher das Ding an sich überhaupt erst entsteht, und damit also auch das Ding an sich selbst, ist also von vornherein untergraben. Sowohl Hume alt Kant kommen also durch ihre eigenen Untersuchungen zu Ergebnissen, die die Grundlagen ihrer Untersuchungen vernichten. Die modernen Erkenntnistheoretiker, die den Gedankengang der großen Denker des 18. Jahrhunderts wiederaufnehmen, betrachten ebenso wie der folgerichtigste unter ihnen, Hume, die Erkenntnis als eine Reihe verschiedener, zeitlich sukzessiver, mentaler Erlebnisse oder Zustände: das Kausalverhältnis stellt lediglich wiederholte, konstante Sukzessionen von Erlebnissen dar; die Dinge der sogenannten äußeren Welt sind auch nur solche Sukzessionen; und die Vorstellung von einer äußeren Welt als einer von den eigenen Erlebnissen des menschlichen Bewußtseins verschiedenen ist unbegründet. Die beiden konsequentesten unter diesen neueren Erkenntnistheoretikern, Mach und Iversen, sind mit Hume in dieser Grundauffassung einig. Was Mach darüberhinaus an Neuem gibt, seine Theorie von der Erkenntnis als einer Anpassung (im Sinne Darwins) ist faktisch nur eine andere Form jener ordnenden, bearbeitenden Tätigkeit, die die englische Schule und Kant dem Bewußtsein zuschrieben; sie beruht daher auf derselben Grundlagen-Illusion, wie die Auffassung dieser Denker. Machs »Anpassung« setzt, näher besehen, einen tieferen, ursächlichen Zusammenhang und in Wirklichkeit auch eine Scheidung zwischen einer inneren und äußeren Welt voraus; diese beiden Punkte sind jedoch mit seiner eigenen erkenntnistheoretischen Untersuchung gänzlich unvereinbar. Iversen rechnet anfangs, wie Hume (und nach ihm Mach) mit Reihen von verschiedenen Zuständen, gelangt aber folgerichtig zu der Einsicht, daß alle Wirklichkeit, die ja mit Erlebnis in uns gleichbedeutend ist, letzten Endes in diesem Augenblick sei; selbst die Erinnerung und selbst der Gedanke an die Zukunft stellen mein Erlebnis in mir in diesem Augenblick dar. Es sei indessen unmöglich, dieses einzige Erlebnis des Menschen zu beschreiben, zu erklären, kurz zu erkennen, denn jede Beschreibung oder Erklärung könne nur mittels anderer, vergangener, mentaler Zustände geschehen, die im Grunde genommen nicht existieren, oder die wir jedenfalls, zutiefst betrachtet, nicht kennen. Ein mentaler Zustand könne sich selbst aber nicht beschreiben oder erklären; sie sei einfach; an ihm sei Nichts zu deuteln, nichts zu erkennen. Damit hört aber jede Erkenntnis auf. Hume ist unzweifelhaft der folgerichtigste der Er-
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kenntnistheoretiker, die sich der bisherigen Methode der Erkenntnislehre angeschlossen haben. Wird aber Humes Standpunkt ganz klar durchdacht, führt er also, wie Iversens Untersuchung zeigt, zu dem Ergebnis, daß jede wissenschaftliche Erkenntnis unmöglich sei. Unsere Auffassung von Gleichheit, die Wiedererkennung, läßt sich nach Iversen als Wirklichkeit nicht aufrechterhalten, denn Gleichheit ist ein Verhältnis zwischen zwei mentalen Zuständen, und die Wirklichkeit sei ja nur ein mentaler Zustand. Aber dieser Standpunkt, der nur ein einziges Erlebnis gelten läßt, der also alle Erkenntnis aufhebt, und den Iversen für den zuverlässigsten, sichersten, ja für den einzig möglichen hält, beruht meiner Ansicht nach durch und durch auf einer Grundlagen-Illusion. Diese ist aber so gut verborgen, daß Iversen trotz allen Scharfsinnes nicht gewahr wurde, daß er ihr unterlag. Er sah nicht, daß nicht nur die Gleichheit, die Wiedererkennung eine Beziehung zwischen zwei mentalen Zuständen darstellt; in der Tat gilt aber dasselbe der Verschiedenheit, die zwischen ihnen besteht. Diesem Phänomen der Verschiedenheit, ohne das wir überhaupt nicht erleben können, hat Iversen nicht genügende Aufmerksamkeit geschenkt. Aber selbst sein einziges Erlebnis, seinen einzigen mentalen Zustand hätte Iversen niemals gehabt, wenn dieser nicht von einem zweiten, vergangenen mentalen Zustand verschieden gewesen wäre und gleichzeitige Unterschiede enthielte. Ein mentaler Zustand ist ja so gut wie nie ein einziger, mehrere Sekunden (oder Bruchteile von Sekunden) hindurch völlig unveränderter Zustand. Beständig wechseln die Gesichtseindrücke, Laute u. ä.; und selbst wenn die sogenannte äußere Umgebung mehrere Sekunden lang unverändert sein sollte, so geht doch eine unablässige Veränderung vor sich in unserem Zustand von Organempfindungen, Gefühlen, Stimmungen, Vorstellungen, Gedanken u. ä. Dank der mannigfaltigen Veränderungen der Umwelt, seien es nun Platzveränderungen, Bewegungen oder Gegenstandsveränderungen (die Bewegung der Blätter durch den Wind, das Strömen des Flusses, die Bewegung eines Wagens, das Schmelzen oder Verbrennen von Gegenständen), ist unser Erlebnis keine scharf isolierte Momentaufnahme dieser Veränderungen innerhalb des Bruchteiles einer Sekunde oder einer ganzen Sekunde, sondern besteht aus Empfindungen eines stufenweisen Überganges von Verschiedenheiten und Gleichheiten durch einen Zeitraum von mehreren Sekunden. Mit der Erscheinung der Veränderung (in oder außer uns) und somit unserer Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit sind unsere Erlebnisse, unsere Sinnesempfindungen
168 oder inneren Empfindungen unlöslich verknüpft. Aber selbst wenn es möglich wäre, zwischen meinem gegenwärtigen Erlebnis und meiner gleichzeitigen Empfindung der Verschiedenheit dieses Erlebnisses von demjenigen, das ich eine Sekunde vorher hatte, zu sondern, so hätte Iversen keinerlei erfahrungsmäßigen Grund, jenem früheren Erlebnis die Realität abzusprechen. Wir haben nämlich gar keine Gewißheit dafür, daß meine gleichzeitige Empfindung einer Verschiedenheit im Verhältnis zu dem jetzigen Erlebnis weniger wahr sein sollte, als dieses Erlebnis selbst. Wir können die Verschiedenheit einer Sinnesempfindung im Verhältnis zu einer anderen ebensowenig kritisieren, wie die Sinnesempfindung selbst. Endlich liegt auf der Hand, daß Iversen mit seinen eingehenden, psychologischen Untersuchungen niemals zu seinem Standpunkt gekommen wäre, hätte er nicht längere Reihen von sinnreichen Schlußfolgerungen aufgestellt und Verschiedenheiten und Gleichheiten gefunden. Ohne seine Logik, also seine scharfe Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit, hätte er sein Werk weder denken noch eine Zeile davon schreiben können. Mittels jener Logik hat er sein einziges Erlebnis in einem bestimmten Augenblick allmählich herausseziert; dieses Erlebnis ist in der Tat eine Abstraktion von einem natürlichen Zusammenhang auf ein einzelnes Glied desselben, zu der ihn lediglich die Auffindung von Gleichheit und Verschiedenheit führen kann. Iversens Kampf gegen die Erscheinung des Wiedererkennens, der Gleichheit zwischen zwei mentalen Zuständen als einer Beziehung zwischen dem einzigen und einem früheren Erlebnis, welch letzteres seiner Meinung nach gar nicht existiert, besteht in seiner Gesamtheit eben in jener Logik, jenem Auffinden von Gleichheit und Verschiedenheit, jenen Beziehungen also, die er selbst bekämpft. Er unterliegt mithin derselben Grundlagen-Illusion wie die übrigen Erkenntnislehrer. Wenn ich mit der Behauptung Recht habe, die ich in obiger Untersuchung zu beweisen suchte, nämlich daß die bisherige Erkenntnislehre im 18., 19. und 20. Jahrhundert unbewußt auf einer Reihe von Grundlagen-Illusionen aufgebaut sei, so heißt das, daß alle Resultate und Theorien, zu denen die Erkenntnislehre heute gekommen ist, infolge der Methode und der Grundlage selbst eine einzige Reihe erkenntnismäßiger Selbstvernichtungsakte darstellen; und die moderne Erkenntnislehre ist somit trotz aller scharfsinnigen, erkenntnispsychologischen und erkenntnistheoretischen Betrachtungen bedeutender Philosophen wie Hume und Locke, Kant und Mill, Mach und Meyerson, Iversen und Russell u. a. m. nicht weitergekommen.
169 W i r müssen daher von vorne anfangen und frei und von allen früheren Theorien, eingewurzelten Sonderungen oder Gruppierungen und hergebrachten Anschauungen über die Formen der Erkenntnis unbefangen eine neue Untersuchung einleiten. DAS B E R E I C H DES
UNBEWEISBAREN
Viel fehlerhaftes Denken und manche Verwirrung hätte vermieden werden können, hätte man in der Philosophie immer scharf zwischen dem geschieden, das sich beweisen läßt, und dem, was nicht bewiesen werden kann. Das Gebiet des Unbeweisbaren ist von gewaltigen Umfang und der Tummelplatz aller erdenklichen Spekulationen und Systeme. Ein großer Teil der Philosophie liegt im Bereich des Unbeweisbaren, von den Systemen der griechischen Naturphilosophen, von jenen Spinozas und Leibnizens bis zu denen von Kant und seinen Nachfolgern. Aber selbst den englischen Empirikern kann man den Vorwurf nicht ersparen, daß sie von unbeweisbaren Voraussetzungen ausgehen. Die bisherige Erkenntnislehre und zwar sowohl die empirische als die apriorische, fußt, wie oben nachgewiesen, auf einer Reihe von unbeweisbaren Behauptungen. So ist es unbeweisbar, daß zwischen sinnlichen Empfindungen und Relationen scharf zu sondern sei, daß nur die ersteren von Außen kommen, von Ursachen außer uns herrühren (unknown causes, das Ding an sich), und daß die letzteren uns selbst, dem Gefüge unseres Geistes entstammen. Es ist ferner unbeweisbar, daß Sinnesempfindungen und Relationen, ob nun die ersteren oder die letzteren oder beide zusammen, uns keine Erkenntnis der W e l t an sich (Wirklichkeit 2) geben können. Es ist allerdings ebenfalls unbeweisbar, daß sie uns eine solche Erkenntnis vermitteln. W i r wissen hierüber nichts. Nichtsdestoweniger hat sich die Erkenntnislehre Jahrhunderte hindurch um diese unbeweisbaren Behauptungen gedreht. Man hat die größten Anstrengungen entfaltet und gewaltige Mengen philosophischer Literatur des 18., 19. und 20. Jahrhunderts haben sich um die Probleme angehäuft, die jene Postulate enthalten. Natürlich behalten die psychologischen Untersuchungen, die Locke, Hume und Kant sowie die neueren Erkenntnistheoretiker in ihren W e r k e n niedergelegt haben, ihren Wert. Aber sehr ansehnliche Teile der W e r k e Lockes und Humes, des Hauptwerkes von Kant — der » K r i tik der reinen Vernunft« — und der neueren erkenntnistheoretischen Arbeiten bedeuten ein Philosophieren über Theorien innerhalb des Bereiches des Unbeweisbaren. Dies gilt überhaupt den zahlreichen
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philosophischen Werken jener streitenden Schulen, die im 19. und 20. Jahrhundert im Kielwasser der großen Erkenntnislehrer des 18. Jahrhunderts folgten (Empiriker, Kantianer, Naukantianer u. ä.). Diese gesamte, umfangreiche Literatur stellt also in Wirklichkeit eine vollkommen müßige Spekulation über Möglichkeiten dar, von denen die eine ebenso gut sein kann, wie die andere; denn keine Lösung ist denkbar, da jede Wahl einer dieser Möglichkeiten gänzlich außerhalb des Bereiches unserer Erkenntnis liegen würde. Das gesamte Denken Lockes, Humes und Kants über die vermutete, unterschiedliche Stellung der beiden Erkenntnisglieder, der Sinnesempfindungen und der Relationen innerhalb unserer Erkenntnis ist also ein ergebnisloses Hin- und Herdenken gewesen, da man, wie gesagt, einsehen muß, daß es ebenso unmöglich ist nachzuweisen, daß die Sinnesempfindungen oder die Relationen oder Beide keine Erkenntnis der Welt an sich geben, wie auch darzutun, daß sie eine solche Erkenntnis schenken. Da die gesamte Grundlage der Untersuchungen und Spekulationen dieser Denker, nämlich die Behauptung, daß nur die Sinnesempfindungen, nicht aber die Relationen von Außen kämen, unrichtig ist, fällt die diesbezügliche Sonderung zwischen jenen beiden Erkenntnisgliedern fort; damit fallen die Sonderung dieser Denker zwischen Stoff und Form, Kants Sonderung zwischen Apriorischem und Empirischem und alle damit verbundenen Theorien und Behauptungen. Wenn man bedenkt, welche zahlreichen, abstrakten Spekulationen und subtilen Betrachtungen jene Sonderungen vor Allem in der deutschen Philosophie nach sich gezogen haben, wird man einsehen, daß das Fehlen einer scharfen Abgrenzung des Bereichs des Unbeweisbaren hier wie anderswo nutzlos die größten Mengen abstrakter philosophischer Literatur ins Leben gerufen hat. Die neueste Erkenntnistheorie beruht auf demselben Fehler. Wenn beispielsweise Mach und Iversen in einer Weiterführung des Gedankenganges von Locke und Hume in der Reihe von Sinnesempfindungen oder Erlebnissen oder sogar nur in einem einzigen Erlebnis die Wirklichkeit erblicken und die Beziehungen von Ursachen und Wirkungen und endlich auch von Gleichheit und Verschiedenheit zwischen den Empfindungen von diesem Standpunkt aus beurteilen, so steckt das unbeweisbare Postulat der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts von der Kluft ziwschen den sinnlichen Empfindungen und den Relationen wiederum dahinter. Die Denker sind noch immer unbewußt von »Stoff« und »Form« beherrscht.
8.
Kapitel
IST E S MÖGLICH, DAS W E S E N D E R E R K E N N T N I S ZU E R K E N N E N ? W a s Locke, Berkeley, Hume und Kant und jede Erkenntnislehre nach ihnen anstrebte, ist j a eine Untersuchung des Wesens der Erkenntnis. Eine solche Untersuchung ist aber selbst Erkenntnis; sie bedient sich folglich, wie oben nachgewiesen wurde, derselben Erkenntnisfähigkeiten wie jede andere Erkenntnis, nämlich der Elemente im Zusammenhang der Relationen, also Gleichheit und Verschiedenheit, Zeit und Raum und Kausalbeziehung. W e n n die bisherige Erkenntnislehre — und zwar sowohl die der englischen Empiriker als auch die Kants und der Nachfolger Beider — indessen in ihrer Erkenntnis der Erkenntnis derauf zu dem Ergebnis kommt, daß die Relationen Erfindungen unseres Geistes, also dessen subjektive Formen seien, wird die Erkenntnislehre damit, wie ich oben dargelegt habe, lediglich eine Kreisbewegung des Gedankens, eine SelbstIllusion, eine Reihe von unbeweisbaren Behauptungen. Die Frage ist indessen: ist eine Erkenntnis der Erkenntnis, ist eine Kritik der Grundbegriffe und der Grenzen der Erkenntnis durch die Erkenntnis selbst überhaupt möglich? W i e k a n n die Erkenntnis sich selbst kritisieren? Dies ist meines Erachtens nur möglich, weil die mensliche Erkenntnis nicht auf einer einzelnen Fähigkeit, einem einzelnen Erkenntnismittel, sondern auf einem Zusammenspiel einer Reihe von verschiedenen Fähigkeiten oder Erkenntnismitteln beruht. So ist unsere Erkenntnis darauf begründet, daß wir sinnlich empfinden, daß wir eine Reihe qualitativer Eindrücke unserer Sinne wie der Farbe, des Lautes, des Druckes u. ä. erhalten können; sie beruht aber auch auf das Vermögen, daß wir uns bei diesen Eindrücken durch Raum und Zeit orientieren können; sie beruht ferner auf unserer Fähigkeit, Verschiedenheit und Gleichheit auffassen und dadurch und auf andere Weise gewisse gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen den Eindrücken finden zu können. Bestände die
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menschliche Erkenntnis lediglich aus einem einzelnen, einfachen Vermögen, so wäre jede Erkenntniskritik oder Erkenntnislehre ausgeschlossen. Aber gerade weil die Erkenntnis aus einer ganzen Reihe von verschiedenen Erkenntnisfähigkeiten oder Mitteln, grob: Sinnesempfindungen und Relationen genannt, besteht, ist es möglich, einige mittels anderer zu beleuchten und zu untersuchen und ihre wechselseitige Begrenzung zu finden. Das schwierige Problem liegt aber darin, die richtigen Methoden für diese interne Kritik ausfindig zu machen. Es ist dies das schwierigste Problem der gesamten Erkenntnislehre. Von dem menschlichen Drang zur Vereinfachung aus ist es selbstverständlich, daß man ein einzelnes Erkenntnisvermögen wählt und alle anderen Erkenntnisfähigkeiten von diesem aus kritisiert. Dies ist aber meiner Ansicht nach ein methodischer Fehler, dessen Folgen verhängnisvoll sind und der das Denken in eine Sackgasse führt. Soweit ich sehen kann, haben die Erkenntnislehrer des 18. Jahrhunderts das Denken auf eine derartige falsche Fährte geführt, von der es sich seither nicht hat lösen können; daher ist der Streit zwischen den empirischen und den apriorischen Richtungen zu keinem Ende gebracht worden. Als Locke, Berkeley, Hume und Kant, ohne vorher dies Problem zu sehen, unbewußt ein einzelnes Erkenntnisvermögen als das grundlegende wählten, entschieden sie sich unwillkürlich für die Sinneswahrnehmung, machten sie zu ihrem festen Ausgangspunkt und beurteilten von hier aus alle anderen Erkenntnisfähigkeiten, die Relationen. Dies hat gewiß seinen Grund darin, daß es nach der unmittelbaren, einfachen Auffassung des Menschen die sinnliche Wahrnehmung ist, die uns die Wirklichkeit wiedergibt. Zu diesem Wirklichkeitsbegriff kommen die Menschen ganz einfach, weil wir lernen, die von uns gebildeten Phantasiefiguren wie Kentauren, Najaden, unsere Träume u. ä., als unwirklich anzusehen, da sie mit der sinnlichen Wahrnehmung nicht übereinstimmen. Der Ursprung verbürgt die Wirklichkeit oder das Gegenteil derselben. Da man annimmt, daß die Sinnesempfindungen von einer außer uns liegenden Wirklichkeit einer äußeren Welt herrühren, so geben sie für uns diese äußere Wirklichkeit wieder, während die Gestalten der Mythen und Märchen von uns selbst, von unserer Phantasie geschaffen sind. Von dieser einfachen Betrachtung der Wirklichkeit aus gingen die Erkenntnislehrer aber unwillkürlich und unmerklich dazu über, auch unsere gesamten übrigen zusammengesetzten Vorstellungen: ein Ding oder
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eine Substanz, den Raum, die Zeit, den Kausalzusammenhang, Gleichheit und Verschiedenheit nach demselben Wirklichkeitskriterium zu prüfen. Locke, Berkeley und Hume entdeckten dabei zu ihrem Staunen, daß selbst diese zusammengesetzten Vorstellungen, die Relationen, nicht von den Sinnesempfindungen herrührten, vom diesem Wirklichkeitskriterium aus gesehen also unwirklich seien. Locke versuchte eine Kritik einer gewissen Gruppe sinnlicher Empfindungen (der Sinnesqualitäten, z. B. Farbe, Geschmack u. ä.); Berkeley und Hume lehnten aber diese Kritik ab, da sie auf einer Reihe von Schlußfolgerungen von zeit-räumlichen Kausalbeziehungen aus, also auf Relationen beruhte, die subjektive Formen unseres Geistes darstellen. Sie erkannten nicht, daß eben dieselbe erkenntnistheoretische Betrachtung ihre gesamte eigene Kritik der DingCoder Substanz-), Ursächlichkeits- Vorstellungen u. ä. traf. Unbewußt gingen sie in die Falle, die ihre oben nachgewiesene Grundlagen-Illusion ausmacht. Kant sagt, daß die Relationen notwendige Glieder unserer Erfahrung sind, daß sie ebensowohl wie die Sinnesempfindungen zu dem gehören, was wir in der Umgangssprache Wirklichkeit oder äußere Welt nennen. Aber auch er hielt die Relationen f ü r subjektive Formen. Im Laufe der Entwickelung dieses ganzen Gedankenganges wurden sich die Erkenntnislehrer, Locke und Kant so gut wie Berkeley und Hume, darüber klar, daß auch nicht die sinnlichen Empfindungen uns die Dinge an sich, die äußere Welt, wie sie wirklich sei, kennen lehrten. So wurde denn die unvermeidliche Folge, daß auch die Sinnesempfindungen ausnahmslos nur subjektiv aufgefaßt werden konnten. Damit hatte sich der ursprüngliche Ausgangspunkt, der ursprüngliche Wirklichkeitsbegriff — die sinnlichen Empfindungen ohne die Relationen — selbst aufgehoben. Damit entstanden aber zwei Wirklichkeitsbegriffe, nämlich der eine, der gewöhnliche, sowohl allgemein-menschliche als fachwissenschaftliche, der im Vorhergehenden Wirklichkeitsbegriff 1 genannt wurde: die Welt, die die Sinnesempfindungen uns in den Relationen zeigt (Kants Erscheinungswelt), und Wirklichkeitsbegriff 2: die Welt oder das Ding an sich. Man kann den Umgang der bisherigen Erkenntnislehre mit dem Begriff Wirklichkeit kurz folgendermaßen ausdrücken: Zuerst wählt man als Wirklichkeitsbegriff die Sinneswahrnehmungen ohne die Relationen. Dies hat zur Folge, daß die letzteren als subjektiv angesehen werden. Schließlich sieht man ein, daß auch die sinnlichen Empfindungen subjektiv seien. Damit verschwindet der
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bisherige Wirklichkeitsbegriff 1 und man gleitet in den Wirlichkeittsbegriff 2, die Welt an sich, hinüber. Unsere gesamte Erkenntnis wird demnach subjektiv. Zu diesem Ergebnis ist man aber mittels eben jener gleichen Erkenntnisfähigkeiten gekommen, die man, sowohl vom ersteren als vom letzteren Wirklichkeitsbegriff aus, als subjektiv gestempelt hat. Hiernach sind wir also trotz aller Anstrengungen in der Erkenntniskritik, in der Erkenntnis der Erkenntnis, nicht einen Schritt weitergekommen. Die gesamte Erkenntnislehre hat sich mit ihren sämtlichen Ergebnissen durch ihre eigene Methode aufgehoben, und zwar dadurch, daß sie Erkenntnisfähigkeiten — die Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit, Ursache und Wirkung — auf Gebieten verwendet, auf denen sie diese selbst für unanwendbar halten müßte. Diese gesamte Auffassung, daß unsere Erkenntnis ganz oder teilweise subjektiv sei, daß unser Geist apriorische Formen habe, setzt den Begriff der Wirklichkeit, also eines Etwas außerhalb von uns voraus. Aber woher stammt denn dieser fundamentale Begriff: Wirklichkeit? Unser Begriff der Wirklichkeit beruht natürlich auf unserer Erkenntnis, auf einer oder mehreren von unseren Erkenntnisfähigkeiten. Wenn aber nun unser Begriff der absoluten Wirklichkeit, der Wirklichkeit 2, von einer Erkenntnisfähigkeit herrührt, kann man wohl kaum behaupten, daß diese subjektiv sei. Denn der Begriff »subjektiv« selbst, der Begriff »apriorisch«, setzt ja den Wirklichkeitsbegriff voraus. Der größte Selbstwiderspruch bei Hume und Kant liegt gerade darin, daß jener Grundbegriff, die Wirklichkeit — der Ausgangspunkt und Basis für ihre gesammte Erkenntnislehre von dem, was »in uns liegt«, bildet — subjektiv sei und daß folglich Alles, was von Außen kommt, sich als Konsequenz ihres eigenen Denkens ebenfalls als subjektiv herausstellt. Keine Wissenschaft kann begründet werden, ohne daß man sich erst über ihre Methode klar wird. Wie aus dem oben Angeführten hervorgeht, ist die Erkenntnislehre aber über ihre Methode noch nicht zu dieser Klarheit gelangt. Dies zeigte bereits der unentschiedene Kamp zwischen der empirisch-psychologischen und der apriorischen Richtung. Die Erkenntnislehre ist folglich zu keinen festen Ergebnissen vorgedrungen. Die Frage lautet deshalb: welche Methode der Erkenntnislehre ist nun die richtige? Wenn diese letztere in Grundlagen-Illusionen und nicht zu schlichtendem Streit zwischen den verschiedenen Meinungen geendet ist, ist der Grund meiner Auffassung nach erstens, daß sie einer 1) allsei-
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tigen und 2) planmäßigen Methode zur Beurteilung der gegenseitigen Bedeutung der verschiedenen Erkenntnisfaktoren im Verhältnis zu einander in ihrem internen Zusammenspiel entbehrte. Stattdessen wählte sie einseitig einen einzelnen Faktor und zwar die Sinneswahrnehmung als Grundlage der Kritik den anderen Erkenntnisfähigkeiten gegenüber — und die Folgen wurden die oben geschilderten, in letzter Konsequenz die Aufhebung aller Erkenntnis. Die Erkenntnislehre wählte damit nicht nur 1) einseitig, sondern auch 2) planlos, sozusagen aufs Geratewohl oder richtiger: sie wählten den erstbesten Erkenntnisfaktor, denjenigen, der am nächsten lag und der in der populären Auffassung mit Wirklichkeit gleichbedeutend ist, nämlich die sinnliche Wahrnehmung. Werden die Ergebnisse der hier vorliegenden Untersuchung zusammengefaßt, lassen sich, soweit ich sehen kann, zur Vermeidung der Fehler der bisherigen Erkenntnislehre folgende Grundsätze für ihre Methode aufstellen: 1. Da die menschliche Erkenntnis auf dem Zusammenspiel einer Reihe von verschiedenen Erkenntnisfähigkeiten beruht — nämlich unserer Sinneswahrnehmung, unserer Raum- und Zeit-auffassung, unserer sogenannten Kausalerkenntnis, unserer Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit — wird die Aufgabe der Erkenntnislehre die sein, das richtige Zusammenspiel dieser Faktoren aufzuspüren und deren wechselseitige Beziehungen und gegenseitige Begrenzung festzustellen. Wenn die Erkenntnislehre eine interne Kritik der verschiedenen Erkenntnisfähigkeiten geben soll, wird vorausgesetzt, daß jene einander gegenseitig kritisch beleuchten können. 2. Man kann nicht eine einzelne der bisher angenommenen Erkenntnisfähigkeiten und vor Allem nicht die Sinneswahrnehmung als einzige Grundlage der Kritik den anderen gegenüber wählen. 3. Hingegen kann man mittels einiger Erkenntnisfähigkeiten die anderen kritisch beurteilen. Bei einer solchen gegenseitigen Kritik, wo einige Erkenntnisfähigkeiten anderen gegenübergestellt werden, kann man zum rechten Zusammenspiel zwischen den einzelnen Erkenntnisfähigkeiten gelangen, zur richtigen Zusammenarbeit des gesamten Erkenntnisvorganges den Weg finden. Die einzelnen Erkenntnisfähigkeiten müssen sich der Gesamtheit unterordnen; dadurch wird die richtige Korrelation zwischen ihnen erzielt. 4. Ein für allemal hat als methodischer Grundsatz zu gelten: man
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kann ein Erkenntnisvermögen nicht mittels solcher Erkenntnisfähigkeiten kritisieren, die man vom eigenen Standpunkt aus als auf demjenigen Gebiete unanwendbar betrachten muß, auf dem die Kritik stattfindet (Grundlagen-Illusion). Zu den Erkenntnisfähigkeiten oder Erkenntnisfaktoren zählen wir die Sinneswahrnehmung, Raum und Zeit, Gleichheit und Verschiedenheit und gesetzmäßigen Zusammenhang. In Wirklichkeit aber ist ein Faktor noch hinzuzufügen, der, so seltsam dies auch für eine erste Betrachtung lauten mag, ebenfalls ein Erkenntnisfaktor ist; und er besteht aus unseren sogenannten inneren Erlebnissen: Gefühlen, Leidenschaften, Willenbeschlüssen, denn indem wir zwischen jenen Erlebnissen und unseren Sinnesempfindungen unterscheiden, errichten wir eine für unsere Erkenntnis äußerst bedeutsame Grenzscheide zwischen einer äußeren Welt oder Wirklichkeit und einer inneren. Im Folgenden nenne ich der Kürze halber unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit Faktor 1, unsere Auffassung gesetzmäßigen Zusammenhanges Faktor 2, die Zeit Faktor 3, den Raum Faktor 4, unsere Sinnesempfindungen und die sogenannten inneren Erlebnisse (Gefühle, Willensbeschlüsse u. ä.) Faktor 5, beziehungsweise Faktor 6. Diese Faktoren, 1—6, sind alle unentbehrliche Glieder unserer Erkenntnis und auch unserer Erkenntniskritik. Einige von ihnen sind im gewissen Sinne universeller als andere. Die Faktoren 1, 2 und 3 sind danach universeller als Faktor 4, der Raum, denn dieser ist auf die Sinnesempfindung, 5, beschränkt, während die Faktoren 1—3, Gleichheit und Verschiedenheit, gesetzmäßige Zusammenhänge und die Zeit allen Erlebnissen gelten, 5 und 6 sowohl den sinnlichen Wahrnehmungen als auch den inneren Erlebnissen, den Gefühlen, den Willensbeschüssen u. ä. Faktor 1, unser Unterscheiden und Vergleichen, im engeren Sinne die logische Fähigkeit, ist universeller als Faktor 3, unsere Auffassung der Zeit. Die Zeit ist nämlich außerhalb der inneren Erlebnisse auf den Stoff beschränkt, ist unlösbar an Bewegung von Stoffteilen geknüpft, und es kann zwischen dem Stoff und dem stofflosen Raum, dem leeren Raum, unterschieden werden. Ferner gibt es eine Erkenntnis, die von der Zeit unabhängig ist, nämlich die Mathematik. Aber auch für sie hat der Faktor 1 Gültigkeit, ja die Mathematik beruht sogar überwiegend auf diesem Faktor. Faktor 1 ist in keinem der anderen Erkenntnisfaktoren entbehr-
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lieh; er geht, wie oben erklärt, als ein notwendiges Glied in alle Faktoren 2—6 ein. Um gesetzmäßige Zusammenhänge, also Faktor 2 festzustellen, muß man erst zwischen den einzelnen Gliedern dieser Zusammenhänge, den sogenannten Ursachen und Wirkungen, unterscheiden und sie vergleichen, indem dieselben Reihen ständig wiederkehren, d. h. indem konstante Gleichheiten bestehen. Ohne Faktor 1 aber sind die Faktoren 3 und 4, wie früher betont wurde, ebenfalls nicht zu denken, und die verschiedenen Sinnesempfindungen oder Sinneswahrnehmungen und andere Erlebnisse, 5 und 6, entstehen auch nur durch Hilfe von Faktor 1. Ebenso ist Faktor 1 bei der Bildung von 3 und 4, der Zeit und dem Raum, unentbehrlich, und dasselbe gilt dem Faktor 2 bei diesen beiden Faktoren. Er — also Faktor 2 — beherrscht gleichfalls die Faktoren 5 und 6 (vg. oben S. 111 ff, 120 ff., 156—157). Die gesetzmäßigen Zusammenhänge scheinen nur in der Zeit (in Reihen der sogenannten Ursachen und Wirkungen) vorzukommen; und die Faktoren 2 und 3 scheinen insoweit also gleich universell zu sein. In gewissem Sinne kann man also von mehr oder weniger universellen Faktoren oder Erkenntnisfähigkeiten innerhalb der sogenannten Relationen (die Faktoren 1—4) sprechen. 2 und 3 sind universeller als 4; und 1 ist universeller als 2 und 3, da er auch die Mathematik beherrscht, die ihrerseits weder 2 noch 3 notwendig hat. Gehen wir dagegen zu 5 und 6 über und nehmen wir diese beiden Gruppen, unsere gesammten Erlebnisse in einem, sind sie natürlich als Erkenntnisfaktoren ebenso universell wie 1—3, denn Relationen sind ja nur Beziehungen, nur Zusammenhänge zwischen unseren Erlebnissen; diese Zusammenhänge lassen sich aber, wie im Vorhergehenden dargetan wurde, nicht voneinander trennen. Es muß jedoch hervorgehoben werden, daß die mathematische Erkenntnis wohl ein zeitliches Erlebnis in uns darstellt, aber rein gedanklich ist, d. h. mittels Faktor 1 von allen Erlebnissen in Zeit und Kausalzusammenhang getrennt werden kann. Insofern ist Faktor 1 also sowohl im Verhältnis zu den Relationen als auch zu den Erlebnissen das universellste Erkenntnisvermögen. Mittels der Faktoren 1 und 2 und ihrem Operieren mit den verschiedenen Erlebnissen sind wir in der Lage, eine starke Kritik der anderen Erkenntnisfähigkeiten zu üben. Wir können beispielsweise die Sinnesempfindungen, Faktor 5, kritisieren und behaupten, daß eine Gruppe unter ihnen — Farben, Laute u. ä. — subjektiv sei. Wie früher gezeigt wurde, ist diese Kritik nur durch die Anwendung 12
Erkenntnis und Wertung
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zahlreicher Feststellungen von Verschiedenheiten, Gleichheiten und gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen den Sinnesempfindungen möglich. Auch unsere Auffassung von Zeit und Raum, Faktor 3 und 4, kann kritisch beleuchtet werden, wie Berkeley es schon mit bezug auf den Raum getan hat, und die Grenze ihres Anwendungsbereiches läßt sich festlegen. Diese gesammte Kritik und Begrenzung ist aber nur durch Hilfe der Faktoren 1 und 2, durch Verschiedenheiten, Gleichheiten und gesetzmäßige Zusammenhänge möglich. Auch die Kausalerkenntnis in ihrer bisherigen Bedeutung kann, wie früher dargelegt, zum Gegenstand der Kritik gemacht werden. Falls der Kausalitätsbegriff und der Kraftbegriff aufgegeben werden müssen, ist auch diese Kritik nur durch die Feststellung schärferer und tiefer erfaßter Verschiedenheiten und Gleichheiten sowie gesetzmäßiger Zusammenhänge erdenklich, als man früher gesehen und verstanden hat. Eine nähere Untersuchung dieser beiden Erkenntnisfaktoren — also 1 und 2 — und ihrer Bedeutung für unsere Erkenntnis ist daher angebracht. 1. V E R S C H I E D E N H E I T U N D G L E I C H H E I T Die universellste Erkenntnisfähigkeit ist, wie aus dem Angeführten hervorgeht, unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit, also der Faktor 1. Ohne diese Fähigkeit können wir weder in Wissen noch in Erkenntnis, weder in der Formalwissenschaft, wie Mathematik, noch in der Realwissenschaft, wie Naturwissenschaft, Geschichte und Psychologie, auch nur einen einzigen Schritt weiterkommen. Und nicht einmal den ersten, nicht den allerkleinsten Schritt, den wir in der Erkenntniskritik versuchen würden, könnten wir ohne diese fundamentalste aller Erkenntnisvoraussetzungen unternehmen. Unser erstes Vorwärtstasten in der Erkenntniskritik ist ein Unterscheiden zwischen verschiedenen Erkenntniselementen, Sinnesempfindungen, Vorstellungen, Zeit und Raum, Ursachen und Wirkungen usw., und ein Vergleichen, da diese Elemente als Gruppen überhaupt nicht in unserem Bewußtsein entstehen können, ohne daß wir zahlreiche Gleichheiten zwischen diesen Elementen gefunden haben. Und wenn wir die anderen Erkenntnisfähigkeiten, unsere Kausalerkenntnis zum Beispiel, zu kritisieren versuchen, kann dies überhaupt nur dadurch geschehen, daß wir zwischen Teilen dieser Erkenntnis unterscheiden, und zwar zwischen demjenigen, der ver-
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gangene Kausalzusammenhänge betrifft, und demjenigen, der sich auf künftige Wahrnehmungen von Ursachen und Wirkungen bezieht, und weiter indem wir zwischen den äußeren, gesetzmäßigen Zusammenhängen und inneren Kräften unterscheiden. Endlich entstehen die anderen Erkenntnisvoraussetzungen, die der Zeit und des Raumes, für uns auch nur durch Unterscheiden und Vergleichen. Die Zeit ist ja eben nichts anderes als die Reihe wechselnder, also verschiedener Sinnesempfindungen, und das regelmäßige Auftreten gewisser, einander gleichender Empfindungen (u. a. Tag und Nacht, Sommer und Winter, regelmäßiger Mondwechsel) und der Raum gewinnt für uns in seiner Gesamtheit nur Gestalt durch zahlreiche Unterscheidungen und Vergleichungen zwischen Sinnesempfindungen in gewissen gesetzmäßigen Beziehungen. Aber ebenso wie wir ohne Unterscheiden und Vergleichen keinen einzigen Gedanken denken können, können wir ohne diese Fähigkeit nicht einmal eine einzige sinnliche Wahrnehmung machen (s. o. S. 111 ff.). Mit ihrer Hilfe unterscheiden wir auch zwischen Lust und Unlust, zwischen Befriedigung und Entbehrung. Alles seelische Leben — Erkenntnis, Gefühl und Willen — ist also mit dieser Fähigkeit unzertrennbar verknüpft. In jeder einzelnen Sekunde eines jeden menschlichen Erlebnisses — sei es nun, was wir Sinnesempfindung, Vorstellung, Gefühl, Willen, Handlung u. a. nennen — erleben wir gar nichts, empfinden, fühlen, denken, wollen oder vollenden wir überhaupt nichts, ohne in jedem einzelnen Augenblick zu unterscheiden und zu vergleichen. Alles organische Leben von den niedrigsten bis zu den höchsten Formen kann ja überhaupt nur existieren, weil es überall zwischen mehreren Empfindungen und zwischen Leiden und Befriedigung unterscheidet; kein Leben kann Schmerz vermeiden oder Lust erlangen, ohne erst zwischen ihnen zu unterscheiden und sie zu erkennen, wenn sie in gleicher Gestalt wiederkehren. In unserem innersten Lebensnerv sind wir also an diese Fähigkeit gebunden. Natürlich kann unser Unterscheiden und Vergleichen Elemente oder Erlebnisse, zwischen denen unterschieden und verglichen wird, nicht entbehren. Die Elemente und jenes Vermögen gehören notwendig zusammen. Die Elemente können jedoch sehr verschiedener Art sein: Sinnesempfindungen, Vorstellungen, darunter auch Phantasievorstellungen, Gefühle, Willensakte, Worte, geometrische Figuren, mathematische Symbole, Zahlen. Unser Unterscheidungs- und Vergleichungsvermögen kann die Elemente nicht nur nach den ge12*
180 nannten Arten gruppieren, sondern auch einige Elemente mittels anderer kritisch beleuchten, indem es sie miteinander konfrontiert. Im Folgenden nenne ich der Kürze wegen das Grundvermögen nur Unterscheiden und Vergleichen — oder unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit — ohne jedesmal die Elemente hinzuzufügen, mit denen diese Fähigkeit arbeitet; diese werden also stillschweigend vorausgesetzt. Das ist umso berechtigter, als die Elemente — und zwar nicht allein die Phantasievorstellungen, sondern selbst die Sinnesempfindungen — Gegenstände der Kritik des Unterscheidungs- und Vergleichungsvermögens sind. Die Priorität und Selbständigkeit der Unterscheidungs- und Vergleichungsfähigkeit im Verhältnis zu den anderen Erkenntnisfaktoren geht nicht allein daraus hervor, daß Gleichheit und Verschiedenheit als notwendiges Glied in allem anderen Erkennen vorhanden sein müssen, sondern auch daraus, daß eine ganze Wissenschaft, die Mathematik und jede andere Formalwissenschaft, wie erwähnt wurde, ausschließlich auf unserem Unterscheidungs- und Vergleichungsvermögen fußt. Wir können außerhalb der Realwissenschaft, außerhalb von Raum, Zeit und Kausalzusammenhang, aber nicht ohne Verschiedenheit und Gleichheit denken. So ist es denn auch diese Erkenntnisfähigkeit, die von altersher mit dem besonderen Wort für das Denken, nämlich Logos, bezeichnet wird. Auf Verschiedenheit und Gleichheit beruht alle Logik. Die Frage, ob diese grundlegende Erkenntnisfähigkeit, die Erfassung von Verschiedenheit und Gleichheit in unserem Bewußtsein nur eine rein subjektive oder apriorische Auffassung in uns selbst sei oder ob sie uns — ganz oder teilweise — die Welt an sich wiedergebe, ist vollkommen müßig; darüber wissen wir nicht das Geringste und wir können es auch nie erfahren, da dies völlig außerhalb des Bereiches unserer Erkenntnis liegt. Und das hat seinen Grund darin, daß die Begriffe: subjektiv, apriorisch, wie oben betont wurde, selbst den Grundbegriff der Wirklichkeit voraussetzen. »Subjektiv«, »apriorisch« bezeichnet Etwas, das in uns, also in unserem Geist im Gegensatz zu einer Wirklichkeit außerhalb von uns liegt. Ohne den Grundbegriff der Wirklichkeit gibt es überhaupt keine Erkenntniskritik. Wie nachgewiesen werden soll, beruht der Grundbegriff der Wirklichkeit indessen selbst in erster Linie auf unserem Unterscheiden und Vergleichen, läßt sich ohne unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit gar nicht denken. In diesem Grundvermögen haben die Psychologie und die Er-
181 kenntnislehre ihren allerersten gemeinsamen Ausgangspunkt. Dieses Vermögen stellt die ersten großen Grundsonderungen der Psychologie zwischen sinnlichen Empfindungen, Vorstellungen, Gefühlen u. ä. fest. Aber gleichzeitig sondert es zwischen verschiedenen Erkenntnisfähigkeiten, wie A u f f a s s u n g von Raum und Zeit, von Ursachen und W i r k u n g e n u. ä. und ist f ü r den Begriff der Wirklichkeit wesentlich bestimmend, von dem aus die Erkenntnislehre erst ernstlich einsetzt. Dieses Grundvermögen oder diese Grundfähigkeit, unsere A u f f a s s u n g von Verschiedenheit und Gleichheit, liegt also jenseits aller Begriffe wie subjektiv, apriorisch oder des Gegenteils — es ist jenseits aller Begriffe von Wirklichkeit und Wahrheit, da diese Begriffe erst dank dieses Vermögens entstehen. Die größte Verwirrung ist dadurch in das Erkenntnisproblem gebracht worden, daß Hume und Kant und die Erkenntnislehrer nach ihnen den methodischen Fehler begingen, unsere A u f f a s s u n g von Gleichheit und Verschiedenheit und gewisse andere fundamentale Erkenntnisfähigkeiten als subjektiv, als in unserem Geiste liegend anzusehen (als relations, die »inventions of mind« seien, als subjektive Verstandesformen), obwohl diese Behauptung unbeweisbar und sinnlos ist. Der gesamte unlösbare Streit zwischen ihren Nachfolgern, zwischen den Apriorikern und den Empirikern, beruht auf dem gleichen, tiefliegenden Mißverständnis des Erkenntnisproblems.
UNSER GRUNDBEGRIFF:
WIRKLICHKEIT
Es ist angebracht, zwischen Wirklichkeit und W a h r h e i t zu sondern, da beide Wörter notwendig sind, um verschiedene Begriffe zu decken. Daß ein Urteil w a h r ist, besagt, wie Locke und Kant schon betont haben, daß es mit seinem Gegenstand übereinstimme. Daß ein Kentaur ein Wesen mit einem Pferdekörper und einem Menschenkopf sei, stellt ein ebenso wahres Urteil dar, wie die Feststellung, daß ein Pferd ein Einhufer ist. Das erste Urteil ist aber nicht wirklich, es betrifft nicht die Wirklichkeit. Dies tut dagegen das letztere, das also sowohl w a h r als w i r k l i c h ist. Alle Sätze der Geometrie sind w a h r , auch wenn es in der Wirklichkeit keine einzige vollkommene Figur geben sollte, mit denen die traditionelle Geometrie operiert. Die schwierige Frage ist nun die: woher stammt unsere Vorstellung von der W i r k l i c h k e i t ? Diese Vorstellung steht in einer gewissen Beziehung zu unserer Vorstellung von einer äußeren W e l t ; und letzere hängt wiederum,
182 wie das Wort »äußere« schon andeutet, mit unserer Vorstellung vom Raum zusammen. Dieses »äußere«, dieses »räumliche« ist doch tatsächlich nur etwas Sekundäres innerhalb unseres Wirklichkeitbegriffes. Der Kern dieses Grundbegriffes ist eine Welt, die von uns selbst verschieden ist. Ob diese Welt nun räumlich ist oder nicht, ist an sich nebensächlich. Die sogenannte äußere Welt ist vielleicht letzten Endes eine Welt, für die Raum und Zeit nicht gelten; dieser Gedanke war auch nicht Berkeley, Hume und Kant fremd. Aber mag diese sogenannte äußere Welt auch in letzter Instanz nicht räumlich sein — was unbeweisbar ist — so ist und bleibt sie dennoch dessen ungeachtet eine Welt, die von mir verschieden, also eine von mir unabhängige Welt ist. Da die Wirklichkeit, die von uns selbst unabhängig ist, indessen gewöhnlich — im täglichen Leben wie in der Wissenschaft — dadurch gekennzeichnet ist, daß sie räumlich, daß sie eine äußere Welt ist, muß es von Belang sein, dem Ursprung unserer Raumvorstellung auf den Grund zu gehen. Berkeley stellte fest, daß unsere Vorstellung vom Raum sich nicht von einer einzelnen Art von sinnlichen Empfindungen, beispielsweise Gesichts- oder Berührungsempfindungen, sondern von Schlußfolgerungen herleite, die wir aus gewissen Gesichtsempfindungen ziehen, indem wir uns in kommenden Bewegungs- und Berührungsempfindungen orientieren. Wenn man auch mit der neuesten Psychologie annimmt, daß wir bereits durch unsere Gesichtsempfindungen eine gewisse Tiefen- oder AbstandsAuffassung erhalten, so hat Berkeley dennoch Recht darin, daß wir erst durch die erwähnten Schlüsse zu der normalen, voll entwickelten Raumauffassung gelangen; und da sowohl der gesamte zusammengesetzte Komplex der genannten Sinnesempfindungen als auch die Schlußfolgerungen in uns liegen und wir durch keine Sinnesempfindungen jemals ein äußeres Ding erfahren haben, das von den sinnlichen Empfindungen verschieden und deren Ursache wäre, so ist unsere Vorstellung von einer äußeren Welt nach Berkeley eine Fiktion. Eine Vorstellung hat ja nach Berkeleys von Locke übernommenem, allgemeinem Standpunkt keine Gültigkeit, keine Realität, wenn sie sich nicht auf Empfindungen zurückführen lasse — seien diese nun isoliert oder äußerlich verbunden. Die Vorstellung von einer äußeren Welt, von einem Ding an sich, das hinter unseren Gesichts-, Bewegungs- und Berührungsempfindungen stehen, diese erzeugen und von ihnen verschieden sein sollte, läßt sich jedoch nicht als Kopie einer oder mehreren Sinnesempfindungen ableiten.
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Hume schließt sich dieser Auffassung Berkeleys an. Also ist die Vorstellung einer äußeren Welt ein Hirngespinst, genau wie Spinozas Substanz, kurzgesagt: sie ist eine Fiktion (Hume I, 497). Woher stammt n u n aber diese Fiktion, diese anscheinend solide Vorstellung, dieser unerschütterliche Glaube an eine äußere Welt? Wenn Hume uns den Ursprung jenes merkwürdigen Hirngespinstes erklären soll, sagt er, daß wir die große Ähnlichkeit unserer unterbrochenen Vorstellungen, wie z. B. zwischen meiner heutigen und meiner morgigen W a h r n e h m u n g desselben Hauses, mit der Vorstellung von einem unveränderlichen, d. h. durch die Zeit mit sich selbst identischen Objekt, d. h. mit der Vorstellung von einer objektiven Umwelt verwechseln (Hume I 492—94). Hume übersieht aber, wie Green richtig bemerkt hat, daß wir unmöglich eine Vorstellung mit einer anderen verwechseln können, wenn wir diese andere nicht wirklich im Bewußtsein hätten, Green 255, 256. Wenn Hume erklärt, dass wir die Gleichheit und Konstanz unserer Empfindungen mit der Identität eines äußeren Objektes verwechseln, dann gibt er in Wirklichkeit unbewußt zu, daß wir eine solche Vorstellung haben. Er kann dies aber nach seiner eigenen Anschauung nicht zugeben; sie soll und muß eine »fiction« sein, weil sie in Humes Psychologie nicht hineinpaßt. Dieser Widerspruch zeigt aber eben die Einseitigkeit der Humeschen Psychologie. Von seinem psychologischen Standpunkt aus, daß unsere gesamten Vorstellungen und Empfindungen, von Sinnesempfindungen oder von sogenannten inneren Empfindungen herrühren, zieht Hume die erkentnistheoretische Folgerung, daß nur eine solche Vorstellung als wirklich anerkannt werden dürfe, die einer Empfindung entstamme. Diese Schlußfolgerung zeigt aber am besten die Unhaltbarkeit des Humeschen Standpunkten überhaupt, denn läßt es sich wirklich nachweisen, daß alle unsere Vorstellungen einer Empfindung entstammen, dann ist seine erkenntnistheoretische Schlußfolgerung ja völlig überflüssig. Die Sache ist aber die, daß die Vorstellung von einer äußeren Welt weder auf eine sinnliche, noch auf irgend eine andere Empfindung zurückgeführt werden kann. Die Vorstellung von der Notwendigkeit des Kausalverhältnisses kann Hume doch auf eine »innere« Empfindung oder ein Gefühl zurückführen, mit der Vorstellung von einer äußeren Welt kann er aber in Wirklichkeit nichts anfangen. Vergebens sucht er die Empfindung oder das Gefühl (impression of sensation or reflection), das die letztere wichtige Vorstellung, die sogar so beschaffen ist, daß
184 jedermann sich auf sie verläßt, hervorgebracht haben könnte. E r kann jedoch kein solches Gefühl finden. Folglich kann er nicht umhin, sie f ü r ein Hirngespinst zu erklären. Eigentlich sollte dieses Hirngespinst, diese Fiktion aber weder in unserem Gehirn noch in seiner eigenen Psychologie existieren. Die psychische Erscheinung, der wir nach Hume die Fiktion von einer äußeren Welt verdanken sollen, ist wie erwähnt die große Ähnlichkeit unserer unterbrochenen Empfindungen. Hume behauptet hier, daß unsere Vorstellung, zwei Sinneseindrücke — beispielsweise ein Tisch vor einer Viertelstunde und derselbe Tisch jetzt — könnten einander völlig gleich, identisch sein, bloß eine Fiktion sei, denn vollkommene Gleichheit oder Identität zwischen solchen Eindrücken sei unmöglich. Diese Behauptung Humes ist nach meiner A u f f a s s u n g unrichtig. Vermutlich verwechselt er hier das, was lediglich ein sehr vielfältiges physikalisches und chemisches Wissen, zahlreiche kausale Zusammenhänge miteinbegriffen, uns lehren kann, mit unserem unmittelbaren sinnlichen Eindruck. Entscheidend aber nach Humes eigenem Standpunkt ist lediglich der Sinneseindruck, sind lediglich die sinnlichen Empfindungen, wie sie sich uns darstellen. W a s mich das äußerst komplizierte Kausalwissen, wie die Atom- und Molekül-Theorie, lehren kann, läuft darauf hinaus, daß der Tisch, den ich jetzt sehe, und derselbe Tisch vor einer Viertelstunde nicht vollkommen identisch sein können, da sich wahrscheinlich selbst im L a u f e dieser kurzen Zeit einige Moleküle aus der Holzmasse des Tisches losgerissen haben, oder daß andere Veränderungen in der Lage der Moleküle vorgegangen sind, obgleich ich sie nicht sehen kann. Aber von Humes — wie auch Lockes und Berkeleys — psychologischem und erkenntnistheoretischem Standpunkt aus sind solche physikalischen und chemischen Spekulationen über unsichtbare Kausalzusammenhänge nicht das Entscheidende, zumal sie infolge Hume alle der Realität entbehren; nein, entscheidend ist vielmehr, ob die beiden Eindrücke, nämlich des Tisches vorher und jetzt, infolge meiner sinnlichen Empfindungen identisch, einander vollkommen gleich sind. Daß dies in zahlreichen Situationen der Fall ist, läßt sich nicht leugnen. Denken wir uns, wir betrachten unsere Sinneseindrücke des Tisches in zwei aufeinanderfolgenden Sekunden. W a s berechtigt dann Hume zu der Behauptung, daß unser Eindruck des Tisches in diesen beiden Sekunden aus zwei Eindrücken und nicht aus einem bestehe? Die sinnliche Empfindung gibt uns nur einen Eindruck und wenn Hume trotzdem in diesen zwei Sekunden
185 zwei Eindrücke unterscheidet, so liegt das daran, daß seine überwiegende Vernunft hier am Werke ist, die über den Zeitbegriff verfügt. Der Zeitbegriff hat aber infolge seiner eigenen Auseinandersetzung keine Gültigkeit darüber hinaus, daß mehrere aufeinanderfolgende verschiedene Empfindungen im Bewußtsein auftreten. Hier liegt indessen nur eine Empfindung vor, nämlich die des Tisches. Aber selbst wenn wir annehmen wollten, daß in den zwei Augenblicken zwei Empfindungen von dem Tisch vorliegen, kann gar nichts Hume berechtigen, diese beiden Empfindungen verschieden und unsere Vorstellung von ihrer vollständigen Gleichheit (identity) eine Scheinvorstellung (fiction) zu nennen. Hume braucht meiner Auffassung nach durchaus nicht seine Zuflucht zu einer Leugnung der Identität zweier Sinneseindrücke zu nehmen, um behaupten zu können, daß unsere Vorstellung von einem mit sich selbst durch die Zeit identischen Ding, von einer äußeren Welt, nicht von einer oder mehreren, völlig identischen Sinnesempfindungen herrühre. Ich kann vor einer Stunde ein Gefühl der Unlust gehabt haben und habe jetzt in diesem Augenblick genau dasselbe Unlustgefühl — beide stellen sich mir als vollkommen gleich dar — und doch werde ich nicht daraus die Schlußfolgerung ziehen, daß diese beiden Gefühle ein selbständiges, objektives Dasein »außerhalb« von mir hätten. Die Sache ist die, daß Hume hier Identität oder vollständiges Gleichsein mit einem äußeren, von mir unabhängigen Dasein verwechselt; diese beiden Dinge haben aber nichts miteinander zu tun. Auch wenn meine Eindrücke von einem sogenannten äußeren Gegenstand, z. B. dem genannten Tisch, für mich mehrere Minuten hindurch vollständige Identität besitzen, ist diese Identität vorhanden, gleichgültig ob ich den Tisch tatsächlich als ein Erlebnis in mir selbst oder aber als eine Erscheinung betrachte, die im übrigen außerhalb des Raumes liegt. Also können wir eine ununterbrochene, gleichartige Empfindung mehrere Zeiteinheiten hindurch haben, ohne daß dadurch eine Vorstellung von einem objektiven Dasein entstanden wäre. Das Gleiche gilt, falls die beiden Eindrücke durch einen Zeitraum von beispielsweise einer Stunde unterbrochen werden, während deren ich den Tisch nicht sehe, wenn mir die beiden Eindrücke trotz der Unterbrechung als identisch erscheinen. Hume legt in Wirklichkeit, ohne es zu wissen, etwas in die Identität hinein, was hinter den Sinneseindrücken liegt und somit von mir, dem Beobachter unabhängig ist, d. h. eben die Vorstellung einer hinter den Sinnesein-
186 drücken liegenden äußeren Welt. Diese Vorstellung selbst kann aber nicht von der Identität zweier Sinneseindrücke herrühren, Etwas Anderes ist: wenn wir erst — auf anderem Wege — zu jener Vorstellung gekommen sind, dann wird die Tatsache, daß wir denselben äußeren Gegenstand mit Zwischenräumen wahrnehmen und ihn jetzt im Verhältnis zu unserer letzten Wahrnehmung unverändert finden, unsere Annahme einer äußeren und von uns unabhängigen Welt in hohem Maße in uns befestigen. Unsere Vorstellung von einer sogenannten äußeren Welt, einer Welt außerhalb unseres eigenen Ichs, muß also anderen Quellen unseres Bewußtseins entspringen als den eigentlichen, sinnlichen Empfindungen — darin sind Berkeley und Hume im Recht — oder einer Reihenfolge identischer Sinnesempfindungen. Aber deshalb ist es nicht berechtigt, die Schlußfolgerung zu ziehen, daß die äußere Welt nur eine Fiktion sei. Das könnte man nur dann folgern, wenn man, wie Berkeley und Hume im Einklang mit Locke, zu der einseitigen Auffassung gekommen ist, daß die sinnlichen Empfindungen das fundamentale Erkenntnisvermögen darstellen, von dem aus jeder Bewußtseinsinhalt kritisiert und gewertet werden könnte. Soweit ich sehen kann, entstammt unsere Vorstellung von einer äußeren Welt einer anderen Erkenntnisfähigkeit, und zwar derjenigen, die die universellste von allen zu sein scheint, nämlich unserer Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit. Durch unzählige Empfindungen, Gefühle und Vorstellungen lernen wir allmählich zwischen zwei großen Hauptgruppen von Erlebnissen zu unterscheiden, nämlich zwischen denen, die unabhängig von unserem Willen kommen und gehen, und den anderen. Zu den ersteren gehören die sinnlichen Empfindungen im Zusammenhang der Relationen und die von ihnen abgeleiteten oder mit ihnen übereinstimmenden Vorstellungen. Zu den anderen Erlebnissen, deren wir selbst mehr oder weniger Herren sind, gehören alle unsere frei kombinierten Vorstellungen, Phantasievorstellungen, ferner unsere Gefühle und Stimmungen. Es ist unser Unterscheidungsvermögen, das uns zwischen diesen Erlebnissen zu sondern lehrt und unser Vergleichungsvermögen teilt sie in zwei große Gruppen, in zwei Welten ein, eine Welt, die von unseren Wünschen, Neigungen und Beschlüssen unabhängig ist, und eine andere, in der wir selbst regieren, die Welt der Phantasie und des Gefühls. Unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit lehrt uns auch bald die entscheidenden praktischen Son-
187 derungsmerkmale, die jene zwei Welten im täglichen Leben abgrenzen. Die von unserem Wollen und W ü n s c h e n unabhängige W e l t ist raumbestimmt und innerhalb des Raumes zusammenhängend und gleichheitsgeordnet durch verschiedene Gruppen von Sinneskomplexen, vor Allem den dauerhaften unter ihnen, die wir Dinge nennen. Indem das Ich durch die Empfindungen allmählich die Eigenschaften der äußeren Dinge kennen lernt, bilden sich Allgemeinbegriffe dieser Eigenschaften: Gestalt, Ausdehnung, Farbe usw., und damit deren Summe: der Allgemeinbegriff Ding, der alle die Eigenschaften enthält, die die äußeren, materiellen Dinge, d. h. die die Umwelt im Gegensatz zum Bewußtsein, zum Ich besitzen. Daß wir diese äußeren Dinge in der Umwelt vielfach unverändert finden, also eine vollständige Gleichheit feststellen, wenn wir sie nach längeren oder kürzeren Zeiträumen wiederum wahrnehmen, bestärkt unsere A u f fassung von der raumbestimmten W e l t als einer Wirklichkeit, die besteht, auch wenn wir sie selbst nicht unmittelbar erleben. W i r können den fundamentalen Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Erlebnissen auch in anderer Weise ausdrücken. Betrachten wir die raumbestimmten Sinnesempfindungen, die ausgedehnte Welt, so sind wir uns einerseits darüber klar, daß sie in uns liegt, da sie aus unseren Empfindungen besteht, andererseits aber sehen wir, daß wir uns in ihr nirgends selbst finden. W i r sehen Tische, Stühle, Häuser, Menschen, Bäume, die gesamte umgebende Natur, aber nirgends finden wir uns selbst, unseren eigenen Geist. W i r sehen unseren Körper, j a unser Gehirn, Alles ist raumbestimmt, aber nirgends sehen wir uns selbst. Die Bestimmungen: »außerhalb«, »Äußeres« und »Inneres« sind räumliche Ausdrücke. Ich selbst, das Ich, ist also außerhalb der raumbestimmten Welt — und dennoch sind wir innerhalb dieser, weil unsere Empfindungen und Vorstellungen raumbestimmt sind. Dieser Widerspruch läßt sich nur durch die Annahme beseitigen, daß die Empfindungen zwar in uns liegen, daß es aber etwas von ihnen Verschiedenes gebe, das außer uns liegen müsse — und dies stellt die materielle W e l t dar. W e n n wir also die W e l t in zwei Teile scheiden müssen, nämlich einerseits eine Welt, die von unserem Willen unabhängig ist und deren regelmäßiges Kennzeichen Raumbestimmheit, Ausdehnung ist, und andererseits in unsere psychische Welt, die keine Ausdehnung besitzt, so ist diese ganze Unterscheidung vor allem auf einen Unterscheidungsakt zurückzuführen, durch den das Ich, das Bewußtsein,
188 sich von der Umwelt, oder besser: von einer von uns unabhängigen und verschiedenen Welt ausscheidet, und weiter auf einen Vergleichungsakt, der alle Erscheinungen in diese zwei Welten gruppiert. Nun kann man natürlich leugnen, daß unsere Unterscheidungsund Vergleichungs-fähigkeit uns das richtige Bild des Daseins gebe, wenn es feststellt, daß ich nicht der Tisch, das Haus, das Pferd sei, kurz: daß das Ich und die Umwelt zwei verschiedene Dinge darstellen. Wenn man, wie Berkeley und Hume, die Existenz der äußeren Welt verneinen will, muß die Verneinung aber tiefer schürfen, als diese Philosophen es ahnten. Sie muß — und zwar nicht nur in dieser Frage, sondern auch in allen anderen — das Unterscheidungsvermögen selbst treffen. Es läßt sich kein wissenschaftlicher Grund dafür anführen, daß das von unserem Bewußtsein vorgenommene Unterscheiden nur auf einigen, nicht aber auf anderen Gebieten Erkenntnis geben sollte. Wenn unser Unterscheiden und Vergleichen in dieser ganz klaren Sonderung zwischen einer äußeren und einer inneren Welt, die nach durchaus bestirnten Merkmalen vorgenommen worden ist, uns keine Erkenntnis gibt, dann gibt uns dise Fähigkeit auf keinem einzigen Gebiet des gesamten Universums überhaupt irgend eine Erkenntnis. Das Unterscheiden und Vergleichen seitens des Bewußtseins ist die Grundlage aller Mathematik und Logik und jeder Feststellung realer, gesetzmäßiger Wiederholungen; diese Erkenntnisse stehen also in keiner Weise besser als unsere Annahme einer äußeren Welt. Jede sinnliche Empfindung ist aber ohne ein Unterscheiden unmöglich. In jeder, auch der einfachsten sinnlichen Empfindung liegt ein Unterscheidungsakt unseres Bewußtseins. Also handelt es sich hier um ein Entweder-Oder; entweder geben uns sowohl unsere Sinneswahrnehmungen als auch unsere Annahme einer äußeren Welt Erkenntnis, da sie beide völlig auf demselben Vermögen unseres Bewußtseins beruhen, oder aber keine von ihnen gibt uns Erkenntnis. Mit Berkeley und Hume zu behaupten, 1) daß lediglich die erstere, die Sinnesempfindung, a, Erkenntnis gebe, und daß 2) die letztere, die Vorstellung von der äußeren Welt, b, uns keine solche gebe, da sich die Vorstellung von der äußeren Welt nicht aus der Sinnesempfindung herleiten lasse, ist eine unrichtige, wissenschaftliche Methode, denn beide Behauptungen, 1 und 2, sind unbeweisbar. Berkeleys und Humes Behauptung von der äußeren Welt als einer Fiktion und von den sinnlichen Empfindungen als der wahren Erkenntnis beruht überhaupt auf einer Grundlagen-Illusion, da sie eben auf jener gleichen Erkenntnis-Voraussetzung — dem Unter-
189 scheidungsvermögen — fußt, deren Gültigkeit sie verneint. Wenn man einsieht, daß der Begriff der Wirklichkeit, einer von uns unabhängigen Welt, gerade durch seinen Gegensatz, nämlich unsere Vorstellung von der Wirklichkeit, von dem Unterscheiden unseres Bewußtseins geschaffen ist, und daß eben jenes Erkenntnisvermögen des Unterscheidens nicht bewiesen werden kann, dann muß man auch einsehen, daß Berkeleys, ja selbst Humes Skeptizismus auf dem Gebiete der Erkenntnislehre nicht radikal genug ist; sie hätten folgerichtig zu dem Ergebnis kommen müssen, daß weder die Sinnesempfindung, die Annahme einer äußeren Welt, noch irgend etwas Anderes die geringste Erkenntnis geben könne. Und selbst der Begriff der Wirklichkeit, der Existenz, müsse verneint werden. Folglich endet man in dem Skeptizismus der Skeptiker der Antike; es existiere nichts und selbst wenn Etwas existierte, ließe es sich nicht erkennen. Aber selbst dieser radikale Skeptizismus beruht auf einer Grundlagen-Illusion. Seine Verfechter haben nämlich nicht erkannt, daß sie, schon um ihrem Skeptizismus aller Erkenntnis gegenüber Ausdruck zu geben, genötigt sind, sich in Gegensätzen zu bewegen, nämlich dem des Seins und des Nichtseins und dem des Erkennens und des Nichterkennens. Diese Gegensätze entstehen aber beide überhaupt nur dank unserem Vermögen zu unterscheiden. Alle Skeptiker, seien sie nun moderat wie Berkeley und Hume oder radikal wie die alten griechischen Philosophen, übersehen also, daß sie gerade in ihrer Verneinung unserer Erkenntnis (als Ganzes oder im Einzelnen) diese Erkenntnis selbst, nämlich das Unterscheiden und Vergleichen, verwenden. Und dadurch hebt sich ihr Skeptizismus selber auf. Während Berkeley sich damit begnügte, die Existenz der äußeren, materiellen Welt zu verneinen, schließt Hume von ihren gemeinsamen Voraussetzungen aus folgerichtig weiter und lehnt auch die Existenz des Ichs, der inneren, geistigen Welt ab. Das sogenannte Ich sei lediglich eine Reihe von Sinnesempfindungen, Gefühlen, Vorstellungen; ein selbständiges Wesen aber, eine geistige Substanz, die hinter jenen Reihen von Erlebnissen liege und von ihnen verschieden sei, hätten wir eben so wenig erfahren, wie eine äußere Welt oder eine materielle Substanz, die von den Reihen der Sinnesempfindungen verschieden wäre. Dies ist eine konsequente Schlußfolgerung Humes, denn »erfahren« heißt für ihn ja »sinnesempfinden«; und niemals haben wir ein Ich, eine innere Welt sinnlich empfunden — wir haben sie weder gehört noch gesehen, noch gefühlt. Folglich ist
190 unsere Vorstellung davon ebensowohl eine Fiktion wie die Vorstellung einer äußeren Welt. Wenn Hume mit seiner Verneinung des Ichs lediglich hätte behaupten wollen, daß es unmöglich sei, die Existenz eines Ichs, das unabhängig von unseren Empfindungen, Gefühlen u. ä. bestehen könne, also einer unsterblichen, geistigen Substanz zu beweisen, so wäre gegen seine Verneinung nichts einzuwenden, denn ein Beweis für die Existenz eines solchen unsterblichen Ichs läßt sich nicht liefern; und da das Gegenteil auch nicht bewiesen werden kann, wäre die einzig korrekte wissenschaftliche Antwort auf jenes Problem, daß wir nichts darüber wissen, also weder bejahend noch verneinend. Humes Leugnung des Ichs geht jedoch weiter. Er behauptet in Wirklichkeit, daß das Ich als eine psychische Einheit unserer Empfindungen, Gefühle und anderer Erlebnisse ebensowenig existiere, wie die äußere räumliche Welt. Seine Leugnung des Ichs in diesem Sinne, also der Einheit unseres Bewußtseins im Strom unserer Erlebnisse, beruht indessen auf einer unrichtigen, wissenschaftlichen Methode und zwar auf derselben Grundlagen-Illusion, auf der auch seine Verneinung der äußeren Welt fußt. Dasselbe fundamentale Erkenntnisvermögen, unser Unterscheiden und Vergleichen, das feststellt, daß es zwei universelle Welten oder Erfahrungsbereiche gebe, nämlich eine äußere Welt und eine innere, d. h. das Ich, unterscheidet auch scharf zwischen dem Ich und dessen einzelnen Erlebnissen. Wie ein äußeres Ding unserer Unterscheidungsfähigkeit etwas Anderes und mehr ist als der Komplex jener sinnlichen Empfindungen, die wir seine Eigenschaften nennen — seine Farbe, Gestalt, Dichtigkeit u. ä. — nämlich das Etwas, das diese Eigenschaften hat, das sie zusammenhält und das die Sinneseindrücke in unserem Bewußtsein hervorruft, genau so ist unser Ich, unser Bewußtsein auch etwas Anderes und mehr als die Summe unserer Empfindungen, Gefühle usw. Dies geht klar und deutlich daraus hervor, daß das Ich nicht nur, wie oben gesagt, feststellt: Ich bin nicht der Tisch, das Haus, der Baum, sondern auch: Ich bin nicht das Gefühl, die Stimmung, die ich gestern hatte oder heute habe, sondern ich bin derjenige, der jenes Gefühl, jene Stimmung gehabt hat oder hat und morgen vielleicht ganz andere Gefühle und Stimmungen haben wird, aber trotz allen Wechsels hierin bin ich und bleibe ich dennoch derselbe, solange ich als dieses bestimmte Wesen existiere. Diese Einheit trotz aller Veränderungen läßt sich überhaupt nicht bestreiten, solange unsere Unterscheidungsund Vergleichungsfähigkeiten nicht als Erkenntnis abgelehnt wer-
191 den. W e n n man aber dieses bestreitet, so fällt damit auch jede andere menschliche Erkenntnis, jede Realwissenschaft und jede Formalwissenschaft, jedes Wissen überhaupt. Denn nicht das allerkleinste Körnchen menschlichen Wissens, nicht ein Gran dessen, was w i r Wahrheit nennen, entsteht, es sei denn durch unsere Fähigkeit zu unterscheiden. Der wissenschaftliche Methodenfehler Berkeleys, Humes und ihrer Nachfolger mit bezug auf die Verneinung der äußeren W e l t und des Ichs besteht darin, daß sie das Erkenntnisproblem nicht bis auf jenen Grund durchdacht haben, aus dem die Quelle aller Erkenntnis entspringt. Diese Quelle selbst, ihren W e r t f ü r unsere gesamte Erkenntnis kann man wohl bestreiten; dann muß aber alle Erkenntnis, müssen sämtliche Sonderungen und Vergleichungen auch fallen, nicht nur die Sonderung zwischen einer äußeren und einer inneren W e l t . Es ist überhaupt nicht wissenschaftlich zu begründen, daß man sich unserer Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit in der sinnlichen Wahrnehmung, in der Mathematik und in der Logik, in der gesamten Erkenntnislehre, in dem Kausalzusammenhang und in den Gruppierungen von Phänomenen seitens
Die Verneinung des Ichs oder des Bewußtseins als einer Einheit psychischer Erlebnisse, die in der europäischen Philosophie vor Allem von Hume ausgesprochen wurde, finden wir auch schon im indischen Denken, besonders bei Buddha (also bereits vor mehr als 500. Jahren v. Chr.). Bei ihm bildet die Verneinung den Hintergrund seiner Lehre von der Erlösung und dem Nirwana. Bei Buddha macht sich derselbe Fehlschluß geltend, wie bei der Verneinung der neueren Philosophen. Es wird für notwendig erachtet, das Ich oder das Bewußtsein als Einheit zu leugnen, weil von dieser Einheit auf eine unvergängliche, ewige Seelensubstanz geschlossen wird. Diese Schlußfolgerung ist, wie oben nachgewiesen wurde unberechtigt. Daß das ich oder das Bewußtsein eine Einheit psychischer Erlebnisse sei, muß — wie nachgewiesen wurde — als eine Tatsache betrachtet werden, die durch unser Unterscheiden und Vergleichen festgestellt wird. Ob diese Tatsache den Tod des Körpers überlebt, wissen wir nicht. Das ist eine Glaubenssache. Das Bewußtsein ist aber trotzdem eine Einheit, ob es nun zehn Jahre, hundert Jahre oder auch ewig besteht. Aus der Einheit des Ichs läßt sich nichts auf dessen Dauer schließen. — Buddhas Verneinung des Ichs als psychischer Einheit beruht im Übrigen auf derselben Grundlagen-Illusion wie diejenige Humes. Beide haben nicht bemerkt, daß sie in ihrer Verneinung gerade dasselbe Denken (Unterscheiden und Vergleichen) anwenden, dessen Richtigkeit sie leugnen. Kant hob hervor, daß das Bewußtsein eine Einheit, eine Synthese sei, daß es aber unberechtigt wäre, von Synthese auf Substanz zu schließen.
192 aller Realwissenschaften bedienen will, daß man aber dann plötzlich derselben Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit den Erkenntniswert absprechen will, wenn diese Auffassung eine äußere, materielle Welt und eine innere, das Ich, statuiert. Der Denkfehler, der sich hinter Berkeleys Leugnung der äußeren Welt und Humes Verneinung der inneren oder des Ichs verbirgt, ist j a ausschließlich entstanden, weil Locke einseitig die sinnlichen Empfindungen zum Wahrheitskriterium erhob, denn danach mußten alle diejenigen Vorstellungen, die sich — wie die äußere Welt und das Ich - nicht von einer Sinnesempfindung herleiteten, Fiktionen sein. Diesen einseitigen Gedankengang hat man im 19. und 20. Jahrhundert weiterverfolgt; und immer kreist das philosophische Denken daher um jene Probleme einer äußeren Welt und des Ichs. Diese Probleme sollten einfach abgeschafft werden. Wenn die Grundlagen-Illusion, auf der sie beruhen, bloßgelegt worden ist, gibt es nichts mehr zu diskutieren. Aber wenn man sieht, daß die Diskussion um jene Scheinprobleme des 19. und 20. Jahrhunderts immer noch fortgesetzt wird, weil sie sich ständig innerhalb desselben, engen Kreisganges bewegt, dann erinnert dieses innerhalb desselben Zirkels gebundene und sich unaufhörlich drehende wissenschaftliche Denken Einen an jene Tiere, die innerhalb eines mit Kreide um sie gezogenen Kreises umherflattern und von diesem Kreise überhaupt nicht loskommen können, weil sie sich über den Kreidestrich nicht hinauswagen. In diesem seltsamen Kreisgang innerhalb des magischen Zirkels herrscht noch immer der gleiche unlösbare Kampf zwischen verschiedenen Richtungen; und dieser Streit führt nicht von der Stelle. Die eine Richtung, die man die mentalistische oder spiritualistische nennen könnte, behauptet: da es sich nicht beweisen lasse, daß eine äußere Welt existiere, seien allein die psychischen Erlebnisse, unsere mentalen Zustände Wirklichkeit, und nur diese verdienen erforscht zu werden; eine entgegengesetzte Richtung aber, die physikalistische oder behaviourtheoretische, behauptet: da nicht bewiesen werden könne, daß das menschliche Seelenleben existiere, habe die wissenschaftliche Forschung sich ausschließlich mit dem äußeren Verhalten des Menschen (wie mit dem des Tieres) zu beschäftigen, d. h. ihre Beobachtungen müßten allein den Bewegungen der Organismen, den Reaktionen im Raum, darunter den Reflexbewegungen der Gehirnzellen, Nerven und Muskeln in der äußeren, physischen Welt gelten, während hingegen alle sogenannten psychischen Phänomene, von denen man
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annimt, daß sie Gegenstand einer sogenannten Selbstwahrnehmung sein könnten, wie Gedanken, Gefühle, Willensakte usw. als gänzlich unverständliches und nichtssagendes Gerede zu betrachten seien. Diese zwei entgegengesetzten Richtungen sind in der seltsamen Lage, daß sie beide darin Recht haben, daß die Richtigkeit der entgegengesetzten Richtung nicht bewiesen werden kann. Weder die eine noch die andere Auffassung läßt sich beweisen und beide Richtungen sind dergleichen Grundlagen-Illusion zum Opfer gefallen. Sie haben nämlich vergessen zu untersuchen, was man unter »Beweisen« zu verstehen habe. Soll der Beweis von Lockes, Berkeleys und Humes Wirklichkeitskriterium, nämlich den Sinnesempfindungen ausgehen, dann kann weder die Existenz der äußeren noch der inneren Welt des Ichs bewiesen werden, denn es gibt keine sinnliche Empfindung, der jene beiden Vorstellungen von einer äußeren und einer inneren Welt entstammen; darin haben sowohl Berkeley als Hume Recht; und da alle Beweise bisher auf dieser Linie, in diesem engen Kreisgang geführt worden sind, ist von diesem Standpunkt aus keine Lösung zu erwarten. Da aber beide Richtungen in ihrem gesamten Denken und gegenseitigen Argumentieren vor allem Anderen das logische Vermögen, also Unterscheidung und Vergleichung anwenden, und da ein »Beweis« auf diesem Gebiet darin besteht, Gleichheiten und Verschiedenheiten in der Erfahrungswelt zu finden, fallen sowohl der Streit als das Problem fort, denn zu den fundamentalsten Verschiedenheiten und Gleichheiten der Erfahrung gehören die Verschiedenheit zwischen äußeren, materiellen Erscheinungen einerseits und inneren, psychischen andererseits, und die Gleichheit aller Erscheinungen innerhalb jeder dieser Gruppen in diesen Beziehungen. Die beiden genannten Richtungen können nach Belieben die Darstellung oder das Bild des Daseins verneinen, das unsere Unterscheidungs- und Vergleichungfähigkeit gibt, dann haben aber im selben Augenblick beide Richtungen zu existieren aufgehört, da sie keinen einzigen Gedanken denken, geschweige eine Weltanschauung — sei sie nun spiritualistisch oder materialistisch — formulieren, noch sich einer anderen Richtung gegenüber in Gegensatz stellen können, ohne sich überall und unaufhörlich des Unterscheidungsund Vergleichungs-Vermögens zu bedienen. Alle spiritualistischen und materialistischen Richtungen sägen somit in Wirklichkeit den Ast durch, auf dem sie selber sitzen. Ohne sich dessen bewußt zu sein wenden sie in ihrer eigenen Beweisführung die gleiche Denkfähigkeit an, deren Anwendung ihre Beweisführung 13
Erkenntnis und Wertung
194 — noch dazu in den wichtigsten Bereichen unserer Erfahrungswelt — zu leugnen sucht. Nach dem Angeführten liegt kein Grund vor, auf das alte Problem des Verhältnisses zwischen Seele und Leib Zeit zu vergeuden; es ist der Mengen von Literatur, die ihm geopfert worden sind, nicht wert. Der grösste Teil dieser Literatur ist unbeweisbare Spekulation. Unser Unterscheiden und Vergleichen zeigt uns in aller Erfahrung deutlich zwei verschiedene Welten, die physische, ausgedehnte, und die psychische, die nicht durch Ausdehnung, nicht durch Räumlichkeit gekennzeichnet werden kann. Wie diese beiden Welten zueinander in Wechselwirkung stehen, wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß aus der Umwelt auf dem Wege unserer Sinnesempfindungen gewisse Bewegungen zu den Gehirnzellen gehen, wodurch wir bestimmte psychische Erlebnisse, nämlich Sinnesempfindungen in gewissen Zusammenhängen erhalten und daß umgekehrt von bestimmten psychischen Erlebnissen, nämlich Willensakten und Beschlüssen, gewisse Bewegungen in Nerven und Muskeln ausgehen, die den Körper und dessen Gliedmaßen in der Richtung des Willensaktes leiten. Wir stellen also fest, daß jene beiden Phänomene zeitlich nacheinander folgen, im ersten Fall folgt das psychische auf das physische, im zweiten ist es umgekehrt. Es besteht also zwischen jenen in zeitlicher Reihenfolge auftretenden Erscheinungen eine Beziehung, die man in Übereinstimmung mit unseren gewöhnlichen Vorstellungen ein Kausalverhältnis nennen mag. Unseren gewöhnlichen Vorstellungen gemäß zögern wir nicht zu erklären, die psychische Erscheinung, nämlich mein Beschluß den Arm zu bewegen, sei die Ursache der physischen, nämlich der darauf folgenden Bewegung des Armes und umgekehrt: das physische Phänomen, nämlich die Lichtstrahlen, die von einem Gegenstand in der Umwelt ausgehen, seien die Ursache des psychischen, nämlich des Eindrucks unseres Bewußtseins von den Farben des Gegenstandes. Aber wie dieses ursächliche Verhältnis oder Wechselverhältnis in beiden Fällen näher beschaffen sei, wie der physische Vorgang (innerhalb der Gehirnzellen) zu einem gegebenen Zeitpunkt in den physischen Vorgang unseres Bewußtseins übergeht (und umgekehrt), ob es hier möglicherweise graduelle, uns nicht wahrnehmbare Übergänge gibt, oder ob sich vielleicht andere, gänzlich ungeahnte, uns unbegreifliche Lösungen finden, darüber wissen wir gar nichts. Wird der Begriff der Ursache aufgegeben, können wir uns mit der Feststellung begnügen, daß zwischen dem wechselseitigen Auftreten physischer und psychischer
195 Phänomene gewisse gesetzmässige Beziehungen bestehen. Darüber hinaus können wir lediglich feststellen, daß infolge der ersten und wichtigsten von allen menschlichen Erkenntnisfähigkeiten, nämlich des Unterscheidungs- und Vergleichungs-Vermögens, nach der bisherigen Erfahrung zwischen den physischen und den psychischen Erscheinungen ein fundamentaler Unterschied besteht, daß uns aber der Übergang von einem zum andern, also das nähere Verhältnis zwischen ihnen völlig unbekannt ist. Anderes und mehr läßt sich darüber nicht sagen. Das Psychische und das Physische nur als zwei Ausdrücke für ein und dasselbe Wesen, für dieselbe Substanz aufzufassen, wie Spinoza es versuchte, ist freie Spekulation; dasselbe gilt der pantheistischen Religion, die er darauf gründet. Spinoza setzt hier in Wirklichkeit voraus, daß das fundamentale Erkenntnisvermögen, unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit, uns nicht das richtige Bild des Daseins gebe; das ist aber ein Postulat, das für ihn selber verhängnisvoll wird, da sein gesamtes, mathematisch aufgebautes System sonst gänzlich auf scharfer Logik, mithin auf einer klaren Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit beruht. Unser Unterscheiden und Vergleichen auf dem Gebiete der Erfahrung, bei allen bisherigen Betrachtungen, zeigt keine Identität des Psychischen und Physischen, wie Spinoza behauptet, sondern vielmehr einen scharfen Unterschied zwischen diesen beiden Erscheinungen. Und ohne gänzlich neue Erfahrungen wäre es hoffnungsloses Zeitvergeuden, sich auf Grübeleien einzulassen, die über die Feststellung dieses Unterschiedlichkeitsverhältnisses hinausgehen. Es lassen sich eben so viele Systeme dieser Art austüfteln, wie es Philosophen gibt, von Spinozas Identitäts- und Allsubstanzlehre und Leibnizens Monadenlehre bis zu Hobbes materieller Einheitslehre. Hier ist die Bahn für unzählige, sinnreiche Gedankengebäude frei. Sie sind nämlich alle gleich unbeweisbar. Es war eine schmalspurige Psychologie und Erkenntnislehre, die im 18. Jahrhundert die sinnlichen Empfindungen ohne die Relationen zum Wirklichkeitskriterium unserer Vorstellungen machte und damit zu der Ansicht führte, daß unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit subjektiv und unsere Vorstellung von einer äußeren Welt nur eine Fiktion seien. Man übersah, daß unser Grundbegriff der Wirklichkeit, der mit unserer Vorstellung von der äußeren Welt eng verknüpft ist, damit selbst eine Fiktion wurde, da auch er 13*
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ja nicht von den sinnlichen Empfindungen, sondern von einer Relation herrührt, nämlich von unserer Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit. Man übersah ebenfalls, daß das gesamte Denken, das die Erkenntnisphilosophie des 18. Jahrhunderts dazu führte, die sinnlichen Empfindungen als einer außer uns liegenden Wirklichkeit entstammend zu erklären, folglich nach dem Standpunkt dieser Philosophie selbst eine Fiktion sein müßte, da das Denken jener Philosophie ebenso wie jedes andere ohne unser Unterscheiden und Vergleichen nicht von der Stelle kommen könnte und also völlig auf unserer Auffassung von Verschiedenheiten und Gleichheiten zwischen unseren Erlebnissen beruhe. Aber jene schmalspurige Psychologie und Erkenntnislehre, die folgerichtig — mit Hume — zu einer Verneinung der äußeren Welt sowohl als der inneren, des Ichs, führen mußte, ist seitdem in der Erkenntnislehre des 19. und des 20. Jahrhunderts weitergeführt worden, und indem man immer noch um die Sinnesempfindungen als Wirklichkeitskriterium kreist, schneidet man sich, ohne sich selbst dessen bewußt zu sein, von der einzig natürlichen und einfachen Erklärung der Vorstellungen von der äußeren Welt und vom Ich ab, nämlich, daß sie von der fundamentalen Denkfähigkeit, unserem Unterscheiden und Vergleichen, geschaffen sind. Wenn man nun in der neuzeitlichen Philosophie dennoch erklären soll, wie jene merkwürdigen Vorstellungen, die uns die Sinneswahrnehmung nicht zu zeigen vermag, entstanden seien, so nimmt es nicht wunder, daß diese Erklärungen außerordentlich verwickelt, künstlich und weitschweifig wurden. Sie erinnern stark an jenen Gelehrten, der lange in allen Zimmern umherlief und seine Schuhe suchte, um schließlich festzustellen, daß er sie an den Füßen hatte; der Unterschied ist nur der, daß jene modernen Philosophen die Schuhe niemals entdeckten. Sie unterliegen chronisch derselben GrundlagenIllusion, der bereits in der ersten Periode der klassischen Erkenntnislehre Berkeley und Hume zum Opfer fielen. Sie bedienen sich in all den weitschweifenden und verwickelten Erörterungen über die Berechtigung und Nicht-berechtigung der Vorstellungen von der äußeren Welt und vom Ich eben jenes Unterscheidungs- und Vergleichungsvermögens; diese Fähigkeit stellt die Schuhe dar, die sie bei ihrem Denken immer tragen, aber nicht sehen können; und doch ist es in erster Linie diese Fähigkeit, die jene Vorstellungen geschaffen hat. Entweder gibt diese Fähigkeit Erkenntnis, dann ist ihre Sonderung zwischen der äußeren und der inneren Welt richtig und lange Ausführungen darüber hinaus sind überflüssig; oder diese
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Fähigkeit gibt gar keine Erkenntnis, dann fallen die langwierigen Ausführungen ebenfalls fort, da sie Alle diese Fähigkeit verwenden. Dann fällt überhaupt alles menschliche Denken fort. Das fundamentale menschliche Erkenntnisvermögen des Unterscheidens und des Vergleichens stellt also — ebenso sicher wie die Sinnesempfindung — fest, 1) daß es eine äußere Welt und eine innere, ein Ich, gibt, 2) daß das Ich von den einzelnen Erlebnissen, die es hat, verschieden ist, und 3) daß das Ich, sobald es ein Erlebnis, eine Sinnesempfindung, einen Gedanken, ein Gefühl u. ä. gehabt hat, zugleich ein Bewußtsein davon bekommt, daß es dieses Erlebnis hat oder hatte, und welcher Art der Inhalt dieses Erlebnisses ist. Diese Grundsonderungen und Grunderlebnisse stellen den Kern unseres Wirklichkeitsbegriffes dar. Ohne unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit können diese Sonderungen und diese Vorstellungen und damit jede Wirklichkeit überhaupt nicht entstehen, und ohne diese Auffassung entsteht überhaupt keinerlei Erkenntnis, nicht einmal die allereinfachste. Selbst der radikale Skeptizismus, der jede Existenz, auch die des Ichs, verneint, kann nicht einmal diesen Gedanken denken, ohne zu unterscheiden, und muß daher entweder das Denken ganz unterlassen, oder weiter unterscheiden und somit die Existenz sowohl einer äußeren, als einer inneren Welt oder Wirklichkeit zugeben. Daß eine äußere Welt und eine von dieser verschiedene, innere, psychische existiert, ist demnach ein ebenso sicheres Wissen, wie
Der Streit zwischen den Vitalisten und Mechanisten über das Problem des Lebens scheint mir auch ziemlich müßig zu sein. Daß das Leben auf eine besondere Lebenskraft zurückgehe, ist ebenso unbeweisbar, wie daß die Bewegung der Körper zueinander in der Akzeleration auf eine Anziehungskraft zurückzuführen sei. Man pflegt seitens der Mechanisten anzuführen, daß eine besondere Lebenskraft als Ursache des Lebens keine »vera causa« sei, da sie sich nicht in der Erfahrung, d. h. durch die Sinnesempfindungen nachweisen lasse. Das Gleiche gilt aber der Anziehungskraft und im Übrigen muß, wie ich andererorts gezeigt habe, nicht allein der Kraftbegriff, sondern auch der Begriff der Ursache in der bisher angenommenen Bedeutung selbst aufgegeben werden. Was wir in der organischen und der anorganischen Welt beobachten, sind lediglich gesetzmäßige Zusammenhänge; die Grunderscheinungen aber verstehen wir auf keinem Gebiete der Natur; in dieser Beziehung sind die mechanischen Bewegungen von Körpern in der anorganischen Welt nicht bessergestellt, als die Entstehung und das Wachstum
198 daß 2 + 2 = 4 ist. Beide Behauptungen stützen sich auf dieselbe fundamentale Erkenntnisfähigkeit, unser Unterscheiden und Vergleichen. Daß das menschliche Bewußtsein, das menschliche Seelenleben existiert ist ebenso sicher oder unsicher, wie die Behauptung, daß eine äußere W e l t existiere, oder jene, daß 2 -f- 2 = 4 sei. Alle j e n e zahlreichen und weitschweifenden Diskussionen innerhalb der bisherigen Philosophie, Psychologie, Psychophysik u. ä. über die »Existenz des Psychischen«, die uns selbst heute noch mit Stapeln von Literatur behelligen, können also künftig als auf einem Scheinproblem beruhend erspart werden. Um es noch einmal zu wiederholen und festzustellen: die Verneinung der Existenz der äußeren, materiellen ebenso wie der inneren, psychischen Welt, hebt sich erkenntnismäßig selbst auf, denn der Verneiner kann mit Bezug auf den Gegensatz zwischen Existenz oder Nichtexistenz, zwischen Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit keinen einzigen Gedanken denken, kein einziges W o r t aussprechen, ohne sich eben desselben Unterscheidungs- und Vergleichungsvermögens zu bedienen, auf dem die Sonderung zwischen der äußeren und der inneren Welt oder Wirklichkeit beruht. Entweder ist diese Sonderung richtig oder auch hört alles Denken, auch dasjenige, das die Sonderung verneint, auf. Hinsichtlich der sprachlichen Bezeichnungen, die das menschliche Bewußtseinsleben betreffen, besteht keinerlei Grund, die alten W ö r t e r : Seele, Geist und damit gebildete Zusammensetzungen zu Ver-
des organischen Lebens. Wir wissen nicht und verstehen überhaupt nicht, was „Bewegung" äußerer Körper ist; Bewegung ist ebensowohl wie Ausdehnung eine Grunderscheinung äußerer Körper. Nach einer „Ursache" oder »Kraft« hinter den Bewegungen zu suchen, ist bei dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft nutzlos. Selbst wenn es den Mechanisten gelänge, das organische Leben als mechanische, physikalische Phänomene zu erklären, so wäre das Welträtsel dennoch nicht gelöst, da wir nicht einmal wissen oder erklären können, was Bewegung äußerer Körper sei. Bisher ist es nicht einmal gelungen, die Erscheinungen des organischen Lebens auf mechanische Bewegungen zurückzuführen. Der Unterschied zwischen dem organischen Leben und der anorganischen Welt scheint nach den bisherigen Erfahrungen zu jenen letzten, fundamentalen irreduktiblen Verschiedenheiten im Dasein zu gehören, die sich ebenso wenig erklären lassen, wie der Unterschied zwischen Physisch und Psychisch, zwischen positiver und negativer Elektrizität. Vgl. mein Buch: Erkendelseslsere og Naturvidenskab, Kopenhagen 1941; 2. Auflage 1960.
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werfen, da sie die eigentümliche Einheit, die unser Bewußtsein darstellt, gut ausdrücken. Wenn man nur ein für allemal feststellt, daß es gänzlich unberechtigt ist, von der Einheit der Seele auf eine ewige Seelensubstanz zu schließen, steht dem nichts im Wege, neben dem Wort Bewußtsein die guten alten Wörter wie »Seele« und »Geist« und Zusammensetzungen wie Seelenleben und Bewußtseinsleben abwechselnd zu gebrauchen. Wörter wie »Seele« und »Geist« haben übrigens auch den Vorteil, daß wir davon die sehr verwendbaren Adjektive »seelisch« und »geistig« bilden können, während es kein entsprechendes Adjektiv des Wortes »Bewußtsein« gibt. Hier muß man sich ganz anderer Wörter, z. B. des Fremdwortes »mental«, bedienen. Unsere Fähigkeit, Verschiedenheit und Gleichheit aufzufassen bildet also die Grundbedingung aller Begriffe von Wirklichkeit und Wahrheit. Diese Begriffe entstehen erst durch diese Fähigkeit. Das gilt sowohl dem Wirklichkeitsbegriff 1 als auch dem Wirklichkeitsbegriff 2. Durch Wirklichkeit 1, d. h. die Sinneswahrnehmung und die Relationen (Kants Erscheinungswelt), wird das Verhältnis unserer Vorstellungen zu der sinnlich wahrnehmbaren Welt beurteilt, womit im täglichen Leben und in der Wissenschaft vor Allem zwischen Phantasievorstellungen und den in der physischen Umwelt seienden Dingen und Vorgängen gesondert wird. Durch Wirklichkeitsbegriff 2 wird das Verhältnis unserer gesammten Vorstellungen und anderer Erlebnisse zu einer — physischen und psychischen — Welt an sich beurteilt (vgl. oben S. 146-147). Aber hierdurch ensteht das Problem: ob unsere Auffassung der Welt, des Wirklichkeitsbegriffes 1 — unseres gewöhnlichen Wirklichkeitsbegriffes — nun auch den Wirklichkeitsbegriff 2, den absoluten Wirklichkeitsbegriff, decke. Da unser Grundbegriff: Wirklichkeit, der gewöhnliche sowohl wie der absolute, aber selbst von unserem Unterscheiden und Vergleichen geschaffen ist und wir diese Erkenntnisfähigkeit in dieser Beziehung nicht kritisieren können, muß das ganze Problem des Verhältnisses zwischen den beiden Wirklichkeitsbegriffen, das die Denker vom Altertum bis in unsere Zeit gequält hat, als unlösbar, als eine Erkenntnis-Illusion fortfallen, weil sowohl die Behauptungen der antiken Skeptiker als die Berkeleys, Humes, Kants und der Erkenntnistheoretiker des 19. und 20. Jahrhunderts — nämlich daß unsere Erkenntnisfähigkeiten die innerste Wirklichkeit, die Welt an sich,
200 nicht erkennen können, genau wie die gegenteiligen Behauptungen der übrigen Erkenntnisphilosophen — der griechischen Naturphilosophie, der Philosophie von Piaton und Aristoteles, der Systemphilosophie der Renaissance, des Positivismus oder des Realismus — in Wirklichkeit sinnlos sind. Diese beiden gegensätzlichen Behauptungen sind ja gleich unbeweisbar. Die Wahrheit einer Erkenntnis bedeutet ihre Übereinstimmung mit dem Gegenstand. Diese Grundsonderung selbst aber, auf der Alles, was wir Wahrheit und Wirklichkeit nennen, beruht, unsere Erkenntnis und ihr Gegenstand, unsere Auffassung der Welt und diese an sich, ist von unserem Erkenntnisvermögen, unserem Unterscheiden und Vergleichen geschaffen. Die »Wahrheit« oder »Wirklichkeit« jener Fähigkeit selbst kann nicht bewiesen werden; es fehlt ihr ein Gegenstand, mit dem sie verglichen werden könnte, denn sie hat selbst jede Wirchlichkeit, jede Wahrheit, jeden Gegenstand der Erkenntnis geschaffen. Es gibt kleinere, feinere Unterschiede als diejenigen, die unsere unmittelbare Sinneswahrnehmung entdecken kann. Es gibt z. B. Gewichtsunterschiede — Tausendstel eines Gramms — die unsere Druckempfindung nicht registrieren kann. Selbst die größten Moleküle können von unseren gewöhnlichen Gesichts- und Druckempfindungen niemals aufgefaßt werden. Mittels eines Elektronenmikroskops können wir doch diese Moleküle beobachten. Diese Fälle geben indessen keine Kritik des Unterscheidungs- und Vergleichungsvermögens selbst, sondern lediglich jenes Unterscheidens, das ausschließlich unsere gewöhnlichen Sinnessempfindungen in seine Dienste nimmt. Wenn wir heute in der Lage sind, zu feineren und kleineren Unterschieden vorzustoßen als unsere normale Sinnesempfindung sie erfassen kann, so liegt das daran, daß wir durch Beobachtung gesetzmäßiger Zusammenhänge und ein neues Unterscheiden und Vergleichen auf der Grundlage dieser Zusammenhänge zu einer Erkenntniskritik der Sinneswahrnehmungen selbst vordringen können — auf dieselbe Weise wie bei der Annahme der sekundären Sinnesqualitäten. Unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit kann in der Zusammenarbeit mit den anderen Erkenntnisfähigkeiten, vor Allem unserer sinnlichen Wahrnehmung und unserer Beobachtung gesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen diesen, überhaupt ein gewisses Korrektiv, eine gewisse Begrenzung erhalten. Ein Unterscheiden und Vergleichen, das von der Kontrolle der Erfahrung, d. h.
201 von der Kontrolle der Sinnesempfindungen, in ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen losgerissen wird, ist mithin unfruchtbar und führt das menschliche Denken auf Irrwege. Das scholastische Denken des Mittelalters gibt mit seiner formalistischen Logik ein Beispiel dafür. Die Mathematik ist dagegen nicht in dem Sinne von der Sinnesempfindung in Relationen gelöst worden, denn ihre grundlegenden Ausgangspunkte sind Vorstellungen, die — als Grundeigenschaften der Dinge in der Erfahrung (Größe, Gestalt, Zahl) — der Sinneswahrnehmung entstammen und mit ihr übereinstimmen. — Ferner kann erwähnt werden, daß es im Dasein zahlreiche Verschiedenheiten und Gleichheiten gibt, die keinen wissenschaftlichen oder praktischen Wert haben; sie sind »irrelevant«, was besagt, daß sie nicht für gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen den Erscheinungen Ausdruck geben und daher kein reales Interesse haben. In aller Realwissenschaft wirken die beiden Erkenntnisfaktoren 1 und 2, also Verschiedenheiten und Gleichheiten und gesetzmäßige Zusammenhänge, überhaupt am besten, wenn sie mit einander verknüpft wirksam sind. 2. D I E G E S E T Z M Ä S S I G E N
ZUSAMMENHÄNGE
Nach Faktor 1, unserer Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit, ist die universellste Relation unsere Auffassung gesetzmäßiger Zusammenhänge innerhalb der äußeren und der psychischen Erscheinungen, und zwar in Verbindung mit der Zeit, in der diese Zusammenhänge auftreten. Nähert man Feuer dem Blei, folgt danach dessen Schmelzen; auf starke Sonnenwärme im Frühling folgt das Schmelzen des Eises und des Schnees und später das Ausschlagen der Bäume; dies stellt gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen unseren Sinnesempfindungen dar, die ein wissenschaftliches Grundfaktum bilden, das unerschütterlich ist, unangesehen welche visuellen oder kraftmäßigen Deutungen wir nun diesen Zusammenhängen unterstellen. Wir können unsere Deutungen dieser gesetzmässigen Zusammenhänge wie unsere Krafterklärung, unseren Kausalbegriff und unseren Kausalsatz überhaupt kritisieren. Aber bei der Kritik der Kraftund Ursächlichkeitsdeutung habe ich bei dem im vorhergehenden versuchten Nachweis des persönlich-menschlichen Ursprunges dieser Deutung mich gerade überall jener beiden Erkenntnisfähigkeiten, der Feststellung von Verschiedenheiten und Gleichheiten und der gesetz-
202 mäßigen Zusammenhänge zwischen den Erscheinungen bedient. Man kann dergestalt den Unterschied zwischen den gesetzmässigen Zusammenhängen selbst und deren Deutungen unsererseits nur mittels des logischen Unterscheidens und Vergleichens aufspüren. Und wenn wir zwischen gesetzmässigen Zusammenhängen und statistisch häufigen Zusammenhängen unterscheiden, so ist es ebenfalls unser Unterscheidungs- und Vergleichungsvermögen, das wir anwenden. Bei der Erklärung des Grundbegriffes der Wirklichkeit, die ich — im Gegensatz zur bisherigen Erkenntnislehre — oben versuchte, habe ich mich, um die Frage des Anteils unseres Vergleichens und Unterscheidens am Wirklichkeitsbegriff rein zu bewahren, auf jenem Stadium ausschließlich an dieses grundlegende Erkenntnisvermögen gehalten. Jetzt aber, bei der Darstellung der gesetzmäßigen Zusammenhänge, muß betont werden, daß eben diese auch den größten Anteil an der Bildung unseres Begriffes der Wirklichkeit gehabt haben. Die festen gesetzmäßigen Zusammenhänge in der äußeren Natur selbst unter den größten Veränderungen, Zusammenhänge, die sich, von unserem Willen unabhängig, unerschütterlich geltend machen, und in die wir selbst nur in verhältnismäßig geringem Grade eingreifen können, geben uns in seltenem Maße den Eindruck einer äußeren, festen, stabilen Wirchlichkeit, mit der wir überall zu rechnen haben, auf die wir uns andererseits aber auch verlassen können. Überhaupt ist unsere Vorstellung von einer Wirklichkeit, insbesondere von einer unabhängigen, äußeren Welt, ausserordentlich kompliziert; es nimmt daher nicht wunder, dass Locke, Berkeley und Hume diese »Ding-« oder »Substanz-« Vorstellung nicht erklären konnten und sie als eine Fiktion ablehnten. Sie ist, wie gesagt, eine komplizierte Erscheinung, wird aber eben durch jene Erkenntnisfähigkeiten gebildet, die Locke, Berkeley und Hume selbst in ihrer Erkenntniskritik überall verwendeten, die sie aber infolge ihres einseitigen Ausgangspunktes, der sinnlichen Empfindungen, als subjektiv betrachten mußten. Ihre Kritik der Ding- und Substanzvorstellung war also ebenfalls subjektiv. Dies ist die große Grundlagen-Illusion, der sie unterlagen. Die außergewöhnliche Vielfältigkeit dieser Vorstellung läßt sich wohl der obengegebenen Untersuchung gemäß folgendermaßen skizzieren : Das wichtigste Moment ihres Ursprunges ist, wie oben gezeigt wurde, 1) die überall sieht- und fühlbare scharfe Grenzscheide zwi-
203 sehen den Sinnesempfindungen, die von unserem Willen unabhängig kommen und gehen, und unseren anderen Erlebnissen. Zur Befestigung unserer Vorstellung von der äußeren Welt greift aber dann ein anderes wichtiges Moment ein und zwar jene oben angeführte 2) vollständige Gleichheit oder Identität, die wir in jenen bleibenden Gegenständen im Raum wahrnehmen, die wir Dinge nennen, wenn wir von Mal zu Mal zu ihnen zurückkehren. Die Identitätsvorstellung ist zwar, wie oben nachgewiesen wurde, isoliert nicht imstande die Vorstellung von der äußeren Welt zu erklären. Sie ist aber ein mitwirkender Faktor bei der näheren Ausgestaltung dieser Vorstellung, wenn die genannte scharfe Grenzscheide erst gezogen ist. Die Dinge, z. B. einen Stein, einen Baum sehen wir im Augenblick 1 und darauf beobachten wir sie ununterbrochen eine Reihe von Augenblicken, beispielsweise die Augenblicke 1—100 hindurch. Schon dadurch erhalten wir eine ausgeprägte Vorstellung von der Identität der Dinge, von ihrer Wahrung der Konstanz durch die Zeit; und während wir die Gleichheit der Dinge mit sich selbst durch die wechselnden Augenblicke gewahren, sehen wir gleichzeitig im Unterschied hierzu die Veränderlichkeit und das unruhige Wechseln der Erscheinungen, z. B. der Wolken, die entstehen, sich über den Himmel bewegen und dann verschwinden. Wenn wir dann später in andere Gegenden gerufen werden und die genannten Dinge, die Bäume und Steine an diesem Ort einige Zeit nicht sehen, darauf aber wieder zu ihnen zurückkehren und wiederum wahrnehmen, daß sie während unserer Abwesenheit ihre Identität, ihre vollständige Gleichheit mit sich selbst bewahrt haben, wird unser Eindruck der Dinge und der Stabilität der äußeren Welt überhaupt dadurch weiterhin bestätigt; und sind in einigen Fällen inzwischen einzelne Veränderungen mit den Dingen vorgegangen, so finden wir, daß selbst diese Veränderungen mit einer gewissen Konstanz auftreten, nämlich in 3) den gesetzmässigen Zusammenhängen, die wir populär Kausalzusammenhang nennen. Nach diesen Eindrücken der Identität der äußeren Welt mit sich selbst in vielen Dingen, ihrer Beständigkeit auf weiten Gebieten und ihrer Beharrlichkeit selbst in den Veränderungen — und dies alles von uns unabhängig — erhalten wir endlich auch eine Vorstellung davon, daß diese identische, stabile oder konstante und von uns unabhängige Welt die »Ursache« der sinnlichen Empfindungen in uns sei, d. h. daß unsere Hinwendung und Annäherung an das Ding immer konstant von unseren Gesichts- und anderen Sinneseindrücken begleitet wird und uns mit neuen diesbezüglichen Deu-
204 tungen, die Vorstellung davon vermittelt, daß entweder in dem Dinge liegende Kräfte oder kleinste Teilchen desselben auf unsere Sinne einwirken. Die beiden Erkenntnisfähigkeiten, die die universellsten Relationen zwischen den Erlebnissen geben, nämlich unsere A u f f a s s u n g von Verschiedenheit und Gleichheit und von gesetzmässigen Zusammenhängen in der Zeit, sind indessen nicht nur die Fundamente unseres gesamten Wirklichkeitsbegriffes, sondern überhaupt der erste Ausgangspunkt alles menschlichen Erkennens und Wissens. Das läßt sich auch durch eine Betrachtung der Erkenntnis dartun, die die Wissenschaften auf den verschiedenen Gebieten tatsächlich vermitteln. W o immer man sich auch innerhalb des weiten Gebietes der Wissenschaft befinden mag, wird man feststellen, daß die Forschung den Problemen des Daseins immer weiter auf den Grund zu kommen sucht, indem sie die eine Erscheinung nach der anderen mittels solcher begreiflich macht, die früher erklärt worden sind. Es ist gesagt worden, daß alles Erkennen Wiedererkennen sei. Dasselbe liegt in dieser Definition: Erkenntnis heißt, Unbekanntes aus Bekanntem herzuleiten. W a s wir einen wissenschaftlichen Beweis nennen, ist in der Tat dasselbe. Beweisen heißt etwas augenblicklich Unbekanntes, ein X, durch etwas Bekanntes zu erklären. Aber wie weit wir auch immer unsere Gedankenreihen, unsere Beweisketten in den Wissenschaften zurückführen mögen, schließlich werden wir doch auf ein letztes, unerklärliches, unbekanntes Etwas, auf ein zuletzt Unbeweisbares stoßen. Gleichgültig von welchem Gebiet der Wissenschaft aus wir nun in den Kern dieses letzten Unerklärlichen und Unbeweisbaren einzudringen suchen, wird es sich, soweit ich sehen kann, eben als unsere A u f f a s s u n g von Verschiedenheit und Gleichheit und von gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen unseren Erlebnissen erweisen. In der Arithmetik lösen wir unsere Gleichungen mit unbekannten Größen durch Beweisreihen, nach denen eine Größe mit einer anderen gleich ist, diese mit einer dritten usw., bis wir das unbekannte X auf eine bekannte Größe zurückgeführt haben; die gesamte Beweisreihe beruht indessen auf einer letzten Voraussetzung, nämlich daß wirklich Gleichheit zwischen Größen bestehe. Diese letzte Voraussetzung, auf der alle Arithmetik und jede andere Mathematik beruht, läßt sich aber nicht beweisen. Die letzten mathemathischen Axiome auf
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diesem Gebiet lauten wie folgt: 1. Zwei Größen, die einer dritten gleich sind, sind auch untereinander gleich. 2. Das Ganze ist größer als einer seiner Teile. Diese Axiome fußen aber ganz und gar auf unserer Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit und sind lediglich besondere Ausdrücke für diese. Wir empfinden oder fühlen unmittelbar, daß eine Größe, sei es nun eine Zahl oder eine Figur, einer anderen gleich ist, sie deckt. Dieses unmittelbare Erlebnis entsteht dadurch, daß wir Zusammenfall oder Gleichheit zwischen zwei Sinnesempfindungen und später zwischen den beiden entsprechenden Vorstellungen »fühlen« oder »finden«. Auf dieser letzten Erkenntnisvoraussetzung, unserer Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit, beruhen nicht nur die genannten, sondern überhaupt alle Axiome und Definitionen der Mathematik. Eine Grunddefinition in der Geometrie, die der Geraden, lautet nach Euklid folgendermaßen: eine gerade Linie ist jede Linie, die zwischen allen in ihr befindlichen Punkten auf gleiche Art liegt. Im Voraus hat Euklid den Punkt als das definiert, was keine Teile hat, und eine Linie als eine Länge ohne Breite. Indem ich in diesem Zusammenhang von den Einwänden der neueren WirklichkeitsGeometrie gegen die Definitionen Euklids absehe, gilt von diesem, wie von allen anderen mathematischen Definitionen und Axiomen, daß sie überall — wie auch immer man sie definieren mag — auf unserer Auffassung von Verschiedenheiten und Gleichheiten fußen. Die erste euklidische Definition, daß ein Punkt das sei, was sich nicht teilen lasse, beruht also auf der Wahrnehmung der Verschiedenheit zwischen dem, was geteilt werden kann — seien es nun Linien, Flächen oder Körper — und dem, was sich nicht weiter teilen läßt, da es bei einem solchen Versuch unserem Auge völlig verschwinden würde. Bei der Definition einer Linie als einer Länge ohne Breite unterscheiden wir die Linien, den Umriß einer Figur, von deren Fläche; und die Definition der Geraden setzt in Wirklichkeit unsere unmittelbare Auffassung der Verschiedenheit zwischen einer krummen und einer geraden Linie und der Gleichheit zwischen allen Stücken zwischen verschiedenen Punkten auf derselben
Euklids Definition des Punktes als unteilbar ist demnach keine Abstraktion, sondern stimmt mit der Erfahrung überein. Übrigens ist auch nicht die Voraussetzung selbst, daß der Punkt keine Ausdehnung habe, eine Abstraktion, da unser Auge nicht-ausgedehnte farbige Punkte auffassen kann.
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Geraden voraus. Eine Definition der Geraden, die in neuerer Zeit oft Verwendung findet und die mir inhaltlich aufschlußreicher, als die euklidische zu sein scheint, ist die bekannte: eine gerade Linie ist die kürzeste Verbindung — oder der kürzeste Weg — zwischen zwei Punkten. Diese Definition fußt auf unserer Raumerfahrung, d. h. auf unseren Wahrnehmungen von Verschiedenheiten zwischen Gesichts- und Bewegungs-empfindungen und — wie früher betont Zusammenhängen zwischen diesen, indem die — von gesetzmäßigen Jahrtausende alten Erfahrungen dieser Zusammenhänge zeigen, daß diejenigen Linien, die sich unserem Gesichtsvermögen als gerade darstellen, die kleinste Anzahl Bewegungsempfindungen veranlassen, wenn wir uns von einem Punkt zu einem anderen bewegen sollen. Wenn man die ersten mathematischen Axiome oft »selbstverständlich« oder »unmittelbar einleuchtend« genannt hat, um damit anzudeuten, daß diese Eigenschaft der Evidenz einen Beweis erübrige, so beruht diese Ansicht auf einer erkenntnistheoretischen Unklarheit. Wenn die mathematischen Axiome uns »selbstverständlich« zu sein scheinen, bedeutet das in der Tat nur, daß wir bei unserem Erleben zweier auf einander folgender Sinnesempfindungen oder Vorstellungen fühlen, daß sie einander gleichen oder decken, oder auch daß sie von einander verschieden sind. Auf der Basis dieses Grunderlebnisses der Gleichheit und der Verschiedenheit sind alle mathematischen Axiome, Definitionen, Schlüsse und Lehrgebäude ersonnen und konstruiert. Bezüglich der Geometrie kommt ein zweites, fundamentales Erkenntnisvermögen hinzu: die Auffassung derjenigen gesetzmäßigen Zusammenhänge, die unsere Raumauffassung bedingen. »Beweisen« können wir diese letzten Erkenntnisfähigkeiten oder Erkenntnisfaktoren aber nicht; wir können unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit oder von gesetzmäßigen Zusammenhängen auf nichts zurückführen, das wir noch besser kennen als diese Auffassungen selbst. Die sogenannte Selbstverständlichkeit oder Evidenz ist eine sprachliche Erschleichung eines Beweiselementes, das nicht vorhanden ist. Das besonders Einleuchtende beruht lediglich auf einem, in uns liegenden Gefühl einer gewissen Sicherheit unserer Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit zwischen Größen, Zahlen und räumlichen Größen und Figuren. Ob aber dieser Zusammenhang nur unser subjektives Anschauen oder eine wahre Wiedergabe der Wirklichkeit im absoluten Sinne sei, wissen wir ja nicht. Was der Mathematik gilt, hat auch innerhalb der Logik, der Logistik u. ä. Geltung.
207 Von allen formalen Wissenschaften, der Mathematik, der Logik u. ä. läßt sich mithin feststellen: durchlaufen wir die Gedankenreihen oder Beweisketten dieser Wissenschaften und bemühen wir uns, zum innersten Kern der letzten Fundamente oder Ausgangspunkte des Denkens vorzudringen, stoßen wir auf die im Vorhergehenden beleuchteten Erkenntnisfaktoren: Verschiedenheit, Gleichheit und gesetzmäßigen Zusammenhang, darunter auch auf den Raum, und keiner von ihnen ist an sich Gegenstand eines Beweises. A u c h in der Realwissenschaft sehen wir, daß Erkennen Wiedererkennen ist, und folglich darin besteht, bisher Unbekanntes durch Bekanntes klarzumachen. Die Allgemeinbegriffe wie z. B. Organismus, Tier, Pferd usw. bedeuten also, daß wir, sobald wir einer neuen Erscheinung begegnen, diese in eine im voraus bekannte Gemeinschaftsgruppe verwandter Erscheinungen eingliedern. W i r erkennen an dem einzelnen Pferd gemeinsame Züge wieder, in denen es der Gruppe gleicht. Dieses Phänomen des Wiedererkennens treffen wir nicht nur in diesen Typenvorstellungen, sondern auch in den allgemeinen Eigenschaftsvorstellungen. W e n n wir sagen, daß ein Ding eine Eigenschaft habe, beispielweise weiß, so bedeutet es, daß wir diese Eigenschaft früher oftmals an Dingen gesehen haben und jetzt diesen gemeinsamen Z u g wiedererkennen, in dem die neue Erscheinung den vielen im voraus bekannten Phänomenen gleicht. Und dieses drücken wir in dem Urteil aus, daß das Ding weiß sei. W i e früher dargelegt wurde, erweckt jegliche Veränderung die besondere A u f m e r k s a m k e i t des Menschen; mit ihr ist im Verhältnis zu dem früheren stabilen Zustand etwas Neues eingetreten. Das beunruhigt den Menschen, er fragt: w a r u m ? und ruht und rastet nicht, bevor er das Neue auf etwas zurückgeführt hat, das er im voraus kennt. Dies geschieht in erster Linie durch Analogieschlüsse von etwas, dem Menschen von ihm selbst her Bekanntem aus. Ich beobachte beispielsweise, daß auf W ä r m e das Schmelzen des Bleis folgt. Ich habe die W ä r m e früher ohne die Erscheinung des Schmelzens erlebt; und die beiden Erscheinungen erzählen mir an sich nichts von einander. Ich erkenne nichts, keine Eigenschaft des Schmelzens wieder, die ich schon in der W ä r m e gefunden hätte, so wie ich z. B. die Eigenschaft »einhufig«, die ich gestern bei einem Pferd erkannte, heute nun bei einem anderen Pferde wiedererkenne. Erst wenn ich beide Erscheinungen, die W ä r m e und das auf diese folgende Schmelzen des Bleis auf diejenigen Veränderungen zurückführen kann, die dem Menschen am vertrautesten sind, nämlich auf Bewegung von
208 Körpern, in diesem Falle von Molekülen, bin ich zu der Wiedererkennung gelangt, in der unsere Erkenntnis besteht. Wir begegnen derselben Zurückführung unbekannter Phänomene auf die gleiche bekannte Erscheinung in der modernen Atomtheorie, welche ebenfalls neue Erscheinungen, in diesem Fall Elektrizität, Magnetismus und Radioaktivität, auf dasselbe, uns wohlbekannte Phänomen zurückführt, hier nur mit der Änderung, daß die Bewegung — außer von Jonen — auch von noch kleineren Körpern als den Molekülen, nämlich von Elektronen ausgeführt wird. Alles, was Veränderung, was Bewegung heißt, geht in der Zeit vor sich. Verstehen wir nun die Veränderung, die wir Bewegung von Körpern oder äußeren Gegenständen nennen, besser als andere Veränderungen in der Umwelt? Diese Frage ist unzweifelhaft zu verneinen. Wir verstehen in Wirklichkeit weder Bewegung durch Nahwirkung noch eine solche durch Fernwirkung. Wie ein in Bewegung befindlicher Körper einem anderen Körper durch Stoß »Bewegung mitteilen« kann und wie ein größerer Körper sogar ohne Stoß oder andere Berührung einen kleineren Körper aus weiter Entfernung in Bewegung zu setzen vermag (der Fall eines Steines auf die Erde, das Kreisen der Planeten um die Sonne), ist uns gänzlich unverständlich. Wenn wir Bewegungen von Körpern »bekannt« nennen, bedeutet das lediglich, daß wir von unserem täglichen Leben her mit ihnen vertraut sind — und daher normalerweise nicht tiefer über sie nachdenken. In Wirklichkeit verstehen wir sie nicht und können sie nicht erklären, da wir Bewegungen äußerer Körper nicht auf andere, besser bekannte, äußere Erscheinungen zurückfuhren können. Die kinetische Wärmetheorie und die Atomtheorie tun also in der Tat nichts Anderes, als unsere Unwissenheit zu verschieben und zu vereinfachen. Sie führen zwei oder mehrere unverständliche Erscheinungen — Wärme, Elektrizität u. ä. — auf ein unverständliches Grundfaktum, nämlich auf die Bewegung äußerer Körper, zurück. Wenn wir diese letztere äußere Tatsache verstehen wollen, können wir unsere Zuflucht zu dem einzigen Faktum nehmen, das wir unmittelbar kennen: zu unseren eigenen, psychischen Erlebnissen, d. h. wir können den Kraftbegriff zur Erklärung äußerer Bewegungen in der Umwelt heranziehen, da Kraft die einzige Ursache ist, die wir tatsächlich kennen und zwar von uns selbst her. Diese Krafterklärung ist indessen lediglich unsere Deutung der Bewegungen im Universum. Strenggenommen beobachten wir nur die Bewegungen und im Täglichen die vielen Veränderungen, die die
209 heutige Physik auf Bewegungen zurückführt, und die Regelmäßigkeit in all diesen Bewegungen und Veränderungen. Das Ergebnis ist folglich, daß wir in unserer Erkenntnis auch innerhalb der Realwissenschaft auf jene letzten Erkenntnisfähigkeiten oder Erkenntnisfaktoren, nämlich unsere Wahrnehmung von Gleichheiten und Verschiedenheiten und gesetzmäßigen Zusammenhängen, darunter Zeit und Raum, zurückgeführt werden. Weiter sind wir nicht imstande zu kommen. Selbst in der Welt, die wir am besten kennen, in unserer eigenen inneren psychischen, erleben wir auch nur Sinnesempfindungen und andere Erscheinungen in gesetzmäßigen Zusammenhängen. Wenn wir sagen, daß unsere Muskelkraft unseren Körper oder andere Körper in Bewegung setze, erleben wir nur, daß auf gewisse Empfindungen von Muskelspannung gewisse Bewegungsund Berührungsempfindungen in einem vielfach erfahrenen, gesetzmäßigen Zusammenhang zeitlich folgen. Wie unser Wille — ein rein inneres, psychisches Erlebnis — die sogenannte Muskelkraft hervorrufen kann und wie diese nun wiederum äußere Körper in Bewegung setzen können, wissen wir in Wirklichkeit nicht; und wir wissen auch nicht, wie Körper in der Umwelt durch Bewegung kleinster Teilchen oder des Lichtes unsere Sinne »reizen« und in unserem Bewußtsein Sinnesempfindungen »hervorzurufen« vermögen. Auch hier müssen wir uns damit begnügen, Gesetzmäßigkeiten im Auftreten der Erscheinungen festzustellen. Hier hört unsere Erkenntnis auf und wir können diese Erscheinung nicht auf eine andere zurückführen, die wir besser kennen. Unser gesamtes Erkennen oder Wiedererkennen macht somit schließlich bei den gesetzmäßigen Zusammenhängen halt. Die oben gegebene Untersuchung unserer Erkenntnisfaktoren stellt ja, wie man gesehen haben wird, eine psychologische Untersuchung dar. Und auch während dieser haben wir uns der Erkenntnisfaktoren bedient. Selbst dürfen wir uns folglich keiner Grundlagen-Illusion schuldig machen. Ebenso wie die Naturwissenschaft in ihren Untersuchungen diese Erkenntnisfaktoren: die sinnlichen Wahrnehmungen, die inneren Empfindungen, Zeit, Raum und gesetzmäßigen Zusammenhang verwendet, genau so muß die Erkenntnispsychologie sich dieser Faktoren bedienen und sie als Grundlage aller ihrer Erkenntnisse benutzen. Wir sind einfach nicht imstande anders zu handeln. Daraus folgt aber notwendigerweise, daß wir die Erkenntnisfaktoren selbst nicht — wie die bisherige Erkenntnislehre, und zwar sowohl die empirische als die apriorische, es getan hat — zu kritisieren ver14
Erkenntnis und Wertung
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mögen. Die Naturwissenschaft kann beim Aufbau ihres Weltbildes (in unserer Zeit: der Atomtheorie) weder behaupten, dies Weltbild sei das einzige wahre, die innerste Wirklichkeit des Universums, noch das Entgegengesetzte, nämlich dass die Weltbild subjektiv sei; denn die Erkenntnisfaktoren, die die Naturwissenschaft bei der Ausbildung ihres Weltbildes verwendet hat, ist die Naturwissenschaft selbst nicht zu kritisieren imstande. Aber genau in derselben Weise vermag auch die Erkenntnispsychologie nicht zu behaupten, daß sie bei der Untersuchung und der Darstellung der sechs Erkenntnisfaktoren bis zur innersten Wirklichkeit oder zum Entgegengesetzten vorgedrungen sei, denn bei der erkenntnispsychologischen Darstellung dieser Faktoren verwenden wir innerhalb der Psychologie genau dieselben Faktoren. Jedwede Behauptung, daß diese Faktoren uns die innerste Wirklichkeit des Universums oder das Umgekehrte geben, daß sie oder einige von ihnen subjektiv oder apriorisch seien, ist völlig unbeweisbar, da sie auf der Grundlagen-Illusion beruhen, daß wir imstande wären, die Erkenntnisfaktoren selbst zu beurteilen und zu kritisieren — so wie die bisherige Erkenntnislehre es tut, wenn sie, ohne es zu wissen, eben diese selben Faktoren bei dieser Kritik und dieser Beurteilung verwenden. Und ganz besonders muß bemerkt werden, daß die bisherige Erkenntnislehre nicht imstande sei, mittels eines einzelnen dieser Faktoren die anderen einseitig zu kritisieren, da auch diese Kritik alle die anderen Faktoren verwendet. Wir sind in der Erkenntnislehre durch die psychologische Untersuchung nicht imstande Anderes zu tun, als was die Naturwissenschaft selbst macht. Indem wir uns künftig vollkommen bewußt sein müssen, daß wir bei der Untersuchung und der Darstellung der Elemente oder Faktoren unserer Erkenntnis diese selbst verwenden, können wir bei der Verwendung von ihnen nur das gegenseitige Verhältnis und das Zusammenspiel zwischen diesen Elementen beleuchten und — wie die Atomtheorie der Naturwissenschaft — dadurch lediglich eine gewisse praktische Orientierung in unserem Dasein, aber keine absolute Wahrheitserkenntnis erhalten. Es ist diese und nur diese bedingte Orientierung vom gegenseitigen Zusammenspiel der Erkenntnisfaktoren, aber keine Kritik derselben als Ganzheit, die wir in der folgenden, psychologischen Analyse zu geben versuchen werden. Eine Erkenntnis vom absoluten Wesen unserer Erkenntnis kann diese Orientierung eben so wenig, wie die Erkenntnislehre selbst, uns jemals schenken.
9.
Kapitel
DIE V E R B L A S S T E N V O R S T E L L U N G E N Die Vorstellungen, die Abdrücke konkreter Sinnesempfindungen sind, beispielsweise meine Vorstellungen von einer roten Farbe, einer ovalen Figur oder von einem Ding, einem Baum z. B., haben alle den Vorteil, daß sie anschaulich sind. Solche umfassende Vorstellungen dagegen, wie diejenigen von der äußeren, physischen und von der inneren, psychischen Welt, sind vage, nur schwach umrissen und sehr wenig anschaulich. Diese umfassenden Vorstellungen sind ja keine konkreten Abdrücke bestimmter, sinnlicher Empfindungen, wie z. B. die der gelben Farbe, die ich gestern, oder die des Baumes, den ich vor einer Stunde sah: sie sind vielmehr durch mannigfache Vergleichungen konkreter Dinge, zahlloser Bäume, Häuser, Steine u. s. w. entstanden, indem unsere Unterscheidungs- und Vergleichungsfähigkeit allmählich eine Menge Eigenschaften der Dinge ausschaltet, von ihnen abstrahiert und gleichzeitig an einem einzelnen gemeinsamen Zug festhält, nämlich: daß die Dinge Ausdehnung und Dasein im Raum haben. Das Bewußtsein stellt deshalb diesen Zug als eine große Gleichheit zwischen den mannigfaltigen, sonstigen Erscheinungen fest; und gleichzeitig konstatiert unser Unterscheiden und Vergleichen durch unzählige andere Erfahrungen im gesetzmäßigen Zusammenhang den zweiten, allen jenen konkreten Erscheinungen gemeinsamen Zug, die zweite umfassende Gleichheit fest: daß sie von unserem Wollen und Wünschen unabhängig kommen und gehen. Gleichlaufend mit dieser Ausscheidung der den konkreten Erscheinungen anhaftenden, gemeinsamen und großen Gleichheiten findet eine andere, umfassende Absonderung und Gleichheitsbildung statt, indem die psychischen Erscheinungen sich nämlich, infolge ihrer entgegengesetzten, aber für sie gemeinsamen Züge der Abhängigkeit von unserem Willen und des nicht-räumlichen Charakters als eine selbständige Gruppe entscheidend von den physischen Erscheinungen absondern. Solche umfassenden, Alles einteilenden Vorstellungen, wie die der physi14*
212 sehen äußeren und der psychischen inneren Welt, müssen aber diesem ganzen, äußerst komplizierten Ursprünge nach notwendigerweise außerordentlich vage und unbestimmt werden. Während der umfassenden Ausschaltung oder Abstraktion der zahlreichen, verschiedenen Züge bei den konkreten Dingen und der Hervorhebung der einzelnen Züge der Gleichheit verliert die umfassende Vorstellung allmählich den Kontakt mit den vielen, konkreten Dingen und deren Leben in Farben, Umrissen, u. ä. Diese vielfältigen, konkreten, lebhaften Züge verblassen während des Abstraktionsvorganges und ihre Farben und Umrisse werden immer verschwommener. Unsere Vorstellung von der Umwelt oder vom Stoff im Universum ist freilich nicht völlig färb- und konturlos. Die erstere wird wohl gewöhnlich als ein Bereich unbestimmbarer Ausdehnung angeschaut, das viele vage Gegenstände enthält und im großen Ganzen in ein graues, nebelhaftes Licht gehüllt ist. Der Weltenstoff wird wohl gewissermaßen als eine unbestimmbar große Masse, der Weltenraum als ein gewaltiger, dunkler Raum mit vereinzelten leuchtenden Körpern geschaut. Während die Vorstellungen unserer einzelnen, psychischen Erlebnisse ganz klar und bestimmt sind, erscheint dagegen unsere umfassende Vorstellung vom Psychischen in seiner Ganzheit, von der psychischen Welt, ebenfalls ziemlich vage. Man könnte, um eine kurze Bezeichnung zu finden, diese und ähnliche Vorstellungen, die sich dank der genannten Abstraktion und Gleichheitsbildung immer mehr von der Lebendigkeit der konkreten Sinneseindrücke entfernt haben, verblaßte Vorstellungen nennen. Man versteht nach dem Gesagten besser, daß die neue Erkenntnislehre, die mit Locke, Berkeley und Hume begann, von den sinnlichen Empfindungen ausging und von diesen aus die Vorstellungen beurteilte, denn nur diejenigen Vorstellungen, die Abdrücke konkreter Sinneseindrücke der Dinge und ihrer Eigenschaften sind, sind deutlich anschaulich. Eben diese sind es, an die sich der gemeine Mann im täglichen Leben hält. Von hier aus gesehen ist es denn auch psychologisch erklärlich, daß sich die neue Erkenntnislehre allen verblaßten Vorstellungen gegenüber ablehnend verhielt. Sie ließen sich ja nicht auf konkrete Sinneseindrücke unmittelbar zurückführen und wurden denn auch von diesem Wirklichkeitskriterium aus als Fiktionen betrachtet. Es lag der klaren, einfachen und leichterfaßlichen Psychologie der englischen Erkenntnislehre nicht, den komplizierten Abstraktionsprozess von Gleichheiten und Verschiedenheiten und Gesetzmäßigkeiten, aus denen die verblaßten Vorstellungen hervorgehen,
213 aufzuspüren. Mittels dieser klassischen, einfachen Psychologie und Wirklichkeitsauffassung kam die englische Schule ja den nebelhaften Begriffen der früheren dogmatischen Philosophie, vor Allem dem Substanzbegriff, zu Leibe, der allmählich in so leere Vorstellungen versackt war, wie Spinozas All-Substanz mit ihren Attributen und Modis oder Leibnizens Monaden u. ä. Später aber entdeckt diese englische Richtung, und zwar mit Berkeley, doch am folgerichtigsten mit Hume, daß die gleiche, einfache Psychologie auch den fundamentalen Begriffen der Wissenschaft und des täglichen Lebens von einer äußeren Welt und der entsprechenden inneren, dem Ich, den Garaus machte. Aber da waren jene Denker so weit in den Gedankenkreis dieser Psychologie und der von ihr abgeleiteten Erkenntnislehre hineingeraten, daß es kein Zurück mehr geben konnte, und daß es zu spät war zu fragen, ob denn nicht am Ende ihre Psychologie und ihre Erkenntnistheorie zu einfach, zu elementär aufgefaßt und überhaupt zu schmalspurig sei. Als andere verblaßte Vorstellungen sind ferner unsere gewöhnlichen Allgemeinvorstellungen hervorzuheben, und zwar sowohl unsere Tgpenvorstellungen (von Dingen oder Wesen, wie beispielsweise der Begriff Silber, der Begriff Metall, die Begriffe Pferd, Tier u . s . w . ) als auch unsere allgemeinen Eigenschaftsvorstellungen (Begriffe wie Farbe, Schönheit u . s . w . ) . Je weniger umfassend diese Allgemeinvorstellungen sind, desto weniger verblaßt sind sie auch. Der Allgemeinbegriff Pferd hat beispielsweise dank der vielen konkreten Gesichtsbilder von Pferden, die wie erlebt haben, etwas mehr konkretes Leben bewahrt, als der umfassendere Allgemeinbegriff Tier, von dem noch weiteren Begriff: Lebender Organismus ganz zu schweigen. Der Begriff Silber ist ebenfalls weniger verblaßt als der Begriff Metall, und dieser wiederum noch weniger verschwommen als der Begriff Grundstoff. Natürlich sind die oben erwähnten Vorstellungen von der äußeren und inneren Welt ebenfalls Allgemeinvorstellungen. Sie sind nur noch weit umfassender, als die hier genannten Anderen. Die einfache Psychologie der englischen Richtung vermag in Wirklichkeit auch nicht die gewöhnlichen Allgemeinvorstellungen zu erklären. Locke — und nach ihm Berkeley und Hume — trösten sich zwar damit, daß wir eine einzelne konkrete Sinnesempfindung, z. B. rot, oder einen konkreten Empfindungskomplex wie z. B. Pferd, das ich gestern sah, herausgreifen und als Vertreter der gesamten Gruppe, also des Begriffes Farbe und des Begriffes Pferd, aufstellen.
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In Wirklichkeit kann die elementäre Psychologie der englischen Schule die Allgemeinvorstellung aber nicht erklären. Die stellt nämlich Anderes und mehr dar, als die gewöhnlichen, allgemeinen Vorstellungen, welche Abdrücke konkreter, einfacher oder zusammengesetzter Sinnesempfindungen sind. Sie drückt zugleich aus, daß unser Bewußtsein zwischen jenem konkreten Bilde und der Gesamtgruppe der vielen, einander gleichenden Dinge, als deren Repräsentant oder gemeinsames Symbol sie aufgestellt wird, unterscheidet. Wenn unser Bewußtsein ein konkretes Ding als Vertreter für eine ganze Gruppe und als deren Typus, das heißt deren gemeinsame Gleichheiten, aufstellt, so ist das ein komplizierter Denkvorgang, bei dem wir von einer Unzahl konkreter Verschiedenheiten absehen oder abstrahieren, indem die Eindrücke der konkreten Dinge immer verschwommener werden, die in dieser Weise entstandene vage, verblaßte Typenvorstellung in der Erinnerung bewahren. Frithiof Brandt hat betont, daß die artenbildende psychische Tätigkeit bereits auf einer sehr frühen, primitiven Stufe, bei dem heutigen Menschen unbewußt, instinktiv, schon in der Einstellung des Kindes den Erscheinungen, Einzelwesen und Einzeldingen der Umwelt gegenüber einsetze. Außer den beiden Elementen, die die englische Schule im Bewußtseinsleben vorfand, also den einfachen und zusammengesetzten, sinnlichen Empfindungen und den Vorstellungen, die Abdrücke von Sinnesempfindungen sind, mögen sie nun in der gleichen Ordnung, wie jene, oder in neuen Kombinationen, als Phantasievorstellungen, auftreten, gibt es also eine dritte Gruppe intellektueller Phänomene, die verblaßten Vorstellungen, die ein höheres, zusammengesetztes Produkt unseres Vergleichungs- und Unterscheidungsvermögens darstellen. Die Allgemeinvorstellungen, als die Allgemeinbegriffe bewußt ausgestaltet, bilden einen der wichtigsten Faktoren alles höheren, menschlichen Denkens und gehören zu den Grundsteinen jeder wissenschaftlichen Forschung. Die Allgemeinbegriffe gehören zu den Zügen, die das Denken des Menschen grundsätzlich von den engen Vorstellungen der Tiere unterscheiden. Derartige, fein verblaßte Vorstellungen haben die Tiere wahrscheinlich entweder gar nicht oder jedenfalls nur in äußerst geringfügiger, embryonaler Gestalt, denn diese Vorstellungen setzen außer unserem scharf entwickelten Unterscheidungs- und Vergleichungsvermögen ein Erinnerungsvermögen voraus, das heißt:
*) Vgl, Brandt, II, 29 ff.
215 eine Fähigkeit, die Gleichheiten und Verschiedenheiten mannigfaltiger, früherer Eindrücke in einem solchen Umfang im Bewußtsein zu bewahren, wie nur der Mensch sie zu entwickeln imstande war, während die Tiere lediglich auf äußerst begrenzten Gebieten ein Erinnerungsvermögen besitzen. Die Allgemeinbegriffe ermöglichen es uns, das gesamte Universum zu umfassen, es in größere oder kleinere Gruppen einzuteilen, uns in den unermeßlichen Erfahrungsbereichen des Weltalls zurechtzufinden. Mit ihrer Hilfe können wir, wie mit der Wunderlampe Aladdins, nach Gutdünken bald diese, bald jene Gruppe von Erscheinungen des Alls herbeirufen, können sie je nach unserem praktischen oder wissenschaftlichen Bedarf bald in diesen, bald in jenen Zusammenhang bringen. Es war daher nicht unberechtigt, als Piaton in dichterischer Vision in den Allgemeinbegriffen, den Ideen, das Göttliche im menschlichen Geist erblickte. Diese fein abgetönten Vorstellungen, mit deren Hilfe wir uns über das unendliche Gewirr verschiedenartiger, bunter Eindrücke der Sinnenwelt erheben und es beherrschen, gehören zu den Adelszeichen des Menschen. Was die Allgemeinbegriffe betrifft, haben Nominalisten und Realisten beide sowohl Recht als Unrecht. Die Nominalisten sind darin im Recht, daß wir in der Erfahrung, in unseren bisherigen, zusammenhängenden Sinnesempfindungen niemals dem Typus, dem Allgemeinbegriff — z. B. dem Typus Pferd, Tier, Pflanze — sondern immer nur den konkreten sinnlichen Bildern der einzelnen Pferde, Tiere, Pflanzen u. s. w. begegnen. Aber Piaton hat in seiner Ideenlehre und die Realisten nach ihm haben darin Recht, daß der Allgemeinbegriff dennoch etwas in unserer Erfahrung Wesentliches und Tiefes und — wenn die Erfahrung Erkenntnis verleiht — auch etwas im Dasein Zentrales ausdrückt, nämlich die Gesetzlichkeit, die darin besteht, daß unsere Unterscheidungs- und Vergleichungsfähigkeit überall in der Natur, nicht nur zwischen zwei Sinnesempfindungen oder zwei Sinneskomplexen, sondern zwischen unzähligen derartigen Empfindungen und Komplexen dieselben Gleichheiten und Verschiedenheiten findet. Diese gesetzmäßigen Gleichheiten und Verschiedenheiten in unserer Erfahrung der Natur drückt unser Bewußtsein im Typus, im Allgemeinbegriff aus, so wie unsere Auffassung von Veränderungen eine andere Gesetzmäßigkeit im Universum auffindet, der wir in den sogenannten Naturgesetzen Ausdruck geben. Das Unterscheidungsund Vergleichungsvermögen konstatiert durch die Allgemeinbegriffe — indem eine Reihe von Sinnesempfindungen in der Erinnerung bewahrt werden — nichts Anderes, als Gleichheiten und Verschieden-
216 heiten, die einmal ums andere in gewissen, bisher erlebten Reihen von Sinneseindrücken wiederkehren. Die großzügige Übersichtlichkeit, die wir durch jene fein vertönten und doch auf die sinnlichen Empfindungen genau abgestimmten Vorstellungen, die Allgemeinbegriffe oder Ideen, der Mannigfaltigkeit des Universums gegenüber erhalten, ist also in der Erfahrung selbst und — wenn dieses richtig ist — damit auch in der Natur vorhanden.
Daß wir unseres Ichs als der Einheit unserer Erlebnisse und als etwas von diesen Verschiedenen bewußt sind, stellt eine besondere verblaßte Vorstellung dar, die darauf beruht, daß wir uns gleichzeitig mit den einzelnen, heutigen oder gestrigen Erlebnissen von diesen ausscheiden und uns dadurch gewissermaßen von ihnen befreien, uns über sie erheben. Jedesmal wenn ich etwas denke, fühle oder will, habe ich gleichzeitig eine Nebenvorstellung oder ein Nebenbewußtsein, daß ich es bin und keine andere, von mir verschiedene Person, die als Ich diesen Gedanken, dieses Gefühl oder diesen Willen hat, und daß ich gestern anders dachte, fühlte oder wollte als heute, und dennoch trotz dieses Wechsels das gleiche, von all diesen Veränderungen verschiedenes Ich bin. Das Ich ist sich mit anderen Worten trotz allen Wechsels innerhalb des Seelenlebens, trotz dessen Mannigfaltigkeit, seiner eigenen Identität bewußt. Gleichzeitig habe ich ein Bewußtsein, eine bewußte Vorstellung von meinen einzelnen inneren Erlebnissen, ebenso wie von meinen Sinnesempfindungen der äußeren Welt gegenüber. Von unseren bewußten Selbstwahrnehmungen und unseren bewußten Wahrnehmungen der äußeren Welt aus bilden wir unsere sogenannten Urteile und Meinungen-, und von unseren bewußten Allgemeinbegriffen aus können wir Urteile oder Meinungen über ganze Gruppen von zahlreichen Einzelwahrnehmungen zum Ausdruck bringen, gleichgültig ob diese nun Gruppen äußerer Gegenstände betreffen, indem wir beispielsweise aus dem Begriff Pferd eine einzelne Eigenschaft, z. B. einhufig, ausscheiden, oder ob sie sich auf Gruppen von inneren psychischen Erscheinungen, z. B. Gefühle oder Willensakte beziehen. Das, worauf sich unsere bewußte Vorstellung bezieht — eine physische oder eine psychische Erscheinung —, können wir ihren Gegenstand nennen. Bezüglich unseres Bewußtseins, unserer Urteile und Meinungen über einzelne Gegenstände, seien diese nun physischer oder psychischer Art, gilt die Wesensbestimmung der Wahrheit, die Locke und Kant gegeben haben. Locke sagt, daß die Wahrheit
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oder Falschheit einer Vorstellung ihre Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit etwas außerhalb der Vorstellung Liegendem darstelle (Locke I, 512). In die gleiche Richtung weist Kants Definition: »Wahrheit ist die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand (Kant, III, 78)«. Ein eigenartiges Zeugnis für die Einseitigkeit der Psychologie und der Erkenntnislehre von Berkeley und Hume stellt ihre Verneinung der Vorstellung vom leeren Raum dar. Dieser Raum ist nach der Ansicht jener Denker keine Realität, sondern nur ein leeres Wort. Diese Leugnung ist folgerichtig, denn unsere Vorstellung vom leeren Raum läßt sich von keiner Sinnesempfindung herleiten. Sie entsteht hingegen, soweit mir ersichtlich, durch unser Unterscheiden und Vergleichen. Indem wir unseren Körper bewegen, unterscheiden wir zwischen Bewegungsempfindungen und Berührungsempfindungen; und wenn wir den Zustand, bei welchem wir neben unseren Bewegungsempfindungen keine Berührungsempfindungen erhalten — d. h. daß unser Ich nicht auf Gegenstände im Raum stößt —, mit Zuständen vergleichen, bei denen ab und zu oder auch ständig neben den Bewegungsempfindungen auch gleichzeitig Berührungsempfindungen auftreten, d. h. daß wir auf einige oder viele Gegenstände stoßen, dann erhalten wir im ersten Falle eine Vorstellung vom leeren Raum. Später entdecken wir, daß der scheinbar leere Raum, in dem wir uns bewegt haben — beispielsweise ein leeres Zimmer — dennoch etwas enthält, und zwar Luft; zu einem Erkennen der unsichtbaren Luft gelangen wir aber erst durch einen komplizierten Denkvorgang über Kausalbeziehungen und weitere Vergleichungen und Unterscheidungen zwischen einer Reihe von Wahrnehmungen. Alle Wahrnehmungen aber bestätigen unsere Unterscheidung zwischen dem leeren Raum und den Gegenständen, die er enthält; und es wird festgestellt, daß jedenfalls große Teile des Weltraumes leer sind, also weder Luft noch andere Stoffe enthalten. Die Leugnung der Existenz des leeren Raumes ist ebenso wenig begründet, wie die Verneinung der Existenz der Außenwelt überhaupt und ihrer Verschiedenheit von einer inneren, denn diese entscheidenden Sonderungen fußen alle auf unserem Unterscheidungsund Vergleichungsvermögen, dessen Richtigkeit, wie ich oben nachgewiesen habe, nicht geleugnet werden kann, ohne daß man damit auch gleichzeitig jede Erkenntnis überhaupt verneint (siehe oben S. 186-189).
218 Das mathematische Denken entsteht dadurch, daß wir gewisse Eigenschaften der Dinge, nämlich Größe und Gestalt, und daß Phänomen der Zahl (d. h. die Auffassung mehrerer Gegenstände) aus ihrem Zusammenhang mit anderen Sinnesempfindungen der Dinge ausscheiden. Wir nehmen sie gänzlich aus der Zeit und damit aus aller daraus folgenden Vergänglichkeit, Wandelbarkeit und Veränderlichkeit der Dinge heraus. Unsere Allgemeinvorstellungen von der Größe, Figur und Zahl der Dinge, die wir durch Vergleichungen zwischen zahlreichen Dingen erworben haben, führen wir durch ein scharfes Unterscheiden in eine Vorstellungswelt hinein, in der wir laut Übereinkunft von der Zeit, der Veränderung der Dinge und von den sämmtlichen anderen Eigenschaften (Farbe, Dichte, Wärme etc.) absehen, worauf wir ewige, generelle Urteile über diese wenigen Grundeigenschaften aussprechen können, da wir in dieser unserer eigenen Vorstellungswelt nicht von der Erfahrung abhängig sind, d. h. davon daß unsere Erfahrung von den äußeren Dingen morgen vielleicht ganz anders aussehen sollte, als diejenige, die wir bisher von diesen Dingen gehabt haben. Man pflegt zu sagen, daß wir in der Mathematik die Vorstellungen, die wir aus der Erfahrung, aus der Sinneswahrnehmung gewonnen haben und die niemals vollkommen sind, idealisieren. Beispielsweise führt man an, daß wir in der Erfahrung niemals jene vollkommene Gleichheit finden, die von den Gleichungen der Arithmetik erfordert wird, oder jene vollkommenen Kreise oder Dreiecke, mit denen die Geometrie arbeitet. Dieser vermutete Gegensatz zwischen Idealisierung und Erfahrung ist jedoch kaum richtig. Man verwechselt hierbei die Erkenntnisse, die ein äußerst kompliziertes, physikalisches Wissen uns lehrt, mit dem Augenschein der unmittelbaren Sinneswahrnehmung. Unsere sinnliche Wahrnehmung zeigt uns in der Umwelt gerade recht häufig vollkommene Gleichheiten und vollkommene Figuren. Wenn ich z. B. am Strande einen großen Stein wahrnehme und morgen an dieselbe Stelle zurückkomme und denselben Stein sehe, dann werden, wie oben in anderer Verbindung hervorgehoben wurde, diese beiden Bilder des Steines selbst — wenn nichts Ungewöhnliches hinzukommen ist — eben meiner unmittelbaren Sinneswahrnehmung als vollständig gleich erscheinen. Wahrscheinlich hat die Mathematik ihren Begriff vollständiger Gleichheit eben diesem Eindruck vollständiger Gleichheit in der Erfahrung selbst entnommen. Hierzu bedarf es also keiner Idealisierung unserer Erfahrung. Selbst wo es sich um zwei gleiche Dinge handelt, z. B. zwei gleich große Metallkugeln, wer-
219 den wir durch unsere unmittelbare sinnliche W a h r n e h m u n g oft einen Eindruck vollständiger Gleichheit erhalten. In Wirklichkeit bewegt uns erst eine spätere, sehr eingehende Nachprüfung und ein späteres spekulatives Nachsinnen an Hand der P h y s i k und der Chemie, der Molekular- und der Atomtheorie dazu, unseren unmittelbaren Eindruck vollständiger Gleichheit zu revidieren und anzunehmen, daß in den beiden genannten Fällen dennoch kleine Verschiedenheiten gewesen seien, daß beispielsweise an der einen Kugel Farbtupfen gewesen seien, die die andere nicht aufwies, oder daß bei der Beobachtung desselben Dinges heute andere Molekülstellungen oder weniger Moleküle vorhanden seien als gestern, u. ä. Dasselbe gilt den mathematischen Figuren. W i r bekommen unzweifelhaft hin und wieder eben unmittelbar und unreflektiert einen Sinneseindruck von einem vollkommenen Kreis, beispielsweise vom Vollmond oder von der Sonne, wenn sie gegen Abend blutrot ins Meer sinkt. A u c h hier sind es erst eine spätere, genauere Beobachtung mittels astronomischer Fernröhre und ein späteres, physikalisches Denken, die das Vollkommenheits-ideal der Figuren, das unsere erste unmittelbare W a h r n e h m u n g uns gab, stören. Die Mathematik hat also zur Aufstellung ihrer Ideale vollständiger Gleichheit und vollkommener Figuren einer Idealisierung seitens unseres aktiven Geistes überhaupt nicht bedurft. Die E r f a h r u n g in dem Sinne der unmittelbaren Sinneseindrücke hat ihr Beides geben können. Zwei der Vorstellungen, die besonders stark verblaßt vorkommen, sind die des unendlichen Raumes und die der unendlichen Zeit, der Ewigkeit. Es gibt in der Erfahrung nichts, das diesen Vorstellungen entspräche. Es gibt weder unendliche Zahlen — eine unendlich große Anzahl von Körpern — noch unendlich große Körper oder Räume, noch eine unendlich lange Zeit. Sämtliche Sinneswahrnehmungen zeigen uns nur endliche Zahlen, Größen und Zeiten. W i r kennen auch
Von den Idealisierungen verschieden sind die mathematischen Abstraktionen, beispielsweise die mathematische Linie, die nur Länge, aber keine Breite, die mathematische Fläche, die nur Länge und Breite, aber keine Dicke besitzt u. ä. Mitunter findet man das Wort Idealisierung auch auf diese Abstraktionen angewendet. Dies scheint mir indessen keine richtige Bezeichnung zu sein. Die Abstraktionen wollen lediglich ausdrücken, daß es psychologisch möglich ist zwischen verschiedenen Eigenschaften der Dinge zu unterscheiden und sie dadurch gedanklich streng aus einander zu halten, während eine Vervollkommnung oder Idealisierung dabei durchaus nicht stattfindet.
220 nichts, das ins Unendliche teilbar wäre; daher ist Zenons Beispiel von dem schnellen Achilles, der die Schildkröte niemals einholt, weil er immer nur die Hälfte des Abstandes zwischen sich und der Schildkröte zurücklegt, schon deshalb irreführend, weil wir in der Erfahrung niemals eine unendliche Teilbarkeit von Größen, Abständen oder Ausdehnungen vorfinden. In der Erfahrung läßt sich keine endliche Größe in unendlich viele, kleine Größen oder Punkte aufteilen; keine endliche Linie, keine Strecke hat in der Erfahrung unendlich viele, kleine Punkte, wie der dänische Forscher Hjelmslev mit Recht hervorgehoben hat. Ferner läßt auch die Zeit sich innerhalb unserer Erfahrung nie in unendlich kleine Zeitmomente aufteilen. Durch die sinnliche Wahrnehmung haben wir mithin weder unsere Vorstellung von zeitlicher noch von räumlicher Unendlichkeit gewonnen. Vielmehr verdanken wir sie, meines Erachtens, unserem Unterscheiden und Vergleichen. Denn selbst wenn wir an einen ungeheuer großen Raum denken und uns diesen vorstellen wollen, wird unsere unterscheidende Fähigkeit sofort eine scharfe Grenze zwischen diesem und etwas außerhalb des Raumes ziehen, und selbst wenn wir uns einen weiteren Raum hinzudächten, würden wir wiederum zwischen diesem erweiterten Raum und etwas außerhalb dieses Raumes Seiendem unterscheiden und jene Räume einander gegenüberstellen und vergleichen u. s. w. Wir können unseren Raumvorstellungen nicht beliebig Einhalt gebieten, da unser Unterscheiden beständig neue Räume hinzufügen und den früheren gegenüberstellen würde. Hier ist vielleicht gemeinsam mit unserer unterscheidenden und vergleichenden Fähigkeit ein die Wirklichkeit weiterführendes Anschauen oder Phantasieren am Werke, eine Phantasie, die also im Gegensatz zu der Phantasie im gewöhnlichen Sinne steht, die eben darin besteht, daß wir die Elemente unserer sinnlichen Erfahrung anders zusammenstellen, als sie in dieser Erfahrung kombiniert sind, indem wir beispielsweise einen Pferdekörper und einen Menschenkopf zu einem Kentaur verbinden. übrigens gibt die sinnliche Wahrnehmung unserem Unterscheiden und unserem, die Wirklichkeit fortsetzenden Anschauen oder Phantasieren insofern unaufhörlich Recht, als die Beobachtungen der Astronomie zeigen, daß mit den größeren Fernröhren auch der Weltraum uns immer größer erscheint; so sind wir dank der heutigen, enormen Fernrohrlinsen imstande, im Himmelsraum märchenhafte Abstände von vielen hundert Millionen Lichtjahren festzustellen. Ob aber der Weltraum wirklich unendlich oder endlich sei, steht dahin.
221 Es sind die gleichen, seelischen Faktoren, unser Unterscheiden und Vergleichen und das die Wirklichkeit •weiterführende Anschauen oder Phantasieren, die auch unsere Vorstellung von der Unendlichkeit der Zeit, nämlich der Ewigkeit, geschaffen haben. — Von denselben Fähigkeiten aus können wir immer weiter endliche Größen bis ins Unendliche teilen, d. h. bis unser Unterscheiden und Anschauen dieser Wirksamkeit müde wird. So stark verblaßte Vorstellungen, wie die des unendlichen Raumes und der Ewigkeit, können wir natürlich in keiner bestimmten oder konkreten Form anschauen; wir bedienen uns einiger außerordentlich vager Gesichtselemente, unbestimmbar grauer oder dunkler, konturloser Räume oder Linien, um uns den unendlichen Raum oder die unendliche Zeit, die unser unterscheidendes Denken und Phantasieren allein geschaffen haben, zu vergegenwärtigen. Der Umstand, daß unser Geist sich einerseits nicht denken oder vorstellen kann, daß der Raum oder die Zeit aufhöre oder daß eine Größe nur bis zu einem gewissen Punkt teilbar sei, daß wir uns aber andererseits weder den unendlichen Raum, die unendliche Zeit, die unendliche Teilbarkeit, noch die unendlich kleinen Punkte vorstellen können, zeigt, daß wir die Grenze unserer Erkenntnis erreicht haben. Es ist möglich, daß unsere Auffassungen von Raum und Zeit subjektiv sind; aber wir wissen nichts darüber. Alles Denken über diese Probleme ist, wie früher betont wurde, unbeweisbare Spekulation. In unserer Erfahrung können wir lediglich mit endlichen Räumen, endlichen Zeiten und endlichen, kleinen Größen arbeiten, denn sie enthüllt uns immer nur endliche Räume, endliche Zeiten und Größen. Was wir gemeinhin Phantasie nennen, nämlich das kombinierende Vorstellungsvermögen, ist ohne die Unterscheidungsfähigkeit undenkbar. Wir scheiden einzelne Elemente unserer Erlebnisse aus der Ganzheit des Erlebnisses, reißen sie aus dieser Ganzheit — z. B. den Oberkörper eines Menschen — und setzten sie darauf mit Eindrücken anderer Erlebnisse, mit Elementen, die ebenfalls aus dem Zusammenhang — wie z. B. die Beine eines Tieres — losgerissen sind, zusammen und bilden in dieser Weise die Phantasiefigur »Faun«. Man ist in der Philosophie vielfach geneigt gewesen, eine der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten auf Kosten der übrigen zu überschätzen. Das gilt besonders der Fähigkeit des Zusammenfassens und des Vergleichens. Dieses führt nämlich zu einer Vereinfachung der Begriffe und damit auch dazu, daß wir das Dasein in immer größeren Einheiten auffassen, ja als äußerste Konsequenz sogar zu einer Auffassung des
222 gesamten Universums durch einen einzigen Einheitsbegriff. W i r begegnen dieser Tendenz beispielsweise in Spinozas Allsubstanz, in Hobbes materieller Substanz, in den allumfassenden Begriffen der romantischen Philosophie. Ihnen allen ist ein übersehen oder Eliminieren der Verschiedenheiten des Daseins gemeinsam. Das zusammenfassende und vergleichende Vermögen wird auf Kosten der Unterscheidungsfähigkeit überbetont. In dieser Weise verschwinden alle Verschiedenheiten z. B. in der allumfassenden Substanz Spinozas. Wahrscheinlich machen sich hier oft individuelle Züge in der geistigen Veranlagung der einzelnen Philosophen geltend. Einige sind synthetisch veranlagt, d. h. sie sehen in überwiegendem Grade die Gleichheiten, die gemeinsamen, die allesumfassenden Züge des Daseins. Andere sind analytisch veranlagt; sie sind geneigt, überwiegend die Verschiedenheiten zu sehen. Nur selten herrscht Gleichgewicht zwischen diesen Anlagen. Den übertrieben analytisch Veranlagten zerfällt die W e l t in unzählige kleine Stücke in chaotischer Verwirrung — es fehlt ihnen an überblick und festen Linien des Stoffes. Die übertrieben synthetischen Naturen haben keinen Sinn für die tiefgehenden Verschiedenheiten und die feinen Abstufungen des Lebens; ihre allumfassenden Begriffe sind leer. Sie sehen nicht, daß ein Begriff um so inhaltsloser wird, je umfassender man ihn auffaßt. Alle Verstandestätigkeit kann wohl als Zusammenfassung aufgefaßt werden. Selbst in unserem Unterscheiden zwischen zwei einfachen Sinnesempfindungen, beispielsweise zwischen Rot und Gelb, liegt, wie früher hervorgehoben wurde, ein gleichzeitiges Zusammenfassen und Festhalten beider Sinneseindrücke im Bewußtsein vor, da die gelbe Farbe, die ich im Augenblick empfinde, sich von der roten überhaupt nicht unterschieden lassen würde, hätte ich nicht jetzt, im selben Augenblick, eine Empfindung oder Vorstellung »Rot«. Diese Zusammenfassung, oder mit einem F r e m d w o r t : diese Synthese spaltet sich aber gerade in zwei tief verschiedene Arten, nämlich in Unterscheiden und Vergleichen. Im oben genannten Falle besteht die Zusammenfassung oder Synthese in einem Unterscheidungsakt; eben so h ä u f i g aber besteht sie in einem A k t des Vergleichens, einem Feststellen von Gleichheit z. B. zwischen der roten Blume, die ich gestern sah, und derjenigen, die ich heute betrachte. Dem W o r t »Synthese« ist indessen eine besondere Bedeutung beigelegt worden, die einseitig die Gleichheit, die Einheit betont, die an sich nicht im Worte selbst liegt. Man spricht von allesumfassenden Synthesen als Ziel unserer Erkenntnis. Das ist unrichtig. W i r wissen nicht das geringste darüber,
223 ob Gleichheiten eine wahrere Erkenntnis geben als Verschiedenheiten, wie beispielsweise j e n e zwischen der äußeren und der inneren Welt, zwischen dem Physischen und dem Psychischen, die überbrücken zu wollen die reine leere Spekulation wäre; weiterhin existiert innerhalb des Physischen j e n e grundlegende Verschiedenheit zwischen der organischen und der anorganischen Welt, zwischen denen es jedenfalls bisher nicht möglich war, eine Verbindung zu finden; innerhalb des Psychischen liegen die tiefen Verschiedenheiten zwischen sinnlichen Empfindungen und Vorstellungen, zwischen diesen und Gefühlen, zwischen Lust und Unlust u. s. w. Mach betont, daß die Erkenntnis eine Vereinfachung der Mannigfaltigkeit der verschiedenen Tatsachen des Daseins anstrebe; und darin liegt der richtige Gedanke, daß wir uns, vor Allem durch die Allgemeinbegriffe, einen überblick über größere oder kleinere Bereiche des Daseins zu verschaffen suchen. Diese Vereinfachung darf jedoch nicht im Übermaß betont werden. Die Allgemeinbegriffe stellen lediglich Gleichheiten innerhalb jener Bereiche fest, wo die Sinneswahrnehmungen Gleichheiten aufweisen, konstatieren aber auch gleichzeitig Verschiedenheiten im Verhältnis zu den größeren und kleineren Gebieten, die von anderen Allgemeinbegriffen beherrscht werden. Es sind mit anderen W o r t e n der Vereinfachung Grenzen gesetzt. Meyerson erstrebt in Wirklichkeit ebenso die Vereinfachung, wie Mach es tut, mag er sich von dessen Grundanschauung auch noch so weit entfernt glauben. J e n e Identität, die Meyerson überall im Universum sieht, indem er alle Veränderungen auf Bewegungen derselben ewigen, unveränderlichen Partikeln oder auf die Entfaltung derselben ewigen Kräfte zurückführen will, bedeutet die Anstrebung einer durchgreifenden Vereinfachung des Universums. Dessen große, fundamentale Verschiedenheiten, ins besondere in Bewegungen und Anzahl der Einheiten, zeigen aber, daß unsere
Bekanntlich arbeitet man innerhalb jenes Zweiges der Mathematik, der Infinitesimalrechnung (Integral- oder Differentialrechnung) genannt wird, gedanklich mit unendlich vielen und unendlich kleinen Größen. Schon Galilei stieß hier auf das Unendlichkeitsproblem in dem Paradoxon, daß die unendliche Menge aller positiven Zahlen (1, 2, 3 u.s.w.) ebenso groß sei wie die entsprechende Menge aller Quadratzahlen (2, 4, 16 etc.), obgleich diese nur einen Teil der ganzen Zahlen bilden. Galilei löste dieses Paradoxon mit der Betrachtung, daß unsere Vorstellungen »ebenso groß« und »Teil« zur Anwendung auf endliche Mengen definiert seien und sich auf unendliche nicht anwenden ließen.
224 Erkenntnis selbst in unserer Auffassung der Tiefen des Universums nicht nur auf enorme Gleichheiten, sondern auch auf entscheidende, unausrottbare Verschiedenheiten stößt. Im menschlichen Geist liegt das Bedürfnis, zu einem endlich abschließenden Begriff zu gelangen, zu dem alle Gedankenreihen hinführen, er sucht einen Alles umfassenden Gedanken oder Begriff, in dem er Ruhe finden kann, statt immerfort (in einem sogenannten Regreß) von Gedanke auf Gedanke schließen zu müssen. Die Idee eines solchen allumfassenden Begriffes beruht indessen auf einer Illusion. Die Erfahrung zeigt, daß die Weltanschauungen wechseln. Die alten griechischen Naturphilosophen und die spekulativen Systemphilosophen des 16. und 17. Jahrhunderts mußten ebenso wie die Romantiker des 18. Jahrhunderts mit ihren weltumspannenden Anschauungen alle dem Gesetz der Vergänglichkeit unterliegen. Die moderne Naturwissenschaft, die sich auf den materiellen Teil des Daseins beschränkt hat, hat für diesen ebenfalls eine Weltanschauung gestaltet. Ob aber diese Weltanschauung, die moderne Atomtheorie, bestehen bleibt, wissen wir nicht. Die Naturwissenschaft hat j a auch früher solche umwälzende Änderungen ihres Weltbildes, wie den Übergang vom ptolemäischen zum kopernikanischen, erleben müssen. Ein Festes, Unveränderliches läßt sich somit in einem umfassenden, abschließenden Begriff, in diesem oder jenem Bild des Weltalls kaum finden, wohl aber in den fundamentalen, menschlichen Erkenntnisfähigkeiten oder Erkenntnisfaktoren, die unsere gesamten Anschauungen, sowohl den mehr als auch den weniger umfassenden hervorbringen und die nach immer neuer Prüfung bald diese, bald jene Anschauung ändern oder revidieren; es sind die Erkenntnisfaktoren 1—6, s. o. s. 141. Diese Erkenntnisfähigkeiten bestehen, die Weltanschauungen vergehen.
10. Kapitel
K A N N DIE W I S S E N S C H A F T B E G R Ü N D E T W E R D E N ? W I S S E N UND W E R T U N G In aller Wissenschaft, sowohl in den formalen als auch in den realen Wissenschaften, führt — wie oben festgestellt — jedes Wissen, jede Erkenntnis, jede Beweisführung, als eine Wiedererkennung von Glied zu Glied, schließlich auf die hervorgehobenen letzen Grundfähigkeiten oder Erkenntnisfaktoren zurück (s. 141 f f . ) . Aber diese letzten Erkenntnisfaktoren, diese Grundvorstellungen jeder Wissenschaft und alles Wissens: Gleichheit und Verschiedenheit und gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen unseren Erlebnissen (darunter Zeit und Raum) selbst können durch keinerlei Art weiterer Wiedererkenntnis-vorgänge bewiesen werden; hinter ihnen gibt es nichts Weiteres, das zu erkennen oder wiederzuerkennen wäre. Bei diesen Grundvorstellungen bleiben alle Gedankenreihen, alle Beweisketten stehen. Weiter vermögen wir gar nicht zu kommen. W i r wissen, wie hervorgehoben, gar nichts davon, ob diese letzten Vorstellungen uns eine wahre Erkenntnis, ein Bild des Daseins an sich vermitteln oder nicht. Wenn wir jegliche Art von Grundlagen-Illusion vermeiden wollen, müssen wir — wie ich oben dargetan habe — ganz offen einräumen, dass wir bei unserer psychologischen Erkenntnis der Erkentnisfaktoren diese selbst tatsächlich verwenden. Und genau wie die Naturwissenschaft, die diese Faktoren ja ebenfalls verwendet, deshalb außerstande ist zu behaupten und noch weniger zu beweisen, daß ihre Erkenntnis der Welt uns das innerste Wesen derselben zeige, genau so verhält es sich mit der psychologischen Erkenntnislehre, die ebenso wenig zu behaupten oder zu beweisen vermag, daß diese Lehre uns das innerste Wesen unserer Erkenntnis enthülle. In beiden Fällen stehen wir offenen Fragen gegenüber. Zur Behauptung des Sokrates, daß wir nichts wissen, muß gesagt werden, daß wir nicht einmal dies wissen. Wenn diese letzten Erkenntnisfaktoren, die Grundlagen der ganzen Wissenschaft, also selbst nicht wissenschaftlich, durch die gewöhnlichen, allgemein anerkannten Wiedererkennungsmethoden zu bewei15
Erkenntnis und Wertung
226 sen sind, heißt dies dann, daß alle Wissenschaft, die einen so wesentlichen Teil der Kultur der gesamten Menschheit einnimmt, letzten Endes im völlig Ungewissen und Unsicheren schwebe? Heißt es, daß infolge dieses ungewissen Zustandes der Wissenschaft für die subjektivsten und willkürlichsten Gedankenrichtungen in Wirklichkeit freie Bahn sei, daß die Wahrheit, wie ja auch gesagt worden ist, in der Subjektivität bestehe, daß die mystischen Vorstellungen gewisser sozialer und religiöser Richtungen ebenso gut seien, wie die Grundvorstellungen der Wissenschaft, da keine von ihnen bewiesen werden können? Die fanatischen und extremen Richtungen unserer Zeit, denen eine Menge unbeweisbarer, mystischer, aber unbedingt selbstsicherer Meinungen eingewoben sind, behaupten ja in der Tat, daß Wissenschaft im Sinne einer objektiven, wissenschaftlichen Wahrheit nicht bestehe und daß die Einseitigkeit die Stärke sei; und diese radikalen Richtungen suchen auf sozialen, moralischen, religiösen und wissenschaftlichen Gebieten allen Anderen ihre Anschauungen aufzuzwingen, das gesamte geistige Leben, auch die Wissenschaft, gleichzuschalten. Und der einzige Beweis für die Richtigkeit ihrer Anschauungen bleibt danach, daß sie durch Gewalt tatsächlig siegen und Allen aufgezwungen werden. Kann man aber diesen Richtungen überhaupt etwas vorwerfen? Wenn Nichts, auch nicht die Ergebnisse der Wissenschaft bewiesen werden können, beruhen diese und alle anderen menschlichen Ansichten in Wirklichkeit nur auf dem Glauben; und wenn Alles in dieser Weise zur Glaubenssache wird, wird die Bahn für alle Glaubensrichtungen, die am meisten entgegengesetzten und die allerextremsten, sowohl sozialen als auch religiösen und anderen, frei. Und das Kriterium ihrer Wahrheit kann deshalb nur sein, ob es ihnen faktisch gelingt, alle Anderen gleichzuschalten und unter ihre Herrschaft zu bringen. In der ganzen gewaltigen Krise sowohl auf politischem, sozialem, religiösem als auch allgemein geistigem Gebiet, die unsere Zeit jetzt durchmacht, wird dieses Problem nicht nur für die Wissenschaft, sondern für die künftige Kultur der gesamten Menschheit eine Schicksalsfrage. Dieses Problem von der Grundlage oder der fehlenden Grundlage unserer gesamten Erkenntnis ist selbverständlich an keine bestimmte Zeit gefesselt, selbst wenn das Problem in der großen Kulturkrise unserer Zeit eine besondere Schicksalsbedeutung für die Menschheit besitzt. Das Problem selbst ist ewig. Es bestand zur Zeit eines Sokrates und zu der Lockes. Es hat Gültigkeit in unserer Zeit und
227 wird es auch in der Zukunft haben. Aber bisher wurde das Problem nicht richtig formuliert. Nach meiner Auffassung muß es folgendermaßen formuliert werden: Wenn die letzten Erkenntnisfaktoren, also die fundamentalen Vorstellungen, auf denen alle Wissenschaften beruhen, nicht durch die eigenen Methoden der Wissenschaft, auf ihren gewohnten Erkenntniswegen, zu beweisen sind, können sie dann in anderer Weise begründet werden? Hierauf können wir nur die Antwort geben, dass wir psychologisch bei der Verwendung unserer Erkenntnisfähigkeiten selbst nur einen weiteren Versuch machen können, uns in dieser Frage zu orientieren. Im Folgenden werde ich diesen Versuch unternehmen, aber ob diese Orientierung uns die Wahrheit in bezug auf unsere Erkenntnis geben werde, wissen wir genau so wenig, wie die Naturwissenschaft weiß, ob ihre Orientierung mittels derselben Faktoren uns durch die Relativitätstheorie und die Quantentheorie die wahre Erkenntnis vom Wesen des Universums zu geben vermag. Wir können nichts Anderes tun, als unsere Erkenntnisfähigkeiten, diese Faktoren, fortgesetzt zu benutzen. Aber wie Newton müssen auch wir bescheiden einräumen, daß das unendliche Meer der Wahrheit unsren Augen verborgen bleibt. In der folgenden, weiteren, relativen Orientierung innerhalb der Erkenntnispsychologie kann ich lediglich versuchen mehrere psychische Erscheinungen in die Untersuchung mithineinzubeziehen, als es bisher getan wurde. Dadurch wird es vielleicht gelingen, unseren Horizont in ähnlicher Weise zu erweitern, wie es die neueste Athomtheorie versucht hat, aber allerdings ohne irgend wie zu behaupten, daß von einer absoluten Erkenntnis des Universmus oder dem Wesens unserer Erkenntnis die Rede sei. Ein wesentliches Hindernis eines weiteren Horizonts innerhalb der Erkenntnislehre bestand bisher darin, daß Menschen sowohl in bezug auf die Wissenschaft als auch auf allgemeine Anschauungen oft nur stückweise, in Rubriken, und nicht in den großen Zusammenhängen denken, die im Dasein selbst auch zwischen den fundamental verschiedensten Gebieten stets zu finden sind. Innerhalb der Wissenschaft geschieht außerdem das Sonderbare, daß es oft die bedeutendsten und schärfsten Denker sind, die die tiefsten Trennungen zwischen den Phänomenen festlegen, Trennungen, die dank der Autorität ihrer Urheber zu einer dauernden Trennung, wie zwischen zwei Welten, die nichts miteinander zu tun haben, führen, so daß niemand mehr daran denkt, von der einen dieser Welten in die andere hinüberzublicken. Und nie15*
228 mandem fällt es ein, daß es im Leben selbst einen innigen Zusammenhang zwischen den beiden, durch die Menschen getrennten Lebensgebieten gibt. Was das Leben zusammengefügt hat, sollen die Menschen nicht trennen. Das geschieht aber oft auf diesem Gebiete und zwar durch bruchstückweises Denken seitens der bedeutendsten Philosophen. Es ist duchaus verständlich, daß eben die klarsten und gründlichsten Denker eine Neigung haben, scharfe Trennungen zwischen den Erscheinungen festzulegen und zwar aus einem natürlichen Bedürfnis die Phänomene gut zu ordnen und auf den richtigen Platz zu setzen. Einige dieser scharfen und tiefen Trennungen sind richtig und bleibend, andere aber sind es nicht und sie müssen deshalb nach einer noch tieferen Untersuchung verworfen und beseitigt werden. Es ist im Vorhergehenden gezeigt worden, wie jene scharfe Trennung, die die großen Denker des 18. Jahrhunderts, Locke, Berkeley, Hume und Kant zwischen zwei anscheinend tief verschiedenen Teilen unserer Erkenntnis, den sinnlichen Empfindungen und den Relationen, festgestellt haben, die unglücklichsten Konsequenzen nach sich zogen und der ganzen Erkenntnislehre des 18., 19., und 20. Jahrhunderts eine völlig schiefe Einstellung verlieh, die bis heute vorgeherrscht und die das Denken in eine Reihe von Grundlagen-Illusionen und schließlich sogar in eine allgemeine, geistige Verwirrung geführt hat, die zu gänzlich unnatürlichen und unbegründeten Behauptungen über Grundbegriffe wie die äußere Welt, die innere Welt, den Grundbegriff der Wirklichkeit, die Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit u. ä. leitete. Aber es gibt eine andere gewaltige Trennung, auf die bereits die Denker älterer Zeiten zum Teil eingegangen waren, die aber durch die umfassendere und mehr systematische Bearbeitung der Erkenntnispsychologie stark vertieft wurde, zu der die obengenannten Philosophen des 18. Jahrhunderts die Grundlage gaben. Auch diese tiefe Trennung hat im hohen Maße das Denken bis heute geprägt. Es dreht sich dabei um die Trennung zwischen Erkenntnis, Gefühl und Wollen innerhalb des menschlichen Bewußtseinslebens oder — wenn man eine Zweiteilung verwendet — die den Gegensatz zwischen der Erkenntnisseite und der anderen Seite der menschlichen Natur feststellt — um die Trennung zwischen dem Vorstellungsleben im weiteren Sinne, d. h. Sinnesempfindungen, Vorstellungen und Relationen, und dem Gefühls- und Willensleben. Diese beiden Seiten der menschlichen Natur sind aber in Wirklichkeit eben so wenig zu trennen, wie die Sinnesempfindungen und die
229 Relationen, sondern gehören alle organisch genau zusammen wie diese Beiden. Unsere Erkenntnis kann, zutiefst gesehen, von Gefühl und Willen nicht getrennt werden. Meiner Auffassung nach würden unsere wissenschaftlichen Grundbegriffe ohne diese gefühlsmäßige und willensmäßige Reaktion des menschlichen Geistes überhaupt nicht entstehen können. Im Vorhergehenden habe ich zu beweisen versucht, daß nicht einmal unser wissenschaftlicher Grundbegriff, die Wirklichkeit, entstehen könnte, wenn unsere Fähigkeit des Unterscheidens und des Vergleichens nicht in den Erfahrungen der Jahrtausende zwischen den Sinnesempfindungen, die unabhängig von unserem Willen kommen und gehen und das eine Mal nach dem anderen keine Befriedigung unserer Lebensbedürfnisse geben, sondern sogar Gefühle des Schmerzes oder der Unlust verleihen, und den entgegengesetzten Zuständen gesondert hätte. Ferner habe ich meines Erachtens bewiesen, daß unser Kausalitätsbegriff, unsere Erkenntnis des gesetzmäßigen Zusammenhanges zuallererst und zutiefst aus unseren Erlebnissen des Schmerzes und unserer Willensentschlüsse entstehe. Das Gefühls- und Willenselement ist aber, wie ich jetzt zu beleuchten versuchen werde, noch tiefer mit der menschlichen Erkenntnis verwurzelt und wahrscheinlich sogar mit jeder sinnlichen Empfindung und jeder Relation untrennbar verbunden. Wenn wir während der Entwickelung des menschlichen Geistes durch die Jahrtausende allmählich dazu gekommen sind, sinnlich wahrzunehmen, zwischen den einzelnen Sinnesempfindungen zu unterscheiden und sie zu vergleichen, sie nach Verschiedenheiten zu gruppieren (Allgemeinbegriffe) und sie in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang aufzufassen, kann, zu tiefst gesehen, das einzige Motiv dazu, die einzige Begründung dafür die sein, daß dieses Wahrnehmen, dieses Unterscheiden, dieses Vergleichen und diese Erkenntnis einer Gesetzmäßigkeit stets von Gefühlen begleitet wurden, die für die Menschheit im Laufe der Zeiten und in einer Summe gesammelt überwiegend solche der Zufriedenheit waren. Wenn man andere Erklärungen sucht, wird es sich zeigen, daß sie nur Umwege sind. Folgt man ihnen bis zum Letzten, endet man schließlich doch bei der jetzt gegebenen Erklärung. Von anderen möglichen Erklärungen sind zwei denkbar. Die eine müßte die sein, daß es — wenn wir davon ausgehen, daß es eine äußere Welt gebe — die in dieser seienden Körpern und deren Änderungen, die zwischen ihnen vorhandenen Verschiedenheiten und Gleich-
230 heiten und die gesetzmäßigen Zusammenhänge wären, die uns die sinnlichen Empfindungen und unsere Auffassung der Gleichheiten, der Verschiedenheiten und der Gesetzmäßigkeit zwischen ihnen aufzwingen. Mit dieser ganzen Wirklichkeit haben wir uns gezwungenermaßen abfinden, uns vor ihr beugen und sie in unser Bewußtsein aufnehmen müssen, ohne Rücksicht darauf, ob diese Aufnahme uns ein völlig oder nur teilweise richtiges Bild dieser Wirklichkeit vermittelte. Dazu wäre indessen zu bemerken, daß wir uns letzten Endes deshalb vor dieser Wirklichkeit beugen und uns mit ihr abfinden, weil es für uns das Beste, da wir ja, wie oben angedeutet, durch Jahrtausende oder durch Jahrmillionen erfahren, d. h. durch Schmerz und Lust, durch unzählige Erlebnisse in Leid und Befriedigung empfunden haben, daß diese äußere Wirklichkeit, unsere Sinnesempfindungen im Zusammenhang der Relationen, der beste Boden sei, auf dem wir unser Leben und unsere gesamte Tätigkeit aufbauen müssen, wenn wir die größtmögliche Befriedigung unseres Bedarfes und die relativ wenigsten Leiden erreichen wollen. Die andere mögliche Erklärung ist diejenige Kants, die darauf hinausgeht, daß unsere Auffassung von Gleichheit, Verschiedenheit und Kausalzusammenhang, Raum und Zeit allgemeine und notwendige Formen unserer Erkenntnis seien, da die Struktur unseres Verstandes solcher Art sein solle, daß er nur imstande sei, durch Gleichheiten und Verschiedenheiten, durch Kausalzusammenhang und durch Raum und Zeit aufzufassen. Dazu sei aber gleich bemerkt, daß die ganze Betrachtung Kants — gänzlich davon abgesehen, daß man nicht beweisen kann, daß Gleichheit und Verschiedenheit, Kausalzusammenhang u. ä. ausschließlich Formen seien, die durch die Struktur unseres Verstandes begründet sind — das darstellt, was ich eine Isolationsbetrachtung nennen möchte, d. h. eine Betrachtung, die sich ausschließlich auf ein einzelnes Gebiet, hier also die intellektuelle Seite, die Erkenntnisseite der menschlichen Natur beschränkt, obgleich dieses Gebiet innerhalb der Problemstellung organisch mit der anderen Seite, der Gefühls- und der Willensseite dieser Natur genau zusammenhängt. Wenn Gleichheit und Verschiedenheit, Kausalzusammenhang u. ä. nur Formen wären, die ausschließlich in der Struktur unseres Geistes begründet lägen, aber niemals Gefühle der Befriedigung, sondern immer nur solche des Entgegengesetzten, nämlich des Schmerzes und der Unlust hervorriefen, würde unser Organismus unzweifelhaft auf die Dauer diese Formen ändern oder aufgeben; sie wären überhaupt niemals im Laufe der Entwickelung des menschlichen Gehirns
231 durch die Jahrtausende als Erkenntnisfähigkeiten entstanden, hätten sie nicht während dieser langen Zeit dem Menschen überwiegend Gefühle der Befriedigung seines Bedarfes vermittelt und damit übereinstimmende Willensentschlüsse hervorgerufen. Also: gleichgültig, ob unsere Erkenntnisfaktoren, die Wahrnehmungen im Zusammenhange der Relationen, und damit unsere gesamte Erkenntnis einer Beeinflussung unseres Geistes durch die Umwelt entstammen oder durch eine Mischung beider Teile hervorgebracht sind, ist letzten Endes kein anderes Motiv oder keine andere Begründung unserer Erkenntnis und ihrer Faktoren denkbar, als Gefühle und Willensentschluüsse. Selbst der grundlegende Erkenntnisbegriff, der Wirklichkeitsbegriff, ist von unseren Erkenntnisfaktoren 1—6 und deren Zusammenspiel, besonders durch 1 und 2, unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit und Gesetzmäßigkeit geschaffen; aber den W e g zu unseren Erkenntnisfaktoren können wir nur dadurch gefunden haben und sie können nur dadurch begründet werden, daß die Menschheit ihr ganzes Leben hindurch die relativ größte Befriedigung bei der Anwendung eben dieser Erkenntnisfaktoren gefühlt hat. In der Tiefe unseres Seelenlebens sind unser Vergleichen und unser Unterscheiden, unsere Auffassung gesetzmäßiger Zusammenhänge, unsere Gefühle und unsere Willensentschlüsse auf engste mit einander verknüpft; und wir können sie nur durch allzu scharfe Sonderungen, durch Abstraktionen von einander trennen. Jedenfalls verbirgt sich im Zusammenspiel dieser Faktoren ein Grundvermögen, das schwierig zu erfassen und zu definieren ist, das aber in Wirklichkeit wahrscheinlich die Quelle aller menschlichen Erkenntnis und menschlichen Handels darstellt. W i r unterscheiden 1) zwischen den verschiedenen Sinnesempfindungen und zwischen denen unter ihnen, die mit dem Gefühl der Befriedigung oder der Lust verbunden sind, und jenen, die Unlust und Schmerz verursachen; und wenn sie wiederkehren, was sie unaufhörlich tun, erkennen wir sie wieder, d. h. wir finden 2) Gleichheit zwischen den Empfindungen innerhalb dieser beiden Gruppen. Aber gleichzeitig nehmen wir wahr, daß diese Sinnesempfindungen 3) in regelmäßigen Verbindungen mit anderen Sinnesempfindungen zurückkehren, so daß wir im Voraus ahnen, daß in diesen oder jenen Verbindungen oder Reihen Gefühle der Befriedigung oder der Lust, in diesen oder jenen Verbindungen und Reihen aber keine Befriedi-
232 gung oder sogar Schmerz entstehen. Es zeigt sich aber gleichzeitig, daß die menschliche Natur 4) eine Fähigkeit besitze, diejenigen Verbindungen von Sinnesempfindungen von vornherein zu wählen, die Gefühle von Befriedigung verleihen, und jenen zu entgehen, die Unlust oder Schmerz erregen. Man kann diese Wahl schwierig anders denn als einen Willensakt bezeichnen. Aber im übrigen geht dieser gesamte seelische Prozess, den wir hier in vier Glieder aufgeteilt haben, wahrscheinlich in Wirklichkeit als ein kontinuierliches, eng zusammenhängendes Wirken vor sich, bei dem wir uns zwischen den vielen Beziehungen der Sinnesempfindungen vorwärtstasten, wobei wir dann diejenigen herausschälen, unterscheiden und vergleichen, die Lust oder Schmerz geben, und durch die gesetzmäßigen Reihen immer planmäßiger die ersteren wählen. Es ist schwierig, ein Wort zu finden, das diesen kombinierten, psychischen Prozess, dieses Grunderlebnis oder diese Grundeinstellung dem Dasein gegenüber deckt. Vielleicht könnte man das Wort: Vortasten bilden. Darin liegt wie in einem gemeinsamen Keim der Sproß aller menschlichen Erkenntnis und aller menschlichen Handlung. W i r empfinden und fühlen uns im Dasein vor, indem wir instinktiv die Schmerzen vermeiden oder abwehren und die Befriedigung, zunächst aller lebenswichtigen Bedürfnisse, su-
Der Organismus unternimmt instinktiv Stoffwechselbewegungen und überhaupt Bewegungen zur Aufrechterhaltung des Lebens besonders um den dafür nötigen Stoff oder die Ernährung in sich aufzunehmen. Geschieht dies aber nicht, meldet der Schmerz (der Hunger) sich als Gefahrsignal für den Organismus. Die einfachsten Wesen, z. B. die Amöben bewegen sich, indem sie zuerst einen Teil ihres Selbst, einen »Arm« vorwärtsschieben und dann den übrige Teil der Zelle nach sich ziehen, indem der Rest ihres Protoplasmas in diesen Teil hineinfließt. In einigen Fällen sind diese Bewegungen unwillkürliche Stoffwechselbewegungen; in anderen Fällen sind sie Bewegungen, die direkt vom Schmerz verursacht werden, sei es nun durch Angriffe von Außen, durch ungenügende Befriedigung eines lebenswichtigen Bedarfs oder durch das Gefühl der Befriedigung oder der Lust. Die Bewegungen, die die Organismen zur Aufrechterhaltung des Lebens unternehmen, sind überhaupt vielfältig und verschieden: Stoffwechselbewegungen, Wachstumsbewegungen, Bewegungen infolge von Schmerz, Bewegungen um Schmerz, Angriffe von außen abzuwehren, Bewegungen um Lustempfindungen zu erreichen u. a. Es gibt zweierlei Bewegungen: 1) solche, bei denen nur einzelne Teile, aber nicht der ganze Organismus den Platz wechseln, und 2) solche, durch die der ganze Organismus seinen Platz ändert. Die letzteren Bewegungen nennt man lokomotorisch. Pflan-
233 chen. Dieses Vortasten ist wahrscheinlich nicht nur der Lebensnerv in uns, sondern in allen Lebewesen, von den einfachsten Zellen über Planzen und Tiere bis zu dem Menschen. In dem einfachen und primitiven Erlebnis einer Sinnesempfindung der Welt, in einem dadurch verursachten Schmerz, einer abwehrenden Bewegung und in einer Bewegung, um Befriedigung zu erreichen, liegt wie in einer Summe die erste Reaktion alles Lebenden, des gesamten Pflanzen-, Tierund Menschenlebens den Angriffen oder dem Benehmen der W e l t oder des Daseins dem Organismus gegenüber konzentriert. E r s t später sind wir imstande, innerhalb dieses Erlebnisses zwischen der sinnlichen Empfindung, dem Gefühl und der Bewegung zu unterscheiden. Der Organismus tastet sich unwillkürlich zu dem Benehmen vor, das seine Bedürfnisse am besten befriedigt, sei es nun durch Handeln oder durch passive Einstellung. E r erlebt einen Schmerz oder eine Befriedigung und fühlt sich nun unwillkürlich zu denjenigen Elementen seiner Umgebung vor, die Schmerz oder Befriedigung verleihen, also zu dem, was wir später Ursache nennen; und gleichzeitig erlebt er ein instinktives W i r k e n in sich selbst zur Abwehr des Schmerzes oder zur Erreichung der Befriedigung, indem der Organismus in sich die Fähigkeit, Bewegungen innerhalb der Umwelt vorzunehmen,
zen haben natürlich 1) Wachstumsbewegungen (nach unten in den Boden, nach oben gegen das Licht), Stoffwechselbewegungen; viele Pflanzen ziehen sich bei gewalttätigen Eingriffen in ihren Organismus zurück. Aber es gibt sogar Pflanzen, die lokomotorische Bewegungen vornehmen können. Selbst die niedrigsten Tier- und Pflanzenorganismen zeigen ein Benehmen, das auf Selbsterhaltung gerichtet ist. Eine Qualle bewegt sich vorwärts und zieht sich zurück und indem sie das tut, enthüllt sie eine gewisse vage und langsame Empfindung des Kausalzusammenhanges oder des gesetzmäßigen Zusammenhanges mit der Außenwelt, um dadurch Gefahren zu vermeiden oder Befriedigung zu erlangen. Im Folgenden gebrauche ich überwiegend das Wort Befriedigung und nicht Wörter wie Lust, Glück u. ä., da das Wort Befriedigung umfassender ist als jene. Befriedigung lebenswichtigen Bedarfes, z.B. Einnehmen von Nahrung sucht der Organismus, ganz gleich, ob diese Befriedigung an sich im Augenblick der Befriedigung mit irgend einem Lustgefühl verbunden ist oder nicht. Das Wort Befriedigung umfaßt überhaupt sowohl die Entfernung des Schmerzes, darunter auch desjenigen, der einer ungenügenden Befriedigung lebenswichtiger Bedürfnisse entstammt, als auch die Erreichung von Lustgefühlen.
234 entdeckt. Dabei erfährt der Organismus, daß er im Besitz einer gewissen Beherrschung seiner äußeren Bewegungen ist und daß er dadurch bis zu einem gewissen Grade instand gesetzt wird, neue Sinnesempfindungen von außen her zu wählen, und damit den bereits früher erlebten Schmerz zu vermeiden und ein Gefühl der Befriedigung zu erzielen. Auf den höher entwickelten Stufen vollzieht der Mensch diejenige bewußte und dauernde Wahl der Bewegungen auf der Grundlage von Gleichheiten und Verschiedenheiten und gesetzmäßigen Zusammenhängen zur Abwehr von Gefahren und zur Befriedigung der Bedürfnisse und zwar in der Form, die wir Arbeit nennen. Die Arbeit der Menschen enthüllt sich, als Ganzheit durch die Zeiten betrachtet, als ein Vorwärtsarbeiten. Das unsichere Gefühl des triebhaften Vorfühlens wird in immer höheren Maße zu einem planmäßigen und bewußten Vorwärtsarbeiten. Während des Vortastens und während des Arbeitens des Menschengeschlechtes durch die Jahrtausende bahnt sich ein höherer Typ unwillkürlich den Weg nach vorne, ohne daß wir im übrigen imstande sind zu erklären, warum dies geschieht. Wir müssen uns damit begnügen, die Tatsache festzustellen, daß die heutige Menschenart aus einem Typus wie dem des Neandertalers entstanden ist. Während des Vortastens und Vorwärtsarbeitens wird aus dem Urgründe des Lebens ein neuer Menschentypus zwangsläufig gefördert; und es besteht kein Grund zu der Annahme, daß der jetzige, allgemeine Menschentypus die letzte Mutation sein sollte. Im Vortasten sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht voneinander zu trennen. Unaufhörlich erleben wir ein Sondern und ein Vergleichen zwischen Befriedigung und Schmerz und den regelmäßigen Verbindungen, in denen diese beiden Erlebnisse sich mit einander verknüpfen. Wir erleben dieses auch jetzt, in diesem Augenblick, und unwillkürlich projizieren wir diese Erfahrung auf die jetzt kommenden Augenblicke. Aber danach erleben wir in uns eine Fähigkeit, eine Macht, durch einen ungewissen Sprung in die nächste Zukunft eine bestimmte Verbindung zu wählen, Sinnesempfindungen in der bestimmten, gesetzmäßigen Verbindung zu wollen und zu verwirklichen, die sich als diejenige erwiesen hat, die das größte Gefühl der Befriedigung vermittelt. Wir wollen diese Verbindung als etwas künftiges. Dies gilt jedoch nicht nur den äußeren Bedingungen unseres Körpers, sondern auch unseren inneren Zuständen. Wir entdecken beispiels-
235 weise, daß wir bis zu einem gewissen Grade die Fähigkeit besitzen, Vorstellungen, die uns Unlust verursachen, zu unterdrücken oder zu verdrängen und andere Vorstellungen zu wählen, die Lust oder Wohlgefallen vermitteln. Vor allem aber gilt dieses Vermögen der Wahl unserer Erkenntnis selbst. Jeder Sprung in die Zukunft setzt, in der Wahl der äußeren Bewegungen wie auch der inneren Zustände, zunächst voraus, daß wir unserer Fähigkeit zu unterscheiden und zu vergleichen und unserer Auffassung der gesetzmäßigen Zusammenhänge Vertrauen schenken. Warum? Dies kann nur möglich sein, weil wir durch unzählige Fälle des Vortastens während des ganzen Lebens und der gesamten Entwickelung der Menschheit erfahren haben, daß wir die meisten Gefühle der Befriedigung und die relativ geringste Zahl von Leiden mittels unserer Fähigkeit zu unterscheiden und zu vergleichen und Gesetzmäßigkeiten wahrzunehmen, erzielt haben. Also nicht nur mit bezug auf die Wahl dessen, was wir im Täglichen Handlung und Unterlassung nennen, trifft unser Gefühl und unser Willensentschluß die Entscheidung und kündet uns an, welche Handlung oder welche Unterlassung von uns vorzuziehen sei, sondern in allen Erkenntnisakten überhaupt, bei jedem Unterscheiden, Vergleichen und Gesetzmäßigkeits-erkennen ist es letzten Endes allein unser Gefühl und der damit verbundene Willensentschluß, die uns sagen, daß wir unterscheiden und vergleichen und daß wir dem dadurch enstandenen Willensentschluß folgen sollen und müssen. Hieraus wird man wohl erkennen, daß die scharfe Sonderung der bisherigen Philosophie zwischen Erkenntnis und Wertung, zwischen der intellektuellen und der gefühlsmäßigen Seite der menschlichen Natur eine abstrakte und schematische Sonderung von Erscheinungen ist, die im Leben eng miteinander verbunden sind. Da ist es wohl, wie ich meiner Ansicht nach oben festgestellt habe, in Wirklichkeit zu sagen gestattet, da unsere logischen und mathematischen Axiome, die unserer Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit entspringen, letzten Endes gefühls- und willensmäßig bestimmt sind, und daß die zweite Grundsäule aller Wissenschaft unser gesamter Begriff der Wirklichkeit, als derselben Auffassung und auch unserer Auffassung des gesetzmäßigen Zusammenhanges entspringend, ebenfalls in letzter Instanz durch Gefühl und Wollen bestimmt wird. Dasselbe gilt dem Raum und der Zeit. Der Raum, der das gewöhnliche Zeichen unseres Wirklichkeitsbegriffes darstellt, ist ebenfalls ein Produkt dieses Vortastens: durch Gesichtsempfindun-
236 gen, Bewegungs- und Berührungsempfindungen tasten wir uns zu der Raumauffassung vor, durch die wir uns — zur Verwendung in allen unseren Bewegungen — in Abständen orientieren und durch die wir mittels der wenigst möglichen Bewegungen die größtmöglichen Abstände zurücklegen können. Zu dem Grundsatz der Geometrie, daß die gerade Linie der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten sei, haben die primitiven Menschen sich im Morgengrauen der Zeiten durch mannigfaltige Erlebnisse der Unlust, d. h. unzählige Müdigkeitsempfindungen infolge von Umwegen, Enttäuschungen durch Bewegungen, von denen sie erst durch Unterscheiden und Vergleichen erkannten, daß sie unnütz waren, vorwärtsgetastet. W e n n der Satz aber allmählich festgelegt wird und man ihm folgt, wird das Bewußtsein dieser Empfindungen der Bewegungen und der Berührungen, diese Gefühle der Unlust, der Müdigkeit oder der Befriedigung abgeschwächt und immer blasser, und schließlich glaubt man dann, es läge eine selbstverständliche Wahrheit vor, die über alle Erfahrungen erhaben sei. Wie die Distanz- und Raumauffassung in dieser Weise unseren W e g durch das Gewirr dieser vielen, verschiedenartigen Empfindungen leitet, so werden wir ebenfalls dank dem Vortasten durch Unterscheiden und Vergleichen und durch Erkenntnis der gesetzmäßigen Zusammenhänge zu der festen Ordnung und der Reihenfolge innerhalb der Vielfältigkeit unserer gesamten Erlebnisse geführt, die unsere Auffassung der Zeit uns verleiht. Jener eigentümliche Vorgang, der wohl kompliziert ist, aber dennoch eine organische Einheit ausmacht, und den ich das Vortasten genannt habe, ist also meiner Auffassung nach das Grundvermögen des Menschen, dem jede Erkenntnis und jede Handlung entspringt. Er besteht aus einer engen Zusammenarbeit sowohl der sinnlichen Empfindungen als auch des Gefühls und des Wollens und vereinigt folglich in sich:
Nicht nur die primitiven Menschen auf den vorgeschichtlichen, noch tierischen Stufen, sondern bereits die Tiere selbst haben sich instinktiv zu jener Erfahrung vorgetastet, daß die gerade Linie der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist. An und für sich müßten die oben hervorgehobenen Grundfähigkeiten (1—4) sowohl Voriüörfstasten als Vorwörfswollen genannt werden, der Kürze halber wird sie im Folgenden „Vortasten" genannt, da damit im Gegensatz zum Worte „Vorfühlen" auch der Willensakt, der die Befriedigung wählt, ausgedrückt wird.
237 1. Unterscheiden und Vergleichen zwischen Sinnesempfindungen und Vorstellungen, 2. Wahrnehmung der gesetzmäßigen Zusammenhänge zwischen diesen, 3. das Gefühl der Befriedigung, der Lust und des Schmerzes, 4. den Willensentschluß. Wenn wir also fragen: warum folgen wir unserem unterscheidenden und vergleichenden Vermögen, unserer Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit und von Gesetzmäßigkeit und damit auch, wie festgestellt, unserem Wirklichkeitsbegriff, unseren Raum- und Zeitbegriffen und den logischen und mathematischen Axiomen, gibt es also folglich meiner Ansicht nach nur eine einzige Antwort: weil wir durch zahllose Erlebnisse der Befriedigung und des Schmerzes Jahrtausende hindurch uns zu diesen unseren Grundauffassungen vorgetastet haben als denjenigen, die — wenn das Leben des Menschengeschlechtes in einer Grundsumme zusammengefaßt wird — ein Maximum der Befriedigung und ein Minimum des Schmerzes gegeben haben, so daß wir deshalb wahrheitsgetreu sagen dürfen, daß wir ihnen und damit auch unserem Wirklichkeitsbegriff, den damit verknüpften Begriffen des Raumes und der Zeit und den logisch-mathematischen Axiomen folgen müssen. Man wird hiernach, glaube ich, einsehen, daß die gesamte Sonderung zwischen Sein und Sollen, zwischen »ist« und »muß sein«, wie sie in der Philosophie bisher vorherrschend war, letzten Endes nur auf einem schmalspurigen und beschränkten Gedankengang beruht, der nicht imstande gewesen ist, das Problem der Wissenschaft bis zu seinen letzten Schlußfolgerungen durchzudenken. Dieser beschränkte Gedankengang hat dem Denken Hindernisse aufgebaut, die den weiten Ausblick unmöglich gemacht und bewirkt haben, daß das Grundproblem sowohl der Erkenntnislehre als auch der Ethik bisher unlösbar blieb. Wenn wir sagen, daß etwas sei oder sich so oder so verhalte, z. B. daß in der Blüte A eine Menge von x Staubgefäßen vorhanden sei, oder daß das Metall B bei y Grad schmelze, ist dieses also Ausdruck dafür, daß wir einige Sinneswahrnehmungen gehabt haben und daß gewisse gesetzmäßige Zusammenhänge und gewisse Gleichheiten und Verschiedenheiten zwischen diesen Vorgängen oder Zuständen vorhanden seien und daß wir diesen Erkenntniselementen vertrauen, weil die Menschheit durch ihre gesamte Entwickelung sich dahin vorgetastet habe, daß wir unsere sinnlich wahrnehmende, unterscheidende
238 und vergleichende Fähigkeit so wie unser Vermögen Gesetzmäßigkeit, Raum und Zeit aufzufassen, anwenden müssen und daß wir folglich den dank diesen Erkenntnisfähigkeiten gebildeten Wirklichkeitsbegriff anerkennen und ihm folgen müssen. Jede wissenschaftliche Erkenntnis, jede Feststellung der Erkenntnis, daß etwas sei, hat also ihre letzte, ja ihre einzige Begründung in einem »muß« der Menschheit. Unser Wissen, daß etwas »sei«, betrifft scheinbar nur die Vergangenheit und die Gegenwart. Wenn die Naturwissenschaft aber in den oben angeführten Beispielen feststellt, daß die Blüte A x Staubgefäße hat oder daß das Metall B bei y Grad schmilzt, meint sie in Wirklichkeit damit nicht nur, was in den Präsensformen »ist« oder »schmilzt« sprachlich erfaßt wird, sondern nicht weniger als drei verschiedene Dinge: 1) daß wir wahrgenommen haben, daß die Erscheinungen A und B in der Vergangenheit stets von x bezw. y begleitet wurden, und 2) daß sie auch in diesem Augenblick, in der Gegenwart ebenfalls von diesen x und diesem y begleitet werden, aber gleichzeitig, daß sie auch 3) künftig von ihnen begleitet werden, so daß A x Staubgefäße haben und B bei y Grad schmelzen wird. Der naturwissenschaftliche Satz ist also unbedingt generell, indem er sowohl Vergangenheit und Gegenwart als auch Zukunft umfaßt, ungeachtet daß der Satz rein sprachlich nur die Präsensform darstellt. Aber ferner erfahren wir auch, daß wir uns diesen Naturphänomenen gegenüber nicht nur passiv beobachtend verhalten können, sondern auch imstande sind, in den Kausalzusammenhang oder den gesetzmäßigen Zusammenhang der Natur aktiv einzugreifen, daß wir durch einen Sprung in die Zukunft selbst durch planmäßige Handlung das, was wir Ursache nennen, ingang setzen und dadurch, daß wir unserer bisherigen Erfahrung vertrauen, auch gewisse Wirkungen hervorrufen können. Wir erfahren z. B. daß wir, wenn wir mit unseren Händen oder Geräten das Metall A in ein Feuer legen und eine Hitze von y Grad hervorbringen, auch selbst die sogenannte Wirkung, nämlich das Schmelzen hervorrufen können. Dieses bewußte und planmäßige Eingreifen in den gesetzmäßigen Zusammenhang der Natur, um gewisse von uns gewünschte Wirkungen hervorzurufen, nennen wir das naturwissenschaftliche Experiment. Die Naturwissenschaft entdeckt aber hierdurch gleichzeitig, daß wir durch das Experiment Wirkungen hervorzurufen vermögen, die zum Nutzen der gesamten Menschheit sind. Dieses Experiment nenne ich im Folgenden das wertende Experiment zum Unterschied von dem lediglich feststellenden.
239 Das Experiment ist aber in Wirklichkeit nichts Anderes, als eine besondere Art des Vortastens und sozusagen eine Unterabteilung dieser Erscheinung, nämlich: das bewußte und planmäßige Vortasten auf dem Gebiet der äußeren Natur. Daß wir das Wort Experiment bisher auf die Gegenstände der äußeren Natur beschränkt haben, ist eine rein traditionelle Angelegenheit. Wir erfahren nämlich, daß wir bestimmte Sinneswahrnehmungen oder Vorstellungen hervorrufen und dadurch die Entstehung gewisser Gefühle in uns, seien sie nun solche der Lust oder solche der Unlust, mit derselben Sicherheit hervorrufen können, wie wir das Schmelzen des Metalles im Feuer erzielen können; und nach diesem feststellenden Experiment können wir auch hier auf dem seelischen Gebiet bestimmte Gefühle der Befriedigung oder der Lust in uns erzeugen. Diese Erscheinung haben wir aus den Sinneseindrücken kennengelernt, die unmittelbare Gefühle des Wohlbehagens und der Lust in uns hervorrufen, wie es Geschmackseindrükke oder das Betrachten von Kunstwerken tun können. Aber letzten Endes kann, wie oben hervorgehoben wurde, die Wahl unserer Erkenntnisfähigkeiten selbst nur in unserem Gefühlsleben, in der Befriedigung lebenswichtiger Bedürfnisse, in unserem Empfinden und Wollen stattfinden und nur durch sie begründet werden, also durch unser Vortasten oder Experimentieren mit dieser Befriedigung als Ziel; und wir haben es an und für sich nicht nötig, hierbei die Entwickelung der Menschheit durch die Zeiten miteinzubeziehen. Denn diese Entwickelung kann lediglich nur Etwas, das an sich unwiderlegbar ist, noch stärker beleuchten. Wir können nicht um uns selbst herumkommen. Alles, was wir denken und unternehmen, kann letzten Endes nur in der Befriedigung unserer Lebensbedürfnisse, im menschlichen Gefühlsleben und in dessen Gesamteinstellung dem Dasein gegenüber seine Begründung haben. Unterscheiden und Vergleichen ist auf der ersten Stufe alles organischen Lebens gewiß nichts, als ein Unterscheiden zwischen Lust und Unlust. Außerhalb dieser beiden Grundphänomene der Lust und der Unlust gibt es kein Unterscheiden und es gibt wiederum keine Lust oder Unlust ohne Unterscheiden — und Vergleichen, wenn diese Erscheinungen wiederkehren. Jede Erkenntnis und jedes Gefühl oder jede Handlung haben also letzten Endes ihren Ursprung in derselben, einfachen Grunderscheinung alles organischen Lebens, in dem Unterscheiden und Vergleichen zwischen Lust und Unlust. Diese vier Wörter sind auf dieser, der ursprünglichsten, organischen Stufe, Alle nur Ausdruck für ein und dasselbe. Was später zu zwei verschiedenen Er-
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scheinungen wird, die von einander getrennt werden können, nämlich einer intellektuellen des Unterscheidens und Vergleichens und einer gefühlmäßigen der Lust und der Unlust, stellten von Anfang an nur zwei Seiten derselben Sache, derselben Urerscheinung dar. Zu unterscheiden und zu vergleichen hieß Lust und Unlust empfinden und Lust und Unlust empfinden hieß zu unterscheiden und zu vergleichen. Aber in diesem einfachen Erlebnis der Lust und der Unlust, der Verschiedenheit und der Gleichheit lag gleichzeitig ein Unterscheiden zwischen dem Ich, das Lust und Unlust empfindet, und Etwas, das dem Ich Lust oder Unlust verursachte, also einer Umwelt, verborgen. So tief und so ursprünglich wurzelt dieser Gegensatz im Urgrund des Lebens, diese Unterscheidung zwischen einer inneren und einer äußeren Welt. Alles Leben ist vielleicht überhaupt zuerst nur ein Gefühl des Gegensatzes, eines Unterschiedes zwischen sich und der Umwelt, die bald Lust, bald Unlust verursacht. Und das bleibt das Leben letzten Endes immer und überall, bis es eines Tages aufhört. Aber imselben Augenblick, in dem wir durch unsere Urfähigkeit des Unterscheidens und des Vergleichens, durch Lust und Unlust eine äußere Wirklichkeit festgestellt haben, die vom Ich verschieden ist, ist mit dieser Wirklichkeit, deren Sonderkennzeichen es ist, daß sie von unserem Willen und Wollen unabhängig ist, ein Wahrheitskriterium entstanden, das in dem Sinne absolut ist, als die Wahrheit einer jeden Vorstellung, Anschauung und Theorie zunächst danach beurteilt werden muß, ob sie mit dieser Wirklichkeit und ihrem gesetzmäßigen und logischen Zusammenhang, dem Kausalzusammenhang der äußeren Welt, den Gleichheiten und Verschiedenheiten, darunter auch den Zahlenverhältnissen und Größen, übereinstimme, ungeachtet, ob diese Wirklichkeitsprüfung uns durch ihre einzelnen Vorstellungen oder Anschauungen Lust oder Unlust verleiht. Es ist der erkenntnistheoretische Grundfehler solcher Richtungen, wie z. B. des Pragmatismus, daß sie geglaubt haben, ein leichtes Kriterium für die Wahrheit oder Unwahrheit einer jeden Vorstellung oder Anschauung in ihrem Nutzen oder ihrer Schädlichkeit für die Menschheit zu finden, also darin ob sie überwiegend Lust oder Unlust verursachte, indem sie behaupteten, es gäbe keine anderen Wahrheitskriterien und keine absolute Wahrheit. Diese gesamte Betrachtung beruht auf einem unbewußten Falsum. Der Pragmatismus sucht, wie jede Laienbewegung, um die Mauer herumzuschlüpfen, die die tiefste Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse selbst in dem Wirklichkeitsbegriff aufgebaut hat, der gegen alle willkürlichen oder phantastischen An-
241 schauungen schützt. Es gibt nur eine einzige, unbedingt gültige Gleichschaltung aller Anschauungen, Meinungen und Theorien über die Welt, nämlich die Wirklichkeit, ihre Gesetzmäßigkeit und ihre logischen Axiome. Eine Gleichschaltung der Anschauungen nach dem Gefühl größerer Gruppen von Menschen mit Bezug auf eine bestimmte konkrete Anschauung, wie es innerhalb der fanatischen Richtungen und Laienbewegungen der Gegenwart oft der Fall ist, ist wissenschaftlich falsch. Weder die eine noch die andere, gefühlsmäßig betonte Anschauung, sondern einzig und allein die unerschütterliche Wirklichkeit der Welt und ihr gesetzmäßiger und logischer Zusammenhang kann uns Sicherheit und Ruhe als Grundlage aller Handlungen und des gesammten Denkens und Waltens unseres ganzen Lebens geben; und indem wir überall darauf vertrauen, haben wir die Herrschaft über die Natur gewonnen, jene Herrschaft, die die Quelle so unzähliger nützlicher Wirkungen für die Menschheit ist. Diese Herrschaft beruht darauf, daß wir — wie oben hervorgehoben — auf der Grundlage dieser Wirklichkeit und durch die Verwertung der gesetzmäßigen Zusammenhänge in der äußeren Welt bis zu einem gewissen Grade die Wirkungen, die wir wünschen, hervorzurufen vermögen. Das Vortasten zu unseren Erkenntnisfähigkeiten und dem darauf gebauten Wirklichkeitsbegriff ist, wenn auch unbewußt, dieselbe Tätigkeit, wie diejenige, die wir später bei der Behandlung der äußeren Natur durch unsere Hände und Geräte in bewußter Absicht das Experiment nennen. Aber daraus geht auch hervor, daß das, was ich das feststellende Experiment nenne, zutiefst gesehen auch wertend ist. Denn nach meiner Auffassung ist alle Experimenttätigkeit ein wertendes Experimentieren. Das Experiment ist also nicht auf die Naturwissenschaft beschränkt; es ist nur scheinbar, daß es auf diesem Gebiete seinen größten Sieg für die Menschheit errungen habe. In Wirklichkeit liegt der planmäßige Eingriff in den gesetzmäßigen Zusammenhang der Natur — jener Eingriff, der das Wesen des Experimentes, sowohl des feststellenden als des wertenden, darstellt — hinter allen menschlichen Fortschritten auf allen Gebieten, ja, tatsächlich hinter jeder menschlichen Arbeit, und das feststellende und das wertende Experiment gleiten ohne schroffe Übergänge in einander über. Während der Entwickelung der Menschheit entdeckte irgend ein Mensch eines schönen Tages in der Morgenröte der Zeiten, daß zwei Steine, die gegeneinander schlugen, Feuer hervorbrachten. In einem feststellenden Experiment ahmte er der Natur nach: er schlug selbst mit seinen Hän16
Erkenntnis und Wertung
242 den zwei Steine gegeneinander und sah, daß dadurch F e u e r f u n k e n entstanden. Aber er erreichte auch bald das wertende Experiment, indem er die dadurch hervorgerufenen Feuerfunken verwendete, um ein Feuer anzuzünden, das ihn wärmen könnte, und allmählich, Schritt f ü r Schritt durch die Entwickelung langer Zeiten wurde dasselbe Experiment zu vielen anderen Zwecken gebraucht, um das Dunkel zu erhellen und um Metalle zu schmelzen oder zu härten, nachdem man diese Methode entdeckt hatte u. s. w. Durch ähnliche, feststellende und wertende Experimente entdeckten die Menschen, daß sie die Dinge, die Stoffe der Natur beeinflussen und umgestalten konnten, u m daraus Gegenstände zu machen, die ihnen nützlich sein könnten. In dieser Weise erfanden sie allmählich Geräte, Kleider, W a f f e n , W a g e n , Boote, Schiffe; sie lernten dann gewisse Tiere in ihren Dienst zu stellen, vor allem Hornvieh und Pferde, die sie bereits auf der Nomadenstufe in verschiedener Weise dienstbar machten. Später wiederum entdeckten sie, ebenfalls durch das feststellende und wertende Experiment, daß Samen, die erst durch den Wind, später durch Menschenhände in den Boden gesät wurden, emporwachsen und Frucht geben, die als Nahrung f ü r Menschen und Tiere verwendet werden könnte. Darnach begann die Ansiedlung und die große E r f i n d u n g : das feste Haus mit dem bebauten Boden, der es umgibt. Alle späteren Gewerbe und ihr Fortschritt, Handwerk, Landwirtschaft, Schiffahrt, Fischerei u. ä. mit allen ihren Geräten und Methoden sind ausschließlich durch das Experiment, das feststellende und das wertende in genauer Zusammenhang miteinander, entstanden. Das Experiment wird dann noch später der tragende Faktor in jeder Naturwissenschaft und in dem ununterbrochenen Zusammenwirken der Gewerbe und der Naturwissenschaft, aus dem die gesamte moderne Technik hervorgegangen ist, die ihrerseits nur eine Weiterführung der Fortschritte älterer, rein handwerksmäßiger Stufen darstellt. Von den alten, primitiven Werkzeugen zur Bearbeitung von Holz und Metallen, zur Herstellung von Stoffen, Landwirtschaftsgeräten, W a g e n und Schiffen hat die Menschheit sich j a seit Jahrtausenden ganz allmählich vorwärtsexperimentiert, die gesetzmäßigen Zusammenhänge ausnutzend, bis sie die ganze moderne Maschinentechnik auf allen diesen Gebieten und die intensive Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft erreichte, die durch die sogenannten angewandten oder technichen Wissenschaften bezeichnet wird, wie z. B. Bau-ingenieur-wissenschaft, Hafen-, Brücken- und überhaupt Wasserbauwissenschaft,
243 Maschinenlehre, u. ä.
Fabriksingenieurwissenschaft,
industrielle
Chemie
Der Mensch entdeckt aber darnach auch, daß er durch Beobachtung und Ausnutzung gesetzmäßiger Zusammenhänge innerhalb seines eigenen Körpers W i r k u n g e n zu dessen Nutzen hervorbringen kann. Durch die Entwickelung der dadurch entstandenen Wissenschaft, der Medizin, werden wir unwillkürlich und widerstandslos stufenweise auch zur W a h r n e h m u n g und Ausnutzung der seelischen gesetzmäßigen Zusammenhänge geführt. W e n n die Physiologie durch das feststellende Experiment und die Medizin durch das wertende konstatiert, daß die A u f n a h m e gewisser Stoffe in den Organismus eine vorteilhafte W i r k u n g , die A u f n a h m e anderer Stoffe aber, wie z. B. Alkohol und Kokain in größeren Mengen, eine schädliche W i r k u n g auf den Organismus ausübt, werden wir gleichzeitig dazu genötigt, gewisse seelische Zusammenhänge zu beobachten und festzustellen, daß der Mensch bis zu einem gewissen Grade imstande sei, eine W a h l unter diesen W i r k u n g e n zu treffen und dadurch auch seine Neigung zum übertriebenen Gebrauch der genannten Genußmittel zu beherrschen. Das feststellende und wertende Experiment führt also durch die Physiologie, die Medizin und die Psychologie mit unvermeidlicher Konsequenz in ein, wissenschaftlich betrachtet, neues Gebiet, das bisher recht zufällig und willkürlich in der ererbten Moral und Religion und ohne wirkliche, wissenschaftliche Begründung oder Methode in jenem Teile der Philosophie behandelt worden ist, die man die individuelle Ethik genannt hat. W i r vermissen hier im höchsten Maße ein Erfahrungsmaterial an wissenschaftlich objektiven und genauen Prüfungen und Erfahrungen. Im Folgenden werde ich versuchen, dieses Problem näher zu behandeln. Aber soviel kann meines Erachtens bereits hier festgestellt werden, nämlich daß die Glaubenssätze der ererbten Moral und der Religion wohl mit E h r f u r c h t aufzunehmen sind, weil sie die Erfahrungen der Menschheit durch Tausende von Jahren ausdrücken, den Menschen von heute aber nicht mehr genügen, daß diese eine Begründung fordern müssen, und daß nur eine wissenschaftliche und objektive Untersuchung der seelischen Phänomene: der Wünsche, Leidenschaften, Triebe und gesetzmäßigen Zusammenhänge zwischen diesen und ihren W i r k u n g e n den richtigen Grundsätzen oder Gesetzen menschlicher Lebensführung den W e g bereiten kann. A n dieser Stelle genügt es hervorzuheben, w a s ich im Folgenden in Einzelheiten näher beleuchten werde, daß sich der Mensch während seiner Entwickelung von niederen zu höheren Stufen im 16»
244 Besitz einer besondereren, ihm eigentümlichen seelischen Eigenschaft gezeigt hat, nämlich der oben genannten Fähigkeit, sein Seelenleben innerhalb giwisser Grenzen zu beherrschen. Meiner Ansicht nach ist der Mensch auf seelischem Gebiet, wie vorher auf dem Gebiete der äußeren Natur, nur mittels des feststellenden und wertenden Experimentes zu der Entdeckung gelangt, daß er sein Seelenleben, seine Gedanken und Wünsche mit vorteilhafter Wirkung in gewisse, bestimmte Richtungen leiten und von anderen, die erfahrungsmäßig schädliche Folgen mit sich führen, weghalten kann. Europa macht nur einen sehr kleinen Teil der gesamten Festlandsmasse unserer Erde aus, wenn man es mit anderen Kontinenten vergleicht. Zum größten Teil hat es außerdem ein recht ungastliches Klima und schwierige, natürliche Verhältnisse. Dennoch ist es kein Zufall, daß ausgerechnet die Menschen dieses kleinen Weltteiles und die Auswanderer dieses Kontinentes mit ihrer überlegenen Technik und ihrem praktischen Können auf allen Gebieten zur führenden Rasse wurden und im großen Ganzen durch lange Zeit die Beherrscher der übrigen Welt gewesen sind. In Europa mußten die Menschen der Natur die Fruchtbarkeit in ununterbrochenem und harten Kampfe abringen; die ursprünglichen, gewaltigen Wälder, die Moore und die Heiden mußten gerodet, bewässert und bebaut werden; die größten Schwierigkeiten für den Verkehr zwischen den Ländern, die überall durch trennende Berge, Meere, tiefe Einschnitte derselben in das Land u. ä. getrennt wurden, mußten überwunden werden; und während die Menschen damit arbeiteten, machte das verhältnismäßig kalte Klima innerhalb des größten Teiles dieses Gebietes das halbe Jahr hindurch einen ständigen Kampf um bessere Wohnungen und wärmere Kleider notwendig. Auf allen Gebieten — der Rodung, der Entwässerung, des Ackerbaues, des Verkehrs, der Wohnungs- und Kleiderbeschaffung — mußten die harten und schwierigen Naturverhältnisse unseres Weltteiles bedeutende Eigenschaften wie Abhärtung und Genügsamkeit, Selbstbeherrschung und eine reiche, technische Geschiklichkeit und Erfindungsgeist in den Menschen, die hier wohnten, hervorrufen. Die erstgenannten Eigenschaften, die wir moralisch zu nennen pflegen, vor allem Arbeitsamkeit und Beherrschtheit in all ihren verschiedenen Formen sind ebenso notwendig aus dem feststellenden und wertenden Experimentieren der Menschheit wie Geräte, Wagen, Bauten, Schiffe, Maschinen und die gesamte spätere Technik und Wissenschaft aus dem Urgründe des Lebens emporgewachsen. Der Kulturwert, den die genannten menschlichen Eigenschaften bezeichnen
245 und der eine Frucht der langen Entwickelung auf dem Leidensweg der Menschheit ist, kann mit einem kurzen Ausdruck Charakter — in qualitativer Bedeutung — oder Charakterwert genannt werden. Jede menschliche Lebenserfahrung zeigt, daß die Summe von Eigenschaften, die wir Charakter nennen, eine Alles entscheidende Bedeutung — in der Regel also mehr als Begabung und äußere Bedingungen — dafür hat, was der Einzelne aus seinem Leben macht. Wie der alte Philosoph der Renaissance sagte, als er sich gegen den Aberglauben des Mittelalters wandte: »Das Schicksal eines Menschen wird nicht in den Sternen, sondern in seinem Charakter gelesen«. Ganz in derselben Weise haben die Menschen sich durch vielfältiges, feststellendes und wertendes Experimentieren Jahrtausende hindurch, unter Leiden, Mühsal und Befriedigungen, auch zu einem anderen, unentbehrlichen Kulturwert vorgetastet oder vorgefühlt, nämlich zur menschlichen Gesellschaft. Im Kampfe gegen die mannigfaltigen Gefahren der umgebenden Natur, im Streben, uns die Erde Untertan zu machen, die Naturkräfte zu bezwingen und neue Werte zu schaffen, hat sich die Erscheinung, die wir Gesellschaft nennen, als die wichtigste Wehr und der beste Schutz der Menschheit, als das einzige Mittel zur Sicherung des Arbeitfriedens und des Lebens der Einzelnen erwiesen. Die Gesellschaft hat teils durch die Zusammenarbeit zwischen den Menschen in vielerlei Art: 1) eine Wehr gegen die Gefahren der Natur und eine organisierte Verwertung ihrer Kräfte geschaffen und teils durch eine starke Gesellschaftsmacht 2) die Menschen daran zu hindern gesucht, einander zu schädigen. Durch alle menschlichen Gesellschaften im Laufe der Zeiten, durch alle Gesetzbücher, von den Gesetzen Hammurabis, Moses und Manus bis zu den Strafgesetzen der modernen Gesellschaften lautet das elementare Gebot: Du darfst deinen Mitmenschen nicht schädigen. Die Gesetze spezializieren dieses Gebot in mehrere Handlungen: du darfst nicht totschlagen, du darfst nicht stehlen, du darfst nicht falsches Zeugnis gegen deinen Nächsten ablegen, du darfst seine Ehre nicht kränken. Aber alle Spezialregeln können in das eine Gebot zusammengefaßt werden: Du darfst deinen Nächsten nicht schädigen. Dieses Gebot klingt nicht nur durch alle Gesetzbücher aller Gesellschaften wieder: es ist ein leitender Grundsatz, der durch alle rechtlichen und moralischen Regeln auf diesem Gebiet, dem Zusammenleben der Menschen, geht. Der Grund dazu, daß die Menschen auf allen Gebieten des Lebens zu diesem Gebot als dem fundamentalsten aller Regeln fortgeschritten sind, ist meines Erachtens in erster Reihe der, daß die
246 Durchführung dieses Gebotes den Menschen jedenfalls jene Leiden erspart, die sie einander zufügen, und in zweiter Linie, daß dieses Gebot dem Einzelnen den Arbeitsfrieden sichert. Die unumgängliche Voraussetzung dafür, daß die Menschen durch Arbeitsamkeit, Erfindungsgeist und Initiative etwas erreichen können, ist nämlich, daß sie Ruhe zu ihrer Arbeit haben, daß Sicherheit in Bezug auf die Tätigkeit des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft vorhanden ist und daß andere Menschen daran verhindert werden, störend einzugreifen oder ihm Schaden zuzufügen. In der ältesten Zeit ging viel zu viel kostspielige Zeit der Arbeit verloren, weil der einzelne Mensch, um ein Gleichnis zu verwenden, mit der Maurerkelle in der einen Hand und dem Schwert in der anderen arbeiten mußte, indem er sich gleichzeitig mit der Arbeit unaufhörlich gegen Feinde von Außen wehren mußte. Die Gesellschaft der Gegenwart hat dem Einzelnen den Arbeitsfrieden durch die Übernahme des Schwertes gesichert, indem sie mit dem Henkerschwert oder anderen harten Mitteln andere Menschen zwingt, den friedfertige Arbeitenden nicht zu töten, zu verwunden oder in anderer Weise zu schädigen. Das Vortasten oder Vorfühlen, die Methode des feststellenden und wertenden Experimentes, bildet nicht nur den Hintergrund aller menschlichen Gewerbe, aller Technik, aller Moral und alles Rechts. Es liegt auch aller Kunst zugrunde. Die Menschheit hat sich, bewußt oder unbewußt, durch Jahrhunderte vorwärtsgetastet, sich zur Entdeckung vorwärtsexperimentiert, daß gewisse bestimmte, in besonderer Weise geordnete Eindrücke eine angenehme Wirkung auslösen, während andere entgegengesetzt wirken. Es verhält sich aber mit der Ästhetik genau wie mit der Ethik. Man vermißt teils ein genügend großes Material objektiver Erfahrungen und teils eine sichere wissenschaftliche Methode, um näher feststellen zu können, auf welchen Momenten es beruht, daß gewisse Eindrücke eine angenehme Wirkung, gewisse andere das Entgegengesetzte hervorrufen. Deshalb herrscht wie in der Moral der Gegenwart auch in der modernen Kunst — sowohl innerhalb der Malerei und der Plastik als auch in der Architektur — die größte Verwirrung und Ratlosigkeit. Deshalb bieten die Städte der Gegenwart ein Chaos verschiedener Stilarten, verworrener Versuche und einer daraus folgenden Verwilderung innerhalb der Bebauung dar. Unsere gesamte Zeit ist eine Epoche der Auflösung sowohl in moralischer, ästhetischer, politischer als auch allgemein geistiger Beziehung. Aber wie man, wie ich oben zu zeigen versucht habe, durch eine sichere, wissenschaftliche Experimentalmethode bestimmte Re-
247
sultate, gewisse fundamentale Richtlinien der menschlichen Lebensführung auf den Gebieten erreichen kann, auf denen eine ererbte Moral und ein ererbtes Recht ohne Begründung und Klarheit bisher im Dunkeln umhertappten, so wird man meines Erachtens auch auf dem ästhetischen Gebiete durch eine objektive, experimentale wissenschaftliche Methode zur Erkenntnis kommen können, warum gewisse Eindrücke des Gesichts und des Gehörs angenehme Wirkungen, andere aber entgegengesetzte auslösen. Man wird, soweit ich sehen kann, auch auf diesem Gebiete den Weg zu bestimmten Richtlinien finden können, die zeigen, daß nur ganz besondere und eigentümliche Anordnungen der Raum-, Farben-, Flächen- und Lautverhältnisse den Menschen jenen erhebenden und bereichernden Eindruck vermitteln, den wir Schönheit nennen und die durch diese eigentümlichen Eindrucksanordnungen geschaffen wird. Aus dem oben Angeführten geht meines Erachtens hervor, daß die menschlichen Kulturwerte — Wissenschaft, Gewerbe, Technik, Charakter, Gesellschaft und Kunst — alle nur durch das Vortasten oder Vorwärtsexperimentieren der Menschheit erreicht worden sind und nur durch sie begründet werden können, also durch das Sich-Vorwärtstasten zu Erkenntnisfaktoren, zu Arbeits- und Erwerbsformen, zu charaktermäßigen Richtlinien, zur Gesellschaftorganisation, zu den Rechtsregeln hierfür und ebenfalls zu den besonderen Anordnungen jener Sinneseindrücke, die Schönheit genannt werden. Die gesamte Kultur der Menschheit, ihre gesamte Wirksamkeit und Arbeit, darunter auch die Wissenschaft, hat also letzten Endes ihre Grundlage in einer Wertung. Die vorhergehende Untersuchung der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten oder Erkenntnisfaktoren zeigen, daß diese selbst, auf denen alles Wissen beruht, nur durch eine Wertung begründet werden können, und daß wir deshalb letzten Endes eben so gut sagen können, daß wir unsere sinnliche Wahrnehmung, unsere Auffassung von Verschiedenheiten und Gleichheiten und gesetzmäßigen Zusammenhängen, von Zeit und Raum verwenden müssen, wie wir sagen, daß wir den elektrischen Strom einschalten, wenn wir gewisse bestimmte Wirkungen erzielen wollen, oder daß wir den Stoff X mit dem Stoff Y mischen müssen, wenn wir den Stoff Z hervorbringen wollen, daß wir die Konstruktion X verwenden müssen, um eine Brückenform Y zu schaffen, daß wir dem menschlichen Körper einen bestimmten Stoff, z. B. ein Leberpräparat oder Insulin eingeben
248 müssen, wenn wir bezw. die perniziöse Anämie oder die Harnruhr heilen wollen, daß die Menschen Arbeitsamkeit und Beherrschtheit zeigen müssen, um das zur Aufrechterhaltung des Lebens Notwendige zu erwerben und technische Fortschritte auf diesem Gebiete zu erzielen, und daß die Menschen unterlassen müssen, ihre Mitmenschen zu schädigen. Wenn die menschliche Erkenntnis von allen Seiten betrachtet, »wenn Alles gehört« worden ist, sind alle Wissenschaften von Mathematik, Physik und Chemie bis zu Ethik und Rechtswissenschaft also experimentale Wertungswissenschaften. Die Grundbedingung aber dafür, daß die Ethik und die Rechtslehre in dieser Weise zu tiefst gesehen ebensowohl begründet werden kann, wie die Mathematik und die Physik, ist allerdings, daß die Ethik und die Rechtslehre sich auf Behauptungen beschränken, die ebenso unbestreitbar wie die Grundsätze von der geraden Linie und die anderen Axiome sind, d. h. daß sie nach den experimentalen Erfahrungen aller normalen und verständigen Menschen durch Tausende von Jahren als dem Menschenleben ebenso unentbehrlich betrachtet werden können. Als solche begrenzte, dafür aber unentbehrliche Grundsätze sind die Alles umspannenden gefühlsbetonten Sätze der bisherigen Ethik über »Glück« und »Pflicht« nicht zu betrachten, wohl aber die bescheideneren und mehr nüchternen, die ich im vorhergehenden hervorgehoben habe: 1. daß die Gesundheit und die Erwerbstüchtigkeit des Menschen durch Entwickelung des Charakters gefördert werden und 2. daß die Menschen einander nicht schädigen. Diese begrenzten ethischen Sätze, die eben wegen ihres begrenzten Charakters begründet werden können, nenne ich im Folgenden kurz Satz 1 und Satz 2. Gegen das Ziel, das Satz 1 stellt, nämlich Gesundheit und Erwerbstüchtigkeit strebt auch alle Medizin und zwar mit der Zustimmung aller verständigen Menschen. Die neue Wissenschaft, zu der die individuelle Ethik werden kann, wird dieselbe Zustimmung finden, wenn sie künftig auf nüchternen Erfahrungen und objektiver Experimentalmethode begründet wird. Den Satz 2 und ihr begrenztes Ziel hat die Menschheit durch alle Zeiten und Völker und mittels aller Gesetze, ebenfalls mit der Zustimmung aller besonnenen Menschen, zu verwirklichen gesucht. Es gab durch die Zeiten unter den Mitgliedern der vielen wechselnden Gesellschaften oft Uneinigkeit in bezug auf die Gesetzgebung, nämlich teils mit Bezug auf die Art, in der die Gesetze ihre Aufgaben, die den beschränkten Zweck des Satzes 2 überschritten, lösen sollten, und teils, wo es sich um die richtigen Mittel zur Durchführung dieses Satzes 2 drehte. Aber was diesen Satz 2
249 selbst betrifft, dieses Grundgesetz aller Gemeinschaft: Du darfst deinen Nächsten nicht schädigen — jenes Grundgesetz, ohne welches keine Gesellschaft bestehen könnte und ohne dessen Durchführung die Menschheit zugrunde gehen oder auf die Stufe des Raubtieres hinabsinken müßte — ist durch die tausenjährige Geschichte der menschlichen Gesellschaft Einigkeit entstanden, eine Einigkeit, für die alle Straf- und Entschädigungsgesetze durch die Zeiten — wie bereits hervorgehoben — von den ältesten Gesellschaftsformen bis zu den neuesten gegenwärtigen, einen einzigen gewaltigen Beweis abgeben. In der Kulturgesellschaft der Gegenwart ist die Rechtshandhabung in allen ihren Formen: Strafe, Entschädigung, Verbot, Vernichtung, gegen das gerichtet, was man die rechtswidrigen Handlungen nennt. Aber unter mehreren verschiedenen Momenten innerhalb des Begriffes der rechtswidrigen Tat ist das zentralste und wichtigste: eine menschliche Handlung, die einen anderen Menschen schädigt. Hiernach wird man meines Erachtens wohl einsehen können, warum alle bisherige Ethik — und das gilt sowohl der Wertethik als der Pflichtethik — nicht bewiesen werden konnte. Die Begründung ist eine zweifache: 1) man hat es unterlassen zu prüfen, was ein wissenschaftlicher Beweis und eine wissenschaftliche Begründung eigentlich darstellt, und 2) man hat den Mund zu voll genommen, indem man der Ethik als Ziel Aufgaben stellte, die überhaupt nicht begründet werden konnten. Soll die Ethik begründet werden, muß sie ihr Ziel nüchtern und realistisch auf solche Aufgaben beschränken, die eben infolge ihres stark begrenzten Charakters ebenso sicher begründet werden können, wie jede andere geistige Tätigkeit, die den Anspruch
Die bisherigen ethischen Hauptrichtungen sind Ausdrücke verschiedener Lebensbetrachtungen. Die Wertethik hat von Sokrates und Epikur bis zum Utilitarismus es als ihre Aufgabe betrachtet, so viel Glück oder Lust wie möglich sowohl für den einzelnen Menschen als für die Menschheit im Ganzen zu erreichen. Die Pflichtethik hat, von den Stoikern des Altertums bis Kant, instinktiv empfunden, daß die Erfahrungen des Lebens nicht in diesem Suchen nach Glück oder Lust, sondern viel eher in dem Kampf gegen Triebe und Leidenschaften bestünden und daß diese lebenszerstörenden Kräfte nur durch die freiwillige Unterwerfung des Einzelnen unter unbedingte Gebote, die Pflichten, zu bändigen wären. Es liegt eine interessante Parallele zwischen den beiden entgegengesetzten Richtungen der Ethik im Altertum, den Epikuräern und den Stoikern, und den beiden entsprechenden Richtungen innerhalb der neueren Ethik vor. Die Wertethik, besonders der Utilitarismus und die
250 stellt, Wissenschaft genannt zu werden, und wie alle anderen der Menschheit unentbehrlichen Kulturwerte. Die Wissenschaft wird in der Kette der Beweise durch ihren »Bekanntheits-prozess« auf einzelne letzte Glieder zurückgeführt, die durch diesen gewöhnlichen Vorgang nicht an sich bewiesen, sondern nur aufrechterhalten und begründet werden können, weil sie sich als für die Existenz und den Fortschritt der Menschheit unentbehrlich erwiesen haben. A u f ähnliche Weise müssen sowohl die Ethik als auch die Rechtslehre zuletzt auch auf einzelne letzte Glieder, einzelne fundamentale Sätze zurückgeführt und beschränkt werden, die für die Menschheit ebenso unbestreitbar, wie die letzten Grundlagen der Wissenschaft sind, weil sie wie diese auch begründet, aber auch nur dadurch begründet werden können, daß sie für die Existenz und den Fortschritt der Menschheit unentbehrlich sind. Aber in diesen letzten fundamentalen Sätzen darf man nicht mit solch zweifelhaften und unklaren Begriffen wie Glück und Pflicht auftreten; und schon aus diesem Grunde m u ß jede bisherige Ethik, sowohl der Utilitarismus und der Hedonismus überhaupt als auch die Pflichtethik, gleich als unwissenschaftlich abgelehnt werden. Die Pflichtethik wurde in der neueren Zeit in steigendem Maße aufgegeben. Die beste und eigentümlichste Form dieser Ethik, die apriorische Pflichtethik Kants, hat sich, wie früher hervorgehoben, als rein formal und logisch, als nicht-inhaltsgemäß undurchführbar erwiesen. Und wenn sie inhaltsgemäß wird, endet sie in der Wertethik. W i r können uns deshalb an diese halten. Diejenige Wertethik, die in neuerer Zeit die größte Zustimmung gewonnen hat, der Utilita-
Pflichtethik, vertreten dabei die entgegengesetzten Richtungen der Gegenwart. Die Epikuräer und die Utilitaristen sehen das Ziel in größtmöglicher Lust und geringstmöglicher Unlust für die Menschen, die Stoiker und die Pflichtethiker betrachten als erhabenes Ziel der Menschen sich über die Lust und den Schmerz des Lebens zu erheben, indem man das Dasein einer höheren Weltordnung unterstellt, deren Gebote uns Pflichten erscheinen, d. h. Normen für unser Innenleben und unser Retragen anderen Menschen gegenüber. Die Begründung ist etwas verschieden, da der Stoizismus zu meinen scheint, die Unterstellung der Lust und des Schmerzes unter eine erhabene Weltordnung werde im Laufe des Lebens die dauerhafteste Befriedigung oder das größte Glück geben, während die Pflichethik den Pflichtbegriff, das moralische Universalgesetz als ein apriorisches, über die Sinneswelt erhabenes allgemein-gültiges Gesetz betrachtet. Die Lebenshaltung ist jedoch dieselbe bei beiden Richtungen.
251 rismus, scheitert indessen wissenschaftlich bereits im Start, denn sein fundamentaler Satz: das größtmögliche Glück oder die größtmögliche Lust für die größtmögliche Zahl von Menschen sei das ethische Ziel, kann nicht begründet werden. Die Wörter Glück und Lust sind schwierige Wörter. Das Wort Glück bezeichnet ein besonders intensives Glücksgefühl, einen seelischen Höhepunkt des Lebens. Aber diese Höhepunkte sind relativ sehr selten; und sie werden oft sogar nur auf dem Hintergrund der Leiden und Kämpfe des Menschen und damit auch infolge ihrer Seltenheit besonders intensiv empfunden. Die Wertethik bezieht deshalb auch die weniger intensiven Lustgefühle in ihren Begriff der Lust oder des Glücks im weiteren Sinne mithinein. Danach entsteht aber unter vielen anderen Schwierigkeiten auch das Problem von der Qualität der Lustgefühle: ob man zwischen sogenannten »höheren« und »niederen« Lustgefühlen unterscheiden könne. Dieses Grundproblem hat keine Wertethik, kein Utilitarismus und kein Hedonismus geprüft oder gelöst. Wenn der Utilitarismus behauptet, die einzelnen Menschen sollen auch für das Glück und die Lust bei möglichst Vielen tätig sein, muß man jedenfalls zuerst, bevor man diese Aufgabe auf sich nimmt, diese Fragen klären — nämlich die Frage, welche Arten von Lustgefühlen zu verbreiten man sich bestreben solle (Siehe über diese und andere Schwierigkeiten des Utilitarismus, des Hedonismus überhaupt, oben S. 45—50). Aber ferner ist man überhaupt nicht imstande zu begründen, daß man generell für das Glück oder die Lust anderer Menschen, also ohne Rücksicht auf ihre Qualität oder ihr Benehmen gegen einen selbst und Andere und ohne Rücksicht auf ihre natürliche Verknüpfung oder fehlende Verbindung mit uns selbst tätig sein soll. Es muß im höchsten Maße bezweifelt werden, ob ein solches, unterschiedloses Streben, allen Menschen wahllos und unterschiedlos nützlich zu sein, das Gedeihen und den Fortschritt der Menschheit irgendwie fördern könnte. Durch eine solche Wohltätigkeit gegen alle Menschen werden die menschlichen Qualitäten aus dem Leben gerottet; es bleibt keine Aufmunterung oder Belohnung für die Guten übrig und keine gerechte Strafe oder Leiden für die Bösen. Alles wird grau in grau. Deshalb ist das utilitaristische Grundprinzip durchaus nicht unentbehrlich für die Menschheit. Unentbehrlich für das Menschenleben sind vielmehr, wie ich oben bewiesen habe, die beiden Grundsätze, die ich die Sätze 1 und 2 genannt habe (S. 247). Diese Sätze sind die Grundgesetze für den Charakter und die Gesellschaft, die beide neben der Wissenschaft zu den
252 tragenden Kulturwerten gehören. Sie sind für das Menschenleben ebenso unentbehrlich, wie die letzten Axiome der Wissenschaft. W e n n diese Grundgesetze zusammenbrechen, bricht alle menschliche Beherrschtheit und jede menschliche Gesellschaft zusammen. Das Menschenleben sinkt in den Dschungel hinab, auf die Raubtierstufe zurück. Die Axiome der Wissenschaft und jene Grundgesetze des Charakters und der Gesellschaft gegen das Tier im Menschen sind im Dasein und in der Entwickelung der Menschheit zu höheren Lebensstufen gewaltige Hebelarme gewesen. Der Begriff der Pflicht muß über sein natürliches Gebiet erweitert werden. Dieser Begriff ist selbstverständlich gegen eine ganz bestimmte Handlung in einer ganz bestimmten Verbindung gerichtet, nämlich gegen die schädlichen Handlungen des einzelnen Menschen im Verhältnis zu seinen Mitmenschen. Man kann von Natur aus davon sprechen, daß man die Pflicht habe, seine Mitmenschen nicht zu schädigen. Aber man kann nicht von Natur aus von einer Pflicht, Lustgefühle bei allen Menschen hervorzurufen, sprechen, denn eine solche Pflicht läßt sich nämlich einfach gar nicht erfüllen. Eine wohlwollende Einstellung den Mitmenschen gegenüber, die sich in hilfreicher Handlung Ausdruck gibt, kann auch nicht objektiv begründet werden, sondern lediglich durch die Tatsache, daß es selbstverständlich das Menschenleben erleichtert und seine Bedingungen verbessert, wenn die Menschen alle einander stützen und im Notfalle helfen. Dadurch wird auch begründet, daß die Gesetze innerhalb gewisser begrenzter Gebiete eine solche gegenseitige Hilfe und Unterstützung zu fördern suchen — in den modernen Gesellschaften sogar in steigendem Maße (z. B. durch die allgemeine, gesetzliche Volksversicherung gegen Krankheit, Alter und Invalidität). Aber auch nicht diese Hilfsbereitschaft kann — weder auf rechtlichem noch auf ethi-
Aus dem rechtlichen Gebiete kann beispielsweise hervorgehoben werden, daß die Volksversicherungsgesetze in der Regel die Leistung der Altersrente durch die Gesellschaft dadurch bedingt sein lassen, daß der Betreffende sich nicht gewisser, ernster, strafbarer Handlungen oder eines besonders unwürdigen Lebens schuldig gemacht hat (Vgl. z. B. das dänische Volksversicherungsgesetz § 38 2), 3) und 5). Etwas ganz Anderes ist es, daß man innerhalb der besonderen Gruppe von Fällen, in denen Menschen notleiden, oft genötigt ist ohne vorausgehende Untersuchung der Qualität und der Notleidenden zu helfen, einfach weil man in solchen Fällen oft gar nicht Zeit zum Nachprüfen hat.
253 sehen Gebiet — durchgeführt werden, wenn man von jeder menschlichen Qualität absieht. Die Qualität eines Menschen steht in direktem Verhältnis zur Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Lebensführung mit einer charaktermäßigen und gesellschaftsmäßigen Haltung, mit den Sätzen 1 und 2. Die Ethik hat sich bisher an der Aufgabe verhoben, indem sie zuerst das Glück und das Lustgefühl und deren Verbreitung unter den Menschen als Ziel aufstellte, mit dem Ergebnis, daß man weder mit Bezug auf das Glück selbst als die meistmöglichen oder größtmöglichen Lustgefühle (das Problem von dem Quantum des Lustgefühls) noch mit bezug auf die Verbreitung des Lustgefühles (das Problem von der größtmöglichen Anzahl) oder aber über das Verhältnis dieser beiden Quantumsbegriffe zu einander einig werden konnte. Da eine Einigheit in bezug af diese Probleme nicht erzielt werden konnte, ist die Ethik festgefahren; und sie hat gar nichts begründen können. Dieser Hoffnungslosigkeit und Verwirrung gegenüber muß man zunächst eine feste, wissenschaftliche Methode schaffen, und darnach scharf und klar zwischen den verschiedenen, begrenzten Aufgaben unterscheiden. Im Vorhergehenden habe ich versucht das zu tun. Ich habe oben meines Erachtens begründet, daß die Methode die sein muß, die ich angegeben habe und die ich die wertende Experimentalmethode nannte, und daß es zwei begrenzte Aufgaben gibt, die vor Allem gelöst werden müssen, nämlich die oben bei den Grundsätzen 1 und 2 angegebenen. Aber damit der Einzelne überhaupt in Ruhe arbeiten und in seiner Art Befriedigung und Glück erstreben kann, muß das Leben selbst aufrechterhalten, die notwendigen Lebensbedürfnisse befriedigt und die Gefahren, die dem Leben drohen, abgewehrt werden, gleichgültig ob diese Gefahren nun der Natur, anderen Menschen oder dem eigenen Charakter entspringen. Bevor man Glück und Lust schaffen kann, muß man die Grundbedingungen für jede menschliche Befriedigung und für jedes Glück, also die Bedingungen sichern, ohne die das Leben überhaupt nicht gelebt werden kann. Dies kann aber, wie ich oben gezeigt habe, nur durch die Durchführung der beiden Grundsätze erreicht werden, die ich die beiden ersten, ethischen Grundgesetze genannt habe und die kurz folgendermaßen formuliert werden können: daß Menschen durch ihre Lebensführung weder sich selbst noch Andere schädigen. Und dazu gehört, wie ebenfalls festgestellt, daß sie innerhalb eines gewissen Umfanges den gemeinsamen Gefahren und Übeln des Daseins gegenüber einander gegenseitig unterstützen. Mit Umschreibung eines alten Wortes können wir sagen: Sucht erst diese Grund-
254 sätze durchzuführen, dann werden auch alle die anderen Dinge Euch gegeben werden. Wenn sich die bisherige Ethik, sowohl die Wertethik als auch die Pflichtethik, in unklare und überspannte Aufgaben verloren und die begrenzten, dafür aber lebensnotwendigen Aufgaben, die die beiden genannten Grundsätze umschließen, nicht erkannt hat, ist die Ursache die, daß sie, soweit ich erkennen kann, neben einem ungenügenden Durchdenken der Erkenntnisprobleme, versäumt hat, das gewaltige Material praktischer Erfahrungen, die zwei Fachwissenschaften enthalten, zu verwerten, und überhaupt eine innige Verknüpfung mit diesen beiden, nämlich der Rechtswissenschaft und der Medizin, zu suchen. Meiner Ansicht nach ist die Zukunft der Ethik darin zu sehen, daß sie entschlossen die abstrakten Höhen der bisherigen Ethik verläßt, auf den Boden der praktischen Erfahrungen heruntersteigt und eine enge Zusammenarbeit mit den beiden erwähnten Erfahrungswissenschaften beginnt. Die ganze, weitläufige, theoretische Debatte über die unklaren und zweifelhaften Grundbegriffe der Wertethik und der Pflichtethik und die gewaltigen Mengen philosophischer Literatur, die durch diese Debatte hervorgerufen sind, stehen in keinem vernünftigen Verhältnis zu den Bemühungen und sind überhaupt recht unfruchtbar gewesen. Dagegen enthalten diese beiden Fachwissenschaften weitgestreckte und fruchtbare Bereiche tiefer, menschlicher Erfahrungen auf den begrenzten Gebieten, die von den Grundsätzen 1 und 2 umschlossen werden. Die Rechtswissenschaft hat auf dem Gebiete 2 im Laufe der Jahrtausende seit der Entstehung einer menschlichen Gesellschaft unaufhörlich und durch fein ausgedachte Mittel darauf hingearbeitet, die Menschen zu verhindern einander zu schädigen, und außerdem versucht, sie zu einer gewissen Zusammenarbeit gegen die Gefahren, die aus der Natur drohen, zu führen. Auf dem Gebiete der Medizin — also dem Gebiet 1 — sind ebenfalls durch lange Zeitläufte umfassende Erfahrungen gemacht worden. Die öffentliche Debatte über die moralischen Begriffe war in der Regel ohne Wert, eben weil sie es versäumt hatte, mit diesen Erfahrungen in enge Fühlung zu treten. Die ererbte Moral stellt bekanntlich bestimmte Regeln für die persönliche Lebensführung des Einzelnen auf, hat aber keine wirkliche Begründung für sie gegeben. Das hat sich auch gerächt; denn dadurch entstanden die starken Angriffe seitens der negativistischen Richtungen, die eine freie Lebensentfaltung proklamierten, weil sie keine Begründung der ererbten Moralregeln finden konnten, und behaupteten, daß ein freies Nachgeben den Trieben
255 und den Instinkten gegenüber gesund sei und daß eine Hemmung der Triebe durch die ererbten moralischen Forderungen zu krankhaften Zuständen führten. Diese Haltung hat weite Kreise selbst innerhalb der einfachen Bevölkerung beeinflußt. Wenn man diesen weitverbreiteten freien Verhältnissen entgegenarbeiten will, muß man Gründe bringen. Die Gegenwart läßt sich nicht mit Deklamationen über Tugend zufriedenstellen. Man muß jeder einzelnen, ethischen Regel der persönlichen Lebensführung eine reale und bestimmte Begründung geben. Aber eben auf diesem Gebiete begegnen sich, soweit ich sehen kann, die Erfahrungen der Medizin mit den allgemeinen Erfahrungen der Menschheit durch die Jahrtausende. Nach meiner Auffassung muß in der Zukunft eine nähere Zusammenarbeit zwischen Psychologie, Psychiatrie, den anderen Zweigen der Medizin und einer praktischen, seelischen und wirtschaftlichen Erwerbs- oder Tüchtigkeitslehre organisiert werden. Nur durch die gesammelten und zusammengearbeiteten Erfahrungen solcher Wissenschaften kann man den Weg zu gewissen Hauptlinien finden, die uns zeigen, welche persönliche Lebensführung dem Individuum schädlich sei. Ich werde nachher einen Versuch machen, gewisse Richtlinien aufzustellen. Erst wenn die beiden, hervorgehobenen Grundbedingungen gesichert werden können, wird die Ethik imstande sein, die schwierige dritte Aufgabe zu untersuchen, nämlich ob es möglich sei, Wege anzudeuten oder anzuweisen, die für den Einzelnen zum menschlichen Glück oder zur Befriedigung leiten können. Erst wenn auch das gelungen ist, kann für den Einzelnen die Rede davon sein, mitzuwirken um bei Anderen Befriedigung oder Glück hervorzubringen. Und danach muß dann untersucht werden, in welchem Umfange und bei welchen Menschen es für den Einzelnen natürlich sein würde, hierbei mitzuwirken.
11. Kapitel
ZUSAMMENFASSUNG DIE BEGRÜNDUNG UND GEGENSEITIGE K R I T I K . DIE E R K E N N T N I S - F A K T O R E N . DAS SYSTEM DER W I S S E N S C H A F T E N I D I E B E G R I F F E » A P R I O R I S C H « U N D » S U B J E K T I V « IM V E R H Ä L T N I S ZU D E N E R K E N N T N I S F A K T O R E N Die Erkenntnisfaktoren, also unsere Sinneswahrnehmungen und Selbstbeobachtungen, unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit und von gesetzmäßigen Verhältnissen zwischen diesen, darunter auch Zeit und Raum, können, jeder für sich betrachtet, gar nicht Gegenstand einer Erkenntniskritik sein. W i r vermögen nicht außerhalb von uns d. h. außerhalb dieser unseren eigenen Erkenntnisfähigkeiten zu gehen. Das Einzige, was die Erkenntnislehre vermag, ist, sie kritisch gegen einander aufzustellen. Dabei darf man aber nicht, wie ich bereits im Vorhergehenden gezeigt habe, eine einzelne von unseren Erkenntnisfaktoren verwenden um damit alle die Anderen zu kritisieren. Vielmehr müssen wir sie Alle (1—6) zur gegenseitigen Kritik von ihnen Allen verwenden um damit jedem Einzelnen von ihnen das nötige begrenzende Korrektiv zu geben und die größtmögliche Harmonie zwischen ihnen hervorzubringen. Die Grundbegriffe der Erkenntnis: die Wirklichkeit und die logischen, mathematischen Axiome, sind, wie meines Erachtens oben festgestellt, aus unserem Vermögen Verschiedenheit und Gleichheit zu finden, aus unseren Gefühlen der Lust und der Unlust und aus der Gesetzmäßigkeit zwischen diesen und unseren Sinneswahrnehmungen entstanden. Dadurch entsteht auch der im täglichen Leben und in den Fachwissenschaften gültige Wirklichkeitsbegriff 1. Diese Wirklichkeit ist die Welt, von der wir durch diese Erkenntnisfaktoren in ihrem gewöhnlichen Zusammenwirken Erfahrung erhalten. Der zweite Wirklichkeitsbegriff: die Welt an sich, die Dinge an sich, entsteht dadurch, daß unsere entscheidende Fähigkeit imstande ist, selbstkritisch zwischen der Vorstellung von der Welt, die unsere Er-
257 kenntnisfähigkeiten — die Sinnesempfindungen in den Relationen — uns vermitteln, und dieser Welt, dem Universum, wie es in seinem Inneren ist, zu sondern. Da aber dieser Wirklichkeitsbegriff, die Wirklichkeit 2, von unserem eigenen Erkenntnisvermögen, Unterscheiden und Vergleichen, geschaffen ist und wir also niemals zu wissen bekommen können, ob diese und andere Erkenntnisfähigkeiten in der Tat diese Wirklichkeit wiedergeben, bleibt er das große unbekannte X, von dem wir in unseren gewöhnlichen wissenschaftlichen Untersuchungen, sowohl in der Naturwissenschaft als auch in der Geisteswissenschaft, absehen können. Vor Allem aber dürfen wir dieses X nicht mit der Wirklichkeit vermengen, die die Naturwissenschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt als das richtige Bild von dem Inneren der Welt — wie z. B. in der Vorstellung der in unserer Zeit herrschenden Atomtheorie — betrachtet. Es kann z. B. nicht bewiesen werden, daß die atomaren Prozesse die Welt an sich, die Wirklichkeit 2, seien. Selbst wenn ein einzelner unserer Erkenntnisfaktoren — die Gesetzmäßigkeit — bei diesen Prozessen versagen sollte, müssen wir sie mittels anderer Erkenntnisfaktoren auffassen, vor Allem durch Verschiedenheit und Gleichheit; aber wir wissen auch nicht, ob dieser Faktor uns eine richtige Erkenntnis der Welt an sich vermittelt oder nicht. Das Wort »apriorisch« kann deshalb meiner Ansicht nach künftig nur eine sehr begrenzte Verwendung finden. Erst wenn wir durch unsere grundlegenden Erkenntnisfaktoren, unser Unterscheiden und Vergleichen, unsere Gefühle der Lust und der Unlust, unsere Auffassung der Gesetzmäßigkeit und damit auch von Zeit und Raum, unseren Wirklichkeitsbegriff und damit auch die Sonderung zwischen der äußeren und der inneren Welt gebildet haben, können wir den späteren einzelnen Teilen unserer Erkenntnis oder Auffassung der Welt gegenüber zu untersuchen beginnen, ob sie mit der Wirklichheit übereinstimmen oder aber über diese hinausgehen und durch eine besondere Neigung des menschlichen Geistes geschaffen worden seien. Bei dem Wort »Wirklichkeit« denken wir in erster Linie an unsere bisher gemachten Sinneswahrnehmungen und Selbstbeobachtungen in den Relationen, also in letzter Instanz unser bisheriges Vortasten und Vorwärtswollen oder unser Experimentieren und dessen Erfolge. Diese bisher gehabte Erkenntnis oder bisheriges Vorgefühl von der Welt nennen wir Erfahrung oder mit einem Fremdwort: empirische Erkenntnis. 17
Erkenntnis und Wertung
258 A. Das Wort »apriorisch« kann folglich in der Bedeutung einer Annahme aufgefaßt werden, die künftiger Erfahrung vorgreift. Streng genommen können wir z. B. nur sagen, daß das Metall nach unserer bisherigen Erfahrung, unserem bisher erlebten Vortasten oder Experimentieren stets bei y Grad geschmolzen sei. Die Physik sagt aber generell, daß das Metall x bei y Grad schmelze oder schmelzen werde. Einzelne Realwissenschaften äußern sich lediglich über die bisherige Erfahrung, also über die bisher gemachten Sinneswahrnehmungen im Zusammenhange der Relationen, wie es in der Geschichte und der Geologie der Fall ist. Die meisten Realwissenschaften aber, und vor Allem die Naturwissenschaft, arbeiten stets derart, daß sie die vergangene und künftige Erfahrung unter Einem zusammenfassen, indem sie der Konstanz der Natur zu allen Zeitpunkten vertrauen. In Bezug auf die vielen, festgestellten, gesetzmäßigen Zusammenhänge oder Kausalzusammenhänge, erklärt die Naturwissenschaft, u. a. die Physik und die Chemie, daß diese oder jene Wirkungen notwendigerweise eintreten müssen, wenn diese oder jene Ursachen sich geltend machen, ohne daß irgendein Unterschied zwischen Vergangenheit und Z u k u n f t bestehe. Deshalb formuliert die Naturwissenschaft auch die sogenannten Naturgesetze durchaus allgemein. Die Gesetze Galileis, Keplers und Newtons f ü r die Bewegung der Körper, die Gesetze Coulombs, 0rsteds, Ampères u. A. f ü r das Auftreten der elektrischen und magnetischen Erscheinung sind solchermaßen gestaltet, daß sie Allgemeingültigkeit sowohl f ü r die Vergangenheit als auch f ü r die Z u k u n f t beanspruchen, ohne überhaupt zwischen diesen zu sondern. Wenn Newton beispielsweise in seinen Bewegungsgesetzen u. ä. den Inertiesatz feststellt, also das Gesetz, daß kein Körper, der sich in Ruhe befindet, sich selbst in Bewegung setzen könne, und daß er, wenn er in Bewegung gesetzt worden ist, von selbst weder die Schnelligkeit noch die Richtung der Bewegung zu ändern vermöge, daß vielmehr das Eingreifen äußerer Kräfte f ü r alle diese Änderungen notwendig sei, oder wenn Coulomb u. a. das Gesetz aufstellt, daß die Kraft, mit der zwei Elektrizitätsmengen einander abstoßen oder anziehen, dem Produkt der Elektrizitätsmengen direkt proportional und dem Quadrat des Abstandes umgekehrt proportional sei, stellen diese Naturgesetze bestimmte gesetzmäßige Zusammenhänge mit Allgemeingültigkeit f ü r alle Zeiten, f ü r Vergangenheit so wie f ü r Z u k u n f t fest. Dennoch sind diese Naturgesetze selbstverständlich nur auf der Grundlage der bis-
259 herigen Erfahrungen aufgestellt worden, und streng genommen hat man deshalb gar keine Gewähr dafür, daß die Erscheinungen auch in der Zukunft in Übereinstimmung mit denselben Gesetzen auftreten werden. Durch unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit stellen wir ebenfalls gewisse Gruppierungen der Erscheinungen in konstante Typen (z. B. Pflanzen, Tiere, Grundstoffe in der Naturwissenschaft, Wortgruppen und Wortverbindungen in der Sprachwissenschaft) selbstverständlich nur auf der Grundlage der bisher gemachten Erfahrungen, der bisher wahrgenommenen Gleichheiten und Verschiedenheiten, aber ebenfalls mit einer Allgemeingültigkeit fest, die auf der Annahme von der Konstanz dieser Gleichheiten und Verschiedenheiten auch für die Zukunft beruht. Die Naturgesetze sind also in der Bedeutung apriorisch, daß sie künftigen Zusammenhängen auf der Grundlage der bisher erfahrenen, allgemeinen Zusammenhängen vorgreifen. Es liegt aber dennoch kein Grund vor, die Bedeutung davon zu übertreiben, wie vor Allem Kant es getan hat, als er aus dem generellen Charakter der Mathematik und der reinen Physik sowie der Naturgesetze, aus ihrer Eigenschaft als apriorisch in disem Sinne die Schlußfolgerung zog, daß sie Ausdruck subjektiver Formen, in denen unser Geist stets notwendigerweise alle Erfahrung auffassen müsse, daß sie also auch in diesem Sinne apriorisch seien, was j a nicht zu beweisen ist. Die Mathematik und die Physik können sich an und für sich durchaus mit der folgenden Aussage begnügen (und sie handeln wissenschaftlich am korrektesten, wenn sie sich damit begnügen): der generelle Charakter der mathematischen Sätze und der Naturgesetze bedeutet 1) daß es sich gezeigt hat, daß diese Sätze und Naturgesetze für alle Erfahrungen, die wir bisher gemacht haben und auch in diesem Augenblick machen, mit der Wirklichkeit am besten übereinstimmen. Diese Allgemeinheit oder dieser generelle Charakter kann nicht bestritten werden. Wer sagt denn, daß Allgemeinheit oder Generalität Anderes bedeute, als allgemeine Gültigkeit für einen bestimmten Bewußtseinsinhalt, vor Allem, daß, wenn dieser nicht weniger ist, als unser gesamter Bewußtseinsinhalt bis zu dieser Sekunde? Aber weiter können die Mathematik und die Naturwissenschaft auch sagen, daß 2) diese Allgemeinheit bedeute, daß wir von allen diesen bisherigen Erfahrungen aus vorläufig als interimistische Regel für unser Handeln davon ausgehen, daß wir die mathematischen Sätze und die Naturgesetze auch in Bezug auf unsere Beobachtungen in dieser und in der nächsten Sekunde und in der folgenden Zeit ver17*
260 wenden, bis neue Erfahrungen gemacht worden sind, die den Sätzen der Mathematik und den Gesetzen der Naturwissenschaft widersprechen. In der Atomphysik habe wir ja gezeigt, daß wir von den Naturgesetzen, von dem Kausalsatz, von der Gesetzmäßigkeit, die sie ausdrücken, nicht apriorischer ausgehen, als daß wir auf gewissen Gebieten bereits erkannt haben, daß man — wenigstens bis auf Weiteres — die Gesetzmäßigkeit aufgeben und sich mit einer statistischen Häufigkeit im Auftreten der Erscheinungen begnügen muß. Selbst innerhalb dieser begrenzten Bedeutung des Wortes apriorisch — gleich vorgreifenden Begebenheiten — können sowohl die Mathematik als die Naturwissenschaft also behaupten, daß sie aus arbeitsmäßigen Gründen bis auf Weiteres in diesem Augenblick, in den folgenden Sekunden, Stunden, Tagen usw. den mathematischen Sätzen und den Naturgesetzen folgen, die durch alle Erfahrungen bis zu diesem Moment ständig bestätigt worden sind. Selbst den Kausalsatz — auf dem die Naturgesetze beruhen — oder richtiger: den Satz, daß eine Veränderung in diesem Augenblick auf andere Veränderungen in vorhergehenden Augenblicken in einem gesetzmäßigen Zusammenhang zurückzuführen sei, verwenden wir also in den kommenden Augenblicken nur als eine Arbeitshypothese. Der gegenwärtige Augenblick kann von dem vergangenen oder dem kommenden nicht getrennt werden; die Wirklichkeit bildet einen großen Zusammenhang, dessen Aufteilung in isolierte Augenblicke eine Abstraktion darstellt. Die Naturwissenschaft kann aber jedenfalls mit vollem Recht behaupten, daß ihre Gesetze, ihre gesetzmäßigen Zusammenhänge erfahrungsmäßig und empirisch seien, wenn sie den oben vorsichtigen Vorbehalt mit Bezug auf die Zukunft macht. Und ohne Rücksicht darauf, daß sie, rein arbeitsmäßig gesehen, die Linie von den vorhergehenden Augenblicken zu dem gegenwärtigen und dem kommenden weiterführt, kann man mit genau demselben Recht behaupten, daß diese Linie oder Gesetzmäßigkeit von außen, nämlich von der äußeren Welt, komme und sich unserem Geiste einpräge, wie das Entgegensetzte, nämlich, daß es unser Geist sei, der mit seiner Form die Gesetzmäßigkeit in die Erscheinungen der Umwelt einpräge. B. Apriorisch im Sinne subjektiver Geistesform können wir nur dort verwenden, wo wir in unserem Seelenleben der Fähigkeit begegnen, Vorstellungen zu bilden, die nicht unseren Erfahrungen von der Umwelt entstammen. Einer solchen Fähigkeit begegnen wir in der
261 Phantasie, in allen von uns gebildeten Phantasiegestalten. Apriorisch in diesem Sinne ist auch der Begriff der Kraft als Etwas, das hinter der Umwelt, die wir beobachten können, etwas »hervorbringe« und gleichsam »hinter den Kulissen der Natur« eine Art »Identität« zwischen dem Zustande Vorher und Jetzt herstellt. In diesem Begriffe »Kraft« analogisieren wir von unseren eigenen, inneren psychischen Erfahrungen in bezug auf unsere Willenskraft auf die Verhältnisse der äußeren Welt, während unsere Erfahrung von diesen uns nur Veränderungen im gesetzmäßigen Zusammenhang, aber keine treibende Kraft oder Ursache hinter diesen zeigt.
Der Umstand, daß unsere Annahme einer dauernden Konstanz der Natur auch in die Zukunft hinaus aus der bisherigen Erfahrung selbst hervorgegangen ist und auch auf ihr baut, weil diese Erfahrung eine solche Annahme bisher stets bestätigt hat, berechtigt nicht zu glauben, daß die bisher wahrgenommene Konstanz stets in beWeise verwirklicht werde. Bisweilen müssen die naturstimmter wissenschaftlichen Gesetze einer Umgestaltung unterworfen werden, bei der eine früher angenommene Konstanz von einer anderen und breiteren Form abgelöst wird, die sich den neuen Erfahrungen besser anpassen läßt. Das gilt beispielsweise den Gesetzen der Konstanz der Energie und der Masse. Früher wurde angenommen, daß die Summe aller Energie im Universum konstant bleibe und daß dasselbe der Summe aller Masse gelte. Nach der Relativitätstheorie werden diese Sätze von einem für Masse und Energie gemeinsamen Grundsatz abgelöst, nämlich von dem Grundsatz, daß die Gesamtsumme der Energie und der Masse im Universum konstant sei. Daraus geht hervor, daß die auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen aufgestellten Sätze für die Zukunft, die naturwissenschaftlichen Gesetze, den Erfahrungen der Zukunft gegenüber nicht immer stichhaltig sind. Dies bedeutet aber lediglich, daß gewisse bestimmte Arten der Konstanz versagen, aber durchaus nicht, daß
Im Übrigen bestand Einstein darauf, daß seine Relativitätstheorie sich gut mit den Grundbegriffen der klassischen Physik vereinigen lasse, also mit Zeit, Raum und Kausalität. Deshalb war er mit Bohr nicht darin einig, daß man die Erklärung der atomaren Prozesse aus diesen Grundbegriffen aufgeben müsse. Nach seiner Ansicht würde die Forschung gewiß den Weg zu einer solchen Erklärung einmal finden.
262
die Konstanz oder die Regelmäßigkeit der Natur selber versage. Es ist möglich, daß wir auf gewissen Gebieten der Natur keinen gesetzmäßigen, sondern nur einen statistisch häufigen Zusammenhang erwarten dürfen, so wie es in der neuesten Physik bereits mit Bezug auf die atomaren Prozesse geltend gemacht wird. Wenn man — von einem kantischen Gedankengang aus — sagen würde, daß es, wenn der Kausalzusammenhang als allgemeiner und notwendiger Zusammenhang versagte, bedeuten würde, daß wir die Erscheinungen nicht verstehen, muß dazu bemerkt werden, daß wir die Veränderungen in der Umwelt überhaupt nur verstehen würden, wenn wir feststellen könnten, daß »die Ursache« die Wirkung als eine in der Natur wirkende Kraft hervorbringe und damit daß eine Identität zwischen dem früheren Zustande und der gegenwärtigen Veränderung zuwege gebracht werde. Die Erfahrung gibt uns aber eben kein solches tieferes Verständnis, das man gewöhnlich und volkstümlich dem Kausalzusammenhang beilegt. Was wir erfahren, ist nur der äußere gesetzmäßige Zusammenhang oder ein statistisch häufiger Zusammenhang der Veränderungen. In Wirklichkeit wissen wir nicht, was diese gesetzmäßigen oder regelmäßigen Zusammenhänge sind. Wir verstehen sie nicht. In der Natur, in ihrem gesetzmäßigen oder statistisch häufigen Zusammenhang begegnen wir nichts, das nur annähernd in die Richtung des logischen Zusammenhanges: Grund und Folge weist.
II DIE B E G R Ü N D U N G DER ERKENNTNISFAKTOREN. DIE INTERNE KRITIK DER ERKENNTNISFAKTOREN
Wie lassen sich die Erkenntnisfaktoren, 1—6, auf denen alle Wissenschaft beruht, nun selbst begründen? Ein Philosoph des Altertums sagte einmal: »Gib mir eine Stelle, auf der ich stehen kann, und ich werde die Welt bewegen.« Das gilt in ganz besonderem Maße dem Ausgangspunkt der Erkenntnislehre — demjenigen Punkt, dem sowohl die Psychologie, als die Erkenntnislehre entspringen und von dem aus sie sich trennen. Der englische Empirismus, Locke, Berkeley und Hume, und jeder Empirismus, der nach ihnen gekommen ist, meinte, dieser Ausgangspunkt werde von den Sinnesempfindungen gebildet. Sie sahen nicht, daß sie dabei die Grundlage, nämlich den kritischen Verstand (die anderen Erkenntnisfaktoren), auf dem sie in Wirklichkeit selbst ihre
263 Erkenntniskritik aufbauten, von diesem Gesichtspunkt aus unterminierten und zersprengten. Für Kant und den Apriorismus nach ihm ist der Ausgangspunkt der entgegengesetzte, nämlich alle Erkentnisformen zuzüglich der Sinnesempfindungen; es sind die Erkenntnisformen, die Kant Verstandes- und Anschauungsformen nannte, d. h. Gleichheit und Verschiedenheit, Kausalzusammenhang, Zeit und Raum; aber weder er noch die anderen Aprioristen bemerkten, daß sie für die Verstandeskritik, aus der sie die Folgerung zogen, daß diese Verstandesformen subjektiv seien, selbst eben dieselben Verstandesformen verwendeten. Sowohl der Empirismus als auch der Apriorismus sägen also den Ast ab, auf dem sie sitzen. Letzten Endes sind wir nicht imstande, die menschlichen Erkenntnisfaktoren zu kritisieren. Auf der anderen Seite muß aber hervorgehoben werden: Eine »Begründung« im engeren, wissenschaftlichen Sinne, d. h. die mathematische Begründung — eine Schlußfolgerung von zwei Prämissen oder Behauptungen zu einer sicheren Konklusion — können wir eben so wenig in der Erkenntnislehre, wie innerhalb der Naturwissenschaft leisten. Selbst die Prämissen der Mathematik müssen — wie oben erläutert — genau wie die übrige Wissenschaft auf einige, fundamentalen Prämissen zurückgeführt werden, die letzten Endes eben nur auf den Erkenntnisfaktoren beruhen. Und daraus folgt, dass jede Wissenschaft nur auf diesen Faktoren beruhen und nur von ihnen aus seine »Begründung« finden kann. Es ist aber nicht möglich, sie wissenschaftlich zu begründen. Das Einzige, was meine vorhergehende und meine folgende erkenntnispsychologische Darstellung geben kann, wird also — wie früher hervorgehoben — eine Orientierung sein, die uns mittels dieser Faktoren zu einem psychologischbiologischen Urfaktum, einer Urfähigkeit führt, auf der wir und alle anderen, lebenden Wesen ihr gesamtes Dasein bauen und ohne die wir weder leben noch handeln können. Aber diese Orientierung oder Zurückführung der Erkenntnisfaktoren auf dieses Urvermögen, können wir ebensowenig beweisen, wie die Naturwissenschaft ihre letzte Auffassung vom Universum, nämlich die Atomtheorie, beweisen kann, da auch diese j a auf denselben Faktoren baut. Glücklicherweise können wir aber in beiden Fällen auch nicht das Entgegengesetzte beweisen. Wie ich im Vorgehenden zu zeigen versucht habe, gibt es also letzten Endes keine andere »Begründung« der 6 Erkenntnisfaktoren und damit auch aller Wissenschaft, als die menschliche Fähigkeit, die ich unser Urvermögen genannt habe, nämlich das Vortasten mit den drei Zügen: 1. Unterscheiden und Vergleichen, 2. zwischen den Ge-
264 fühlen der Lust und der Unlust und 3. die Wahl einer Bewegung oder eines Zustandes, der die Lust festhält und den Schmerz abwehrt. Unsere sämtlichen 6 Erkenntnisfaktoren sind aus dieser Wahl hervorgegangen und finden ihre Begründung nur in ihr. Wir tasten, fühlen und wählen uns vor zu einer immer klareren Auffassung der Verschiedenheiten und der Gleichheiten zwischen Sinneswahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen und von gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen diesen in Zeit und Raum. In diesem Urvermögen ist, soweit ich sehen kann, der einzige Standort zu finden, von dem aus man die Erkenntnislehre bewegen und sie und damit alle Wissenschaften, die Ethik und alle anderen Kulturwerte, begründen kann. Jeder Augenblick unseres Lebens wird von diesem Urvermögen, von unserem einfachen Unterscheiden zwischen Lust und Unlust und dem schwierigen Kurs unseres Lebens zwischen diesen Klippen bewegt. Einen tieferen Einblick in die Begründung aller Erkenntnis und alles Handelns können wir nicht erzielen. Diese drei Züge unseres Urvermögens lassen sich der Kürze halber sehr wohl folgendermaßen benennen: Erkenntnis (Unterscheiden und Vergleichen), Gefühl (Lust und Unlust) und Willen (die Wahl). Das Grundvermögen muß aber als ein Ganzes aufgefaßt werden. Bereits in unserer einfachsten Reaktion der Lust und der Unlust gegenüber suchen wir, wie im Vorhergehenden gezeigt, und zwar schon bevor wir die erstere festhalten und die letztere abwehren können, instinktiv nach der Ursache, und wenn sie wiederkehrt, vergleichen und unterscheiden wir und wählen dann. Unser Gefühl der Lust und der Unlust treibt uns, zwingt uns also verwärts zur Erkenntnis der Ursache (d. h. etwas zu finden, das mit der Lust oder dem Schmerz im gesetzmäßigen Zusammenhang steht) und zur Erkenntnis von Gleichheit und Verschiedenheit. Allein aus diesem Grunde ist es deshalb ebenso sinnlos, diese Erkenntnisfaktoren, wie unsere Fähigkeit Lust und Unlust zu empfinden, kritisieren zu wollen. Jede Kritik würde eine Grundlagen-Illusion darstellen, denn bereits bei der Erklärung des Ursprunges dieser Erkenntnisfaktoren aus der Wahl zwischen Lust und Unlust verwenden wir ja diese Faktoren selbst. Das Urvermögen, sowohl Lust als Unlust, sowohl Unterscheiden und Vergleichen zwischen diesen als die Wahl selbst, dieses Urvermögen, in dem die Ursachenerkenntnis verborgen liegt, bildet deshalb eine Einheit, die weder in ihrer Ganzheit noch in ihren Elementen Gegenstand der Kritik oder des Beweises sein kann,
265 denn es gibt nämlich Nichts, wovon dises Urvermögen abzuleiten wäre. Dagegen läßt sich Alles von ihm ableiten. Die Erkenntnis des Menschen ist also letzten Endes nicht durch den intellektuellen Teil des Menschen allein, sondern durch den ganzen Menschen, durch die gesammte Fähigkeit des Menschen zu empfinden, zu erkennen und zu wollen, in gemeinsamer Zusammenarbeit zu begründen. E s wäre sinnlos zu fragen, ob dieses Urvermögen — die experimentelle Fähigkeit im tiefsten Sinne — und die darin enthaltenen Erkenntnisfaktoren »apriorisch« seien oder ob sie uns vielleicht lediglich eine subjektive A u f f a s s u n g der W i r k l i c h k e i t vermitteln, denn der Begriff der Wirklichkeit selbst wird j a von der Unterscheidung dieses Urvermögens zwischen den menschlichen Erkenntnissen geschaffen; und wir wissen folglich nicht, wie die innerste Wirklichkeit ist. W i e bereits oben hervorgehoben, müssen wir darüber klar sein, daß selbst bei dieser Erklärung und dieser Begründung der 6 Erkenntnisfaktoren von der primären menschlichen Fähigkeit aus, dem Gefühl der Befriedigung (der Lust) oder des Schmerzes (der Unlust) und unserem Vermeiden desselben (durch das Vortasten oder V o r f ü h l e n ) , verwenden wir diese Erkenntnisfaktoren selbst — nämlich das Unterscheiden und Vergleichen und die Beobachtung des gesetzgebundenen Zusammenhanges. W i r können deshalb jede Grund-Illusion nur vermeiden, wenn wir darüber im Klaren sind, daß diese F a k toren weder als subjektiv noch als das Entgegengesetzte bewiesen werden können, und daß es unmöglich ist, irgend einen Beweis im streng wissenschaftlichen Sinne — als Schlußfolgerung von unbestreitbaren Prämissen — für diese Faktoren, also für unsere Erkenntnis zu geben.
Unser Gefühl der Befriedigung (der Lust) und der Unlust und das Vermeiden des Letzteren stellt das primäre Erlebnis des Menschen in jedem einzelnen Augenblick des Lebens dar. Außerhalb dieses Erlebnisses gibt es keinen W e g f ü r uns. Alterum non datur. Alle unseren Handlungen, alle unseren allgemein-menschlichen Erfahrungen, unsere ästhetischen und ethischen Gefühle scheinen ohne Ausnahme nur verschiedene Ausdrücke dieses selben, primären Erlebnisses zu sein. Unsere Erkenntnis selbst scheint ausschließlich in diesem Erlebnis ihre W u r z e l n zu haben. Aber ein Beweis dafür im gewöhnlichen Sinnes dieses Wortes kann nicht gegeben werden.
266 Das Einzige, das wir hierüber sagen können, ist, daß uns als lebenden Wesen nichts Anderes übrig bleibt, als unserem Urvermögen zu folgen. Wenn wir das Leben aufrechterhalten wollen, können wir nicht umhin, zwischen Befriedigung und Leid zu unterscheiden und in der Regel das Erstere zu wählen und das Letztere zu vermeiden. Anderes läßt sich zur Begründung dieses unseres Urvermögens und damit auch zu der unserer Erkenntnis und ihrer Faktoren nicht sagen. Wir sind hier in den Urgrund alles menschlichen Handels, aller Erkenntnis, alles Gefühls und alles Strebens hinabgestiegen. Hier hört jede Beweisführung im wissenschaftlichen Sinne auf.
Und deshalb ist es notwendig, eine neue Erkenntnislehre aufzubauen, weil die bisherige — und zwar sowohl die empirische als auch die apriorische Schule — durch die Grundlagen-Illusionen, denen sie selbst unterliegen, alle Resultate, die sie erreichten, vernichtet haben, so daß wir tatsächlich nicht von der Stelle gekommen sind. Wir müssen vollkommen von vorne anfangen. Jede künftige Erkenntniskritik muß zunächst intern sein. Das Einzige, was eine Erkenntniskritik beurteilen und feststellen kann, ist, daß jeder einzelne dieser Erkenntnisfaktoren, wenn sie zusammenwirken sollen und wenn man das richtige Totalbild der Wirklichkeit erzielen will, mit Bezug auf sein Anwendungsgebiet gewissen Korrektiven oder Begrenzungen zu unterwerfen ist, die man dadurch erreicht, daß man sie einander gegenseitig kritisch beleuchten läßt. Bei dieser internen Kritik muß man überhaupt den Grundsätzen folgen, die ich oben S. 174 ff kurz hervorgehoben habe. Wir müssen deshalb vor Allem den Gesichtspunkt des Einzel-kriteriums für die Wirklichkeit — nämlich von einem einzelnen Faktor, den Sinnesempfindungen aus — aufgeben, der den verhängnisvollen Ausgangspunkt der gesamten bisherigen Erkenntnislehre mit ihrer unrichtigen Sonderung zwischen Stoff, der von Außen kommt, und subjektiven Auffassungsformen bildete. Ferner dürfen wir in der Erkenntnislehre keine einzige Erkenntnisfähigkeit oder keinen Erkenntnisfaktor verwenden, den wir selbst als subjektiv und damit als zur Erkenntnis der Wirklichkeit ungeeignet betrachten. Nach der vorhergehenden Untersuchung lassen sich die internen Korrektiven oder Begrenzungen in der Verwendung der einzelnen Erkenntnisfaktoren in den folgenden Hauptpunkten kurz angeben:
267 1. Korrektur gewisser Sinneswahrnehmungen mit Hilfe anderer Sinneswahrnehmungen und unserer Auffassung von Gleichheiten und Verschiedenheiten, von gesetzmäßigen Zusammenhängen, darunter Zeit und Raum, kurz gesagt: mittels sämtlicher Erkenntnisfaktoren (im Folgenden bediene ich mich dieser kurzen Formulierung »sämtliche Erkenntnisfaktoren« statt der hier vorgenommenen Aufzählung aller einzelnen Faktoren). Während die Kritik der anderen Erkenntnisfaktoren, der Relationen, mittels der Sinneswahrnehmungen, mit der sich die Erkenntnislehre, sowohl die empirische als die apriorische, bisher beschäftigt hat, wie ich im Vorhergehenden gezeigt habe, mißlang, ist es dagegen durchaus möglich, eine Kritik gewisser Sinnesempfindungen mit der Hilfe anderer Sinnesempfindungen und Relationen vorzunehmen. Die Sinnesempfindungen können als Ganzheit nicht kritisiert, nicht als subjektiv im Verhältnis zur äußeren Welt oder Wirklichkeit erkannt werden. Dagegen können einzelne Gruppen von Sinnesempfindungen ohne Weiteres korrigiert werden. Es besteht ein Gegensatz zwischen den beiden Faktoren, die von altersher Sinnes Wahrnehmung und Denken genannt werden. Die moderne Naturwissenschaft hat indessen gezeigt, daß unser Denken uns bisweilen ein anderes Weltbild vermittelt, als die unmittelbare, sinnliche Wahrnehmung. Es ist recht unklar, was man hierbei unter dem Worte »Denken« versteht. Nach der vorhergehenden Untersuchung kann diese Gegensätzlichkeit, wenn sie irgend welche bestimmte und klare Bedeutung haben soll, wahrscheinlich nichts anderes heißen, als daß wir gewisse Sinnesempfindungen und das Bild der Welt, das sie uns geben, mit Hilfe anderer Sinnesempfindungen und einer Reihe von Schlußfolgerungen aus Gleichheiten und Verschiedenheiten und gesetzmäßigen Zusammenhängen kritisieren. Unsere unmittelbare sinnliche Wahrnehmung zeigt uns beispielsweise, daß sich die Sonne um die Erde dreht; und darauf stützte sich das ptolemäische Weltbild. Aber durch eine Reihe von Schlußfolgerungen, Unterscheidungen, Vergleichungen und gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen einer Menge von Wahrnehmungen wies Kopernikus nach, daß ein anderes Weltbild, in dem die Erde sich um die Sonne dreht, richtiger sein müsse. Und in derselben Weise ist die Molekulartheorie und die Atomtheorie der heutigen Naturwissenschaft entstanden, denn auch sie gibt ein ganz anderes Bild, als die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung es vermag. Der einfache Mann,
268 der z. B. einen Stuhl sieht, wird nicht ohne Weiteres verstehen können, daß der Stuhl in Wirklichkeit keine Farbe hat, daß diese in uns selbst liegt, daß aber gewisse Wirkungen, Schwingungen, die von unserem Auge als Farben aufgefaßt werden, von ihm ausgehen, ferner daß der Stuhl, seiner Farben entkleidet und nur im Besitz von Größe und Gestalt, in Wirklichkeit aus Milliarden von Molekülen besteht, die wiederum aus Milliarden von Atomen zusammengesetzt sind, und daß selbst diese märchenhaft kleinen Teile aus noch kleineren Teilchen, den Elektronen u. a. m. bestehen, daß sogar relativ gewaltige Abstände zwischen diesen vorhanden sind und daß sie gemeinsam ein kunstfertig gebautes System bilden, das in mehreren Beziehungen an das ungeheure Sonnen- und Planeten-system erinnert, dem unsere Erde angehört. Dem angeführten Denken in Verschiedenheiten und Gleichheiten und in gesetzmäßigen Zusammenhängen zufolge wird eine einzelne Gruppe der Sinnesempfindungen — Farbe, Laut, Geschmack usw. — als subjektiv, als die sogenannten subjektiven Sinnesqualitäten betrachtet werden. Es wäre indessen um der Klarheit willen besser, wenn man in dieser Verbindung nicht die Wörter »objektiv« und »subjektiv«, sondern adäquat und inadäquat benutzen würde. Unsere Empfindungen der Farbe und des Lautes entstammen auch der modernen Naturwissenschaft, besonders der Molekular- und Atomtheorie nach, wirklichen Erscheinungen der Umwelt; die gleichen Einwirkungen aus der Umwelt geben die gleichen Sinnesempfindungen. Die Behauptung der Naturwissenschaft heißt aber in Wirklichkeit, daß unsere Farben- und Lautempfindungen keine adäquaten Wiedergaben derjenigen Schwingungen im Universum seien, die wir Licht und L a u t nennen. W e n n wir behaupten, daß das kopernikanische Weltbild und das Weltbild der modernen Molekular- und Atomartheorien richtig und wahr seien und besser mit der Wirklichkeit übereinstimmen, als das ptolemäische und überhaupt als das Weltbild, das unsere unmittelbare Sinneswahrnehmung uns vermittelt, dann beruht das darauf, daß das Weltbild des Kopernikus und der Molekular- und Atomtheorie die bestmögliche Wechselbeziehung, Korrelation, zwischen allen bisher gemachten Sinneswahrnehmungen in ihren Gleichheiten, Verschiedenheiten und gesetzmäßigen Zusammenhängen vermittelt. W e n n wir neue Sinneswahrnehungen machen oder neue Gleichheiten und Verschiedenheiten oder neue gesetzmäßige Beziehungen entdecken, müssen diese neuen Erfahrungen stets und in jedem ein-
269 zelnen Falle mit dem gesamten großen System der mannigfaltigen Erfahrungen, die die Wissenschaft bisher gemacht hat, in Einklang gebracht werden. Wenn es aber nicht möglich sein sollte, solche neue Erfahrungen mit diesem System, mit unserer totalen Weltauffassung in Übereinstimmung zu bringen, kann es notwendig werden, dieses System zu revidieren, mag es nun in größerem oder kleinerem Umfang geschehen. Die Korrelation muß in irgend einer Weise zustande gebracht werden, entweder indem man die neuen Erfahrungen nach näherer Untersuchung in das System einfügt oder indem man, wenn dies nicht möglich sein sollte, das System selbst ändert oder sogar aufgibt. 2. Die »Begrenzung« des Raumes und der Zeit durch sämtliche Erkennt n isfak toren. Durch unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit und von Gesetzmäßigkeit zwischen unseren Wahrnehmungen erklären wir die Entstehung des Raumes und der Zeit, und zwar bezüglich des Raumes als eine Korrelation oder Koordination verschiedener sinnlicher Empfindungen, vor Allem Gesichts-, Bewegungs- und Berührungsempfindungen; und die wechselseitige Abgrenzung des Raumes und der Zeit wird festgestellt: die Begrenzung des Raumes auf materielle Phänomene und sein Ausschluß von psychischen Erscheinungen; die Anwendung der Zeit sowohl auf materielle als auch auf psychische Phänomene, bezüglich der ersteren aber gleichzeitig ihre Begrenzung auf den Stoff, auf die Bewegung von Stoffteilen. 3. Die landläufige Auffassung gesetzmäßiger Zusammenhänge durch sämtliche Erkenntnisfaktoren kritisch beleuchtet. Durch unsere Auffassung von Verschiedenheit, Gleichheit und Ge-
Nach dem vorher angegebenen Korrektiv können wir die Ausdrücke Kausalzusammenhang, Ursachen und Wirkungen, Kausalerklärung durchaus anwenden. Im Folgenden wird der kürzere Ausdruck: Kausalzusammenhang (und die übrigen mit dem Wort »Kausal« zusammengesetzten Ausdrücke) deshalb oft ohne Unterschied, abwechselnd mit dem Ausdruck: gesetzmäßiger Zusammenhang, benutzt, wobei allerdings stets stillschweigend vorausgesetzt ist, daß Kausalzusammenhang überall nur als Gesetzmäßigkeit zu verstehen ist. — Ebenso bediene ich mich des Ausdruckes »Ursachen und Wirkungen« abwechselnd mit dem Ausdruck »gesetzmäßiger Zusammenhang.«
270 setzmäßigkeit zwischen Sinneswahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen werden die Begriffe Kraft und Ursache als mit der Wirklichkeit, den Wahrnehmungen im gesetzmäßigen Zusammenhang, nicht übereinstimmend kritisiert und ausgeschaltet. Und statistisch häufiger Zusammenhang wird vom gesetzmäßigen Zusammenhang gesondert (oben S. 120 f f ) . 4. Unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit wird durch sämtliche Erkenntnisfaktoren Korrektionen unterzogen. Selbst unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit kann durch die Anwendung der anderen Erkenntnisfaktoren gewissen Korrektionen unterzogen werden. Unser Unterscheiden und Vergleichen lassen sich in dieser Weise mit Hilfe eines noch feineren Unterscheidens und Vergleichens, das andere Sinnesempfindungen uns vermitteln, kritisieren. (Vgl. oben S. 175 ff). Und innerhalb unserer Kausalerklärung können wir bisweilen als Ursache gewisser sichtbarer Änderungen Erscheinungen feststellen, die so klein sind, daß unser Gesichtssinn sie nicht entdecken kann. Durch das Mikroskop stellen wir Verschiedenheiten und Gleichheiten fest, die unser gewöhnlicher Gesichtssinn nicht ausfindig zu machen vermag. Und jenseits aller Mikroskope, selbst des Elektronenmikroskops, befinden sich die meisten Moleküle und Atome und die Elemente dieser letzteren, die Protonen und Elektronen. Weiterhin muß aber betont werden, daß sich unser Unterscheiden und Vergleichen nicht allein auf jene Erscheinungen, die unsere Sinnenswahrnehmungen uns zeigen, sondern auch auf die von uns selbst geschaffenen Phantasievorstellungen anwenden läßt. Hier verbirgt sich eine Gefahr. Nur dasjenige Unterscheiden und Vergleichen, das sich an die Gegenstände der Erfahrung hält, ist wissenschaftlich wertvoll. Jede formalistische Logik, d. h. dasjenige Unterscheiden und Vergleichen, das von konstruierten, lebensfernen Begriffen aus künstliche Gebäude errichtet — angefangen von der mittelalterlichen Scholastik bis zu den spekulativen, philosophischen Systemen von Spinoza und Hegel — entzieht sich dieser Kontrolle der Erfahrung. Ferner muß auch hervorgehoben werden, daß unwesentliche (irrelevante) Verschiedenheiten und Gleichheiten mittels Sinneswahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen in gesetzmäßigen Zusammenhängen kritisiert und als wissenschaftlich wertlos ausgeschieden werden (vgl. S. 201). Weiterhin muß hervorgehoben werden, daß unsere Fähigkeit des
271 Unterscheidens bisweilen geneigt ist, zu scharfe Sonderungen vorzunehmen, einige Erscheinungen aus dem lebensmäßigen Zusammenhange herauszuabstrahieren, von dem sie in Wirklichkeit nicht getrennt werden dürfen. Die allzu scharfe Sonderung der klassischen Erkenntnispsychologie zwischen Sinnesempfindungen und Relationen stellt ein Beispiel hierfür dar. Ein anderes, noch ernsteres Beispiel ist die im Vorhergehenden nachgewiesene, allzu scharfe Unterscheidung zwischen Erkenntnis (Sinnesempfindungen, Vorstellungen in Relationen) einerseits und Gefühlen und Willen andererseits. Wenn diese Sonderungen allzu scharf hervorgehoben werden, geschieht erkenntnistheoretisch dasselbe, wie wenn eine Gruppe von Sinnesempfindungen als inadäquat erkannt wird: andere Erkenntnisfaktoren, hier vor Allem unsere Auffassung des gesetzmäßigen Zusammenhanges, Faktor 2, werden hier miteinbezogen, beleuchten Faktor 1 kritisch und geben diesem eine begrenzende Korrektion. Es zeigt sich also, wie ich oben nachzuweisen versucht habe, daß ein tiefer, gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen allen Erkenntnisakten und den Gefühls- und Willensphänomenen besteht. Aus diesen und ähnlichen Beispielen geht hervor, daß unser Bild der Wirklichkeit durch das gegenseitige Zusammenwirken und die gegenseitige, begrenzende Kritik der Erkenntnisfaktoren vertieft wird. Es ist vom größten Interesse für die Naturwissenschaft und für die Wissenschaft überhaupt, daß die Erkenntnislehre diese gegenseitige Selbstkritik der Erkenntnisfaktoren begründet und beleuchtet. Sowohl unsere Zeit- und Raumauffassung als unsere Kausalauffassung erhalten, wie wir gesehen haben, durch eine solche Untersuchung und vor Allem durch die kritische Beleuchtung der Begriffe Kraft und Ursache wesentliche Korrektionen. Wie aus den oben angeführten Hauptpunkten hervorgeht, muß die Methode der Erkenntniskritik meines Erachtens eine Erklärung und damit eine Korrigierung und Kontrollierung des einzelnen Erkenntnisfaktors mittels aller Erkenntnisfaktoren darstellen, also genau das Umgekehrte dessen, was die bisherige Methode der Erkenntnislehre getan hat, die alle Erkenntnisfaktoren mittels eines einzelnen erklärte und kritisierte (und zwar mittels der Sinnesempfindungen). Die Einseitigkeit jener letzten Methode erhellt beispielsweise besonders deutlich aus der oben unter Punkt 1 erörterten Sonderung zwischen adäquaten und inadäquaten Sinnesempfindungen. Ein gewisser Teil von Punkt 1, und zwar eben der Gedanke der
272 inadäquaten Sinnesempfindungen, geht auf die ältere Philosophie und Naturlehre zurück (Demokrit, Galilei, Descartes, Hobbes); aber erst die moderne Naturwissenschaft hat durch die Molekular- und Atomtheorie diesem Gedanken eine nähere Begründung gegeben. Die kritische Erkenntnisphilosophie — hier vor Allem Berkeley, Hume und deren konsequente Nachfolger — mußte hingegen von ihrem Wirklichkeitskriterium aus einer Sonderung zwischen den Sinnesempfindungen, nach welcher einige eine wahre Erkenntnis der Umwelt, andere aber keine solche geben sollten, ablehnend gegenüber stehen. Wie im Obigen nachgewiesen wurde, muß die bisherige Erkenntnislehre überhaupt von diesem einseitigen Wirklichkeitskriterium aus die Annahme einer Umwelt als eine Fiktion stemplen und damit auch jede Sonderung zwischen den Sinnesempfindungen, nach der eine Gruppe derselben eine wahrere Erkenntnis dieser Umwelt gebe, als andere, zurückweisen. Erkenntnistheoretisch schwebte die Sonderung zwischen adäquaten und inadäquaten Sinnesempfindungen deshalb bisher in der Luft und war nach der bisherigen Methode der Erkenntnislehre auch haltlos. In der Tat läßt jene Sonderung, wie dargetan wurde, sich erst dann begründen, wenn man einsieht, daß die bisherige Methode falsch gewesen ist, und daß man zu der durch die obenstehende Untersuchung begründeten Methode übergehen muß, nach welcher der einzelne Erkenntnisfaktor nicht von einem einzelnen, anderen Faktor aus, sondern erst mittels sämtlicher Erkenntnisfaktoren im Verein erklärt und kritisch beleuchtet wird. Die hier vorgeschlagene, erkenntnistheoretische Methode ist also intern und relativ; sie gibt lediglich eine Kritik der Erkenntnisfaktoren in ihrem gegenseitigen Verhältnis, nicht aber eine absolute Kritik dieser Faktoren selbst. Durch die Heranziehung aller Erkenntnisfaktoren zu einer wechselseitigen Kritik wird keine Kritik der eigentlichen Anwendung der Erkenntnisfaktoren, sondern - wie aus dem Vorhergehenden erhellt — lediglich eine Kritik ihrer Anwendungsweise in ihrem w echselweisen Zusammenwirken gegeben. Eine derartige Kritik und die aus dieser sich ergebenden Begrenzungen und Korrektionen sind aus Rücksicht auf ihre größmögliche Korrelation, ihr wechselseitiges Zusammenwirken, notwendig. Wie ich immer wieder hervorgehoben habe, bedienen wir uns bei diesem Prozess der wechselseitigen Begrenzung stets der gleichen Erkenntnisfaktoren, und zwar vor Allem der Verschiedenheit und Gleichheit und der Gesetzmäßigkeit innerhalb der Wahrnehmungen; jedesmal, wenn im Vorangehenden eine Erklärung der Entstehung der Vor-
273 Stellungen, beispielsweise des Ursprunges des Wirklichkeitsbegriffes, der Entstehung sämtlicher Erkenntnisfaktoren gegeben wurde, operierten wir überall mit Verschiedenheit und Gleichheit und gesetzmäßigen Zusammenhängen innerhalb der Wahrnehmungen. Diese gegenseitige Selbstkritik der Erkenntnisfaktoren kann — ebenso wie die Erkenntnisfaktoren selbst — letzten Endes nur im Urvermögen, und zwar in unserem Gefühl der Befriedigung oder der Vermeidung von Schmerz durch Experimentieren und Vortasten begründet werden. W i r können mit einem anschaulichen Bild sagen, daß unsere Erkenntnisfaktoren gleichsam verschiedene Fühler sind, die wir in die Welt ausstrecken, um Gefahren und Schmerzen zu vermeiden und Bedürfnisse zu befriedigen. Dabei tasten wir uns mittels der sinnlichen Empfindungen, mittels Raum und Zeit, Verschiedenheit und Gleichheit und Gesetzmäßigkeit vor. Wenn wir in dieser Weise zu unserem Wirklichkeitsbegriff vorgedrungen sind und damit einen Ausgangspunkt zur Beurteilung der einzelnen Erkenntnisfaktoren gewonnen haben, entdecken wir, indem wir sie zusammenwirkend anwenden, daß wir uns auf den einzelnen, isolierten Faktor nicht völlig verlassen können, daß wir vielmehr alle gegenseitig korrigieren müssen. Die einzelnen Erkenntnisfaktoren können nicht gänzlich auf eigene Faust arbeiten; vielmehr müssen sie, wie nachgewiesen wurde, auf einander abgestimmt, miteinander in Einklang gebracht werden. Dieses Urvermögen und die darauf fußende Übereinstimmung zwischen unseren gesamten Erlebnissen sind aber der ganzen Menschheit gemeinsame, gleichartige Gefühle der Befriedigung bei der Anwendung unserer Erkenntnisfähigkeiten, der Erkenntnisfaktoren 1—6, während der Jahrtausende gewesen, in denen die Menschheit bestanden hat. Diese Gefühle können daher lediglich die Erkenntnisfaktoren, den Wirklichkeitsbegriff, der auf jenen errichtet ist, die logischen Axiome sowie die experimentale Methode begründen; dagegen können diese Gefühle der Befriedigung, die die Menschheit im Laufe ihres gesamten Daseins empfunden hat, keine einzige bestimmte Anschauung, Beurteilung, Theorie oder Hypothese begründen. An eine bestimmte Anschauung, ein Urteil, eine Theorie können sich starke Gefühle knüpfen. Aber innerhalb des menschlichen Gefühlslebens gibt es verschiedene Schichten, tiefere und overflächlichere. Zur Tiefenschicht gehören die allgemeinmenschlichen Gefühle der Befriedigung bei der Anwendung der Erkenntnis fak18
Erkenntnis und Wertung
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toren, des Wirklichkeitsbegriffes und der logischen Axiome, welche letztere Beide auf jenen Faktoren beruhen, sowie die experimentelle Methode, die zu ihnen geführt hat. Diese Gefühle haben sowohl in der Breite als in der Tiefe eine weit festere Grundlage denn irgend ein mit einer konkreten Anschauung verknüptes Gefühl, denn sie beherrschen die gesamte Menscheit durch alle Jahrtausende. Die mitbestimmten, konkreten Anschauungen — selbst Weltanschauungen wie die ptolemäische — oder mit Urteilen und Theorien verknüpften Gefühle gehören zur Oberflächenschicht; sie können einen großen Teil, ja vielleicht sogar die ganze Menschheit eine gewisse Zeit hindurch beherrschen; trotz Allem sind sie doch nur wie das Unkraut, das heute auf dem Felde wächst und morgen ins Feuer geworfen wird. Anschauungen kommen und gehen; die Erkenntnisfaktoren aber bestehen, denn durch sie werden alle Anschauungen gebildet und wieder aufgelöst und vernichtet; sie sind der Granit, auf dem der Wirklichkeitsbegriff und die logisch-mathematischen Axiome ruhen. Keine konkrete Anschauung kann daher den Wirklichkeitsbegriff, die Sonderung zwischen einer äußeren und einer inneren Welt abstreiten, denn damit würde gleichzeitig auch alles Denken abgestritten werden — und damit fallen auch alle Anschauungen, alle Meinungen und Urteile. Sobald aber dieses universale, menschliche Denken und damit der Wirklichkeitsbegriff und die logischen Axiome angenommen werden, kann keine Rede mehr davon sein, bestimmte Meinungen, Theorien und Urteile auf für die Gefühle der Menschheit nützlichen Wirkungen begründen zu wollen; von da an gibt es überhaupt nur eine einzige Art der Meinungsbegründung, nämlich indem ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, mit der Logik und den auf diesen fußenden, experimentellen Methoden der Wissenschaft nachgewiesen wird. Hier handelt es sich tatsächlich um eine absolute Wahrheit in dem einzigen Sinne, in dem sich das Wort »absolut« in Verbindung mit der Wahrheit von uns Menschen anwenden läßt. Daß meine Vorstellung oder Auffassung tatsächlich mit der Wirklichkeit übereinstimmt und daß a gleich c ist, wenn a gleich b und b gleich c ist, das sind absolute Wahrheiten, nicht als Ausdruck einer Welt an sich, die wir nicht kennen, sondern als Ausdruck derjenigen Wirklichkeit — der Wirklichkeit 1 —, die für uns Menschen überhaupt zugänglich ist. Alle Anschauungen, Urteile und Theorien müssen folglich vor jenem obersten Gerichtshof der Wahrheit geprüft und beurteilt werden, den Wirklichkeitsbegriff und Logik im Verein darstellen. Dann
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ist es aber auch belanglos, ob diese Prüfung möglicherweise schädliche W i r k u n g e n in dem Sinne haben sollte, daß die Anschauung, die durch die Prüfung zum Fall gebracht wird, die Gefühle großer Gruppen oder sogar der größten Gruppen der Menschheit lange Zeit hindurch befriedigt hat, oder sie in dieser Beziehung nützliche W i r kungen haben sollte. Der Wirklichkeitsbegriff ist die Klippe, an der alle subjektiven Meinungen, all die willkürlichen, dogmatischen Richtungen und Bewegungen zerschellen. Um diese Klippe führt nur ein einziger W e g , nämlich derjenige, den die logischen Schlüsse und die experimentelle Methode der Wissenschaft anweisen.
Daraus erhellt, welches grundsätzlichen Denkfehlers sich gewisse oberflächliche Richtungen, die im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts enstanden, schuldig machten, als sie in einer Zeit der allgemeinen Müdigkeit gegenüber dem Erkenntnisproblem, das in den widerstreitenden empirischen und apriorische Richtungen des 18. und 19. Jahrhunderts keine Lösung gefunden hatte, auf die Behauptung verfielen, daß man einfach um dieses unlösbare Problem herumgehen könne, da man eine einfache und praktische Methode habe, die Wahrheit einer Anschauung, eines Urteils, einer Theorie oder Hypothese zu entscheiden, und zwar nach deren Konsequenzen; habe eine Anschauung, Theorie oder Hypothese Konsequenzen, die der Menschheit nützlich seien, so setze sie sich durch und siege; dann sei sie »wahr«. Die Wahrheit eines Urteils, einer Meinung im absoluten Sinne existiere nicht. Jede Meinung, jedes Urteil, jede Theorie sei eine Arbeitshypothese; ihre Wahrheit werde allein durch den Erfolg (the consequences) bestimmt; sie werde durch ihre nützlichen Folgen verifiziert. Diese Auffassung, die vom Pragmatismus (und teilweise auch von der sogenannten wirtschaftlichen Erkenntnistheorie) verfochten wurde, stieß mit Recht auf die heftigste Kritik und verschwand nach einem kurzen Dasein voll von Anschluß und Widerspruch. Es ist ja auch ein Leichtes, diesen Richtungen gegenüber darzutun, daß es tatsächlich absolute Wahrheiten gibt, die durchaus keiner Verification bedürfen, beispielsweise die mathematischen wie 1 + 1 = 2 . Wichtiger ist es jedoch meiner Ansicht nach zu unterstreichen, daß es, wie bereits oben betont, Wahrheit im absoluten Sinne, also in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gibt (selbstverständlich mit der Wirklichkeit 1, da ja in jeder gewöhnlichen Wissenschaft von der Wirklichkeit 2 gänzlich abgesehen werden kann). Unsere gesammten Wahrnehmungsurteile — wie z. B.: diese Rose ist rot, oder die Gruppe Pferde ist einhufig — sind ebenso wohl wie das Urteil 1 + 1 = 2 unbedingt wahr. Und es ist völlig gleichgültig, ob sie nützliche Konsequenzen haben oder nicht — sie sind ganz einfach wahr und zwar ohne jedwelche Berücksichtigung der Konsequenzen. Umgekehrt gibt es Annahmen — wie z. B. der Glaube an eine Strafe nach dem Tode —, die unzweifelhaft nützliche Wirkungen gehabt haben und noch immer haben, von 18»
276 denen sich jedoch nicht behaupten läßt, daß sie wissenschaftliche W a h r heit seien, wie die genannten mathematischen Sätze und die Wahrnehmungsurteile. Eis hat jedoch bei der Kritik jener unklaren, philosophischen Richtungen niemand gezeigt, worin deren fundamentaler Denkfehler besteht, jener Denkfehler, der zu den erwähnten unhaltbaren Ergebnissen f ü h r t . Der Kürze halber nenne ich die menschlichen, aus dem Urvermögen entstandenen Gesamtgefühle der Befriedigung bei der Anwendung der Erkenntnisfaktoren im Laufe der Jahrtausende A, die Erkenntnisfaktoren selbst B, den auf diesen fußenden Wirklichkeitsbegriff, die — ebenfalls auf diesen Faktoren begründeten — mathematischen und logischen Axiome u n d die experimentelle, feststellende und wertende Methode aller theoretischen und angewandten Wissenschaften überhaupt C, w ä h r e n d ich die bestimmten konkreten Anschauungen, Urteile, Theorien und Hypothesen als D bezeichne. In Kürze läßt sich der Denkfehler der genannten Richtungen folgendermaßen kennzeichnen: sie springen leicht von D zu A und gehen dabei ohne Weiteres um B und C, d. h. um die eigentlichen erkenntnistheoretischen Probleme, herum. Diese Philosophie des Übergehens oder des kürzesten Weges hat aber auch durch ihre Konsequenzen bewiesen, daß man die tiefsten Erkenntnisprobleme nicht ungestraft außeracht lassen kann, denn eine derartige Oberflächlichkeit f ü h r t e geradenwegs zu den obenerwähnten, unhaltbaren Ergebnissen, und besiegelte damit das Schicksal jener Richtungen. Sie hatten gesehen, daß es eine außerordentlich mühsame und schwierige Aufgabe ist, die Probleme der bedeutenden Erkenntnistheoretiker wie Locke, Berkeley, Hume und Kant bis auf den Grund durchzudenken u n d eine Lösung des bislang ungeklärten Gegensatzes zwischen den widerstreitenden empirischen und apriorischen Auffassungen dieser Denker und ihrer Nachfolger und deren tiefschürfenden, jedoch ergebnislosen Erörterungen dieser Probleme, die im 18. und 19. J a h r h u n d e r t andauerten, zu finden. Unleugbar w ä r e es demnach das Einfachste und Bequemste gewesen, sich mit dem Pragmatismus einer gründlichen Beschäftigung mit den umfassenden und widersprechenden Untersuchungen der Vorgänger zu entziehen und um diese gesammte schwierige Forschungsarbeit herumzugehen ,ihre Probleme als unlösbar zu bezeichnen und ein bequemes, praktisches Wahrheitskriterium f ü r alle Anschauungen und Theorien aufzustellen, nämlich deren nützliche oder schädliche Konsequenzen. Jedoch hat das Schicksal dieses bequeme Um-die-Sache-Herumdenkens, sein schnelles Absinken und Verschwinden, augenfällig u n d f ü r die Zukunft unmißverständlich gezeigt, d a ß niemand, der die menschliche Erkenntnis und ihre Möglichkeiten und Grenzen w i r k lich beleuchten will, umhin kann, auf das Denken von Locke, Berkeley, Hume und Kant einzugehen und einen ernsthaften Versuch zu machen, den Streit zwischen den grundsätzlich verschiedenen Auffassungen dieser Denker und ihrer Nachfolger zu lösen. Von der bisherigen Erkenntnistheorie und ihren empirischen und apriorischen Richtungen gilt das Gleiche, was über das römische Recht und über die künftige Rechtswissenschaft gesagt worden ist: man muß durch das römische Recht h i n d u r c h und kann erst derart darüber hinauskommen. Ebenso muß
277 eine tiefschürfende Untersuchung der Erkenntnisprobleme sich durch die empirische und die apriorische Erkenntnistheorie und den anscheinend unlösbaren Streit, den diese beiden Richtungen in den letzten drei Jahrhunderten ausgefochten haben, durcharbeiten und darauf versuchen, über diese Erkenntnislehre und deren verschiedene Denkrichtungen hinaus zu gelangen. Es ist mit anderen Worten die gesamte im Vorausgegangenen durchgeführte Untersuchung der menschlichen Erkenntnis, ihrer Bestandteile und ihrer Grenzen, der sich das ganze Um-die-Sache- herumphilosophieren ohne Weiteres entzogen hat. Ich habe in der obigen Darstellung den Versuch gemacht zu zeigen, daß es möglich ist, eine Lösung des tiefgehenden Streites zwischen jenen Schulen, ja des Erkenntnisproblems überhaupt, zu finden. Der Weg ist aber nicht jener bequeme: von A zu D, von Gefühlen zur Wahrheit, sondern der mühselige und beschwerliche von D zu C, von C zu B, von B zu A, d. h. also von den Anschauungen zur Wirklichkeit, von der Wirklichkeit zu den grundlegenden Faktoren der Erkenntnis, und von diesen dann zur tiefsten Befriedigung der Menschheit. Das Wahrheitskriterium aller Urteile, Auffassungen und Theorien stellen also nicht die Gefühle, sondern der Wirklichkeitsbegriff, die logischen und mathematischen Axiome und die mit diesen arbeitenden Methoden dar. Dieses Wahrheitskriterium, unser Wirklichkeitsbegriff und die Axiome haben ein für allemal bei jeglicher Beurteilung als Richtschnur zu dienen, ohne Rücksicht darauf, ob die Konsequenzen nützlich, ob sie Gefühle von Befriedigung sind oder nicht. Erst dann, wenn dies festgestellt ist, kann man fragen: worauf beruhen nun der Wirklichkeitsbegriff und die Axiome, und w i e lassen sie sich begründen? Wie ich im Vorhergehenden näher zu zeigen suchte, lautet die Antwort: die Erkenntnisfaktoren. Alle Wirklichkeit, alle Logik beruht auf unseren Sinneswahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen in Verschiedenheiten und Gleichheiten und gesetzmäßigen oder regelmäßigen Zusammenhängen, hierunter einbegriffen Zeit und Raum. Fragt man nun wiederum: worauf beruht und worauf begründen w i r unsere Anwendung der Erkenntnisfaktoren? Erst dann lautet die Antwort: das Urvermögen, das Vortasten. Hierbei handelt es sich aber nicht um die Gefühle der Befriedigung größerer oder kleinerer Gruppen von Menschen infolge gewisser Anschauungen, Meinungen, Theorien oder Glaubenssätze, ja nicht einmal um lange Zeit hindurch sich geltend machende Gefühle der größten Menschengruppen, ganzer Völkergruppen mit Bezug auf Meinungen, Theorien oder Dogmen, sondern allein und ausschließlich um die Gefühle der Befriedigung ihres Bedarfes, die die gesamte Menschheit durch alle Zeiten bei der Anwendung, der Erkenntnisfaktoren oder Fähigkeiten, deren sich alle Menschen bedienen müssen und auf denen der Wirklichkeitsbegriff und die logischen Axiome aufgebaut sind, empfunden hat. Kurz: keine Anschauung, kein Urteil, keine Theorie D, kann ihre Wahrheit mit den menschlichen Gefühlen der Befriedigung, A, begründen; keine Anschauung oder Meinung kann sich auf dem Wege zum höchsten Gerichtshof der Wahrheit einer genauen Prüfung mittels der Instanzen C und B entziehen. Damit ist dem Pragmatismus und den daraus hervorgegangenen Laienbewegungen, die sich
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erkühnten, ihre mehr oder weniger willkürlichen Anschauungen und Dogmen mit dem bloßen Hinweis auf deren Zweckdienlichkeit oder Nutzen hinsichtlich der Befriedigung der menschlichen Gefühle zu begründen, jegliche Grundlage genommen. Endlich beruht der Pragmatismus auf der Verquickung zweier verschiedener Arten von Wissenschaften, und zwar der beschreibenden und der angewandten. Die beschreibenden Wissenschaften wie die Physik, die Chemie, die Physiologie u. ä. und alle Theorien und Meinungen, die in ihr Gebiet gehören, können sich lediglich auf den Wirklichkeitsbegriff und die logischen und mathematischen Axiome stützen. Die angewandten Wissenschaften wie die technischen Naturwissenschaften, die Medizin, die Ethik u. ä. suchen die für die Menschen nützlichen Wege ausfindig zu machen. Lediglich auf dem Gebiete dieser letzten Wissenschaften kann die Rede davon sein, eine Auffassung — nämlich des richtigen Verfahrens — in den erfolgreichen Wirkungen zu begründen. Aber auch zu solchen Verfahren können die angewandten Wissenschaften nur den Weg finden, wenn sie überall auf der Wirklichkeit und den genannten Axiomen fußen und durch die experimentellen Methoden der Wissenschaft die gesetzmäßigen Zusammenhänge in der wirklichen Welt ausnutzen.
Wenn der Begriff Wirklichkeit im Sinne aller Sinnesempfindungen und Selbstwahrnehmungen in Verschiedenheiten und Gleichheiten und gesetzmäßigen Zusammenhängen aufgefaßt wird, decken die Begriffe: Erfahrung und Wirklichkeit zu jeder gegebenen Zeit einander. Es könnte j a aber geschehen, daß tiefschürfendere und umfassendere Erfahrungen, z. B. in 50 Jahren, uns ein anderes Bild der Wirklichkeit vermitteln würden, als dasjenige, das unser gegenwärtiger Wirklichkeitsbegriff, unsere gegenwärtigen, gesammelten Erfahrungen, uns heute schenkt. Unser Weltbild hat sich j a geändert. Tycho Brahe war der Ansicht, daß die gesamten Erfahrungen zu seiner Zeit mit dem ptolemäischen Weltbild noch immer am besten übereinstimmten. Es ist einwandfreier Sprachgebrauch zu sagen: unsere Erfahrung von der Wirklichkeit, die Erfahrung unserer Zeit oder des Altertums von der Wirklichkeit. Man kann auch den Ausdruck verwenden: das Bild unserer Zeit oder einer anderen Zeit von der Wirklichkeit, auf der Grundlage der gesammelten Erfahrungen jedwelcher Zeit. Hiermit unterscheiden wir also zwischen der Wirklichkeit als Gegenstand und unseren Erfahrungen in Bezug auf diesen Gegenstand. Was wir Wissen nennen, betrifft in der Regel auch die Wirklichkeit; doch kann Wissen sich auch auf die Phantasiegestalten, z . B .
279 auf die der griechischen Mythologie, beziehen. Man muß deshalb, wie bereits angeführt, zwischen Wahrheit und Wirklichkeit unterscheiden (vgl. oben S. 181 f f ) . Unser Wissen erhält gewöhnlich seinen sprachlichen Ausdruck in einem Urteil, einer Aussage, z. B. die Rose ist weiß, der Schnee schmilzt. Ein Urteil ist wahr oder falsch, je nachdem es mit seinem Gegenstand übereinstimmt oder nicht übereinstimmt. Ist die Wirklichkeit der Gegenstand, ist das Urteil sowohl wahr als wirklich; ist der Gegenstand aber z. B. Hephaistos, ist das Urteil: »Hephaistos ist der Gott des Handwerks« wohl wahr, aber unwirklich. Innerhalb des Begriffes Wirklichkeit wird zwischen der äußeren und der inneren Wirklichkeit unterschieden. Die äußere Wirklichkeit ist die äußere Welt mit allen ihren Dingen und deren Wandlungen. Die innere Welt besteht aus unseren sämtlichen anderen Erlebnissen, also aus unseren eigenen inneren Zuständen, die von der äußeren Welt verschieden sind, also unseren Gefühlen, Stimmungen, Entschlüssen und Phantasievorstellungen. Daß ich in diesem Augenblick ein Gefühl oder eine Stimmung empfinde, z. B. ein Lustgefühl infolge einer Erinnerung, ist ein ebenso wirkliches, seelisches Erlebnis, wie das Erlebnis, daß ich in diesem Augenblick die Sonne untergehen sehe. Mein Wissen, meine bewußte Vorstellung von einem Faun*) oder einem Kentaur ist als psychisches Erlebnis wirklich; es ist wirklich, daß ich in diesem Augenblick eine Vorstellung von einem Kentaur habe; diese Vorstellung ist aber nicht wirklich, wenn man sie im Verhältnis zur äußeren Welt betrachtet, da man in der Umwelt bisher kein derartiges Wesen wahrgenommen hat. Mein Urteil oder mein Wissen über ein derartiges Wesen: daß es einen Pferdekörper und einen Menschenkopf hat, ist als psychische Tatsache wahr und wirklich, jedoch unwirklich in Relation zur äußeren Welt. Man kann aber auch ganz allgemein sagen, daß unsere Vorstellung von
*) Der Gegensatz zwischen »Inneres« und »Äußeres« wird auch oft in dem Sinne verwendet, daß das »Innere« Alles bezeichnet, was innerhalb des menschlichen Körpers vor sich geht, während das »Äußere« die gesamte Umwelt einschließlich dieses Körpers bezeichnet. In diesem Sinne werden die beiden Wörter hier nicht verwendet. In diesem Buch bedeuten sie lediglich den Gegensatz zwischen Psychischem und Materiellem. Zur äußeren, materiellen Welt gehört also auch der menschliche Körper.
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einem Kentaur ihrem eigentlichen Inhalt nach unwirklich ist, denn sie betrifft ihrem Inhalt nach einen Gegenstand der äußeren Welt, nämlich einem Tiermenschen. Diesen Unterschied zwischen Wahrheit und Wirklichkeit und zwischen den beiden Arten von Wirklichkeit muß man sich vor Augen halten, wenn man sich der Wörter objektiv und subjektiv bedient. Anläßlich des Gegensatzes zwischen objektiv und subjektiv denkt man gewöhnlich an den Gegensatz zwischen der äußeren Welt, die unabhängig von unseren inneren Zuständen, Gefühlen und Stimmungen kommt und geht, und dieser inneren Welt. Dennoch wäre es unrichtig, ein objektives Urteil als ein solches zu definieren, das mit der äußeren Welt und deren Dingen und Veränderungen übereinstimme, und ein subjektives als ein solches, das mit den inneren Zuständen, Gefühlen oder Stimmungen zusammenhänge. Der Gegensatz objektiv — subjektiv bezieht sich nämlich, näher besehen, gar nicht auf den Unterschied zwischen der äußeren und der inneren Welt, sondern vielmehr auf den Unterschied zwischen einer Wahrnehmung eines äußeren oder inneren Phänomens, das von unseren Wünschen und Wollen unabhängig ist, und einer Wahrnehmung, die mehr oder weniger durch unser Gefühl oder durch unseren Willen gefärbt wird. Eine psychologische Selbstwahrnehmung kann ebensowohl wie eine Wahrnehmung der äußeren Welt entweder objektiv oder subjektiv gefärbt sein. Viele Menschen kennen sich selbst nicht, können weder sich noch anderen eine objektive, richtige Vorstellung von ihrem eigenen Gefühls- oder Willensleben geben, sondern unterliegen einer Selbsttäuschung. Manche Menschen sind in ihren Vorstellungen von der äußeren und inneren Welt durch ihre religiöse Einstellung subjektiv gefärbt, andere stehen in ebenso hohem Maße unter dem Einfluß ihrer polemischen, antireligiösen Einstellung. Wenn sich die Begriffe subjektiv und objektiv nun aber ebenso wenig auf die innere als die äußere Wirklichkeit beziehen, so ergibt sich, daß diese beiden Begriffe in der Tat mit den Begriffen »falsch« oder »wahr« zusammenfallen. Objektiv oder wahr ist mein Urteil, wenn es mit seinem Gegenstand übereinstimmt — sei dieser nun ein äußeres Ding oder eine Stimmung, eine Phantasiefigur — und subjektiv und unwahr ist es, wenn es mit dem Gegenstand nicht in Übereinstimmung ist. Der Wert der Begriffe subjektiv und objektiv liegt indessen darin, daß sie besonders auf jene Fehlerquelle innerhalb unserer Erkenntnis innerer und äußerer Gegenstände hinweisen, die darin besteht, daß die Menschen häufig ihr Wünschen und
281 Wollen mit ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit verquicken, und zwar tun sie dies sowohl bei der Selbstwahrnehmung als bei der Wahrnehmung äußerer Gegenstände. Man muß zwischen subjektiv im gewöhnlichen Sinne, nämlich als individueller Fehlerquelle des einzelnen Menschen, und subjektiv in der besonderen, erkenntnistheoretischen Bedeutung als einer auf dem Erkenntnisvermögen des menschlichen Verstandes selbst beruhenden, falschen Auffassung der ganzen Menschheit scharf unterscheiden. In diesem besonderen Sinne ist das Wort subjektiv zu verstehen, wenn man beispielsweise sagt, daß unsere Sinnesqualitäten wie Farbe, Geräusch u. ä. subjektiv seien. Wie früher betont wurde, ist es hier besser am Platze sich anstatt der Wörter subjektiv und objektiv des Wortes inadäquat und seines Gegensatzes, also adäquat, zu bedienen (s. oben). Da sich die meisten Urteile aller Wissenschaften mit wirklichen Gegenstanden und nicht mit Phantasiefiguren beschäftigen und folglich alle sowohl wirklich als wahr sind, ist es natürlich, daß man die Wörter Wahrheit und Wirklichkeit gewöhnlich ohne Unterschied verwendet; dagegen läßt sich auch nichts einwenden, wenn man sich nur darüber im Klaren ist, daß die Begriffe Wahrheit und Wirklichkeit einander nicht immer decken, sondern daß gewisse Wissenschaften wie die Psychologie und die Religionsgeschichte sich auch mit Phantasiefiguren — beispielsweise mit der griechischen Mythologie — beschäftigen und darüber Urteile aussprechen müssen, die zwar wahr, jedoch in Relation zur äußeren Welt nicht wirklich sind. Von diesen Ausnahmen abgesehen fällt aber der Begriff Wissen mit den Begriffen Wirklichkeit und Erfahrung zusammen. Die mathematischen Urteile sind wahr und insofern auch wirklich, als sie mit Vorstellungen von Dingen der äußeren Welt operieren — mit dem Raum, seinen drei Dimensionen, mit Zahlen, Figuren wie Kreisen, Dreiecken usw. —, weshalb die Schlüsse der Mathematik auch immer mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Der generelle Charakter der mathematischen Urteile wie auch die der Naturgesetze kann ferner ebenfalls als mit der Wirklichkeit übereinstimmend bezeichnet werden, da sämtliche bisher gemachten Erfahrungen mit diesen Urteilen zusammenfallen (s. oben S. 258 ff). Die vollkommenen geometrischen Figuren wie Kreise, Dreiecke u. ä. stimmen insofern mit unserer Erfahrung überein, als unsere unmittelbare Wahrnehmung uns derartige Figuren zeigt; die vielfältigere Erfahrung aber, welche die gesetzmäßigen Zusammenhänge
282 in der Physik und der Chemie uns vermitteln, und die feineren Unterschiede, die das Mikroskop uns enthüllt, bewirken eine Revision unseres Wirklichkeitsbegriffes in dieser Beziehung (vgl. S. 181 ff.). Unsere Allgemeinbegriffe (sowohl Typenbegriffe, z.B. Wirbeltiere u. ä. als Eigenschaftsbegriffe, z. B. die Weißheit einer Rose) sind Erfahrungen und geben die Wirklichkeit wieder, indem sie lediglich zusammenfassende Ausdrücke bisher beobachteter Gleichheiten und Verschiedenheiten darstellen. Die größten Moleküle, die sich unter dem Elektronenmikroskop wahrnehmen lassen, liegen natürlich innerhalb des Bereiches der Erfahrung und der Wirklichkeit; das Gleiche muß aber der Molekular- und Atomtheorie überhaupt gelten, denn der Erfahrungs- und Wirklichkeitsbegriff umfaßt nach dem obei angeführten alle unseren bisher gehabten Sinneswahrnehmungen in Bezug auf Gleichheiten und Verschiedenheiten, Ursachen und Wirkungen, Raum und Zeit, in der größtmöglichen Übereinstimmung oder Korrelation zu einander. Und bis heute glauben wir die bestmögliche Korrelation unserer sämtlichen Erfahrungen durch die Annahme der Molekular- und Atomtheorie herstellen zu können. Daher liegt diese Theorie ebenfalls innerhalb des Rahmens der Erfahrungen und der Wirklichkeit. Es wäre folglich ein unrichtiger Sprachgebrauch, wollte man sagen, daß unsere Erfahrung nicht mit der Wirklichkeit übereinstimme, weil wir »erfahren«, daß die Welt Farben hat und daß die Sonne sich um die Erde bewegt, während die Wirklichkeit anzeigt, daß die äußere Welt keine Farben besitzt und daß die Erde sich um die Sonne bewegt. Denn »Erfahrung« stellt, wie gesagt, nicht einzelne unmittelbare, isolierte Sinnesempfindungen, wie etwa die genannten Gesichtswahrnehmungen dar, sondern besteht vielmehr in unseren sämtlichen, mannigfaltigen Sinneswahrnehmungen in ihren zahlreichen Reihen von Gleichheiten und Verschiedenheiten, Ursachen und Wirkungen in genauer Übereinstimmung und Korrelation. Dieses Gesamtbild ist sowohl unsere Erfahrung als unsere Wirklichkeit. Es wurde oben hervorgehoben, daß die Naturwissenschaft durch die generellen Naturgesetze auch der Zukunft vorgreift. Aber zutiefst gesehen ist unser gesamtes Wissen, unsere Erfahrung, selbst wenn sie sich auf einen Erkenntnisinhalt der Vergangenheit bezieht, in Wirklichkeit vorgreifend, da jedes Wissen, jede Erfahrung und jede Erkenntnis, wie aus dem Vorangegangenen vermutlich erhellte, auf unserer vortastenden experimentellen Anwendung der
283 Erkenntnisfaktoren beruht. In jedem einzelnen Augenblick, in dem wir eine Verschiedenheit, eine Gleichheit oder einen gesetzmäßigen Zusammenhang — sei es nun im praktischen Leben oder in der Wissenschaft — feststellen, gehen wir davon aus, daß wir diese Erkenntnisfaktoren auch in den kommenden Augenblicken, Stunden usw. anwenden können und müssen. Wirklichkeit, Erfahrung und Wissen, die — im großen Ganzen gesehen — zusammenfallen, sind also in dem Sinne vorzeitig, als diese Begriffe den gesamten Bewußtseinsinhalt umfassen, der im Verhältnis zum gegenwärtigen Augenblick in der Vergangenheit erworben ist. In diesem Augenblick aber arbeitet man in allen wissenschaftlichen Laboratorien und anderen Arbeitsplätzen der ganzen Welt vorgreifend mit dieser Wirklichkeit, dieser Erfahrung, diesem gesamten Wissen und mit den Erkenntnisfaktoren, worauf dieses Wissen beruht, indem man annimmt, daß wir auf der Grundlage dieses Bewußtseinsinhaltes und dieser Faktoren arbeiten dürfen und müssen. Wenn sich bezüglich der technischen, angewandten Naturwissenschaften sagen läßt, daß diese die gesetzmäßigen Zusammenhänge experimentell zur Erzielung nützlicher Wirkungen auswerten, so läßt sich mithin in letzter Instanz von allen, sowohl den beschreibenden oder theoretischen als auch von den angewandten oder praktischen Wissenschaften genau das Gleiche sagen.
Nach der vorangegangenen erkenntnistheoretischen Untersuchung fallen eine Reihe von Problemen als Scheinproblemen fort. Erstens einmal fällt, wie ich vermutlich nachgewiesen habe, jenes Problem weg, das in neuerer Zeit erstmalig von Berkeley aufgestellt wurde und seither das Denken beschwert hat und das von Berkeley über Hume und Kant bis zu den Denkern der neuesten Zeit wie Mach, Russell und Iversen u. ä. eine gewaltige Literatur heraufbeschworen hat, nämlich das Problem der Existenz einer äußeren Welt. Meiner Ansicht nach kann man, wie ich nachzuweisen suchte, ebenso gut einen x-beliebigen anderen wissenschaftlichen Begriff und jede beliebige andere wissenschaftliche Sonderung bestreiten, wie den Begriff der äußeren Welt und die Sonderung zwischen dieser und einer inneren, psychischen Welt. Will man diese Sonderung und diese beiden Begriffe bestreiten, dann muß man ja noch tiefer gehen und alles menschliche Denken überhaupt, mithin auch jenes Denken
284 bestreiten, das die Existenz der äußeren Welt leugnet. Der Skeptizismus hebt sich selbst auf (s. oben S. 184—200 ff.). Damit fällt auch das Problem fort, ob die Welt lediglich materieller oder lediglich psychischer Beschaffenheit sei, ebenso wie die diesbezüglichen endlosen Diskussionen zwischen materialistischen und spiritualistischen Richtungen und die zahllosen vergeblichen Versuche einer Erklärung der psychischen Vorgänge mittels der physischen und umgekehrt, die beständig Mengen von Literatur hervorgerufen haben, überflüssig geworden sind (vgl. S. 192—196 ff.). Schließlich fällt auch das Problem, ob die Wirklichkeit 1 die Wirklichkeit 2 decke oder nicht, fort, da beide Möglichkeiten gleich unbeweisbar sind (vgl. S. 147—169 ff.). Kant meinte feststellen zu können, daß wir über diese Wirklichkeit, die Welt an sich, nichts wissen; die Wahrheit ist jedoch: daß wir nicht einmal das wissen. Danach gehen wir zu einer Beleuchtung des Verhältnisses zwischen beschreibender und wertender Wissenschaft über.
III B E S C H R E I B E N D E U N D "WERTENDE ERFAHRUNGSWISSENSCHAFT
Gehen wir von dem durch die Erkenntnisfaktoren entwickelten Wirklichkeitsbegriff aus, umfaßt unser Wissen von der Wirklichkeit, dem Gegenstand jeder beschreibenden Wissenschaft, drei Behauptungen oder Urteile: 1, daß etwas sei, 2, daß etwas gewesen sei, und 3, daß etwas den gesetzmäßigen Zusammenhängen nach sein werde. Das wertende Experiment stellt eine vierte Form der wissenschaftlichen Behauptung dar. Das wertende Experimentalwissen steht der dritten Behauptung (3) am nächsten. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen 3 und dem feststellenden Experiment, denn gleichgültig, ob die Stoffe x und y von der Natur selbst mit einander vermischt werden und diese Veränderung, die Ursache a, einen neuen Stoff, die Wirkung b hervorrufe, oder ob diese Mischung von menschlichen Händen oder Geräten vorgenommen werde, ist der natürliche Verlauf erkenntnismäßig derselbe. Dieser Verlauf wird aber an und für sich auch nicht geändert, weil der Mensch das Feuer oder die chemische Vermischung der Stoffe mit dem Zweck hervorruft, bestimmte Wirkungen zu schaffen, die dem Menschen nützlich sein können. Da der Naturverlauf in diesem Falle jedoch von Menschen
285 bewußt und von der Wissenschaft in immer höheren Maße planmäßig mit einem Zweck geleitet wird, den die Natur an sich außerhalb der Menschennatur (und der organischen Natur, s. unten) nicht hat, dreht es sich um eine kompliziertere Gedankenform, die auch eine andere sprachliche Form als die Ausdrücke »sein«, »gewesen sein« und »sein werden« erfordert. Selbst die letztere genügt nicht. Um die zweckbestimmte, experimentelle Ausnutzung der gesetzmäßigen Zusammenhänge in der Natur auszudrücken, müssen wir uns des bedingten Satztes bedienen: »wenn der Mensch die Veränderung b hervorrufen will, muß er zuerst die Veränderung oder die Ursache a hervorbringen«; oder man kann sich einer kürzeren Redewendung bedienen, die in der Realität dasselbe bedeutet, nämlich: der Mensch muß die Ursache a in Bewegung setzen, um die Wirkung b hervorzurufen. Diese letztere Gedankenform und ihr sprachlicher Ausdruck, im Folgenden 4 genannt, das wertende Experiment neben den Formen 1, 2 und 3 jedes feststellenden Wissens stellt also, wie im Vorangegangenen beleuchtet, die herrschende Gedankenform in aller menschlichen Arbeit, in jedem Gewerbe und seiner Technik, in allen technischen Naturwissenschaften, in aller Medizin dar. Und es ist, wie ich oben nachgewiesen habe, genau dieselbe Gedankenform, die wertende Experimentalforschung, die in der Zukunft in aller Ethik und aller Rechtslehre vorherrschen muß, wenn sie auf erfahrungsmäßiger, nicht auf apriorischer Grundlage aufgebaut werden sollen. Die wissenschaftliche Ethik der Zukunft kann also meiner Ansicht nach keine absoluten Gebote aufstellen, wie es die Morallehre der Religionen oder die apriorische Pflichtethik Kants und ähnlicher Philosophen tun. In diesem Sinne kann keine wissenschaftliche Erfahrungsethik die Worte: »Du sollst«, »du mußt« verwenden. Die erfahrungsmäßige, ethische Experimentalforschung kann meines Erachtens den Menschen nur sagen: Wenn Ihr diese oder jene schädlichen Wirkungen, Veränderungen in Eurem Leben, vermeiden wollt, müßt Ihr diese oder jene Veränderungen, Ursachen, einsetzen, also praktisch gesprochen: Euch so und so verhalten. Die Ethik kann hernach nur eine seelische Heilkunde, eine Charakteroder Lebenslehre werden, die die Behandlung des Körpers durch die medizinische Wissenschaft mit einer entsprechenden erfahrungsmäßigen, experimentellen Behandlung der Seele fortsetzt. Es steht aber natürlich dem nichts im Wege, daß wir auch die andere, oben erwähnte Ausdrucksform gebrauchen: Ihr sollt oder müßt so
286 oder so handeln, wenn Ihr diese oder jene vorteilhaften Resultate erzielen wollt, sei es eine gute Gesundheit, große Arbeitsfähigkeit und Erwerbstüchtigkeit, gesicherte Gesellschaftverhältnisse oder Anderes, da dies Alles j a auch in hohem Maße davon abhängt, wie man sein Leben seelisch, charaktermäßig einrichtet. Man muß sich nur immer dessen bewußt sein, daß die Ausdrücke »müssen, sollen« auch hier nichts Anderes bedeuten, als dieselben experimentellen, erfahrungsmäßig prüfenden und wertenden Ausdrücke, die wir auch in diesem Sinne verwenden, wenn wir die beste Brückenkonstruktion, die beste Heilmethode bei Tuberkulose oder Ähliches wählen sollen*). Da es sich, wissenschaftlich gesehen, überall um dieselbe Denkform handelt, können wir also letzten Endes mit vollem Recht sagen, daß wir den elektrischen Strom einschalten sollen oder müssen, wenn wir eine Lichtwirkung erzielen wollen, daß wir den Stoff x mit dem Stoff y vermischen müssen, wenn wir den Stoff z hervorbringen wollen, daß wir die Konstruktion x anwenden müssen, um einen *) Mit der Feststellung, daß wir auf wissenschaftlicher Grundlage nicht weiter, als bis zur oben erwähnten Anweisung auf Lebensmethoden kommen können, die man vielleicht den hypothetischen Imperativ nennen könnte, will ich nicht behaupten, daß der absolute Imperativ der Religion auf dem Gebiete der Moral wertlos sei. Vielmehr hat der absolute Imperativ der Religion den allergrößten persönlichen, menschlichen Wert. Er unterstützt im einzelnen Menschen den rein wissenschaftlichen, hypotetischen Imperativ, so daß dieser in ein höheres Licht, in eine tiefere Perspektive gestellt wird. Nur muß man der Klarheit der Begriffe halber auch auf diesem Gebiete Wissenschaft und Religion scharf voneinander sondern. Auch nicht innerhalb dieses Bereiches stehen Religion und Wissenschaft in Widerstreit miteinander. Jede dieser Geistesmächte hat ihre eigene Sphäre und die Sphären kollidieren nicht miteinander. Auf dem Wege der wissenschaftlichen Erfahrung können wir nur den hypothetischen Imperativ erreichen; es ist aber nicht gegeben, daß der absolute Imperativ unrichtig sei, weil er nicht durch die Methoden der Wissenschaft zu beweisen ist. Vielleicht läßt sich nur ein unendlich kleiner Teil des Daseins durch die menschlichen Erkenntnisfähigkeiten erfassen; wahrscheinlich gibt es unendlich große Weiten, die die Wissenschaft niemals zu erreichen vermag. Kant irrte sich, als er meinte, daß der absolute Imperativ sich wissenschaftlich beweisen lasse, aber er hatte darin recht, daß dieser Imperativ letzten Endes jener Welt, dem Ding and sich, entstamme, die zu erreichen dem menschlichen Fassungsvermögen nicht gegeben ist. Es liegt im Interesse dieser beiden Geistesmächte, die Religion für sich und die Wissenschaft für sich zu halten. Wenn diese scharfe Sonderung festgehalten wird, fällt jeder Streit zwischen Wissenschaft und Religion als völlig überflüssig und sinnlos fort.
287 bestimmten Brückenbau y zu schaffen, daß wir dem menschlichen Körper einen bestimmten Stoff, z. B. ein Leberpräparat oder Insulin eingeben müssen, wenn w i r beziehungsweise der perniziösen Anämie oder der Diabetes entgegenwirken wollen, daß Menschen Arbeitsamkeit und Beherrschtheit zeigen müssen, um das zur Aufrechterhaltung des Lebens Notwendige zu verdienen und technische Fortschritte zu erzielen und daß die Menschen es unterlassen müssen, ihre Mitmenschen zu schädigen. Da die Denkform 4 außerordentlich kompliziert ist, versteht man gewiß ohne Weiteres, daß alle bisherige neuere Erkenntnistheorie und Untersuchung ethischer Erscheinungen die Ethik und die Rechtslehre überhaupt nicht begründen konnten. Da die neuere Wissenschaft mit Recht die apriorischen, absoluten Moralgebote der älteren Ethik und der Religion ablehnte, und da die Wissenschaft nur in der Feststellung zu bestehen schien: daß Etwas sei (obengenanntes Wissen 1) oder gewesen sei (Wissen 2 ) , zieht die herrschende Richtung innerhalb der ethischen und rechtlichen Untersuchung der Gegenwart die folgende Schlußfolgerung: von einer jeden Behauptung, daß Etwas sei oder gewesen sei, können wir sagen, es sei entweder wahr oder falsch: aber von der Behauptung, daß wir so oder so handeln müssen oder sollen, können wir nicht sagen, daß sie wahr oder falsch sei: folglich ist diese Behauptung logisch betrachtet sinnlos; man muß deshalb davon ausgehen, daß die moralischen und rechtlichen Behauptungen lediglich Gefühlsausdrücke ohne irgend welchen wissenschaftlichen Sinn sind. Infolge dessen können weder die Moral noch das Recht wissenschaftlich begründet werden, sondern müssen lediglich als auf einer logisch unverständlichen Mystik fußend betrachtet werden.
*) Wenn die obenerwähnte herrschende Richtung innerhalb der ethischen Untersuchung der Gegenwart richtig ist, muß alle Erziehung der Jugend in Schulen und Familien, jede Wertung der Personen, seien es öffentliche oder private, alle Kritik der gesellschaftlichen Institutionen oder des Auftretens privater Gesellschaften aufhören, auch müßten alle Gerichtshöfe und Gefängnisse ihre Tätigkeit einstellen, ja, die gesamte Gesetzgebung der Gesellschaft müßte aufgegeben werden, denn die Menschen der Gegenwart können sich selbstverständlich nicht erlauben, Kindern, jungen Menschen, Übertretern des Gesetzes oder anderen Menschen Urteile, die logisch sinnlos und wissenschaftlich unbeweisbar sind, aufzuzwingen. Die Anhänger der herrschenden Richtung trösten sich damit, daß diese rein theoretischen, wissenschaftlichen Untersuchungen und ihre negativen
288 Diese gesamte Betrachtung beruht indessen auf einem Denkfehler wissenschaftlich methodischer Art, der dadurch entstand, daß man das Problem nicht vollständig durchdachte. Es leuchtet ein, daß es — wenn das Wort Wissen allein im Sinne 1 als Wissen davon, daß Etwas sei (oder gewesen sei, Wissen 2) auffaßt und danach dieses Wissen mit Wissen 4 (daß Etwas sein müsse) konfrontiert — verständlich ist, daß ein oberflächliches Denken einen abgrundtiefen Unterschied zwischen »sein« und »sein müssen« feststellt, einen Unterschied, der sich nicht überbrücken läßt, und daß die allgemeine Tendenz innerhalb der Ethik, der Rechtswissenschaft und der Sozialökonomie der Gegenwart, in diese enge Alternative, Wissen 1 und 4, hineingezwängt, schließlich glaubt behaupten zu müssen, daß lediglich ein tatsächliches Beschreiben der ethischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Erscheinungen, eine wertungsfreie Feststellung dessen, was auf dem Gebiet dieser Erscheinungen »ist«, Wissenschaft sei, während die Untersuchung innerhalb derselben Wissenschaft von
Resultate keinen Einfluß auf das Leben der Menschen bekommen werden, und daß diese ständig fortsetzen werden, sich selbst und Andere zu verurteilen und zu werten, Kinder zu erziehen und Übertreter des Gesetzes zu strafen. Das dürfte jedoch eine Illusion sein. In der Gegenwart, in der selbst die breiten Schichten der Bevölkerung eine so große und weitverbreitete Ehrfurcht vor der Wissenschaft hegen, wird es diesen Schichten bald einleuchten, daß man — wenn die Wissenschaft selbst allen moralischen und rechtlichen Regeln gegenüber einräumt, daß diese sich in Wirklichkeit nicht begründen lassen — dann volle Freiheit haben müsse sich so zu benehmen wie man will; und man könne sich über alle Hemmungen der Gesetze hinwegsetzen und diese selbst baldest abschaffen. Die herrschende Richtung muß aber ferner in ihrem Denken konsequent und auch deshalb darüber klar sein, daß sie einer Alternative gegenübersteht: entweder hat die vorherrschende Auffassung darin Recht, daß alle moralischen und ethischen Urteile lediglich logisch sinnlose Gefühlsausbrüche seien und daß die Moral und das Recht sich folglich auch nicht wissenschaftlich begründen lassen; in diesem Falle muß die unvermeidliche Konsequenz aber sein, daß alle Erziehung der Kinder und der jungen Menschen in den Schulen und den Heimen, jede Bestrafung der Verbrecher, jede Kritik der Gesellschaftsinstitutionen oder von öffentlichen und privaten Personen aufhören muß; oder die Auffassung der vorherrschenden Richtung muß etwas Falsches, etwas Unhaltbares behaupten; es muß also ein wissenschaftlicher Methodenfehler im Gedankengang dieser Richtung vorliegen. In einer Zeit wie der heutigen, der allerneuesten, in der ein Kampf um
289 dem, was »sein soll« unwissenschaftlich sei. Diese Tendenz ist verständlich, da man bisher eine tiefere erkenntnistheoretische Untersuchung sowohl dessen vermißt hat, was Wissen eigentlich sei, als auch vom Gegensatz zwischen »sein« und »sein sollen« und von anderen möglichen Formen des Wissens. Die gesammte obengenannte Richtung hat übersehen, daß es überhaupt ein wissenschaftlicher Methodenfehler ist, Wissen 4 mit W i s sen 1 zu vergleichen, und daß das Wissen, mit dem das Wissen 4, zu vergleichen wäre, methodisch richtig das Wissen 3 sein müßte, indem eben diese beiden Arten von Wissen — nämlich Wissen 3 : daß Etwas sein werde, und Wissen 4 : daß etwas sein müsse — ein Wissen von der Zukunft ist, das auf Schlußfolgerungen von vergangenen, gesetzmäßigen Zusammenhängen auf künftige beruht. Alle sind darin einig, daß das Wissen 3 zum streng wissenschaftlichen Wissen zu rechnen sei, denn zu diesem Wissen gehören alle Gesetze der Naturwissenschaften. E s dreht sich nämlich hier nicht
die Macht ohne irgend welche Art moralischer und rechtlicher Hemmungen auf der ganzen Welt ausgefochten wird, darf man sich in keinerlei Weise irgendwelchen Illusionen hingeben, daß es ohne Folgen sein würde, wenn die Wissenschaft behauptet, die Moral und das Recht könnten nicht begründet werden. Wenn die Wissenschaft als der einzige Faktor, vor dem die Menschen sich vielleicht beugen würden, diese Werte nicht begründen kann, sehen wir einer Zukunft entgegen, in der die Kultur der Menschen im Kampfe Aller gegen Alle zugrunde gehen muß. Gleichzeitig wird die Menschheit von einer Auflösung von innen her, im einzelnen Menschen selbst bedroht. Jeder scharfer Beobachter wird bemerkt haben, daß sich in den letzten Menschenaltern infolge der herrschenden negativen Haltung allen moralischen Werten gegenüber seitens der geistigen Führer vor Allem innerhalb der Jugend eine bedenkliche Zügellosigkeit auf den Gebieten der sexuellen und anderer materieller Verhältnisse verbreitet hat. Auch auf diesem Gebiete darf man sich keine Illusionen darüber machen, daß die Wissenschaft als die einzige geistige Autorität der Gegenwart imstande sein sollte zu behaupten, daß Moral und Recht nicht zu begründen seien, ohne daß diese negative Haltung ernste Folgen für die Jugend und für die Haltung und das künftige Schicksal des Volkes überhaupt haben würde. Doch nicht einmal darauf dürfte selbstverständlich Rücksicht genommen werden, wenn die herrschende negative Richtung wissenschaftlich gesehen haltbar wäre. Keine Laienbewegung wie der Pragmatismus und Ähnliches darf sich da hineinmischen und die Resultate der Wissenschaft zu verfälschen suchen. Die einzige, entscheidende Frage ist die, die oben zu lösen versucht wird, nämlich: ob der ethische Negativismus wissenschaftlich haltbar ist oder nicht. 19
Erkenntnis und Wertung
290 um die Behauptung, daß etwas in der Zukunft möglicherweise eintreten werde, sondern um die Behauptung, daß etwas notwendigerweise eintreten wird, da die Naturwissenschaft, ihren vielfältigen Erfahrungen über gesetzmäßige Zusammenhänge, über die Konstanz in den Veränderungen der Natur selbst zufolge, bis auf weiteres auf der Annahme baut und von ihr aus arbeitet, daß diese Konstanz sich auch in der Zukunft zeigen werde, ungeachtet, ob dieses streng erkenntnistheoretisch betrachtet zu beweisen sei oder nicht. Wenn wir aber jetzt dieses Wissen 3, die fundamentalen Annahmen der Naturwissenschaft, untersuchen, zeigt es sich, daß auch in bezug auf die Behauptungen innerhalb dieses Wissens dasselbe gilt, wie die herrschende Richtung gegen das Wissen 4 einzuwenden hat, nämlich, daß diese Behauptungen sich weder als falsch noch als wahr bezeichnen lassen. Diese beiden Urteile: Wahr oder Falsch, erschöpfen nicht das ganze Gebiet des Denkens, sondern nur einen Teil desselben, nämlich denjenigen, der sich auf das bezieht, was gewesen ist oder jetzt geschieht*). In Behauptungen in bezug auf Wissen 3 und 4, also auf die Annahmen der Naturgesetze, des feststellenden und wertenden Experimentalwissens, die sich alle auf das beziehen, was in der Zukunft geschehen werde, muß man sich anderer Ausdrücke als wahr und falsch bedienen, und zwar Ausdrücke, die diese Gedankenformen decken. In bezug auf Behauptungen wie die, daß die Bewegung der Körper in der Zukunft dem Gravitationsgesetze Newtons folgen, daß die Stoffe x und y durch Vermischung zum Stoff z werden, daß die Einwirkung des Giftes a auf den Organismus b die Wirkung c hervorbringen müsse, daß man durch Beherrschung seines Dranges nach Alkohol, Speisen und des Sexualtriebes seine Gesundheit und Arbeitsfähigkeit bewahren kann usw., in bezug auf alle solche Behauptungen müssen die folgenden Urteile verwendet werden: nach den bisher gemachten Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart mit Bezug auf die gesetzmäßigen Zusammenhänge ist dies
*) Daß eine Erscheinung den gesetzmäßigen Zusammenhängen zufolge eintreten oder da oder dort sein werde, stellt nicht die dritte Aussage der trivalenten Logik dar (nach den beiden ersten, daß Etwas falsch und etwas wahr sei), nämlich, daß etwas möglich sei oder daß etwas möglicherweise geschehen werde, sondern entgegengesetzt, daß etwas notwendigerweise geschehen wird.
291 wahrscheinlich und richtig oder das Entgegengesetzte. Was die Methoden betrifft, die nach den bisherigen Erfahrungen für die Menschheit nützlich sind, sei es nun innerhalb der technischen Wissenschaften, der Medizin, der Ethik oder der Rechtslehre, kann man auch den Ausdruck verwenden, daß sie zweckmäßig sind, d. h. daß der Zweck oder die Absicht, nach der man strebt, die Wirkung in der Zukunft, erreicht werden wird, wenn man die Ursache einsetzt. Das wissenschaftliche Experiment, und zwar sowohl das feststellende als auch das wertende, muß in so weitem Umfange wie möglich auf das gesamte Universum ausgedehnt werden: es kann beispielsweise, wie oben nachgewiesen, nicht bei dem Körper des Menschen Halt machen, sondern muß durch allmähliche Übergänge auf das Gebiet der Seele und von dort in den größeren Zusammenhang, in die größere seelische Organisation übergehen, die wir Gesellschaft nennen. Auch auf diesen Gebieten lassen sich, wie das Folgende zeigen wird, gewisse experimentelle Naturgesetze aufstellen, vor Allem jene Beiden, die im Vorhergehenden angedeutet sind und die ich das Charaktergesetz oder das Gesetz der Beherrschung und das Gesellschaftsgesetz oder das Gesetz gegen wechselseitige Schädigung der Menschen nennen möchte. Das erstgenannte Gesetz und ähnliche solche werden in der individuellen Ethik, das zweite Gesetz und die damit verwandten Gesetze in der sozialen Ethik, in der Rechtslehre und zum Teil in der Sozialökonomie behandelt werden.
Nachdem es im Vorhergehenden versucht worden ist, den Unterschied zwischen den beschreibenden und experimentell-wertenden Wissenschaften in wissenschaftlich-methodischer Beziehung zu beleuchten, läßt sich jetzt das System der Wissenschaften aufstellen. Allen Fachwissenschaften voran muß die Erkenntnislehre gehen. Sie muß die Grundprobleme und Grundbegriffe behandeln, deren sich alle Fachwissenschaften bedienen, wie z. B. die Begriffe Wirklichkeit, Existenz, Erfahrung und ferner Begriffe wie Wahrnehmung, Zeit und Raum, Kausalzusammenhänge oder gesetzmäßige Zusammenhänge, die Prüfung der Wahrheit oder der Richtigkeit aller Urteile und Ähnliches. Die Erkenntnislehre wird damit zum allgemeinen Teil aller Wissenschaften. Weiter muß hervorgehoben werden, daß jeder beschreibenden Wissenschaft eine experimentell wertende Wissenschaft entspricht. Die beschreibenden Wissenschaften wer19*
292 den bisweilen auch die theoretischen Wissenschaften genannt, während man die experimentellen, wertenden Wissenschaften auch die praktischen oder angewandten Wissenschaften nennt. Das feststellende Experiment wird indessen auch von der beschreibenden Wissenschaft verwendet; innerhalb der praktischen oder angewandten Wissenschaften bedient man sich sowohl des feststellenden als des wertenden Experimentes, jedoch natürlich am meisten des letzteren. Nach dem oben Angeführten läßt sich das System der Wissenschaften folgendermaßen skizzieren: A. D I E E R K E N N T N I S L E H R E DER ALLGEMEINE TEIL ALLER FACHWISSENSCHAFTEN B. D I E
FACHWISSENSCHAFTEN
I DIE B E S C H R E I B E N D E N ODER T H E O R E T I S C H E N WISSENSCHAFTEN a. Physik. Chemie. Astronomie. Mathematik. b. Die deskriptive Botanik (auch Systematik genannt, gibt eine beschreibende Darstellung der Arten und Familien innerhalb der Pflanzenwelt). Die Pflanzenanatomie. Die Pflanzenphysiologie (Darstellung der Organe, des Stoffwechsels und der Lebensprozesse der Pflanzen überhaupt). Die Pflanzenpathologie (Darstellung der pflanzlichen Krankheiten). c. Die deskriptive Zoologie (Systematik: Reihen, Klassen, Ordnungen innerhalb der Tierwelt). Die Tieranatomie. Die Tierphysiologie. Die Tierpathologie.
Zu den beschreibenden oder theoretischen Wissenschaften rechne ich, wie aus dem Obenstehenden hervorgeht, sowohl diejenigen mit, die man deskriptive Wissenschaften nennt (z. B. die deskriptive Botanik, die Systematik), als diejenigen, die man explikative Wissenschaften zu nennen pflegt (z.B. die Pflanzenphysiologie). Die ersteren geben lediglich eine Schilderung und Systematisierung der Erscheinungen, die letzteren eine nähere Erklärung durch eine Untersuchung des Kausalzusammenhanges zwischen ihnen.
293 d. 1. Anthropologie. Anatomie, Physiologie, Pathologie des Menschen. Sprachwis2. Psychologie. Geschichte, darunter Archäologie. senschaft — Psychiatrie. 3. Soziologie (eine beschreibende Darstellung der menschlichen Gesellschaft, ihrer Organisationsformen, Kulturphänomene, Entwickelung). Positive Rechtswissenschaft (beschreibende Darstellung der geltenden Gesetze und anderen Rechts). Sozialökonomie (Theorie, beschreibende Darstellung der Sozialökonomie). e. Es gibt einzelne Wissenschaften, die sich infolge ihres umfassenden Gegenstandes über das Bereich mehrerer der obengenannten Wissenschaftsgruppen erstrecken: Geologie, Biologie. Die Geologie umfaßt beispielsweise die Gruppen I a, b, c und d. Die Biologie, die allgemeine Lehre vom Leben, hat das Leben in all seinen Erscheinungsformen nach naturwissenschaftlichen Methoden zu untersuchen und u m f a ß t folglich die Gruppen I b, c und d. II DIE E X P E R I M E N T E L L - W E R T E N D EN O D E R PRAKTISCHEN, ANGEWANDTEN WISSENSCHAFTEN
a. Maschinenlehre. Mechanische Technologie. Elektrotechnische Wissenschaft. Technische Chemie. Hoch- und Tiefbau, Werk-, Straßen-, Brücken- und Wasserbau-Ingenieur-Wissenschaft u. ä. b. Landwirtschaftsund Forstwissenschaft, die die Lehre von der rationellen Behandlung der verschiedenen Nutzpflanzen und der Bekämpfung ihrer Krankheiten gibt. c. Veterinärwissenschaft, die die rationelle Ausnutzung der verschiedenen Haustiere und die Bekämpfung ihrer Krankheiten, also Ernährungslehre u. ä., Tierchirurgie und Tiermedizin behandelt. d. 1. Medizin (Heilkunde), d . h . die Wissenschaft von der rationellen Behandlung und Heilung der körperlichen Krankheiten des Menschen. Sie ist in zahlreiche Unterabteilungen aufgeteilt. 2. Psychotherapie (Mentalhygiene). Individuelle Ethik. Ästhetik. 3. Soziale Ethik. Rechtslehre. Angewandte Sozialökonomie. e. Die Erfahrungen der unter I e aufgeführten Wissenschaften — Geologie und Biologie — werden von verschiedenen ange-
294 wandten Wissenschaften, von der technischen Wissenschaft, der Landwirtschafts- und Forst-Wissenschaft angefangen bis zur Heilkunde und E t h i k verwertet.
I m großen Ganzen entspricht, wie man sieht, jeder Gruppe innerhalb der beschreibenden Wissenschaften j e eine Gruppe der angewandten, da diese letzteren sich der Erfahrungen der ersteren als Grundlage bedienen. Die I-Wissenschaften sammeln Beobachtungen, stellen Verschiedenheiten und Gleichheiten und gesetzmäßige Zusammenhänge, hierunter ihre zeitlichen und räumlichen Zusammenhänge, fest und geben eine systematische Darstellung all dieser Erfahrungen. Die Ii-Wissenschaften verwerten die hierdurch erworbenen Erfahrungen, vor Allem die bisher festgestellten, gesetzmäßigen Zusammenhänge oder Kausalzusammenhänge, indem sie — sei es nun mit Händen, Geräten, Maschinen oder technischen Mitteln überhaupt oder aber durch psychische Einwirkung — in diese Zusammenhänge eingreifen und durch die Herbeiführung bestimmter Ursachen bewußt und planmäßig bestimmte, nützliche W i r k u n g e n hervorrufen. Die beiden Arten der experimentellen Methode, das feststellende und das wertende Experiment, werden im Folgenden der Kürze halber beziehungsweise Experiment a und b genannt. Experiment b fußt in weitem Umfange auf der Experimentalgrundlage, die durch das Experiment a geschaffen worden ist, und in der täglichen, wissenschaftlichen und technischen Praxis gleiten sie unmerklich in einander über. In der ganzen W e l t werden in den physikalischen, chemischen und biologischen Laboratorien, die den wissenschaftlichen Lehranstalten angeschlossen sind, zahllose Experimente angestellt, die ausschließlich dem Zweck dienen, tiefere oder andere ursächliche Zusammenhänge, als die bisher beobachteten, aufzu-
Eine oft benutzte Sonderung zwischen den Wissenschaften ist die zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Die Naturwissenschaften umfassen die Gruppen I a, b und c, d 1 und e; ihnen muß man auch die entsprechenden, angewandten oder praktischen Naturwissenschaften II a, b, c, d 1 und e zurechnen, da es sonst keine Übereinstimmung mit denjenigen gibt, die allgemein zu den Geisteswissenschaften gerechnet werden. Zu diesen letzteren rechnet man recht allgemein die Wissenschaftsgruppen I, d 2, 3 und teilweise e und II, d 2, 3 und teilweise e.
295 spüren und festzustellen. Oft aber geht gleichzeitig und unlösbar mit diesem Experimentieren a verbunden jenes andere Experimentieren b vor sich, das durch planmäßiges Eingreifen in die anorganischen oder organischen Prozesse praktische Wirkungen zum Nutzen der Menschheit hervorzurufen sucht. Umgekehrt wird in den chemischen und biologischen Laboratorien, die oft an umfassende Industrieunternehmungen geknüpft sind und deren Hauptzweck das Experiment b ist, in weitem Umfange auch mit dem Experiment a gearbeitet, ohne daß man dabei die direkten, praktischen Wirkungen berücksichtigt, weil man sich bewußt ist, daß ein gründliches, systematisches und experimentelles Wissen a die Voraussetzung der Erzielung von bedeutenden Ergebnissen innerhalb des experimentellen Wissens b darstellt. Die beiden Arten des experimentellen Wissens arbeiten in dieser Weise in weitem Umfang Hand in Hand. Bezüglich der wissenschaftlichen Methode besteht keinerlei Wesensunterschied, ob die experimentelle Wissenschaft nun auf physischem oder auf psychischem Gebiete arbeitet; und das Verhältnis zwischen den angewandten und den beschreibenden Wissenschaften ist auf beiden Gebieten überall dasselbe. So gibt z. B. die Naturwissenschaft durch die Physik, die Chemie u. ä. (Gruppe I a) eine tatsächliche Beschreibung der bisher wahrgenommenen Erscheinungen innerhalb der organischen Natur, ihrer Gleichheiten und Verschiedenheiten und der Gesetze für das Auftreten der Erscheinungen (Wissen 1, 2 und 3, gestützt durch das Experiment a) und auf dieser Grundlage versuchen nun die vielen entsprechenden technischen Wissenschaften (Gruppe II a) die zahlreichen, für die Menschheit zweckmäßigen Lösungen innerhalb des Maschinen-betriebes, des Straßen- und Brückenbaues, des Wasserbauwesens, der Telegraphen-, der Telephon- und der Rundfunktechnik u. a. (Wissen 4, Experiment b) zu geben. In eben derselben Weise liefern die Anatomie, die Physiologie und die Pathologie ( 1 d l ) eine faktische Beschreibung aller bis heute beobachteten Gleichheiten und Verschiedenheiten und gesetzmäßigen Zusammenhänge im menschlichen Körper und seiner Krankheitserscheinungen (Wissen 1, 2 und 3 und das Experiment a ) ; und auf der Basis dieses Wissens sucht die Medizin (II d 1) vor Allem durch eine planmäßige Verwertung der von den Wissenschaften I d 1 festgestellten Zusammenhänge zum Nutzen der Menschheit die Methoden einer Heilbehandlung der menschlichen Krankheiten aufzufinden (Wissen 4, Experiment b).
296 Und genau in der gleichen Weise müssen beispielsweise die individuelle und die soziale Ethik, die Rechtslehre und die angewandte Sozialökonomie (II d 2 und 3) die von der Psychologie, der Geschichte, der Soziologie, der positiven Rechtswissenschaft und der theoretischen Sozialökonomie (I d 2 und 3) auf den verschiedensten Gebieten des Menschenlebens konstatierten Beziehungen zum Nutzen der Menschheit charakterlich und gesellschaftlich verwerten, indem sie sich dabei auf das Experiment b stützen. An Hand früherer Erfahrungen stellen wir fest, daß die Ausführung oder Unterlassung einer Handlung x die Befriedigung oder das Lustgefühl y nach sich zieht, und daß die Ausführung oder Unterlassung der Handlung p das Unlustgefühl q im Gefolge hat. Und stellen wir nun an Hand dieser oder etwaiger neuer Erfahrungen fest, daß zwischen x und y und zwischen p und q ein gesetzmäßiger Zusammenhang besteht, suchen wir künftig diejenigen Bedingungen herbeizuführen, welche Lust erzeugen, und jene anderen, die eine entgegengesetzte Wirkung erzeugten, fernzuhalten. Auf der Basis dieser Erfahrungen stellen wir eine ethische oder rechtliche Regel auf. Die Befolgung einer ethischen oder rechtlichen Regel ist deshalb ein psychologisches Experiment, ein psychologisches Analogon zu dem physikalischen oder chemischen Experiment. In beiden Fällen lauschen wir der Natur ihre Kunst ab. Wissenschaftlich-methodisch gesehen handelt es sich um ein und dasselbe Phänomen, wenn man im Laboratorium die chemischen und physikalischen Voraussetzungen für die Entstehung neuer Stoffe herstellt und wenn man in der Psyche die seelischen Voraussetzungen für die Entstehung eines Lustgefühles oder die Befriedigung eines Bedarfes schafft. Wie die Naturwissenschaft, muß auch die Geisteswissenschaft — Psychologie, Soziologie, Geschichte, Sprachwissenschaft u. a. — zwischen Wissen, Erfahrung im Sinne 1 und 2 und im Sinne 3 und 4 sondern. Die Psychologie schildert auf der Grundlage unserer bisherigen Selbstwahrnehmungen die psychischen Zustände, Sinnesempfindungen, Vorstellungen, Gefühle, Willensentschlüsse u. ä. in Gleichheiten und Verschiedenheiten und gesetzmäßigen Zusammenhängen, also wie diese bisher gewesen sind. Die Soziologie, die positive Rechtswissenschaft und die theoretische Sozialökonomie geben eine faktische Beschreibung der bisher in Verschiedenheiten, Gleichheiten und gesetzmäßigen Zusammenhängen wahrgenommenen Erscheinungen innerhalb der menschlichen Gesellschaft und ihrer Organisationsformen, ihrer Preis- und Lohnschwenkungen, der Ver-
297 Schiebungen innerhalb der Erwerbzweige, der tatsächlich geltenden Gesetze und Anordnungen. Die historische Wissenschaft stellt die bisher geschehenen Ereignisse in gesetzmäßigen Zusammenhängen dar u. s. w. Wie auf dem Gebiete der Naturwissenschaft, so ist es auch im Bereich der Geisteswissenschaft zweckmäßig, das auf den bisherigen Erfahrungen fußende, faktisch beschreibende Wissen, das Wissen in der Bedeutung 1 und 2, scharf von dem Wissen in der Bedeutung 3 und 4 zu sondern. Es ist in methodischer Beziehung von Bedeutung, daß auch die Wissenschaft vom menschlichen Geist, Psychologie, Soziologie, Sprachwissenschaft u. a. sich erst vor Augen führt, was innerhalb des betreffenden Erfahrungsbereiches bisher faktisch geschehen ist, ehe sie zu 3 übergeht, d. h. ehe sie generelle Mutmaßungen und Voraussagungen über eine kommende zukünftige, faktische Entwickelung — ohne planmäßiges, experimentelles Eingreifen — ausspricht, und zu 4, ehe sie sich darüber äußert, welche Wirkungen ein planmäßiges, experimentelles Eingreifen (a und b) seitens menschlicher Willensbeschlüsse nach den bisher gemachten Erfahrungen wahrscheinlich haben werde. Dieses letztere Wissen, 4, insbesonere das Experimentalwissen b: die Lehre von den zweckdienlichen Wirkungen zum Nutzen der Menschheit, geben die Ethik und die Rechtslehre auf Grund der Wahrnehmungen der Psychologie, der Soziologie und der positiven Rechtwissenschaft bezüglich der tatsächlichen psychischen Zustände, Gesellschaftzustände, Rechtszustände und ihrer gesetzmäßigen Beziehungen*). In allen angewandten Wissenschaften besteht, wie berührt wurde, ein fortwährendes Zusammenspiel zwischen den beiden Gruppen des Experimentalwissens a und b und häufig ein unmerklicher Übergang zwischen Beiden. Mitunter gehen innerhalb dieser Wissenschaften auch Wissen 1, 2 und 4 unmerkbar in einander über. Selbst in der sogenannten positiven Rechtswissenschaft, die sich größtenteils auf Wissen 1 beschränkt, ist man sowohl bei der Auslegung geltender, gesetzlicher Bestimmungen, als auch bei der Vervollständigung der
*) Das Wort »zweckmäßig« kann an und für sich, rein sprachlich betrachtet sowohl dort, wo die Wirkung, die man zu erzielen wünscht, schädlich, als auch da, wo sie vorteilhaft ist, gebraucht werden. Meistens verwendet man es doch nur in dem Sinne, daß man eine günstige Wirkung bezweckt. In der hier vorliegenden Darstellung wird das Wort ausschließlich in dieser Bedeutung verwendet.
298 Gesetzgebung sehr oft in weitem Ausmaße genötigt, von der Rechtslehre auszugehen, mithin also eben das Wissen 4 anzuwenden. Bisweilen ist auch ein unmerkliches Ineinandergleiten mehrerer angewandter Wissenschaften festzustellen. Das gilt beispielsweise der Medizin und der individuellen Ethik (II d 1 und 2 ) . Beide müssen auf mehreren Gebieten Hand in Hand arbeiten. So beruht körperliche Ungesundheit oft auf fehlender seelischer Beherrschung. Beispielsweise dort, wo gewisse Genußmittel mit im Spiele sind. J e d e konkrete Entscheidung in der Rechtswissenschaft, z. B. die Entscheidung einer Rechtssache durch den Richter, der Rat eines Anwalts an seinen Klienten, ist dem Angeführten zufolge Ausdruck eines Experimentalwissens von derselben Art, wie die Entscheidung eines Arztes in bezug auf die Notwendigkeit einer Operation oder die eines Ingenieurs bezüglich der Brauchbarkeit einer Brückenkonstruktion u. ä. Alle diese Entscheidungen fußen auf einer experimentellen Ausnutzung der gesetzmäßigen Zusammenhänge in der Natur, und zwar sowohl der äußeren als der inneren, also auf einem Wissen, das auf vorzeitigen Erfahrungen gebaut ist, daß diese oder jene bestimmte Wirkungen eintreten werden, wenn m a n so oder so handelt. Auch eine weitergehende Untersuchung in einer rechtswissenschaftlichen Abhandlung oder in dem Gutachten einer Gesetzesvorlage stellt, genau wie eine medizinische oder technisch-naturwis-
Ausdrücke wie »politische Sozialökonomie« (political economy) oder die »Politik« der Nationalökonomie im Gegensatz zu ihrer Theorie sind, wie aus dem oben gesagten hervorgeht, als verfehlt anzusehen. In der Bezeichnung »politisch«, »Politik« liegt gleichsam die Andeutung, als handle es sich um etwas wissenschaftlich wenig Hochstehendes, während die beschreibende Sozialökonomie danach wissenschaftlich gesehen auf einer höheren Stufe liegen sollte. Dieser Gedankengang hat seinen Ursprung in der älteren, sogenannten klassischen Nationalökonomie, wo man glaubte, daß das Wirtschaftsleben der Gesellschaft als ein Stück Natur von allgemeinen Naturgesetzen beherrscht werde und daß es den Menschen nichts nützen könne, durch soziale Maßnahmen, Gesetze, Verordnungen, Verbände u. a. in dieses Gebiet eingreifen zu wollen. Dieser ganze Gedankengang beruht indessen auf einer irrigen Ansicht. Wir können ebensowohl in Ursachen und Wirkungen innerhalb des gesellschaftlichen Lebens mittels bestimmter willensgeleiteter Maßnahmen eingreifen, wie wir innerhalb der anorganischen und der organischen Natur durch das Experiment in die Naturvorgänge eingreifen und diese ändern.
299 senschaftliche Untersuchung eine experimentelle Forschung dar, die — auf zahlreichen Erfahrungen in Bezug auf gesetzmäßige Zusammenhänge in frühren Fällen fußend — zu konstatieren versucht, welche gesellschaftliche Behandlung, auch gesetzliche Ordnung genannt, die zweckdienlichste sei, d. h. die nützlichsten Wirkungen für die Gesellschaft mit sich führen würde, wenn diese oder jene bestimmten Änderungen, auch Ursachen genannt, eingesetzt werden. Die angewandten Wissenschaften (II a—e), das heißt: alle technischen Naturwissenschaften, alle Medizin (sowohl auf den Gebieten des menschlichen, als auch des tierischen und pflanzlichen Lebens), alle individuelle Ethik (darunter auch die Pädagogik), die Gesellschaftsethik, die Sozialökonomie und die Rechtslehre, gehen also ohne Ausnahme darauf hinaus, durch planmäßiges zweckmäßiges Eingreifen in den ursächlichen Zusammenhang die f ü r die Menschheit nützlichsten W i r k u n g e n hervorzurufen. Man kann sie deshalb wertende experimentelle Erfahrungswissenschaften nennen. Es besteht keinerlei erkenntnistheoretische Grundlage f ü r die Annahme, daß die angewandten oder wertenden Experimentalwissenschaften weniger wissenschaftlich seien als die Beschreibenden, deren Erfahrungen sie ausnutzen. Eine Rangordnung innerhalb der Wissenschaften läßt sich nicht aufstellen. Die angewandten technischen Naturwissenschaften, die Medizin mit ihren verschiedenen Zweigen, die Ethik, die Rechtslehre und die Sozialökonomie stellen in eben so hohem Grade Wissen und Wissenschaft dar, wie die P h y -
Ein Anderes ist, daß die Versuche der Gesellschaft, in das Wirtschaftsleben einzugreifen, häufiger Zweifel und Meinungsverschiedenheiten hervorrufen, als die angewandten Naturwissenschaften. Das hängt jedoch damit zusammen, daß die wissenschaftliche Aufgabe auf dem Gebiet der sozialen Phänomene weit komplizierter ist, als auf dem der äußeren Naturerscheinungen. Die Aufgabe, im Bereich der angewandten Sozialwissenschaften, ist aber deshalb durchaus nicht weniger wissenschaftlich, als auf dem der angewandten Naturwissenschaft. — Wo ein planmäßiges Eingreifen in die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaft die Mitwirkung der Gesetzgebung voraussetzt, muß aber eine Zusammenarbeit zwischen der angewandten Socialökonomie, der Rechtslehre und der poitiven Rechtswissenschaft natürlich bestehen. An einer solchen wissenschaftlichen Zusammenarbeit hat es jedoch oft gefehlt. Aber eben die umfassenden Erfahrungen der Rechtslehre und der positiven Rechtswissenschaft werden die Versuche eines Eingreifens in das Wirtschaftleben objektiver gestalten, sie allseitiger begründen und die Untersuchung von den dort oft recht sub-
300 sik u n d die Chemie, die A n a t o m i e u n d die P s y c h o l o g i e , die P h y s i o logie u n d die Soziologie, auf deren Material an b i s h e r erlebten Sinnesw a h r n e h m u n g e n oder S e l b s t w a h r n e h m u n g e n in den R e l a t i o n e n die w e r t e n d e n E x p e r i m e n t a l w i s s e n s c h a f t e n f u ß e n . D a ß sich das W i s s e n j e n e r W i s s e n s c h a f t e n a u f die Zukunft, auf künftige Kausalzusammenh ä n g e bezieht, m a c h t sie nicht geringer als die beschreibenden W i s s e n s c h a f t e n , d e n n selbst die generellen Gesetze der N a t u r w i s s e n s c h a f t beziehen sich j a ebenfalls auf k ü n f t i g e , u r s ä c h l i c h e Z u s a m m e n h ä n g e ; die N a t u r w i s s e n s c h a f t bedient sich überall in i h r e r F o r s c h u n g des E x p e r i m e n t e s , d. h. des p l a n m ä ß i g e n , m e n s c h l i c h e n E i n g r e i f e n s in den K a u s a l z u s a m m e n h a n g , also derselben Methode, der sich a u c h die a n g e w a n d t e n W i s s e n s c h a f t e n bedienen. U n d es besteht, w i e n a c h g e w i e s e n w u r d e , b e z ü g l i c h der g e s e t z m ä ß i g e n Z u s a m m e n hänge kein Wesensunterschied zwischen Experimentalwissen a und b. A b e r w e i t e r h i n ist j e d e W i s s e n s c h a f t — w i e m e i n e v o r h e r g e h e n d e U n t e r s u c h u n g v e r m u t l i c h n a c h g e w i e s e n h a t — letzten E n d e s , sei sie n u n theoretisch oder p r a k t i s c h , beschreibend oder a n g e w a n d t , eine w e r t e n d e E x p e r i m e n t a l w i s s e n s c h a f t i m Interesse der Menschheit. U n d das gilt aller F o r s c h u n g v o n der A t o m t h e o r i e u n d anderen A r b e i t s h y p o t h e s e n v o n d e m ä u ß e r e n U n i v e r s u m bis z u r B r ü c k e n - u n d W a s serbaulehre, M a s c h i n e n l e h r e , Medizin u n d R e c h t s w i s s e n s c h a f t . W e n n aber m e i n e v o r h e r g e h e n d e U n t e r s u c h u n g in dieser W e i s e zeigt, d a ß V e r g a n g e n h e i t u n d Z u k u n f t in der W i s s e n s c h a f t n i c h t zu t r e n n e n sind u n d u n a u f h ö r l i c h i n e i n a n d e r gleiten, u n d z w a r v o n
jektiven Vorschlägen befreien können, die der sogenannten politischen Ökonomie oft ihren Stempel aufdrücken. Die sogenannte »Politik« der Nationalökonomie ist also ihrer Wesensart und ihrer Aufgabe nach ebensowohl Wissenschaft wie alle angewandten Naturwissenschaften und die Medizin; und da das Wort Politik nun einmal mit einem gewissen unangenehmen Beiklang behaftet ist, sollte dieser Ausdruck in Verbindung mit der Nationalökonomie ganz abgeschafft werden. Das Wort »Nationalökonomie« ist ebenfalls auch nicht besonders gut gewählt, da die Nationalökonomie als objektive Wissenschaft ja nicht das Interesse einer bestimmten Nation, sondern die Belange der gesamten zusammenarbeitenden Menschheit wahrzunehmen hat. Am besten wäre es daher, das Wort »politisch« durch das neutrale, der Naturwissenschaft entnommene Wort »angewandte« Wissenschaft ersetzt würde und man dementsprechend die sogenannte »theoretische Nationalökonomie« oder die Politik der Nationalökonomie als »angewandte Sozialökonomie« oder »angewandte Gesellschaftsökonomie« bezeichnete.
301 unserer Anwendung der Erkenntnisfaktoren im Wirklichkeitsbegriff und den logisch-mathematischen Axiomen bis zu den direkt wertenden Experimentalwissenschaften, verschwindet hiermit auch die scharfe Sonderung der bisherigen Philosophie zwischen »sein« und »sein müssen«. Dennoch können wir gerne eine Abstufung der sprachlichen Ausdrücke unter Rücksichtnahme auf den gewohnheitsmäßigen Sprachgebrauch der Jahrtausende anwenden. Wir drücken also weiter das Wissen 1 durch die Gegenwartsform »ist« aus. Das Wissen 2 (die Naturgesetze) pflegen wir gewohnheitsgemäß ebenfalls durch diese Gegenwartsform auszudrücken, obgleich dieses Wissen sich generell auch auf die Zukunft bezieht. Das experimentelle, feststellende Wissen a drücken wir meistens bald in der Gegenwartsform, bald im Futurum aus: wenn x und y als Ursachen eingesetzt werden, dann »tritt« die Wirkung z ein oder richtiger: dann wird sie eintreten. Das wertende experimentale Wissen b drücken wir, wie bereits angedeutet, natürlich nicht durch die Zukunftsform »werden«, sondern durch die andere Zukunftsform »sollen (oder müssen)« aus. Ebenso natürlich und richtig sagen wir in der technischen Wissenschaft, daß man — wenn man die vorteilhafte Brückenkonstruktion a erzielen will — die Materialien b und c anwenden muß, genau wie wir im Bereiche der Medizin und Ethik sagen, daß man, wenn man seine körperliche und geistige Gesundheit bewahren will, den Genuß des Stoffes x vermeiden muß oder soll. Doch muß man gleichzeitig hiermit hervorheben, daß die Wörter »sollen, dürfen und müssen« innerhalb der beiden angewandten Wissenschaften, der Ethik und der Rechtslehre, vor Allem wenn es sich um das Verhältnis zu anderen Menschen handelt, eine ganz besondere Betonung erhalten (Du darfst nicht totschlagen; du darfst nicht zum Schaden deines Nächsten lügen); und der Grund ist natürlich der, daß der durch die experimentellen Erfahrungen der Jahrtausende gewonnene Grundsatz für alles Zusammenleben der Menschen: daß sie einander nicht schädigen dürfen, sich infolge seiner absoluten Notwendigkeit für alles menschliche Leben, für Arbeit und Fortschritt, dem menschlichen Gefühlsleben tief eingeprägt hat. Es wird oft betont, daß innerhalb der Ethik, der Rechtslehre und der angewandten Sozialökonomie in bezug auf wichtige Fragen sehr geteilte Meinungen herrschen, als ob eine solche Feststellung die wissenschaftliche Bedeutung jenes Denkens herabsetze. Eine derartige Feststellung hat doch zutiefst gesehen nichts mit dem Charakter dieser geistigen Tätigkeiten als Wissenschaft zu tun. Die
302 Hauptsache ist, daß die wissenschaftliche Methode festliegt — und das ist auf diesem Gebiete der Fall, wenn man in der Ethik und der Rechtslehre die abstrakten und unfruchtbaren Höhen der bisherigen Wert- und Pflichtethik verläßt und, wie im Vorhergehenden begründet wurde, auf einer neuen Grundlage nüchterner, praktischer Erfahrungen aufbauen will. Und das kann, wie ich wohl nachgewiesen habe, nur durch die wertende Experimentalmethode geschehen. Im übrigen stoßen wir selbst innerhalb der beschreibenden Wissenschaften auf Zweifel und geteilte Meinungen. Es bestehen beispielsweise auch divergierende A u f f a s s u n g e n über Einzelheiten der Atomtheorie und bezüglich gewisser biologischer und physiologischer Probleme. Es ist jedoch nur natürlich, daß die Möglichkeiten f ü r Meinungsverschiedenheiten größer werden, je komplizierter die Phänomene sind, mit denen wir uns beschäftigen; und ganz besonders muß dieses bei so komplizierten Phänomenen gelten, wie sie das menschliche Seelenleben und die menschliche Gesellschaft darstellen. Es ist auch natürlich, daß es innerhalb der angewandten Wissenschaften verhältnismäßig größere Möglichkeiten verschiedener Meinungen geben muß, als innerhalb der beschreibenden. W e n n verschiedene A u f f a s s u n g e n der Probleme des faktischen Kausalzusammenhanges innerhalb der Physik, der Chemie und der Biologie denkbar sind, darf es nicht wunder nehmen, daß es die Möglichkeit noch zahlreicherer Ansichten dessen gibt, was z. B. innerhalb der Ingenieurwissenschaft unter diesen und jenen Bedingungen als die beste Brückenkonstruktion, was innerhalb der Medizin bei gewissen Krankheiten x, deren Natur bis heute nur noch zum Teil erforscht ist, als beste Heilmethode, und welche Ordnung innerhalb der Rechtslehre als die rationellste Rechtsordnung innerhalb eines gewissen Bereiches angesehen werden muß. Aber es dreht sich hierbei doch lediglich um einen Gradunterschied innerhalb der großen Reihe I a—e, II a—e innerhalb des Systems der Wissenschaften. Denn die wissenschaftlichen Methoden selbst, die Anwendung der Erkenntnisfaktoren und der experimentellen Methoden müssen, wie ich im Vorhergehenden nachgewiesen habe, innerhalb der gesamten Reihe von Wissenschaften festliegen. Selbst innerhalb einer so komplizierten Naturerscheinung wie der menschlichen Gesellschaft werden sich die divergierenden Ansichten im Wesentlichen um die beste Rechtsordnung in bestimmten Sonderbereichen, nicht aber u m die Grundgesetze alles menschlichen Betragens im Zusammenleben mit anderen Menschen drehen, wenn man, wohlgemerkt, stets nur der
303 nüchternen experimentellen Erfahrungsmethode, die ich angedeutet habe, folgt, die unklaren, gefühlsbetonten Prinzipien aller utilitaristischen Ethik und Pflichtethik verläßt und damit, wie im Vorhergehenden geschehen ist, die ethischen Grundsätze strengstens auf das begrenzt, was die gesammelten experimentellen Erfahrungen der Menschheit auf diesem Gebiet als zwingend notwendig für die Aufrechterhaltung und das Wachstum des Menschenlebens erweisen. Über das begrenzte, aber unentbehrliche Gesellschaftsgesetz, daß Menschen sich gegenseitiger Schädigung enthalten sollen, werden alle vernünftigen Menschen in derselben Weise einig sein können, wie in bezug auf das geometrische Axiom, daß die gerade Linie der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten sei. Die Plätze der Ethik und der Rechtslehre innerhalb der Wissenschaften sind nach der vorhergegangenen Untersuchung ebenfalls gegeben. Sie gehören, wie bei der Gruppierung der Wissenschaften gezeigt, genau wie die Medizin und die technischen Naturwissenschaften, zu den angewandten Wissenschaften oder — meiner Charakterisierung gemäß — den wertenden Experimentalwissenschaften, näher bezeichnet: zu der oben angegebenen Gruppe II d. Es werden künftig Fragen in bezug auf Veränderungen in den Einzelheiten der Gesetze oder der Grundsätze sowohl für die moralische Lebensführung der Einzelnen als für die rechtliche Ordnung und Leitung der Gesellschaft gestellt werden können, und zwar in genau derselben Weise, wie innerhalb der Methoden der Medizin zur Heilung der Krankheiten und auf dem Gebiete der Konstruktionen und der Materialverwendung in den technischen Naturwissenschaften Änderungen stets stattfinden. Die wissenschaftliche Methode selbst liegt aber künftig fest. Es ist also auch ein Resultat der erkenntnistheoretischen Untersuchung, die ich in diesem Buche vorgenommen habe, daß die Ethik und die Rechtslehre von jetzt an als Wissenschaften ihre Grundlage erhalten haben. Von allen wissenschaftlichen Grundsätzen, Axiomen, Naturgesetzen sowohl der beschreibenden als auch der wertenden Experimentalwissenschaften, also auch der Ethik und der Rechtslehre, gilt, daß Vergangenheit und Zukunft voneinander nicht getrennt werden können. Alle Wirklichkeit, alle Erfahrung, alles Wissen umfaßt, wie im Vorhergehenden dargetan wurde, das Dasein in einem großen Zusammenhang von vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Verschiedenheiten, Gleichheiten und gesetzmäßigen Zusammenhängen.
304 Wenn wir aber sagen, daß Wirklichkeit, Erfahrung und Wissen auch die Zukunft miteinbegreifen, so wird daraus ersichtlich, daß diese keineswegs in ihrer Gesamtheit gemeint ist. Von einem großen Teil der Zukunft haben wie nämlich gar kein Wissen und zwar gilt dieses von all dem, was möglicherweise, vielleicht eintreten werde, und worüber wir ja eben erklären, nichts zu wissen. Nur jener Teil der Zukunft gehört zum Wissen, zur Wissenschaft und ihrer Wirklichkeit, der sich mit Sicherheit vorausberechnen läßt. Das besagt aber wiederum: Alles, was den wissenschaftlich konstatierten gesetzmäßigen Zusammenhängen zufolge geschehen werde. Hierauf beruhen denn also die Naturgesetze und der wissenschaftliche Charakter des Wissens 3, und hierauf beruht auch der wissenschaftliche Charakter des Experimentes a und des Wissen 3 sowie des Experiments b, d. h. der wissenschaftliche Charakter aller angewandten oder wertenden Experimentalwissenschaften. Mit dieser Einschränkung können wir also feststellen, daß Wirklichkeit, Erfahrung und Wissenschaft die Zukunft miteinbegreifen. Das Problem, ob die Erkenntnislehre und die Fachwissenschaft empirisch oder apriorisch sind, ist damit gelöst. Die Erkenntnislehre und alle Wissenschaft sind überhaupt empirisch, da sie auf den gesamten experimentellen Erfahrungen, die die Menschheit in der Vergangenheit gemacht hat, beruhen, zugleich aber auch apriorisch in dem Sinne, daß sie der Zukunft vorgreifen. Allerdings nur dem Teile der Zukunft, der auf den bisherigen, gesetzmäßigen Zusammenhängen fußt und nur mit diesen als vorläufiger Arbeitsbasis.
12.
Kapitel
WISSENSCHAFTLICHER BEWEIS ODER B E G R Ü N D U N G Nach der obigen Darstellung gibt es verschiedene Arten des wissenschaftlichen Beweises oder der wissenschaftlichen Begründung. Vor Allem kann man meines Erachtens zwischen drei Arten des wissenschaftlichen Beweises unterscheiden. 1. Innerhalb der beschreibenden Wissenschaften besteht der Beweis für die Richtigkeit einer Behauptung in dem Nachweis ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit in dem obenangeführten Sinne: mit sämtlichen Sinneswahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen mit Bezug auf Gleichheiten und Verschiedenheiten, gesetzmäßige Zusammenhänge in Zeit und Raum und größtmögliche Korrelation. Hierin ist auch das feststellende Experiment miteinbegriffen; die Wirklichkeit betrifft sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart sowie die gesetzsmäßigen Zusammenhänge der Zukunft. 2. Innerhalb der experimentellen, wertenden oder angewandten Wissenschaften, sowie innerhalb der technischen Naturwissenschaften, Medizin, Ethik und Rechtslehre besteht der Beweis oder die Begründung in dem Nachweis, daß dieses oder jenes Eingreifen in die gesetzmäßigen Zusammenhänge diese oder jene zweckdienlichen oder nützlichen Wirkungen hat. 3. Endlich muß der logische Beweis hervorgehoben werden: hier wird eine Behauptung von anderen Behauptungen abgeleitet, indem die Behauptung, die bewiesen werden soll, durch Unterscheiden und Vergleichen als Schlußfolgerung (Konklusion) festgestellt wird, die in anderen Behauptungen als Voraussetzungen (Prämissen) derselben liegt und also von diesen abgeleitet werden kann. Diese Art des Beweises wird selbstverständlich auch innerhalb der beschreibenden und angewandten Wissenschaften neben dem Wirklichkeitsbeweis und dem wertenden Experimentalbeweis angewendet, aber in den sogenannten Formalwissenschaften, in der Lo20
Erkenntnis und Wertung
306 gik und in der Mathematik bedient man sich seiner als einziger Beweisform. Die letzten Voraussetzungen der Mathematik, die Axiome — z. B. 2 + 3 = 5 oder »die Gerade ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten« — können auf dem Wege der mathematischlogischen Schlußfolgerungen selbst nicht bewiesen werden, da alle andere Behauptungen letzten Endes von diesen Axiomen abgeleitet werden und auf ihnen fußen. Diese selbst aber beruhen wiederum teils auf gewissen Wirklichkeitswahrnehmungen, teils auf einer zweckmäßigen und besonderen Anwendung derselben, d. h. einer Anwendung, die sich experimentell sowohl innerhalb der beschreibenden, als auch der angewandten Wissenschaften als höchst nützlich erwiesen hat. Die Axiome der Mathematik fußen nämlich auf den Seiten der Wirklichkeit, die wir Größe, Form und Zahl nennen, und stimmen insoweit mit dieser überein. W i r haben aber innerhalb der Mathematik als allgemeine Methode angenommen, diese aus der übrigen Wirklichkeit, besonders in bezug auf die Zeit und die Veränderung, zu abstrahieren. Und diese Methode hat sich als zweckdienlich erwiesen.
Die überlieferte Sonderung zwischen »sein« und »sein müssen« ist bei den meisten Forschern der älteren und der jetzigen Generation auf den Gebieten der Philosophie, der Nationalökonomie und der Rechtslehre als allgemeine Anschauung allmählich so tief verwurzelt, daß die radikale Auffassung, die ich oben dargetan habe, und alle aus dieser folgenden Gedankenwege dem stärksten Widerstand bei Allen begegnen und noch lange begegnen werden, die sich bisher in den alten traditionellen Kreisen bewegt haben, nach denen Behauptungen, daß etwas sei, begründet, Behauptungen aber, daß etwas sein müsse, nicht begründet werden können. Als typischer Ausdruck des gewöhnlichen, traditionellen Gedankenganges sei die folgende, unzählige Male wiederholte Redewendung angeführt: daß 2 + 3 = 5 läßt sich Allen von dem Begriff der Zahlenreihe aus rationell aufzwingen; aber daß man seinen Nächsten helfen muß o. ä., kann nicht Allen rationell aufgezwungen werden. Dieser gewöhnliche Gedankengang, der stets ohne Beweis als etwas Selbstverständliches hingenommen wird, enthält bei näherer Untersuchung nichtsdestoweniger mehrere fundamentale Denkfehler in bezug auf wissenschaftliche Methode. Erstens ist der Ausdruck: »Kann Allen rationell aufgezwungen
307 werden« nicht ganz klar. Man muß den Druck auf das Wort »rationell« legen, denn ob Etwas rationell Allen oder einer Mehrzahl oder nur wenigen Einzelnen aufgezwungen werden könne, ist belanglos. Statt des Ausdruckes »kann rationell Allen aufgezwungen werden« müssen wir uns lieber des klareren und bestimmten Ausdruckes »läßt sich wissenschaftlich beweisen« bedienen. Aber ferner werden im genannten traditionellen Gedankengang die verschiedenen Arten der Beweise miteinander vermengt, die man — wie im Vorhergehenden nachgewiesen wurde — deutlich auseinander halten muß, obgleich sie alle mit Bezug auf wissenschaftliche Beweiskraft gleich gut sind. Die mathematischen Axiome lassen sich, wie ich oben hervorhob, selbst nicht logisch beweisen. Sie können jedoch dadurch bewiesen werden, daß sie teils mit gewissen Seiten der Wirklichkeit übereinstimmen und teils sich als zweckdienlich erwiesen haben (145—146). Die ethischen Grundsätze lassen sich durch den wertenden Experimentalbeweis — genau wie die Grundsätze oder Behandlungsmethoden der Medizin — beweisen, nämlich, weil sie der Förderung des menschlichen Wohles in zweckmäßiger Weise dienen. Man darf also nicht als Seitenstück zu den mathematischen Axiomen einen ethischen Satz wie den oben genannten über die Pflicht, Menschen zu helfen, wählen, da dieser Satz nicht in der Allgemeinheit, mit der er hier ausgesprochen wird, experimentell oder erfahrungsmäßig anerkannt werden kann. Man darf als allgemeine Regel nicht aufstellen, daß man seinen Mitmenschen ohne Rücksicht auf ihr Benehmen gegen Einen selbst oder Andere und ohne Berücksichtigung ihrer Qualität stets behilflich sein soll. Die Entscheidung muß durch die näheren Umstände in den einzelnen Fällen bestimmt werden. In einigen Fällen wird es sogar eben richtig sein, nicht zu helfen — z. B. wenn das Benehmen des Betreffenden besonders rücksichtslos oder gemein und sein menschlicher Wert außerordentlich gering ist — in wieder anderen würde es natürlich sein zu helfen, nämlich wenn die Umstände in beiden Beziehungen völlig andere sind. Wenn man einen ethischen Grundsatz wählen will, der den mathematischen Axiomen gleichgestellt werden könnte, ist es selbstverständlich nicht angängig, daß man einen solchen, in seiner generellen Form unrichtigen Satz wie den oben genannten vorzieht. Man muß vielmehr denjenigen Grundsatz wählen, den ich oben angewiesen und begründet habe, nämlich den enger begrenzten und mehr nüchternen: daß man seine Mitmenschen nicht schädigen dürfe, über diesen 20*
308 Grcndsatz läßt sich erstens sagen, daß alle Menschen ihn als richtig und unwiderleglich betrachten würden; er würde, um einen volkstümlichen Ausdruck zu gebrauchen, Allen aufgezwungen werden können. Aber außerdem haben alle Gesellschaften diesen ethischen Grundsatz als so unwiderlegbar bewiesen und als durch alle menschlichen Erfahrungen so wohl begründet angesehen, daß die Behörden dieser Gesellschaften überall mit allerlei Miltein zur Handhabung des Rechts, mit Strafen, Entschädigungen, Verboten u. ä. die Menschen zwingen, ihm zu folgen. Die matematischen Axiome lassen sich also durch den Wirklichkeitsbeweis in Verbindung mit dem wertenden Experimentalbeweis begründen; die fundamentalen ethischen Grundgesetze, die ich »das Gesellschaftsgesetz« oder »das Charaktergesetz« genannt habe, können durch den wertenden Experimentalbeweis begründet werden. In bezug auf wissenschaftliche Beweiskraft sind diese Begründungen — der Wirklichkeitsbeweis und der Experimentalbeweis — einander gleichgestellt. Die obenerwähnte, allgemein vorherrschende Auffassung ist folglich wissenschaftlich unhaltbar. Wenn man von einer Verifikation durch die Erfahrung spricht, wird dieser Ausdruck oft in einer einzigen Bedeutung gebraucht: nämlich als Wahrnehmung, Feststellung der Übereinstimmung einer Behauptung mit einer gegebenen Wahrheit, z. B. mit dem Aussehen und dem Wachstum gewisser Planzen. Aber diese Einschränkung der Bedeutung ist falsch und stimmt nicht mit den Naturwissenschaften überein, so wie diese tatsächlich wirken. Verifikation durch die Erfahrung bedeutet innerhalb der Naturwissenschaften zwei Dinge, die ich beziehungsweise 1) die wahrnehmende Verifikation und 2) die experimentelle Verifikation nennen will. 1) Die wahrnehmende Verifikation bedeutet, daß unsere Wahrnehmung der Natur uns zeigt, daß eine Vorstellung, eine Auffassung mit dem, was faktisch in der Natur, also in der Wirklichkeit, vor sich geht oder vorhanden ist, übereinstimmt. 2) Die experimentelle Verifikation bedeutet, daß diese oder jene Resultate, die die Wissenschaft als Wirkungen eines besonderen Vorganges erwartet hat, auch tatsächlich eintreten, wenn die Forschung nach einer bestimmten Methode in die gesetzmäßigen Zusammenhänge eingreift. Innerhalb der Geistetswissenschaften kennen wir genau dieselben Formen der Verifikation. Wenn wir z. B. in der Sozialpsychologie nach vielen Erfahrungen die Auffassung gewinnen, daß gewisse Ver-
309 brechen bisher unter diesen oder jenen faktischen sozialen Verhältnissen zu entstehen pflegten, liegt eine wahrnehmende Verifikation vor. Wenn wir aber in der Rechtslehre feststellen, daß ein gewisses Eingreifen seitens der Rechtsordnung diesen Verbrechen gegenüber diese oder jene Resultate haben werde, liegt eine experimentelle Verifikation vor. Und in derselben Weise können wir von einer experimentellen Verifikation sprechen, wenn wir innerhalb der Ethik eine Auffassung feststellen, nach der eine gewisse Handlungsweise seitens eines Menschen diese oder jene Wirkungen für sein Leben bekommen werde. Man kann die obenstehende Untersuchung im Folgenden kurz zusammenfassen : Der Begriff Wissenschaft umfaßt danach: 1. Beschreibung von Tatsachen. 2. Experimentelle Untersuchung nach den zweckdienlichsten und vorteilhaftesten Methoden, und 3. Verifikation durch Experimente (experimentelle Verifikation), nämlich in Übereinstimmung mit 1. und 2.: 1. den Beweis, daß eine Behauptung, eine Auffassung, wahr ist, d. h. daß sie mit den Tatsachen übereinstimmt, 2. den Beweis, daß eine Behauptung, eine Auffassung mit Bezug auf die zweckdienlichsten und vorteilhaftesten (nützlichsten) Methoden mit den experimentellen Erfahrungen übereinstimmt.
Es wird bisweilen hervorgehoben, daß die Ethik keine Wissenschaft sein könne, weil sich gegen eine individuelle Ethik die Frage stellen läßt: warum soll ich Selbstbeherrschung zeigen und dadurch meine Gesundheit und Erwerbstauglichkeit fördern, wenn ich es vorziehe, das Leben zu genießen und die eventuellen Konzequenzen auf mich zu nehmen, und weil man gegen eine soziale Ethik auch eine andere Frage richten könnte: warum soll man das Gesetz durchzwingen, daß die Menschen einander nicht schädigen? Diese Fragen sind in wissenschaftlicher Beziehung genau so belanglos, wie wenn man fragen würde: warum soll man sich der besten Brückenkonstruktion über einen Fluß bedienen, oder: warum soll man eine gewisse Diät halten, wenn man an der Zuckerharnruhr leidet? Die individuelle und die soziale Ethik kann nach meiner oben gegebenen
310 Begründung als Experimentalwissenschaft ebenso wenig wie die Ingenieurwissenschaft oder die Medizin absolute Gebote, weder im religiösen Sinne noch im Sinne des kantischen, kategorischen Imperativs aufstellen. Die neue individuelle Ethik sagt dem einzelnen Menschen nur: wenn du die nützliche Wirkung y für dein Leben erreichen willst, mußt du deinerseits die Ursache x, also ein bestimmtes Betragen, einsetzen. Und in gleicher Weise wird die neue soziale Ethik der Gesellschaft und ihren Menschen gegenüber nicht imperativ und absolut erklären: Ihr dürft einander nicht schädigen, sondern viel bescheidener und nüchterner, rein wissenschaftlich sagen: wenn die Gesellschaft eine Reihe von vorteilhaften Wirkungen — bezüglich Arbeitsfrieden, Produktion, Arbeitsteilung, Verminderung der Leiden usw. — erzielen will, muß sie in allen ihren Gesetzen den Grundsatz, daß Menschen einander nicht schädigen dürfen, durchführen. Und alle Gesellschaften haben sich in steigendem Maße und am meisten in der Gegenwart von diesem wertenden Experimentalbeweis so überzeugen lassen, daß die Gesellschaft die Menschen, die Andere schädigen, unschädlich macht, indem sie ihnen den Kopf abschlägt, sie kastriert, sie sterilisiert, sie auf Lebenszeit oder auf kürzere Zeit einsperrt, ihnen Entschädigungen auferlegt usw. Die genannten Fragen können deshalb, wenn die Ethik und die Rechtslehre, wie oben nachgewiesen, also als experimentelle, wertende Wissenschaften begründet werden, als die letzten Ausdrücke eines aussterbenden Gedankenganges, der wissenschaftlich betrachtet wertlos ist, aus der Welt verschwinden.
Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung war keine leichte, und es ist deshalb kein Wunder, daß sie ihre eigenen Wege gehen mußte. Es galt ja nicht allein, die Ethik und die Rechtslehre als Wissenschaften zu begründen, sondern es handelte sich in erster Reihe darum, die Erkenntnislehre als Wissenschaft zu begründen und damit letzten Endes auch allem wissenschaftlichen Denken die letzte entscheidende Begründung zu geben. In einer Zeit, da die Werte, die moralischen wie die rechtlichen, schwanken, da das Leben und Treiben von Menschen und Staaten aller Ideale wie Gerechtigkeit und Güte entkleidet wird, da diese als veraltet und als verschwommene Mystik verschmäht und verworfen werden, da Menschen und Staaten in dem luftleeren Raum eines Jenseits von Gut und Böse schweben, in einer solchen Zeit gerät selbst die Wissenschaft
311 und der Glaube an ihre Objektivität ins schwanken. Triumphierend weisen die Strömungen der Zeit darauf hin, daß die Wissenschaft selbst bekenne, daß ihre letzten Voraussetzungen, aus denen jeder wissenschaftliche Beweis abgeleitet wird, selbst unbeweisbar seien; und so werden die Richtungen, die in der Tat durch Macht zum Siege kommen, die wahren. Da selbst die Erkenntnislehre bis auf den heutigen Tag in streitende Richtungen aufgespaltet ist und sich nicht einmal darüber einigen kann, was Wahrheit und Wirklichkeit ist, so daß selbst die Wissenschaft eines sicheren Halts im Dasein entbehrt, und da auch die Ethik sich in streitende Richtungen zersplittert, deren Einige die Unmöglichkeit einer jeden Ethik überhaupt verfechten, ist ersichtlich, daß nicht nur die moralischen und rechtlichen, sondern überhaupt alle Werte schwanken. In dieser Weltkrise ist die Menschheit im Begriffe, der Ideale der Wahrheit und der Gerechtigkeit verlustig zu gehen. Ich war mir beim Beginn der Untersuchung darüber im Klaren daß Erkenntnislehre oder Wissenschaftslehre und Ethik nicht getrennt werden können. Und wie ich mich früher zu zeigen bestrebte, teilen alle Kulturwerte wie Wissenschaft und Kunst, Charakter und Gesellschaft das gleiche Schicksal, das Schicksal der Menschheit. Erst war zu untersuchen, ob es überhaupt etwas gebe, das Wahrheit, objektives Wissen genannt werden könnte, worin dieses bestände und ob es begründet werden könnte. Erst dann läßt sich ja entscheiden, ob es ein objektives Wissen von Gerechtigkeit und anderen ethischen Zielen gibt. Die tiefste Entscheidung des Problems der Wahrheit und der Wirklichkeit ist in der Erkenntnislehre enthalten, wenn diese ist, was sie sein soll, nämlich der allgemeine Teil sämtlicher Wissenschaften, deren letzte Begründung und die Klarlegung ihrer Methoden. Es war notwendig, hier eine Entscheidung des ungelösten, noch stehenden Streites zwischen den verschiedenen Schulen der Erkenntnislehre zu finden. Wenn sich aber eine solche Lösung finden und wenn sich die zentralen Begriffe der Wissenschaft, nämlich die Wahrheit und die Wirklichkeit, begründen ließen, dann könnten wir daran gehen zu untersuchen, ob die Grundbegriffe der Ethik und der Rechtslehre sich auch objektiv beweisen ließen, und ob gewisse ethische und rechtliche Grundgesetze begründet werden könnten. Diese Untersuchung mußte aber ebenso objektiv und ohne vorausgefaßte ethische oder anti-ethische Meinungen durchgeführt werden, wie die rein erkenntnistheoretische Untersuchung der Grundbegriffe und Grundgesetze der Wissenschaft. Die vorausgegangene
312 Untersuchung führte, da sie in die Tiefe schürfte, notwendig in weitere Bereiche der Welt und sie hat meines Erachtens eine Begründung der menschlichen Kulturwerte gegeben. Sie hat gezeigt, daß diese tief im Dasein des Menschen als eines fühlenden und wollenden Wesens verwurzelt sind und naturnotwendig aus diesem hervorwachsen müssen. Die Untersuchung hat erwiesen, daß die Grundlage der Wissenschaft, nämlich eben die Begriffe Wirklichkeit und Wahrheit, derselben Schicht des Daseins angehören, daß es wirklich sowohl eine unumstößliche objektive Wahrheit, als auch sichere wissenschaftliche Methoden gibt. Diese Erkenntnis führte aber, wie gezeigt wurde, mit unabweisbarer Folgerichtigkeit auch zu der Feststellung, daß sich die Ethik und die Rechtslehre mit demselben sicheren Ausgangspunkt und den gleichen sicheren wissenschaftlichen Methoden als Wissenschaften begründen lassen, wie alle andere Wissenschaften. Um die unumgängliche Wahrheit der ethischen und rechtlichen Sätze 1 und 2 — des charakterlichen und des gesellschaftlichen — zu erkennen, mußten Millionen von Menschen die Leiden von Jahrtausenden durchmachen. Die Zeit, die wir heute erleben, wird, wenn Alles zu Worte gekommen ist, mit ihrer hemmungslosen Vernichtung von Menschenleben und Kulturwerten letzten Endes auch den Staaten durch die unendliche Reihe von Leiden als Schlußergebnis einen neuen Experimentalbeweis für jenes Grundgesetz des Zusammenlebens von Menschen — Individuen und Staaten — geben, ohne dessen Durchführung die Zukunft der Menschheit verspielt ist und alle Kulturwerte vernichtet werden, und das allein den Menschen den Arbeitsfrieden und die Schaffung der Werte sichert. Keine menschliche Regel scheint elementärer als diejenige, die ich das Gesellschaftsgesetz genannt habe, nämlich: daß die Menschen einander nicht gegenseitig schädigen sollen. Und dennoch zeigen die beiden letzten Weltkriege, daß die Einwohner dieses Sterns es noch nicht gelernt haben, selbst dieses elementärste und unentbehrlichste Gesetz zu halten.
Die neue experimentierende Erfahrungsethik und Rechtslehre ist, wie man sehen wird, nicht nur eine Ethik der Mittel, sondern auch eine solche der Zwecke. Genau wie die körperliche Gesundheit des Menschen den ethischen Zweck der Heilkunst darstellt, bilden die seelische Gesundheit und die Zufriedenheit des Menschen im weitesten Sinne den Zweck der individuellen Ethik; und der Zweck der
313 sozialen Ethik ist die im Sinne dieses Zweckes möglichst gute Einrichtung der Gesellschaft. Der Zweck der sozialen Ethik wird von dem Zweck der individuellen abgeleitet. Der Mensch ist nicht um des Sahbathes willen, sondern der Sabbath um des Menschen willen da. In gleicher Weise ist der Mensch auch nicht um der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft um des Menschen willen vorhanden. Die in gewissen Diktaturstaaten behauptete, gegensätzliche Auffassung k a n n nicht begründet werden. 1. Wenn alle Momente des Lebens als eine Summe betrachtet werden, bilden die Erreichung der Lust oder der dauernden Befriedigung im weitesten Sinne und die Vermeidung des Leidens seitens des einzelnen Menschen das Schlußziel der Ethik. Selbst die im höchsten Maße lebensverneinenden Denker, wie Augustinus und Buddha, bauen in Wirklichkeit auf derselben Wertung, wenn sie der Ansicht sind, daß das Menschenleben so voller Sorgen und Leiden ist, daß die Beendigung des Lebens das Beste sein würde. Denn hier bildet die Vermeidung des Schmerzes, das Aufhören aller Leiden des Menschen das ethische Ziel. Auch nicht bei diesen negativen Auffassungen umgeht man den Menschen und dessen Zweck. Durch dieses Ziel: das Wohl des einzelnen Menschen, kommen wir zum Charaktergesetz. Aber dabei kommen wir auch zu jenem Gesetz, das ich das Gesellschaftsgesetz genannt habe, denn kein Mensch kann die tiefste Befriedigung in Ruhe und Sicherheit suchen und finden, wenn nicht alle Menschen dem Gesetz, einander nicht gegenseitig zu schädigen, folgen. 2. Der Zweck kann weiterhin auch begründen, daß die Menschen einander in der Not helfen. Dabei dreht es sich um eii*e Art gegenseitiger Versicherung zum Schutze gegen Unglücksfälle. Und auf ihr beruht u. a. die gesamte, moderne Versicherungs-Gesetzgebung gegen Unglücksfälle wie Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit und hohes Alter ohne Existenzmittel. 3. Danach kann man aber auch von dem Ziele, der größten Befriedigung des einzelnen Menschen aus, wie oben angedeutet, zu jener Selbstlosigkeit innerhalb der Gesellschaft gelangen, die sich darin äußert, daß man die ordnenden und leitenden Stellungen in Übereinstimmung mit der Tüchtigkeit der Menschen und anderer Qualitäten bei ihnen besetzt, denn die Durchführung dieses Gesetzes kommt Allen zugute; wie bereits gezeigt, macht dieses Gesetz in der Tat nur einen Teil des Gesellschaftsgesetzes aus, denn wenn Stellungen ohne Rücksicht auf die Tüchtigkeit und die Qualität be-
314
setzt werden, werden alle Mitglieder der Gesellschaft direkt und indirekt geschädigt. Dagegen kann man — wie wir gesehen haben — von dem Zweck aus nicht zu dem Grundsatz des Utilitarismus kommen, daß der Mensch für das größtmögliche Quantum Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen tätig sein müsse, ohne ihre Qualität und ihr Benehmen Einem selbst gegenüber zu berücksichtigen. Wenn der Einzelne es unterläßt den Nächsten zu schädigen und ihm auch in der Not behilflich ist, hat er erfüllt, was man seine ethische Pflicht nennt. Wen er aber darüber hinaus lieben und wem er helfen will muß völlig davon abhängen, mit wem er sich im Leben als seelisch oder geistig Verwandtem besonders verbunden fühlt. Es gibt jedoch eine Gruppe von Fällen, in denen es nicht angebracht ist, erst nach dem Betragen des Notleidenden zu fragen, weil in vielen Notfällen auch keine Zeit dazu ist. Im übrigen muß es die Aufgabe der künftigen Kulturgemeinschaft sein, alle Not — und nicht nur Hunger und Unterernährung, sondern auch ungesunde Wohnungsverhältnisse — abzuschaffen. Generell dreht es sich doch um unverschuldete Not, denn die Gesellschaft kann wohl, wie ein englischer Expert sich ausdrückte, die Slumviertel, aber nicht die Slummentalität ausrotten. 4. Hier ergänzt die individuelle Ethik die soziale. Die Liebe zu den Menschen gehört zu den höchsten Formen des Glücks. Durch sie werden die Menschen unzählige Male dazu geführt, sich selbst für Andere — nämlich für diejenigen, die sie kennen und lieben — zu opfern. Schließlich muß aber auch hervorgehoben werden, daß es an sich als glücklicher Zustand, als besondere Befriedigung empfunden wird, den vielen unbekannten Menschen — also Allen auf der Stufe, wo sie ihre schlechte Qualität noch nicht enthüllt haben, oder jenen, die selbst auch wirklich gute und hilfsbereite Menschen sind — gegenüber gut und hilfreich zu sein. 5. Schließlich muß noch hervorgehoben werden, daß der leitende Grundsatz natürlich — wenn eine Handlung, eine Erfindung, ein System oder eine Institution ihre Wirkungen auf einen weiten, unbekannten Kreis von Menschen erstrecken — der sein muß, daß die betreffende Handlung, Erfindung, System oder Institution diesem weiten Kreise oder der Menschheit in ihrer Totalität vorteilhaft ist. Denn das ist ja im Interesse Aller.
13.
Kapitel
WISSENSCHAFTLICHE GRUNDBEGRIFFE UND METHODEN i DEFINITIONEN UND IHRE
GRENZEN
Über die Grundbegriffe Wirklichkeit, Erfahrung, Wissen, und subjektiv vergleiche oben S. 116 ff., 206 ff. u. s. w.
objektiv
Alle Definitionen bestehen in einer bestimmt formulierten Erkenntnis oder einem solchen Wissen und gehen folglich alle darauf hinaus, daß etwas Unbekanntes oder nicht genügend Bekanntes, z. B. die Erscheinung x auf bekannte Momente a, b, c zurückgeführt wird, und zwar so, daß x mittels a, b und c ausgedrückt wird. Dieser Definitionsprozess kann indessen nur eine gewisse Zeit fortgesetzt werden; schließlich werden alle Definitionen, gleichgültig innerhalb welcher Wissenschaft, sie vorgenommen werden, zu einigen Grundmomenten zurückführen, die nicht wieder definiert werden können und bei denen die Definition deshalb haltmachen muß. Fragen wir beispielweise, was Helium sei, lautet die Antwort, es sei ein Grundstoff mit diesen oder jenen Eigenschaften. Fragt man nun weiter, was ein Grundstoff sei, wird die Antwort lauten, daß es ein Stoff sei, den man — bisher — nicht in ungleichartige Bestandteile hat spalten können und dessen Atome alle aus einem Kern bestehen, indem es eine Menge Protonen und — im Kreis um den Kern herum — eine gewisse Menge Elektronen gibt. Helium, das in der periodischen Grundstoffreihe als Nummer 2 auftritt, hat das Atomgewicht 4, zwei Protonen — und zwei Neutronen — im Kern und zwei Elektronen außerhalb dieses. Fragt man weiter, was ein Proton oder ein Elektron sei, wird das erstere als eine elektrisch positiv geladene Partikel, das letztere als eine negativ geladene definiert, die sich im Verhältnis zum Atomkern bewegt. Eine Partikel ist ein Stoffteilchen, also Etwas, das räumliche Ausdehnung hat und das die Eigenschaft besitzt, daß es bei allgemein sichtbaren Gegenständen von unserem Tastsinn empfunden werden kann. In der Erscheinung Bewegung sind sowohl Zeit als Raum miteingeschlossen,
316 da jede Bewegung eine Platzveränderung im Räume während einer gewissen Zeit darstellt. Alle Bewegungen gehen in einem gewissen gesetzmäßigen (oder wenigstens statistisch häufigen) Zusammenhang vor sich; und Raum und Zeit, regelmäßiger Zusammenhang, Stoff sind alle ohne unsere Auffassung von Gleichheiten und Verschiedenheiten undenkbar. Die Begriffe Bewegung, Stoff, Stoffteilchen nennen wir fachwissenschaftliche Grundbegriffe und zwar solche der Naturwissenschaft (besonders der Physik und der Chemie). Wenn wir sagen, daß wir nicht wissen, was Bewegung oder Stoff seien, heißt das, daß der Definitionsvorgang innerhalb dieser Fachwissenschaft bei diesen Grundbegriffen Halt macht, daß diese sich also nicht von etwas innerhalb dieser Fachwissenschaften voraus Bekanntem ableiten lassen, überschreiten wir die Grenzen derselben und schürfen wir tiefer als bis zu diesen fachwissenschaftlichen Grundbegriffen, enden wir — wie nachgewiesen — bei den letzten fundamentalen Erkenntnissen von Gleichheit und Verschiedenheit, gesetzmäßigem Zusammenhang, Zeit und Raum. Wenn wir, um das Problem noch weiter zu erhellen, eine andere Naturwissenschaft herbeiziehen und zwar aus der organischen Welt, und wenn wir dann die Frage stellen, was beispielsweise Klee sei, wird die Botanik in ihrer Antwort den Klee als eine Gattung der Schmetterlingsblütler definieren, die außer derjenigen Eigenschaften, die allen Schmetterlingsblütlern gemeinsam sind, gewisse besondere Kennzeichen besitzt, die den Klee von den anderen Pflanzen dieser Gattung unterscheidet. Fragt man aber dann, was ein Schmetterlingsblütler sei, wird dieser als eine Unterfamilie der Leguminosen definiert, deren Fruchtknoten zu zweiklappig aufspringenden Hülsen werden. Fragen wir aber noch weiter, was eine Pflanze sei, kann diese als ein lebendes Wesen mit gewissen, besonderen Eigenschaften bezeichnet werden; und ein lebendes Wesen oder ein Organismus ist eine in Zeit und Raum vorhandene stoffliche Erscheinung, die gewisse, für alles Leben charakteristische Veränderungen — vor Allem Geburt, Stoffwechsel, Wachstum und Tod — durchläuft. Aber auch in diesen Prozessen begegnen wir einem unerklärlichen Letzten. In Wirklichkeit enden wir auch hier rein fachwissenschaftlich bei einer letzten, undefinierbaren Erscheinung, nämlich dem Leben selbst, dem organischen Stoff im Gegensatz zu dem anorganischen. Auch hinter der Fachwissenschaft liegen hier die letzten Erkenntnisfaktoren: Verschiedenheit und Gleichheit, gesetzmäßige Zusammenhänge, Zeit und
317 Raum. Unser Unterscheidungsvermögen muß auf der Grundlage der bisherigen Sinneswahrnehmungen scharf zwischen der organischen und anorganischen Natur sondern. Auch im Bereiche des Psychischen, im Bewustseinsphänomen, begegnen wir einem Letzten, Undefinierbaren. Wir nennen Denken, Gefühl, Stimmung, Willensentschlüsse u. ä. psychische Erscheinungen im Gegensatz zu den räumlichen Gegenständen und ihren Bewegungen. Unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit zieht auch hier eine Trennungslinie, nämlich zwischen den Erscheinungen, die raümliche Ausdehnung haben, und unseren inneren Erlebnissen. Wie ich bereits früher hervorhob, könnte man ebenso gut jenes Vermögen, das alles Wissen und alle Erkenntnis beherrscht, unser Unterscheiden und Vergleichen selbst — und damit auch die mathematischen Axiome, z. B. 2 + 2 = 4 — verneinen, wie den Unterschied zwischen den beiden Erscheinungen des Seelischen und des Physischen abzuleugnen. Man kann das Psychische nicht durch Etwas, das wir noch besser kennen, definieren und wir können ebenso wenig das Physische durch etwas verdeutlichen, das uns besser bekannt wäre, als das Physische selbst (oben S. 153 ff.). Wenn wir das erkannt haben, sind wir imstande, künftig alle künstlichen und weitschweifenden Versuche der Erklärungen seelicher Erscheinungen von physischen Parallelen aus zu vermeiden. Die reiche Anwendung von Wörtern in Anführungszeichen, die solche Erklärungen kennzeichnen, enthüllen nur, daß diese vielen Wörter eben gar nichts erklären. Die letzten fachwissenschaftlichen Grundbegriffe — wie das Psychische, der physische Stoff, die Bewegung — sind wie die Erkenntnisfaktoren, denen sie entspringen, nämlich unsere Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit, Gesetzmäßigkeit, Raum und Zeit, schlechthin undefinierbar. Nicht nur die Fachwissenschaft, wie die Mathematik, sondern auch die Realwissenschaften haben ihre letzten undefinierbaren Begriffe. Wenn man einzelne dieser Begriffe, z. B. die seelischen Erlebnisse, als unverständlich betrachtet, während man andere, wie z. B. die Bewegung äußerer Körper als verständlich anerkennt, enthüllt man damit nur ein mangelhaftes Wissen in bezug auf die Natur und den Verlauf des Definitionsvorganges und auch ein Denken, das der nötigen Schärfe entbehrt. Eine Schwierigkeit der wissenschaftlichen Definitionsarbeit beruht darauf, daß es mehrere verschiedene Wörter für dieselbe Erscheinung gibt und umgekehrt, daß dasselbe Wort in verschiedenen Bedeu-
318 tungen aufgefaßt wird — im Folgenden werden Beispiele davon gegeben. Die Erkenntnislehre muß die Aufmerksamkeit auf diese Fehlerquellen richten und jede Fachwissenschaft ist auch innerhalb ihres Bereiches bei der Anwendung fachwissenschaftlicher Wörter sich dieser Fehlerquellen bewußt zu sein verpflichtet. Sie muß in dieser Beziehung stets auf der Wacht sein. Der richtige Verkehr mit den Begriffen gehört überhaupt zu den größten Schwierigkeiten aller Wissenschaften. In vielen Fällen begeht man den Fehler, die Begriffe und ihre Wörter zu verwenden, ohne daß man sie klar und bestimmt definiert hat, aber bisweilen macht man sich auch des eben erwähnten Fehlers schuldig, indem man Begriffe definieren will, die sich in der Tat gar nicht definieren lassen. Um diesen Fehler zu vermeiden, muß man, wie hervorgehoben, zwischen den folgenden Begriffen underscheiden: 1. den gewöhnlichen fachwissenschaftlichen Begriffen und 2. den letzten Grundbegriffen der Fachwissenschaften, von denen die Begriffe 1 abgeleitet werden, denn jene letzten Grundbegriffe sind direkt von den fundamentalen Erkenntnisfaktoren abgeleitet, die selbst von keinen anderen Voraussetzungen abgeleitet werden können und folglich undefinierbar sind. W i r müssen also die Frage stellen, ob ein gegebener Begriff zu den allgemeinen, fachwissenschaftlichen Begriffen gehört, die wiederum auf noch tiefere Glieder des Wiedererkennungs-prozesses zurückgeführt werden können, oder ob wir den letzten Grundbegriffen in der Fachwissenschaft und in der Erkenntnislehre gegenüberstehen, bei denen der Wiedererkennungsprozess unwiderruflich haltmacht. Nach dem obenangeführten gehören z. B. Metall, Schmetterlingsblütler, Kriechtier zu den Begriffen 1. Den Begriffen 2 gehören z. B. die Begriffe das Psychische, das Physische, Raum und Bewegung an.
II FEHLER DER METHODE Die Geschichte der Philosophie und der Wissenschaft gibt uns zahlreiche Belege zur Beleuchtung der menschlichen Irrtümer. Fehler in der wissenschaftlichen Methode haben oft selbst bedeutende Denker in unfruchtbare Gedankengänge geführt; und die Menschheit ist im Laufe der Zeit mit zahlreichen Bänden voll geistiger Wüstenwanderungen überhäuft worden. Leider haben nicht nur Philosophen geringerer Qualität wie Schelling und Hegel sich solchen unklaren, nicht
319 genügend durchdachten Vorstellungen und unberechtigten Schlußfolgerungen aus diesen ergeben. Selbst bedeutende Denker wie Spinoza und Leibniz sind von diesem Fehler nicht freizusprechen. Durch die vorhergehende Untersuchung habe ich den Versuch gemacht, die verschiedenen Fehler der wissenschaftlichen Methode zu beleuchten. Aber hier ist wohl jetzt am Platze, die wichtigsten Resultate kurz zu rekapitulieren. Soweit ich sehen kann, sind einige der verhängnisvollsten wissenschaftlichen Methodenfehler die folgenden: Anwendung allzu umfassender Begriffe, falscher Analogien und unklarer und Undefinierter Begriffe. a. Die allesumfassenden
Begriffe.
Als Beispiel allzu umfassender Begriffe läßt sich der Substanzbegriff der älteren spekulativen Philosophie nennen. Es gab eine materielle Substanz und eine Seelensubstanz. Und aus diesen nichtssagenden Begriffen zog man Schlußfolgerungen, z. B. auf die Unsterblichkeit der Seelensubstanz. Spinoza bildete sogar einen Substanzbegriff, der Alles, sowohl die materielle Welt als die Seele umfaßte. Spinoza gibt an verschiedenen Stellen verschiedene Definitionen des Begriffes Substanz. Zu dem Mangel an Klarheit kommen noch seine willkürliche Postulate. Spinoza behauptet, daß wir von den Attributen der All-Substanz nur zwei kennen und zwar Ausdehnung und Denken (in bezug auf die Materie bzw. auf den Geist), daß sie aber in Wirklichkeit unendlich viele Attribute habe. Dies ist in Wirklichkeit freies Phantasieren über Dinge, von denen Spinoza genau so wenig weiß wie irgend ein anderer. Aus willkürlichen Postulaten können unendliche Mengen geistreicher Philosophie gesponnen werden und im Laufe der Jahrhunderte geschah das auch in reichem Maße. Solche Phantasien sind aber völlig wertlos. Spinozas Allsubstanz ist mit der ganzen Natur identisch; und diese und Gott sind für ihn das Gleiche. Es ist nicht einzusehen, was durch solche Alles umfassende Begriffe erreicht wird. Die Wissenschaft gewinnt durch sie nichts. Viele lassen sich durch eine so gewaltige Denkersparnis zu solchen »Vereinfachungen« des Denkens verführen. Sie übersehen, daß die Vereinfachung oder die haushälterische Verwendung des Denkens nur einen gewissen, begrenzten, wissenschaftlischen Wert hat. Sie hat ihre natürliche Bedeutung bei den Allgemeinbegriffen der Fachwissenschaft, da sie es ermöglicht, mit größeren Mengen von Erfahrungen gesammelt zu operieren, indem eine Menge von Einzelphänomenen
320 dadurch in Gruppen, wie z. B. die Allgemeinbegriffe Pferd, Säugetier, Tier, Pflanze, Grundstoff u. s. w. zusammengefaßt werden. Die übertriebene Vereinfachung aber, die durch alles umfassende Begriffe ausgedrückt werden, übersieht, daß das menschliche Denken in eben so hohem Maße im Unterscheiden, in dem Nachweis von Verschiedenheiten, wie in der Feststellung von Gleichheiten besteht, und daß ein Begriff um so leerer wird, je umfassender er aufgefaßt wird. Der Substanzbegriff Spinozas ist völlig leer. Er sagt in Wirklichkeit gar nichts. Locke hatte recht, als er bemerkte, daß wir nicht klüger werden, weil man uns darüber belehrt, daß hinter den Dingen Etwas sei, das »darunter stehe« oder sie »aufrechterhalte« — und Anderes verbirgt sich nicht hinter dem lateinischen Worte »substantia«. Will man dieses Wort mit irgend einem bestimmten Sinne übersetzen, müßte man sich des Wortes »Stoff« bedienen. Der bestimmte Sinn dieses Wortes darf aber nicht verwischt werden; es umfaßt selbstverständlich nur das rein Physische, diejenigen Stoffe, die wir in der äußeren Natur treffen, und die Grundstoffe, in die die moderne Chemie sie spalten kann. Die menschliche Seele oder das menschliche Bewußtsein einen Stoff, einen »geistigen Stoff« zu nennen, stellt eine Begriffsverfälschung dar und erweitert nicht unsere Erkenntnis. Den Begriff Stoff oder substantia auf das seeliche Gebiet zu übertragen, ist eine Verschleierung des tiefen Unterschiedes, der im Dasein zwischen den beiden Gebieten des Seelischen und des Physischen vorhanden ist, eine Verschleierung, die zu unbeweisbaren Schlußfolgerungen wie z. B. der, daß die Seele als »Stoff« wie der Stoff in der äußeren Natur unvergänglich sein sollte, verleiten kann. In dem methodisch richtigen Erkenntnisvorgang, dem oben beleuchteten Wiedererkennungsprozess, machen wir bei den irreduktiblen letzten Unterschieden halt; zu ihnen gehört der Unterschied zwischen dem Psychischen und dem Physischen, zwischen der inneren und der äußeren Wirklichkeit; alles umfassende Begriffe, die zwischen ihnen Brücken bauen wollen, wie z. B. substantia sive deus (Substanz oder Gott) sind nur nichtige Geistreicheleien. Für die Wissenschaft sind sie wertlos. Sie haben aber, so weit ich sehen kann, auch keinen Wert für die Religion. Es wird nicht besser, weil man den Allbegriff des Stoffes oder der Substanz durch einen Allbegriff »Kraft« ersetzt, wie Leibniz es getan hat. Der Begriff Kraft oder der Begriff Energie (d. h. die Fähigkeit eine Arbeit auszuführen) ist ein fachwissenschaftlicher Grundbegriff, der eine ganz bestimmte und begrenzte Anwendung findet. Der Begriff Kraft ist ja übrigens lediglich ein Symbol, ein kurzer,
321 symbolischer Ausdruck für gesetzmäßige Zusammenhänge. In Bezug auf die Erkenntnis wird durch die alte philosophische Geistreichelei, das gesamte physische, materielle Universum als eine »Urkraft« oder als »Ausstrahlung« einer Urkraft zu betrachten, nicht das Geringste erreicht. Ebensowenig gewinnt man, wenn man auch das Psychische als eine Kraft auffaßt, denn damit überspringt man den Fundamentalunterschied zwischen dem Physischen und dem Psychischen und faßt die Urkraft, von der das physische Universum eine Ausstrahlung sein soll, als »geistig« auf. Die Schlußfolgerung ist durchaus unberechtigt. Wir wissen ebensowenig, ob die elektromagnetische oder eine andere Energie im physischen Universum geistig ist, wie ob die Masse desselben Universums es ist. Alle Spekulationen über »Kraft« und »Urgeist« haben einen eben so geringen wissenschaftlichen Wert, wie die Betrachtungen Spinozas über die Allsubstanz und ihre Attribute, Geist und Materie, oder wie Leibnizens geistige Monaden. Gewisse idealistische Denker glauben, daß sie dem Idealismus als Weltauffassung einen Sieg gewinnen, wenn sie die neuen naturwissenschaftlichen Auffassungen eher in die Richtung des Begriffes Energie, als in die des Begriffes Stoff oder Materie weisen. Dem gegenüber muß ein für allemal nüchtern festgestellt werden, daß die Energieformen der äußeren Welt: Elektrizität, Magnetismus, Radioaktivität u. s. w. nicht psychisch sind, nichts mit dem menschlichen Bewußtsein oder dessen geistigen oder idealen Werten zu tun haben und daß man der Religion keinen Dienst erweist, wenn man auf derlei Illusionen aufbaut. b. Falsche
Analogien.
Viel fehlerhaftes Denken innerhalb der Philosophie und der Fachwissenschaft beruht auf falschen Analogien. Aus älterer Zeit kann erwähnt werden, daß Aristoteles und nach ihm das gesamte Denken
Über verschiedene falsche Analogien aus dem Bereich des Organischen auf anorganischem Gebiete siehe in meinem Buch: »Erkendelseslseren og Naturvidenskabens Grundbegreber«, K0benhavn 1941 s. 292—93 Anm. und S. 406—16. Schon Bacon warnte vor gewissen Arten von falschen Analogien, wurde aber selbst ihr Opfer (vg. obenerw. Buch S. 22—23, 418.). Die Philosophie Hegels wird durch eine Reihe von Methodenfehlern gekennzeichnet: 1) er operiert mit allumfassenden Begriffen — wie Sein, Nicht-sein und Werden. 2) Er bedient sich unbeweisbarer und willkürlicher Analogien (Gedankenentwicklung — Weltentwickelung). 3) E r 21
Erkenntnis und Wertung
322 des Mittelalters, die Scholastik, der Annahme huldigte, daß auch die mechanische Welt, darunter die Himmelskörper und ihre Bewegung, von Zweckursachen bestimmt sei. Die falsche Analogie besteht darin, daß man einen Begriff, der lediglich auf dem Bereiche des Menschlichen und im weiteren Sinne auf organischen Gebieten anzuwenden ist, unberechtigt auf die anorganischen Körper überträgt. Kepler und Galilei wiesen nach, daß die Körper des Weltalls, die Sterne, die Planeten und ihre Bewegungen keinen Organismus, sondern ein Urwerk bilden, das mechanischen Gesetzen folgt. Kepler nahm in seiner Jugend an, daß die Planeten in ihren Bahnen von Seelen als bewegenden Kräften geleitet würden; er stimmte darin mit der mittelalterlichen Mystik überein. Aber, sagte er, »als ich erwog, daß die bewegende Kraft mit dem Abstände abnimmt, schloß ich daraus, daß sie etwas Körperliches sein müsse«. Viele spätere Philosophen hätten sich und Anderen unfruchtbare Spekulationen erspart, wenn sie sich dieser nüchteren Betrachtung erinnert hätten. Aber so spät wie Anfang des 19. Jahrhunderts werden in der Zeit der Romantik wieder falsche Analogien von der organischen Welt auf die anorganische gezogen. So faßte Schelling das Universum als einen Organismus auf und er warf Kepler und Newton ihre rein mechanische Weltauffassung vor. Denn von dieser aus hätte man ja nicht »den Geist« in der Natur verstehen
zieht logisch unrichtige Schlüsse und 4) er verifiziert nicht seine Schlußfolgerungen in der Erfahrung, s. mein Buch S. 168—69. Wenn man als Gegenstück zu Hegels ungesunden Denkmethoden ein Denken nach gesunden und nüchternen Prinzipien sucht, könnte man als Beispiel die Methode Descartes nennen. Er stellte vier Regeln des Denkens auf: 1. Sorge dafür, daß der Ausgangspunkt des Denkens unzweifelhaft und klar ist. Wenn er damit meint, man müsse mit Behauptungen anfangen, deres Richtigkeit von Allen erkannt werden — wie es z. B. bei den mathematischen Axiomen der Fall ist — hat er Recht. 2. Teile die schwierigen Probleme in so viele Glieder auf, daß man die beste Lösung finden kann. 3. Denke geordnet (d.h. systematisch), vom Einfachen zum Komplizierteren vorwärtsschreitend. 4. Schaffe einen so umfassenden Überblick, daß du sicher sein kannst, nichts vergessen zu haben (s. Discours de la Methode, 22 ff.). In diesen Regeln wird nicht direkt ausgesprochen, daß man seinen Ausgangspunkt in der Erfahrung nehmen und seine Auffassung stets später in der Erfahrung verifizieren solle. Man darf aber wahrscheinlich annehmen, daß Descartes bei den Regeln 1 und 4 eben daran gedacht habe, so richtige und so zahlreiche Erfahrungen wie möglich als Grundlage zusammenzutragen.
323 können u. s. w. Die Betrachtungen Schellings gehören der endlosen Brigade der unbeweisbaren Philosophien an. Wenn wir Naturerscheinungen wie die Annäherung von Körpern an einander oder das Zusammenhängen von Stoffteilen als Ausschlag von »Kräften« — wie z. B. die Anziehungskraft, die Kohäsion — erklären, ziehen wir eine Analogie von unserer eigenen organischen und psychischen Natur zur anorganischen. Die Berechtigung dieser Analogie läßt sich nicht beweisen. Andererseits hat man die Unrichtigkeit oder Falschheit dieser Analogie bisher auch nicht beweisen können. Deshalb ist es zu verantworten, daß man in der Physik zur praktischen Illustrierung den kurzen Ausdruck »Kraft« für Etwas verwendet das man sonst nur viel umständlicher mittels mehrerer Worte hätte beschreiben müssen (das gilt vor Allem der Akzeleration und der Masse). Zu den nicht ganz glücklichen Analogien gehört auch die Auffassung der menschlichen Gesellschaft als Organismus; diese Analogie ist innerhalb gewisser Grenzen berechtigt, aber sie eignet sich nicht zur Durchführung in allen Einzelheiten. c. Unklare,
Undefinierte
Begriffe.
Die Zahl der unklaren oder Undefinierten Begriffe ist innerhalb der Philosophie und der Fachwissenschaften außerordentlich groß und sie haben die größten, geistigen Verirrungen, fanatische Streitigkeiten und zahllose unnütze Diskussionen verursacht. Beispielsweise seien hier der Begriff der Wirklichkeit, der Begriff apriorisch im Gegensatz zum Begriff empirisch, der Begriff des Eigentumsrechtes, die Begriffe Sozialismus und Kommunismus genannt, über den Begriff Wirklichkeit siehe oben S. 117 ff. 147 ff., über die verschiedenen Bedeutungen des Apriorischen vgl. mein Buch Erkendelseslseren og Naturvidenskaben S. 150—51. über den Begriff des Eigentumsrechtes vgl. mein Buch: Ejendomsretten, I. S. 141 ff., über Sozialismus und Kommunismus ebenda 16 ff. III D E D U K T I O N UND I N D U K T I O N Der Induktionsschluß
und die gesetzmäßigen
Zusammenhänge.
Innerhalb der Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts ist die Anschauung weit verbreitet, daß eine Art der Schlußfolgerung, die Induktion genannt wird, der wesentlichste Faktor im großen Fort21*
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schritt der modernen Fachwissenschaften gewesen ist. Induktion nennt man eine Schlußfolgerung von einer Reihe von Einzelfällen auf einen allgemeinen Satz. Wenn wir in einer Reihe von Einzelfällen wahrgenommen haben, daß die Erscheinung a immer mit der Erscheinung b zusammen vorkommt oder sie mit sich führt, schließen wir allgemein daraus, daß a und b einander künftig begleiten werden, und die allgemeine Schlußfolgerung, der allgemeine Satz, daß a und b stets zusammengehören, wird umso sicherer, je mehr Einzelfälle vorkommen, in denen die Zusammengehörigkeit von a und b bestätigt wird. Man ist der Ansicht, daß die allgemeinen Gesetze oder Grundsätze durch eine solche Induktion erreicht worden sind. Aber soweit ich sehen kann, hält diese Auffassung nicht Stich. Sie bekam allerdings eine gewisse Bestätigung durch die Ursachentheorie Humes und die Induktionslogik, die Stuart Mill darauf aufbaute. Hume meinte ja, daß wir, wenn wir oft z. B. die Ursache a, Feuer, und die Wirkung, b, das Schmelzen eines Metalles gesehen hätten, durch die ständige Wiederholung dieser Eindrücke allmählich ein subjektives Gefühl und eine Vorstellung davon erhielten, daß a und b notwendigerweise zusammengehörten und folglich auch in der Zukunft stets zusammen auftreten würden. Wie ich im Vorhergehenden nachgewiesen habe, ist diese Erklärung unserer Vorstellung, daß a die Ursache von b sei, also b verursacht oder bewirkt habe, nicht richtig, denn ein einziger Fall von diesem ursächlichen Zusammenhang und ein enziger Fall der Entdeckung der Ursache einer Änderung genügt vollkommen, um uns zu der Annahme zu führen, daß zwischen a und b notwendigerweise eine Verbindung bestehe, eine Verbindung, die ihr gemeinsames Auftreten auch für die Zukunft sichert (s. oben S. 91 ff). Der Denkfehler Humes bewirkte, daß Stuart Mill, dessen Auffassung der Induktion völlig auf Humes Theorie von dem assoziativen, induktiven Ursprung des Kausalsatzes fußte, in einem Kreisschluß endete, in dem er erkennen mußte, daß alle induktiven Schlußfolgerungen letzten Endes auf den Kausalsatz beruhen, daß aber dieser selbst durch Induktion erreicht worden ist. Ein zweiter, weit verbreiteter Irrtum ist der, daß die Deduktion, die deduktive Schlußfolgerung, im Gegensatz zur induktiven nicht auf Erfahrung beruhe, dafür aber ein sicheres Wissen gebe. In Wirklichkeit verhält es sich, wie ich nachgewiesen habe, so, daß jede Deduktion letzten Endes der Erfahrung entstammt, nämlich in der Gestalt ihres Urtypus von der Auffassung der Gleichheit zwischen zwei Sinneswahrnehmungen, und daß mit bezug auf ihre Sicherkeit kein
325 Unterschied zwischen den beiden Wahrnehmungen vorhanden ist, daß a gleich b sei und daß a und b im Verhältnis zu einander Ursache und Wirkung darstellen (die Grundlage der induktiven Schlußfolgerung), denn sie sind beide sicher, wenn sie sich auf die Vergangenheit beziehen, nämlich auf eine in der Vergangenheit festgestellte Gleichheits- oder Kausalbeziehung zwischen a und b, aber beide unsicher, insoforn sie die Zukunft betreffen (oben S. 120 ff.). — Nur wenn wir die Gleichheitsbeziehung in allgemeine Formen übertragen, wie es in der Mathematik geschieht, können wir generelle Sätze festlegen, deren Sicherheit nicht durch die Zukunft bedroht wird, da wir sie durch die allgemeine Anerkennung der Zeit und ihrer Vergänglichkeit enthoben haben. Wir können hiernach meines Erachtens feststellen: I. Die deduktive Schlußfolgerung — oder der Syllogismus — ist sicher 1) wenn sie sich auf allgemein angenommene Begriffe (von der Zeit unabhängig) bezieht, aber sie ist, wie nachgewiesen, ebenfalls sicher 2) wenn sie die Feststellung der Gleichheit zwischen zwei Wirklichkeitserscheinungen in der Vergangenheit — zwei bereits erlebten Sinnesempfindungen (oder Komplexen derselben) oder zwischen zwei von ihnen abgeleiteten Vorstellungen — betrifft. II Die induktive Schlußfolgerung — die Schlußfolgerung von mehreren oder vielen Fällen auf alle Fälle — ist in der Regel unberechtigt. Diese Schlußfolgerung kann, soweit ich zu sehen vermag, in zwei verschiedenen Formen vorkommen: a) wenn zwei oder mehrere Eigenschaften eines Dinges einander in vielen Fällen begleiten, zieht man die Schlußfolgerung, daß sie auch in der Zukunft, bei der künftigen Wahrnehmung von Dingen derselben Art, einander begleiten werden; b) wenn ein Ereignis, eine Sinneswahrnehmung 1 in vielen Fällen von einer Begebenheit, Sinneswahrnehmung 2, begleitet worden ist, schließt man daraus, daß 2 auch eintreten werde, wenn 1 sich wieder zeigt. Diese beiden Arten von Schlußfolgerungen sind im Allgemeinen aber nicht nur unbeweisbar, sondern durch und durch falsch. Ein so abstrakter Glaube an die Regelmäßigkeit der Natur ist völlig unberechtigt und wird von der Naturwissenschaft in keiner Weise bestätigt. Galilei bemerkt mit Recht, daß die bloße Anhäufung von Einzelfällen niemals die Anwendung eines Satzes auf alle möglichen Fälle berechtigen kann. a. Weil Tausende, ja Millionen von Schwänen sich als weiß erwiesen haben, darf ich nicht die Schlußfolgerung ziehen, daß alle Schwäne
326 unbedingt weiß sein müssen oder werden. Die Eskimos der arktischen Gebiete werden meistens des Glaubens sein, daß alle Bären weiß sind, weil sie immer nur die Eisbären gesehen haben. Die Naturwissenschaft aber, die Bären auch in anderen Gegenden der Erde untersucht hat, weiß indessen, daß es auch braune und schwarze Bären gibt. b. Aber auch die andere Schlußfolgerung ist im Allgemeinen unberechtigt. Selbst wenn es oft geschehen ist, daß die periodischen Sonnenflecken, 1, in den bisher wahrgenommenen zahlreichen Fällen von gewissen klimatischen Erscheinungen auf der Erde, 2, begleitet gewesen wären, würde damit nicht gegeben sein, daß 2 stets 1 begleiten würde oder müßte. Der Umstand, daß man erfahren hat, daß Arbeitslosigkeit, 2, und eine liberalistische Gesellschaftsordnung, 1, häufig zusammen auftreten, darf nicht die Schlußfolgerung mit sich führen, daß diese beiden Erscheinungen immer einander folgen werden. Die induktive Schlußfolgerung ist in beiden Fällen — a und b nur berechtigt, wenn ein notwendiger Zusammenhang zwischen den beiden Erscheinungen nachgewiesen werden kann. Im Falle a wird eine Eigenschaft eines Dinges künftig nur von einer anderen begleitet werden, wenn — wie bereits von Locke hervorgehoben — eine Einsicht in die innere Struktur dieses Dinges erreicht werden kann, so daß man instand gesetzt wird, den engen Zusammenhang der beiden Eigenschaften nachzuweisen. Auf dieselbe Weise wird man im Falle b nur feststellen können, daß Sonnenflecke und klimatische Erscheinungen auf der Erde einander stets begleiten werden und daß liberalistische Ordnung und Arbeitslosigkeit immer einander folgen, wenn man einen notwendigen Zusammenhang zwischen den Sukzessionen der beiden Erscheinungen näher nachgewiesen hat. Bei Schlußfolgerungen aus Erfahrungen dürfte es also nicht in erster Reihe die Zahl der gleichen Fälle sein, die die Schlußfolgerung berechtigt macht. Bisweilen kann dem Naturforscher ein einziger Fall genügen; in anderen Fällen vermag er nicht einmal aus tausend Fällen allgemeine Schlüsse zu ziehen. Hieraus geht vermutlich hervor, daß man die induktive Schlußfolgerung vom Häufigen aufs Allgemeine nicht empfehlen kann. Vielmehr ist eine Schlußfolgerung von dem häufigen Auftreten zweier Phänomene gleichzeitig oder in der Zeitfolge auf ein allgemeines, stets vorkommendes, gemeinsames Auftreten sogar im großen Ganzen unberechtigt. Berechtigt wird sie nur in ganz besonderen Fällen.
327 Diese besonderen Fälle sind — soweit ich sehen kann — nur solche, in denen ein Kausalzusammenhang oder ein gesetzmäßiger Zusammenhang erforscht und in dem gemeinsamen Auftreten der beiden Erscheinungen nachgewiesen werden kann. Die Frage ist indessen die: wann nehmen wir an, daß ein solcher Zusammenhang zwischen zwei Erscheinungen vorliegt, daß wir von einem Kausalzusammenhang oder gesetzmäßigen Zusammenhang sprechen können oder dürfen? Das ist der Fall, wenn wir meinen, die vorhergehende Erscheinung a — oder wenn es mehrere Erscheinungen a + b + c sind — sei eine Bedingung für das Eintreten des folgenden Phänomens x, so daß x, die sogenannte Wirkung, nicht eintreten würde, ohne daß a oder a + b + c, die sogenannten Ursachen, zuerst einträten und zwar in der Weise, daß x in diesem Falle stets eintreten würde, wie z. B. wenn Kohle verbrennt, sobald sie ins Feuer angebracht wird. Dieser innigen Bedingtheit zweier Phänomene von einander begegnen wir indessen nicht, nur weil zwei Erscheinungen einander häufig oder sogar immer begleiten, denn selbst wenn man zeitmäßig ein vorausgehendes und ein nachfolgendes Phänomen feststellt, ist damit durchaus noch nicht gegeben, daß das eine die Ursache des anderen sei, das wir Wirkung nennen. Der Tag folgt auf die Nacht, aber die Nacht ist nicht die Ursache des Tages. Die Gesamterscheimung des Lichtwechsels, Nacht- Tag, stellt die Veränderung dar; und es steht uns frei die Ursache derselben zu suchen, mögen wir sie nun im Eingreifen der Götter finden, wie es im Altertum geschah, oder wie heute, in der Bewegung der Erde um ihre Achse. Wie früher nachgewiesen stellt die Erscheinung Veränderung niemals ein einzelnes Ereignis, sondern ein zusammengesetztes Phänomen dar, das aus einer Reihe zeitmäßig sukzessiver Begebenheiten besteht: Schmelzen, Brennen, Bewegung, Blühen und Welken der Pflanzen, Jahreszeiten, Tag und Nacht (vlg. S. 136—138). Aber nicht alle einander zeitlich folgenden Begebenheiten sind als Veränderung zu bezeichnen. Wenn wir zuerst einen Wagen gefahren kommen und nach diesem einen Mann desselben Weges gehen sehen, liegt kein notwendiger Zusammenhang zwischen diesen beiden Begebenheiten vor, den wir Veränderung nennen könnten. Veränderung heißt die zeitliche Aufeinanderfolge verschiedener Zustände desselben Gegenständes. Die Veränderung dieser sukzessiven, verschiedenen Zustände desselben Gegenstandes nennen wir auch die Wirkung, und wir suchen ihre »Ursache«. Veränderungen stellen also Etwas dar, das auf dem Hintergrund eines bisher stabilen Zustandes, eines stabilen Gegenstandes oder
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mehrerer Gegenstände, die eine gewisse Zeit mit sich selbst identisch oder — wie wir auch sagen — unveränderlich waren, stattfindet. Als Beispiel sei hier eine im Vorhergehenden bereits erwähnte Situation angeführt. Ich befinde mich in einer Gegend, die mir zur Zeit eine unveränderliche Landschaft zeigt: ein Feld vor mir, von einem Walde umgeben, es rührt sich kein Wind, es ist kein Laut zu hören, der blaue Himmel ist wolkenlos. Von solchen stationären Zuständen der Ruhe, der Stille und der Unveränderlichkeit der Dinge durch alle Zeiten haben wir unsere Vorstellungen von Identität und von Ewigkeit erhalten. Aber mitten in dieser großen Unveränderlichkeit geschieht plötzlich Etwas — denn solche stabilen Zustände dauern selten lange: plötzlich bricht Feuer aus einem Haufen trockener Zweige hervor. Eine Veränderung hat stattgefunden, und ich frage gleich: wer oder was hat diese »Veränderung« verursacht, denn ich betrachte sie selbstverständlich als »Wirkung« von Etwas. Ich entdecke nachher z. B., daß eine Person hinter mir aus dem Walde herausgetreten ist und ein brennendes Streichholz in den Haufen geworfen hat. Wir sagen dann, das Feuer des Streichholzes sei »Ursache« des Feuers im Haufen. Bisweilen gehen wir etwas weiter in die Reihe der Begebenheiten zurück: es ist der Mensch, der durch die Bewegung seiner Hand das Feuer des Streichholzes mit dem Haufen in Verbindung brachte und er ist deshalb Ursache des Brandes. Aber an und für sich machen wir uns dabei einer Willkürlichkeit schuldig, wenn wir eben bei diesem Glied in der Reihe der Veränderungen halt machen. Vor jener Bewegung dieses Menschen, die das Feuer ansteckte, muß im Menschen selbst ein Bedürfnis oder eine Lust entstanden sein, die das Anzünden des Streichholzes mit sich führte — warum ist nun dieses Bedürfnis oder diese Lust entstanden? Und so können wir immer weiter fragen. Wäre der Blitz in den Haufen eingeschlagen und hätte ihn angezündet, würden wir gesagt haben: der Blitz ist die Ursache des Brandes. Aber auch in diesem Falle können wir immer weiter und weiter in die »sukzessive Reihe der Veränderungen« zurückgehen. Etwas weiter rückwärts könnten wir z. B. sagen: es sind Wolken oder Wasserdämpfe verschiedenartiger Elektrizität, die durch ihren Zusammenstoß die Entladung, den Blitz, hervorrufen; und in diesem Prozess finden wir die Ursache des Feuers. Aber die Bildung der Wolken oder der Wasserdämpfe kann noch weiter verfolgt und auf den Einfluß der Sonnenwärme auf das Oberflächenwasser des Meeres oder der Seen zurückgeführt werden. Oft bildet die Reihe der Veränderungen einen Kreislauf in
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der Natur: der Fluß strömt durch das Land in das Meer; aus dem Meere steigen nach starker Sonnenwärme Wasserdämpfe auf, die sich verdichten und zu Wolken werden; diese bewegen sich dann über das Land hin und fallen darauf als Regen nieder, bis der Regen sich durch vielerlei kleine und große Wasserläufe, Bäche, Flüsse, zuletzt durch Ströme wiederum in das Meer ergießt u. s. w. u. s. w. Sowohl in Bezug auf diese als auch auf die anderen oben erwähnten Veränderungsreihen ist es eine an und für sich recht willkürliche Handlung unsrerseits, welches Glied dieser Reihe wir Ursache und welches wir Wirkung nennen. Der Einfluß der Sonnenwärme auf die Oberfläche des Meeres verursacht die Bildung der Wolken; in dieser Verbindung ist die Wolke also »Wirkung«; aber die Wolken bilden nun ihrerseits die »Ursache«, daß Bäche, Flüsse und Ströme ihre Wassermengen erhalten. Der Blitz ist die »Ursache« der Anzündung des Haufens, aber selbst ist er die »Wirkung« der verschiedenen Arten von Elektrizität in den Wolken. Wenn wir aus den unendlichen Reihen der Veränderungen einzelne Glieder, einzelne Veränderungen als Ursache und Wirkung bezeichnen, geschieht es — soweit ich sehen kann — in Wirklichheit teils, weil wir gewöhnlich nur bruchstückweise denken, in jedem einzelnen Augenblick nur ein begrenztes, kleineres Gebiet überblicken können, und teils weil es für die praktische Orientierung in der Natur und zur Auswertung derselben zweckmäßiger ist, uns an die nächstliegenden Glieder zu halten, die im Augenblick in verschiedener Beziehung am besten und unmittelbarsten unseren Interessen dienen. Die zweckmäßige und praktische Ordnung und Zurechtlegung der Wahrnehmungen seitens unseres Verstandes ist aber nicht mit der Wirklichkeit gleichbedeutend — hierin besteht unter Anderem der große Denkfehler aller pragmatischen und ökonomisch-erkenntnistheoretischen Richtungen —, denn die Wirklichkeit, die wahre Natur der Umwelt, ist der große Zusammenhang der Veränderungsreihe. Die Betrachtung »Ursache-Wirkung« stellt einen willkürlichen Ausschnitt aus dem großen Strom der Veränderungen aus dieser Wirklichkeit dar. Mit einer Menge praktischer Zwecke vor Augen gehen wir genau auf die einzelne Veränderungslage ein und stellen nach näherer Untersuchung z. B. fest, daß die Zweige im Haufen trocken sein müssen, damit die Wirkung Feuer eintreten kann, und daß das Feuer, das wir zum Anzünden verwenden, von einer gewissen Stärke sein muß. Damit das Wasser, wie es in einem Flusse geschieht, nach unten laufen kann, stellen wir fest, daß es flüssig, a, sein und über einen schrägen
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Boden, b, laufen muß. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, entweder •weil das Wasser nicht flüssig, sondern in fester Form als Eis vorhanden ist, oder weil der Boden unter dem Wasser nicht genügend schräg nach unten geht, wie es z. B. in einem Teich der Fall ist, tritt die Wirkung: das Strömen des Wassers durch das Land, nicht ein. Wir pflegen im allgemeinen Sprachgebrauch sowohl zu sagen, daß a und b die »Ursachen« des Strömens und »die Bedingungen« dieser »Wirkungen« seien. Diese unmittelbar am nächsten liegenden Ursachen oder Bedingungen zu finden, hat vor Allem die praktische Bedeutung, daß wir, wenn sie gefunden sind, künftig wissen, daß wir a und b hervorrufen müssen, wenn wir die »Wirkung« x, also eine bestimmte Veränderung, verwirklichen wollen; andererseits können wir dann auch sicher sein, daß x eintritt, sobald wir a und b hervorrufen. Für viele Zwecke brauchen wir in die unendliche Reihe oder Vorgänge der Veränderungen nicht weiter, als bis zu jenen beiden Gliedern zurückzugehen, die wir als praktische Orientierung »Ursache« und »Wirkung« nennen. Wie weit wir in die Reihe der Veränderungen zurückgehen wollen, hängt davon ab, was wir in den einzelnen Fällen zu erreichen wünschen. Unsere Beschränkung auf den kleinen Ausschnitt aus dem großen Zusammenhang der Wirklichkeit, auf die Ursache-Wirkung-lage bedeutet also in erster Reihe eine Arbeitsersparnis. Wir sparen Zeit und Kräfte. Wenn man sagt, daß diese oder jene Untersuchung nur theoretisches und kein praktisches Interesse habe, bedeutet diese Redewendung oft, daß es für die Zwecke, die im Augenblick vorliegen, nicht notwendig sei, in den Kausalzusammenhang oder den gesetzlichen Zusammenhang, d. h. in die Veränderungsreihen, weiter als bie zu einigen ganz wenigen Gliedern zurückzugehen, z. B. zu den oben erwähnten a und b als Ursachen der Wirkung x. Die Erkenntnislehre aber und die Wissenschaft in ihrer Gesammtheit darf den großen Zusammenhang, die unendliche Reihe der Veränderungen, niemals aus dem Augen verlieren; und oft ist der Umstand, daß man — auch innerhalb der einzelnen Fachwissenschaften - in den Veränderungsvorgang weit zurücksucht, mit wissenschaftlicher Gründlichkeit gleichbedeutend, und eine Beschränkung auf wenige Reihen der Veränderungen ein Zeugnis der Oberflächlichkeit. Wenn es sich um Verdünstungen aus dem Meere dreht, wird die gründliche Wissenschaft sich nicht mit begrenzten Ausschnitten aus dem Zusammenhang der Veränderungen begnügen, wie zum Beispiel demjeningen, den der Einfluß der Sonnenwärme auf die Oberfläche darstellt, sondern die Untersuchung auch
331 auf die Frage erstrecken, ob Strömungen im Meere selbst oder dessen Salzgehalt u. ä. irgend welchen E i n f l u ß auf die Verdunstung ausüben. W e n n man festgestellt hat, daß ein Mann sein Haus angezündet hat, wird die Rechtswissenschaft sich nicht mit dem F a k t u m begnügen, daß der Willensakt des Mannes als »Ursache« seinen A r m in die nötige Bewegung gesetzt hat, die eine Anzündung erfordert; sie wird auch die Ursache dieser »Ursache«, nämlich seines Willensaktes, untersuchen und diesen als »Wirkung« seines Motives betrachten, z. B. seinen W u n s c h , die Feuerversicherungssumme zu erhalten. Und eine noch tiefer schürfende Rechtslehre und eine andere Gesellschaftswissenschaft wird das Verhältnis dieses Motives zu seinem wirtschaftlichen Zustand und zu seiner Vergangenheit näher untersuchen; als weiter zurückliegende Ursache wird dann z. B. festgestellt, daß er seinen Hof zu teuer gekauft hat oder daß er lange trunksüchtig gewesen ist und deshalb seinen Betrieb versäumte u. s. w . Es kann selbstverständlich zweckmäßig sein, wenn die verschiedenen Fachwissenschaften eine Arbeitsteilung vornehmen, so daß eine Fachwissenschaft die Veränderungsreihen (den Zusammenhang zwischen den sogenannten Ursachen und W i r k u n g e n ) : a. b. c. d. näher untersucht und daß die andere Fachwissenschaft dann die Arbeit weiterführt, w o die erste aufgehört hat, und die Reihen e, f, g, h, prüft. Es dürfen aber in keinem Falle fachliche Mauern zwischen den verschiedenen Wissenschaften errichtet werden, so daß die eine nicht mehr imstande ist, in das Land der anderen zu schauen. A u c h im gegenseitigen Verhältnis der Wissenschaften zu einander m u ß die Forschung in den großen Zusammenhängen der universellen Veränderungsprozesse betrieben werden. Die Vorstellung, von der Hume und Kant ausgingen und die nach ihnen ihren E i n f l u ß auf die Erkenntnislehre ausgeübt hat: daß Ursache und W i r k u n g zwei einfache und unkomplizierte Erscheinungen seien, von denen die letztere, die W i r k u n g , in irgend einer Weise aus der ersteren abgeleitet werde, m u ß nach dem hier und früher Nachgewiesenen aufgegeben werden. W a s wir W i r k u n g nennen, stellt wie gezeigt eine ganze Reihe wechselnder Zustände dar; ihnen voraus gehen und nach ihnen folgen ebenfalls Reihen wechselnder Zustände, die bald Ursachen, bald W i r k u n g e n genannt werden, je nach dem begrenzten Ausschnitt der Kette oder der Reihe, den man zum Ausgangspunkt wählt. Der Begriff »Ursache« im überlieferten Sinne und der mit ihm wesensverwandte Begriff »Kraft« sind beide aus den Veränderungsvorgängen zu entfernen. Und was wir Kausalzu-
332 sammenhang oder Zusammenhang von Ursache und Wirkung nennen, ist nur der gesetzmäßige Zusammenhang zwischen den Veränderungen. Doch wenn man dieses nur erkennt, lassen sich die Wörter Ursache und Kraft immer noch ohne Weiteres in den Fachwissenschaften als kurze, praktische Ausdrücke für diese Zusammenhänge innerhalb gewisser Gebiete verwenden. Eine Erscheinung »verstehen« oder »erkennen« heißt, so könnte man sagen, sie teils mittels unserer Auffassung von Gleichheiten und Verschiedenheiten von etwas Unbekannten auf etwas Bekanntes zurückzuführen, und teils sie als Wirkung auf eines oder mehrere frühere Glieder als Ursache zurückzuleiten, also mit anderen Worten: die Erscheinung in gesetzmäßiger Verbindung mit anderen Erscheinungen zu sehen. Wir sagen z. B., daß wir die Bildung der Wolken »verstehen«, wenn wir zu wissen bekommen, daß sie durch Verdunstung des Oberflächenwassers in Meeren und Seen unter dem Einfluß der Sonnenwärme entstehen. Diese letztere Art des Verstehens — einer Erscheinung als Glied eines gesetzmäßigen Zusammenhanges — ist indessen, wenn man sich so ausdrücken darf, nur ein vorläufiges Verstehen, denn wir begnügen uns hier nicht mit dem Zusammenhang zwischen den vielen verschiedenen Arten von Veränderungen, die wir unmittelbar wahrnehmen. Den erwähnten Verdunstungsprozess glauben wir, in übereinsstimmung mit der modernen Naturwissenschaft in der Tat nicht wirklich zu verstehen, ehe wir diesen gesamten Prozess auf Bewegung von Molekülen oder noch kleineren Stoffteilen (Elektronen) zurückgeführt haben. Und wir machen überhaupt nicht halt, bevor wir alle Veränderungen im Universum auf Bewegungen von Kleinkörpern zurückverfolgt haben. Der Grund dazu ist, daß wir die Bewegungen von Körpern aus unserem täglichen Leben kennen und deshalb glauben, sie besser als alle anderen Veränderungen zu kennen. Letzten Endes begegnen wir also auch hier dem Verstehen oder Erkennen in der Gestalt des Wiedererkennens. Die stabilen und ruhigen Zustände, auf deren Hintergrund die Veränderungen auftreten, sind auch nur Bruchstücke, begrenzte Ausschnitte aus dem großen Zusammenhang der Natur. Tiefer gesehen gehen Veränderungen unaufhörlich, selbst innerhalb der stabilsten Zustände, vor sich. Selbst in der oben geschilderten, unveränderlichen Landschaft, in der ich mich befinde, scheint nur eine kurze Zeit eine vollständige Stabilität zu herrschen. Eine Landschaft ist beispielsweise selten völlig lautlos: bald hört man den Gesang eines
333 Vogels oder einen anderen der mannigfaltigen Laute der Natur. Und sollte vielleicht auch für eine kurze Zeitspanne völlige Stille herrschen und fänden auch keine Bewegungen von Tieren, Wasserläufen oder vom Laube statt, treten dennoch Veränderungen ein, nämlich in mir selbst — ich ändere meine Stellung und scheint es auch, als ob ich mich rein äußerlich nicht bewege, wechselt jedoch meine geistige Einstellung von Gedanke zu Gedanke, von Stimmung zu Stimmung. Unerachtet aller Veränderungen meines Seelenlebens bewahre ich dennoch normal die Identität mit mir selbst. Möglicherweise ist es diese meine Identität des Ichs, die uns auch bei Veränderungen die stabilen Zustände der Natur so weit möglich festhalten und so lange wie möglich als mit sich selbst identisch betrachten läßt, so daß wir, selbst wenn eine Veränderung des bisher Stabilen tatsächlich eintritt, doch bestrebt sind, eine gewisse Identität, eine gewisse Unveränderlichkeit hinter den Veränderungen zu bewahren und, da dieses uns (infolge der Molekular- und Atom-theorie) nur teilweise gelingt, jedenfalls eine Kontinuität im ständigen Strome der Wandlungen festzuhalten. Die Annahme dieser Kontinuität wird bis zu einem gewissen Grad bestätigt, teils weil eine Gesetzmäßigkeit im Auftreten der Veränderungen vorhanden ist, und teils, weil die Veränderungen selbst in Wirklichkeit, im großen Zusammenhang betrachtet, durchaus nicht jene scharf getrennten Erscheinungen sind, die die Erkenntnislehre nach Hume in Ursache und Wirkung zerlegte, sondern — wie ich bereits hervorgehoben habe — einen unaufhörlihen Strom mit unmerklichen Übergängen darstellen. Dadurch wird verständlich, was Hume nicht begreifen konnte, daß wir einen zwangsläufigen Zusammenhang, eine Kontinuität finden, die sich der Identität nähert, sie aber niemals erreicht. Es ist indessen unnütz darüber nachzudenken, ob diese Identität in den stabilen Dingen der Natur während eines gewissen Zeitraumes und die Kontinuität im Strome der Veränderungen ausschließlich ein Ausschlag der Beschaffenheit unseres Geistes, des Ichs, seien, das trotz aller Veränderung des Seelenlebens eine Identität mit sich selbst behauptet, oder ob diese Identität und Kontinuität in der Tat auch in der Welt an sich, in der Wirklichkeit 2, zu finden sei. Beides ist möglich, aber unbeweisbar. Deshalb ist hier kein Platz für spekulative Geistreicheleien oder große Systemphilosophien. Der große, äußere, gesetzmäßige Zusammenhang zwischen den mannigfaltigen, von uns wahrgenommenen Veränderungen lassen sich dagegen deutlich in der uns bekannten Wirklichkeit 1 feststellen. In den allerdings begrenzten Ausschnitten dieser Wirchlichkeit, die
334 wir in der Ursache-Wirkung-lage vor uns haben, schaffen wir uns ein gewisses Verständnis, das uns vor Allem praktisch nützlich ist, wenn wir sagen, daß die Ursachen a und b, die stets die Wirkung c hervorrufen, und ohne welche c gar nicht eintreten könnte, die Bedingungen für das Eintreten von c seien. Dieses »Verstehen« beruht, wie in einem früheren Zusammenhang hervorgehoben, darauf, daß wir hier eine Analogie von unserer logischen Schlußfolgerung von Grund auf Folge ziehen. Wir nehmen an, daß das Verhältnis: die Ursachen a und b sind Bedingungen für das Eintreten von c, genau wie das logische Verhältnis: a + b = c aufgefaßt wird. Es ist, als ob wir auch hier: a -)- b = c sagen könnten. Wir nehmen an, daß die Ursachen oder Bedingungen, a und b, die Prämissen seien, während die Wirkung c die Schlußfolgerung darstelle. Die Eigenschaft des Wassers: flüssig sein, a, und das Abfallen des Flußbettes, b, sind zusammen = c, wobei c also das Strömen des Flusses durch das Land bezeichnet. Wenn die Veränderung eines Dinges dadurch geschieht, daß es mit einem anderen Ding in Berührung kommt (hier: Wasser und Flußbett), drücken wir die Schlußfolgerung oft in der Weise aus, daß eine Eigenschaft des einen Dinges, a, (die Bewegung des Wassers) und eine Eigenschaft des anderen Dinges, b (der schräge Charakter des Flußbettes) der Wirkung, c, dem Strömen des Flusses, gleich sei oder sie ergebe. Aber dies ist nur eine Folge unserer Zerlegung des Zusammenhanges in Einzelglieder zwecks praktischer Orientierung und Benutzung. Im Zusammenhang der Wirklichkeit gibt es dagegen einen Strom der Veränderungen; in diesem ist nur eine gewisse Gesetzmäßigkeit, jedoch niemals — wie bereits hervorgehoben — eine Identität vorhanden. Die Anwendung der Form der logischen Schlußfolgerung auf das Verhältnis der Veränderungen, der sogenannten Ursachen, Bedingungen, und Wirkungen ist deshalb lediglich ein Gleichnis, eine Analogie. Die Molekular- und die Atomtheorie bedeutet ja, daß alle Veränderungen auf physischem Gebiete Bewegungen, und was wir Ursachenzusammenhänge nennen, gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen Bewegungen seien. Aber in Wirklichkeit verstehen wir — wie ich in einer anderen Verbindung hervorgehoben habe — nicht, was Bewegung von Körpern eigentlich ist, da wir diese Erscheinung, die Bewegung, nicht auf noch besser bekannte Phänomene zurückführen können. Wenn wir davon ausgehen, daß die Erscheinung, daß aller Stoff sich in Verhältnis zum Stoff bewegt, eine materielle Urerscheinung sei, genau wie die, daß Stoff Ausdehnung habe, darf man allerdings sagen, daß wir Veränderungen durch Bewegung (durch Nahwirkung, Stoß, oder Fern-
335 Wirkung, die sogenannte Anziehung) verstehen, indem wir sie auf gewisse Grundbeziehungen der Körper (Akzeleration und Masse) zurückführen. Diese Grundverhältnisse verstehen wir aber in Wirklichkeit auch nicht, wenn wir nicht das Vorhandensein einer »Kraft« annehmen wollen — aber damit geraten wir in eine unbeweisbare Analogie aus dem psychischen Gebiet. Letzten Endes verstehen wir also auch nicht die Bewegungen im Bereiche der Physik und folglich auch nicht die Veränderungen in der Natur überhaupt. Wir nehmen gewisse gesetzmäßige Zusammenhänge wahr. Wir wissen aber nicht, worauf dieser gesetzmäßige Zusammenhang beruht. In einem gewissen Sinne verstehen wir die Veränderungen auf seelischem Gebiet besser als die Physischen, aber auch nur in einem gewissen Sinne. Wir verstehen sie also insoweit, als wir durch Selbstwahrnehmung erfahren haben, daß wir mittels unseres Willens äußere Gegenstände in Bewegung setzen und dadurch allerlei Handlungen ausführen können. Aber wie das näher vor sich geht, ist uns unbekannt. Auch hier, auf dem psychischen Gebiet, nehmen wir gesetzmäßige Zusammenhänge wahr. Aber wir wissen ebensowenig, was das Seelische eigentlich ist, wie auf dem physischen Gebiet, was das Physische eigentlich ist. Und folglich wissen wir auch nicht im Bereiche des Seelischen, was gesetzmäßiger Zusammenhang eigentlich ist und worauf er beruht. Das Problem Determinismus — Indeterminismus ist deshalb ein Scheinproblem, das sein Dasein einer fehlerhaften, wissenschaftlichen Methode verdankt. Die beiden genannten Richtungen wollen Erscheinungen, die zu den letzten, irreduktiblen Erscheinungen des Universums: dem Psychischen und dem gesetzmäßigen Zusammenhang innerhalb des Physischen, gehören, erklären. Das Problem ist, wie ich im Vorhergehenden nachgewiesen habe, unlösbar — man könnte bis zum Ende der Tage darüber spekulieren, ohne klüger zu werden. Es ist eine absolut unnütze Spekulation, und zwar ebenso sehr, wie darüber zu philosophieren, was das Physische, was Stoff und was Ausdehnung sei. In der historischen Forschung, in der Rechtswissenschaft und anderer Socialwissenschaft, in der Psychologie und in der Psychiatrie genügt es — wie bei den Naturwissenschaften — festzustellen, daß es gewisse gesetzmäßige Zusammenhänge, hier also zwischen menschlichen Gefühlen, Stimmungen, Leidenschaften und Handlungen gibt und daß gewisse Charaktere mit diesen oder jenen Eigenschaften wahrscheinlich geneigt sein werden, sich auf diese oder jene Weise zu benehmen, in diesen oder jenen Fällen Handlungen zu unternehmen oder zu unterlassen. Darauf beruht die Möglichkeit, daß wir bis zu einem gewissen Grade menschliche Handlungen und mensch-
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liches Betragen überhaupt voraussehen können. Eben diese Möglichkeit ist bei jeder praktischen Menschenkenntnis und bei der Behandlung von Menschen, dabei auch für die Erziehung und für die Strafprinzipien der Gesellschaft und andersartige Beeinflussung der Verbrecher von der allergrößten Bedeutung. Wir können in dieser Weise auf psychischem Gebiete wie auf dem physischen bis zu einem gewissen Grade davon ausgehen, daß die Wirkung c eintreten werde, wenn wir die psychischen Eigenschaften oder Veränderungen a und b im voraus haben, daß also mit anderen Worten a und b die Bedingungen von c sind und daß c, nämlich das Resultat, ein geändertes Benehmen, eintreten werde, wenn wir eine Behandlung a einem Charakter b gegenüber einsetzen. Die seelischen Zusammenhänge sind indessen weit komplizierter als die physischen. Deshalb ist es auch im Menschenleben weit schwieriger, den wirklich gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen den Beziehungen, die wir Ursache und Wirkung nennen, nachzuspüren, als in der Natur. Wir müssen uns oft mit statistisch häufigen oder regelmäßigen Verbindungen begnügen. Doch selbst dort, wo wir gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen psychischen Erscheinungen festzustellen glauben, sollten wir es dennoch unterlassen, daraus sichere Schlußfolgerungen zu ziehen. Da wir nicht einmal auf dem physischen Gebiete wissen, worauf die gesetzmäßigen Zusammenhänge eigentlich beruhen, und da unsere Unwissenheit in dieser Beziehung auf dem psychischen Gebiet mindestens ebenso groß ist, muß man es als das wissenschaftlich richtigste betrachten, keine Schlußfolgerungen von der Art, wie es z. B. der Determinismus in den Problemen Schuld oder Nichtschuld in der Ethik und in der Rechtswissenschaft versucht. Am Anfang dieses Abschnittes habe ich hervorgehoben, daß die Schlußfolgerung von häufigen Fällen des Zusammenhanges zwischen zwei Erscheinungen auf das Allgemeine nur berechtigt sei, sofern ein ursächlicher oder ein gesetzmäßiger Zusammenhang nachgewiesen werden könne. Nach der obigen Darstellung wird man jetzt sehen, daß die Frage, inwieweit ein solcher Zusammenhang vorliegt, in dem Sinne beantwortet werden muß, daß es für einen solchen Zusammenhang erforderlich sei, daß dasjenige eingetreten ist, was wir Veränderung nennen, d. h. eine Reihe zeitlich sukzessiver, verschiedener Zustände desselben Gegenstandes, a, b, c, daß wir diese Veränderung auf eine andere Veränderung x oder y zurückführen können, so daß x und y die Bedingungen für das Eintreten von a, b, c, sind,
337 d. h. daß a, b und c eintreten werden, sobald x und y wieder in Erscheinung treten. Hierfür ist, wie früher nachgewiesen, nur ein einziger Fall einer Veränderung und das Herausfinden einer solchen Veränderung nötig, die die Bedingung für das Eintreten der letzten Veränderung darstellt (vgl. oben S. 93 ff.). Etwas ganz Anderes ist es, daß das häufige, gemeinsame Auftreten zweier Erscheinungen ein Zeichen eines ursächlichen oder eines gesetzmäßigen Zusammenhanges sein kann und auf die Fährte einer solchen zu führen vermag. Aber man darf nicht im Voraus davon ausgehen. Ferner hat das häufige gemeinsame Auftreten zweier Fänomene eine gewisse Bedeutung für die Forschung, nachdem ein Kausalzusammenhang zwischen ihnen festgestellt worden ist. In einem Kausalzusammenhang wirken oft nicht nur eine einzelne Ursache, sondern mehrere, ja ein ganzer Komplex von Faktoren oder Ursachen (Veränderungsvorgängen) mit. Eine Wirkung a kann das Resultat dreier Faktoren oder Ursachen, x, y und z, sein; aber es geschieht oft, daß die Wissenschaft anfangs nur x, nicht aber y und z entdeckt. Unter gewissen Voraussetzungen begegnen wir z. B. dem Grundstoff Sauerstoff und kommen zu der Auffassung, daß wir nach diesen Voraussetzungen oder Vorbegebenheiten stets Sauerstoff begegnen werden. Aber eines Tages begegnen wir plötzlich der allotropischen Modifikation des Sauerstoffes, die wir Ozon nennen. Es ist jedoch bedeutungsvoll zu bemerken, daß wir gleich danach die Frage stellen: was ist die Ursache dazu? Wir finden sie dann darin, daß das gewöhnliche Sauerstoffmolekül nur zwei Atome enthält, während ein Ozonmolekül drei Atome umfaßt. Deshalb nennen wir in der Chemie diese Stoffe O2 und O3. Diese Annahme des Kausalzusammenhanges wird bekräftigt, je häufiger wir hiernach diese beiden Formen des Sauerstoffes und stets unter Umständen finden, die unsere Erklärung bestätigen. W e n n Arbeitslosigkeit eintritt, kan eine liberalistische Gesellschaftsordnung eine der Ursachen sein; sie hat aber viele andere Ursachen, b und c. Und man kann deshalb nicht im Voraus ableugnen, daß die Arbeitslosigkeit auch bei einer sozialistischen Gesellschaftsordnung eintreten könnte. Um ein anderes Beispiel zu nennen, sind die technischen Fortschritte innerhalb der Industrie und der Landwirtschaft, die im England des 18. Jahrhunderts stattfanden, und der Großbetriebe, die diese technischen Fortschritte ermöglichten, eine Ursache a der großkapitalistischen Entwicklung b, die die englische Gesellschaft im 19. Jahrhundert erlebte. Daraus darf man aber nicht die Schlußfolgerung 22
Erkenntnis und Wertung
338 ziehen, daß solche technischen Fortschritte und die Großbetriebe stets eine großkapitalistische Gesellschaft ergeben werden, daß a mit anderen W o r t e n immer b geben müsse. Es läßt sich nämlich denken, daß sich in anderen Gesellschaften neben der Ursache a eine andere Ursache x zeigen werde, die in eine ganz andere Richtung führt, weshalb die W i r k u n g b also ausbleibt und statt ihrer eine W i r k u n g y eintritt. Der Kausalzusammenhang zeigt sich also viel komplizierter, als ursprünglich angenommen. W i r fragen überall, wo etwas Anderes als das Erwartete eintritt, nach den neuen Ursachen. W e n n wir in der Chemie oft beobachtet haben, daß die Stoffe a und b bei ihrer Vermischung zum Stoffe c werden, eines schönen Tages aber entdecken, daß dieselben a und b bei ihrer Vermischung zum Stoffe d, also einem ganz anderen Stoffe als c, werden, fragen wir wiederum, ob wir in jenen anderen Umständen, die die Mischung begleiteten (z. B. eine andere Temperatur, ein anderer Druck u. ä.) die Ursache der verschiedenen W i r k u n g d statt c finden können. Die große Zahl der Fälle hat auf dieser Stufe, auf der im Voraus ein gewisser Kausalzusammenhang, der vielleicht nicht erschöpfend ist, festgestellt wurde, eine gewisse Bedeutung, denn je größer die Zahl der Fälle, in denen die Ursache a die W i r k u n g b gegeben hat, umso weniger wahrscheinlich wird es, daß andere Faktoren, Ursachen, mit im Spiele sind. In der Chemie und der Pflanzenphysiologie kann man, wenn man untersucht, welche W i r k u n g allein gewisse bestimmte Faktoren, Ursachen, z. B. a und b haben, beim Versuch alle anderen, f ü r die eben vorliegende Untersuchung belanglosen F a k toren d, e und f ausschalten und in dieser Weise dafür Sorge tragen, daß der Fall mit den a und b-Faktoren »rein« vorliegt. Dasselbe k a n n man aber tatsächlich in gewissem Umfange auch in der Soziologie tun, wenn die Fälle auch hier komplizierter sind, als auf dem chemischen oder dem biologischen Gebiet. Induktive Schlüsse, die ausschließlich diejenigen Ursachen berücksichtigen, die bisher vorgelegen oder besonders augenfällig gewesen sind und die das Einwirken anderer Faktoren oder Ursachen in verwandten Fällen übersehen, k a n man unberechtigte Generalisierungen nennen. Je eingehender man erwägt, wie viele und welcherlei Ursachen in einer Erscheinung mitwirken können und je häufiger man die Erscheinung beobachtet, umso wahrscheinlicher wird es, daß m a n alle Ursachen erfaßt habe. Es ist aber k a u m möglich, nähere Methoden in Einzelheiten anzugeben. Tatsächlich hat die Begabung des einzelnen
339 Forschers in dieser Beziehung eine weit größere Bedeutung, als die ausgeklügeltesten Methoden zur Feststellung von Ursachen und W i r kungen. Der Kausalzusammenhang ist auf dem organischen Gebiete weit komplizierter, als auf dem anorganischen und wiederum innerhalb des Menschenlebens und der menschlichen Gesellschaft noch vielfältiger zusammengesetzt, als in der W e l t der Pflanzen und Tiere. Nach dem oben angeführten trifft es durchaus zu, wenn Hobbes den Kausalbegriff als die Summe sämtlicher Bedingungen definiert, die notwendig sind, um eine bestimmte W i r k u n g nach sich zu ziehen. Die Summe dieser Bedingungen ist innerhalb der verschiedenen Fachwissenschaften von sehr verschiedener Größe und A r t ; in der Chemie z. B. ist sie viel übersichtlicher und einfacher, als in der Soziologie. Die Ursachen einer bestimmten Begebenheit oder einer dauernden Erscheinung im Gesellschaftsleben sind oft von unberechenbarer Menge und verlieren sich häuftig in eine unklare Vergangenheit. Deshalb ist die Soziologie aus praktischen Gründen in der Regel genötigt, mit einem kurzen, anschaulichen Ausschnitt aus dem mächtigen und schwierig nachspürbaren Komplex der vielfältigen Ursachen zu rechnen.
DIE N E U E S T E E N T W I C K L U N G INNERHALB DER ATOMTHEORIE Die Existenz der Atome und der meisten Moleküle kann durch die menschliche W a h r n e h m u n g nicht bewiesen werden, auch nicht, wenn man die feinsten Mikroskope zur Hilfe nimmt. Aber nach den zahlreichen Entdeckungen und Experimenten innerhalb der A t o m p h y s i k der Gegenwart m u ß die Existenz dieser Atome und der Moleküle indessen als bewiesen angesehen werden. Die neueste Physik blieb aber — wie oben erwähnt — nicht dabei stehen. Sie hat den Versuch gemacht, den W e g zu einer A u f f a s s u n g Wenn man innerhalb der Fachwissenschaft bisweilen von Allgemeinheit, und in anderen Fällen von Allgemeingültigkeit, spricht, ist zu bemerken, dass diese beiden Begriffe einander nicht decken. Allgemein ist eine Aussage, wenn sie sich auf eine Gruppe, eine Anzahl von Erscheinungen bezieht, wie z. B. die, daß Farne eingeschlechtliche Pflanzen sind. Diese Aussage ist allgemein und gleichzeitig allgemeingültig, da sie von Allen objektiv anerkannt ist. Eine Aussage kann sich jedoch auch nur auf ein einzelnes Phänomen beziehen und doch allgemeingültig sein, z. B. daß Mars einen rötlichen Schein habe, daß Saturn von Ringen umgeben sei. 22*
340 von dem Innern des Atoms zu finden. Damit haben wir aber den Weg der Hypothesen betreten. Wenn man zu erklären versucht, was im Innern der Atome vorsichgehe, erkennt man und arbeitet man — wie bereits früher erwähnt — mit noch kleineren Partikeln als Atomen und Molekülen, nämlich mit Protonen, Elektronen, Neutronen und mehreren anderen. Sobald man aber versucht, das gesamte Benehmen dieser Partikeln im gegenseitigen Verhältnis, die atomaren Prozesse, dabei auch das Problem der »Bewegungen« der Elektronen im Verhältnis zum Atomkern, dem Proton, näher zu erklären und zu beschreiben, begegnet man großen, erkenntnis-theoretischen Schwierigkeiten. Wenn nun in der letzten Zeit — und zwar zwischen hervorragenden Naturwissenschaftlern wie Einstein u. A. auf der einen Seite und Bohr u. A. auf der anderen — stark divergierende Ansichten darüber entstanden sind, wie diese atomaren Prozesse näher zu verstehen seien — ob sie nämlich von den Grundbegriffen der klassischen Physik und aller bisherigen, menschlichen Erkenntnis aus: Raum, Zeit und Kausalzusammenhang, erklärt werden können oder nicht — dann wird die Erkenntnistheorie, die Jahrhunderte hindurch eben diese Grundbegriffe in der eindringlichsten Weise analysiert hat, zu dem Versuch befugt sein, ihren Beitrag zur Beleuchtung der erkenntnismäßigen Schwierigkeiten und der Divergenzen zwischen den Physikern zu leisten. Von dieser Unstimmigkeit und von der Diskussion zwischen Einstein und Bohr hat Bohr selbst eine lebhafte und zum Nachdenken anregende Darstellung in seiner letzten Schrift: »Atomfysik og Erkendelse«, Kopenhagen 1958 (S. 4 2 - 8 2 ) gegeben. Dieser Meinungsunterschied nahm seinen Anfang, als Planck im Jahre 1901 auf dem Gebiete der Wärmestrahlung das universelle Wärmequantum entdeckte. Später — und zwar im Jahre 1905 — kam Einstein dann zu der Schlußfolgerung, daß jeder Strahlungsprozess (also auch auf dem Gebiete der Lichtstrahlen) in einer Emission oder Absorption von individuellen Lichtquanten oder »Photonen« bestehe. Hier entstand indessen eine Schwierigkeit der Erkenntnis. Nach gewissen Versuchstatsachen zeigte es sich, daß das Licht aus elektromagnetischen Wellen bestehe. Andere Versuchsfakta enthüllten aber, daß das Licht auch Partikeln (Korpuskeln) besitze, also aus den obengenannten Photonen bestehe. Es schien unmöglich, eine kausalnotwendige Beschreibung der individuellen Strahlungsprozesse zu geben, und also als ob man sich mit der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten für das Entstehen dieser Prozesse begnügen müsse.
341 Die Untersuchungen Rutherfords führten dann — im Jahre 1911 — zur Annahme des Atomkerns im Aufbau der Atome — jenes Kerns, um den die Elektronen kreisen. Danach stellte Niels Bohr 1913 und 1921 durch Anwendung der Quantentheorie in neuer, eigentümlicher Weise fest, daß man künftig sowohl die Stabilität im Zustand der Atome als auch die empirischen Gesetze für die Spektren der Grundstoffe erklären könnte, wenn man annehmen würde, daß jede Reaktion des Atoms, die eine Änderung seiner Energie mit sich führte, einen vollkommenen Übergang zwischen den beiden sogenannten stationären Quantenzuständen bedeute, und daß die Spektren durch einen stufenweisen Prozess entständen, in dem jeder Übergang von der Emission eines Lichtquants mit einer Energie, die dem Photon Einsteins entspräche, begleitet würde (Bohr in der obenerwähnten Schrift S. 47). Sowohl diö »Bewegung« der Elektronen in den stationären Bahnen als auch der Übergang derselben von einer Bahn in eine andere — ein Übergang, der nicht notwendigerweise die Folge einer äußeren Beeinflussung zu sein brauchte — und die Losreißung der a und ß- Partikeln in den radio-aktiven Stoffen scheinen auf dem »Zufall« zu beruhen und können anscheinend auch nicht durch die Grundbegriffe des klassischen Physik: Raum, Zeit und Kausalität erklärt werden. Was die Elektronen betrifft, begegnen wir demselben Dualismus mit Bezug auf die Partikeleigenschaften und die Welleneigenschaft, wie oben bei den Lichtstrahlen erwähnt. Dieser Dualismus steht in einer gewissen Beziehung zur Schwierigkeit, die mit der Beobachtung verbunden ist. Die Messung einer Position des Elektrons mittels des einen oder des anderen Meßgerätes wird mit der Auswechselung von Bewegungsmengen zwischen dem Elektron und dem Meßapparat verbunden sein*). Es liegt eine unkontrollier-
* ) Um beobachtet zu werden muß ein Elektron beleuchtet werden. Aber die kleinste Menge Licht, die man verwenden kann, ist ein so großes Quantum, daß das Elektron aus seinem Kurs geschlagen w i r d . Über den Zustand des Elektrons vor unserer Beobachtung können w i r also nicht aufgeklärt werden. Denn die Elektronen ändern sich, sobald w i r etwas über sie zu erfahren wünschen. Es ist mit anderen Worten unmöglich, den Verlauf der Atomphänomene mit voller Sicherheit im Voraus zu berechnen. Wenn man den Platz der Elektronen bestimmen will, muß man eine Art von Licht verwenden, bei der Bestimmung ihrer Schnelligkeit aber eine andere Art. Die erste Art der Beleuchtung ändert nämlich die Schnelligkeit wesentlich, die andere Art macht die Ortsbestimmung unsicher.
342 bare Wechselwirkung zwischen den Objekten und den Meßgeräten vor, die zu einer Aufgabe der Kausalbeschreibung zu führen scheint. Treffend hebt Bohr hervor (Bohr, II, S. 35), daß es unmöglich sei, »eine scharfe Unterscheidung zwischen dem Benehmen der atomaren Objekte und deren Wechselwirkung mit den Meßgeräten durchzuführen, die zur Beschreibung derjenigen Bedingungen dienen, unter denen die Erscheinungen auftreten«. Dieser entscheidende Punkt sollte ein Hauptthema der Diskussion zwischen Einstein und Bohr und mehreren Anderen werden. Bei der tiefschürfenden Unterredung, die im Jahre 1927 stattfand, drückte Einstein große Bedenken dabei aus, daß die raum-zeitliche Kausalbeschreibung innerhalb der Quantenmechanik in so weitem Maße aufgegeben werden solle. Es gelang nicht, zwischen ihm und Bohr eine Verständigung herbeizuführen, inwieweit das Benehmen des Elektrons und des Photons in letzter Instanz mittels des gewohnten mechanischen Weltbildes von Raum, Zeit und Kausalität beschrieben werden könne oder ob man diese Möglichkeit aufgeben müsse. Die Lokalisierung einer Partikel innerhalb von Raum und Zeit wurde (bei dieser und bei späteren Zusammenkünften) durch verschiedene Anordnungen untersucht, die in der erwähnten Schrift von Bohr S. 55—69 (die Figuren 1—8) wiedergegeben werden. Da die Beobachter bei diesen Versuchen feststellten, daß die Partikel durch ein Loch in einem Schirm oder durch mehrere Löcher in mehreren Schirmen ging und zum Schluß einen Fleck auf dem letzten, photographischen Schirm oder der letzten photographischen Platte bildete, ist die Partikel also insoweit — d. h. im Verhältnis zum Raum zwischen den Schirmen — lokalisiert worden. In einem Schirm mit zwei Löchern oder Spalten zeigte es sich indessen unmöglich festzustellen, ob die Partikel durch den einen oder den anderen Spalt gegangen wäre (Bohr, I . e . S. 59—61). Einstein, der außer seiner hervorragenden Forscherfähigkeiten auch einen liebenswerten Humor beim Diskutieren besaß, stellte dieser und anderen ähnlichen Erscheinungen gegenüber die Frage, ob Bohr und die übrigen Teilnehmer vielleicht glaubten, daß die göttlichen Mächte ihre Zuflucht zum Würfelspiel nähmen: »ob der liebe Herrgott würfele...« Einstein vermutete, daß eine Kontrolle mit der Impulsübertragung eine genauere Analyse des Phänomens erlauben und vor Allem entscheiden würde, welchen der beiden Spalte das Elektron passiert hätte, bevor es die Platte erreichte. Bei diesen Begegnungen gelang es, wie gesagt, nicht eine Verstän-
343 digung zwischen Einstein und Bohr mit bezug auf diese fundamentale, erkenntnistheoretische Frage zu erzielen, da Einstein die ganze Zeit die Ansicht festhielt, daß neue Erfahrungen, Entdeckungen und Gedanken zum Schluß doch enthüllen würden, daß auch die atomaren Phänomene von der raum-zeitlichen Kausalbeschreibung der klassischen Physik aus erklärt werden könnten. Einstein und Bohr konnten folglich zu keiner gegenseitigen Verständigung kommen — und zwar wegen »des Unterschiedes in unserer Einstellung und unserer Art uns auszudrücken« (Bohr, S. 73). Mit Anderen zusammen gab Einstein eine besondere Schrift »Kann die quantenmechanische Beschreibung der physischen Wirklichkeit als vollständig betrachtet werden?« heraus. In dieser Schrift hielt er daran fest, daß die Quantenmechanik keine vollständige Beschreibung der physischen Wirklichkeit sei. Er fühlte sich davon überzeugt, daß es möglich sein würde, eine adäquatere Erklärung der Erscheinungen zu geben. Mit dieser Auffassung war Bohr seinerseits nicht einverstanden (vgl. obenerw.-Schrift S. 74 ff.). Nach der Darstellung der oben erörterten Diskussion spricht Bohr jedoch aus, daß »sie uns in dem nie abgeschlossenen Streben nach Harmonie zwischen Inhalt und Form einen entscheidenden Schritt weitergebracht habe« — daß aber »jede Form, wie nützlich sie bisher auch gewesen sei, sich dennoch als zu eng zeigen könne, um neue Erfahrungen zu umschließen . . .« Dieser fundamentalen Uneinigkeit und dieser Diskussion zwischen den Physikern gegenüber kann man, soweit ich zu sehen vermag, von der Erkenntnistheorie aus, folgendes anführen: Zunächst muß die Eigentümlichkeit hervorgehoben werden, daß dieses Ergebnis selbst — nämlich daß die Begriffe der Kausalität, des Raumes und der Zeit bei der Beschreibung der atomaren Prozesse versagen — eben durch eine Reihe von Beobachtungen und Gedankenschlüssen erreicht worden ist, die ohne Ausnahme Kausalerklärungen im raumzeitlichen Zusammenhang darstellen. Jede naturwissenschaftliche Beobachtung beruht auf Sinnesempfindungen und diese sind unlösbar an die Raum-Zeit-anschauung geknüpft. Die naturwissenschaftlichen Experimente operieren alle mit dem Kausalitätsgesetz. Gedankenreihen, die auf die Begriffe: Ursache, Raum und Zeit bauen, führen also in dieser Weise zu einer Verneinung der Gültigkeit dieser Begriffe bei den letzten Naturprozessen der atomaren Erscheinungen. Aber danach scheint es doch schwierig einzusehen, wie man diese Prozesse ohne die genannten Begriffe überhaupt beschreiben oder
344 sogar verstehen sollte. Denn eine Naturerscheinung zu »verstehen« bedeutet an sich ja nur: sie in einen raum-zeitlichen Kausalzusammenhang einzuordnen. Und es sind nicht nur die gewöhnlichen Wörter unserer Sprache, die von diesen angewohnten Anschauungs- und Denkformen geprägt sind, viel schlimmer ist es, daß alle unsere Vorstellungen — mittels denen wir die Welt auffassen — bis in ihren innersten Kern von diesen Formen: Raum, Zeit und Kausalität, bestimmt sind. So weit ich zu sehen vermag, zeigt es sich denn auch, daß die neueste Aufassung der atomaren Prozesse, sobald sie uns bloß eine Andeutung von dem geben will, was im Inneren des Atomes vor sich geht, selbst bei jedem einzelnen Schritt genötigt ist, ihre Zuflucht zu Vorstellungen zu nehmen, die letzten Endes Alle dem Raum-, Zeitund Kausal-zusammenhange angehören. Es wird beispielsweise gesagt, daß es Heisenberg gelungen sei, sich vollkommen von dem Bewegungsbegriff der klassischen Physik zu befreien, der ja ausschließlich auf unsere Zeit-, Raum- und Ursachen-anschauung baut. Dieser Forscher ersetzt dabei überall die mechanischen Größen mit Symbolen, und dabei verwendet er Elemente, von denen jedes Einzelne reine Schwingungen symbolisiert und den möglichen Übergängen zwischen stationären Zuständen beigeordnet ist (vgl. hiermit die Schrift: »Atomtheori og Naturbeskrivelse«, 1929, von Niels Bohr, S. 51—52). — Dazu möchte ich bemerken, daß der Begriff »Schwingung« ja, wie abstrakt er auch aufgefaßt werden mag, durch und durch in einer Bewegungsvorstellung wurzelt, das heißt: in raum-zeitlichen Vorstellungselementen. Aber selbst derartige, abstrakte Begriffe wie »Übergang« und »stationär« gehören voll und ganz den Vorstellungen von der Bewegung und dem Gegensatz derselben an. Jeder Übergang innerhalb der physischen Welt stellt ein Sich-im-/?aum-Bewegen während einer bestimmten Zeit dar, und ein stationärer Zustand bedeutet in der physischen Welt einen räumlich unveränderten Zustand innerhalb der Zeit. Wenn Heisenberg ferner einfache Rechenverfahren für die genannten Symbole aufstellen kann, die eine quantentheoretische Umschreibung der Grundgleichungen der klassischen Mechanik gestatten, muß dazu bemerkt werden, daß schon der Begriff »Quant«, der auch im Wirkungsquant Plancks als Element auftritt, ein räumlicher Begriff sei. Er ist von der uns umgebenden, räumlichen Sinneswelt geholt und von dort durch Analogie auf das Gebiet der Energie und Kraft übertragen und als Element in den Begriff des Wirkungsquants aufgenommen worden. Jedes Rechnen baut auf den Begriff der Zahl, selbst wenn es durch Symbole durchgeführt wird, aber auch dieser Begriff — mag er nun
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aus einem oder mehreren selbständigen Elementen bestehen — ist letzten Endes unserer räumlichen Welt, nämlich unserer Sinneswahrnehmung einzelner oder mehrerer Gegenstände im Räume, entnommen (in der ältesten Zeit der Menschheit: von Fingern, daraus die Zahl zehn, Steinen, Perlen u. Ä., später Himmelskörpern u. s. v.). Und was f ü r Begriffe wie »Schwingung«, »Übergang«, »stationären Zustand«, »Quant« und »Zahl« Gültigkeit hat, gilt auch f ü r eine ganze Reihe anderer, auf diesen Gebieten gebrauchten Begriffe, wie z. B. »Welle«, »Partikel«, »Stoß« u. ä. Sie enthalten ohne Ausnahme raum-zeitliche Vorstellungselemente. Es scheint deshalb dem Menschen unmöglich, sich selbst die bescheidenste Vorstellung oder ein Verständnis von den atomaren Prozessen, sowie von anderen physischen Vorgängen zu schaffen, ohne Verwendung der raum-zeitlichen Vorstellungselemente in allen Verhältnissen. In dieser Verbindung sei daran erinnert, daß die Hilfsmittel, mit denen die Naturwissenschaft die atomaren Prozesse und die Kleinelemente der Atomwelt erforscht hat, Schirme, Uhren, Spektren, Nebelkammerphotographien u. Ä. sind. In diesen enthüllen sich die Phänomene — seien es nun Alphapartikeln, Protonen, Elektronen u. Ä. — überall in Linien, Bahnen oder Lichtschimmer. Aber alle diese sinnlichen Wahrnehmungen sind ohne Ausnahme raum-zeitliche Vorstellungselemente, Bilder in der Anschauungsform des Raumes und der Zeit. Selbst außerordentlich schnelle Lichtfunken der genannten Partikeln auf dem Schirm sind ja nur Augenblicksbilder innerhalb unsrer Zeit-Raum-Ordnung der Erscheinungen. Dies Alles hat seine natürliche Begründung in dem Umstand, daß unser Auge und die anderen Sinne nur imstande sind, räumliche oder ausgedehnte Erscheinungen aufzufassen, die sich zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Stelle im Raum befinden. Die hier erörterte Auffassung habe ich in meinem Buch: »Erkendelsen og Naturvidenskabens Grundbegreber«, Kopenhagen 1941, SS. 274-77, dargestellt. In seiner letzten Schrift erklärt Niels Bohr (S. 53) daß es »von größter Bedeutung sei, sich klarzumachen, daß die Erläuterung aller Erfahrungen durch die klassischen Begriffe ausgedrückt werden müsse, ohne Rücksicht darauf, wie weit die Erscheinungen auch außerhalb der Reichweite der Beschreibung der klassischen Physik liegen mögen ...« (von Bohr hervorgehoben). Schließlich soll in diesem Zusammenhang noch bemerkt werden, daß selbst wenn unsere Auffassung im Raum-, Zeit- und Kausalzusammenhang diesen neuen, hier erwähnten Erscheinungen gegenüber
346 versagen sollte, bleibt von unseren Erkenntnisfähigkeiten unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit und eine Feststellung von Gleichheiten und Verschiedenheiten im statistisch häufigen Zusammenhang dennoch übrig. Aber unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit muß in der Realwissenschaft etwas Bestimmtes haben, womit sie arbeiten kann; sie muß eine Feststellung von Gleichheit und Verschiedenheit zwischen einer bestimmten Erscheinung und einem anderen, bestimmten Phänomen sein — innerhalb der Geisteswissenschaft zwischen psychischen Phänomenen (Vorstellungen, Gefühlen o. Ä.) in zeitmäßiger Sukzession, und in der Naturwissenschaft zwischen bestimmten, in Raum und Zeit auftretenden Erscheinungen (Stoff, Licht). Unsere Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit zwischen realen Phänomenen verleiht uns übrigens an sich keine größere oder tiefere Einsicht in die Welt der Wirklichkeit, als unsere Auffassung von Raum und Zeit und von dem gesetzmäßigen Zusammenhang, den wir Kausalzusammenhang zu nennen pflegen, oder irgend welche andere zeitmäßige Sukzession. Meiner Ansicht nach ist es indessen unerläßlich, eine nähere, erkenntnistheoretische Untersuchung vorzunehmen, wie die Grundvorstellungen innerhalb der modernen Physik und Chemie — von Molekülen, Atomen, Elektronen, Neutronen, Protonen u. ä. — während des Entwickelungganges dieser Physik von ihrem Anfang am Schluß des 18. Jahrhunderts an bis heute — entstanden sind. Im Folgenden werde ich diesen Versuch unternehmen. Das neue Weltbild, das im 16. und 17. Jahrhundert das ältere — nämlich das ptolemäische — dank des Einsatzes von Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton ablöste, betraf in erster Reihe das äußere Universum, d. h. jenes Universum, das wir vor Augen haben. In der folgenden Zeit, im 18. Jahrhundert — genauer von 1690 bis 1781, von Lockes Hauptwerk bis zu dem Kants — beginnen die vier bedeutenden Erkenntnisphilosophen zu wirken. Aber eben vom Schluß des 18. Jahrhunderts an fängt jene Reihe von naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen an, die im Laufe des 18. und 20. Jahrhunderts ein Bild vom Innern des Universums als einer Welt der Moleküle und Atome und der kleinsten Elemente, der Protonen, Elektronen u. ä. aufbauten. An und für sich hatte die Philosophie des Altertums, von Allem die Atomtheorie des Demokritos, sich bereits mit dem Innern dieses Universums beschäftigt. Und im 16. und 17. Jahrhundert mit ihrer
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neuen Naturwissenschaft und Philosophie war man mit dem Gedanken durchaus vertraut, daß die Welt aus solchen unendlich kleinen Partikeln bestehe. Galilei, Descartes und Hobbes*) waren sich dessen durchaus bewußt und erklären wahrnehmbare Erscheinungen wie die Sinnesqualitäten (Farbe, Druck etc.) durch Bewegungen in diesen Kleinkörpern. Hobbes betrachtete ja überhaupt alle Änderungen, alle Erscheinungen als Bewegung, teils von Körpern, die von Außen wahrnehmbar sind, teils von den innersten Kleinteilen der Welt. Gewissermaßen könnte man sogar sagen, er hätte der kinetischen Wärmetheorie vorgegriffen. Dennoch muß man einräumen, daß diese innerste Welt des Universums erst durch die Naturforschung des 19. und 20. Jahrhunderts eine ganz andere Realitätsbedeutung erhalten habe, erst durch sie wurde diese Welt im weit höheren Maße, als bisher, eine lebendige Wirklichkeit für uns und zwar in einem Umfange, wie nie zuvor. Und wir verdanken dies dem Umstände, daß eben die Naturwissenschaft der letzten hundertfünfzig Jahre dank ihrer mächtigen experimentellen Erforschung und ihrer technischen Ausnutzung solcher Naturerscheinungen wie Wärme, Elektrizität, Elektromagnetismus, Radioaktivität, ein Licht der Erfahrung über das Innere des Universums geworfen habe, wie es in keiner früheren Epoche der Geschichte geschehen ist. Das älteste, äußere Weltbild zeigte uns nicht nur die Gegenstände, denen wir hier auf der Erde in den von uns gekannten Größen begegnen, sondern auch die gewaltigen Welten und die märchenhaft großen Sterne und Sternsysteme, die der anscheinend unendliche Weltraum uns offenbart. Das »innere« Weltbild des 19. und 20. Jahrhunderts zeigt uns das Entgegengesetzte, nämlich eine eben so abenteuerliche Unterwelt — die Welt der kleinsten Größen, der Bausteine der inneren Welt, der Moleküle, Atome und noch kleinerer Elemente. Dieses Weltbild der modernen Atomphysik aus Molekülen, Atomen, Protonen, Elektronen etc., ist indessen nicht durch irgend welche unmittelbare Beobachtung der uns umgebenden Welt, sondern erst dann entstanden, als es uns durch unsere eigene Behandlung der
*) Über Hobbes' mechanische Weltauffassung, wonach Alles Bewegung großer oder kleiner Körper sei, vgl. Frithiof Brandt: Hobbes' mechanical conception of nature, 1928, und: Psykologi, II, Kopenhagen, 1940. 17 ff., 100 ff., 293 ff..
348 Natur gelungen war, einige besondere Kräfte — Dampf, Elektrizität, gewisse Lichtstrahlen, Radioaktivität — aus ihr hervorzurufen und uns nutzbar zu machen. Durch eine Reihe von Beobachtungen, Experimenten und Schlußfolgerungen von diesen besonderen Kräften aus meinte man dann — wie oben erörtert — in das Innere des Universums eindringen zu können und imstande zu sein, sich ein Bild davon zu machen, was in den letzten und kleinsten Elementen des gesamten, Universums vor sich gehe. Rein erkenntnistheoretisch scheint es mir zu einer gewissen Nachdenklichkeit anzuregen, daß die Naturwissenschaft hier gemeint hat, von einem kleinen, begrenzten Ausschnitt aus, der überdies infolge der besonderen Behandlung der Natur durch den Menschen selbst erweitert worden ist, eine Schlußfolgerung auf den inneren Aufbau des gesamten, gewaltigen Universums ziehen zu dürfen. Die elektrischen und magnetischen Kräfte sind in der Natur selbst nicht besonders groß, bevor der Mensch gewisse Gegenstände durch Reibung von ihnen oder durch eine andere, besondere Berührung zwischen ihnen zu behandeln begann — man spürt sie direkt nur innerhalb eines sehr begrenzten Bereiches der Natur: in gewissen Natursteinen, die in wenigen und kleinen Gebieten auf der Oberfläche der Erde zu finden sind, in gewissen Entladungen unter besonderen Umständen, wie im Blitz u. ä. Deshalb fiel es den Menschen während des größten Teiles des 18. Jahrhundert oder in früheren Zeiten gar nicht ein, daß das gesamte Universum aus Elementen eben dieser Kräfte aufgebaut sein könnte. Aber die in den Augen der Menschen gewaltigen Erfindungen innerhalb dieses begrenzten, elektromagnetischen Gebietes am Schluß des 18. und im Laufe des 19. und 20. J a h r h u n d e r t s haben den menschlichen Gedanken wie überwältigt und bezaubert, so daß er zum Schluß nichts Anderes im Universum sehen kann, als elektromagnetische Kräfte. Alle Lichterscheinungen werden als elektromagnetische Wellen, aller Stoff im Universum als bestände er n u r aus positiven oder negativen, elektrischen Kleinelementen — Protonen, Elektronen, Positronen — betrachtet. Und man nimmt sogar an, daß jene gewaltigen Kräfte, die zwischen diesen kleinen Partikeln wirksam sind, ebenfalls elektrischer Art sein müssen. Es liegt hier eine gewaltige Generalisierung vor, indem m a n von einem kleinen und begrenzten Ausschnitt des Daseins Schlußfolgerungen auf die Ganzheit desselben, das Weltall, zieht. Dennoch ist es durchaus möglich, daß diese Generalisierung ganz richtig sein könn-
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te. Es bleibt der Naturwissenschaft der Zukunft vorbehalten, diese Frage endgültig zu entscheiden. Ich möchte an dieser Stelle nur darauf aufmerksam machen, daß es sich hier um eine Schlußfolgerung innerhalb der Naturwissenschaft handelt, die erkenntnistheoretisch das allerernsteste Nachdenken erfordert. Im übrigen darf man es kaum als sicher betrachten, daß die Atomtheorie, so wie sie gegen Schluß des neunzehnten und im zwanzigsten Jahrhundert formuliert worden ist, uns ein endgültiges und letztes Weltbild geben sollte. Wenn die Menschheit erlebt hat, wie das anscheinend am festesten begründete Weltbild, das ptolemäische, das durch Jahrhunderte, j a durch anderthalb Jahrtausend als die absolute Wahrheit betrachtet wurde, umgestürzt und durch ein völlig anderes ersetzt wurde, kann man wohl kaum vermuten, daß wir mit der neuesten Atomtheorie den Abschluß unserer Naturerkenntnis erreicht haben sollten. Der erkenntnistheoretische Inhalt dieser Entwickelung kann durch das Folgende beleuchtet werden: bei der Aufstellung des modernen Bildes vom Aufbau des Atoms erkannte man durch das Experiment, daß das Atom von positiv geladenen Kernen aufgebaut und von negativ geladenen Elektronen, die den Atomkern ähnlich wie die Planeten die Sonne umkreisen, umgeben sei. Nach den elektromagnetischen Gesetzen, die vor Allem von Maxwell formuliert waren, wäre ein solcher Aufbau indessen unstabil, da das Atom Energie (Strahlung) aussenden müßte und die Elektronen dadurch dem Kern immer näher kommen würden. Die emittierte Strahlung müßte ihrerseits ein kontinuierliches Spektrum bilden. Nun wußte man indessen aus anderen Experimenten, daß dies nicht der Fall sei, da die ausgesandten Strahlen Linienspektren bildeten, d. h. es wurden nur Strahlen mit bestimmten Wellenbreiten emittiert. Dieser Widerspruch führte zu einer Verwerfung der Gültigkeit der elektromagnetischen Gesetze, insoweit diese Erscheinungen in Frage kämen, und von dieser Beobachtung aus kam Niels Bohr zur Annahme der stationären Bahnen (vgl. oben). Indessen hätte man vermeintlich auch einen anderen Weg gehen können. Er soll hier lediglich als Gedankenexperiment erörtert werden, ohne daß ich damit irgend welche Kritik der heute gültigen Atomtheorie aussprechen möchte, da diese außerhalb meines Fachgebietes liegt*).
*) Wenn wir die Sache erkenntnistheoretisch betrachten, könnte man die Frage stellen: was bedeutet es, daß ein Elektron in einem stationären
350 Ich denke mir hierbei, daß man statt der Abweisung der Gültigkeit der elektromagnetischen Gesetze die Vorstellung von der elektrischen Ladung der Kleinpartikeln als einer mit den Partikeln unlösbar verknüpften Qualität verwerfen würde. Danach würden die Partikeln lediglich als elektrisch geladen auftreten, wenn sie mit der Umwelt Elektrizität auswechseln, während sie im Ruhestand (in den stationären Zuständen) keine elektrischen Qualitäten aufweisen. Von diesem Gedankengange aus wäre die Annahme, daß der Kern und die Elektronen elektrisch seien, nicht mehr begründet als die, daß die Sonne und ihre Planeten es sind. Die Sonne ist nicht positiv elektrisch und die Planeten nicht negativ elektrisch geladen und ihre Bewegungen werden deshalb nicht von elektromagnetischen Gesetzen beherrscht. Man könnte danach im großen Ganzen annehmen, daß die Elektrizität in dieser inneren Welt — genau wie in der uns unmittelbar umgebenden Welt — nur unter besonderen Umständen entstehe. Und man könnte dann weiter annehmen, daß die Elektrizität erst entstehe, wenn irgend eine Störung im normalen Zustande des Atoms oder in der gewöhnlichen Stellung der Protonen und Elektronen einträte. Es sind diese anormalen, losgerissenen Protonen und Elektronen, die sich — genau wie die Atome, die ihre Partikeln verloren oder deren zu viele haben, als elektrisch geladene Jonen auftreten — unseren Beobachtungen und Experimenten als positiv oder negativ geladene elektrische
Zustande elektrisch geladen sei? Und man könnte ebenfalls fragen: in genau welchem Sinne rotiert ein Elektron im Innern eines Atoms in einem stationären Zustande, w o man überhaupt kein Mittel hat um nachzuweisen, daß eine frühere Änderung es veranlaßt habe. Denn erst indem wir den stationären Zustand zerstören, entdecken wir, daß er ein Bewegungsmoment enthalten habe. Vielleicht ist es zweckmässig eine innere Verteilung der Elektrizität in den im Übrigen neutralen Atomen und zwar von der Art anzunehmen, wie sie die Lehrbücher der Physik jetzt beschreiben: einen positiven Kern, von einer elektrischen, negativ geladenen Ladungswolke mit einer gewissen Dichtheitsverteilung in unserem Raum umgeben (es ist von Bedeutung, dieses zu unterstreichen; die Wellenfunktionen spielen sich ja im vieldimensionalen Räume ab, 3 q variabel für q' Elektronen). W i r sind imstande die Energiezustände des Atoms zu berechnen, als ob die Wolke von der elektrostatischen Anziehung Coulombs vom Kern und im übrigen von keinen anderen Kräften angezogen werde; das Verhältnis ist nicht dasselbe wie in den Kernen, mit Bezug auf die wir nicht ahnen, welche Kräfte wir in die Gleichungen der Quantenmechanik einsetzten müssen, um die Energieniveaus und die Wellenfunktionen festzustellen.
351 Partikeln (als Kathodestrahlen, als Alpha- oder Betha-Partikeln), mit anderen Worten: als sämmtliche Erscheinungen zeigen, die uns die Spektren, die Nebelkammerphotographien, die Elektrolysen und Ähnliches enthüllen. Danach entstände die Elektrizität also erst durch die Losreißung der verschiedenen Atomelemente aus ihrem normalen Zusammenhang und normalen Zustand. Dadurch würde erklärt werden, daß die Elektrizität etwas darstelle, dem wir unserer unmittelbaren Auffassung nach nur ausnahmsweise in der Natur begegnen. Warum die Elektrizität entsteht, weshalb die Atomelemente gerade durch ihre Losreißung aus dem normalen Zusammenhang elektrisch werden, bliebe demnach natürlicherweise ein Rätsel. Aber auch der neueren Atomtheorie zufolge enden wir zuallerletzt in Rätsel, in Phänomene, die nicht erklärt werden können und deren Ursachen wir noch nicht gefunden haben. Und so wird es wahrscheinlich bleiben. Die Frage der Naturwissenschaft jeder Epoche ist nur die: wo diese Grenze des Rätselhaften gesetzt werden müsse.
Es gibt jedoch ein Problem, das noch weiter reicht und ein noch größeres Interesse für die Erkenntnistheorie darbietet, als der Ursprung des elektro-magnetischen Weltbildes, und zwar dieses: Wie ist die Auffassung der in der Gegenwart herrschenden Naturwissenschaft von der Welt und ihren Kräften als Kleinpartikeln — Molekülen, Atomen, Elektronen, Partikeln etc. — und deren Bewegungen überhaupt entstanden? Diese Auffassung ist — wie es in dem Vorhergehenden erläutert wurde — im 19. und 20. Jahrhundert entstanden und entwickelt. Und es waren die großen Erfindungen auf den Gebieten der Wärme, der Elektrizität, des Magnetismus und später auch auf dem der Radioaktivität, die innerhalb dieser Periode die Anregung zu einer ständig reicher ausgebauten Anschauung von Kleinpartikeln als Bausteinen des Weltstoffes und von ihren Bewegungen gaben. Als die Erscheinung der Wärme, dank der energischen Ausnutzung derselben infolge der großen Erfindung der Dampfmaschine, enthülte, welch' gewaltige Triebkräfte sie hervorbringen konnte, lenkte dies Phänomen in ständig steigendem Maße die Aufmerksamkeit der Naturforscher auf sich, und gegen Schluß des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchte man von verschiedenen Seiten das Problem zu ergründen, woraus die Wärme eigentlich bestehe und was sie eigentlich sei. Dieses Denken fand — wie wir gesehen haben — um die Mitte
352 des 19. Jahrhunderts seinen Abschluß in der kinetischen W ä r m e theorie, w o n a c h W ä r m e eine Bewegung kleinster Stoffteile, die selbständig bestehen können, der Moleküle, darstellt. Gleichlaufend hiermit hatten die chemischen Verbrennungsprozesse und die W ä g u n g der Stoffe vor und nach diesen Prozessen zu immer feiner ausgebauten Vorstellungen von den Molekülen und deren Zusammensetzung von Atomen einer relativ kleinen Anzahl verschiedener Stoffe geführt (vgl. oben). Da wir nicht imstande sind, Atome, Protonen, Elektronen oder Moleküle (die größten dieser letzteren ausgenommen, die m a n durch die stärksten Mikroskope erkennen kann) mittels unserer menschlichen Sinnesorgane (Gehör, Gesicht, Berührung) zu beobachten, haben wir die Annahme dieser Kleinpartikeln nicht auf dem Wege der Sinnesdes wahrnehmung erreicht. Folglich sind wir nur auf dem Wege Denkens zur Erkenntnis ihrer Existenz gelangt. Aber welches Denken? Es dreht sich hierbei u m eine Reihe von sinnreichen Schlußfolgerungen aus mannigfaltigen Entdeckungen und Experimenten auf A n n a h m e der realen Existenz von Atomen, Protonen, Elektronen, Molekülen u. Ä. Aber worin bestehen diese Schlüsse?
1. D I E M E T H O D E D E R V I S U E L L E N
ÜBERSETZUNG
Zu verstehen heißt: etwas Unbekanntes aus etwas Bekanntem abzuleiten, uns anscheinend unbekannte Erscheinungen auf solche zurückzuführen, die uns im Voraus bekannt sind. Mit äußeren Gegenständen oder Stoffen sind wir vertraut. Wir kennen sie durch unsere Sinne; wir können sie sehen, fühlen oder in anderer W e i s e wahrnehmen, gleichgültig ob es n u n Metalle, Holz, Stein, Flüssigkeiten u. s. w. sind. Deshalb ist es durchaus verständlich, daß die ersten wissenschaftlichen Versuche derartige merkwürdige, vorübergehende Er-
Der Laut ist — wenn man sich so ausdrücken darf — eine Zwischenform zwischen Wasser-wellen und Lichtwellen. Der Laut geht wie die Wasserwelle in einem Stoff vor sich, nämlich durch Schwingungen in den Kleinteilen der Luft oder eines anderen Stoffes, durch Teile des lautgebenden Körpers (z. B. die einer Stimmgabel oder einer Saite) und durch die Teile des lautempfangenden Körpers (die des Ohrs). Diese Schwingungen oder Lautwellen sind auch in der Regel unsichtbar wie die Lichtwellen (etwas Anderes ist, daß wir die Schwingungen einer Stimmgabel oder einer Saite sehen können). In der neuesten Zeit ist es jedoch gelungen, die Lichtwellen zu photographieren.
353 scheinungen wie das Feuer, die Wärme, die Elektrizität, die keine Gegenstände oder Dinge darstellen, zu erklären, darauf hinausgehen, sie eben als Stoffe, allerdings besondere Stoffe, aber doch als materielle und greifbare Stoffe genau wie jene äußeren Stoffe oder Gegenstände zu erläutern, mit denen unsere Sinneswahrnehmung uns täglich vertraut macht. Die ältesten Theorien gingen damals — wie bereits früher erwähnt — von dem Gedanken aus, daß das Feuer aus einem besonderen Feuerstoff, dem Flogiston, hervorgehe. In ähnlicher Weise erklärte man die Wärme als einen besonderen Wärmestoff, der sich von dem warmen Teile auf die kalten desselben Gegenstandes verbreitete. Und schließlich faßte man auch die Elektrizität, wie wir ebenfalls gesehen haben, als einen besonderen Elektrizitätsstoff auf, von dem in einem Gegenstande bald ein Überschuß, bald aber ein Unterschuß, ein Mangel, vorhanden sei. Daher stammen die heutigen Bezeichnungen der positiven und der negativen Elektrizität. Das Eigentümliche dieser Art des Denkens kann man am Besten in folgender Weise erklären: wir fassen die uns unbekannten Prozesse — Verbrennung oder Feuer, Wärme, Elektrizität — in Bildern von Etwas, das uns bekannt ist, auf, und erklären uns sie in dieser Weise. Man könnte auch sagen: wir erklären uns sie in Analogie mit dem uns Bekannten. Da wir die »innere« Natur dieser Prozesse oder Naturerscheinungen nicht entdecken oder beobachten, d. h. diese innere Natur mit unseren Sinnen nicht zu erfassen vermögen, sie weder hören, sehen, fühlen noch in anderer unmittelbarer Weise wahrnehmen können, führen wir sie dennoch auf Etwas zurück, das wir mittels unserer Sinne kennen. W i r fassen dann das Feuer, die Wärme, die Elektrizität auf, als wären sie Gegenstände oder Stoffe von derselben Art, wie diejenigen, die wir durch unsere sinnliche Wahrnehmung kennen gelernt haben. Und dabei erhalten wir den Eindruck, daß wir diese Prozesse besser verstehen. In der Tat bestehen — soweit ich sehen kann — die meisten Vorgänge innerhalb der Naturwissenschaft aus solchen anschaulichen Verbildlichungen, also aus Analogieschlüssen. Und eben deshalb lohnt es sich, sie näher zu betrachten. Die Erkenntnistheorie und die Naturwissenschaft müssen gemeinsam versuchen, sie zu beleuchten. Meiner Ansicht nach kann man den erwähnten Denkvorgang auf die folgende Weise erläutern: wir übersetzen die für unsere Sinneswahrnehmung verborgenen Erscheinungen in die Sprache der unseren Sinnen wahrnehmbaren Gegenstände. Diese Übersetzungsmethode hat die Naturwissenschaft stets — im 18., 19., 20. Jahrhundert wie in 23
Erkenntnis und Wertung
354 den ältesten Zeiten — verwendet. Als die Naturwissenschaft dann gegen den Schluß des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts — vor Allem nach den Untersuchungen und Experimenten von Lavoisier und Rumford — die Theorie von einem besonderen Feuerstoff und einem besonderen Wärmestoff aufgeben mußte, führte dies in keiner Weise dazu, daß man die Übersetzung aufgab: man wählte jetzt, zur Verwendung bei der Übersetzung, nur andere, äußerlich beobachtbare Gegenstände. In der uns umgebenden Natur, die unserer Sinneswahrnehmung zugänglich ist, begegnen wir nicht nur Stoffen, materiell ausgedehnten Gegenständen, sondern unter ihnen auch einer besonderen Gruppe, nämlich Gegenständen in Bewegung und zwar von den ganz großen (wie den Planeten) bis zu den sehr kleinen, (wie den Sandkörnern und den winzigsten Infusionstieren u . s . w . ) und durch das Mikroskop können wir immer winzigere Kleinkörper in Bewegung sehen. Da die Theorie vom Feuerstoff und vom Wärmestoff aufgegeben und von der kinetischen Wärmetheorie abgelöst werden mußte, bedeutete es, daß wir statt der Übersetzung der Wärmephänomene in einen Stoff sie nun in eine Bewegung der kleinsten Stoffteile übersetzten, was einzelne Philosophen älterer Zeit, vor Allem Hobbes, angedeutet hatten. Und diese Übertragung in anschauliche Bilder erreichte allgemeinen Anschluß seitens der Naturforscher des 19. und 20. Jahrhunderts, weil eine Menge von Beobachtungen, Experimenten und gedanklichen Schlußfolgerungen sich von dieser Auffassung, also von dieser Übersetzung oder Analogie aus viel besser als durch die Stoff-analogie in Übereinstimmung bringen und erklären lassen. Die hier hervorgehobene Übersetzung von inneren, ungesehenen Prozessen in anschauliche Gesichtsbilder (räumliche Gegenstände und ihre Bewegungen) möchte ich die visuelle Übersetzung nennen. Streng genommen hätte sie die oisuell-taktile Übersetzung genannt werden müssen, denn unser Begriff des Körpers (von den größten Sternen bis zu den kleinsten Partikeln) hat in eben so hohem Maße seinen Ursprung im Tastsinn wie im Gesichtssinn. Der Kürze halber werden wir im Folgenden jedoch ausschließlich den Ausdruck »visuell« für diese Art der Übersetzung verwenden. Selbst wenn die Stoffteile, von denen wir in unserer visuellen Übersetzung ausgehen, so außerordentlich klein sind, daß wir nicht imstande sind, die meisten von ihnen zu sehen oder in anderer Weise wahrzunehmen, besitzen sie dennoch Ausdehnung und Stoff. Sie sind
355 also durchaus derselben Art, wie die Kleinteile des Stoffes, die wir in der Umwelt mittels unseres Gesichtsinnes, unseres Tastsinnes o. ä. erfassen können: auch die Bewegung ist ja eine Erscheinung, die wir in unserer Umwelt täglich durch unsere Sinne beobachten können. Die Erscheinung der Wärme wird uns deshalb vollkommen verständlich als Etwas, das uns im Voraus bekannt ist, wenn man sie als Bewegung der kleinsten Stoffteile auffaßt; ein kalter Gegenstand wird uns als ein Stoff erklärlich, worin die Bewegung der kleinsten Stoffteile, der Moleküle, sehr langsam vor sich geht, ein warmer Gegenstand aber als ein Stoff, in dem dieselbe Bewegung sehr schnell stattfindet. Selbst wenn wir die meisten Moleküle und ihre Bewegungen nicht sehen können, sind wir dennoch imstande sie uns vorzustellen, nämlich in Analogie mit den Kleinteilen und ihren Bewegungen, die wir selbst mit eigenen Augen vor sich gehen sehen. In ganz entsprechender Weise verlief der Denkvorgang innerhalb der Naturwissenschaft, als man die Theorie von der Elektrizität als besonderem Stoff aufgab und im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zur Annahme überging, daß auch die Elektrizität eine Bewegung von Kleinpartikeln, allerdings anderer Art als der Moleküle, nämlich der Jonen und der Elektronen sei. Das geschah auch nicht durch irgend welche Änderung der naturwissenschaftlichen Methode. Soweit ich zu sehen imstande bin, ist es auch bei der neuen Atomtheorie noch immer das, was ich die visuelle Übersetzungsmethode genannt habe, die hier verwendet wird. Wir können den für uns unsichtbaren inneren Prozess in der Natur sichtbar anschauen, den die Elektrizität darstellt, wenn wir ihn in die für uns Menschen verständliche Sprache der Kleinpartikeln in Bewegung übersetzen. Wir können sozusagen sehen, wie die Elektronen sich durch ein Metall, z. B. eine Metalldraht als Leitung des elektrischen Stromes, bewegen. »Strom« ist auch eine Vorstellung oder ein Bild, das wir aus der uns umgebenden, äußeren, für uns wahrnehmbaren Welt geholt haben. In derselben Weise ist es auch eine visuelle Übersetzung oder Analogiebildung aus unserer sichtbaren Wahrnehmungswelt, wenn wir die Elektrolyse als eine »Wanderung« der Jonen im Elektrolyt, das Kohlenbogenlicht als eine Wanderung der Elektronen und Jonen durch die Luft auffassen. Es wurde oben erläutert, daß die Naturwissenschaft zur Erklärung der Erscheinungen in der uns umgebenden Natur außer der Begriffe: Stoffpartikeln und ihre Bewegung auch die Begriffe: Lichtwellen, Energie, darunter auch Energiequanten, verwendet. 23*
356 Außer der Naturphänomene wie Wärme, Elektrizität, Magnetismus gibt es im Universum auch Lichtstrahlen-, und zu diesen gehören nicht nur das sichtbare Licht, das Licht der Sonne und der Sterne, sondern auch die unsichtbaren Lichtstrahlen: die ultravioletten und die ultraroten Strahlen, die Röntgenstrahlen und die Gammastrahlen. Während Wärme, Elektrizität und Magnetismus als Bewegung der Stoffpartikeln (hierzu gehören auch die Alpha- und Betha-partikeln und die sogenannten Kathodestrahlen) erläutert werden, können die obenerwähnten Strahlen nicht dadurch erklärt werden. Es ist indessen wertvoll hier festzustellen, daß die visuelle Übersetzungsmethode auch auf diesem Gebiete ursprünglich mit der Partikelauffassung begann, denn Newton faßte das Licht als eine Bewegung von Stoffpartikeln auf. Aber selbst wenn die spätere Naturwissenschaft diese Auffassung fallen ließ, gab sie dennoch nicht die Übersetzungsmethode auf. Das Licht wurde nämlich jetzt als Wellen aufgefaßt, aber auch diese Vorstellung ist der Umwelt entnommen, die wir mit unseren Augen und unseren Sinnen wahrnehmen können. Es ist unsere sinnliche Wahrnehmung und unsere Vorstellung von den Wellen des Meeres, die wir durch Analogie auf die innere Natur der Erscheinung des Lichtes übertragen, genau wie wir analogisch unsere Vorstellung von den uns sichtbaren Kleinkörpern in der Umwelt und ihren Bewegungen zur Erklärung der inneren Natur der Wärme und der Elektrizität übersetzen. In beiden Fällen dreht es sich um Analogien von Bewegungen im Stoff in unserer täglichen Umwelt. In der uns umgebenden und uns sichtbaren Natur begegnen wir zwei Arten von Bewegungen: 1) unabhängigen Bewegungen von selbständigen, von einander getrennten Stoffteilen oder Gegenständen, von Individualdingen — von Sternen und Planeten bis zu Sandkörnern, — und 2) Massenbewegungen im Stoffe, dessen einzelne Stoffteile in der Bewegung nicht selbständig auftreten. 1) Die Partikelbewegung stellt Bewegungen von Individualdingen oder, wenn man so sagen darf, Einzelgängerbewegungen der vielen selbständigen Körper dar, die ihre eigenen Bewegungen haben; 2) die Wellenbewegungen umfaßt dafür solidarische Massenbewegungen, in denen alle Stoffteile sich im selben Takt bewegen. 1) Die Partikelbewegung haben wir also als illustratives Bild aus unsrer Umwelt, das uns die vielen Wirkungen von Wärme, Elektrizität, Magnetismus zu erklären scheint, die unsere Beobachtungen, Experimente, Erfindungen uns mit Bezug auf diese Phänomene gezeigt haben. 2) Die Wellenbewegung ließ sich dagegen am besten mit unseren Beob-
357 achtungen, Experimenten und Erfindungen bezüglich der Wirkungen des Lichtes vereinen. Von unseren Beobachtungen der Wellen des Meeres haben wir die Begriffe Wellenlänge und Schwingungszahl entlehnt und sie analog auf all die obenerwähnten Arten von Lichtstrahlen übertragen. Es ist in dieser Verbindung der Aufmerksamkeit wert, daß die Naturwissenschaft, selbst nachdem sie die Partikelauffassung des Lichtes (Newtons Emissionstheorie) aufgegeben hatte, die Analogie mit den Wellen oder das Bild von ihnen aus der uns umgebenden Natur festhielt, nämlich die Annahme, daß die Lichtwellen — genau wie die Wellen des Meeres in einem Stoff auftreten — ebenfalls in einem Stoff vor sich gehen. Und da man diesen Stoff nicht vorzeigen, ihn nicht direkt konstatieren konnte, konstruierte man ihn, nahm man seine Existenz an. Diesen vermuteten Stoff nannte man den Äther und meinte also, daß alle Lichtwellen Wellen in diesem Äther seien. Später hat man jedoch diesen Stoff wieder aufgeben müssen — und wie ich oben hervorgehoben habe, kann man nicht leugnen, daß die Grundlage des Analogieschlusses oder des Bildes von den Wellen des Meeres schwankt, solange man nicht — wie es beim Meere der Fall ist — auf irgend einen Stoff hinweisen kann, in dem die Wellenbewegung vor sich geht. Interessant und wertvoll für die Beleuchtung der visuellen Übersetzungsmethode ist es aber, daß man innerhalb der spätesten Atomtheorie auf einem bestimmten Gebiete der Lichterscheinung wiederum eine gewisse Unterstützung der Partikelauffassung sucht. Alle Lichtstrahlen im weitesten Sinne — das Sonnenlicht, die violetten und die ultraroten Strahlen, die Röntgen- und die Gammastrahlen — werden zur Zeit als elektro-magnetische Wellen aufgefaßt. Allerdings meint man, daß sie durch den leeren Raum gehen und zwar ohne einen Stoff oder Stoffpartikeln als Hilfsmittel, aber sie entstehen dennoch durch Schwingungen in Partikeln, nämlich Elektronen, in dem lichtgebenden Körper selbst, und von diesen Schwingungen meint man, daß sie, wenn das Licht den empfangenden Körper erreicht, auch in diesem die entsprechenden Schwingungen, also in den Elektronen dieses Körpers, hervorrufen. Das Vorhergehende wird vermutlich dargetan haben, daß die moderne Naturwissenschaft im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts sowohl in ihrer Erklärung der Wärme-Erscheinung durch die kinetische Wärmetheorie als ihrer Erläuterung der Elektrizität und des Magnetismus und der Lichtstrahlen im Universum, ohne sich dessen ganz bewußt zu sein, jener besonderen Methode, die oben als die
358 visuelle Übersetzungsmethode gekennzeichnet ist, bedient hat. Wie gezeigt, besteht sie also darin, daß sie es versucht, die uns in der Regel unsichtbaren und unverständlichen Prozesse in der Natur — wie die Elektrizität — dadurch verständlich zu machen, daß man sie als Bewegungen kleiner Körper im Inneren der Natur analog mit den Bewegungen von Körpern oder Dingen auffaßt, die wir in unserer täglichen Umwelt vor Augen haben, jedoch mit dem Unterschied, daß die Körper, deren Bewegungen im Inneren der Natur wir als Wärme, Elektrizität oder Lichtstrahlen wahrnehmen, so unendlich klein sind (Moleküle, Atome, Elektronen etc.), daß die meisten von ihnen unseren Augen unsichtbar sind. Genau wie wir sehen können, wie die Steine den Boden hinabrollen oder auf diesen fallen, ist es, als ob wir in der Phantasie die unendlich kleinen Dinge: die Moleküle, die Atome, die Jonen, die Elektronen u. ä. sich for unseren Augen im Inneren der Natur bewegen sehen ganz wie die Dinge in der uns bekannten, sichtbaren Welt. Dieser Drang, uns das unsichtbare Innere der Natur in uns bekannten, alltäglichen Bildern vorzustellen, hat wie eine Aladdinslampe dieses Innere für uns beleuchtet und wirklichgemacht. So weit ich sehen kann, ist es dieser visuelle Drang, der in unserem Bewußtsein sowohl die Vorstellungen von Molekülen, Atomen, Elektronen u. s. w. und die Vorstellung ihrer Bewegungen geschaffen hat. Selbst die allerspäteste Naturwissenschaft klammert sich überall, wo sie nur kann, an diese visuelle Übersetzung, an die Bilder, an die Vorstellungen von unserer täglichen, direkten, beobachtbaren Welt und sucht überall — selbst bei der Erklärung der unbestimmbarsten Erscheinungen, wie der des Lichtes — in stärkeren oder schwächeren Analogien mit den Vorstellungen von der sichtbaren Welt, Fuß zu fassen. Die neueste Entwickelung innerhalb der modernen Atomtheorie hat ein Schwanken zwischen zwei Analogien mit sich geführt, wie z. B. mit Bezug auf die Elektronen, nämlich inwieweit das Elektron letzten Endes Partikelnatur oder Wellennatur besitze. Aber es verdient bemerkt zu werden, daß selbst die Wahl zwischen diesen beiden Auffassungen innerhalb der Vorstellungswelt und der Grundbegriffe der visuellen Übersetzung stattfindet. Wir können die Bilder oder Vorstellungen aus unserer täglichen und sichtbaren Welt: Wellen oder kleine Gegenstände in Bewegung nicht entbehren. Mittels ihrer übersetzen wir das uns Unverständliche in eine unserem Geiste verständliche Sprache.
359 2. D I E M E T H O D E D E R K R A F T M Ä S S I G E N
ÜBERSETZUNG
Die visuelle Übersetzungsmethode ist indessen nicht die einzige, die in der N a t u r w i s s e n s c h a f t verwendet wird, w e n n a u c h die a m meisten benutzte u n d die bevorzugteste. Es gibt eine zweite Methode, die sie suppliert u n d die ebenfalls d a r i n besteht, d a ß m a n u n b e k a n n te E r s c h e i n u n g e n mittels Vorstellungen erklärt, die den Menschen a u c h aus der direkten, täglichen E r f a h r u n g b e k a n n t sind. Man k a n n diese zweite Übersetzungsmethode die kraftmäßige nennen, da sie m i t der Vorstellung der K r a f t operiert u m die Begriffe, in die die Kraftvorstellung (wie Energie u. ä.) hineinbezogen wird, zu e r k l ä r e n . Die Moleküle u n d die Atome w e r d e n d u r c h die K r a f t der F l ä c h e n anziehung (der Adhäsion) a n einandergebunden. Die P r o t o n e n u n d die N e u t r o n e n des Atomkernes so wie der gesamte Kern u n d die E l e k t r o n e n werden d u r c h eine Z u s a m m e n h a n g s k r a f t (Kohäsion) zusammengehalten, deren Überwindung enorme K r ä f t e erfordert. Die Gegenstände, die wir beobachten k ö n n e n , w e r d e n von der Schwerk r a f t oder der A n z i e h u n g s k r a f t u. s. w. beherrscht. Und der Begriff der Energie steht e r k e n n t n i s m ä ß i g nicht besser als der Begriff der K r a f t , d e n n im Energiebegriff bildet — wie oben gezeigt — der K r a f t begriff ein unentbehrliches Element. W o h e r s t a m m t n u n dieser Begriff: Kraft? E n t s t a m m t er den sinnlichen Bewegungen? Oder stellt er einen u n b e s t i m m t e n , a b s t r a k t e n Begriff dar, von d e m Denken selbst geschaffen? Berkeley u n d Hume w a r e n nicht i m s t a n d e irgend welche sinnliche W a h r n e h m u n g zu kon-
Der Gesichtspunkt der Komplementarität bedeutet an und für sich keine Erklärung und beabsichtigt auch nicht eine solche zu sein, aber ausschließlich eine Konstatierung, daß eine Erscheinung von verschiedenen Anschauungsformen aus gesehen werden kann. So weit ich aber sehen kann, ist ein großer Unterschied zwischen den Gruppen von Phänomenen vorhanden, die komplementär genannt werden. Beim Licht und den Elektronen liegen die beiden komplementären Auffassungen — die Partikelauffassung und die Wellenauffassung — innerhalb derselben Zeichensprache, nämlich der visuellen. Bei dem Gegensatz »Psychisch-materiell« wird dasselbe Phänomen in zwei verschiedene geistige Sprachen, einer visuellen und einer nicht-visuellen übersetzt, z. B. wenn die Begeisterung eines Menschen über Shakespeares »Romeo und Julie« teils als eine innere seelische Erscheinung, als ein Gefühl, also unsichtbar, und teils als die dem entsprechende Bewegung in den Gehirnzellen des Betreffenden, die sichtbar oder richtiger ersichtlich ist, d. h. die Möglichkeit der Gesichtswahrnehmung hat, aufgefaßt wird.
360 statieren, der die Vorstellung einer Kraft entstammen könnte. Und da Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung für sie identisch waren, erklärten sie einfach, daß der Begriff der Kraft nicht von der Erfahrung entlehnt sei und folglich keine Gültigkeit besitze. Deshalb polemisierten sie gegen die Vorstellung: Anziehungskraft. Diese Philosophen waren infolge ihrer Voraussetzungen außerstande, den psychologischen Ursprung unserer Vorstellung von der Kraft zu finden. Es dreht sich dabei auch um eine sehr komplizierte Vorstellung. Ein Element darin besteht aus einer inneren Organempfindung der Muskelspannung, der Muskelanstrengung, wenn unsere Glieder eine Arbeit ausführen. Infolge unserer mehr oder weniger unbewußten Gestaltung der Kraftvorstellung fassen wir unseren Willen, also eine rein psychische Erscheinung, die von der Umwelt getrennt ist, als die Ursache von Bewegungen innerhalb dieser, nämlich der Bewegungen in den Armen und Händen auf, die nun ihrerseits zu Bewegungen von Gegenständen außerhalb unseres Selbst führen. Sowohl der Raum und die Zeit als auch die Ding- oder Substanzvorstellung gehen deshalb sicher in unsere Vorstellung der Willenskraft als Ursache der Bewegungen in der Umwelt ein. Wenn wir unsere eigene Willenskraft als unsichtbare Ursache von Bewegungen in der Umwelt erleben, ziehen wir eine Analogie zu den Fällen, in denen wir sehen, wie ein Motor einen Wagen oder ein Schiff bewegt, wie ein Magnet ein Metallstück, oder die Erde andere Körper anzieht u. s. w. und nehmen also auch in diesen Fällen an, daß eine innere, unsichtbare Kraft die Ursache dieser Bewegungen sei.
Es soll hier nicht geleugnet werden, daß es auch die Möglichkeit weiterer Übersetzungen als die visuelle und die kraftmäßige, für andere Analogien von anderen Teilen der uns umgebenden Natur, nämlich eine organische und eine geistige Analogie, geben könnte. Die lebenden Organismen machen indessen einen so kleinen Teil des Weltalls aus und enthalten außerdem selbst die rätselhaftesten Probleme, daß man durch Analogien mit ihnen anscheinend nichts gewinnen würde. Die Versuche, die in früheren Zeiten mit diesen Analogien gemacht worden sind, waren auch nicht ergebnisreich. Es war z. B. in älteren Zeiten allgemein, daß man Zweckursachen, die man in der organischen Natur kennen lernt (besonders innerhalb der Menschenwelt), in die rein mechanische Natur, z.B. hinter die Bewegung der Himmelskörper hineinlegte. Nach dem Auftreten von Kopernikus, Kepler und Newton verschwanden diese Analogien. Auf sie paßt die Warnung Bacons, die Natur nicht ex analogia hominis zu erläutern. Die Versuche der romantischen Philosophie, vor Allem die Schellings und in neue-
361 W e n n die N a t u r w i s s e n s c h a f t den Begriff der K r a f t u n d die d a r a u s abgeleiteten Vorstellungen i n n e r h a l b der Physik verwendet, dreht es sich also wieder um eine Anwendung der Übersetzungsmethode. Sowohl bei der Anziehung zwischen den H i m m e l s k ö r p e r n , zwischen der E r d e u n d den Gegenständen auf ihr als auch zwischen den kleinsten Teilen des Stoffes — den Molekülen, Atomen, P r o t o n e n , J o n e n u n d Elektronen — übersetzen wir die Bewegungen der Körper in der N a t u r in die Vorstellungssprache von den Bewegungen unseres eigenen Körpers. W i r v e r m u t e n , d a ß es h i n t e r allen Bewegungen im Universum K r ä f t e gibt, die m i t u n s e r e r eigenen, i n n e r e n W i l l e n s k r a f t , die die Ursache von den Bewegungen unseres Körpers bildet, analog sind. Die k r a f t m ä ß i g e Übersetzung ist indessen n u r subsidiär, d. h. im Verhältnis zur visuellen lediglich als Supplement a u f z u f a s s e n . W i r suchen die »Naturkräfte« wie W ä r m e , Elektrizität u. a. z u n ä c h s t u n d im weitest möglichen U m f a n g e d u r c h die k l a r e r e n u n d b e s t i m m t e r e n Begriffe der visuellen Übersetzung zu erklären, n ä m l i c h die der P a r tikeln u n d deren Bewegungen. Und erst w e n n w i r d a n n weitergehen u n d auch diese u n d andere Bewegungen von K ö r p e r n im Univers
ster Zeit die von Whitehead, das Universum als einen Organismus und die Wandlungen darin als organische Prozesse aufzufassen, sind auch nicht geeignet den Weg solcher Analogien weiterzugehen. — Die kraftmäßige Übersetzung ist allerdings auch eine organische Analogie, nämlich von Empfindungen durch den menschlichen Organsinn. Aber bis heute stellt sie auch die einzige organische Analogie dar, die man noch immer, wenn auch mit Zweifeln, verwendet. Die Brauchbarkeit dieser Analogie zur Illustrierung, zur Anschaulichmachung kann übrigens auch in außerordentlich direkter Weise demonstriert werden. Wenn z. B. ein starker Magnet ein Gewicht von 5 Kilogramm fest an sich zieht, mit der Unterseite des Gewichtes gegen die Pole des Magnets, und ein Mensch mit seiner Hand und ihrer Kraft versuchen würde das 5 Kg.-Gewicht vom Magneten loszureißen, erhält man in direktester Weise deutlichgemacht, daß der Magnet »Kräfte« enthält, die der Handkraft widerstehen und vielleicht sogar »stärker« sind als diese. Aber es ist und bleibt doch nur ein Bild, Erlebnissen unseres eigenen Inneren entnommen. Und es ist ja — wie angedeutet — ein Problem, ob wir noch immer den Kraftbegriff innerhalb der Naturwissenschaft verwenden sollen oder nicht (Vgl. weiter unten). Analogien vom menschlichen Geist mit den innersten Kräften des Universums zu ziehen, wie es von mehreren Philosophen älterer und neuerer Zeit versucht worden ist, scheint kein weiteres wissenschaftliches Verständnis zu geben, sondern vielmehr die scharfe Grenze zu verwischen, die zwischen Religion und Wissenschaft unentbehrlich ist.
362 verstehen wollen, nehmen wir unsichtbare »Kräfte« als Ursachen dieser Bewegungen und des Zusammenhanges des materiellen Stoffes an, und kommen dabei zur Annahme der Anziehungskraft, der Adhäsionskräfte der Moleküle, der elektromagnetischen Kräfte u. s. w.
Das Ergebnis der Untersuchung in diesem Abschnitt kann man vermutlich auf die folgende Weise zusammenfassen: die Naturwissenschaft unserer Zeit baut ihre Erklärungen von den Erscheinungen der Natur überall auf die Methode, die ich als die Übersetzungsmethode gekennzeichnet habe. Diese besteht teils aus den visuellen, teils aus der kraftmäßigen Übersetzung oder Analogisierung. Gleichgültig ob es sich dabei um Phänomene wie die beobachtbaren Körper und ihre Bewegungen — und zwar gilt es sowohl mit Bezug auf Sterne als auch auf Sandkörner — oder um Erscheinungen wie Wärme, Elektrizität, Magnetismus und Radioaktivität handelt, oder ob es Lichtphänomene wie das Sonnenlicht, das unsichtbare Licht (das ultraviolette und das ultrarote), Röntgenstrahlen, Gammastrahlen sind, die behandelt werden, versuchen wir überall uns zu veranschaulichen, uns also vorzustellen, was tatsächlich hinter den Kulissen der Natur (wenn man sich so ausdrücken darf), d.h. in deren Inneren vor sich geht, indem wir Bilder verwenden, die wir durch unsere sinnliche Wahrnehmung erhalten. In Wirklichkeit haben die Menschen stets, gleich von der Urzeit, von dem Augenblick an, wo sie überhaupt über die Natur zu denken begannen, diese Illustrationen des scheinbar unerklärlichen in der Natur mittels bekannter Bilder aus unserer nächsten Welt verwendet. In der ältesten Zeit fand diese Illustrierung in der Gestalt des Mythos und der primitiven Religion statt. Der Mensch bevölkerte die hinter der äußeren Natur liegende Welt mit Wesen in Analogie zu sich selbst, zu Menschen, wie sie es waren. Hinter dem Wachsen der Bäume, dem Strömen der Flüsse, den Bewegungen des Meeres, den Stürmen der Luft, den Wolken und dem Donner des Himmels, der Sonne und den Sternen stellten sich die Menschen übernatürliche Wesen als treibende Kräfte vor, die sie sich in Menschengestalt als Götter und Göttinnen dachten (und zwar in den verschiedenen Sprachen unter den verschiedenartigsten Namen: Dryaden, Najaden, Aiolos, Poseidon, Zeus, Donar, Jupiter u . s . w . ) . Die ältesten, mytischen Vorstellungen lebten in der Phantasie der Völker später in den Märchen weiter. Der Grundgedanke der primitiven, religiösen Erklärung
363 und die Erläuterung der modernen Naturwissenschaft sind zutiefst gesehen dieselben: beide illustrieren die den menschlichen Sinnen verborgenen Prozesse durch Bilder, die in Analogie mit uns selbst oder den uns am nächsten liegenden, sinnlich wahrnehmbaren Umgebungen gezogen sind. Der Unterschied zwischen den Beiden liegt darin, daß die Erklärungen der Naturwissenschaft die größtmögliche Zusammenstimmung oder Korrelation mit unseren sämmtlichen Erfahrungen mit Bezug auf wahrnehmbare Beobachtungen aufweist, was die Erklärung der primitiven Religion nicht vermag. Wenn wir die obenerwähnten Prozesse der Natur innere nennen, soll damit eben ausgedrückt werden, daß sie durch unsere sinnliche Wahrnehmung nicht beobachtet werden können. Die inneren Prozesse der Natur, die hinter der Wärme, der Elektrizität, dem Magnetismus oder dem Lichte, u. s. w. liegen, können wir weder sehen oder fühlen, noch in anderer Weise mittels unserer Sinne feststellen. Was wir mit unseren Sinnen von diesen Prozessen sehen, fühlen und sonst wahrnehmen, sind lediglich: gefühlsmäßige Wahrnehmung der Wärme und der Kälte, Gesichtswahrnehmungen von Funken, und Lichtschimmer (von dem kleinsten bis zum größten, Blitzen), Niederschlag von Metallen, Blasen in Flüssigkeiten und in der Luft (während der Elektrolyse), Stoß durch den Körper, Schwankungen (der Magnetnadel), Licht, verschiedene Farben, Bewegungen von Körpern in dem uns umgebenden Raum (es gilt sowohl den größten wie den kleinsten Körpern), gewisse wahrnehmbare Wirkungen des Radiums u . s . w . Unser Nachdenken über diese verschiedenen, verstreuten, sinnlichen Wahrnehmungen, besteht also darin, daß wir diese »Unterwelt« der Natur, die unseren Sinnen verborgen ist, eben durch Bilder aus der Welt unserer sinnlichen Wahrnehmung »erklären« oder illustrieren: durch Kleinpartikeln in Bewegung, durch Wellen und Kräfte. Durch eine lange Reihe von Erfindungen und Entdeckungen und durch viele sinnreiche Schlußfolgerungen von hier füllen wir diese Innenwelt aus, jedoch nicht wie es die primitiven Menschen mittels der Religion in Analogie mit sich selbst taten, sondern mit unendlich kleinen Körpern in Bewegung, mit Wellen zwischen lichtspendenden und lichtempfangenden Körpern und mit Kräften. Das ist an sich sehr natürlich. Das Konkreteste, das Lebendigste, das für uns Klarste und Deutlichste stellen die sinnlichen Wahrnehmungen aus unserer täglichen, sichtoder fühlbaren Umwelt dar. Wenn wir dann Stößen, Schimmer, Licht, Wärmeempfindungen, Bewegungen von Körpern u. s. w. begegnen und wir imstande sein wollen, diese Erscheinungen praktisch auszunut-
364 zen, und sie also uns irgend wie erklärlich machen müssen, ist es ganz selbstverständlich, daß wir sie erklären, beleuchten und uns verkörpern, indem wir uns dabei der konkreten, lebendigen Bilder unserer sinnlichen W a h r n e h m u n g bedienen, mit denen wir von unserer Sinneswelt vertraut sind. Nur auf diese Weise wird die unbekannte W e l t uns bekannt. Nur in dieser Weise können wir denken und wissenschaftlich erklären: das uns Unbekannte von dem uns Bekannten ableiten. Hier wird man jedoch genötigt, die Frage zu stellen: Welche dieser beiden Methoden — die visuelle: Partikeln in Bewegungen und Wellen, oder die kraftmäßige: Kräfte zwischen gewöhnlichen Körpern und zwischen Molekülen, Atomen u. Ä. — ist erkenntnistheoretisch die beste? Gegen den Begriff der K r a f t hat man bisweilen den Einwand erhoben, daß Kräfte in der Erfahrung nicht als Ursachen nachweisbar sind, und auch daß die moderne Naturwissenschaft nur mit Ursachen operieren dürfe, die in der Erfahrung nachgewiesen werden können. Man vergißt indessen zu untersuchen und zu bestimmen, was man eigentlich mit dem Ausdruck »Erfahrung« meint. W a s ist die Erfahrung denn? Die gewöhnlichste A u f f a s s u n g des Wortes ist, daß Erfahrung mit sinnlicher W a h r n e h m u n g identisch sei. Vermutlich hat der oben erwähnte Einwand das W o r t E r f a h r u n g in diesem Sinne gebraucht. Nun ist man allerdings nicht imstande, eine K r a f t zu sehen oder sonst wahrzunehmen (jedenfalls nur bei uns selbst). Aber dieser Einwand gegen den Kraftbegriff scheint nicht bemerkt zu haben, was ich oben zu zeigen versucht habe, nämlich daß gar keine Vorstellungen der modernen Naturwissenschaft von Prozessen im Inneren des Weltalls irgendwie »Erfahrung« im Sinne der sinnlichen W a h r nehmung darstellen. Sie sind alle ohne Ausnahme Übersetzungen dieser unbekannten Prozesse in eine Bildersprache aus der W e l t unsrer sinnlichen W a h r n e h m u n g . Z u Gunsten der Bilder des Gesichtssinnes, der Partikelauffassung, läßt sich dagegen hervorheben, daß hier eine Analogie von Umweltgegenständen (z. B. Sandkörnern) zu Umweltgegenständen (Molekülen) vorliegt (obgleich die letzteren oder die meisten von ihnen unserem Blick verborgen sind), während bei der Kraftvorstellung eine Analogie von einem inneren Zustand in uns selbst auf die Erscheinungen der Umwelt gebraucht wird. Und es ist natürlich sehr zweifelhaft, ob ein solcher Analogieschluß von unserem Krafterlebnis in uns selbst zu den Erscheinungen der Umwelt überhaupt berechtigt sei.
365 Ein anderer, gewichtiger Einwand gegen den Kraftbegriff besteht darin, daß der Begriff selbst sehr vage, unbestimmt und ungenau ist. Deshalb ist es verständlich, daß wir angesichts einer Reihe von Erscheinungen — Wärme, Elektrizität, Magnetismus u. a. — den Versuch gemacht haben, den unbestimmteren Begriff der Kraft mit einem anderen Wort, das in unseren Augen klarer und deutlicher ist: Kleinkörper in Bewegung, zu ersetzen. Aber wie wir oben gesehen haben, gelang es uns dadurch doch nicht, den Kraftbegriff aus der Welt zu schaffen — wir erreichten bloß, daß wir es anderswohin übertrugen — zur Adhäsionskraft zwischen Molekülen und Atomen, zur Bindungsenergie zwischen Protonen und Elektronen. Und solange der Kraftbegriff also noch immer in der uns unsichtbaren Innenwelt verwendet wird, scheint nichts dadurch gewonnen zu werden, daß man den Begriff der Schwer- oder Anziehungskraft in der sichtbaren Welt von Körpern — von Sternen bis zu den Sandkörnern und den lebenden Zellen — abschafft. Selbst wenn man — wie früher erwähnt — von gewissen Seiten vom Gedankengang der Relativitätstheorie aus versucht hat, den Begriff der Kraft (in diesem Fall den der Anziehungskraft) durch die anschaulichen, geometrischen Eigenschaften der Raum-Zeit abzulösen, hat man doch nicht vermocht, den Kraftbegriff bei den erwähnten, elektrodynamischen Erscheinungen des Universums zu ersetzen. Und eben diese Phänomene beziehen sich auf den innersten Aufbau des Weltalls. Die Relativitätstheorie führt in ihrer letzten Konsequenz dazu, daß wir den Satz von der Konstanz der Menge und der Konstanz der Energie im Universum nicht mehr von einander getrennt halten können, sondern genötigt werden, diese beiden in denselben Einheiten auszudrücken und uns zu der Feststellung einzuschränken, daß die gesammelte Menge und Energie konstant sei. Weiter muß hervorgehoben werden, daß das Licht gemäß der Quantentheorie von Planck unter verschiedenen Beobachtungsumständen als Wellen oder als Emission, nicht von Partikeln, sondern von Energiequanten aufgefaßt werden kann. Aber dieser Begriff selbst: das Wirkungsquant, das Energiequantum, ist eine Vorstellung von den analogischen Übersetzungsvorstellungen des Kraftsinnes und des Gesichtssinnes. Denn die Vorstellung des Quants entstammt, wie früher erwähnt, dem Gesichtssinn, dem Anblick des Umfanges sichtbarer Gegenstände, während die Energievorstellung unserer Kraftwahrnehmung entspringt. Dank der neuesten Elektronmikroskope ist es gelungen, die größten Moleküle zu sehen. Wenn es uns einst gelingen sollte Mikroskope
366 herzustellen, durch die wir mit unserem Gesichtssinn instand gesetzt werden, alle Moleküle und Atome zu beobachten, sie also direkt zu sehen, würde das einen großen Sieg der visuellen Übersetzungsmethode bedeuten. Aber selbst damit hätten wir das Welträtsel nicht gelöst — es würde in der Natur noch immer unbekannte Prozesse geben, zu deren Erklärung wir die kraftmäßige und die visuelle Übersetzungsmethode nötig haben. Eine solche unmittelbare Beobachtung der Moleküle und Atome würde lediglich bedeuten, daß sowohl unsere tägliche, sichbare Welt als die kleinste, mittels des Mikroskops sichtbare Welt, die Welt der Moleküle und Atome, deutlich als Körper und ihre Bewegungen aufgefaßt werden könnten. Zur Erklärung der Bewegungen von Körpern in der dem Auge sichtbaren Welt und in der durch Hilfe des Mikroskopes beobachtbaren Welt und bei der Bewegung und der Adhäsion der letzten Atomelemente hat man aber bisher innere Kräfte angenommen.
Die Uneinigkeit zwischen Bohr und Einstein betrifft nicht den inneren Aufbau des Atoms und seiner Elemente: den Atomkern und die Elektronen. Es herrscht auch Einigkeit darüber, daß die Elektronen sich im normalen Zustand des Atoms in stationären Bahnen bewegen, daß sie aber hin und wieder von der einen Bahn in die andere wechseln, daß diese Übergänge bisher nur mit einer gewissen, statistischen Häufigkeit und nicht in irgend einem ursächlichen Zusammenhang (Kausalität) berechnet werden können und daß dasselbe für die Losreißung der Alpha- und Betha-Partikeln von den radioaktiven Stoffen gelte. Aber während Bohr, wie früher erwähnt, meint, daß man nicht imstande sei, über das Zufällige im Auftreten der Partikeln hinaus eine Bestimmung dieses Benehmens durch die Kausalität, durch Raum und Zeit zu erreichen, war Einstein entgegengesetzt der Ansicht, daß diese Grundbegriffe der klassischen Physik sich doch letzten Endes auch zur Erklärung der atomaren Prozesse anwenden lassen würden. Wie oben bereits gezeigt wurde, wissen wir in der Tat gar nicht, was ein gesetzmäßiger Zusammenhang eingentlich darstellt. In dieser Beziehung sind statistische Häufigkeit und gesetzmäßiger Zusammenhang gleichgestellt. »Ursache« und »Wirkung« sind, wie ich oben erwiesen habe, nur anthropomorphe Begriffe, indem wir uns populär vorstellen, daß das Phänomen a ein anderes Phänomen b »verursache«, »hervorbringe« oder »bewirke«, während wir in Wirklichkeit nichts
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davon wissen. Bei den sogenannten Kausalzusammenhängen sind wir tatsächlich nur imstande zu beobachten, daß eine Änderung a einer anderen Änderung b vorausgehe und daß a in der für uns sichtbaren Welt stets von b begleitet werde. Selbst wenn wir alle Änderungen vereinfachen und sie zu Bewegungen zwischen Körpern reduzieren, beobachten wir also nur, daß die Bewegungen eines Körpers a von den Bewegungen eines anderen Körpers b gefolgt werden — entweder durch »Stoß«, also indem a sich zu der Stelle bewegt, an der b sich befindet, oder indem a sich im Räume um b und zwar in einem gewissen Abstand von b bewegt. In keinem Falle beobachten wir irgend eine »Ursache« oder »Kraft« als Erklärung dieser Bewegungen, wie wir es ja auch bereits hervorgehoben haben. Eine solche Erklärung wäre Metaphysik, eine übersinnliche, mystische Erklärung, die nichts mit Wissenschaft zu tun hätte. Erkenntnismäßig betrachtet ist der gesetzmäßige Zusammenhang in den Bewegungen der für uns sichtbaren Körper nicht besser, als der statistisch häufige Zusammenhang im Auftreten der unendlich kleinen, atomaren Elemente. Aber der gesetzmäßige Zusammenhang verleiht uns eine bessere praktische Orientierung als der statistisch häufige Zusammenhang, und damit auch bessere Möglichkeiten einer praktischen Ausnutzung von den Körpern und ihren Bewegungen in einer für uns Menschen zweckmäßigen Weise. Alle Bewegungen der für uns sichtbaren Körper ereignen sich innerhalb von Raum und Zeit und sind für uns nur innerhalb dieser denkbar. Erkenntnismäßig wissen wir aber auch von dieser zeit-räumlichen Beziehung gar nichts. Auch sie gibt uns lediglich eine praktische Orientierung in der uns umgebenden Welt und mit Bezug auf die Bewegungen ihrer Körper und gleichfalls die Bedingungen für eine in unserem Sinne zweckmäßige Ausnutzung dieser. Ein Versagen der zeit-räumlichen Relation in den atomaren Prozessen würde uns deshalb eine geringere Orientierung und damit geringere Bedingungen für die Ausnutzung, aber auch eine geringere Erkenntnis im gewöhnlichen Sinne geben. Sollte es sich auch in der Zukunft zeigen, daß der gesetzmäßige Zusammenhang und die raum-zeitliche Beziehung in den atomaren Prozessen sich nicht — wie Einstein es geglaubt hat — durchführen ließen und der Dualismus Partikel-Welle nicht zu überwinden wäre, ist es eine Frage, ob die visuelle Übersetzungsmethode auf diesem Gebiete versagt habe. Diese Methode, laut welcher wir nach der Analogie von den Bewegungen der von uns wahrnehmbaren Körper all-
368 m ä h l i c h z u m V e r s t ä n d n i s der W ä r m e , der E l e k t r i z i t ä t , des Magnetism u s , der L i c h t - u n d der R ö n t g e n s t r a h l e n u n d sogar der R a d i o a k t i v i t ä t u n d d a m i t v o n den B e w e g u n g e n der v o n u n s b e o b a c h t b a r e n K ö r p e r z u n ä c h s t z u m V e r s t ä n d n i s der B e w e g u n g e n der Moleküle, später v o n denen der n o c h k l e i n e r e n P a r t i k e l n u n d w i e d e r u m noch später z u denen der k l e i n s t e n A t o m t e i l e g e l a n g t sind, m ü ß t e n w i r d a n n vielleicht a u f g e b e n u n d d a m i t a u c h die M ö g l i c h k e i t d a s B e n e h m e n der letzten E l e m e n t e zu begreifen. D a n n ist es allerdings eine F r a g e , ob w i r nicht andere W e g e z u r E r k l ä r u n g der inneren A t o m p r o z e s s e des U n i v e r s u m s s u c h e n m ü s s e n als diese Methode. D e n n die w ü r d e j e d e n f a l l s versagt haben, w e n n der Glaube E i n s t e i n s n i c h t s c h l i e ß l i c h r e c h t bekäme*). Die k r a f t m ä ß i g e Ü b e r t r a g u n g gibt u n s ü b r i g e n s a u c h keine endgültige L ö s u n g , w a r aber bisher e b e n f a l l s n u r als p r a k t i s c h e O r i e n t i e r u n g u n d als eine f ü r die p r a k t i s c h e A u s n u t z u n g a n w e n d b a r e U m s c h r e i b u n g bei B e g r i f f e n w i e d e m der E n e r g i e , d e m einer G r ö ß e mit einer a n d e r e n m u l t i p l i z i e r t u. Ä., b r a u c h b a r .
*) Es hat sich übrigens gezeigt, dass es außer der bisher verwendeten kleinsten Atomelemente — der Protonen, Elektronen, Neutronen und Photonen — noch weitere andere Elemente geben muss. Es ist festgestellt daß eine durchdringende Strahlung aus dem Universum kommt, der man den Namen »kosmische Strahlung« gegeben hat. Während der Erforschung, woraus diese Strahlung besteht, hat man entdeckt, dass es auch Partikeln gibt, die den Elektronen ähnlich sind, aber eine positive Ladung haben — man hat sie Positronen genannt — und wiederum andere Partikeln, die Mesonen genannt werden, die ebenfalls in der kosmischen Strahlung vorhanden sind. Bei einer neulich stattgefundenen Tagung einer Reihe der bedeutendsten Forscher innerhalb der Physik der Gegenwart (lauter Nobelpreisträger der Physik) wurde festgestellt, daß man sich damit begnügen müsse, die obenerwähnten neuen Atomteile und mehrere andere zu registrieren, und daß man die Hoffnung aufgeben müsse, sie zu verstehen, da die neuen Atomteile nicht in die Rahmen hineinpassen, die durch Einsteins Relativitätstheorie, Plancks Quantentheorie oder Heisenbergs Quantenmechanik festgelegt sind. Wahrscheinlich muß man jetzt ganz neue wissenschaftliche Erklärungen finden, die vielleicht eine Revolution bedeuten und die physischen Gesetze völlig umwandeln werden. Der angesehene Atomforscher Otto Hahn — der als erster den Atomkern des Urans zertrümmerte — räumte bei dieser Tagung der Naturforscher ein, daß er vom Neuen nicht sehr viel verstehe. Man habe — so sagte er — sich so tief in die kleinsten Teile des Universums hineingearbeitet, daß das menschliche Gehirn zu versagen beginnt.
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Soweit ich sehen kann gibt es keinen anderen Weg als: innerhalb der Naturwissenschaft nur dasjenige zu suchen, was die bestmögliche praktische Orientierung im Univers und damit auch auf dieser Grundlage die bestmögliche, praktische Ausnutzung der Begebenheiten im Universum als zweckmäßige Mittel zur Erreichung von Ergebnissen gibt, die dem Wohl der Menschheit dienen. Das Problem bleibt dann noch immer dieses: gibt es andere Erklärungen, die unsrer praktischen Orientierung innerhalb des Universums und der Ausnutzung desselben dienen, als die visuelle und die kraftmäßige Übersetzung? Eine wirkliche Erkenntnis des Innersten des Universums ist unmöglich. Sie ist ein Traum, den die Wissenschaft nicht verwirklichen und die nur ein Dichter erträumen kann, wenn er — wie einst Goethe — seinen Faust durch seine Forschung hoffen läßt: »Daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält . . . «
24 Erkenntnis und Wertung
3. A B S C H N I T T
DIE ETISCHE, Ä S T H E T I S C H E UND RELIGIÖSE WERTUNG
14. Kapitel
DIE ETHIK i DIE INDIVIDUELLE
ETHIK
Die individuelle Ethik muß zunächst eine seelische Gesundheitslehre sein, eine seelische Heilwissenschaft, und sie muß deshalb mit der Medizin in der engeren Bedeutung dieses Begriffes zusammenarbeiten und ihre Erfahrungen verwerten. Danach muß sie sich aber auch auf eine andere Erfahrungswissenschaft, nämlich die Phychologie, stützen. E s gab bisher auf diesem, wie auf vielen anderen Gebieten eine viel zu starke Spezialisierung innerhalb der modernen Wissenschaft. Bornierte, wissenschaftliche Zunftgrenzen und kleinliche Selbstbehauptungen der einen Fachwissenschaft der anderen gegenüber haben trennende Mauern aufgebaut, die den Überblick über die gesamten E r fahrungen der Menschheit auf den verschiedenen Gebieten hemmten. Ein Zusammenarbeiten der Erfahrungen innerhalb dieser mannigfaltigen Bezirke wird meiner Ansicht nach eine nüchterne und lebensmäßig begründete Ethik, damit aber auch feste Grundsätze für die Lebensführung des Menschen schaffen können, während die moralische Verwirrung und Auflösung der gegenwärtigen Zeit meiner Meinung nach gegen die experimentale Erfahrung oder das Wissen streitet, das die verschiedenen Fachwissenschaften uns in ihrer Zusammenarbeit und in Verbindung mit den Lebenserfahrungen der Menschheit durch Jahrtausende zu geben vermögen. Selbst innerhalb der einzelnen Fachwissenschaften, wie z. B. der Medizin, sind engbegrenzte Zünfte entstanden, eine weit ausgedehnte Parzellierung der wissenschaftlichen Arbeit in eine Menge Spezialwissenschaften. Und obgleich warnende Stimmen gegen diese übertriebene Fachspezialisierung sich sogar innerhalb der Medizin selbst erhoben haben, wird die Tendenz weitergeführt. W e n n eine Spezialwissenschaft z. B. die Gichtkrankheiten, die Hautkrankheiten, die Hals-, Ohren- und Nasenkrankheiten behandelt, würde es in allen Fällen, in denen eine Spezialbehandlung versagt, erwünscht sein, daß Material zur Beleuchtung des zentralen Problemes gesammelt werde,
374 nämlich, ob das lokale Leiden nicht in einer gewissen tieferen Kausalverbindung mit dem ganzen und allgemeinen Zustande des Organismus, einer gewissen generellen Schwächung in Verbindung stehe, und ob diese vielleicht die Folge einer falschen Lebensweise sei. Die neueste Vitamin- und Hormonforschung hat allerdings angefangen, an den Zunftmauern zu rütteln. Es sind jedoch nicht nur Fehler der Ernährung, des Stoffwechsels u. s. w., die im tiefsten Ursachenzusammenhang zu örtlichen Krankheiten führen können. Man muß zu einer genaueren Untersuchung des Problemes schreiten, ob eine Änderung der Lebensführung selbst, wie z. B. die Einführung einer anderen Arbeitsweise, eine andere Einteilung des Arbeitstages, eine Abwechselung zwischen geistiger und körperlicher Beschäftigung, eine größere Beherrschung auf gewissen Gebieten u. ä., imstande sein würde, Besserungen oder sogar Heilung örtlicher Krankheiten hervorzurufen, die keine Spezialbehandlung — sei es von Haut, Hals, Darm oder Herz — hätte herbeiführen können. Im großen Ganzen gibt es innerhalb der Grenzgebiete zwischen Physiologie, Psychologie, Medizin und Ethik besonders in bezug auf das zentrale Problem ein großes Gebiet, das noch nicht bearbeitet worden ist: nämlich der Einfluß der persönlichen Lebensführung auf die einzelnen Krankheiten, ihre Entstehung, ihr Wachstum und ihre Heilung. Die ärztlichen Spezialisten würden von den großen Erfahrungen aus, die sie auf den verschiedenen Gebieten gemacht haben, sehr Vieles zur Beleuchtung dieses für die gesamte Menschheit lebenswichtigen Problemes beitragen können. Künftig dürfte überhaupt keine Heilkunde, sei sie noch so allgemein oder spezialisiert, von der seelischen Heilkunde, von der Psychologie und der Ethik, getrennt werden. Die Medizin der Gegenwart ist sich bereits bewußt, daß Nervenkrankheiten, Herz- und Nierenkrankheiten, Harnruhr und verschiedene andere Krankheiten durch rein seelische Leiden, durch Sorgen, Gram, Reue u. ä. verschlimmert werden können. Aber es wäre vermutlich möglich, tiefgehende neue Erfahrungen, die ein Licht auf die oft sehr verwickelten Kausalzusammenhänge einer Krankheit werfen könnten, durch eine Erforschung der seelischen Vorgeschichte vieler Kranken zu erzielen. Lang andauernde Trauer über den Tod eines Nahestehenden, Gram über ein verfehltes Lebensziel, Reue über ein zerstörtes Leben, sind oft die tiefsten Ursachen nicht nur von Nervenleiden, sondern auch von körperlichen Krankheiten, da die seelischen Leiden in vielen Fällen die Widerstandskraft des Körpers untergraben und den Organismus schließlich zu einer leichten Beute von Krankheiten in lebenswich-
375 tigen Organen machen. Der Arzt müßte deshalb stets — und nicht nur zufällig hin und wieder, wie es jetzt der Fall ist — danach streben, gleichzeitig ein Seelsorger zu sein. Der rein ärztlichen Diagnose müßte er eine seelische, psychologisch-ethische hinzufügen. Es wäre auch seine Pflicht, bedeutende Kenntnisse auf dem Gebiete der Psychologie und eine daran geknüpfte ethische Einsicht zu erwerben. Umgekehrt müßten die Theologen statt eines relativ wertlosen grammatisch-sprachlichen Wissens auf dem Gebiete des Griechischen und des Hebräischen und statt etwas Exegese und Dogmatik Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologie lernen, um dadurch besser instand gesetzt zu werden, im wahren Sinne Seelsorger der vielen unglücklichen Menschen zu werden, die auch sie auf ihrem Lebenwege treffen. Ferner kann die Medizin und die individuelle Ethik nicht von der sozialen Ethik und von der Rechts- und Gesellschaftslehre getrennt werden. Zahllose Menschenschicksale scheitern an einer ungerechten Gesellschaftsordnung, an einer unglücklichen, rechtlichen Einrichtung bald des einen, bald des anderen Lebensverhältnisses. Dank der freien Konkurrenz der liberalistichen Rechtsordnung und dem freien Recht anzustellen und zu entlassen werden nicht nur untaugliche, sondern auch tüchtige und gewissenhafte Menschen aus ihrem Erwerb gerissen. Das Leben zahlreicher Menschen wird zerstört und ihre Gesundheit durch solche Katastrophen untergraben, an denen eine falsche Gesellschaftsordnung die Schuld trägt. Deshalb darf es auch keine trennenden Fachmauern zwischen solchen Wissenschaften wie der Medizin, der individuellen Ethik und der Rechtslehre geben. Zwischen den Erfahrungen dieser Wissenschaften müßte eine sorgfältige Auswahl stattfinden. Der Gesetzgeber muß sich auf diesen Gebieten auf die Erfahrungen der Ärzte, der Pfarrer, der Advokaten und anderer Seelsorger stützen.
1. K Ö R P E R L I C H E U N D G E I S T I G E
GESUNDHEIT
Die Erfahrungen der Medizin in bezug auf die Wirkung gewisser Genußmittel auf den Organismus und auf dem Gebiete der Ernährung überhaupt geben bereits eine feste Erfahrungsgrundlage für einen großen Teil der individuellen Ethik. Der Verzicht auf Genußmittel wie Opium, Kokain u. s. w., Beherrschtheit im Genuß von Alkohol und Nikotin, sind erforderlich, wenn die Gesundheit des Organismus nicht gestört werden soll. Daß übermäßiges Essen die Gesundheit schwächt, ist sowohl durch die ärztliche Erfahrung als auch durch
376 die Praxis der Lebensversicherungen festgestellt, die mittels ihrer umfassenden Statistik eine größere Sterblichkeit bei Personen mit zu hohem Gewicht konstatieren. Die sexuellen Genüsse bilden keine Ausnahme von diesem Grundgesetz der Selbstbeherrschung. Der Umstand, daß eine gewisse, begrenzte Gruppe seelischer Krankheiten, besonders die Hysterie, in mehreren Fällen durch eine Verdrängung des Geschlechtstriebes in einer gewissen bestimmten Periode verursacht sein kann, berechtigt nicht zu der gewaltigen Generalisierung, deren eine Richtung, die eine Zeit lang Mode war, sich schuldig machte, als sie behauptete, nur ein ungehemmtes Geschlechtsleben, wie dasjenige der primitiven Völker, sei gesund, und eine Selbstbeherrschung auf diesem Gebiete ungesund. Ganz entgegengesetzt ist durch mannigfache Erfahrungen bestätigt worden, daß eine Beherrschtheit dieses sowohl als auch anderer Triebe in Verbindung mit körperlicher oder geistiger Arbeit eine gute Grundlage für die Gesundheit und für die Widerstandskraft gegen Krankheiten bildet. Selbstbeherrschung auf dem letztgenannten Gebiete ist außerdem auch unentbehrlich in einer jeden Kulturgemeinschaft, schon allein deshalb, weil sonst soziale Unordnung und Unglück für viele Menschen unvermeidlich sind. Das Schicksal der unverheirateten Mütter und ihrer Kinder zeugt zur Genüge davon, welch individuelles und gesellschaftliches Unglück durch die ungehemmten Triebe dieser Art entsteht.
2. E R W E R B S T Ü C H T I G K E I T .
CHARAKTER
Schließlich gibt es ein unbeachtetes, aber gewaltiges und allseitiges Material von Erfahrungen, die den Wert der Beherrschtheit nicht nur in bezug auf diesen Trieb, sondern auf alle materiellen Triebe, und damit den Wert jener Arbeitsamkeit zeigt, die an Stelle der Triebe tritt oder sie jedenfalls begrenzt. Das Erwerbsleben und die juristische Praxis liefern eine einzige Reihe sachlich gewichtiger Zeugnisse davon, daß die Eigenschaften, die wir in ihrer Gesamtheit Charakter in qualitativer Bedeutung nennen, d. h. Fleiß, Genügsamkeit, Sparsamkeit, Mäßigkeit, fachliche Tauglichkeit, die tieferen Ursachen der meisten gesellschaftlichen Unterschiede sowohl in bezug auf Einkommen als auch auf Vermögen sind, und daß eben diese entscheidenden Charaktereigenschaften die Gesellschaft tragen. Die sozialen Unterschiede zwischen den Menschen sind — wie ich an anderer Stelle zum Ausdruck gebracht habe — in den meisten Fällen nicht durch die Macht über Andere, sondern durch die Macht über
377 sich selber geschaffen. Diese innere Macht oder Beherrschtheit, die allen diesen Charaktereigenschaften zugrunde liegt, bildet die Grundlage einer jeden Kulturgemeinschaft. Die Theorien von freier, sexueller und anderer Lebensentfaltung, die der sogenannte Realismus in der Literatur und in der Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert lehrte, haben deshalb keine Wurzeln in der Erfahrung. Die angeführten, gesundheitsmäßigen, erwerbswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründe enthüllen klar den überlegenen Wert der ethischen Lebensführung in charaktermäßiger Beziehung im Gegensatz zu der unethischen. Es sind jedoch nicht nur die praktischen Erfahrungen der Gegenwart, die das beweisen. Die Erlebnisse der Menschheit innerhalb der geschichtlichen Zeit stellen auch eine endlose Reihe von Beweisen für den Sieg der moralischen Charaktereigenschaften im Lebenskampfe dar. Man hat bisweilen als Ideal der Lebensführung auf das Dasein der primitiven Völker hingewiesen, die auf den Südsee-inseln in ungehemmten Triebleben vegetieren. Diese Volksstämme weisen indessen keine Entwickelung, sondern nur Stillstand durch Jahrtausende auf. Es sind nicht diese Völker, die die Kultur geschaffen haben. Sie sind es nicht, die die Menschheit zu der hohen Stufe der Technik, der Wissenschaft, der Kunst und der gesellschaftlichen Organisation gebracht haben, die allen Kulturvölkern der Gegenwart gemeinsam sind. Das haben jene Völkerstämme getan, die die Herrschaft über einen geringen Teil der Erde, Europa, gewonnen, und die, im Kampfe gegen dessen innerhalb weiter Gebiete barsche und kalte Natur eine Härte, eine Arbeitsamkeit, eine Ausdauer und eine Beherrschtheit gezeigt haben, die nicht nur diesen kleinen Weltteil bewohnbar und fruchtbar machten, sondern auch eine so hoch entwickelte Technik, Wissenschaft und Gesellschaftsform schufen, daß diese sich denen der anderen Völker überlegen zeigte und später die Herrschaft über Amerika, Afrika, Australien und große Teile Asiens errang. Desselbe gilt jenen Stämmen, die in Asien bereits sehr früh eine bedeutende Geisteskultur hervorbrachten (wie Indien und China). Diejenigen Charaktereigenschaften aber, die überhaupt die reiche kulturelle Entwickelung der menschlichen Rasse geschaffen haben, nämlich Arbeitsamkeit, Ausdauer, Genügsamkeit u. ä. und die schöpferische Begabung, die jene Eigenschaften verwertet hat, sind alle ohne Ausnahme nur durch eine entsprechende Verdrängung und Beherrschung der körperlichen Triebe innerhalb der menschlichen Natur entstanden. Neue Lebenstypen im Dasein entstehen ja — wie die neuere Bio-
378 logie festgestellt hat — im Laufe der pflanzlichen und tierischen Entwickelung nicht nur infolge der äußeren Verhältnisse und der stufenweise Anpassung der Organismen an diese, sondern weil etwas Neues aus bisher ungeklärten Ursachen durch stoßweise Änderungen oder Sprünge sich aus dem Urgründe des Lebens selber erhebt, eine neue Lebensform also, von der es sich zeigt, daß sie sowohl durch Anpassung, als auch durch Beherrschung der äußeren Verhältnisse die Macht über diese erringt, und daß sie anderen Typen überlegen ist. Als der Mensch sich während der Entwickelung der Tierwelt als neuer Lebenstyp im Dasein und auf der Erde zeigte, war das neue Moment innerhalb der organischen Entwickelung, daß der Mensch sich sowohl geistig als buchstäblich erhob, instinktiv die Entwickelung der höheren Organe durch Verdrängung oder Beherrschung der niederen vorzog, die Herrschaft über die Natur gewann und allmählich ganz neue Werte in die Welt setzte: Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Die Menschen hätten niemals diese Werte ohne die Entwickelung eines vierten Kulturwertes erreicht, den ich im Vorhergehenden in dem Wort Charakter zusammengefaßt habe. Der Artstypus des Menschen erreichte nicht jene kulturelle Entwickelung, die ihm den Vorsprung vor den Tieren und die Herrschaft über die Natur verlieh, durch eine Entwickelung der Verdauungs- und Geschlechtsorgane, sondern durch eine ständige Verfeinerung des höchsten Organes, nämlich des Gehirns und dessen besondere Spähorgane der Umwelt gegenüber, Auge und Ohr. Der Mensch hat im Vergleich zu allen Tieren das größte Gehirn, sowohl wenn man das relative Gewicht (im Verhältnis zum Körper) als auch das absolute Gewicht in Betracht zieht. Er hat ebenfalls die meisten und die am feinsten entwickelten Gehirnwindungen. Als der Mensch den aufrechten Gang lernte und er deshalb nicht mehr nötig hatte, seine Hände zu verwenden, um den Körper rein mechanisch in Bewegung zu halten, sie also für allerlei Arbeit in der umgebenden Natur frei bekam, begann jene intensive Zusammenarbeit zwischen den Händen und dem Gehirn des Menschen, die bereits in der allerältesten Vergangenheit Werkzeuge und W a f f e n schuf, und die später allmählich alles Handwerk, alle Arbeit mit dem Boden, allen Verkehr und noch später mittelbar und unmittelbar eine jede Technik, jede Kunst, jede Wissenschaft und jede Gesellschaftsorganisation schuf. Aristoteles suchte herauszufinden, was dem Menschen im Gegensatz zu den Tieren eigentümlich sei, und bemerkte, daß dies nicht in dem niederen sinnlichen Leben, das wir mit den Tieren gemeinsam hätten, sondern in einer seelischen Tätig-
379 keit, in der Vernunft, zu finden sei. Der Natur nach sei das Vernunftsleben das dem Menschen Eigentümliche, weil die V e r n u n f t eigentlich der Mensch selber sei. W a s Aristoteles hier andeutet, ist richtig: der Mensch ist als Lebenstypus innerhalb der Entwickelung der Organismen nur durch das Leben der Seele und des Geistes, durch das W a c h s t u m der höchsten Organe und deren Verdrängung und Beherrschung anderer gekennzeichnet. Goethe sagt (im Gedicht »Die Geheimnisse«): »Wenn einen Menschen die Natur erhoben, ist es kein Wunder, wenn ihm viel gelingt; man muß in ihm die Macht des Schöpfers loben, der schwanken Thon zu solcher Ehre bringt; doch wenn ein Mann von allen Lebensproben die sauerste besteht, sich selbst bezwingt, dann kann man ihn mit Freuden andern zeigen und sagen: Das ist er, das ist sein eigen!« Vieles ist dem Menschen gelungen, seitdem er durch den Sprung in der organischen Entwickelung in fernster Urzeit über die Umwelt erhoben wurde und seitdem er allmählich durch Leiden, Drangsal und Arbeit sich seinen eigenen, f ü r ihn eigentümlichen Lebenstypus errang. Vieles wird ihm künftig gelingen, wenn diese Linie festgehalten wird. Aber die Naturgewalt der vorigen Lebensstufe hindert und hemmt die Menschen stets auf ihrem W e g e nach höheren Lebensformen. 3. P H S Y C H I S C H E N A T U R G E S E T Z E F Ü R LUST UND U N L U S T Eines ist indessen, daß der Mensch sowohl seiner Gesundheit wegen, als auch im Erwerbskampfe und in dem kulturellen Ringen der gesamten Menschheit dem W e g e der Befreiung und der Beherrschtheit folgen muß. Ein Anderes aber ist es: m u ß man diesen W e g nicht auf Kosten des Lebensgenusses und des Glückes gehen? Die Ethik kann, wie ich anfangs hervorhob, sich an erster Stelle nur mit den notwendigen Bedingungen beschäftigen, unter denen die Menschen überhaupt glücklich werden können, also mit der körperlichen und geistigen Gesundheit, den dazu und für den Lebenskampf notwendigen Charaktereigenschaften und der Sicherung des Menschen gegen Schaden von der Seite anderer Menschen. W e n n wir aber auf die Frage des Genusses oder des Glückes eingehen, befinden wir uns rein wissenschaftlich gesehen auf unsichererem Grunde, teils weil
380 die Ansichten der Menschen mit Bezug auf das, was man Glück oder Genuß nennt, so individuell verschieden sind, und teils weil eine wirklich wissenschaftlich-psychologische Untersuchung der Bedingungen für die Entstehung des Genusses oder des Glücks noch nicht durchgeführt worden ist — man begegnet Beiträgen hierzu nur auf einzelnen verstreuten Gebieten. Die folgende Darstellung soll ein Versuch sein, rein objektiv zu gewissen Grundlinien einer solchen Wissenschaft zu gelangen. Bisweilen muß man sich mit Andeutungen begnügen, die aber auch oft eine bessere Anleitung als bestimmte Regeln oder Gebote zu geben vermögen. Der Mensch hat sich als neuer Lebenstyp unwiderstehlich durchgesetzt ohne bewußt nach menschlichem Genuß oder Glück zu fragen. Aber dieser Durchbruch muß dennoch die menschlichen Lebensbedürfnisse befriedigt haben, und es ist wahrscheinlich, daß die Gesamtsumme der Lustgefühle der siegenden Lebenstypen während dieser Entwickelung letzten Endes die Leiden, die Mühen und die Kämpfe überstieg. Das intensive Lustgefühl oder das Glück nach überstandenen Kämpfen und Mühen, das dadurch entsteht, daß Einem etwas gelungen ist, wiegt ja oft alle früheren Leiden während der Kämpfe und der Arbeit auf. Das gilt sowohl der gebärenden Mutter, deren Glück am Kinde die überstandenen Qualen weit überwiegt, als auch Jedem, der schwer arbeitet und als Enderfolg ein Werk schafft, gleichgültig ob es ein Werk der Hand oder des Geistes sei. Das intensivste Glück scheint oft erst auf dem Hintergrund des größten Leidens zu entstehen. Die Natur versteht es, die Menschen in dieser Weise in das Wachstum und die Entwickelung des Lebenstypus hineinzuloclten. Aber es macht sich auch ein anderer, eigentümlicher Umstand geltend. Die Genüsse, die auf den niederen Organen beruhen, wie die Geschmacks- und Geschlechtsgenüsse, schenken kein ungetrübtes Glück. Hier gilt, was ich das erste Naturgesetz des Genußlebens nennen möchte: 1) daß die Dauer des Genusses im umgekehrten Verhältnis zu seiner Intensität steht. Es entsteht damit ein leerer Raum in diesem Genußkomplex. Diese Leere kann nur durch andere Arten von Genüssen oder andere Formen der Genüsse innerhalb dieses Komplexes ausgefüllt werden. Dadurch entsteht, was ich das zweite Naturgesetz des Genußlebens nenne: 2) das Gesetz der Abwechslung: über je mehr Arten des Genusses oder der Glücksquellen ein Mensch verfügt, umso größere Möglichkeiten hat er für dauernde Glückzustände. Eine gewisse Abwechslung kann innerhalb der einzelnen Genußarten,
381 z. B. der Geschmacks- oder der Geschlechtsgenüsse oder des Komplexes beider, erzielt werden. Lustgefühle durch Raffinements innerhalb dieses Komplexes nehmen allerdings schnell an Intensität ab und hinterlassen eine stark unlustbetonte Leere, ganz abgesehen davon, daß sie der Gesundheit schädlich sein können. Andere Glücksquellen müssen also in den Abwechslungsvorgang miteinbezogen werden, und auf diesem Gebiete gibt es nur die Genüsse oder Freuden, die an die höheren Organe — das Auge, das Ohr und das Gehirn — geknüpft sind. Es kann hierüber zweierlei angeführt werden, nämlich daß die höheren Organe dank ihrer Entwickelung nicht nur die Sieger im Lebenskampfe und für die Gesundheit und für die Eroberung der Natur entscheidend, sondern auch Quellen intensiven Genusses und Glücks sind, und daß sie bei einer Gesamtbilanz der Lust und der Unlust jenen Genüssen, die an die niederen Organe geknüpft sind, überlegen zu sein scheinen. Piaton bemerkt, daß Lustgefühle durch schöne Farben und Gestalten, schöne Töne und Düfte, und solche, die beim Erkennen entstehen, reine Lustgefühle seien, also solche, die weder Unlust noch Schmerzen in sich bergen. Piaton hat hier, wie man sieht, die vielen Freuden an Kunst und Wissenschaft im Auge, und wir können die Freude an jeder geistigen oder körperlichen Arbeit, an jedem schöpferischen Einsatz und die rein seelischen Freuden beim Zusammenleben mit Menschen hinzufügen, die geistig oder seelisch verwandt sind. Den Freuden oder Genüssen, die jenen Bereichen angehören, die man kurz »geistig« nennen kann, ist eigentümlich, daß die Möglichkeiten der Abwechslung außerordentlich groß sind, und daß die seelischen Leerräume in entsprechend hohem Maße begrenzt werden können, und zwar in um so höheren Maße, je größere Anlagen der betreffende Mensch in bezug auf diese seelischen und geistigen Glücksquellen entwickelt hat. Schon wenn man das Gebiet der Kunst — der gesamten bildende Kunst und der Tonkunst — betrachtet, wird man bemerken, daß die Möglichkeiten der Abwechslung fast unbegrenzt sind. Für alle höheren Gebiete in ihrer Gesamtheit kann man aber vermutlich das folgende Gesetz im Verhältnis zu anderen Gebieten aufstellen: 3) daß die Intensität des Lustgefühles bei den an das Gehirn und die höheren Sinnesorgane, vor Allem an das Ohr und das Auge geknüpften Genüsse oder Freuden nicht — wie es bei den mit den niederen Organen verbundenen Genüssen der Fall ist — im Verhältnis zu den physischen Einwirkungen auf den Körper steht,
382 da die körperlichen Betriebskosten bei der Verwendung der höheren Organe sehr klein sind, daß sie sowohl dadurch als infolge des Entwikkelungsreichtums der höheren Organe an verschiedenartigen Eindrükken sehr viel größer ist, denn bei den materiellen Genüssen, und daß die seelischen »Leerräume« deshalb um ein vielfaches weniger werden, als bei den letztgenannten. Dank dieser Verhältnisse werden selbst die stärksten und abwechslungsreichsten seelischen und geistigen Freuden in der Regel nicht durch Verlust oder Verringerung der Gesundheit, durch Schwächung im Ringen um das Dasein und mit den darauf folgenden Enttäuschungen über verfehlte Lebensziele bezahlt. Gewiß hat Piaton dies vor Augen, wenn er — wie bereits erwähnt — anführt, daß die Genüsse, die an höhere Organe geknüpft sind, keinen Schmerz und kein Leid in sich bergen, was mit den niederen Genüssen so oft der Fall ist. Die menschlichen Freuden oder Arten des Glücks scheinen also in weitem Umfange frei von Leiden zu sein, im selben Maße wie sie von Begierde befreit sind. Die Kunst, die Erkenntnis und das seelische Gemeinschaftsgefühl enthalten kein körperliches Begehren.
Die großen Religionen enthalten neben ihrer Weltanschauung eine tiefe Erfahrung und eine eben so tiefe Einsicht in das Menschenleben selbst. Das Christentum und der Buddhismus hegen verschiedene Ansichten vom Jenseitigen, aber in ihrer Betrachtung der Bedingungen des Menschenlebens sind sie zu demselben Ergebnis gekommen, das ein besonderes Gewicht dadurch erhält, daß sie von verschiedenen Begründungen aus das gleiche Resultat erreicht haben. Sie sehen beide in der materiellen Begierde das große Hindernis, das dem Glück der Menschheit und dem Erreichen des höchsten Zieles entgegensteht. Ob man nun, wie das Christentum, dies höchste Ziel in einem Zustande ewiger Seligkeit, oder, wie der Buddhismus, in jenem schwer definierbaren Zustande, den man Nirwana nennt, sieht, so bleibt doch für beide Religionen die Befreiung der Menschheit von der Begierde die Bedingung, die es allein ermöglicht, dieses letzte Ziel zu erreichen. Die Begierde nach materiellen Genüssen führe unaufhörlich zu Leidenschaften, Leere, Enttäuschungen, Haß gegen andere Menschen und Übergriffen gegen sie und gegen ihr Leben und Eigentum. Denn jede Begierde habe Leid zur Folge. Nur eine Erlösung von jedem körperliche Begehren könne die Menschheit von diesen ihren Geißeln be-
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freien und in den höchsten Zustand hineinführen. Sieht man von dem verschiedenen Ausdruck und der verschiedenen Begründung der religiösen Anschauung ab, haben die tiefsten Religionen also die gleiche Grundansicht von der inneren Lebensführung des Menschen. Jeder Mensch wird stets, wenn eine gewisse Zeitspanne verstrichen ist, mit sich selbst ins reine kommen, ob er aus dieser Periode seines Lebens etwas gemacht habe. Wenn eine solche innere Abrechnung stattfindet, fühlt der Mensch tief und stark, daß er sozusagen eine Verantwortung dem Besten in sich selbst gegenüber für jeden erlebten Augenblick hat. In einem alten Gebete heißt es: »Lehre uns unsere Tage zu zählen, so daß wir Weisheit in unser Herz bekommen«. Wie im Vorhergehenden gezeigt, gewinnt man nichts aus den Augenblicken des Lebens, wenn man von Genuß zu Genuß ohne Rücksicht auf deren Art stürzt. In vielen Fällen wird man nach gewissen seelischen Gesetzen seine Wahl treffen müssen. Aber es wird auch von uns das Gegenteil einer Hetze, einer seelischen Zersplitterung und einer besinnungslosen Jagd nach ständig neuen Erlebnissen und Genüssen erfordert, denn ganz gleichgültig, ob wir in den einzelnen Augenblicken des Lebens von der Arbeit, von der Freude an Kunst oder von irgend etwas Anderem beansprucht werden, bleibt doch immer ein seelisches Verweilen, ein Stillstehen der Zeit, eine innige Vertiefung, die wir Konzentration nennen, unumgänglich notwendig. Unter »Konzentration« oder »Vertiefung« ist hier eine Zusammenfassung aller Kräfte der Seele um einen fest abgegrenzten seelischen Bezirk und deren Vorstellungen und Gefühle innerhalb eines gewissen Zeitraumes zu verstehen. Soweit ich sehen kann, ist es möglich, ein Gesetz für diese Konzentration festzustellen, das ich folgendermaßen formulieren möchte: je mehr es einem Menschen gelingt, alle Kräfte der Seele um ein solches fest abgegrenztes Gebiet innerhalb einer gewissen Zeitspanne zu sammeln, um so größer ist die Möglichkeit, daß das Erlebnis innerhalb dieses Zeitraumes als intensiv glücklich empfunden wird. Die Verhältnisse der Gegenwart sind dieser seelischen Konzentration aus vielen Gründen abhold. Die Voraussetzung der Konzentration ist eine gewisse Einsamkeit, ein gewisser Friede, in dem alle störenden Eindrücke der Umwelt ausgeschaltet sind. Die in den letzten 150 Jahren ständig steigende Bevölkerungsdichte, der immer intensiver werdende Verkehr und die Mitteilungsmöglichkeiten von Mensch zu Mensch infolge einer sich immer weiter
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entwickelnden Technik (Eisenbahnen, Automobile, Flugzeuge, Fernsprecher, Rundfunk etc.) machen es den Menschen immer schwieriger, sich zu vertiefen. Die obenerwähnte Formulierung des Gesetezs der Konzentration besagt ausschließlich, daß die Konzentration die Voraussetzung dafür sei, daß man intensive Befriedigung oder intensives Glück empfindet — sie ist aber nicht die alleinige Bedingung dafür. Das Gesetz der Konzentration muß mit anderen, seelischen Gesetzen verbunden werden, die ich oben genannt habe, wenn sowohl die relativ dauerhafteste als die intensivste Befriedigung oder das entsprechende Glück erzielt werden soll. Hieraus folgt, daß es durchaus nicht gleichgültig ist, worum man sich konzentriert. Eine länger andauernde Konzentration auf dem Gebiete materieller Genüsse hat nicht dieselbe Wirkungen wie jene Konzentration, die auf dem Gebiete intensiver körperlicher oder geistiger Arbeit liegt. Diese letztere ist nämlich sowohl erwerbsmäßig als gesundheitlich vom größeren Wert, als die erstgenannte, und infolge des Gesetzes der Wirkungen der Abwechslung und der seelischen »Leerräume« auf dem Gebiete der verschiedenen geistigen und materiellen Organe verleiht die Arbeitsvertiefung gleichzeitig — von der Befriedigung innerhalb des Gewerbes und auf dem Gebiete der Gesundheit abgesehen — die relativ dauerhaftesten und stärksten Lustgefühle. Das Gesetz der Konzentration muß folglich qua ethisches Gesetz als das Gesetz der qualitativen Konzentrationen näher umschrieben werden. Als solche kann man außer der körperlichen und geistigen Arbeit auch die lustbetonten Zustände nennen, die an die Schönheitswelt der Kunst und der Natur und an das seelische Zusammenleben mit Menschen geknüpft sein können. Außer der Konzentration, die in einer Vertiefung in die Arbeit und in diese Freuden besteht, gibt es noch eine dritte Art der Konzentration, die man die Konzentration der Tat und des Wortes nennen könnte, und die sich nach den Erfahrungen der Menschheit durch Jahrtausende zur Abwehr von Unglücksfällen des Menschenlebens und zu dessen Fortschreiten als unumgänglich notwendig erwiesen hat. Diese Konzentration besteht darin, daß die Menschen, bevor sie handeln oder sprechen, die Wirkungen ihrer Taten oder Worte gründlich erwägen. Dieses Gesetz, das man das zweite Gesetz der Konzentration nennen könnte, hat die größte Bedeutung in den Beziehungen zwischen den Menschen, vor Allem im Rechtsleben. Die Lehre der Rechtswissenschaft von den rechtswidrigen Handlungen und von der verpflichtenden Kraft der Versprechen, der Verträge, der Gesetze und
385 anderer Willenserklärungen entspringt diesem zweiten Gesetz der Konzentration. Aber auch innerhalb der individuellen Ethik macht sich dieses Gesetz im hohen Maße geltend. Für das Wohl des einzelnen Menchen ist es von der größten Bedeutung, daß er in jeder Lage des Lebens, in der er handeln oder sprechen soll, die Möglichkeiten der bestimmten einzelnen Lage auf günstige oder schädliche Wirkungen prüft, bevor er seine Tat oder sein Wort in die Welt hinaussendet. Viele Menschen haben im Laufe der Zeit ihr Glück durch ein unbedachtes Wort oder eine unüberlegte Tat verspielt. Im täglichen Leben ist es nicht nur in geschäftlichen und politischen Verhältnissen, daß der Mensch um seiner selbst und um Anderer willen die Folgen seiner Worte und seiner Handlungen genau überlegen muß. Selbst in den persönlichsten und idealsten Beziehungen zwischen Menschen muß man seine Worte und Handlungen auf der Wage der Gedanken wägen, teils um die Ausdrücke zu finden, die am besten den Gefühlen und Gedanken entsprechen, teils aber auch um Wort und Tat zurückzuhalten, die Andere verletzen könnten. Die seelische Konzentration, die auf diesen Gebieten der Handlung und des Wortes stattfinden muß, ist eine praktische Vertiefung, in der man mit Hilfe der Phantasie alle jene Seiten, die die vorliegende konkrete Frage enthält, und alle Wirkungen, die ein Wort oder eine Tat in dieser besonderen Lage hervorrufen könnte, im Bewußtsein klarstellt, um dadurch einen überblick über die verschiedenen pro et contra der Lage zu erhalten. Der geniale Praktiker bohrt sich mit der ganzen Kraft oder dem ganzen Konzentrationsvermögen seiner Seele in alle tatsächlichen Seiten der Situation hinein, erwägt ihre vielen Für und Wider und läßt sie nicht wieder los, bevor er sie alle entschleiert hat. Und er überläßt deshalb dem Zufall so wenig, wie überhaupt möglich. Die beiden Gesetze der Konzentration — jenes der inneren Konzentration, der Vertiefung in die Arbeit, in die Kunst, in die Natur und in das seelische Zusammensein mit Anderen, und dasjenige der nach Außen gewandten, nämlich der Erwägung aller Folgen der Worte und der Taten — zeigen also gemeinsam, um alte Worte zu verwenden, die Verantwortung des Menschen für jeden Augenblick seines Lebens. Wer diesen Gesetzen nicht folgt, wird teils Nichts aus seinem Leben machen, teils auf die reichsten und intensivsten Momente verzichten müssen und wird deshalb auch oft am äußeren Leben scheitern.
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Erkenntnis und Wertung
386 Unter den gegenwärtigen Verhältnissen spricht man meistens nicht von der inneren Lebensführung eines Menschen. Sie gleicht einem unbekannten Lande, in dem Gefühle und Stimmungen, sinnliche Erfahrungen und Leidenschaften kommen und gehen wie es ihnen paßt. Niemand leitet die Menschen durch diese Wildnis. Die alten Regeln der Moral werden nach der herrschenden Mode als veraltet verspottet, aber nichts Neues wird an ihre Stelle gesetzt. Die Menschen reden ganz selbstverständlich nie miteinander von diesen inneren Verhältnissen, und es gibt keinen Seelenarzt, zu dem sie gehen könnten. Und dennoch ist dieses Innere das wichtigste Gebiet, ja, aller menschlichen Gebiete, denn auf ihm werden die Menschenschicksale entschieden, innerhalb seiner Grenzen erreichen die Menschen entweder die höchste Befriedigung, oder stürzen in das tiefste Unglück. Es ist deshalb lebensnotwendig, daß die Ethik als eine planmäßige und experimentelle Erfahrungswissenschaft gegründet werde, so wie ich es hier versucht habe. Im Folgenden habe ich eine Reihe von Fällen aus dem wirklichen Leben zur Beleuchtung der menschlichen Schicksalsverhältnisse als ersten Versuch einer ethisch-klinischen Behandlung gesammelt. Auf Grundlage des Erfahrungsstoffes muß man dann nachprüfen, ob es möglich sei, psychische, ethische Gesetze zu finden. Nur wenn solche auf Tatsachen, auf Realitäten aufgebaut werden, können sie die Menschen leiten und die Regeln der ererbten Moral ersetzen. Die entscheidende Frage ist also die, ob es solche seelischen Gesetze gibt. Durch die vorhergehenden Untersuchung scheint nachgewiesen zu
Dagegen gibt es in den festgestellten Erfahrungen und Gesetzen Nichts, das darauf deutet, daß eine vollständige Überwindung oder Unterdrückung der niederen Genüsse (die Askese) gesundheitsmäßig, erwerbsmäßig oder allgemein-seelisch das Richtige sei. Bereits vom Gesichtspunkt des Gesetzes der Abwechslung haben diese Genüsse eine relative Berechtigung für zahlreiche Menschen, natürlich vorausgesetzt, daß sie wie bereits erwähnt, der Ganzheit und der oben genannten vorzugsweisen Auslese in Übereinstimmung mit den psychischen Gesetzen eingeordnet werden. Auf der anderen Seite gibt es aber erfahrungsmäßig auch Nichts, das darauf deutet, daß es gesundheitsmäsig schädliche Wirkungen haben könnte, wenn ein Mensch in Perioden einer intensiven, geistigen oder körperlichen Tätigkeit, oder vielleicht sogar während seines ganzen Lebens, unter diesen Voraussetzungen völlig auf die niederen Genüsse verzichtet und selbst in bezug auf das Essen nur ißt, um zu leben, und nicht lebt, um zu essen. Es ist entgegengesetzt eine Erfahrung, daß eine durchgeführte Askese in
387 sein, daß es wirklich möglich sei, einen Komplex psychischer, experimental-ethischer Gesetze herauszufinden: das Gesetz 1) von dem Verhältnis zwischen der Intensität und der Dauer der Lustgefühle, 2) von dem seelischen Leerraum und dem Gesetz der Abwechslung, 3) das Gesetz von den verschiedenen Wirkungen der Abwechslung auf den Gebieten der höheren und der niederen Organe, sowie auf die Dauer und Intensität der Lustgefühle und auf den gesundheitsmäßigen Zustand, und schließlich 4) die Gesetze der Konzentration. Wer mangels intensiver Arbeit oder infolge eines ungehemmten, materiellen Genusses im Gegensatz zu dem hier festgestellten psychisch-ethischen Gesetz verfällt oder verwittert, erlebt nicht nur unmittelbar die leicht aufzuzeigenden gesundheits- und erwerbsmäßig schädlichen Wirkungen; wenn der Mißbrauch sich aber über ein ganzes Leben erstreckt, tritt in der Regel schließlich eines der intensivsten und dauerhaftesten Unlustgefühle ein, ein Unlustgefühl, das das tägliche Leben untergräbt, nämlich der Schmerz darüber, nicht aus dem Leben gemacht zu haben, was der Betreffende dank seiner Fähigkeiten und Anlagen hätte erreichen können. Aristoteles sagt, das große Glück bestehe in der Entwickelung jener Tüchtigkeit, die Jedem seinem individuellen Wesen nach eigentümlich ist, also in der Vervollkomnung seiner Fähigkeiten. Man kann, wie ich oben gezeigt habe, dieses damit begründen, daß nur die Beherrschung der materi-
allen Perioden notwendig ist, in denen der Mensch das Äußerste seiner Fähigkeiten anspannen soll, sei es nun auf sportlichem, erwerbsmäßigem oder rein geistigem Gebiete. Es muß im Übrigen hier betont werden, daß das rein Negative, nämlich die Enthaltsamkeit oder der Verzicht, als solche keine wertvolle Anleitung sei. Dank der psychischen Leere hat die Enthaltsamkeit oder der Verzicht eine Berechtigung, wenn ein anderes Lustgefühl an die Stelle des verdrängten gesetzt wird, so wie im oben erwähnten Falle, wo das Glücksgefühl an der intensiven, geistigen oder körperlichen Arbeit an die Stelle der niederen Lustgefühle tritt. Die Anti-Alkohol-Agitatoren machen sich deshalb eines psychologischen Fehlgriffes schuldig, wenn sie ausschließlich das Negative, nämlich die Enthaltsamkeit von diesem besonderen Genuß, predigen und nicht gleichzeitig auf bestimmte andere Freuden höherer Art wie die Befriedigung durch größere Gesundheit hinweisen, und ihren Zuhörern den Sinn dafür einflößen. In jeder Pädagogik muß diese positive Aufgabe, nämlich den Sinn für die höheren Arten der Lustgefühle als teilweisen Ersatz für die niederen zu entwickeln, mit der Feststellung der gesundheits- und charaktermäßig schädlichen Wirkungen eines unbeherrschten Genusses dieser letzteren Hand in Hand gehen. 25*
388 eilen Natur rein biologisch sowohl für die Menschheit in ihrer Totalität als auch für das einzelne Individuum die unbedingte Freiheit zur Entwickelung der besonderen Fähigkeiten des Menschen, nämlich der geistigen, zur Herrschaft über die Welt und zur Erreichung der vielfältigsten Abwechslung der relativ dauerhaftesten und intensivsten Freuden, schafft. Aber dann gibt es noch ein anderes intensives Leiden, das eine Folge ungenügender Einordnung oder Beherrschung der materiellen Triebe unter dem Gesamtanspruch der Gesundheit und der Arbeit ist. Wer die Herrschaft über eine materielle Neigung, mag sie im Alkohol-, Geschlechts- oder anderem Rausche bestehen, verloren hat, wird infolge der seelischen Leerräume nach und nach einen Schmerz empfinden, dessen Intensität im direkten Verhältnis zur Zahl und Stärke der Räusche steigt. Seite an Seite mit diesem, rein physischen und nervenmäßigen Leiden und mit ihm eng verknüpft verläuft auch der oben erwähnte seelische Schmerz, der daraus entsteht, daß man empfindet, wie die eigenen Anlagen verwittern und verrosten und daß das eigene Leben Einem wie ein Strom im Sande versickert. Schließlich gibt es auch noch eine dritte Erfahrung in bezug auf die mangelhafte Beherrschung des Selbst. Ihr kann man im folgenden Gesetze Ausdruck geben: in je höherem Maße Einem diese Beherrschung fehlt, um so widerstandsloser ist man allen Leiden gegenüber, die von Außen kommen. Der Buddhismus hat ein besonderes Verständnis hierfür. Im Leben eines jeden Menschen werden früher oder später auch Unglück und Leid, das unverschuldet ist, eintreten: Krankheit, Altern und Tod für die Nächsten und für ihn selbst. Man kann hoffen, daß diese Leiden durch eine seelisch aktive Einstellung zu begrenzen oder zu mildern sind. Es ist eine allgemein bekannte Erfahrung des Lebens, daß die Arbeit — sei sie geistiger oder körperlicher Art — die beste Freundin in der Not sei. überhaupt wird Jeder, der passiv die unvermeidlichen Unglücksfälle und Leiden des Lebens hinnimmt und in noch höherem Maße Jeder, bei dem die Passivität innerhalb derselben Zeitspanne mit einer mangelhaften Beherrschung einer materiellen Neigung oder Leidenschaft vereint ist, ein widerstandsloses Opfer jedes von Außen kommenden Unglücks oder Leidens. Ungenügende Beherrschtheit dem Genuß gegenüber gibt einen entsprechenden Mangel an Beherrschung des Leidens. Alles in Allem zeigen die oben erwähnten Gruppen der Unlust, die infolge ungenügender Beherrschung der materiellen Neigungen entsteht, die
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tiefe Wahrheit in der Lebenserfahrung Gautama Buddhas, daß das Begehren das Leiden mit sich führe. Alte Wörter erhalten neuen Wert, wenn sie von diesen Erfahrungen beleuchtet werden. Die alten Wörter Reue und Gewissen werden sowohl angesichts der Schädigungen gebraucht, die die Menschen sich selbst zufügen, als auch derer, die sie Anderen antun. Diese starken Gefühle der Verantwortung dem eigenen Leben und dem Anderer gegenüber sind richtig und gesund und dürfen von einer oberflächlichen und materiell gesinnten Zeit nicht ausgewischt werden. Reue und Gewissen enthalten das instinktiv richtige Gefühl, daß man sich irgendwie gegen die Gesetze des Lebens — nicht allein die der ererbten Moral, eines Rechtes oder einer Religion, sondern gegen die seelischen Naturgesetze — verbrochen hat, die, wie oben festgestellt, jedes menschliche Glück bedingen. Aber übrigens wird es sich, soweit ich sehen kann, bei der allmählichen Entwickelung der experimentellen Erfahrungs-ethik zeigen, daß sich hinter den Regeln der ererbten Moral, des Rechtes und der Religion, die instinktiv richtigen Erfahrungen der Menschheit durch Jahrtausende verbergen. Vielen der alten, von einer chaotischen Zeit verhöhnten Tugenden kann man ruhig eine mächtige Wiedergeburt weissagen. Der vernünftige Seelenarzt oder Seelsorger — sei es nun der Arzt, der Anwalt, der richtige Richter der Zukunft, oder der psychologisch besser ausgerüstete Theologe der Zukunft — wird jenem Menschen, der von Reue und Gewissen, d. h. vom Schmerz über eine verlorenes Leben gepeinigt ist, sagen, daß dieser Schmerz selber durchaus richtig und gesund und eine unentbehrliche Bedingung für ein intensives und dauerhaftes Glück in der Zukunft sei, daß es aber auch kaum jemals im Leben zu spät, sondern in der Regel durchaus möglich sei, ein neues Leben aufzubauen, wenn der Schmerz Einen genügend geläutert hat, und daß die Reue und die Gewissensbisse wohl ihre Zeit haben, aber auf der anderen Seite nicht das ganze Leben verbittern dürfen, sondern nach einer gewissen Zeitspanne durch neue und starke Gefühle der Befriedigung ersetzt werden müssen, wenn das Leben nach den seelischen Gesetzen umgestellt wird, so daß die Freude an intensiver Arbeit und dadurch an der Entwickelung der natürlichen, bisher versäumten Fähigkeiten durch das Zusammenleben mit seelisch verwandten Menschen und dank der abwechlungsreichen Welt der Kunst allmählich an die Stelle des Leidens tritt.
390 Um den Ursachen der oben erwähnten Leiden des Menschenlebens entgegenzuwirken und um größeren Anteil an den starken geistigen Freuden zu erhalten, muß der Mensch oft in den einzelnen Momenten seines Lebens die Wahl zwischen Gefühlen und Neigungen treffen. Er muß oft die Lust verneinen und das Leid bejahen. Jener Mensch, der dann dazu imstande ist, folgt einer Linie oder einem Gesetz in seinem Leben. Die Linie oder das Gesetz im Leben eines Menschen ist sein Charakter. Von ihm hängt im wesentlichen Ausmaße seine Gesundheit, seine Arbeitskraft und sein Glück ab. Es liegt eine tiefe Wahrheit in dem Ausspruch Kants, daß der Mensch nur indem er sich selbst eine Gesetzgebung schaffe, sich selbst dem unbedingten moralischen Gesetz unterwerfe, die Freiheit gewinne. Was Kant hier meinte, ist unzweifelhaft, daß die Kräfte der Seele und des Geistes des einzelnen Menschen durch seine eigene Unterwerfung unter das absolute, moralische Gesetz von den Banden der Leidenschaft befreit werden. Das Gesetz, die Unterordnung der einzelnen Momente des Lebens unter eine bestimmte Linie, wächst also aus dem Leben selbst empor. Die Sprache ist mit Bezug auf die seelischen Erscheinungen recht arm an voll deckenden Worten. Das ist ganz natürlich, da es die äußere Welt und ihre Gegenstände waren, die zuerst die Aufmerksamkeit des Menschen anzogen und vor Allem die Sprache in Tätigkeit setzten. Wörter wie Lustgefühl, Lust, Glück und die entgegengesetzten Wörter wie Unlust, Unglück u. ä. sind, soweit die Ethik in Betracht kommt, nur unvollkommene Ausdrücke. Hierzu gehört, wie ich an anderer Stelle hervorgehoben habe, auch die Befriedigung des für die Aufrechterhaltung des notwendigen Lebensbedarfes, gleichgültig ob diese Befriedigung an sich mit Lust oder Unlust verknüpft ist. Im Laufe der höheren, geistigen Entwickelung des Menschen muß ferner oft nach den oben aufgestellten, psychischen Gesetzen ein Kurs gesteuert werden, der einer bestimmten Linie oder Regel folgt, ungeachtet, ob er in den einzelnen Augenblicken Lust oder Unlust mit sich führt. Das Wort Befriedigung erweist sich deshalb auch hier als ein besserer und mehr umfassender Ausdruck als Lust oder Glück. Die seelischen Leerräume sind die innersten Ursachen, daß der Mensch als Gesamtresultat einer Periode oder eines ganzen Lebens keine Befriedigung, keinen seelischen Reichtum empfindet. Man kann einen solchen fühlen, selbst wenn viele Momente dieser Periode voller Unlust und Leiden waren, und umgekehrt kann es auch geschehen, daß diese tiefe Befriedigung sich nicht einfindet, selbst wenn die
391 Periode an Augenblicken des Genusses und der Lust reich gewesen ist. Die Leere, die fehlende Befriedigung, ist Ausdruck des Gefühles, daß das Leben ungeachtet der Genüsse Einem davongelaufen sei, daß das Leben verstrichen sei, ohne daß man wirklich gelebt habe. Unter der Uhr an einem alten Kaufmannshof steht geschrieben: »Tempus fugit«. Die Zeit entflieht. Das seltsame, spätere Gefühl, daß man in einer Periode seines Lebens gar nicht gelebt habe, daß die Zeit Einem entflohen sei, entsteht, weil das Dasein innerhalb dieser Spanne von Trägheit oder materiellen Trieben geprägt wurde und nicht von jenem konzentrierten und intensiven Leben, dem Leben in zweiter Potenz, erfüllt war, das nur entweder durch Arbeit selbst unter Leiden und Mühen oder durch die innigen harmonischen Erlebnisse der Schönheitswelt der Kunst oder der Natur oder aber durch irgend ein Drittes, das bisher nicht bestimmt werden konnte, entsteht. Es gibt nämlich noch ein Erlebnis, das psychologisch betrachtet eine Art unbekannten Landes ist, das aber — soweit ich es zu überblicken vermag — den Schlüssel zum Verständnis eines Problems enthält, das vielleicht für die Zukunft der Menschheit entscheidend werden wird. Die materiellen Genüsse führen nicht nur physiologische Einwirkungen, sondern auch nervenmäßige mit sich. Dieses Verhältnis ist indessen bisher nur in sehr geringem Maße untersucht worden. Man kann sich hier nicht mit Moralgeboten ohne wissenschaftlichen Beweis begnügen. Die neue, experimentelle Erfahrungsethik, die ich oben zu begründen versucht habe, muß die Aufgabe in Verbindung mit der Neurologie aufnehmen. Der Geschmacksakt und der Geschlechtsakt haben bei dem Menschen infolge seines hochentwickelten Nervensystems eine ganz andere Intensität des Genusses als bei den Tieren. Das Bedürfnis aber diese Intensität festzuhalten oder zu wiederholen führt die Menschen zu weit getriebenen Abwechslungsprozessen und hochentwickelter Verfeinerung. Vieles deutet darauf hin, daß eine so weitgetriebene Abwechslung oder Verfeinerung nicht nur eine körperliche, sondern auch eine bedeutende, nervenmäßige Belastung mit sich bringt. Wenn sie länger anhält, führt sie zu einer Schwächung. Die Erfahrung der Geschichte lehrt uns, daß Völker und Volksklassen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes eine hohe Blüte der Kultur erreichten, den Höhepunkt ihrer geistigen Kultur nicht festzuhalten vermochten, sondern allmählich verfielen, um zuletzt zugrunde zu gehen und völlig zu verschwinden. Und man weiß,
392 daß dieselben Völker oder Volksklassen sich gleichzeitig auf dem Höhepunkt ihrer Kultur einem weitgetriebenen Abwechslungsprozess und Verfeinerungsabstufung auf den materiellen Gebieten hingaben, wonach die Untergangsperiode begann. Es ist indessen schwierig, die genaueren Kausalzusammenhänge völlig klarzustellen. Unzweifelhaft haben sich bei diesem Verfallsprozess auch andere Ursachen geltend gemacht. Sowohl bei dem Untergang der alten babylonischen Kulturgemeinschaft, als auch bei dem Verfall der ägyptischen und der römischen wirkte wahrscheinlich ein ganzer Komplex von Ursachen mit, wie z. B. eine falsche Gesellschaftsorganisation (der Untergang des selbständigen Bauernstandes und des übrigen Mittelstandes, eine zu starke Zentralisation der Staatsleitung), schwächende Krankheiten (z. B. Malaria), denen die Menschen damals wehrlos gegenüberstanden, und vieles Andere. Auf der anderen Seite würde es unrichtig sein, davon abzusehen, daß unter den Ursachen auch die weitgetriebenen Abwechslungs- und Verfeinerungsprozesse auf dem Gebiete des materiellen Genusses mitwirkend waren, wie uns die geschichtlichen, zum Teil zeitgenössischen Berichte melden. Deshalb sind auch die gewaltigen, generalisierenden Schlußfolgerungen, die Oswald Spengler (in seinem Buche »Der Untergang des Abendlandes«) von dem Schicksal dieser früheren Kulturvölker auf das der heute lebenden (vor Allem der europäischen) Nationen gezogen hat, unberechtigt. Wir haben in der Gegenwart wesentlich größere Möglichkeiten einer besseren Gesellschaftsorganisation, als die Gemeinschaften der alten Zeiten (mit ihrem besonderen Großkapitalismus und ihrer Sklaverei). Dank der modernen Heilkunde sind wir außerdem im Kampf gegen die Krankheiten, die die Rasse schwächen, weit besser gestellt, als die Kulturgemeinschaften des Altertums. Die Schwierigkeiten beruhen, soweit ich sehen kann, für die modernen Kulturvölker auf moralischen, seelischen Ursachenverhältnissen. Sowohl innerhalb der sogenannten höheren als auch der sogenannten niederen Bevölkerungsklassen sind heute auf sehr verschiedenen Gebieten Anzeichen einer allgemeinen, ethischen Verwirrung und Auflösung vorhanden. Es ist, als ob die Menschen moralisch unsicher geworden wären. Verschiedene Richtungen versuchen, ohne eine wirkliche Erfahrungsgrundlage, den Menschen ein ungehemmtes Triebleben als das »Natürliche«, das Entgegengesetzte aber als etwas Ungesundes u. s. w. einzuprägen. In weiten Kreisen - vor Allem in den intellektuellen, von denen aus die Beeinflussung weiterschreitet — wirkt aber am stärksten der Umstand, daß man bisher nicht im-
393 stände war, eine wissenschaftliche Begründung der Ethik zu geben. Wenn dieses richtig wäre, würde auch rein wissenschaftlich gesehen freie Bahn für alle denkbaren Lebensführungen, selbst für die ungehemmtesten, gegeben sein. Und ist die geistige Zentralleitung der Gesellschaft solchermaßen eingestellt, werden die Wirkungen auf die gesamte Bevölkerung allmählich unbegrenzt werden. Um zu untersuchen, ob die Ethik als Wissenschaft begründet werden könne, wäre erst zu prüfen, was Wissenschaft und wissenschaftliche Erkenntnis eigentlich darstellt, ob diese letzten Endes und in welcher Beziehung überhaupt zu begründen sei. Dies müßte in eine Untersuchung des Hauptproblemes der Erkenntnislehre von den letzten Voraussetzungen aller Erkenntnis hineinleiten. Eine solche Untersuchung ist oben durchgeführt worden, ohne voreingenommene Meinungen über Ethik oder über Wissenschaft. Aber diese Untersuchung hat vermutlich Schritt für Schritt und mit unvermeidlicher Konsequenz zu dem Ergebnis geführt, daß alle Wissenschaft — die fundamentalen Voraussetzungen, auf denen jede Wissenschaft beruht — letzten Endes ihre Begründung in demselben suchen muß, womit die Ethik begründet werden könnte, und daß die Ethik selbst eine Wissenschaft ist, denn sie gehört jener Gruppe von Wissenschaften an, die oben die Experimentalwissenschaften oder die wertenden Erfahrungswissenschaften genannt worden sind. Danach können die Grundlinien der Ethik, wie ich oben gezeigt habe, auf der Basis biologischer, gesundheitsmäßiger, erwerbsmäßiger, geschichtlicher und anderer praktischer Erfahrungen in bezug auf die menschlichen, charakterlichen Verhältnisse und gesellschaftlichen Beziehungen aufgezogen werden. Diese Grundlinien machen es möglich, daß die ethische Verwirrung und ethische Auflösung der Gegenwart aufhören und von einer planmäßigen, auf experimenteller und anderer Erfahrung begründeten Anleitung der Menschheit über die Alles überwiegende Bedeutung der Entwickelung jener Charaktereigenschaften ersetzt werden, die sowohl die Gemeinschaft als das Leben der Einzelnen tragen und vermeintlich den sichersten Schutz gegen den Verfall der Völker verleihen. Mit einer ständig besser werdenden Gesellschaftsorganisation, einer immer besseren Bekämpfung der Krankheiten, einer stets steigenden Beherrschung der Natur, aber for Allem mit einer immer größer werdenden Beherrschung der Naturmächte, die im Menschen selbst walten, scheint die Kulturgemeinschaft der Gegenwart Möglichkeiten zu haben, sich von dem Schicksal, dem Verfall und dem Untergang der alten Kulturgemeinschaften zu befreien und sich über sie
394 zu erheben. F ü r die Gesellschaft wie f ü r die einzelnen Menschen sind die W o r t e des Pythagoras gültig: »An der Seite des Schicksals sitzt der Wille als mächtiger Herrscher«. Das Vorhergesagte hat meiner Ansicht nach das eigentümliche, ethische Gesetz dargetan, daß der Abwechslungs-Verfeinerungsprozess bei den Genüssen der niederen Organe nur unter einer ständig stärker werdenden psychischen und nervenmäßigen Belastung bis zur Schwächung des Charakters und gleichzeitig auch zur Schwächung jener Fähigkeit zu den intensivsten seelischen und geistigen Freuden, die der Mensch als höherer Lebenstyp des Daseins geschaffen hat, fortgesetzt werden kann, während derselbe Prozess bei den Genüssen und Freuden, die sich an die höheren Organe wie Auge, Ohr und Gehirn knüpfen, in der W e l t der Kunst und der Erkenntnis, nicht nur ohne Schaden, sondern sogar zum Nutzen f ü r die Gesundheit und das Leben der Menschheit weitergeführt werden könnte. Die Genüsse der Geschmacks- und der Geschlechtsakte erreichen dank des hochentwickelten Nervensystems, also eben bei den Kulturmenschen, eine außerordentlich hohe Intensität; das treffendste W o r t dafür ist wahrscheinlich das W o r t Rausch in allen seinen Formen. Aber eben weil diese Erscheinung der Verfeinerung — nämlich der Rausch — ihre höchste Intensität eben bei den Völkern auf einem Höhepunkt in der Entwickelung des Nervensystems erzielt hat, wird es verständlich, w a r u m auch eben die am höchsten entwickelten auch am tiefsten stürzen können. Das gilt Kulturvölkern und Individuen sowohl in der Vergangenheit als in der Gegenwart. Auf dieser Stufe der Höhe und des Niederganges wird also eine merkwürdige Erscheinung bemerkbar, die bei den seelisch am höchsten entwickelten Völkern und Individuen den Rausch ersetzen und von ihnen sogar als ein weit intensiveres Glück empfunden werden kann. Bei den höchst Entwickelten bricht nämlich etwas Neues hervor, das man vielleicht eine «Verseelichung« des niederen Sinnesprozesses nennen könnte, eine Sublimierung, eine Erhebung desselben in einen höheren Plan, mit dem verglichen selbst der intensivste, nervenmäßige Rausch nur unbedeutend erscheint. Die »Verseelichung« besteht bis zu einem gewissen Grade darin, daß der niedere Sinn von der Begierde losgelöst wird. Im Geschlechtsverhältnis ist dieser Prozess als Verliebtheit bekannt. Auf dieser Stufe wird der Mensch wie in eine höhere W e l t emporgehoben, wo bereits das Erblicken oder das Bewundern aus der Ferne das intensivste Glück enthält, und wo der Gedanke an den Geschlechtsakt selbst überhaupt
395 nicht im Bewußtsein auftaucht oder sich nur in die unbestimmtesten Stimmungen verliert; und im späteren Verlauf des Lebens wird diese Zeit, wie bekannt, stets mit dem Glanz eines weit intensiveren Glückgefühls umwoben sein, als alle späteren materiellen Akte jemals verleihen können. Es ist schwierig, ein treffendes Wort für diesen seelischen Vorgang zu finden, der Alles in seelische Prozesse verwandelt oder — wenn man will — einen materiellen Vorgang in eine höhere Welt emporhebt. Das Wort »Erhebung« würde vielleicht geeignet sein. Die Prozesse der Verseelichung haben im Gegensatz zu den Abwechslungs- und Verfeinerungsvorgängen auf der Stufe der materiellen Sinne keine schädlichen Nebenwirkungen. Vielmehr scheinen sie, wie jedes intensive Glück, die physischen und die nervenmäßigen Kräfte zu steigern. Nicht nur infolge der ethischen Verwirrung und Auflösung, sondern auch dank der vulgären Umgangsformen ist die Gegenwart jenen Phänomenen abhold, die die niederen Formen des Lebens in seelische umwandeln. Im Geschlechtsverkehr hat unsere Zeit jene Werte verloren, die eine etwas frühere Periode, die romantische, in der Lebenshaltung besaß und die man vielleicht die Poesie der Distanz nennen könnte. Aber es gilt wohl dem Genußleben der Gegenwart überhaupt, daß diese Prozesse der Verseelichung auf vielen Gebieten im Schwinden begriffen sind, daß der Wert der Beherrschung unterschätzt wird, daß die seelischen Leerräume dadurch immer zahlreicher und nur durch jenen Abwechslungs- und Verfeinerungsprozess innerhalb der Bezirke der materiellen Sinne unterbrochen werden, der den kommenden Verfall ankündigt. Die Zeit bedarf nicht des Rausches, sondern der Erhebung, wenn die Menschheit ihren Weg zu höheren Lebensformen weitergehen soll. Vielleicht liegt das Schicksal der Menschheit in der Wahl zwischen Rausch und Erhebung verborgen. Versuch einer experimentellen klinischen Ethik auf der Grundlage bekannter Menschenschiksale. Wenn die richtigen Seelsorger — Ärzte, vor Allem Nervenärzte, Anwälte und Richter — künftig auf die Aufgabe eingestellt werden, Erfahrungen für eine experimentelle Erfahrungsethik zu sammeln, wird es möglich sein, ein bedeutendes Material zur Beleuchtung der seelischen Grundverhältnisse und der ethischen Gesetze zu erhalten. Es gibt bereits heute an sehr verschiedenen Stellen ein reiches Erfahrungsmaterial dieser Art, nämlich innerhalb der historischen For-
396 schung des Schicksals der Völker und der Individuen, in Biographien und in den Werken der großen Denker und der großen Dichter, die oft tiefen Lebenserfahrungen Ausdruck geben. Viele Denker haben seit Piaton und Aristoteles deren ethischen Gedankengang weitergeführt. Ihre Sonderung zwischen höheren und niederen Freuden wurde unter dem Einfluß des Christentums vertieft. In der Renaissancezeit aber, in der die Kenntnis der griechischen Philosophie wiederbelebt wurde, stellte man diese Unterscheidung auf rein menschlicher Grundlage dar. Sie wurde immer und immer wieder von den Philosophen aufgestellt, aber jetzt wie im Altertum ohne irgend welche tiefere Begründung in bezug auf die Einzelheiten. Man hielt sich an gewisse allgemeine Betrachtungen. Wie ich oben zu zeigen versucht habe, kann die Unterscheidung nur aufrechterhalten werden, wenn man bestimmte, reale, gesundheitliche, erwerbsmäßige, nerven-physiologische und seelische Gründe feststellen kann, die dafür sprechen. Die Aussprüche der älteren Denker haben jedoch einen Wert, weil sie triebhafte Ausdrücke richtiger Erfahrungen sind. Es war Giovanni Pico, der im 15. Jahrhundert den früher erwähnten, gegen die mittelalterliche Mystik gerichteten Ausspruch tat: Das Schicksal der Menschen ist nicht in den Sternen, sondern im Charakter zu lesen. Und er fährt fort: Die Seele ist der Dämon des Menschen. Der Mensch kann hinabsinken, so daß er wieder wie das Tier wird, kann sich aber auch durch eigenen freien Willen zum Göttlichen emporschwingen. Die wahre Weisheit bestehe nach ihm in der Ausgestaltung der ideellen Menschlichkeit (vgl. Cassirer. I. 156 ff.). Auch bei den späteren Philosophen begegnen wir der Unterscheidung zwischen den höheren und den niederen Freuden. Spinoza, dessen »Ethica« außer seiner bekannten Weltanschauung auch viele Beiträge zur Psychologie der Gefühle und der Leidenschaften gibt, hebt die Freude an der Tätigkeit unseres Geistes als die höchste hervor; er sagt, nur durch diese Freude können wir die Macht über unsere Leidenschaften gewinnen, so daß der Friede sowohl im Einzelnen als in der Gesellschaft erreicht werde (Spinoza. Ethica, 231 ff., 263, 267-68). Wie Buddha versteht Spinoza, daß körperliches Begehren und Leiden eng miteinander verbunden sind (vgl. ibidem 215). Locke hebt hervor, daß wir oft zwischen einem gegenwärtigen und einem künftigen Lustgefühl zu wählen haben, und daß wir uns in vielen Fällen irren, indem wir das Gegenwärtige dem Künftigen vorziehen, da das Erstere eben durch seine Gegenwärtigkeit uns weit größer, als das Künftige, vor-
397 kommt (Locke, I, 456—58). Leibniz meint: »A moin que l'appétit ne soit guidé par la raison, il tend au plaisir présent et non pas au bonheur, c'est-à-dire au plaisir durable«. Montaigne schrieb: »Si la douleur de tête venait avant l'ivresse, nous nous garderions de trop boire, mais la volupté, pour nous tromper, marche devant et nous cache sa suite«, (vgl. Fraser, Anmerkungen 348 und 358). Die historische Wissenschaft enthält ein außerordentlich reiches Material zur Beleuchtung der Frage des Einflusses, den die Leidenschaften und die materiellen Genüsse auf das Schicksal der Menschen und der Völker ausgeübt haben. Bisweilen sind auch Aussprüche der großen, führenden Gestalten bewahrt worden, die ihre Lebenserfahrung in bezug auf diese bedeutungsvolle Frage enthalten. Dieses gesammte Material müßte einmal zum Vorteil einer experimentalen klinischen Ethik durchgeprüft werden. Hier seien nur beispielsweise einige Fälle angeführt, die die Bedeutung des für diesen Zweck völlig unverwerteten Erfahrungsstoffes beleuchten. Der angeführte Ausspruch Montaignes bezieht sich auf die besonders in seiner Zeit stark verbreitete Neigung zum Trinken. Ein etwas späterer Zeitgenosse von ihm, Heinrich IV von Frankreich, hat in einem Ausspruch eine andere, zur selben Zeit innerhalb der höheren Klassen stark verbreitete materielle Neigung, nämlich den übermäßigen Genuß von Speisen, berührt. Während seines erfahrungsreichen Lebens hat Heinrich selbst auch in bezug auf diese Erscheinung und ihre Wirkungen Beobachtungen gemacht und u. a. gesagt: »Gros mangeurs et dormeurs lourds ne sont jamais coupables de grandes choses. Un ésprit enfoui dans une masse de chair par le sommeil et une douce existence ne peut avoir d'impulsions nobles ni généreuses« (Vgl. Slocombe: Henri IV, 1933, 190-91). Eine Königin aus derselben Zeit gibt eines der historisch am besten bekannten Beispiele eines Menschenschicksals, das durch eine andere Art des Rausches, als die von Montaigne und Heinrich IV erwähnte, scheiterte. Das gehört sonst zu den seelischen Erscheinungen, deren ursächlichen Zusammenhang in der Geschichte schwierig nachzuspüren ist. Martin Hume gibt in seinem Buch über die Königin Maria Stuart einen gewichtigen Beitrag zur Pathologie der Sexual-leidenschaft und des schwachen Charakters. Dieser Autor konzentriert das Bild von dem Schicksal Maria Stuarts in den folgende Worten: »Well it would have been for her (Maria Stuart) and her cause, if from the first she had been able to recognise the disadvantages under which she laboured, in competing with Elizabeth in the employment of her own disposai in marriage
398 as an instrument of her policy. She was warm-hearted and trustful; Elizabeth was cold and suspicious. Elizabeth had always by her side the judicious, clearsighted Cecil to save her from herself in her hours of weakness, and Leicester as a permanent matrimonial possibility and a foil to other suitors. Mary was surrounded by the most selfseeking set of traitors and scoundrels the world ever saw, and both the men she thought she loved were utterly unworthy of her; and, above all, Elizabeth had strength to remain single, whilst Mary had not. The contest was an unequal one, and the weaker competitor lost because she was the more human of the two and the less fortunate.« . . . »Beauty and other feminine perfections she must have possessed — a lovely hand, a sweet voice, caressing grace and ready tears, f o r . . . Ronsards tender lays and Brantomes enthusiastic praise of the Scottish queen convince us, if we had not other proof, as we have hundreds, that many men upon whom she looked were dazzled and blinded by her peculiar personality. But not only beauty. The subtle quality we vaguely call fascination must have been hers to an extraordinary degree to reinforce the charms of the long, fair, oval face, the narrow, side-glancing eyes, and the straight, longthy Greek nose; the fascination must have been there, though the painters merely hint i t . . . « »Mary in most respects possessed a much finer and nobler nature than Elizabeth; she was a woman of higher courage, of greater conviction, more generous, magnanimous, and confiding, and apart from her incomparable greater beauty and fascination possessed mental endowments fully equal if not superior of those of the English queen. But whilst the caution and love of mastery of the latter always at the critical moment saved her from weakness, Mary Stuart possessed no such safeguards, and was periodically swept away, helplessly and irremediably by the irresistible rush of her sexual passion . . . « »We shall see, that the deplorable errors and follies that led her downwards from freedom to lifelong imprisonment, from happiness to misery, from a throne to a scaffold; that warped her goodness, made her a helpless plaything for her cunning enemies, and ruined the religious cause she loved better than her life, were the outcome, not of deliberated wickedness, or even of habitual political unwisdom, but of fits of undisciplined sexual passion, amounting in certain instances to temporary mania, combined with the unquinchable ambition inherited from her mothers house«, (vgl. Martin Hume: The love affairs of Queen Maria, 1903, 4-6, 474-75). Außer der Geschichte geben auch die Werke der großen Dichter
399 wertvolle psychologische Beiträge zur Beleuchtung der Menschenschicksale u n t e r dem E i n f l u ß der Triebe u n d damit zur neuen Wissenschaft der experimentellen E r f a h r u n g s e t h i k . Mehrere W e r k e behandeln den E i n f l u ß des Alkoholmißbrauches. Aber bei weitem die bedeutendsten Dichterwerke handeln von dem E i n f l u ß des Sexualtriebes auf Menschenschicksale. Das gilt sowohl W e r k e n der älteren als auch der neueren Zeit. Aber die älteren sind oft die offenherzigsten, sie verbergen nichts u n d ermöglichen deshalb bisweilen tiefere Einblicke in das w a h r e Schicksalsverhältnis. Eine Schrift wie die Briefe Abälards und Héloïses aus dem 12. J a h r h u n d e r t wird immer als ein ergreifendes Zeugnis zweier jungen, u n e r f a h r e n e r Seelen da stehen, die in das Unglück, j a zum vollen Schiffbruch ihres Lebens durch eine unbeholfene Nachgiebigkeit dem Augenblick gegenüber, einen unbesonnenen Mangel an Beherrschung g e f ü h r t wurden, wobei das Scheitern als Strafe des Lebens betrachtet in keinem Verhältnis zur Schuld steht. Dasselbe gilt der Schilderung zweier Menschenschicksale in einer Schrift aus weit späterer Zeit, nämlich in Prévost d'Exilés: »Manon Lescaut«. Beide Schriften enthüllen Fallgruben der menschlichen Natur. Balzacs »Illusions perdues« ist einer der gewichtigsten Beiträge zur Pathologie der Leidenschaften, die es ü b e r h a u p t gibt. Der größte Teil dieses W e r k e s trägt das Gepräge des Selbsterlebten u n d Teile davon können als Selbstbiographie aufgefaßt werden. Dasselbe k a n n m a n mit Recht von dem b e r ü h m t e n Roman Goethes, die »Leiden des jungen Werthers« sagen, der einen ungeheuren E i n f l u ß auf das Leben seiner Zeitgenossen (eine Welle von romantischen Selbstmorden ging über ganz Europa) u n d auf die damalige Literatur ausübte. Der junge Napoleon trug stets das Buch bei sich. Turgenjews: »Frühlingswogen«, Sienckiewics: »Ohne Dogma«, Bj0rnsons: »Kapitän Mansame« und Jacob Knudsen: »Heftigkeit« sind nicht n u r Dichterwerke, sondern auch tiefschürfende, psychologische Studien jener Erscheinung, in der eine plötzlich a u f t a u c h e n d e Leidenschaft mit einem Schlage wie ein Stoßwind ein Menschenleben
Abälard beschrieb selbst sein Leben: »Historia calamitatum mearum«. Die Briefe erschienen deutsch 1853 im Buch Carrières: A. und Heloise, ihre Briefe und Leidengeschichte. - Prévost d'Exilés (1697-1763), Jesuit, Offizier, Benediktiner, schrieb 1728 den berühmten Roman, der ebenfalls zum Teil auf Selbsterlebnisse beruht. Die letzte deutsche Ubersetzung erschien 1928.
400 zum Kentern bringt, so daß es untergeht. In allen diesen W e r k e n dreht es sich um Menschen, die nicht genügende Gewalt über sich selbst haben und deshalb in einer bestimmten Lage, in die sie das Leben bringt, ein Spielball der Umstände, eine leichte Beute der Macht des Zufalles werden. Irgend eine unerwartete Begebenheit setzt ihre Seele in starke Schwingungen, die immer stärker werden, und schließlich sind diese Menschen nicht mehr imstande sie aufzuhalten: es entsteht eine Leidenschaft, die alle Gebiete der Seele beherrscht und zum Schluß das Leben zerschlägt. Als historisches Beispiel dieser Charaktererscheinung könnte man den deutschen Politiker Lassalle nennen, dessen Biographie Georg Brandes geschrieben hat. Bj0rnson hat darauf aufmerksam gemacht, daß derselbe Charaktertypus in den beiden Menschenschicksalen des Kapitäns Mansame und des Politikers Lassalle wirksam ist. Das Buch Tolstois: »Die Kreuzersonate« und ein »Der Unschuldige« geben ebenfalls W e r k Gabriele d'Annunzios: scharfsinnige Beiträge zur Pathologie der Leidenschaft. Auch in diesen Menschenschicksalen wird das Ergebnis des ständigen Nachgebens den Einfällen des Augenblicks und der Lust gegenüber, daß Menschenleben vernichtet werden. Im Buch d'Annunzios wird die fehlende Selbstkontrolle folgendermaßen geschildert: »Ich hatte die heftigen Triebe einer ungezügelten Natur; mehr als einmal wurde ich von plötzlichen Einfällen heimgesucht, mehr als einmal von einem unmittelbar aufgetauchten, grausamen Trieb ü b e r r a s c h t . . . « Diese Charaktererscheinung f ü h r t in dem betreffenden Falle in ihren letzten Konsequenzen zum Totschlagen des Kindes, »des Unschuldigen«. Schließlich kommt das intensivste aller Leiden: »Ich fühlte, daß diese Frau, die dort kniete, und ich, beide übermenschlich litten, litten an dem ewigen menschlichen Unglück, an dem unabwendbaren Fluch der Sünde, an der ganzen Schande, die unsere tierischen Triebe verursachen, und ich empfand Grauen vor Allem, das unabänderlich mit dem Grunde des Daseins selbst verknüpft ist, und vor dem ganzen körperlichen Elend, das über unserer Liebe ruhte«. In zwei kleinen psychologischen Meisterwerken: »Magnhild« und »Absaloms Haar« hat Bjprnson ebenfalls scharfsinnige Beiträge zur Beleuchtung der Psychologie des schwachen Charakters gegeben. In »Magnhild« sagt er u . a . : »Es gibt Viele, die ihr Leben in Sehnsucht nach der Liebe oder um ihrer Liebe zu folgen verschwenden. Vielleicht konnten einige von ihnen nicht anders — die Menschen sind so verschieden und die Verhältnisse entschuldigen sie oft. Aber diejenigen, die ich so handeln gesehen habe, hätten unbedingt sich selbst
401 beherrschen und damit neue Kraft gewinnen können. Sie gaben indessen jeden Versuch auf, von einer Literatur und einer Kunst ermuntert, deren Kurzsichtigkeit daher stammte, daß sie in ihrem Willen angekränkelt waren.« Die Folge dieser mangelhaften Selbstbeherrschung, nämlich daß die Möglichkeiten des Lebens verloren gehen und das Lebensziel verfehlt wird, schildert Bj0rnson in »Absaloms Haar« in eigentümlich starken Ausdrücken: »Der du bist, darfst du nicht sein, was du kannst, darfst du nicht tun; was du hättest werden sollen, erreichst du nicht. Wie du — deine Mutter vor dir. Auf Abwege geraten. Dein Vater auch. In lauter Unsinn hinein . . . W a r u m ist es so? W i r haben größere Ziele als die meisten Anderen. Etwas Verschiedenes leitet jeden von uns auf Irrwege. W ä h r e n d die Anderen die grade Heerstraße entlang in das Thor zum Hause ihres Glückes fahren — schlendern wir von der Heerstraße fort und in den Wald hinein. Absaloms Haar! W a r u m zum Teufel blieb David nicht an seinen Haaren hängen? Die waren gewiß eben so lang wie Absaloms. O, es war auch nahe daran mit David. Mehr als einmal, bis in sein hohes Alter, aber die zentrale Macht in David war doch zu stark. Die Energie in ihm war und blieb zu mächtig; sie unterwarf die aufrührerischen Kräfte; es gelang diesen nicht, ihn um leidenschaftlicher Zwecke willen allzu weit zu entführen . . . « Es ist im übrigen nicht nur der Sexualtrieb, der eine Leidenschaft hervorzurufen vermag, die das Leben zerstört, selbst wenn dieser Fall in der ganzen obenerwähnten Reihe von Werken verschiedener Autoren am häufigsten geschildert wird. Auch ein Gefühl oder Trieb wie der Haß, der vielleicht meistens aus dem Kampf um materielle Güter oder um die Macht entsteht, vermag jene intensiven Unlust-
In dieser Erzählung behandelt Turgenjew dasselbe Thema wie im Roman »Rausch« und beide spielen in Deutschland. »Ohne Dogma« von Sienkiewicz erschien 1890 und ist in deutscher Übersetzung vorhanden. — Der Däne Jacob Knudsen (1858—1917) schrieb u.a. die Bauernromane »Der alte Priester« (1890) und »Heftigkeit« (1909) und die auch ins Deutsche übersetzten Lutherromane »Angst« und »Mut«. — Bjflrnsons »Kapitän Mansame« wurde 1888 von Marie Herzfeld ins Deutsche übersetzt. — D'Annunzios »Innocente« erschien deutsch 1920 (»Der Unschuldige«). — Bj0rnsons »Absaloms Haar«, deutsch von Meinhardt, »Magnhild« 1878 übers, von Lobedanz. Georg Brandes: »Ferdinand Lassalle«, Berlin 1881 und 1887. — Außer diesen Werken, die sich ganz mit der Pathologie der Triebe beschäftigt, bringen viele andere psychologisch wertvolle Schilderungen, z. B. Dostojewskis »Die Brüder Karamassow.« 26
Erkenntnis und Wertung
402 gefühle hervorzurufen, die wir Leidenschaft nennen, und die ein Menschenschicksal in den Untergang führen können, wie Jacob Knudsen in seinem obenerwähnten Buch lebhaft geschildert hat. Jene seelischen Erscheinungen, die wir Erregungen nennen, sind oft die Begleiter der Leidenschaften. Sie können sowohl in einer intensiven Freude als auch in einem Glücksgefühl bestehen, doch öfters sind diese Zustände stark unlustbetont, wie z. B. Trauer, Enttäuschung, Zorn und Haß. Sie offenbaren sich durch Veränderung des vasomotorischen Systems und zwar bei dem Gefühl des Glücks und der Freude hauptsächlich in Gefäßerweiterungen, bei Trauer und Enttäuschung dagegen in Gefäßverengerungen, durch Schwächung der Enervation und durch Incoordination der organischen Muskeln (beim Zorn jedoch in Verbindung mit Gefäßerweiterung). Diese Änderungen des Gefäß-nerven-systems hat ein dänischer Arzt Carl Lange in einer Abhandlung: »Om Sindsbevaegelser« (1885), (»Seelische Erregungszustände«) besonders hervorgehoben und klar beleuchtet. Lange nahm an, daß das Kausalverhältnis zwischen den Erregungen und den Änderungen des Gefäßnervensystemes so sei, daß die letzteren die ersteren hervorrufen. Später hat ein anderer Däne, Alfred Lehmann »De sjselelige Tilstandes legemlige Ytringer« (»Die somatischen Ausdrücke seelischer Zustände«) festgestellt, daß die vasomotorischen Veränderungen erst nach dem Eintritt der Erregungen in Erscheinung treten und daß sie sich sogar einige Zeit nach deren Aufhören halten können. Die psychologischen Beobachtungen der Dichter, die oben erwähnt worden sind, werden von den nervenphysiologischen Erfahrungen ergänzt. Ein tiefschürfendes Dichterwerk ist oft eine monographische Studie der Psychologie der Leidenschaften. In Verbindung mit der erwähnten Erforschung der Tätigkeit der Gefäßnerven zeigt diese, daß dasjenige, was wir Leidenschaft nennen, oft entweder direkt (alkoholische, morphinistische, geschlechtliche oder andere Rauschzustände) oder indirekt (Haß, der in den meisten Fällen wirtschaftlich oder sexuell oder in anderer Beziehung materiell bedingt ist) den materiellen Trieben entstamme, daß Leidenschaft früher oder später von starken Erregungen begleitet werde, und daß diese, wenn sie von materiellen Trieben herrühren, entweder mittelbar infolge der Natur der vasomotorischen Änderungen (wie beim Haß, Zorn, Enttäuschung u. ä.) stark unlustbetont seien oder aber in der Regel von stark unlustbetonten Reaktionen begleitet werden, selbst wenn sie momentan intensiv lustbetont sind.
403 In den W e r k e n des dänischen Arztes Hjalmar Heiweg findet man viele scharfsinnige, psychologische Beiträge zur Beleuchtung zentraler Lebensprobleme — vor Allem in den Büchern »Mennesketyper (Menschentypen)«, ( 1 9 3 5 ) , »Sjselelige Mekanismer« (Seelische Mechanism e n ) , (1937) und in seinen bedeutungsvollen, psychiatrisch-psychologischen Studien berühmter dänischer Persönlichkeiten: »Grundtvig« ( 1 9 1 8 ) , »H. C. Andersen« (1927) und »S0ren Kierkegaard« (1934).
Eine besondere Wirkung des übertriebenen, materiellen Genusses und des Abwechslungs- und Verfeinerungsprozesses während desselben ist, daß das Seelenleben allmählich gleichsam verdorrt und seine frische Empfänglichkeit für die stillen Stimmungen, für das Glück an der Welt der Kunst und der Natur und an dem seelischen Zusammenleben zerstört wird. Vielleicht könnte man hier ein Gleichnis verwenden: Unter den heißen Winden der Leidenschaft verdorrt das Seelenleben allmählich und wird aus einem fruchtbaren Garten in eine tote W ü s t e verwandelt. W i r haben in der dänischen Literatur zwei Philosophen, die Beide feine Schilderer des reichen Glückes der stillen, seelischen Stimmungen sind, nämlich Sibbern und Fejlberg. In »Gabrielis' Briefe« sagt Sibbern: »Alles, was in meiner Seele lebte und mein Herz erquickte, als ich gestern durch die schönen Gegenden wanderte, lebt wieder in mir auf. W i e bewahren wir unsere Jugend bis in ein hohes Alter? W i e füllen wir uns mit einer Lebenspoesie, die ewig strömen k a n n ? W i e machen wir eine erquickende Romantik zu dem Element, in dem wir stets atmen, oder das uns doch wenigstens zu Erquickung und Behagen so nahe sein könnte, wie an unseren Küsten an heißen Sommertagen die Wogen des Meeres dem Badenden und Schwimmenden sind, oder wie die taufunkelnde Frische des Morgens und die freundlichen Lüfte des Abends uns in jener herrlichen Jahreszeit sind, selbst wenn sie auch heiße Tage bringt? W i e oft kehrten diese Fragen nicht
F. C. Sibbern (1785-1872), deutsch-dänischer Herkunft, beeinflußte seine Zeitgenossen in Dänemark durch seine von Schelling angeregten Gedanken. Seine »Briefe von Gabrielis« hatten großen Erfolg (1826). Seine psychologischen Betrachtungen enthalten viel Erfahrungsmaterial. — Fejlberg (1849-1912) beeinflußte als Philosoph seine Zeit. Christian Rostrup (1818—1892), volkstümlicher Dramatiker. Schon 1844 schrieb er die Komedie »Genboerne« (Die Nachbarn). 26*
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in meine Seele zurück? Wie oft habe ich nicht, indem ich in dieser Weise der ewigen Jugend gedachte, sie dazu gelockt, mich wieder aufzusuchen und in mir Wohnung zu nehmen — gestern gab ich mir wiederum unter dem hellsten Himmel diesen Gedanken hin, während ich durch den erwachten Frühling vorwärtswanderte. Worauf kommt es denn eigentlich an? sagte ich zu mir selbst, und ich hatte nur nötig wieder einmal stillzustehen — denn wie oft tat ich das nicht auf solchen Spaziergängen? — und mich umzuschauen. Hier umgab mich an allen Seiten Genügendes, das in der schönsten Weise das Sonnenlicht in unendlich buntem Farbenspiel zurückstrahlte und mich auf das lebhafteste die Natur ihren Reichtum an Leben und Anmut entfalten sehen ließ. Es kommt dabei darauf an, so sagte ich mir, daß man sich daran hält und sich an dem erquickt, das man überall haben kann. Denn so lautet ein altes Wort von mir: Je weniger Begierde, umso mehr wahrer Genuß und Erquickung. Es gibt wundersame Lebensmusik zur Genüge überall; man soll nur in sich selber still werden und danach lauschen!« Feilberg erwähnt als Ausgangspunkt seiner Betrachtungen eine durchaus alltägliche Situation. Ein Mann geht an einem Wintertage in der Dämmerstunde von einer engen Straße der Stadt mit starkem Verkehr auf einen großen ruhigen Marktplatz hinaus. Den Lärm hört man nur aus der Ferne. Es ist, als ob man Ruhe bekäme, sich zu erweitern und sich zu sammeln, nach dem Wetter zu sehen und nach dem Himmel zu schauen. Der Mann »fühlte sich freier zumute; unwillkürlich ging er langsamer. Das letzte Licht des Tages schien aus dem Westen über den Marktplatz. Ein großer Stern funkelte über dem Theater. Außergewöhnlich saubere Pfützen zwischen den Pflastersteinen, die zu trocknen begannen, lenkten die Gedanken auf kommenden Frost. Aus einer bestimmten Richtung spiegelte ein sonderbares, bläuliches und ruhiges Licht sich in dem nassen Gleis der Straßenbahn, ein Licht, das gar nicht dem roten, flackernden der Laternen ähnelte. Er blickte nach oben. Da saß ein zunehmender Halbmond, der im Begriff war, sich der Herrschaft über die Beleuchtung zu bemächtigen. Ein Schauer starken Jugendgefühls durchfuhr ihn mit eigentümlicher Kraft, daß es seine Aufmerksamkeit erregte. »Es ist doch sonderbar« — dachte er, »so war es auch heute morgen, als ich am Steinzaun im Botanischen Garten stand und das Spiel der Sonnenstrahlen in den Wassertropfen am Brombeerstrauch beobachtete. Welchen sonderbaren Reichtum gibt es nicht heute! Es ist, als sähe man heute
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mehr als sonst. Zu anderen Zeiten lebt man Monate hindurch ohne die geringste Andeutung eines Gefühls. Wie kann das sein?» Er dachte nach. Wo war er gewesen? Was hatte er unternommen? Ja, am gestrigen Tage hatte er einen langen Spaziergang den Strandweg entlang nach Helsing0r gemacht. Mag sein, daß das der Grund war; denn jetzt erinnerte er sich, daß er gegen Ende des Spazierganges z. B. oben an der Bucht von Humlebaek, wo die Fischer nach Sonnenuntergang ihre Netze auswarfen, ähnliche, starke Gefühlsschauer gespürt hatte. Man hörte die Reden der Fischer und die verschiedenen Laute der Ruder so deutlich über die stille Wasserfläche, in der sich die roten Abendwolken spiegelten. Der Eindruck war so wundersam stark. Und so war es auch, als er durch das Dörfchen Snekkersteen ging, wo die Fischer in kleinen Gruppen vor ihren Häusern standen und in der stillen Abendstunde plauderten und Tabak rauchten. Es kam ihm Alles so sonderbar heimisch vor und erinnerte ihn in eigentümlicher Weise an seine Jugend. Aber wie war es möglich, daß ein solcher Spaziergang diese Wirkung haben könnte? Wäre das immer der Fall, müßten alle Leute, die reisten oder viel spazieren gingen, glückliche Menschen sein. Er wußte nicht recht, was er denken sollte. Indessen währte das verhältnismäßig häufige Aufzucken starker Empfindung und Gedankenklarheit fast einen ganzen Monat, es war ein Dezember selten reichen Inhaltes, in dem viele seiner besten Erinnerungen ein Zuhause fanden. Wie erwünscht wäre es, die Bedingungen und den Grund einer solchen Erweckungsperiode zu kennen« (Ludvig Feilberg: Samlede Skrifter, 1918). Feilberg gibt in den folgenden Abschnitten viele feine und scharfsinnige Betrachtungen über die Bedingungen für das Entstehen dieser reichen Stunden, besonders für die Vertiefung der Seele, die Konzentration, die durch nichts von außen Kommendes gestört wird, durch keine Eindrücke, die die Stimmung zerschlagen könnten. Diese stillen Augenblicke erhalten durch diese Verdichtung einen Möglichkeitswert, einen Gleichlauf, in dem neue Werte geboren werden, während wir uns sonst oft im Leben in einem mechanischen Kreislauf bewegen, der keine solchen, fruchtbaren Stunden verleiht. Aber im Geiste Sibberns können wir den Betrachtungen Feilbergs hinzufügen, daß die Hauptbedingung für die reiche Stimmung und den Frieden dieser fruchtbaren Stunden die ist, daß wir den Garten des Seelenlebens von Allem gejätet haben, was die Konzentration, die Vertiefung aus ganzer Seele stören und zerschlagen könnte. Es ist, wie S0ren Kierkegaard es gesagt hat: Die Reinheit der Seele heißt, Eines zu wollen.
406 Der seelische Prozess, den Feilberg Gleichlauf nennt, ist besonders fruchtbar und schöpferisch, während derjenige, den er Kreislauf nennt, ein mechanisches, rutinemäßiges Sich-in-denselben-Gedankenbahnen-bewegen darstellt. Der Kreislauf ist die tägliche Tretmühle im Erwerbsleben und in der Verwaltung. Hostrup berührt dieselbe Erscheinung, wenn er in »Genboerne« von »dem Haufen« spricht, »der mit Säge und Hobel, mit Gut und mit Quatsch, mit gefesseltem Fuß und gestutztem Flügel in der Mühle des Lebens umhertrottet.« Es kommt mir indessen vor, als ob sowohl Hostrup als Feilberg übersähen, daß der Kreislauf, die »Tretmühle« auch seelisch fruchtbar sein kann, weil jede Arbeit, auch die alltägliche, die innerhalb desselben Rahmens vor sich geht, Stimmungen stiller Freude und Zufriedenheit hervorrufen kann, wenn sie nur mit Vertiefung und Konzentration ausgeführt wird. Die Zufriedenheit des Arbeiters, des Büroangestellten und des Handwerkers, die diese Menschen am Feierabend beim Gedanken an eine tüchtig geleistete Arbeit empfinden, ist an sich ein seelischer W e r t ; selbst während der Routinenarbeit kann sich eine Möglichkeit neuer Dinge zeigen, z. B. durch einen etwas geänderten, vereinfachten Herstellungsvorgang. Es gibt übrigens viele Menschen und Volksklassen, die eben an der routinenmäßigen Tätigkeit eine besondere Freude finden und die völlig aus dem Gleichgewicht gebracht werden, ja sich unglücklich fühlen, wenn revolutionierende Änderungen eintreten. Solche Arbeitsmenschen haben ihren großen Wert für die Gesellschaft, und in der täglichen, in bestimmten Bahnen verlaufenden Arbeit finden sie ein glückliches Leben. Dies ist individuell-ethisch die Hauptsache; gesellschaftlich gesehen vervollständigen diese Typen die schöpferischen und sind neben diesen gar nicht zu entbehren. Beiden Typen wird das Leben wertvoll, wenn die Pflicht zum Leitstern ihres Weges wird. Von Beiden könnten die folgende Zeilen gelten: »He trod the path of duty serenely day by day, with the strong mans hand at labour, with the childhoods heart at play.« Menschen mit tiefer Einsicht in das Leben haben oft der Erfahrung Ausdruck gegeben, daß man den Augenblick ergreifen müsse, seine Möglichkeiten zur inneren Entwickelung oder zum äußeren Fortschritt ausnutzen solle. Hier seien einzelne Aussprüche als Beispiele angeführt. Napoleon ist besonders darauf bedacht, den Augenblick in bezug auf den äußeren Fortschritt zu ergreifen, wenn er sagt: »II faut profiter de toutes les occasions, car la fortune est femme. Sie
407 vous la manquez aujourdhui, ne vous attendez pas ä la retrouver demain.« (Correspondance de Napoleon, I, 31). John Milton hatte seine Gedanken mit bezug auf die Verwertung des Augenblicks auf die innere Entwickelung gerichtet, wenn er sagte: »Richtig zu handeln, ohne an den Ruhm zu denken, ist über jeden Ruhm erhaben. Aber zum richtig handeln gehört es auch, keinen einzigen Tag ohne Arbeit verstreichen zu lassen.« Die Konzentration des einzelnen Augenblicks hat außer dieser positiven Form aber gleichzeitig eine negativere: nämlich unüberlegte Worte oder Handlungen zurückzuhalten, die schädliche Folgen mit sich führen könnten. Welch schicksalsschwere Folgen für ein Menschenleben ein unüberlegtes Wort herbeiführen kann, darüber geben sowohl Memoiren als die gewöhnliche Literatur von den ältesten Zeiten bis heute reiche Beispiele. Der Herzog von Saint-Simon erzählt in seinen Erinnerungen, daß ein nach Dänemark ausgewanderter, huguenottischer Edelmann, Graf Roye, bei König Christian V. die höchsten Ehrenposten erreichte und sogar Feldmarschall wurde, daß seine ganze Position im Lande durch eine einzige unvorsichtige Bemerkung seiner Frau an der königlichen Tafel vernichtet wurde; sie sagte nämlich, die Königin Charlotte Amalie sei einer französischen Frau, Madam P., ähnlich. Obgleich die Bemerkung in französischer Sprache an die Tochter der Sprecherin gerichtet war, hörte die Königin dennoch, was gesagt wurde. Durch den dänischen Gesandten in Paris ließ sie nachfragen, wie diese Madame P. aussähe, und erfuhr dabei, daß sie einer Vogelscheuche gleiche und auch ein lächerliches Benehmen zeigte. Die Stellung des Grafen von Roye in Dänemark war von diesem Augenblick an unhaltbar und schließlich mußte er das Land verlassen. Saint-Simon erzählt auch, daß der große Dichter Racine, der bei Ludwig XIV und der Madame de Maintenon in hoher Gunst stand, in einer Gesellschaft bei ihr eine äußerst abfällige Bemerkung über einen Schriftsteller machte, ohne im Augenblick daran zu denken, daß der Betreffende der frühere Gatte der Madame de Maintenon war. Die Stimmung der Gesellschaft war verdorben und Racine wurde nie wieder zum König und Madame de Maintenon eingeladen. Saint-Simon berichtet weiter, Racine habe sich dermaßen über seine Ungeschicktlichkeit geärgert, daß er zwei Jahre danach starb. Dieser Fall ist übrigens gleichzeitig ein typisches Bild der Zeit und beleuchtet in gewisser Weise den Absolutismus. Das Schauspiel Paul Hervieus: »Les paroles restent« beleuchtet vor Allem eine andere Seite dieser Sache, und zwar den Schaden, den man mit seinen Worten
408 Anderen zufügen kann. E s zeigt, wie selbst der beste Mensch durch ein leichtsinnig hingeworfenes W o r t , dem er selbst keinen W e r t beilegt, das aber aufgefangen und verbreitet wird, den Frieden und das Glück anderer Menschen und oft auch sein eigenes zerstören kann. Bei dem bisherigen Mangel an Anleitung seitens einer experimentellen, klinischen E t h i k nimmt es nicht wunder, daß Menschen oft auf Abwege geraten und ihr Schicksal verfehlen. Keine Anleitung kann besser sein, als eine Beleuchtung der ethischen Gesetze, die ich im Verlauf meiner Darstellung zu geben suchte und zwar durch die oben erzählten Beispiele zur klinischen Behandlung. Die Lebenserfahrungen bedeutender Menschen sind in dieser Beziehung von besonderem Wert. Außer den bereits angeführten sollen deshalb einige weitere, typische Fälle dieser Art hervorgehoben werden. Michel Angelo sagt: »Nichts macht die Seele so rein und edel wie das Streben nach der Durchführung eines vollkommenen Werkes.« In diesen Worten findet die Lebenserfahrung Ausdruck, daß eine Periode voll intensiver Arbeit mit einem bestimmten Ziele, der Vollendung eines W e r k e s , die Fähigkeit zu neuer Arbeit übt und s c h ä r f t ; gleichzeitig wird aber durch die Vollendung des W e r k e s j e n e Zeit, die ihr vorausging, trotz der Schmerzen und Mühen unterwegs, als ein reiches Erlebnis empfunden. Das Gegenstück hierzu, die Verwitterung und das Verrosten der Fähigkeiten durch Trägheit und Tatenlosigkeit ist ein für allemal von Henrik Ibsen in der Gestalt H j a l m a r Ekdals in der »Wildente« meisterhaft geschildert worden. Das Gefühl, nicht gelebt zu haben, weil die Zeit von materiellen Dingen ausgefüllt war, ist als bittere Lebenserfahrung in eindringlicher, symbolischer Weise von dem dänischen Dichter Carsten Hauch in dessen Schauspiel »S0strene pä Kinnekullen« (Die Schwestern auf Kinnekulle) geschildert worden. Das ganze Leben hindurch sitzt die Ulrika im Inneren des Berges und spinnt Gold. Sie vergißt dabei, wie die Zeit vergeht. E r s t als sie wieder herauskommt, entdeckt sie — als
Carsten Johannes Hauch, dän. Dichter und Gelehrter (1790—1872), von 1846—48 Professor der Ästhetik in Kiel, dann in Kopenhagen, von deutscher Romantik stark beeinflußt. Von seinen Werken sind u. a. das Schauspiel »Tiberius« und die Romane »Wilhelm Zabern« (1848) und »Eine polnische Familie« (1848) verdeutscht worden. — Henrik Ibsens Werke sind alle deutsch übersetzt; eine deutsche Ausgabe in 10 Bänden von 1898-1934.
409 sie ihr weißes Haar und ihr gealtertes Äußeres sieht — daß das Leben ihr davongelaufen ist und daß sie dank ihrer Leidenschaft für Gold vergessen hat zu leben. Durch eine solche Neigung, eine solche Gier oder Leidenschaft findet eine seelische Verschiebung statt, indem die Neigung von dem Wunsch nach materiellen Genüssen auf das Mittel, auf das Umsatzmittel des Geldes, durch das sie ihr Ziel erreichen wollte, verschoben wird. Wem kein Teil von der Welt der Seele und des Geistes fremd ist, wer imstande ist, sie Alle zu umfassen, der erreicht das reichste Gefühl am Leben. Wenn ein Mensch nur einen Teil von dieser Welt erlebt hat, kann ihn auch gegen den Schluß des Lebens oder einer Lebensperiode das Gefühl überkommen, daß er überhaupt noch nicht gelebt habe. Dieser Lebenserfahrung hat Henrik Ibsen in dem Schauspiel »Wenn die Toten erwachen« Ausdruck gegeben. Das intensive Arbeitsleben hat die große Erhebung rein menschlicher Lebensverhältnisse nicht ersetzen können. Beide gehören einem Menschenleben an.
In den altindischen, religiös-philosophischen Systemen, vor Allem in der Yogalehre, gibt es viele wertvolle Lebensregeln, besonders mit Bezug auf die Einübung der Selbstbeherrschung und der Vertiefung. Es wird hervorgehoben, daß der Mensch in verschiedener Weise imstande sei, die Fähigkeit der Konzentration zur Vertiefung in die Arbeit oder in andere ethische Werte auszubilden. Oft sind seelische Störungen und Nervenleiden durch Zersplitterung zwischen widerstreitenden Neigungen, Verstreuung über viele Gebiete, also mangelhafte Konzentration oder Vertiefung in eine bestimmte Arbeit, verschuldet. W a s man »Überanstrengung« nennt und die man allgemein als eine Folge von zu vieler Arbeit betrachtet, stammt oft von zu wenig Arbeit, nämlich von einem Hin-und-her-fliegen von Einem zum Anderen ohne bestimmten Plan, also von einer schlechten Einteilung des Arbeitstages. Ein französischer Irrenarzt hat einmal treffend bemerkt, daß zahlreiche Nervenkranke der Gegenwart nicht an »trop menage« sondern an »mal menage« leiden d. h. nicht weil man zu viel zu tun hat, sondern weil man seine Arbeit nicht organisieren und keinen Plan darüber hat. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich bezeugen, daß ich vielen Menschen begegnet bin, die schlechte Nerven bekommen hatten, weil sie zu wenig zu tun hatten, aber nur sehr wenigen Menschen, die durch zu viel Arbeit nervenleidend ge-
410 worden sind. Die meisten Überanstrengungserscheinungen entstammen einer schlechten, seelischen Planökonomie. Ernst M0ller sagt mit Recht: »Die sogenannte Überanstrengung k a n n in Wirklichkeit sehr wohl eine Unteranstrengung sein. Sehr oft geht der Patient einfach zu viel in Gesellschaften, so daß er in der Arbeitszeit nicht arbeitsfähig ist, oder er konzentriert sich nicht u m die Arbeit, sondern wird von versteckten Unwillen oder von vagabondierenden oder hetzenden Gedanken über etwas ganz Anderes, als ausgerechnet seine Arbeit, zersplittert. Die Kur gegen »Überanstrengung« wird folglich Arbeit, bessere, tiefere u n d fester umschlossene Arbeit.« Im Ganzen gilt es also, jeden Augenblick die störenden Eindrücke u n d Einflüsse auszuschalten, f ü r eine Konzentration der Seele u m das Eine, das von nöten ist, zu wirken, also f ü r die Arbeit, die eben getan werden soll u n d zuerst erledigt werden m u ß , bevor m a n neue Aufgaben a u f n e h m e n darf, oder aber, daß m a n W e r t e wie Schönheit u n d Güte erlebt. »Whatever you do, in work or play, do it w i t h all your heart«, oder wie Ibsen sagt: »Voll u n d ganz, nicht stückweise und geteilt...« Die Yogalehre gibt nicht n u r Ratschläge u n d Regeln f ü r die besten Wege, die zur Konzentration oder Vertiefung f ü h r e n , sondern auch Anleitung in der Kunst der Beherrschung. Diese k a n n m a n n u r dadurch ausbilden, daß m a n hin u n d wieder bewußt das Entgegengesetzte tut von dem, wozu m a n Lust u n d Neigung hat. D a d u r c h k a n n m a n allmählich die Wahl der Motive seiner Handlungen ausbilden u n d einem notleidenden, guten Motiv zur Hilfe kommen. Damit ist selbstverständlich nicht gemeint, daß m a n Entgegengesetztes t u t oder auf den Genuß verzichten soll, wenn m a n eine Lust oder Neigung spürt, wie z. B. in das Theater zu gehen oder ein wohlschmeckendes Gericht zu essen. Aber indem m a n h i n u n d wieder darauf verzichtet,
Der dänische Jurist dr. jur. Ernst M0ller (1862—1916), Advokat beim dän. Höchsten Gericht, gab 1914 ein Buch: »Inderstyre, Veje og Midier for Herred0mmet over de indre Krsefter og for sjseleligt Fremarbejde« (Innere Beherrschung, Wege und Mittel zur Beherrschung der inneren Kräfte und zum seelischen Vorwärtsarbeiten) heraus. Das Zitat ist S. 27 zu finden. Andere bedeutende Bücher von ihm: »Kristendom f0r Kristus« »Oldmester (Altmeister)«, eine sehr persönlige Wiedergabe (aus dem englischen) von Lao tse: »Tao te king«. — Uber die Yogalehre vgl. auch Miller: »Inderstyre« (49, 96, 100ff, 218-36) - und vor Allem: Paul Tuxen: »En Oversigt over den systematiske Yogafilosofi«, Kbhvn. 1911.
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zeigt man sich als Herr seiner Motivbildung und bildet seine Selbstbeherrschung aus. Es gilt indessen in diesem Falle — wenn ich mich so ausdrücken darf — beim Wettrennen der Motive jenes, dem man die Macht berauben will, unmittelbar vor dem Ziele, also bevor es zu stark wird, abzufangen. Indem man seine Aufmerksamkeit in immer stärkerem Maße um das, was vorzuziehen ist, konzentriert, flößt der Wille einem motivierenden Gedanken Energie ein und macht ihn stark. Wie im Text schon hervorgehoben, kann man durch das bloß Negative — die Unterdrückung eines Lustmotives — nichts Haltbares erreichen; man muß an seine Stelle ein neues Leitmotiv stellen und dieses allmählich in dem Maße stärken, daß es das unzweckmäßige Motiv überwindet. Ethische
Familienwerte.
Die Familie derer von Bernstorff legt ein bedeutungsvolles Zeugnis davon ab, daß eine starke Charakterentwickelung mit den rechten, ethischen Grundsätzen als Leitstern eine Familie hervorheben, sie zusammenhalten und dazu beitragen kann, daß ihre bedeutendsten Mitglieder große Führer werden können. Der erste hervorragende Mann dieses Geschlechtes, Andreas Gottlieb Bernstorff, hannoveranischer Gutsbesitzer und Minister in England, verfaßte die sogenannte Bernstorffsche Familiensatzung, in der er die Summe seiner ethischen Erfahrungen als geistiges Testament und Leitfaden für die Familie niederlegte.
Es ist hier nur von dem dänischen Zweig derer von Bernstorff die Rede, der dem dänischen Staat hervorragende Staatsmänner geschenkt hat. Sie haben nicht allein durch ihre weitschauende Außenpolitik dem Lande geholfen, indem sie — so weit es under den gegebenen, ungeheuer schwierigen Verhältnissen, die durch die Napoleonskriege entstanden, möglich war — die dänische Neutralität sicherten, sondern auch im höchsten Maße mit Bezug auf die innere Entwickelung Dänemarks Außerordentliches leisteten. Beide haben sie entscheidenden Anteil an der Befreiung des dänischen Bauernstandes gehabt. Sie haben die Literatur und die Wissenschaft geschüzt, Industrie und Schiffahrt gefördert und sie sind unter schwierigen Umständen für die Druckfreiheit eingetreten. Mit Recht haben dänische Bauern dem Minister A. P. Bernstorff eine Statue am Ufer des Gentofte-sees errichtet. Das dänische Volk ist diesen Männern, die dem Familienvermächtnis Andreas Gottlieb Bernstorffss treu blieben, vielen Dank schuldig.
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Die beiden berühmtesten seiner Nachkommen, die dänischen Staatsmänner Johann Hartwig Bernstorff (1712—1772) und Andreas Peter Bernstorff (1735—1797) trugen in ihrem ganzen Lebenswandel das Gepräge des hohen ethischen Standards, der in diesem Statut zum Ausdruck kommt. Andreas Gottlieb Bernstorff hatte in dieser Satzung seinen Nachkommen in bezug auf die Verwaltung der Familiengüter auferlegt, niemals ihren eigenen augenblicklichen Vorteil, sondern ausschließlich die Zukunft und das Wohl des gesamten Geschlechtes zu berücksichtigen. Es enthielt strenge Bestimmungen gegen Raubbau von Acker oder Wald, genaue Regeln über Belastung der Güter mit Hypotheken und über die schnelle und pünktliche Abzahlung aller Schulden. Ein eventueller Überschluß sollte zur Abrundung der Güter durch neue Käufe, zur Verbesserung des Betriebes oder zu neuen Bauten verwendet werden. Ein bestimmtes Kapital sollte als Reservefond und Nothilfe für schlechte Jahre oder für andere Unglücksfälle zurückgestellt werden. Das Blühen des Geschlechtes sollte durch vernünftige Mittel gefördert werden; nicht alle Männer der Familie durften heiraten, sondern nur diejenigen, die dazu die Mittel hätten. Schwache und unmoralische Individuen dürften sich nicht fortpflanzen — das sei nur Denjenigen erlaubt, deren körperliche und geistige Eigenschaften sie dazu geeignet machten. Umgekehrt sei es Niemandem, der diese Bedingungen erfüllte, gestattet, sich der Ehe zu enthalten, vor Allem nicht, wenn die Zahl der männlichen Mitglieder des Geschlechtes gering sei. Bei der Wahl des Ehegatten oder der Gattin sei die äußerste Vorsicht zu zeigen; man dürfe vor Allem nicht auf Reichtum oder eine große Mitgift sehen, wenn der Stammherr sich eine Frau suchte, denn was helfe es, wenn die Frau eine große Mitgift in die Familie brächte, während ihr Charakter und ihre Gewohnheiten vielleicht so schlecht wären, daß sie ihren Mann durch unvernünftigen Haushalt ruinierte oder vielleicht die Familie »irreparabile präjudiziere«, indem sie eine schlechte Mutter werde. In der Wahl der Frau dürfe man auch nicht »der Jugend so gewöhnlichen Caprizen, Hitze oder unzeitigen wohl gar liederlichen Amouretten« folgen oder nur auf Schönheit und ein glattes Gesicht Rücksicht nehmen. Dagegen sollten sie sich Frauen aus gutem Stande und so guter Familie mit so wertvollen seelischen und leiblichen Eigenschaften wählen, daß sowohl sie selber als die Nachkommen Ehre und Freude davon hätten. Die Frau müßte unbedingt aus guter und ehrenhafter Familie sein, »weil von Leuten aus böser Race fast nimmer was gutes zu hoffen ist.«
413 In bezug auf die Erziehung der Nachkommenschaft legte die Satzung nähere Regeln fest. Die jungen Bernstorffs sollen zur wahren Gottesfurcht, zur Tugend und guten Sitten erzogen werden, damit Jeder in seiner Weise geeignet werde, »dem Publico und der Welt« zu dienen. Die Knaben sollen gesunde und starke Körper haben, aber dennoch seien alle Körperübungen als Nebensachen zu rechnen; mit Tanz komme man nicht durch die Welt und mehr Fechten als für die eigene Verteidigung notwendig, zieme sich wohl »den Gladiatores und Bretteurs«, aber keinem Bernstorff. Bis zum 12. Jahr müssen die Knaben auf dem Lande erzogen werden. Später seien sie an Stellen zu senden, wo es mehr zu lernen gebe, aber nicht dahin, »allwo Debauchen in Schwange gehen«, wie z. B. an die großen Höfe, sondern in Schulen oder Gymnasien kleinerer Städte. Ungeachtet ihrer Lust oder Fähigkeit sollen die Knaben einen ordentlichen Unterricht haben; bis zu ihrem 17. oder 18. Jahr sollen sie Arithmetik, etwas Geometrie, aber vor Allem Geschichte und die wichtigsten, lebenden Fremdsprachen lernen, damit sie, selbst wenn sie nicht weiterstudieren wollen, in keinem Fall »in einer gänzlichen und solchen Rudität und Unwissenheit aufwachsen, daß bei ihren zunehmenden Jahren wegen solcher Ignoranz und Ungeschichtlichkeit sie außer Stande wären, zu einigen honorablen Officiis zu gelangen oder ihrem Vaterlande und Familie wo zu nütze seyn können.« Später sollen sie, doch nicht in zu jungen Jahren und nicht zu lange, nur anderthalb Jahre, auf Reisen geschickt werden, um nicht, was so oft der Fall ist, Zeit und Geld nutzlos zu verschwenden. Vor Allem aber sollen die Jungen von Kindsbeinen an daran gewöhnt werden, »allen in der Welt täglich zunehmenden und der Jugend so fatalen Debauchen«, wie z. B. dem Trunk, dem Spiel und anderen Ausschweifungen zu entgehen. »Omne präsens est momentaneum und gehet bald vorbey, die futura währen lange und können lange währen, und muß man also umb eines kleinen und kurtzen Genusses das, so lange dauren wird und soll, nicht verderben.« Dies ist der ernste Grundton, der durch die Familiensatzung Andreas Gottlieb Bernstorffs klingt. Feierlich beschwört er die Nachkommen, stets vor Augen zu haben, daß sie Edelleute sind und von ehrbaren Leuten stammen, »die wohl und mit Ehren in der Welt gelebet haben«; deshalb sei es ihre Pflicht so zu leben, daß sie keine Schande über den Namen der Familie und das Andenken ihrer Ahnen bringen. Ehrbar soll der Einzelne, ehrbar die Familie als Ganzes leben; fest sollen sie zusammenhalten, Streit
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und Zwist vermeiden und in Freundschaft leben, so wie Andreas Gottlieb selber mit seinen Brüdern und Vettern und dem ganzen Geschlecht gelebt habe. Sie sollen dessen gedenken, daß sie in der Welt leben und Andere leben lassen müssen, daß man die Welt nicht ändern oder bekehren könne, sie aber so lassen müsse, wie sie ist; man müsse sich nach der Welt richten, denn die Welt richte sich nicht nach uns; man lebe nicht unter Engeln, sondern unter Menschen; vielem Bösen werden sie begegnen und Vieles sei Anderen zugute zu halten, aber weder dürfen sie mit Anderen Streit suchen, noch — selbst wenn es gut sei, sich Anderen anzupassen — in irgend Etwas nachgeben, das auf böse Wege führe oder gegen die eigene Würde oder die Gebote streite. Stets sollen sie gedenken, daß ihre eigene Würde und das Wohlergehen des gesamten Geschlechtes auf das engste mit »der Wohlfahrt und dem bene esse, auch guten Gouvernement des Landes der Republic oder Societatis civilis, worin man lebe und wo man stabiliret ist« verknüpft sei. Und sie sollen aus allen ihren Kräften das Wohl des Landes, in dem sie leben, fördern. Jeder Mann der Familie habe die Familiensatzungen kennen zu lernen und wenn er volljährig wird, müsse er feierlich versprechen ihre Bestimmungen einzuhalten. Nur aus Liebe und Sorgfalt zu seiner Familie habe Andreas Gottlieb Bernstorff so große Güter gesammelt und festgelegt; deshalb hoffe er auch, daß seine Familie sich seinem Vertrauen würdig zeige und sein Werk in Ehren halten werde. In diese Urkunde, die zwei Jahrhunderte alt ist und die Grundlage für das Dasein derer von Bernstorff sein sollte, hatte A. G. Bernstorff die Frucht seiner Arbeit, die Summe seiner Erfahrungen niedergelegt. Sie ist eine dringliche Aufforderung zum ehrbaren und arbeitsamen Leben in Selbstachtung und in Respekt vor der Gesellschaft, in der die Mitglieder der Familie leben sollten. So detailliert griffen die Bestimmungen des Fideikommis in das Dasein der Familie ein, daß man in den ersten drei Generationen immer wieder genötigt wurde, das schwere, pergamentene Buch hervorzunehmen, um sich in den Gedankengang des Stifters einzuleben. Der Boden, von dem man sich ernährte, erinnerte sie ununterbrochen an die Arbeit und die Wohltaten des Ahnherrn. Kein Wunder, daß seine Gebote und Ermahnungen jenen ersten Generationen wie mit leuchtender Schrift geschrieben schienen. Von ihnen gingen jene Traditionen aus, in denen die Mitglieder der Familie aufgezogen und unterrichtet wurden, die in Dänemark tätig waren und von denen zwei zu den bedeutendsten Staatsmännern dieses Landes gehören.
415 II DIE SOZIALE E T H I K W i e in der individuellen Ethik m u ß m a n auch innerhalb der sozialen mit dem beginnen, worüber nicht zu streiten ist, weil alle Erfahrungen dafür und keine dagegen sprechen. Die individuelle Ethik mußte sich deshalb, wie ich gezeigt habe, zunächst mit 1) der seelischen Gesundheit des Menschen und 2) mit seiner Erwerbstüchtigkeit beschäftigen. Es wurde oben festgestellt, daß einige der wichtigsten moralischen Forderungen (Fleiß, Genügsamkeit, Beherrschung u. ä.), die durch Erfahrungen der Menschheit im Laufe der Jahrtausende entstanden sind, in ihrer Gesamtheit die feste Linie und das Gesetz im Leben eines Menschen ausdrücken, das m a n Charakter nennt, und das die Grundbedingung für die Gesundheit und Erwerbstüchtigkeit eines jeden einzelnen Menschen bildet. Gleichzeitig sichert der Charakter in dieser qualitiven Bedeutung die Ordnung innerhalb der Gesellschaft. Sportsleute m ü s s e n bekanntlich während der Trainingszeit auf allen Gebieten strenges Maß einhalten, w e n n sie innerhalb ihres Sportszweiges das Höchste erreichen wollen. Nach unseren praktischen Erfahrungen gilt dasselbe der ganzen Menschheit während ihres Kampfes auf allen Bahnen, die zu Gesundheit und Arbeit führen. Erst nachdem diese Forderungen 1) und 2 ) , die die Grundbedingungen der menschlichen Befriedigung oder des menschlichen Glücks überhaupt darstellen, untersucht waren, konnte die individuelle Ethik die weit schwierigere Aufgabe in Angriff nehmen, nämlich 3) zu untersuchen, ob es möglich sein sollte, gewisse psychische Naturgesetze für die Lust und Unlust des Menschen auszufinden und dadurch eine objektivere Anleitung für die Lebensführung durch Bevorzugung der relativ intensivsten und dauerhaftesten Zustände der Befriedigung und des Glücks zu erzielen. Genau so m ü s s e n wir innerhalb der sozialen Ethik von dem Einfachen und Sicheren zu dem Schwierigen und Umstreitbaren vorwärtsschreiten. Eine Ethik, die wie der Utilitarismus das größtmögliche Glück für die größtmögliche Menge als Ziel der Ethik feststellt, beginnt sofort mit dem Schwierigsten und am meisten Umstrittenen. Man kann als Ziel der Ethik die Ausbreitung des Glücks unter den Menschen erst feststellen, w e n n m a n sich klar gemacht hat, w a s Glück überhaupt bedeutet. Das »größtmögliche« Glück leitet den Gedanken auf die Menge hin; der Begriff der Menge aber, der
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der Umwelt entstammt und nur für äußere Dinge gültig ist, kann in keinem Falle auf das seelische Gebiet übertragen werden. Bei Lustgefühlen muß man deshalb nach etwas Anderem fragen, nämlich nach ihrer Intensität und Dauer. Danach wird man jedoch in die schwierige, aber unbedingt notwendige Untersuchung hineingezwungen, welche Arten der Lustgefühle den seelischen und nervenmäßigen Erfahrungen nach die relativ intensivsten und dauerhaftesten sind. Diese Untersuchung hat der Utilitarismus völlig vernachlässigt. Er hat aber nicht nur diese empirische Nachprüfung versäumt 3). Er hat auch eine der wichtigsten Tätigkeiten der Wissenschaft um Klarheit zu schaffen, nämlich die Unterscheidung, vergessen. Es muß nicht nur zwischen individueller und sozialer Ethik, sondern innerhalb der individuellen Ethik zwischen den Aufgaben 1), 2) und 3) unterschieden werden. In ihrem ständigen Kreisen um 3), das Lustgefühl oder das Glück, hat diese Richtung völlig vergessen, daß die Ethik erst einmal die fundamentalen Bedingungen dafür ausfindig machen muß, daß Menschen überhaupt Befriedigung oder Glück erreichen können, und zwar die vorhergenannten: Gesundheit und Charakter. Dasselbe gilt aber in der sozialen Ethik. Die Gesellschaft kann nicht das Glück der Menschen schaffen. Die Fähigkeit des Menschen eine tiefere Befriedigung oder das Glück im Leben zu finden, ist außerordentlich verschieden. Einige Menschen haben ein helles und glückliches Gemüt, das überall auf seinem Wege, selbst an den kleinsten Dingen des Daseins Freude findet; Andere sind düsteren und bitteren Sinnes und erleben nur selten, wirklich froh zu sein. Und fehlt es den Menschen an Gesundheit und Charakter, gibt es oft gar kein Glück. Was die soziale Ethik, die wertende Sozialwissenschaft vermag, besteht — wie bei der individuellen Ethik — in erster Linie lediglich darin, daß sie gewisse Grundbedingungen dafür schafft, daß der Mensch unbehindert Befriedigung oder Glück suchen könne. Innerhalb der sozialen Ethik geschieht das zunächst dadurch, daß sie die Menschen verhindert, einander gegenseitig zu schädigen, d. h. zu verhindern, daß A störend in die Lebensführung des B eingreift, indem er ihm Leid zufügt. Die Erfahrungen der Menschheit durch Jahrtausende haben gelehrt, daß die Menschen verhindert werden müssen, einander zu schädigen, wenn es überhaupt Glück auf Erden geben soll. Dieser Gedanke war der Leitstern aller Gesetze der Gesellschaft von den ältesten Tagen bis in unsere Zeit, von den Gesetzen Hamurabis, Mosis und Manus bis zu den Strafgesetzen und anderen Gesetzen der Gegenwart. Aber
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alle Gesetzgeber haben nur erreicht, eine begrenzte Zahl aller schädlichen Handlungen zu treffen. Im Laufe der menschlichen Entwickelung sind immer mehr dieser Handlungen in das Gebiet der Gesetze miteinbezogen worden. Das Gesetz Mosis ist bekanntermaßen nur gegen eine geringe Anzahl schädlicher Handlungen gerichtet: du darfst nicht totschlagen, du darfst nicht falsches Zeugnis gegen deinen Nächsten ablegen, du darfst nicht stehlen u. s. w. Außer diesen 10 Geboten gibt es in den folgenden Kapiteln des Buches Mose eine Reihe ausführlicher Regeln gegen Schädigungen mit besonderen Strafen für die einzelnen Fälle. Das Gesetz Hamurabis enthält ebenfalls eine Reihe von Geboten gegen verschiedenen Schäden, mit besonderen Strafen für die verschiedenen Arten derselben. Das Gleiche gilt den mittelalterlichen Gesetzen, auch den nordischen Landschaftsgesetzen. Die Strafgesetze aller Länder der Gegenwart nennen eine Reihe besonderer, schädlicher Handlungen mit besonderen Strafen für jeden einzelnen Fall oder für eine Gruppe derselben, nur mit dem Unterschied, daß die schädlichen Handlungen in den Gesetzbüchern unserer Zeit sehr viel zahlreicher geworden sind, als in den Gesetzen des Altertums und des Mittelalters. Von 10, 20 oder 40 u. ä. in den alten Gesetzen ist die Zahl strafbarer Handlungen jetzt auf 200 oder noch mehr gestiegen. Der Grund dazu ist jedoch nicht, daß die Menschen schlechter geworden sind. Es liegt an ganz anderen Ursachen, vor Allem daran, daß die Beziehungen zwischen Menschen innerhalb der modernen Gesellschaft sehr viel komplizierter geworden sind und deshalb auch viel zahlreichere Möglichkeiten, zahlreichere Arten der Schädigung darbieten, als in den Gemeinschaften älterer Zeiten, aber auch, daß die Menschen dank der höheren seelischen Entwickelung den Schädigungen seitens des Nächstens gegenüber viel feinfühliger geworden sind als damals. Die Gesetze des Mittelalters kannten Strafen gegen Diebstahl und Raub, aber keine Rechtsverfolgerung gegen verschiedene Arten des Betruges. Die Menschen der Gegenwart fühlen sich oft ebenso gekränkt durch Betrug wie durch Diebstahl, gleichzeitig aber bieten die komplizierteren Verhältnisse der heutigen Zeit viel reichere Möglichkeiten des Betruges und für viel zahlreichere Arten davon als die mittelalterliche Gemeinschaft. Während die Gesetze der älteren Zeiten ausschließlich gegen eine Reihe genau bezeichneter und beschriebener, besonderer, schädlicher Handlungen gerichtet waren, bahnt sich in der Gesellschaft der neueren Zeit ein allgemeiner Grundsatz seinen Weg, der gegen einen jeden Schaden gerichtet ist, den die Menschen einander zufügen, und zwar 27
Erkenntnis und Wertung
418 ohne Berücksichtigung der Art der Schädigung. Dies hängt damit zusammen, daß die gegenwärtige Gesellschaft als Ziel der Rechtsverfolgung neben der Strafe in sehr weitem Umfange ein zweites, viel geschmeidigeres Rechtsmittel verwendet, nämlich die Verantwortung der Entschädigung, insofern es sich um schadenbringende Handlungen dreht. Auch in der Gegenwart müssen die Strafgesetze die Taten, die sie treffen, genau spezialisieren, weil es aus Rücksicht auf die Rechtssicherheit der Bürger den Gerichts- und Polizeibehörden gegenüber von größter Wichtigkeit ist, daß die Bürger im Voraus genau wissen, für welche bestimmten Handlungen sie mit dem ernsten und in ihr Leben tief eingreifenden Rechtsmittel der Strafe getroffen und für welche Handlungen sie nicht getroffen werden können. Deshalb müssen die strafbaren Handlungen im Gesetze genau definiert werden. W o es sich aber um die Verantwortung der Entschädigung dreht, die normalerweise weder die Freiheit noch die Ehre eines Mannes berührt (was die Strafe j a in den meisten Fällen tut), kann die Gesellschaft ohne Bedenken einen allgemeinen Grundsatz durchführen, der gegen einen jeden Schaden, den ein Mensch einem Anderen zufügt, gerichtet ist. Dieser allgemeine Rechtsgrundsatz, den man auch die allgemeine Entschädigungsregel nennt, bahnt sich im steigenden Maße seinen Weg überall in der Gesetzgebung oder Gerichtspraxis der modernen Gemeinschaften. So stellt beispielsweise das bürgerliche französische Gesetzbuch ganz allgemein ohne jegliche Art der Spezifizierung fest: »Jede menschliche Tat, die einem anderen Menschen Schaden verursacht, verpflichtet denjenigen, durch dessen Schuld der Schaden entstanden ist, ihn zu ersetzen« (Code civil Art. 1382). Durch diesen allgemeinen Entschädigungsgrundsatz ist die moderne Gesellschaft in ihrem Bestreben, die Menschen zu verhindern einander zu schädigen, weitergekommen, als die Gemeinschaften älterer Zeiten es jemals erreichten. Die Gerichte sind dank dieses Grundsatzes imstande, eine Reihe der wichtigsten Schädigungen, die Menschen einander zufügen, zu treffen und dafür Entschädigung zu geben. Man sollte im Voraus glauben, daß man mit dieser allgemeinen Ersatzregel einen ethisch gesehen idealen Rechtszustand erreicht hätte, denn sie ist in ihrer Forderung so weitumfassend, daß sie ihrem Worte nach jeden Schaden trifft, den der eine Mensch dem Anderen zufügt, und von dem man nur sagen kann, daß er daran schuldig sei. Das ist indessen durchaus nicht der Fall. Die Menschen fügen einander im täglichen Leben vielerlei Schaden zu, ohne daß die allgemeine Ersatzregel sie verhindern oder treffen kann, obgleich sie
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oft Kränkungen der Gesundheit und des Wirtschaftslebens des Nächsten bedeuten. Wie ich in der Rechtslehre zeigen werde, sind in bezug auf ein sehr weites Gebiet Unvollkommenheiten der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung selbst daran schuld. Doch selbst wenn die Rechtswissenschaft bei einer vollkommeneren Gesellschaftsordnung alle die Schäden treffen könnte, die Menschen einander zufügen, würde dieses ethische und rechtliche Problem damit leider durchaus nicht erschöpft sein. Ein sehr schwieriger Teil davon bliebe noch zu lösen. Weder die Ethik noch die Rechtslehre sind imstande, sich planmäßig die Aufgabe zu stellen, die Menschen an einer gegenseitigen Schädigung zu hindern, ohne zuerst dieses Problem zu klären: was heißt es wirklich: einander zu schädigen? Was birgt sich in diesem Worte? Und ist es erwünscht, daß jedem Schaden, der einem Menschen von Menschen zugefügt wird, durch die Rechtsordnung entgegenzuwirken sei? Diese wichtige Frage wurde in der Ethik, die ihre Meinungen darüber allzu abstrakt hielt, leider bisher viel zu sehr vernachlässigt. Auch auf diesem Gebiete war die Ethik bisher keine Wissenschaft, denn sie hat es gänzlich versäumt, sich die Kenntnis des wirklichen Lebens unter den Menschen, des reichen Materials an Erfahrungen, das hier vorhanden ist, und ohne welches die Ethik niemals jene experimentelle Erfahrungswissenschaft werden kann, die sie sein muß, zu erwerben. Dafür hat eine andere Wissenschaft, die Rechtswissenschaft, hier reiche Erfahrungen gesammelt und dieses Gebiet kultiviert. Die Ethik kann sich mit bezug auf große Gebiete auf die Erfahrungen dieser Fachwissenschaft stützen. Aber leider waren, wie ich oft hervorgehoben habe, hier wie anderswo trennende Fachmauern zwischen den Wissenschaften vorhanden. Die eine Wissenschaft, die Ethik, die in bezug auf diese fundamentalen Fragen ein völlig unbeackertes Gebiet ist, ahnt einfach nicht, daß dasselbe Gebiet durch längere Zeit von der anderen Wissenschaft, nämlich der Rechtswissenschaft, in hohem Maße gepflegt worden ist. Sowohl die positive Rechtswissenschaft als auch die allgemeine Rechtslehre haben in ihren Untersuchungen dessen, was wir in der Rechtswissenschaft als rechtswidrige Handlung bezeichnen, und darunter auch der Begriffe Schaden und Schuld, Licht über dieses schwierige Problem geworfen: ob jede Schädigung, von Menschen gegen Menschen, vermieden und als rechtswidrig und damit auch als zur Entschädigung verpflichtend betrachtet werden müsse. Dieses Problem ist indessen so schwierig und so umfassend, daß selbst die Rechtswissenschaft trotz ihrer gro27»
420 ßen Erfahrungen noch keine endgültige Lösung gefunden hat. In der Rechtslehre werde ich diese Frage später untersuchen. An dieser Stelle werde ich mich deshalb zur Orientierung für die Ethik nur an gewisse Hauptpunkte halten, die uns zeigen, worin das Problem besteht. Wenn wir sagen, daß der Mensch A einen anderen Menschen B schädigt, kann man damit ausdrücken wollen, daß A entweder dem B ein Unlustgefühl, ein Leid antut, ihn verwundet, sei es körperlich oder seelisch, oder aber ihm eines Lustgefühles beraubt und ihm den Zutritt dazu verschließt. Wir Menschen sind indessen in vielen Fällen gezwungen, einander in diesen Bedeutungen des Wortes zu schädigen, ohne daß man irgend welche rechtliche Verantwortung geltend machen und ohne daß man uns ethisch etwas vorwerfen kann. In der Erziehung und im Unterricht müssen Eltern und Lehrer das eine Mal nach dem anderen durch berechtigte Kritik und Anleitung den Kindern ein Lustgefühl nehmen und ihnen bisweilen Leid zufügen, nur damit sie den Gefahren des Lebens entgehen. Bei der Beurteilung literarischer, künstlerischer, technischer, wissenschaftlicher und anderer Arbeiten ist es oft unvermeidlich, daß der eine Mensch dem Anderen Unlustgefühle zufügt. Die Behörden des Staates sind sehr oft genötigt, durch Strafen den Menschen, die sich gegen die Rechtsordnung der Gesellschaft vergehen, durch die Beraubung der Freiheit, des Vermögens u. ä. großes Leid anzutun. Ferner müssen die Menschen einander wehtun, indem sie die Hoffnung auf eine neue Verbindung oder auf die Aufrechterhaltung einer bereits bestehenden täuschen, sei es nun mit Bezug auf persönliche, geschäftliche oder andere Verhältnisse. Denn jedem Menschen muß eine gewisse Freiheit zugebilligt werden zu entscheiden, mit welchen Menschen er verkehren möchte. Und es muß ihm gleichfalls freistehen, Beziehungen, die ihm nicht länger passen, abzubrechen. Aber selbst wo es sich um die Beziehungen auf dem Gebiete der Erziehung, der Kritik, der Strafe, des allgemeinen, menschlichen Zusammenlebens und andere Verhältnisse handelt, ist es von Bedeutung, das ethische Ziel, dem Nächsten keinen Schaden zuzufügen, als Hauptgrundsatz festzuhalten und als Leitstern zu bewahren, denn das Anderen mit Recht zugefügte Leid muß selbst unter diesen Verhältnissen einen Sonderfall darstellen und darf Niemandem in größerem Umfange zugefügt werden, als der spezielle Zweck es unbedingt erfordert. Aber auch in der Form oder der Art, in der man erzieht, straft, kritisiert, eine Verbindung abbricht oder es ablehnt, eine solche
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einzuleiten, kann Vieles getan werden, um den Schmerz zu mildern oder den Betreffenden damit zu versöhnen. Wenn es aber auch viele solcher Fälle einer berechtigten Schädigung gibt, muß doch hervorgehoben werden, daß sie lediglich Ausnahmen von dem ethischen Hauptgrundsatz und zwar Ausnahmen sein dürfen, die in jedem einzelnen Falle durch höhere Rücksichten, als die auf den Schmerz eines Menschen in einer bestimmten Lage besonders begründet sein müssen. Aus den oben erwähnten Fällen kann man in der Tat einen leitenden Grundsatz der Motivierung einer Schädigung ableiten, nämlich: daß eine solche nur in jenen Fällen erlaubt ist, in denen entweder die Rücksicht auf den Menschen selbst, dem der Schmerz zugefügt wird, oder aber auf die Gemeinschaft, sie notwendigerweise erfordert. Der Kürze wegen nennen ich im Folgenden diesen ethischen Grundsatz den Grundsatz der Ausnahme, da ich kein besseres Wort finden kann, während der leitende, ethische und rechtliche Grundsatz, dem Nächsten keine Schädigung zuzufügen, der Hauptgrundsatz genannt wird. Das Ziel sowohl der sozialen Ethik, als der Rechtslehre, wird in dem alten Worte: Gerechtigkeit ausgedrückt. In diesem sind indessen mehrere Vorstellungen eingeschlossen, die man auseinanderhalten muß die aber alle doch in dieselbe Richtung zielen. Erstens ist darin Alles inbegriffen, was der oben genannte Hauptgrundsatz und der Grundsatz der Ausnahme ausdrücken. In dieser Bedeutung wird das Wort von den älteren und neueren Gesetzbüchern aufgefaßt. So sagt das jütländische wie das dänische und norwegische Gesetz (aus den Jahren 1683 und 1687) in der Vorrede: »Wäre jeder Mensch gerechl und würde sich mit dem begnügen, was ihm rechtens zusteht, und nicht die Schädigung des Nächsten suchen, sondern ihm in Allem des gleiche Recht einräumen, das er für sich selber wünscht, wäre kein Gesetz von nöten. Aber deshalb wird das Gesetz festgelegt, damit die Gerechten und Friedfertigen ihres Rechtes genießen und damit den Ungerechten und Schlechtgesinnten, die das Rechte nicht tun wollen, wie es im Gesetz vorgeschrieben ist, durch die Strafen, die das Gesetz festlegt, gezeigt werden kann, daß sie unrecht handeln«. Wie aus den hier hervorgehobenen Worten hervorgeht, bedeutet Gerechtigkeit nach diesen Gesetzbüchern: dem Nächsten keinen Schaden zuzufügen. Wie bereits erwähnt, gilt das ebenfalls für das französische Gesetzbuch (von 1803). Während es — wie dem Utilitarismus gegenüber gezeigt worden ist — nicht verlangt werden kann, daß man für das Lustgefühl
422 oder das Glück Aller ohne Rücksicht auf deren Qualität und bisheriges Betragen tätig sein soll, gibt es dagegen eine besondere Gruppe von Fällen, in denen man — wie es bereits oben kurz gesagt worden ist — dem Unglück der Menschen ohne Rücksicht auf ihre Qualität oder früheres Benehmen entgegenwirken muß. Diese begrenzte Gruppe umfaßt die Notfälle. Es ist nur vorteilhaft für die ganze Menschheit, daß die Gesellschaft dem Einzelnen die Pflicht auferlegt, einander im Notfalle behilflich zu sein. Diese Pflicht legt bereits das Strafgesetz im begrenzten Umfange den Menschen auf. Auch die sozialen Versicherungsgesetze verpflichten in weiterem Umfange die Menschen zu gegenseitiger Hilfe gegen solche allgemeine Unglücksfälle, wie die Krankheit, die Invalidität, das Alter und die Arbeitslosigkeit darstellen. Im großen Ganzen muß es rein generell als eine ethische Pflicht betrachtet werden, Menschen, die in einer Notlage sind, zu Hilfe zu kommen. Und in diesen Fällen muß die Hilfe ohne Rücksicht auf Qualität oder bisheriges Benehmen geleistet werden. Das ist schon aus dem Grunde selbstverständlich, weil in Notfällen meistens keine Zeit übrigbleibt, die Qualität oder das bisherige Benehmen des Notleidenden zu untersuchen. Es müßte die Aufgabe der künftigen Kulturgemeinschaft sein, alle soziale Not, und zwar nicht nur in der Bedeutung des Hungers und der Unterernährung, sondern auch in der Bedeutung ungesunder und häßlicher Wohnungen, abzuschaffen. Durch die generellen Maßnahmen der Gesellschaft gegen diese Formen des Unglücks erhält die Qualität und daß Benehmen der Menschen indessen wiederum eine Bedeutung, allerdings nicht insofern sie die die Vergangenheit der Notleidenden, sondern ihre Zukunft betreffen. Die Gesellschaft kann nur auf sich nehmen, die unverschuldete Not abzuschaffen. Wenn die Gesellschaft imstande ist, gute Arbeits- und Lohnbedingungen und gute Wohnungsverhältnisse zu schaffen, muß es die Sache der einzelnen Individuen sein, sie in verständiger Weise auszunutzen. Die Gemeinschaft kann jene Not nicht abschaffen, die danach als Folge der Trunksucht, der Faulheit, der mangelhaften Reinlichkeit oder Hygiene entsteht. Hier kann das bereits oben zitierte Wort eines englischen Experten auf dem Gebiete der Wohnungssachen und der Slumvierteln wiederholt werden, weil es eine besonders bedeutungsvolle Wahrheit enthält: »Die Gesellschaft kann die Slumviertel, aber nicht die Slum-mentalität abschaffen.« Der Begriff der Gerechtigkeit umfaßt also in diesem Sinne natürlich sowohl die Pflicht, dem Nächsten nicht zu schädigen, als auch die Verpflichtung, ihm im Notfalle beizustehen.
423 Das W o r t Gerechtigkeit k a n n indessen auch in einer anderen Bedeutung aufgefaßt werden. F ü r Piaton besteht die Gerechtigkeit beispielsweise darin, daß jeder seine Tätigkeit ausübe, d. h. die Tätigkeit, die f ü r ihn innerhalb der Gesellschaft geeignet ist, und sich nicht mit Sachen abgebe, die ihn gar nichts angehen. Die A u f f a s s u n g Piatons verleiht unzweifelhaft dem W o r t e Gerechtigkeit eine Bedeutung, die auch anderen Menschen als Ideal dieser Eigenschaft erscheint. W i r sagen j a beispielsweise nicht nur, daß es w i r k l i c h ungerecht sei, daß A dem B ohne höheren Grund einen Schaden zufügt, aber ebenfalls, daß es ungerecht sei, daß B nicht diejenige Tätigkeit oder diejenige Stellung innerhalb der Gesellschaft erhalte, f ü r die er in ganz besonderem Maße geeignet ist, während A, der f ü r diesen Posten ungeeignet ist, ihn ohne Weiteres erhält. Man k a n n selbstverständlich sagen, daß Gerechtigkeit in dieser letzteren Bedeutung j a eigentlich nur eine Unterabteilung der Gerechtigkeit im ersteren Sinne sei, wenn m a n dieses W o r t in einer weiteren Bedeutung a u f f a ß t . In der Regel wird m a n ja, wenn man dem ungeeigneten A dem ganz besonders geeigneten B vorzieht, dadurch zunächst dem B ohne jeden höheren Grund, der die Sache rechtfertigen könnte, Leid antun. Stellt B sich aber gänzlich neutral, indem er wohl ohne Weiteres bereit wäre, diese Stellung anzunehmen, wenn man ihm sie anbieten würde, aber auf der anderen Seite durchaus nicht eifrig ist, sie zu erhalten, weil er vielleicht andere Interessen hat, die er eben so gerne pflegen möchte, würde ihm weder ein Leid noch eine Enttäuschung zugefügt, wenn die Stellung von A besetzt werden würde. Aber seine Mitbürger und die Gesellschaft in ihrer Ganzheit leidet ganz allgemein betrachtet dadurch, daß eine Stellung in diesem Falle — wie vielleicht in
Konfucius gibt einer Ausfassung der Gerechtigkeit Ausdruck, die dem Piatons entspricht: »Die Gerechtigkeit bestimmt die Tätigkeit, die jedem Einzelnen geeignet ist. Sie bildet den Maßstab für die Güte, die er entfalten kann. Stark ist, wer seinen Platz ausfüllt« (Li-gi). Doch kennt er auch die andere oben erwähnte Form der Gerechtigkeit (Gerechtigkeit 1), andere Menschen nicht zu schädigen. Als Beispiel wird derjenige Minister genannt, der das Volk durch unerlaubte Steuern beraubt: »Es ist nicht Reichtum, der den Staat glücklich macht, sondern Gerechtigkeit!« (Da hio). Die Gerechtigkeit stellt ein Element der »Menschlichkeit« dar: »Wenn in einem Hause Menschlichkeit herrscht, wird sie im ganzen Reiche blühen. Ist Höflichkeit in einem Hause heimisch, herrscht Höflichkeit im ganzen Lande. Ist ein Mann (hier: der Fürst) gierig und böse, wird die Unordnung sich im ganzen Lande verbreiten« (Da hio).
424 vielen anderen derselben Art — nicht mit den dafür geeigneten Menschen besetzt wird. Der Schaden, der dadurch entsteht, ist jedoch völlig unbestimmter Art und er verteilt sich auf mannigfältige Fälle des täglichen Lebens, in denen es sich als unglücklich erweist, daß Menschen jene Stellungen, die sie einnehmen, nur in unbefriedigender Weise ausfüllen können. Es scheint deshalb sehr wohl angebracht zu sein, diese spezielle Bedeutung des Wortes Gerechtigkeit als etwas Besonderes hervorzuheben. Meiner Ansicht nach kann man im großen Ganzen vier verschiedene und besondere Unterabteilungen des Gesamtbegriffes der Gerechtigkeit unterscheiden: 1) Gerechtigkeit heißt, daß Menschen einander nicht ohne höheren Grund schädigen, und daß sie einander im Falle der Not helfen. 2) Gerechtigkeit heißt, daß jeder Mensch eben jene Tätigkeit oder jenen Posten innerhalb der Gemeinschaft erhält, für die sowohl sein Charakter als auch seine Fähigkeiten ihn im besonderen Maße geeignet machen, und daß man ihm auch keine Tätigkeit und keinen Posten anbietet, für die er ungeeignet ist. 3) Gerechtigkeit heißt, daß jeder Mensch den Lohn für seine Arbeit erhält, der von den Interessen der gesamten Gesellschaft als die richtige Entlohnung für eben diese Arbeit angesehen werden muß. 4) Gerechtigkeit heißt, daß jeder Mensch zu den Veranstaltungen der Gemeinschaft beiträgt, die zur Abwehr gemeinsamer Gefahren und zum Nutzen Aller getroffen werden. Mit Bezug auf die Bedeutung 3) muß angeführt werden, daß wir beispielsweise sagen, es sei ungerecht, daß A als Inhaber eines Betriebes selbst den größten Teil des Verdienstes aus derselben nehme und den darin Angestellten im Vergleich mit der seinigen allzu niedrige Entlohnung gebe, oder daß ein Trust oder ein Kartell sich durch die Erreichung eines Monopoles für einen Betrieb von den anderen Bürgern der Gesellschaft Preise erzwingt, die in keinem rechten Verhältnis zu den Preisen oder Gehältern stehen, die anderen Mitgliedern der Gesellschaft für ihre respektiven Arbeiten oder Einsätze gegeben werden, wenn man sie von dem Gesichtspunkt der Interessen der Gemeinschaft aus mit dem Einsatz des Trustes oder des Kartells vergleicht. Auch durch die Nichterfüllung des Grundsatzes 3) wird den Menschen durch Leiden oder Entbehrungen (Beraubung des Lustgefühles)
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Schaden zugefügt; aber wie bei dem Grundsatz 2) ist der Schaden auch in diesen Fällen oft einer mehr unbestimmten Art und verteilt seine Wirkungen auf große und unbestimmte Kreise von Menschen. Die Entgeltung für die Arbeit des Einzelnen gibt die heutige Gesellschaft entweder in der Gestalt des Eigentumsrechtes an individuellen Gegenständen, die der Einzelne durch seine Arbeit hervorbringt, oder als eine bestimmte Summe artsbestimmter Gegenstände, nämlich Geld. Der selbständige Handwerker erhält das Eigentumsrecht über die Dinge, die er herstellt, der Fabrikant über die Waren, die er produziert, der Künstler und der Schriftsteller über die Geisteswerke, die sie schaffen u. ä. Diejenigen, die im Dienste eines Anderen arbeiten und Gegenstände herstellen, die Glieder einer Fabrikation bilden, und Alle, deren Arbeit in der Gemeinschaft sich nicht durch die Herstellung von Gegenständen ausdrückt, erhalten Entlohnung in der Gestalt bestimmter Geldleistungen. Aber auch in diesem Falle erhält der Arbeitende das Eigentumsrecht, nämlich über diese artsbestimmten Gegenstände. Das Eigentumsrecht ist in erster Reihe die Belohnung der Gesellschaft für einen Arbeitseinsatz. In der vergleichenden Bewertung des Einsatzes, der von Einzelnen oder von Gruppen geleistet wird, liegt die Möglichkeit, gerechte Entlohnungen oder Preise ausfindig zu machen. Das alte mittelalterliche Ideal des justum pretium kann und soll auch in der Gemeinschaft der Gegenwart verwirklicht werden. Das Wort »zweckmäßig« bedeutet — wie oben bereits angegeben — sprachlich Etwas, das dem Ziel, dem Zweck entspricht, vor Allem eine Handlung oder eine Unterlassung, die dem Zweck oder dem Ziel des Handelnden oder Unterlassenden entsprechen. Dieser Zweck kann sowohl gut als auch böse sein. In der individuellen Ethik fassen wir das Wort »zweckmäßig« in der qualitativen Bedeutung auf, also in der Weise, daß es eine Handlung, eine Unterlassung, ein Verhältnis überhaupt umschließt, das a) entweder einen lebenswichtigen Bedarf für Individuum oder Gemeinschaft befriedigt, oder b) Gefahren für diese abwehrt, oder aber c) die relativ dauerhaftesten und intensivsten Lustgefühle verleiht, wenn das Leben des Individuums, beziehungsweise der Gemeinschaft als Ganzheit, betrachtet wird. In dieser Bedeutung wird das Wort »zweckmäßig« im Folgenden verwendet. Die Zweckmäßigkeit fällt deshalb auf dem Gebiete der Gemeinschaft innerhalb der sozialen Ethik und der Rechtslehre mit dem Begriffe
426 der Gerechtigkeit zusammen, da die oben behaupteten drei Grundsätze im großen Ganzen die Zwecke a), b) und c) innerhalb der Gesellschaft und für alle ihre Mitglieder als Ganzheit durchführen sollen. Der Grundsatz 3) berührt das Problem der gerechten Verteilung der Güter in der Gemeinschaft. An und für sich ist die Ordnung der Gemeinschaft durchaus denkbar, daß alle Mitglieder den gleichen Lohn für ihre Arbeit, ungeachtet der Größe und der Qualität dieser Arbeit, erhalten, so daß diejenigen, die keine Arbeit ausführen, auch denselben Lohn zu bekommen hätten. Diese Ordnung würde aber für die Interessen der Gemeinschaft, d. h. für die Ganzheit ihrer Mitglieder nicht zweckmäßig sein, denn jede Erfahrung bestätigt uns, daß die größte und beste Arbeit für die Ganzheit, also für die Gemeinschaft, nur erzielt wird, wenn man für die Arbeit eine Entlohnung gibt, die soweit möglich dem großen Reichtum der Menschennatur in bezug auf Verschiedenheit der Charaktere und der Fähigkeit Rechnung trägt. Ungerecht nennen wir in dieser Beziehung dasjenige, das auf die Dauer für die Gesellschaft unzweckmäßig sein würde, nämlich daß ein Mensch nicht den Lohn für seine Arbeit erhält, zu dem deren Qualität und Quantität, die durch seinen Charakter und seine Fähigkeit bestimmt werden, ihn berechtigen. Wenn eine kleine, priviligierte Oberklasse einer Gesellschaft, wie z. B. der Adel Frankreichs vor 1989, sich einen Reichtum errafft, der in keinerlei Verhältnis zu seinem Einsatz in der Gestalt einer Arbeit steht, und zwar weder quantativ noch qualitativ, während ein großer Teil des Volkes Not leidet, wird dieses als besonders ungerecht und damals als eine so bittere Unbilligkeit empfunden, daß die Gefühle des Volkes sich in der Revolution Ausdruck geben mußten. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Gesellschaftsordnung Frankreichs vor 1789 auch in dem stärksten Widerspruch zum Grundsatz 2) stand. In diesem Falle führte die ungerechte Verteilung der Güter sogar unmittelbares Leid, Not und Hunger mit sich. Das Letztere ist in den sozial am höchsten stehenden Völkern der Gegenwart in der Regel nicht der Fall, selbst wenn ihre Gesellschaftsordnung im übrigen umfassende und ernste Kränkungen sowohl des Grundsatzes 2) als 3) enthalten können. Selbst wenn man mit Bezug auf Grundsatz 1) un 2) als auch 3) unzweifelhaft eine weit gerechtere Gesellschaftsordnung, als die gegenwärtige, durchführen könnte, wäre es, da die Gesellschaftsordnung j a nur die äußeren Rahmen des Menschenlebens und die Richtlinien dafür geben kann, dennoch für keine Gemeinschaft möglich, selbst
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bei den denkbar vollkommensten Rechtsordnung das große, ethische Ziel zu erreichen: daß keine Menschen ohne höheren Grund einander Leid zufügen und daß alle Menschen die Arbeit und den Lohn erhalten, die ihnen nach ihrem Charakter und ihren Fähigkeiten zustehen. Wenn dieses große Ziel erreicht werden soll, ist nicht einmal eine tiefgehende Reform der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung genügend; man muß eine Revolution der Menschenseele verlangen. Die Menschenseele, der wir selbst in der Gegenwart bei zahllosen Menschen im alltäglichen Leben begegnen, ist nicht jener Menschentyp, der geeignet ist, die genannten Grundsätze der Gerechtigkeit in ihrem Verhältnis zum Nächsten durchzuführen. Unaufhörlich vergehen sich die heutigen Menschen in der Gesellschaft gegen diese Grundsätze, oft zum größten Leiden, bedauerlicherweise meistens für die Besten unter ihnen. Genau wie der gegenwärtige Menschentyp, wie er von zahlreichen Einzelnen vertreten wird, in bezug auf die individuelle Ethik die innere Herrschaft über sich selber nicht erreicht hat, die — wie gezeigt — allein den Menschen die tiefste Befriedigung am Leben zu geben vermag, so ist dieser Menschentyp mit Bezug auf die soziale Ethik auch nicht zu der Überlegenheit und Beherrschtheit seines eigenen Interesses in einem Konflikt mit dem des Nächsten fortgeschritten, daß er freiwillig davon Abstand nimmt, den Anderen körperlich oder seelisch zu verwunden, oder ihm freiwillig jene Stellung einräumt, die sein Charakter und seine Fähigkeiten begründen, und ihm den Lohn gibt, den seine Arbeit verdient. Diese sozialethische Unvollkommenheit hängt natürlich mit der individuellen zusammen. Denn wenn die materiellen Güter für einen Menschen das Höchste werden, folgt natürlich daraus, daß er versuchen wird, sich selbst durch Verstoß gegen die Grundsätze der Gerechtigkeit, so viele dieser Güter wie nur möglich zu erraffen. Dazu kommt aber noch, daß der Mensch aus seiner Urzeit und deren Kämpfen noch immer den Trieb des Hasses in sich bewahrt hat. Die leidenschaftlichen Kämpfe und Kriege der Völker selbst in der Gegenwart um die Grenzen zwischen ihren Ländern, um Kolonialbesitz und um andere Güter, die andauernden Kämpfe zwischen Klassen und Parteien innerhalb der einzelnen Gemeinschaften und die rücksichtslose, wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den Individuen innerhalb derselben Gesellschaft enthüllen nicht nur die Raubgier des niederen Menschentyps nach materiellen Gütern, sondern auch eine Gehässigkeit, eine Wildheit des Hasses, die den gewaltigen Kämpfen der Tiere im Dschungel in keiner Weise nachstehen.
428 Der Haß wird oft durch den Egoismus derer hervorgerufen, gegen die der Haß sich richtet. Wenn eine Klasse innerhalb einer Gemeinschaft sich unbillig große Güter auf Kosten des übrigen Volkes angeeignet hat, rächt sich die Selbstsucht dieser Klasse zuletzt, indem der Haß der Volkes sich gegen sie wendet und in entsprechenden sozialen Kämpfen ihre Auslösung erhält. Wenn verkalkte oder kleine Völker sich gewaltige Kolonialreiche angeeignet haben und eigensinnig an ihnen festhalten, während zur selben Zeit menschenreiche und große Nationen keine Kolonien besitzen, erregt dieses Mißverhältnis und der dauernde Egoismus der erstgenannten Völker bei den anderen Nationen einen Haß, der in vielen Fällen schließlich seinen natürlichen Ausdruck in Kriegen erhält. Solange dieser Egoismus, der im Widerspruch zu den Grundsätzen der Gerechtigkeit steht, und dieser Haß der Nationen, Klassen und Individuen herrschen, wird die Menschheit durch soziale Kämpfe und nationale Kriege zersplittert und damit ihre Entwickelung gehemmt werden. Es ist ein bedeutungsvolles Zeugnis der Erfahrung, daß die beiden Religionen — das Christentum und der Buddhismus — die innerhalb der individuellen Ethik uns den höchsten Menschentyp zeigen, in der Beziehung zwischen den Menschen den Haß als das größte Unglück betrachten, und die Lebenshaltung dieser beiden höchsten Religionen hat um so größeres Gewicht dadurch, daß sie auch auf diesem Gebiete von ganz verschiedenen Voraussetzungen aus zu denselben Schlußfolgerungen kommen. Im Buddhismus ist der Haß unter den Menschen eine unumgängliche Folge des größten Übels im menschlichen Leben, der materiellen Begierde: aus der Begierde entsteht der Haß. Der Mensch muß sich von beiden befreien, wenn er das Höchste erreichen will. Die Verdammung des Hasses unter den Menschen durch den Buddhismus zeugt von seiner überlegen-
In einzelnen Schriften des Buddhismus wurde doch früh auch von der positiven Liebe gesprochen: »Und wie aller Sternenschein nicht den Wert eines Tausendstels des Mondscheins hat, sondern der Mondschein ihn in sich aufnimmt und leuchtet und flammt und strahlt, so haben auch alle Mittel in diesem Leben, um Verdienst zu erwerben, nicht den Wert eines Tausendstels der Liebe... sie nimmt sie Alle in sich auf und leuchtet und flammt und strahlt . . . (Altivuttakam)« — Ein französicher Sinologe, Leon Wieger, der als Jesuit nicht der Propaganda für den Buddhismus verdächtigt werden kann, sagt: »Wenn es im heutigen China irgend welche Moral oder Barmherzigheit gibt, wird man, wenn man die Quellen dazu sucht, finden, daß es der Buddhismus ist, von dem sie herrührt . . . « (Bouddisme chinois, p. 110).
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heit dieser, wie allen anderen Leidenschaften, gegenüber. Die christliche Verurteilung des Hasses ist eine Folge davon, daß das Christentum die selbstlose Liebe unter den Menschen als das höchste Lebensziel betrachtet. Das aber, wofür diese religiösen Lebenshaltungen von ihren tiefen Erfahrungen heraus kurzen und konzentrierten Ausdruck gegeben haben, kann auch nüchtern begründet werden, wie jedes andere Resultat der Ethik, also durch ein experimentales Wissen, das die Erfahrungen der Menschheit auf den verschiedenen Gebieten des Lebens erfaßt. Der Buddhismus hat klar erkannt, daß der Haß ein unglückliches Gefühl, eine Leidenschaft sei, die den Frieden und das Gleichgewicht der Seele stört. Das Christentum hat ebenso richtig eingesehen, daß das positive Gefühl, die selbstlose Liebe, eine glückliche Empfindung sei, ja, daß sie sogar das höchste Gefühl des Glücks und der Harmonie enthalte. Aber außerdem sprechen auch die realen Zwecke des Menschenlebens gegen den Haß und den ungerechten Egoismus. Nüchtern kann man diese Begründung folgendermaßen ausdrücken: der Haß unter den Menschen ist unpraktisch, denn er verhindert sie, produktive Zusammenarbeit unter den Menschen zu leisten. Das erfahren wir ja unzählige Male im Leben des Alltages. In allerlei geschäftlichen Verhältnissen, innerhalb von Organisationen, in amtlichen Beziehungen u. ä. zerstören der unfruchtbare Haß zwischen den Menschen und der daraus folgende Streit, das Intrigieren, die Unterminierung, die Querulanz u. ä. die produktive Zusammenarbeit und schädigt damit nicht nur den einzelnen Betrieb, sondern zerstört auch die Gesamtheit. Der Haß zwischen den Klassen ist gleichfalls oft eine Hemmung der Zusammenarbeit und folglich ein Hindernis für die beste Produktion. Noch im 20. Jahrhundert hemmt der Haß unter den Nationen und deren Selbstsucht die Zusammenarbeit und zerschlägt das eine Mal nach dem anderen die Kultur durch lange andauernde Kriege. Was die Religionskriege im 16. und 17. an Haß unter die Menschen gesät haben, wurde durch die Nationalitätskriege des 19. und 20. Jahrhunderts unter den Menschen desselben Europas nur in unendlich höherem Maße wiederholt. Unter den Umständen, die heute vorherrschen, fühlt sowohl der einzelne Mensch als auch das einzelne Volk sich in seinem Lebenskampfe isoliert: er ist auf dem Posten gegen Andere und erwartet ständig Angriffe, auch hinterrücks, von ihnen. Es fehlt deshalb die entscheidende Bedingung des Arbeitsfriedens, der Harmonie und des Lebensglücks, nämlich das Gefühl der Sicherheit, der unbedingten Sicherheit den Mitmenschen gegenüber. Mag sein, daß diese sich ge-
430 gebenen Falles als hilfsbereite Kameraden enthüllen können, es kann aber eben so gut sein, daß sie sich als Raubtiere zeigen, die Einen tückisch von hinten morden, und zwar sowohl wirtschaftlich und körperlich als auch seelisch. Der Mensch, der z. B. heute ein Geschäft in der Straße einer Großstadt besitzt, fühlt sich niemals des Arbeitsfriedens innerhalb des Gebietes seiner Wirksamkeit sicher. Eines Tages kann ein Großunternehmen, das hinter zahlreichen, entsprechenden Geschäften im Lande steht, sich plötzlich in eben dieser Straße etablieren und — durch die Fassade eines neugestarteten, scheinbar selbständigen, kleineren Geschäftes gedeckt — durch rücksichtsloses Unterbieten, das ihm die Kapitalstärke erlaubt, das ältere Geschäft allmählich unterminieren und schließlich vernichten. Ein anderer Mensch arbeitet z. B. als Angestellter eines großen Betriebes in der Stellung eines Verkäufers, eines Buchhalters oder eines Lagerverwalters. Unter den Angestellten eines solchen Unternehmens herrscht oft ein harter Existenzkampf. Man kann gute Kameraden finden, die einander helfen und selbstlos dafür sorgen, daß der besonders Geeignete die ihm angemessene Stellung erhält. Es kann ebenfalls geschehen, daß der Leiter von so überlegener Tüchtigkeit ist, daß er stets die rechten Leute für die rechten Plätze findet. Es ist aber auch möglich, daß einer oder mehrere sich rücksichtslos durch Intrigen, durch Unterminierung u. ä. vorwärtsschieben und unter einem, nicht genügend menschenkundigen Leiter Stellungen an sich reißen, die andere, tüchtigere Menschen innerhalb des Unternehmens besser hätten ausfüllen können, oder die Menschen, die länger als die Streber in diesem Unternehmen angestellt waren, ebenso ausgefüllt hätten. Innerhalb des Geisteslebens sind die Verhältnisse in dieser Beziehung durchaus nicht besser als innerhalb des Geschäftslebens. Es ist einfältig zu glauben, daß unter den geistig Schaffenden ein idealeres und brüderlicheres Verhältnis herrscht, als unter anderen Menschen. Tatsächlich entfaltet sich in der Welt der Wissenschaft, der Kunst und der Dichtung genau dieselbe Begierde, derselbe Neid, derselbe Haß, und folglich auch dasselbe Intrigieren, Unterminieren, die gleichen tückischen Angriffe u. ä. wie in der Geschäftswelt und unter den Beamten. Der Strebertyp ist innerhalb des Geistelebens genau so verbreitet, wie anderswo. Der Kampf und der Krieg um das Leben ist derselbe. Nur nennt man ihn mit einem leicht verhüllenden Fremdwort: »Polemik« — ein Wort, das bezeichnender Weise aus dem griechischen Wort für Krieg, polemos, gebildet ist. In der Pole-
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mik gilt es, auch in unserer Zeit, auf dem wissenschaftlichen, künstlerischen und sonstigen, geistigen Gebieten nicht, durch brüderliche Hilfe die Wahrheit zu finden. In den meisten Fällen ist der Meinungsaustausch eben nur Polemik, und Polemik definiert man am klarsten als geistigen Krieg, in dem das Hauptmotiv eine unfruchtbare, persönliche Selbstbehauptung ist, während die Darstellung breitgetreten und die Zeit mit unwesentlichen und oft persönlichen und gemeinen Ausfällen vergeudet wird. Und das Ganze hat den für die Wahrheit vollkommen gleichgültigen Zweck: sich selbst durchzusetzen. Wenn das Verhältnis zwischen den Menschen also im allgemeinen Leben des Alltages innerhalb einer Gemeinschaft — sowohl im geschäftlichen als auch im geistigen Leben — ein ständiger Krieg ist, in dem gemeine Selbstbehauptung, Neid und Haß den Nächsten durch brutale Konkurrenz und Polemik vernichten oder ihm Schaden zufügen, wäre es töricht, darüber entrüstet zu sein, daß auch das Verhältnis zwischen den Staaten durch dieselben, niedrigen Eigenschaften und durch Krieg in allen Formen bestimmt werde. Ebensowenig wie der einzelne Mensch in der Gemeinschaft sich anderen Menschen gegenüber gesichert fühlt, ebensowenig können die einzelnen Völker es in den Beziehungen zwischen den Staaten tun. Ein kleineres Volk kann so glücklich sein, daß es neben einer Großmacht wohnt, die entweder der Besitzungen satt ist oder aus anderen Gründen keine Neigung empfindet, den kleineren Staat zu verschlingen. Aber es kann ebenso gut das Pech haben, Nachbar einer Großmacht zu sein, die nach jeder Gelegenheit und jedem Vorwand späht, das kleine Volk aufzufressen. Die Kriege unter den Staaten sind indessen nur eine Form des Hasses und des Kampfes unter den Nationen. Selbst wenn alle Kriege zwischen den Staaten aufhören sollten, bleibt doch das weit größere Übel der Menschheit, nämlich der alltägliche und andauernde Kampf zwischen den einzelnen Menschen, ein Kampf, der mit den gemeinsten Mitteln im geschäftlichen und geistigen Leben, von Erwerb zu Erwerb, von Stellung zu Stellung geführt wird. Diese große Unsicherheit, die überall in der Welt zwischen den einzelnen Individuen, zwischen den Klassen der Gesellschaft, den Völkern und den Staaten vorhanden ist, wird niemals verschwinden, so lange der Haß und die ungerechte Selbstsucht immer noch ihre Herrschaft ausüben. Uns so lange wird auch die intensive Zusammenarbeit zwischen allen Menschen, Klassen und Nationen, die allein die Menschen zu einer höheren Daseinsform und einem edleren Lebenstyp mit weit größeren Arbeitserfolgen und einer weit tieferen Befriedi-
432 gung oder tieferem Glück, zu führen vermag, als es bisher den Menschen zu erreichen beschieden war, niemals verwirklicht werden. Die Menschheit muß auf ihrem Wege nach oben den höchsten Menschentypen als Führern folgen. Der höchst entwickelte Menschentyp, der im besten Sinne überlegene Mensch, haßt nicht. Das gilt Goethe so gut wie Cäsar. Er hat einfach nicht Zeit dazu, er hat Anderes und Wertvolleres zu tun, nämlich seine produktive Arbeit. Und diejenigen Religionen, die am tiefsten denken, leiten — wie wir gesehen haben — die Menschen nach demselben, großen Ziele, dem Ende das Hasses, empor. Der Zustand der Unsicherheit im gegenwärtigen Menschenleben wird nicht verschwinden, bevor ein neuer Menschentyp entstanden ist, der ebenso hoch über dem heutigen, gewöhnlichen Typus steht, wie dieser über dem Neandertaler. Der neue Mensch wird klug genug sein einzusehen, daß der für Alle vorteilhafteste Gesellschaftszustand erst erreicht wird, wenn alle Stellungen mit den Bestgeeigneten besetzt werden, und daß der einzelne Mensch deshalb als ein Glied eines höheren Zusammenhanges in dem Sinne selbstlos sein muß, daß er dem Tüchtigeren weicht. Und dieser neue Mensch wird auch als Leiter der Staaten so einsichtsvoll sein, daß er erkennt, daß es für die ganze Menschheit besser wäre, wenn die großen, schwachbevölkerten und nicht genügend ausgenutzten Kontinente unter den Kulturvölkern in Übereinstimmung mit dem geistigen Niveau, der technischen Tüchtigkeit, der Organisationsfähigkeit und dem Völkerreichtum dieser Länder verteilt werden; denn nur dadurch wird zum Nutzen Aller die intensivste Verwertung unserer Erde erreicht. Dem gegenüber muß jeder kleinliche Egoismus der einzelnen Nationen zurücktreten. Der neue Mensch wird erkennen, daß nur Sachlichkeit und Ritterlichkeit sowohl im Erwerbsleben als im Geistesleben die ganz richtigen Resultate schaffen können. Auf dem Gebiete des Geisteslebens wird die unfruchtbare Selbstbehauptung der Polemik von dem Bestreben abgelöst werden, durch gemeinsame Kräfte die Wahrheit zu finden, ganz gleichgültig, ob der Eine oder der Andere recht behält. Auf allen Gebieten führen praktische Gründe also zur Selbstlosigkeit. Dieser neue Menschentyp aber, von dessen Sieg die Zukunft der ganzen Menschheit abhängt, macht noch nur eine Minorität aus; und wenn man das Leben und die Menschen kennt, dann weiß man, daß das neue Zusammenleben zwischen den Völkern und zwischen den Individuen nicht in der nächsten Zukunft erreicht werden könne,
433 wenn nicht auch die Macht und der Zwang in den Dienst der guten Kräfte gestellt werden. Große Teile der Menschheit — sowohl der Individuen als der Klassen und Staaten — werden nur auf dem Wege der Zucht und des Leidens zur brüderlichen Gemeinschaft der Zukunft geführt werden können. Auf diesem Wege wird man nicht immer dem paradoxalen Gebote, seine Feinde zu lieben, gehorchen können. Auch jener geistige Führer, der dieses Gebot aussprach, folgte ihm nicht immer selber. Er vertrieb j a mit der Geißel die Krämer aus dem Tempel des Herrn. Die christliche Religion erkennt ebenfalls, daß die Behörde das Schwert nicht vergeblich trage. Alle Staatsgemeinschaften sowohl der älteren Zeiten als der Gegenwart sind nur imstande gewesen, ihre Rechtsordnung durch Strafen gegen die Feinde der Gesellschaft, die Verbrecher, zu behaupten, indem sie ihnen diese Leiden zufügen. Dieselben Gesetzbücher, die die Religion und das Recht als »die beiden vornehmsten Stützen und Hauptsäulen, mit denen Länder und Reiche in ihrem ständigen Blühen und Wohlstand befestigt und aufrechterhalten werden« betrachten, und die eben in der christlichen Religion die »wahre und rechte Religion« sehen, sprechen unmittelbar danach aus, daß das Gesetz deshalb gemacht werde, damit diejenigen, die »den Schaden ihres Nächsten« suchen und »die nicht das Rechte tun wollen, wie es im Gesetz geschrieben ist, durch die Strafe, die im Gesetz festgelegt ist, verhindert werden können, Unrechtes zu tun«. Dennoch liegt eine gewisse Wahrheit hinter dem Gebot, seine Feinde zu lieben. Bisweilen zeigt uns die Erfahrungen daß man das Gute in einem feindlich gesinnten Menschen hervorrufen kann, indem man Böses durch Gutes vergilt. Das Strafrecht der Gegenwart sucht denn auch, statt die Strafe als ein Leid zu verwenden, das abschrecken soll, in vielen Fällen und besonders jungen Verbrechern gegenüber mildere Behandlungsarten zu verwenden, Methoden, mit denen man den Versuch macht, in den Menschen, die sich gegen den Nächsten vergangen haben, das Gute hervorzurufen und sie, durch entsprechende Arbeit oder Ausbildung, zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Man kann den Kern der Wahrheit, der in dem paradoxalen Gebote verborgen liegt, so ausdrücken: daß der einzelne Mensch feindlichen Menschen gegenüber zunächst versuchen soll, wie weit man kommt, indem man Böses mit Gutem vergilt — und das gilt auch f ü r die Gesellschaft ihren Feinden, f ü r Staaten anderen Staaten gegenüber. Wenn die Erfahrung aber zeigt, daß man auf diesem Wege nichts erreicht, muß ein härteres Vorgehen angewendet werden. Da muß das Schwert die Feinde 28
Erkenntnis und Wertung
434 der Menschheit lehren oder sie vernichten. Man kann mit anderen Worten kein bestimmtes Vorgehen generalisieren, weder die Härte noch die Milde. Alles hängt davon ab, welchem Menschentyp man gegenübersteht. Es gibt viele Menschen, die Güte als Zeichen der Schwäche auffassen. Diesem Typ gegenüber muß man j e n e Behandlungsweise wählen, die Shakespeare in »Hamlet« empfiehlt: »Vermeide es am liebsten, Streit zu suchen; aber hast du den Streit, dann trage ihn so, daß dein Gegner lernt, dich zu vermeiden.« Im großen Ganzen muß hier gelten, was ich oben hervorhob: allen Menschen ohne Rücksicht auf Qualität oder Betragen wahllos Gutes zu tun, wird der Menschheit nicht vorteilhaft sein. E s ist naturwidrig und schädlich sich zwingen zu wollen, den niederen Menschentyp zu lieben. Hier ist die Lehre des Konfucius richtiger als das Gebot, seinen Feind zu lieben. Einer fragte einmal Konfucius »Unrecht mit Güte zu beantworten — wie verhält es sich damit?« Der Meister antwortete: »Womit sollte ich dann die Güte vergelten? Nein, mit Gerechtigkeit vergilt man das Unrecht, mit Güte vergilt man die Güte.« Eine Verbrüderung aller Menschen gehört der Zukunft an. In der Gegenwart gibt es nur Eines, das verwirklicht werden könnte, nämlich daß die Guten sich zur gegenseitigen Hilfe und zum gemeinsamen Widerstand gegen übergriffe und Gewalt zusammenschließen. Thora Parsbjerg sagt in den Schlußworten des tiefschürfenden Dramas »Poul Lange und T h o r a Parsbjerg« von Bj0rnstjerne Bjfirnson: »Warum muß es so sein, daß die Guten so oft Märtyrer werden? Kommen
Liin yü, XIV, 36. In einem anderen klassischen Werke wird der Gedanke so ausgedrückt: »Der Meister sprach: »Durch Güte Güte vergelten, so haben die Untertanen ein Ziel gegenseitiger Anfeuerung. Durch übel Übles vergelten, so haben die Untertanen eine Schranke, durch die sie in ihrer Pflicht festgehalten w e r d e n . . . « (Li Gi, XXIX, 11). Richard Wilhelm macht hierbei darauf aufmerksam, daß diese Anschauung nur dem politischen Leben galt. Als Grundsatz persönlicher Sittlichkeit habe Konfucius »den Grundsatz, Böses mit Gutem zu vergelten anerkannt«: »Durch Gutes Übles vergelten, so erweitert man die persönliche Sittlichkeit«, (.Richard Wilhelm: Konfutze: Gespräche, S. 164). Nach der Ansicht des Meisters bildete das persönliche Leben und seine Sittlichkeit die Grundlage der Gemeinschaft. Dies erklärt den anscheinenden Widerspruch in seinen Äußerungen, deren Authenzität auch nicht sicher ist. — Der weise Perser Sadi sagt übrigens auch: »Barmherzigkeit gegen die Bösen zu zeigen ist dasselbe, wie den Guten Unrecht zu tun. Dem Unterdrücker Barmherzigkeit zu erweisen ist: Gewalttätigkeit gegen den Unterdrückten auszuüben.«
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wir denn niemals so weit, daß sie Führer werden?« Die Antwort lautet: das tun sie nicht, so lange die Guten sich einzeln von den Raubtieren, den Untermineuren und Intriganten der Menschen schlagen lassen. Das ist das Schicksal der Guten im praktischen Leben — als Erwerbtreibende, Beamte, Angestellte oder Arbeiter in einem Betrieb u. ä. Aber es ist auch das Schicksal der kleinen und der großen Nationen, die Anderen nichts Böses wollen, sondern Allen Gerechtigkeit zeigen. Diese Nationen und Staaten werden auch künftig Märtyrer und geschlagen und unterdrückt werden, bis sie Alle einmal einig geworden sind, sich zusammenzuschließen, allerdings nicht in ideologischen Bünden, wie der Völkerbund es war, sondern in praktisch organisierten, gemeinsam bewaffneten Verbänden, die stark genug sind, entweder mit dem Schwert in der Hand die Raubtierstaaten zu zwingen, sich dem Brüderbund der Völker anzuschließen, oder aber sie zu vernichten. Um die Menschheit aus dem gegenwärtigen Dschungelstadium mit dem gegenseitigen körperlichen, ökonomischen und seelischen Morden von Einzelindividuen und von Völkern zu retten, tut eine Bruderschaft not, die von den Guten gebildet wird. Und unter diesem muß eine Führerschaft oder Ritterschaft des Geistes sein, die wie die Kreuzritter aus der großen Zeit der Kirche die Schwachen wenn nötig mit dem Schwerte verteidigen will, damit sie nicht beiseite gedrängt werden. Es dreht sich dabei um »alle Jene, die durch Gewalt gezwungen werden.« In dieser Weise allein wäre die allgemeine Gerechtigkeit durchzuführen. Die brüderliche Gemeinschaft schließt nicht den idealen Wettstreit um die Erreichung des Höchsten aus. Dieser freie geistige Wettkampf muß stets bestehen, weil er ein Mittel zur Schaffung neuer Werte ist. Das Kennzeichen dieses Wettstreites ist, daß er im Gegensatz zum Krieg, zum Kampfe der Klassen und zur Polemik u. ä., ohne Haß im selben gemeinsamen Geiste wie der ideale Sportskampf, und zwar nur mit den Mitteln ausgeführt wird, die in einem solchen erlaubt sind. Wiederum müssen wir in jene Zeit zurückblicken, in der eine rein geistige Macht, die Kirche des Mittelalters, die rohen Kräfte beherrschte und zähmte — dann werden wir das rechte Wort finden. Der ideale Wettstreit, der der Kampf der Zukunft zwischen Menschen und Völkern werden müßte, muß ritterlich sein, wie der rechte Sportskampf. Dieses Wort enthält ein starkes Ideal. E s ruht in der Vorstellung von dem, der einen Überschuß der Kraft in sich hat: Stärke genug, um sich selbst zu beherrschen und gleichzeitig 28»
436 den Schwachen und dem im Kampf des Lebens Ausgestoßenen helfen zu können, und der selbst im Wettstreit um die höchsten Leistungen gleichsam in einem gemeinsamen Geiste einer unsichtbaren Rechtsordnung kämpft und selbstlos seine eigenen Sonderinteressen zurücktreten läßt. Der Geist der Ritterlichkeit ist zu tiefst gesehen ein Dienen. Es ist eine allgemein bekannte Erscheinung, daß man im Schauspiel das künstlerisch vollkommenste Resultat erreicht, wenn keiner der Mitspielenden auf eigene Faust hervorzutreten versucht, sich vielmehr selbstlos der Ganzheit des Zusammenspieles unterordnet, sich völlig dem Zusammenspiel mit den Kameraden opfert. Ganz in derselben Weise verhält es sich auf der großen Bühne der Menschheit, in der Gemeinschaft der Einzelnen und der Staaten. Alles Böse und alles Unglück, an dem die menschliche Gesellschaft leidet, stammt daher, daß die Einzelnen — und zwar sowohl Menschen als auch Staaten — eine größere Rolle spielen und sich einen größeren Platz anmaßen wollen, als ihnen ihre Fähigkeiten, ihr Charakter und der Gesamtplan der Gesellschaft ihnen gestatten. Es muß deshalb nüchtern und sachlich gesagt werden, daß die Zukunft der Menschheit davon abhängt, ob der neue Menschentyp, der jetzt nur eine kleine Minderheit bildet, siegen, ob der Geist der Beherrschtheit, der Ritterlichkeit und der Selbstlosigkeit die Macht über die Menschenseele gewinnen werde.
15.
Kapitel
DIE Ä S T H E T I S C H E
WERTUNG
Wenn man beobachtet, wie viele verschiedene Ansichten über das, was als schön bezeichnet wird oder werden könnte, im Laufe der Zeit ausgesprochen worden sind und welche Debatten darüber stattfanden, muß man Sokrates recht geben, als er sagte: »Das Schöne ist schwierig«. Wir sind heute noch nicht so weit gekommen, daß wir eine wissenschaftliche und objektive Begründung geben können, warum wir Etwas als »schön«, etwas Anderes als »unschön« oder gar »häßlich« bezeichnen. Vor Allem ist eine Klärung der Begriffe notwendig. Man muß zunächst das Gebiet des Schönen begrenzen und versuchen festzustellen, was außerhalb desselben und was mit Sicherheit innerhalb des Begriffes des Schönen falle. Große Verwirrung ist auf diesem Gebiete dadurch entstanden, daß man oft Momente in diesem Begriff des Schönen mithineinbezogen hat, die in Wirklichkeit gar nicht dahin gehören. Es muß nun zuerst hervorgehoben werden, daß der Begriff der Schönheit nicht auf Menschenwerke beschränkt ist. Wir sprechen von einer schönen Landschaft, einem schönen Kopfe, einem schönem Körper, und von dem Entgegengesetzten. Aber es gibt auf der anderen Seite eine Reihe von Mens chemo erken, deren Absicht es ist, Schönheitswirkungen hervorzurufen — wir nennen sie Kunstwerke und ihren Inbegriff Kunst in weitestem Sinne. Hierunter muß man auch die folgenden Menschenwerke mithineinbeziehen: Malerei, Bildhauerkunst, Musik und schöne Literatur. Diese letztere umfaßt Gedichte, Schauspiele, Romane, Novellen u. ä. Kunst ist also ein engerer Begriff als der der Schönheit. Aber ob die Erscheinung, die wir Schönheit nennen, auf der Natur oder auf der Kunst beruht, bleibt die Frage doch dieselbe: worin besteht, näher betrachtet, jenes X, jener Eindruck der Natur oder der Kunst, den wir Schönheitseindruck nennen?
438 Wie bei allen menschlichen Lebensformen, nach denen wir streben, muß die Schönheit der Erscheinungen, der Eindrücke, letzten Endes auf dem Gefühl der Befriedigung, der Lust beruhen. Alle Kunst ist Ausdruck von Gefühlen. Darunter können natürlich auch Ausdrücke von Schmerzempfindungen sein. Ein Schauspiel kann beispielsweise auch menschliche Leiden, Krankheit, Tod, tragische Menschenschicksale schildern. Aber erstens steht der Leser ihnen gegenüber frei, über diese Leiden erhaben, weil sie sein persönliches Leben nicht berühren; zweitens entstehen diese Eindrücke menschlicher Leiden nur als einzelne Elemente des Dichterwerkes, das in seiner Ganzheit, im Zusammenspiel aller seiner Elemente dem Leser oder dem Zuschauer eine Befriedigung irgend einer Art schenken muß. Aber während jede Kunst, jede Schönheit Gefühle ausdrückt und hervorruft, die in ihrer Gesammtheit Befriedigung oder Lust verleihen, sind umgekehrt durchaus nicht alle Lustgefühle Kunst und Schönheit. Diese Begriffe sind nämlich enger begrenzt als der Begriff des Lustgefühls. Schönheit und Kunst sind Ausdrücke einer ganz besonderen Gruppe von Empfindungen. Hier muß man vermutlich in erster Linie hervorheben, daß Schönheit und Kunst überwiegend Eindrücke sind, die wir durch die Sinne erhalten, die in der vorhergehenden Untersuchung mit recht als die höheren Sinne gekennzeichnet sind, nämlich das Ohr und das Auge. Malerei, Skulptur, Architektur, Musik, Poesie sind Kunst und Schönheit; aber »die Kochkunst« ist trotz dieser Bezeichnung keine Kunst und fällt völlig außerhalb des Begriffes der Schönheit. Durch die Geschmackseindrücke der Speisen und der Getränke können wir viele Lustgefühle erreichen, aber es ist eine andere besondere Gruppe der Lustgefühle, der sie angehören, von jener Gruppe von Lustgefühlen scharf getrennt, die wir durch das Auge und das Ohr als Schönheitseindrücke von einem Gemälde, einer Skulptur, einem Musikstück, einem Gedicht erhalten. Da Malerei und Skulptur äußere Gegenstände betreffen, spielen natürlich auch Bewegungs- und Berührungsvorstellungen als Elemente hinein; und Eindrücke durch den Geruchssinn sind bisweilen ebenfalls Elemente einzelner anderen Schönheitseindrücke. Das überwiegende und vorherrschende in aller Schönheit und aller Kunst ist indessen der Eindruck durch das Gesicht und das Gehör. Der Eindruck des Geschmacksinnes fällt also völlig außerhalb dieser Begriffe. Der Genuß von Speisen und Getränken und andere Genüsse durch die niederen Sinne haben doch ihre Berechtigung im Leben, wenn auch innerhalb gewisser Grenzen, und sie werden zum Teil von denselben, seelischen Gesetzen wie die Lustgefühle beherrscht,
439 die durch die höheren Sinneseindrücke entstehen. Aber auch nur zum Teil, und sie müssen — wie ich glaube im Vorhergehenden gezeigt zu haben — den höheren Eindrücken, den daraus entstandenen Kultur-werten — Wissenschaft, Charakter, Gemeinschaft und Kunst — untergeordnet werden. Es ist deshalb begründet, einen Trennungsstrich zwischen den obengenannten Genüssen und der Welt der Kunst und Schönheit zu ziehen. Es muß eine gewisse Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Kulturwerten stattfinden. Sie müssen alle der Menschheit dienen. Eine gewisse Abgestimmtheit oder Korrelation zwischen ihnen ist deshalb notwendig. Sie sind indessen gleichgestellt, Alle gleich selbständig im Verhältnis zu einander. Die Abgestimmtheit, die Korrelation zwischen ihnen darf deshalb nicht in der Weise vor sich gehen, daß Einer oder Mehrere den Anderen oder einem Einzelnen von ihnen untergeordnet werden. Es hatte stets unglückliche Folgen, wenn die Macht der Gesellschaft die Freiheit der Forschung einschränken wollte. Was die Kunst betrifft, sind im Laufe der Zeit viele Versuche gemacht worden, sie den anderen Kulturwerten zu unterordnen und sie in den Dienst bald des Einen, bald des Anderen zu stellen. Daraus entstanden viele Mißverständnisse und falsche Richtungen in der Literatur und in der bildenden Kunst. Aber letzten Endes hat die Kunst stets nach kürzerer oder längerer Zeit ihre Selbständigkeit und Freiheit behauptet; und jene Kunstwerke, die unter dem Einfluß der mißverstandenen Richtung oder Tendenz geschaffen wurden, sind in Vergessenheit geraten. Im 18. Jahrhundert war es — in Übereinstimmung mit der rationalistichen und nützlichkeits-bestimmten Tendenz jener Zeit — eine allgemein verbreitete Ansicht, daß die Kunst der Allgemeinheit dienen, dem gemeinsamen Wohl nützlich sein müsse; die schöne Literatur dieses Jahrhunderts ist auch reich an moralisierenden Schriften und an Werken, die beabsichtigen, der bürgerlichen Gesellschaft unmittelbar vorteilhaft zu sein. Diese Tendenz bedeutet also tatsächlich, daß die Kunst völlig einem anderen Kulturwerte, nämlich der Ethik, dienstbar gemacht wird. Die neue Geistesrichtung, die mit dem 19. Jahrhundert anbrach, die Romantik, führte dann mit sich, daß die Kunst sich von diesem Verhältnis der Subordination befreit und ihre Selbständigkeit behauptet. Die Romantiker stellen sich bewußt im Gegensatz zu der nützlichkeits-rationalistischen, kleinbürgerlichen Betrachtung der Kunst im vorhergehenden Jahrhundert. Der dänische Dichter Oehlenschläger, der in seinem »Sankt-Hansaften Spil« (»Johannisabendspiel«) in Übereinstimmung mit den an-
440 deren Romantikern die Ansprüche der Spießbürger in der Kunst verhöhnt, findet in einem anderen Gedicht (»Zum Gedächtnis an Wiedewelt« — Wiedewelt war ein dänischer Bildhauer) unbewußt einen richtigen und schönen Ausdruck für die Welt der Kunst als eine Welt, die zur einzelnen Menschenseele spricht und Gefühle erweckt, die in andere Gebiete der menschlichen Natur als die der Gesellschaft und die der Wissenschaft gehören, und die doch eben so selbständig und wertvoll sind wie diese. Er läßt die Poesie die starken Wirkungen der Schwesterkunst, der bildenden Kunst, auf die Menschenseele in den folgenden Worten ausdrücken: »Tief ich schaute — hoch da lohte in der Seele der Natur Magie — süß erregt ich prägte in den Stein die Zeichen von des Lebens Harmonie.« Die Kunst — die Dichtung so gut wie die Musik und die bildende Kunst — spricht ihre eigene Sprache, eindringlich und ergreifend, zur Menschenseele, wie die Gesellschaft die ihrige und die Wissenschaft die ihre hat. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde dies indessen wiederum übersehen. Es entstand damals eine Richtung — der Realismus oder Naturalismus — die behauptete, die Kunst müsse eine zuverlässige Schilderung der Wirklichkeit, des wirklichen Lebens, geben. Das zu tun ist indessen die Aufgabe eines anderen Kulturwertes, nämlich der Wissenschaft; und was diese Richtung forderte, war also tatsächlich, daß die Kunst derselben Aufgabe untergeordnet werde. Der Realismus oder Naturalismus übersah, daß die Kunst die Arbeit der Wissenschaft weder auf sich nehmen kann noch muß, ebensowenig wie sie es bezug auf die Arbeit der Gesellschaft vermag. Sie hat ihre eigene Aufgabe: einer Gefühlswelt ganz besonderer und eigentümlicher Art Ausdruck zu geben und sie hervorzurufen, eine Art, die ebenso wenig mit Wissenschaft und Wirklichkeitsschilderungen wie mit der Gesellschaft und ihren Handlungen zu tun hat. Die Agitatoren des Realismus unterlagen indessen nicht nur diesem Mißverständnis; viele von ihnen mischten auch andere Elemente hinein, die nichts damit zu tun hatten, ohne sich dessen bewußt zu sein, indem sie auch ganz andere Forderungen in den Anspruch auf Wirklichkeitsschilde-
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rung hineinwoben, wie z. B. die Literatur dem »Fortschritt« dienen zu lassen, damit sie die »freie Entfaltung der Humanität« unterstütze, ihre Freiheit von ererbten Traditionen und den Banden der Autorität sichere und »Probleme zur Debatte« stelle u. ä. Wie man sofort sehen wird, dreht es sich in allen Fällen um Aufgaben, die zur Ethik gehören und rationell nur durch die objektive, wissenschaftliche Ethik gelöst werden können, genau wie man die Wirklichkeitsschilderung vertrauensvoll der beschreibenden und objektiven Wissenschaft überlassen kann. Die Kunst aber hat in erster Linie nichts mit alledem zu tun. Sie verleiht der Menschheit ganz andere Werte. Nicht nur das 18. und 19. Jahrhundert unterlagen dem oben genannten Mißverständnis und der Vermengung nicht zur Sache gehörender Dinge durch diese Richtungen, den Nützlichkeitsrationalismus und den Realismus. Auch das 20. Jahrhundert hat seine mißverstandene Richtung erhalten, die ebenfalls die Kunst einem unsachmäßigen Zweck unterwerfen will. Während der geistigen Verwirrung, die nach dem Hinsterben des Realismus oder des Naturalismus am Anfang des 20. Jahrhunderts entstand, zeigten sich verschiedene unsichere und unklare Bestrebungen. In der bildenden Kunst sind mehrere Richtungen aufgekommen, die verschiedene Namen tragen, aber das Eine gemeinsam haben, daß sie in irgend einer Weise dem naturalistischen Auspinseln der Einzelheiten der Wirklichkeit zu entschlüpfen und verschiedenartige Formen zu erreichen versuchten, die Alle abstrakt genannt werden können, weil sie von größeren oder kleineren Teilen der Wirklichkeit abstrahieren. Auch in der Literatur spürt man Tendenzen, die sich von den realistisch kopierenden Schilderungen des Menschenlebens zu entfernen suchen. Gleichzeitig macht sich innerhalb der Architektur u. ä. eine Richtung geltend, die behauptet, die Kunst müsse der Ausdruck des Zweckmäßigen sein, müsse in jeder Beziehung das praktisch Verwendbare verwirklichen. Wenn ein Gegenstand in praktischer Beziehung seinem Zweck völlig entspricht, sei er an sich schön (die sogenannte moderne Sachlichkeit). Diese Richtung entspricht in bezug auf das Mißverständnis von der Aufgabe der Kunst dem Nützlichkeitsrationalismus des 18. Jahrhunderts und dem Realismus des 19.; sie will genau wie diese die Kunst Zwecken unterwerfen, die sie nichts angehen, in diesem Falle der Technik. Es ist also notwendig noch einmal zu betonen, daß die Kunst weder im Sinne »Gemeinschaftsnützlich« wie die rationalistischkleinbürgerliche Richtung des 18. Jahrhunderts es forderte, noch im Sinne »technisch-nützlich«, wie die oben angeführte Richtung des 20.
442 Jahrhunderts es meint, nützlich zu sein braucht; ebensowenig soll sie eine wissenschaftliche Wirklichkeitsschilderung geben, wie der Realismus es wünschte. Das Leben hat — Gott sei es gedankt — andere Seiten als die nützliche. Schiller sagt: »Der Mensch spielt nur, wenn er Mensch im vollen Sinne dieses Wortes ist; und ein Mensch ist nur ganzer Mensch da, wo er spielt.« Er sieht etwas Zentrales in der Kunst darin, daß sie die Augenblicke unseres Lebens mit spielender Leichtigkeit gestaltet. Aber von dem Nützlichkeits-Jahrhundert, in dem er lebte, dem 18., sagt er: »Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Wage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lärmenden Markt des Jahrhunderts.« Schiller hat recht. Wenn der Mensch wieder ein Kind wird und die Augenblicke des Lebens in befreiendem Spiel mit Leichtigkeit und Anmut durchlebt, Augenblicke, zu denen die Kunst die Menschen emporhebt, wird er gleichzeitig für eine kurze Dauer von den Sorgen des Lebens und von allen Nützlichkeitsrücksichten — technischen und gesellschaftlichen — befreit. Diese Formen des Nutzens geben dem Menschen allerdings auch ein Gefühl der Befriedigung. Aber es ist gut, daß das Leben reich genug ist, den Menschen auch andere Gefühle der Befriedigung als diese zu vermitteln. Die Kunst hat in erster Linie die Aufgabe, unmittelbare Freude zu schaffen, die Menschenseele zu befreien, zu erheben und zu begeistern, so daß sie sich frei und leicht, wie das Kind beim Spiele, fühlt. Das Alles hat aber nichts mit technischem oder gesellschaftlichem Nutzen zu tun. Daß eine praktische Sache wie ein Werkzeug oder ein Gebäude vor Allem so gestaltet und eingerichtet werden muß, daß das Werkzeug oder der Bau dem praktischen Zweck völlig entspricht — und zwar das Werkzeug als Arbeitsgerät, das Gebäude als Wohnung oder als Werkstatt u. ä. — das ist eine Selbstverständlichkeit. Wenn aber ein Gerät oder ein Gebäude gleichzeitig auf uns als Kunstwerk wirken soll, müssen sie Beide außer der Befriedigung, die der praktische Nutzen uns gibt, durch ihre Linien, Formen und Farben eine unmittelbare Freude hervorrufen. Diese Freude ist aber eine Befriedigung ganz besonderer Art, die klar und scharf von der Befriedigung durch das praktisch-nützliche unterschieden werden muß. Die Musik, die Dichtung und die Malerei sind nicht »praktisch«, haben keinen praktischen Nützlichkeitswert. Sie haben nur das Ziel, Freude zu schaffen — und das sollte eben so wichtig sein, wie der praktische Zweck. Ein Werkzeug oder ein Gebäude vermögen uns
443 jedoch ebenfalls diese unmittelbare Freude, nämlich durch ihr Aussehen, zu geben, von dem praktischen Nutzen völlig abgesehen, den sie für uns haben können. Es gibt mehrere Möglichkeiten für jedes Gerät und jedes Gebäude, die in technischer Beziehung Alle gleich befriedigend sind. Unter diesen gleichwertigen technischen Möglichkeiten diejenige Form zu finden, die gleichzeitig dem Betrachter jene besondere Freude schenkt, die wir Schönheit nennen, ist Aufgabe des Werkkünstlers oder Architekten. Die Kunst gibt also dem Werkzeug und dem Bau eine neue Qualität, neben derjenigen des praktischen Nutzens. Es ist bisher nicht gelungen, in objektiv wissenschaftlicher Weise festzustellen, worauf jene Qualität, die wir mit Worten wie Kunst und Schönheit bezeichnen, eigentlich beruht, d. h. die Ästhetik zu einer Wissenschaft zu machen. Daran liegt es, daß die praktischen Nützlichkeitsrichtungen das Vorhandensein einer solchen Qualität ableugnen. Das ist selbstverständlich eben so unrichtig, wie es z. B. auf dem Gebiete der niederen Sinnesorgane sein würde, die Qualität abzuleugnen, daß eine Speise besser mundet als eine andere, wenn sie beide in bezug auf Gesundheit gleich zweckmäßig sind. Es ist eine schlechte wissenschaftliche Methode, das Dasein einer Erscheinung zu leugnen, nur weil wir bisher nicht imstande waren, sie zu bestimmen. Um eine wissenschaftliche Ästhetik zu gründen ist es notwendig, die gesetzmäßigen Verhältnisse objektiv zu konstatieren, unter denen die besonderen Gefühle der Befriedigung, die uns die Kunst und das Schöne vermitteln, erst entstehen können. Meiner Ansicht nach gibt es auf dem Gebiete der Kunst keinen anderen Weg, als der Methode zu folgen, die ich die wertende Experimentalmethode genannt habe, und die — wie im Vorhergehenden gezeigt — in jeder Wissenschaft, also auch in der Ethik, bei der Gestaltung der Charaktere und Gemeinschaften, ja aller Kulturwerte angewendet werden muß. Auf dem Gebiete der Kunst müssen wir deshalb versuchen festzustellen, welche psychologischen und physiologischen Verhältnisse in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang jene Gefühle der Befriedigung hervorrufen, die Schönheit genannt werden. Die Experimentalmethode wird uns bereits jetzt klar zeigen, daß die Schönheit eine in den besonderen physiologischen und seelischen Verhältnissen begründete selbständige Qualität ist. Schon die einfachsten Fälle aus dem Alltagsleben werden uns das zeigen. Drei miteinander verbundene Stangen mit Löchern für Kerzen, Blechteller und Blechbecher auf einem Tische sind rein praktisch gesehen für
444 den Zweck, das Einnehmen einer Mahlzeit, durchaus genügend. Ein Tisch mit dreiarmigen, silbernen Leuchtern, mit Meißnerporzellan und mit Blumen geben uns indessen neben dem zweckmäßigen auch ein besonderes Gefühl der Festlichkeit und der Schönheit, während die obenerwähnten Stangen und Blechteller uns einen langweiligen und trüben Eindruck vermitteln. Eine gotische Kirche, die mit ihren hohen Kreuzwölbungen und den himmelwärtsstrebenden Türmen unseren Blick nach oben führt, gibt uns ein eigenes und besonderes Gefühl der Befriedigung. Es mag hier schwierig sein, dieses zu definieren. Vielleicht können wir sagen, daß wir ein Gefühl der Stille, der inneren Sammlung und des Ernstes erleben, ein Gefühl, den wir Andacht nennen und das uns unser eigenes Leben in einer weiteren Perspektive, in einer höheren Beleuchtung sehen läßt. Aber rein nützlichkeitsmäßig ist dieses Emporstreben der Gotik überflüssig. Als zweites Beispiel könnte man erwähnen, daß die weißen und gelben Mauern unserer Bauernhöfe uns unwillkürlich als festlich und schön ansprechen, während die grauen Zementmauern der einförmigen und langen Straßenreihen in den modernen Städten uns langweilig und trübe erscheinen. W i r finden einige Zusammenstellungen von Lauten, die wir Geräusch und Lärm nennen, häßlich, andere aber, wie z. B. in der Musik Bachs, Händeis oder Mozarts schön, obgleich sie beide im selben Maße zweckmäßig oder unzweckmäßig sein und ganz außerhalb des Gebietes dieser Begriffe liegen können. Die genannten Fälle sind nur Beispiele erfahrungsmäßig-experimental festgestellter Qualitäten, die zu dem gehören, das wir das Schöne und die Kunst nennen. Wir könnten fortfahren, diese Qualität in Tausenden von Fällen erfahrungsmäßig nachzuweisen. Es gilt aber planmäßig experimentell zu untersuchen, ob es möglich sei, gewisse gesetzmäßige physiologische und psychologische Verhältnisse festzustellen, auf denen diese besondere Qualität, also die der Kunstgefühle tatsächlich beruht. Soweit ich sehen kann, müssen zunächst die allgemeinen physischpsychischen Naturgesetze hervorgehoben werden, die ich im Vorhergehenden festzustellen versucht habe und die vermutlich hinter allen besonderen menschlichen Gefühlswerten, ethischen wie ästhetischen, zu finden sind, nämlich: die Gesetze von dem Verhältnis zwischen 1) der Intensität und der Dauer des Genusses oder Lustgefühles, von 2) dem psychischen Leerraum und der Abwechselung, von 3) den relativ größeren Abwechslungsmöglichkeiten der höheren Sinnesorgane, des Auges und des Ohres, mit anderen Sinnesorganes verglichen, und 4)
445 von den Gesetzen der Konzentration (vgl. oben S. 300 ff.). Die Gesetze 1) und 2) dürften bereits in genügender Weise erklären, warum das Zweckmäßige nicht immer mit dem Schönen kongruent sein kann. Die einförmigen, in Grau auftretenden Erscheinungen sind langweilig und trübe, gleichgültig ob sie eiserne Stangen, Blechteller oder die endlosen Reihen von Großstadthäusern mit Zementfassaden sind. Sie mögen alle ihrem Zweck entsprechen, aber sie sind nicht das, was wir schön nennen. Die Abwechslung in Farben und Formen schenkt unserer Seele eine Bereicherung, die eines der bestimmenden Momente in jener Lustqualität ist, die wir Schönheit nennen. Gesetz 3) erklärt, warum diese Qualität innerhalb des Gebietes der Sinnesorgane zu finden ist. Das Gesetz 4), das der Konzentration, bedeutet auch auf diesem Gebiete, daß Leben und Leben zwei verschiedene Dinge innerhalb der Menschenwelt sind. Denn in dieser gibt es außer dem animalischen Leben dasjenige, was ich die konzentrierten Momente oder das Leben in zweiter Potenz genannt habe (vgl. S. 313). Julius Lange hat gesagt, Kunst sei Ersatz für Leben. E r verwendet vermutlich das Wort »Leben« im Sinne konzentrierten Lebens. Meiner Ansicht nach gibt die Kunst aber dafür kein Surrogat; sie gibt das Leben selbst in zweiter Potenz wie einzelne andere Werte. Die konzentrierten Momente des Lebens, von denen wir später sagen können, daß wir in ihnen empfunden haben, daß wir lebten, finden wir Menschen in der intensiven Arbeit und in der Liebe; aber wir finden sie auch in der Welt der Kunst und des Schönen. Nichts von dem, was sich in der Malerei und in der Bildhauerkunst, in der Dichtung und in der Musik oder aber in der Architektur Kunst nennt, verdient den Namen der Kunst und der Schönheit, das uns nicht in dieser starken Bedeutung leben läßt, das uns nicht beseelt, uns erhebt und bereichert und uns nicht mehr und Anderes als das animalische Leben schenkt. Die künstlerische Wirkung oder die Wirkung der Schönheit beruht überhaupt auf einem Zusammenspiel verschiedener Momente. Diese machen sich freilich auch auf anderen Gebieten des Lebens geltend, nur nicht in dem besonderen Zusammenspiel, das Kunst schafft und darstellt. Bei dem Zusammenwirken der Abwechslung und der Konzentration ist auch ein anderes Grundverhältnis gültig, das wir aber ebenfalls auf anderen Kulturgebieten treffen, das jedoch innerhalb des Bezirkes der Kunst eine besondere Verbindung mit den hervorgehobenen Momenten, der Abwechslung und der Konzentration, eingeht. Auf allen Kulturgebieten macht sich ein Streben nach Ordnung und Regelmäßigkeit geltend; wir begegnen diesem Streben in der
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Wissenschaft, in Charakter und Gesellschaft und im täglichen Wirtschaftsleben, und zwar stets als Kulturfaktor. Dank dieser Ordnung und Regelmäßigkeit wird auf allen Gebieten eine Beherrschung der Erscheinungen erzielt. Diesem Streben nach Ordnung und Regelmäßigkeit begegnen wir aber auch als einem Moment unseres Schönheitsbegriffes neben dem Moment der Abwechslung. Wenn wir in den Eindrücken Abwechslung suchen, wird unwillkürlich eine gewisse Regelmäßigkeit in der Abwechslung erstrebt. Wenn in dem, was wir Rhytmus in weiteren Sinne nennen, eine besondere Wirkung des Angenehmen oder Schönen vorhanden ist, hat dies seinen Grund darin, daß dadurch gleichzeitig das Belebende durch die Abwechslung und auch durch eine gewisse Harmonie und Ruhe dank der gesetzmäßigen Wiederholung desselben Eindruckes mit bestimmten Zwischenräumen erreicht wird. Dieser Rhytmus ist sowohl in der Säulenreihe des griechischen Tempels wie im Vers und in der Musik zu finden. Es ist die Grundtendenz aller anderen, seelischen Gebiete, die sich auch hier geltend macht. Man müßte dies aber weiterführen können, denn selbst wo wir das für die Seele Erhebende in der reichsten und buntesten Abwechslung suchen, wird trotz Allem ein gewisses Gleichgewicht zwischen den einzelnen Teilen und der Ganzheit unbewußt gesucht, dem wir auch auf anderen Gebieten des menschlischen Lebens begegnen, weil die Erfahrung uns überall lehrt, daß nur das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Teilen und der Ganzheit — ein Gleichgewicht, in dem der einzelne Teil nicht die Möglichkeit erhält, die anderen Teile zu überwältigen — zur Beherrschung der Erscheinungen führt, die in allen Verhältnissen des Lebens die rechte Lösung ist. Selbst in den Gebäuden des reichsten Renaissancestils oder des Rococo begegnen wir einer gewissen Regelmäßigkeit, einer Harmonie und einem Gleichgewicht, das trotz der Vielfältigkeit der Einzelheiten der Alles beherrschende Zug ist. Dieses Element in den Begriffen der Schönheit und der Kunst: Ordnung und Regelmäßigkeit, erklärt unter Anderem auch, warum wir das verworrene Bauen in den Großstädten der Gegenwart so unschön finden. Mit dem Worte »verworrenes Bauen« meine ich die völlig zufällige und planlose Mischung aller Arten von Bauten in allen möglichen Größen, mit verschiedenen, praktischen Zwecken und in allerlei »Stilarten« und deren weitere ebenso sinnlose Vermengung mit der Natur. Das verworrene Bauen ist außerdem schon im Voraus gesellschaftlich gesehen unwirtschaftlich, weil ein wirtschaftlicher Bauplan eine klare Trennung in verschiedene Viertel nach den respektiven, praktischen Zwecken der Gebäude erfordert: Wohnungs-
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viertel für sich, Fabriksviertel für sich u. s. w. Das verworrene Bauen gibt uns aber gleichzeitig das Gefühl eines besonderen seelischen und physischen Unbehagens, das uns die Wirkung mit recht als unschön und häßlich vorkommen läßt, weil sie als Unordnung und als Disharmonie im hohen Maße einem Grundelement des Schönheitsbegriffes widerspricht, das Ausdruck des Zentralen in der Struktur des menschlichen Geistes ist, nämlich des Strebens nach Ordnung, Gesetzmäßigkeit und Gleichgewicht. Als besonderes Glied des Momentes der Abwechslung mag der Bedarf nach starken Farben gegen den Hintergrund einförmig-grauer und trüber Eindrücke genannt werden — einem Element der Schönheitswirkung, das in der Architektur der Gegenwart oft übersehen wird. Hier machen die klimatischen Verhältnisse sich besonders geltend. Während das Ordnungs- und Gleichgewichtsverhältnis die Beziehungen der einzelnen Eindrucksteile zum Ganzheitsbilde betrifft, ist das letztgenannte Element für die Lichtwirkung und die Farbenwahl entscheidend. In Ländern, wie den nordischen, und überhaupt den nördlichen Teilen Europas, wo der Sommer kurz und das Licht im Herbst und im Winter spärlich und selbst in der Zeit, in der die Sonne scheint, oft durch die Wolkendecke verschleiert wird, hat die Architektur die natürliche Aufgabe, durch helle Farben auf die Menschenseele so erheiternd zu wirken, wie möglich. Die Baumeister unserer alten Bauernhöfe verstanden das rein instinktiv und machten Hof und Nebengebäude deshalb durch festlich lichte, weiße und gelbe Farben lebhafter. In der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnen wir dagegen in den Großstädten auch des nördlichen Europas den dunklen, einförmigen, zementgeputzten Hausflächen, die erdrückend wirken und in den dunklen, trüben Höfen schwarzen Schächten ähneln. Selbstverständlich ist es schwierig, bestimmte Regeln für Lichtund Farbenwirkungen aufzustellen — eine gewisse Freiheit ist in dieser Beziehung unentbehrlich — nur nicht für das Langweilige und Dasjenige, das ungleichgewichtig und unbegabt die Ganzheit zerschlägt. Die Wüstenwanderung, die die Vorstadtviertel des 19. Jahrhunderts vor Allem in Nordeuropa dank der schwachen Beleuchtung mit ihren dunklen, langweiligen Straßen, ihren düsteren Höfen und den verschiedenen, plumpen Versuchen, einen »Stil« zu schaffen, für weite Schichten der Bevölkerung bedeutet, darf nicht wiederholt werden. Deshalb ist es auch zu begrüßen, wenn viele Hausbesitzer in den traurigen Vorstadtvierteln in den letzteren Jahren den Versuch machen, die dunklen Hinterhöfe zu beleben, indem sie die gewaltigen Mauerflächen mit hellen, weißen oder gelben Farben streichen lassen,
448 weil sie verstehen, was dieser bescheidene Versuch seelisch und schönheitsmäßig für die Bewohner der Hinterhöfe bedeutet. Meiner Ansicht nach beruht es ja auch auf einer starken Wirkung des Gegensatzes in der Abwechslung, daß die festliche Anordnung in einem Räume, zum Beispiel mit Blumen, strahlenden silbernen Leuchtern und reichem Porzellan mit bunten Mustern uns den Eindruck der Schönheit verleiht. Gegensatz und Hintergrund dieses festlichen Eindruckes ist die Dunkelheit, die Nacht, der graue Himmel. Mitten in dem Grauen und Düsteren sehnen wir uns nach der Erfrischung der Seele, nach der Befreiung von Allem, was verstimmt und drückt, also nach jener Befreiung, die das Fest des Lebens, das wir dank der Farben und des Lichtes Schönheit nennen, uns zu geben vermag. Einer besonderen Art der Konzentration des Lebens in zweiter Potenz begegnen wir in jenen Gefühlen, die man vielleicht mit einem Sammelausdruck als »erhaben« bezeichnen könnte. Es ist sehr schwierig, diesen Begriff wissenschaftlich zu erfassen, zu definieren und in seinen Kausalverhältnissen klarzustellen. Wir können mit der Konstatierung anfangen, daß wir hier Gefühlen der Befriedigung gegenüberstehen, die einen ganz besonderen Wert für die Menschheit haben, und daß sie auch oft eines der Elemente dessen bilden, was wir Schönheit und Kunst nennen. Das Erhabene verleiht uns ein tiefes Gefühl der Stille; und während dieser Stille führt es uns gleichsam zu einem Bergesgipfel, von dem wir über das Menschenleben, dem auch unser eigenes Dasein angehört, hinausschauen. Ein solches Streben nach den Höhen, nach den weiten Ausblicken über das Leben schenkt der Phantasie und dem Traum auch weiten Raum. Was an diesem Streben und an den großen Möglichkeiten, die damit der Imagination und dem Traum geschenkt werden, seelisch befreiend wirkt, macht das Erhabene zu einem wesentlichen Element der großen Kunst. Das Gefühl des Erhabenen wird für die Menschenseele, die von dem Druck der kleinen Dinge und der Sorgen des Alltagslebens eingeengt wird und seelisch verkalkt, eine wirkliche Befreiung, eine Erhebung des Alltagslebens in eine Welt der Ahnungen und der Träume — und vielleicht könnte man sagen: es befreit uns dadurch, wenn auch nur für einen Moment, von unserem kleinlichen Egoismus und erhebt uns damit auch über uns selbst. So ist es seit dem Mittelalter mit seinen kleinen Städten und Verhältnissen gegangen, als man dem Erhabenen in den hohen Wölbungen und den emporstrebenden Türmen der mächtigen, gotischen Dome begegnete, bis zu jenen Menschen, die ihm im ersten Teile des 19. Jahrhunderts in den Bildern eines Turner oder Moritz v. Schwind mit den ahnungsvoll weiten
449 Perspektiven entgegentraten. Wenn der Dichter das Kommen des Morgens schildert: Im Osten geht die Sonne auf, Auf Wolken streut sie Gold, Geht über Tal und Bergeshöh, Geht über Land und Stadt. dann ahnen wir die Höhen und Tiefen nebelhaft durch die Morgendämmerung, die dem Lichte weicht, und im Tale tauchen Länder und Städte schimmernd hervor. Umgekehrt wirkt das Flache, das Durchgeschnittene, das Niedrige, meistens verstimmend und banal. Der Sehnsucht des Menschen nach den Höhen ist es nicht leicht nachzuspüren — vielleicht ist sie aus recht komplizierten, physiologischen und seelischen Verhältnissen entstanden. Als der Mensch sich sowohl körperlich als geistig im Dasein aufrichtete, wurde nicht nur der Körper und der Gang aufrecht, sondern auch der Blick nach Oben und weit Hinaus gerichtet. Damit began der menschliche Gedanke seine große Pilgerfahrt um die Welt zu erobern — immer weiter hinaus und immer weiter empor. Es ist natürlich, daß dieses ganze Sehnen auch als eines der Elemente der Schönheit und der Kunst seinen Ausdruck erhält. Außer den angeführten Beispielen könnte man auch Anordnungen von Räumen erwähnen. So vermitteln hohe Säle und Zimmer einen Schönheitseindruck, der mit anderen Momenten verknüpft eine befreiende und festliche Wirkung auf die Seele ausübt. Nach den Erscheinungen, die ich oben festzustellen versucht habe, kann man vielleicht als vorläufige Arbeitsgrundlage die Schönheit als besondere Anordnung der Sinneseindrücke definieren, die wir bisweilen hauptsächlich durch Gesicht und Gehör von der umgebenden Natur erhalten, und die die Kunst in ihren verschiedenen Formen systematisch hervorzurufen versucht, und zwar in einer solchen Weise daß es uns ein Gefühl der Befriedigung verleiht, also von einem Leben
Was eigentlich Anordnungen von Räumen in Gebäuden und Lichtverhältnisse schön macht, ist sehr wenig erforscht. Das gilt auch den meisten ästhetischen Gründen überhaupt. Es ist wahrscheinlich, daß die obenerwähnten physiologisch-psychischen Verhältnisse, die das Erhabene bedingen, sich auch hier, wie in der Architektur im Ganzen, geltend machen. Beispielsweise kann genannt werden, daß hohe Fenster und niedrige und flachgedrückte dieselbe Durchlaßfläche für Licht besitzen können und also in dieser Beziehung gleich zweckmäßig sein würden, aber die hohen Fenster ermitteln unmittelbar eine besondere Schönheits29
Erkenntnis und Wertung
450 das intensiver als das Alltagsleben ist u n d das auf einer Reihe verschiedener Elemente im wechselseitigen Zusammenspiel beruht, von denen besonders hervorgehoben werden k ö n n e n : die Abwechslung, darunter die starke Gegensatzwirkung oder Kontrastwirkung zu den unlustbetonten (damit auch einförmigen u n d langweiligen) Zuständen, der R h y t h m u s oder die Gesetzmäßigkeit im zeitlichen Auftreten der Eindrücke ( die Lauteindrücke in der Musik u n d der Dichtung) oder in ihrer räumlichen Erscheinung (Gesichtseindrücke in der Malerei, Skulptur, Architektur), u n d das Erhabene. Es verhält sich natürlich nicht so, daß alle diese Elemente an jedem E i n d r u c k des Schönen oder der Kunst teilnehmen; aber meiner Ansicht nach ber u h e n diese Eindrücke stets auf einem Zusammenspiel von m e h r e r e n dieser Elemente. Der begabte und talentvolle Künstler — sei er n u n Maler, Bildhauer, Architekt, Komponist oder Dichter — findet instinktiv den W e g zu dem richtigen Zusammenspiel dieser Elemente, das uns erfricht, bereichert, befreit oder erhebt. Dieses eigentümliche Zusammenspiel ganz besonderer Elemente hat, wie m a n verstehen wird, gar nichts mit wissenschaftlicher W a h r h e i t , praktisch-technischen Zwecken oder Ethik zu t u n ; insoweit m u ß m a n die Behauptung der l'art pour l'art als richtig anerkennen. E t w a s ganz Anderes ist es, daß die Kunst bei vollem Vorbehalt ihrer Selbständigkeit den anderen Kulturwerten gegenüber doch in einem gewissen Zusammenhange mit ihnen zusammenarbeiten m u ß , wie ü b e r h a u p t alle Kulturwerte genötigt sind, unter einander zusammenzuwirken. O f t gibt es gar keine Berührungs- oder Reibungsflächen u n t e r den W e r ten. Die Musik, die Malerei u n d die Bildhauerkunst haben deshalb in der Regel keine B e r ü h r u n g mit dem wissenschaftlich W a h r e n oder dem praktisch Zweckmäßigen. Sie haben wie alle andere Kunst n u r den einen Zweck: u n s F r e u d e u n d Bereicherung zu vermitteln. Sie haben keine praktischen, technischen oder wissenschaftlichen Rück-
wirkung, die die flachgedrückten und niedrigen nicht besitzen. Eine Moderichtung zum Vorteil dieser letzteren dürfte deshalb ein Mißverständnis darstellen. Die flachgedrückten Fenster geben dadurch, daß ihre Breite größer ist als ihre Höhe, einen banalen und langweiligen Eindruck. Man erhält seelisch sozusagen einen Druck auf das Gehirn, man fühlt sich geistig flachgedrückt. Die horizontalen Linien rufen hier ein gewisses Unbehagen hervor, und zwar dadurch, daß sie den Blick zerstreuen, während die vertikalen Linien den Blick nach oben führen und dadurch den größeren Überblick verleihen.
451 sichten zu nehmen, abgesehen von solchen Ausnahmen wie z. B. der Rücksicht auf die Haltbarkeit des Materials für die Skulptur und die Malerei und bisweilen auf den anatomischen Bau. Innerhalb einer bestimmten Kunstart, der Architektur (und in dem Kunstgewerbe in bezug auf Gebrauchsgegenstände) ist eine Berührungsfläche mit der Technik vorhanden, in einer anderen wiederum, nämlich der schönen Literatur, mit der wissenschaftlichen Wirklichkeitsschilderung. Es gibt nur einen Kulturwert, mit dem alle Kunstarten in Berührung kommen, und das ist die Ethik. Die Kunst muß insoweit in allen ihren Formen auch in dieser Beziehung ihre Selbständigkeit behaupten, als man nicht verlangen darf, daß die Kunst moralisierend wirke. Ein Moralisieren würde sogar sehr oft die künstlerische Wirkung schädigen. Das Einzige, das man mit recht von jeder Kunst verlangen kann, ist das rein Negative, daß sie nicht unethisch wirkt und nicht direkt dem Ziele entgegenwirkt, das eine wissenschaftlichobjektive Ethik für das Bestehen und den Fortschritt der Menschheit als notwendig erachtet. Nur wenn der Gedanke der Fart pour l'art bedeutet, daß die Kunst auch diesen negativen Ausspruch vernachlässigen könne, ist er unrichtig. Die talentvolle Kunst befriedigt aber ganz natürlich, also ganz von selbst, diese Forderung. Und die große Kunst wirkt in ihrer eigenen, selbständigen und natürlichen Art parallel mit der Ethik, indem sie die Menschheit bereichert und erhebt. Zwei Kunstarten haben eine besondere Bedeutung für weite Kreise der Bevölkerung, nämlich die schöne Literatur und die Architektur. Es ist deshalb besonders wichtig, daß das Zusammenwirken dieser beiden Kunstarten mit den nachbarlichen Kulturbezirken der Wissenschaft, der Ethik und der Technik, nicht auf ein falsches Gleis gerate. Diese Kunstarten haben bisweilen infolge einer unrichtigen Auffassung dieses Verhältnisses unfruchtbare Wege eingeschlagen. Wie oben angedeutet, gilt das besonders der Literatur im letzten Teil des 19. Jahrhunderts und der Baukunst im ersten Teile des 20. Es ist gleichzeitig ein Problem, ob die Ordnung oder vielleicht: die fehlende Ordnung der Gesellschaft auf diesem Gebiet einen Einfluß ausübt. In bezug auf diese beiden Kunstarten ist deshalb aller Grund vorhanden, diese Verhältnisse etwas näher zu untersuchen. I. Es geschieht bisweilen, daß eine Strömung, die auf einem Gebiete des Geisteslebens stark geworden ist und große Erfolge zum Nutzen der Menschheit aufweisen kann, sich auch auf andere Gebiete des Geisteslebens ausbreitet, zum Vorbild genommen und von Vielen als 29*
452 die einzige richtige Richtlinie auch auf diesem anderen Gebiete aufgefaßt wird. Nach der Auflösung der romantischen Philosophie in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als der streng erfahrungsmäßige und realistische Geist in der Naturwissenschaft die größten Siege errang und die sorgfältige Beobachtung der Wirklichkeit auch allmählich die Geisteswissenschaften — sowohl die Geschichte als die Soziologie — durchdrang, war es natürlich, daß auch andere Gebiete des geistigen Lebens, vor Allem die schöne Literatur und die Kunst, von dieser ganzen Strömung, die von der empirischen Wissenschaft ausging, beeinflußt wurden. Sowohl in der bildenden Kunst als in der schönen Literatur wurde die Romantik im letzten Teile des 19. Jahrhunderts vom Realismus abgelöst. Die Führer jener Richtung oder Tendenz, die wir Realismus oder Naturalismus nennen (und zwar sowohl innerhalb der schönen Literatur als auch in der bildenden Kunst), hatten indessen einen sehr begrenzten, geistigen Horizont. Sie hatten keinen tieferen Einblick in die Erkenntnislehre und in die Ethik; und schon aus diesem Grunde hatten sie nicht das Verhältnis zwischen der Kunst und diesen Gebieten erwogen. Sie dachten sich wohl, daß die Schriftsteller in ihren Novellen, Romanen und Schauspielen, ganz wie die Werke der Wissenschaft, so genaue und so viele Wirklichkeitsbeobachtungen aus dem Leben, das um sie wogte, geben müßten, das heißt also, sie sollten eine sorgfältige, tatsächliche Beschreibung vom täglichen Menschenleben mit seinem gesamten Konflikten, seiner Mühe und seiner Not, seinen Kämpfen um das Dasein, seinen politischen Zwisten u. ä. bringen. Und da dieselbe Periode, in der diese realistische Literatur entstand, in ganz besonderem Maße
Mit der Anwendung des Ausdrucks »entartete, degenerierte Kunst« muß man vorsichtig sein. Meiner Auffassung nach läßt er sich nur da anwenden, wo überhaupt kein Kunstwerk vorliegt, wo dieses nämlich aller oder der meisten Elemente entbehrt, die — wie oben dargetan — das Wesen der Kunst oder der Schönheit ausmachen; wenn beispielsweise ein Gemälde, eine Skulptur oder ein literarisches Werk ausschließlich darauf ausgehen, die niederen, physischen Prozesse wie die geschlechtlichen u. ä. zu schildern, also etwas, das kein anderes Interesse hat, als das der moralischen Zerrüttung. Künstlerisch gesehen sind diese Werke belanglos, da sie, statt zu bereichern und zu erheben, verstimmend und niederschlagend wirken. Auch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sind derartige Werke ohne Belang. Die Wirklichkeitsschilderung sexueller Phänomene kann Niemand besser geben als die Wissenschaft und zwar die Anatomie und die Physiologie.
453 eine Zeit der Auflösung war, da der Liberalismus des 19. Jahrhunderts in seiner Gesellschaftsordnung allmählich zu dem rücksichtslosesten, wirtschaftlichen Kampf ums Dasein unter den Individuen, zu den härtesten Klassenkämpfen und den widerlichsten Partei-streitigkeiten geführt hatte, wurde die Literatur dieser Zeit naturgemäß eine genaue, wirklichkeitstreue Schilderung der gemeinsten Seiten der menschlichen Natur, die sich in diesen Kämpfen offenbarten, von der Hinterlist und der Brutalität der Stärkeren, ihrer Unterdrückung und ökonomischen Ausbeutung der Schwächeren, von der großen Not der Arbeiterklasse und ihren ungesunden und häßlichen Wohnkasernen. Dann glitt die Literatur ganz natürlich auch zur Schilderung der gemeinsten Seiten des Menschenlebens auf anderem Gebiete, nämlich der niederen Sexualität, über. Als »Wirklichkeit« gelten verschiedene Phänomene (natürlich Alle innerhalb der Wirklichkeit 1). Es gibt Natur-Wirklichkeit, die Wirklichkeit des Universums, bevor es von den Menschen beeinflußt oder geschaffen wurde; und es gibt die von den Menschen beeinflußte oder geschaffene Wirklichkeit, sei es nun in der Natur oder der Gesellschaft. Die Natur-Wirklichkeit kann niemand besser schildern als die beschreibende Wissenschaft. Dasselbe aber gilt der von den Menschen geschaffenen Wirklichkeit sowohl in der Natur als in den gesellschaftlichen Zuständen. Beispielsweise kann nur die beschreibende Gesellschaftswissenschaft (Soziologie, Sozialwirtschaft, positive Rechtswissenschaft) die richtige, allseitige Schilderung des ganzen Notzustandes der Gesellschaft, der Folgen der freien Konkurrenz und des Klassenkampfes, der Ausschreitungen des Kapitalismus und der Spekulation, der ungesunden und häßlichen Wohnungsverhältnisse in den Großstädten der Gegenwart geben, genau wie die Psychiatrie und die Physiologie wiet kundiger als irgend ein Roman, und zwar ohne dessen Einseitigkeit, die unglücklichen Seiten des menschlichen Geschlechtslebens beleuchten können. Wenn die Kunst also, wie der Realismus es behauptete, ausschließlich die Aufgabe hat, eine zuverlässige Wirklichkeitsschilderung zu geben, ist sie einfach überflüssig. Das gilt denn auch dem größten Teile der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Der Realismus gab den mittelmäßigen Schriftstellern unerwartet große Möglichkeiten. Eine ganze Menge Menschen sind imstande, eine tatsächliche und genaue Beschreibung des Lebens, das man um sich sieht, zu geben. Es ist eigentlich nur eine Sache des Fleißes. In der Zeit des Realismus entstand deshalb auch eine Unmenge von Schriftstellern. Und es waren kleine, oft
454 gleichgültige Menschen aus dem täglichen Leben, die sie mit besonderer Sorgfalt schilderten. Die Folge war, daß die ganze reiche, realistische Literatur aus dem letzten Teil des 19. Jahrhunderts mit ihren zahllosen Tatsachenschilderungen dieser kleinen Menschen oder niedriger, menschlicher Zustände heute unleserlich ist. Die meisten dieser Werke ruhen als eine tote Masse auf den großen Friedhöfen der Biblioteken. Aber übrigens sind die kleinen Menschenschicksale und die niedrigen gesellschaftlichen und individuellen Seiten des Menschenlebens nicht das ganze wirkliche Leben, selbst wenn das Kleine und das Niedrige für weniger begabte Schriftsteller am leichtesten zu schildern ist. Das wirkliche Menschenleben enthält auch das Erhabene, die starken Gefühle für die Ziele der Menschheit, die reichen, intensiven Augenblicke und die großen führenden Gestalten. Diese Wirklichkeit wiederzugeben ist auch die Aufgabe der Poesie und der Kunst. Die sogenannte, realistische Literatur des 19. Jahrhunderts war eine geistig schmalspurige Richtung; sie war sogar stark zeit- und ortsbestimmt und schilderte tatsächlich nur die häßliche und planlose Gesellschaft der freien Konkurrenz und des Klassenkampfes in dem Europa jener Zeit. Aber letzten Endes ist es überhaupt nicht die einzige oder die größte Aufgabe der Kunst und damit also auch nicht der Literatur, die Wirklichkeit zu schildern. Die Phantasie eines Dichters darf von ihr nicht gebunden sein. Die Wirklichkeit geht natürlich als ein Element in das Werk ein; aber es ist nicht die Wirklichkeitsschilderung, die das Werk zur Kunst macht. Das tut nur die Form, in der der Dichter die Wirklichkeit als seinen Stoff behandelt. Er macht tiefe Ausschnitte aus dem wirklichen Leben, kombiniert sie mit anderen, ordnet sie alle einem weiteren Gesichtspunkt unter und verleiht ihnen dadurch und durch die Sprachbehandlung und den Stil des Meisters ein intensiveres Leben, das die bloße Wirklichkeitsschilderung nicht besitzt. Die bedeutendsten Dichter des 19. Jahrhunderts als Ganzes aufgefaßt, wie z.B. Victor Hugo, Charles Dickens, Totstoj und Turgenjew, sind über die Gegensätze dieses Jahrhunderts zwischen Romantik und Realismus erhaben. In den Werken dieser Dichter begegnen wir nicht nur einer tiefen Einsicht in die niedrigen Seiten der menschlichen Natur, sondern auch in die erhabenen bei den Einzelnen; doch vor Allem haben diese Dichter das Talent, das allein der Wirklichkeitsschilderung Tiefe und die große Perspektive, den weiten Ausblick über das Menschenleben zu geben vermag; und eben deshalb werden diese Dichter die Führer der Menschheit auf dem
455 Wege zu einer neuen, größeren und reicheren Menschlichkeit. Oft haben ihre Werke den Weg für große Reformen in der Gesellschaft gebahnt. In der großen Dichtung und Kunst sind zu allen Zeiten der Geschichte Idealismus und Realismus eng mit einander verbunden gewesen. In den Werken Shakespeares und Goethes, Rembrandts und Michel Angelos begegnen wir den Leidenschaften und Stürmen des wirklichen Menschenlebens, den reichsten Augenblicken und den höchsten Zielen der Menschheit. II. Jene trübe und graue Wirklichkeit, die die realistische Literatur und die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts mit Vorliebe schilderten, war nicht von der Natur, sondern von den Menschen selbst geschaffen. Die häßliche Gesellschaft mit ihrer Not und ihrem Elend, das der Durchbruch der Fabriksindustrie und die ungeheure Vermehrung der europäischen Bevölkerung in der letzten Hälfte dieses Jahrhunderts schufen, und die den Hintergrund für die Schilderungen der realistischen Literatur und Kunst der Periode bilden, wurden ausschließlich als Folge einer falschen Soziologie im 19. Jahrhundert, nämlich der klassischen Sozialwissenschaft und Rechtslehre möglich, weil die Regierungen in Übereinstimmung mit dieser Soziologie die gesamte Entwickelung des wirtschaftlichen Lebens den Menschen selber überließen, während sie der festen Leitung einer Rechtsordnung entbehrten. Folglich entstand in dieser Periode ein ungehemmter und rüchsichtsloser Kampf um das Dasein, die Ausbeutung der großen Bevölkerung durch das Großkapital auf dem Wege niedriger Löhne und hoher Preise und schließlich der Bau vieler ungesunder und deprimierender Wohnviertel durch die Bauspekulanten, Viertel, die die Großstädte der Gegenwart verunzieren. Hätte die Staatsmacht den Menschen, z. B. nicht frei überlassen, die Städte zu gestalten, wie sie wollten, d. h. der Geldgier nicht erlaubt, diese Gebiete auszubeuten, sondern statt dessen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die europäischen Großstädte durch feste Bau- und Stadt-regelungsgesetze selbst gebildet, hätten wir statt der dunklen, verworrenen und planlosen Anlage unserer Städte mit den Fabriken und Wohnhäusern in ungesunder und häßlicher Mischung, wie wir sie in den meisten modernen Städten finden, eine Konzentration der Fabriken in besonderen Vierteln und um sie herum eine planmäßige Unterbringung der Arbeiterwohnungen in gesunden und schönen Gartenvororten. Es ist der experimentellen, wertenden Soziologie und Technik im Kommenden Teil des 20. Jahrhunderts vorbehalten, die ungesunden und
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unschönen Großstädte des 19. Jahrhunderts zu zerstören und auf ihren Ruinen eine ganz neue Stadtgemeinschaft nach reinen, gesundheitlichen und schönheitsmäßigen Linien aufzubauen. Wenn die realistische und bildende Kunst in dieser grauen und drückenden Wirklichkeit, die die Menschen selber geschaffen hatten, stecken blieb, sieht man schon daraus, welche Bedeutung die Architektur für die Menschenseele hat. Und in der Gegenwart ist ihre Bedeutung in dieser Beziehung weit größer als in den alten Zeiten, denn heutzutage wohnt der größte Teil der Menschen, dank des gewaltigen Bevölkerungszuwachses, in Städten. Die Großstädte haben sich in den Kulturstaaten in weit größerem Ausmaße verbreitet, als es jemals früher der Fall war, selbst wenn man die alten Großstädte früherer Kulturepochen in Betracht zieht; und die Stadtgestaltung macht tiefere Eingriffe in die Natur als in irgend einer früheren Periode der Geschichte. Stadt und Natur gehen heutzutage auf immer größeren Geländen ineinander über. Die modernen Verkehrsmittel fördern außerdem diese gesamte Entwickelung. Die Städte und die Natur sind dadurch in höherem Maße als zuvor die gemeinsame und große Wohnstube aller Bürger geworden. Es darf deshalb nicht dem einzelnen Bürger überlassen werden, sein Haus zu bauen wo und wie er will. Das Äußere der Häuser ist kein privates Eigentumsrecht, sondern gemeinsamer Besitz aller Menschen. Folglich ist es, wie die oben erwähnten Erfahrungen zeigen, eine Aufgabe der Gesellschaft die gesamte Entwickelung durch eine feste Rechtsordnung zu leiten. Sonst enden wir auch in der künftigen Stadtgemeinschaft in der Zerstörung aller architektonischen Werte und aller Naturwerte durch die private Bauspekulation. Durch eine feste Stadtplanung erzielt man bereits gewisse Ganzheitslinien der Architektur, Linien, die nicht nur in hygienischer und trafikaler Beziehung zweckmäßig sind, sondern auch einen gewissen Schönheitswert besitzen. Aber auch innerhalb des einzelnen Viertels ja, der einzelnen Straße, muß eine gewisse Gesamtwirkung angestrebt werden. Wie ein neueres, dänisches Baugesetz sich ausdrückt: »Die Baubehörde kann fordern, daß das Äußere einer Bebauung die architektonische Gestalt und die Farbe erhält, die das Straßenbild und das Bild des Hofes beansprucht, damit eine gute Gesamtwirkung erzielt wird (Gesetz vom 29. März 1939)«. Das freie Walten des privaten Eingentumsrechtes im 19. Jahrhundert bewirkte, daß die Häuser der modernen Großstädte in derselben Straße oft in vielen ver-
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schiedenen Stilarten gehalten sind, so daß Altes und Neues in ganz zufälliger Weise miteinander vermischt sind. Das einzelne Gebäude soll selbstverständlich nicht nur die Rücksicht auf die Gesamtheit des Stadtbildes und der Natur befriedigen, sondern vor Allem technisch zufriedenstellend gebaut und zweckmäßig eingerichtet sein. Aber ferner sollte es auch gerne so sein, daß es durch sein Äußeres, seine Form und seine Farbe eine unmittelbare Freude für uns wird und die Seele belebt und erfrischt. Diese dritte Eigenschaft ist eine neue Qualität neben der Zweckmäßigkeit, eine Qualität, die wir architektonische Schönheit nennen. Die Schönheit beruht in der Architektur wie in jeder anderen Kunst, wie oben beleuchtet, auf einem eigentümlichen Zusammenspiel verschiedener Momente: eines gewissen Rhytmus, einer Gesetzmäßigkeit in der Abwechslung, der überschaulichkeit, des Gleichgewichtes zwischen der Ganzheit und den Einzelheiten, oder der Harmonie der lebendigen und ermunternden Licht- und Farbenwirkungen. Auf diesem Zusammenspiel zwischen solchen und ähnlichen Momenten beruht es, daß es gewisse innere Verhältnisse zwischen der Höhe, Länge und Breite der Bauten und der Zimmer, der Form und Stellung der Fenster und der Türen und gewissen Farbenzusammenstellungen gibt, die gemeinsam Schönheit, ruhige Abwechslung und Gemütlichkeit schaffen, während andere Verhältnisse einen schematischen, langweiligen Eindruck machen und Kälte, Ungemütlichkeit und Häßlichkeit hervorrufen. Der talentvolle Architekt findet instinktiv dieses innere Verhältnis in der Größe, den Maßen und den Farben, die für Einzelheiten des Gebäudes verwendet werden sollen. Die Architektur älterer Epochen fand den Weg zu ihnen durch die Erfahrungen von Jahrhunderten; die Werke einzelner, talentvoller Baumeister blieben stehen, und aus ihrer Summe entstand eine feste Tradition, die die weniger begabten Baumeister nicht zu brechen wagten. Heutzutage aber glaubt sich jeder Baumeister oder Architekt berechtigt, die Tradition zu brechen und nach selbst erfundenen Methoden zu bauen — und jeder biedere Bürger will bauen, wie es ihm nach seinen unbegabten Einfällen paßt. Die Folge davon ist ein allgemeines Chaos, eine vollkommene Verwirrung und eine unbegrenzte Häßlichkeit in den modernen Gebäuden. Die Demokratie und der Liberalismus — d. h. die Freiheit zu tun, was jeder Einzelne zufällig tun möchte — hat auch auf dem Baugebiete im Verein mit dem 19. und dem 20. Jahrhundert die häßlichsten Stadtgemeinschaften geschaf-
458 fen, die jemals existiert haben. Während frühere geschichtliche Perioden infolge der führenden Stellung der großen Architekten und einer starken Staatsleitung eine Baukultur von seltener Einheitlichkeit und Harmonie aufweisen können — man denke an die Antike, an die Renaissance, an das Rococo und an das Empire — enthüllen die Gebäude der Gegenwart dank der Gleichheit und Freiheit der Demokratie und des Liberalismus nur eine gewaltige Verflachung, Banalisierung und sinnlose Experimente seitens unzähliger Besitzer und kleiner Baumeister, kurz gesagt: Auflösung und Leere. Wenn das Bauen nicht in den künftigen Stadtgemeinschaften mit derselben Pfuscherei enden soll, wird außer einer festen Rechtsordnung für die Bauplanung und das Gesamtbild gleichzeitig eine Rechtsordnung erforderlich sein, nach der die privaten Besitzer und Bauherren auch in bezug auf das Aussehen der einzelnen Gebäude der nötigen, gesellschaftlichen Disziplin unterworfen werden. Die bedeutendsten Architekten der Zeit müssen durch die Rechtsordnung der Gesellschaft in die Lage gesetzt werden, unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus den großen Perioden der Architektur der Vergangenheit gewisse Richtlinien festzulegen und eine entsprechende Beurteilung der Neubauten vor ihrer Aufführung vorzunehmen. Die großen Begabungen des Architektenstandes bilden selbstverständlich wie innerhalb eines jeden anderen Berufes nur eine kleine Minorität. Innerhalb der Mehrzahl gibt es viele solid tüchtige Männer, aber wie in den großen Perioden der Vergangenheit darf diese Mehrzahl nicht allein auf sich selbst angewiesen sein, sondern muß unter Leitung der Hervorragenden arbeiten. Es fehlt eine gewisse, geistig-hierarchische Organisation. Und ist die Zeit an großen, führenden Begabungen arm — denn nicht allen Zeiten wird gleich Vieles gegeben — müssen die Baumeister sich lieber an die alten Meister der vergangenen großen Zeiten der Architektur halten, also z. B. in den Stilarten der Renaissance oder des Klassizismus bauen, als etwas Selbstgemachtes und Mittelmäßiges zu versuchen, vorausgesetzt, daß der Bau den praktischen Zwecken entspricht und die Ganzheit (wenn eine solche vorhanden ist), das Stadtbild oder den Naturzusammenhang nicht durch eine Disharmonie verschandelt. Nach der oben gegebenen Bestimmung der Elemente in der Schönheitswirkung als vorläufiger Grundlage und nach Allem, was über Stadtplanung und Gesamtwirkung hervorgehoben wurde, scheint es im übrigen nicht unmöglich, gewisse Mindestansprüche in großen Zügen anzugeben, die von der Rechtsordnung der Gesellschaft künftig an jedes
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Gebäude gestellt werden müssen, damit es harmonisch und belebend statt disharmonisch und banal wirken könne. Das Gebäude muß 1) seinen praktischen Zweck durch seine gesamte technische Einrichtung, wie die Wahl der Materialien u. ä. (kurz Alles, was man die Funktionswirkung nennen könnte) erfüllen, 2) sich in die Stadtgemeinschaft in Übereinstimmung mit der durch die Rechtsordnung festgelegten Stadtplanung einfügen, 3) sich ebenfalls harmonisch in das Stadtbild selbst, überhaupt in die Umgebungen der Gemeinschaft sowohl in der Stadt wie in der Natur und in Übereinstimmung mit den Regeln der Rechtsordnung einordnen, und 4) durch die Momente: Abwechslung, Rhytmus oder Gesetzmäßigkeit, überblick und Intensität ein solches Verhältnis zwischen Höhe, Breite und Länge des Baues und der Räume, der Anbringung der Fenster und der Türen und der Zusammenstellung der Farben erreichen, daß die Gesamtwirkung eine unmittelbare Freude, eine Befreiung und eine Erfrischung für die Seele des Beobachters, d. h. unser Aller, hervorruft, die wir außer dem Besitzer in dem großen gemeinsamen Aufenhalts- und Arbeitsraum der modernen Gesellschaft in Stadt und Land leben müssen. Da die Bebauung, die im 19. Jahrhundert in den Großstädten durch ihre verworrene Mischung von Gebäuden mit verschiedenen Zwecken und von verschiedenen Stilarten und zwar auch noch mit Nachahmungen von einer Halbheit und Falschheit, die erdrückend wirken mußten, und ferner durch ihre oft völlig unzweckmäßige Einrichtung nicht nur gegen die oben angeführten Richtlinien 2)—4), sondern auch gegen die elementare Forderung 1) verstieß, war es selbstverständlich, daß am Anfang des 20. Jahrhunderts eine Richtung entstehen konnte, die sowohl behauptete, es sei die Aufgabe der Architektur überall nur das Zweckdienliche, das Praktischste in der Wahl der Materialien, in der Höhe, Länge und Breite des Äußeren, der Räume und der inneren Einrichtung der Häuser, der Farben u. ä. im Verhältnis zum Zweck des Gebäudes zu finden, als auch daß eine Baukunst der großen einfachen und reinen Linien von selbst entstehen würde, wenn man nur überall diese Zweckdienlichkeit zu erfüllen suchte. Als natürliche Reaktion gegen die verworrene und unzweckmäßige Bebauung der vergangenen Periode mit ihrem Similistil war diese Richtung, die moderne Sachlichkeit, berechtigt. Und jene moderne Sachlichkeit, die sich darauf beschränkt, Anspruch 1) als einzige Forderung und mit 2)—4) gleichberechtigt zu behaupten, ist noch immer
460 durchaus berechtigt und hat noch heute eine Mission zu erfüllen. Diese Richtung hob auch mit Recht hervor, daß die Architektur der vorhergehenden Epoche durch ihre planlose und unmotivierte Unterbringung verstreuter Elemente verschiedener Stilarten aus der Vergangenheit den Gegenwartsgebäuden oft Verzierungen, »Ornamente«, gab, die keinerlei praktichen Zwecken dienten. Eine Reinigung von solchen unsachgemäßen Elementen und eine Schaffung reinerer und einfachere Linien war deshalb am Platze. Schließlich war es auch richtig, wenn die neue Richtung hervorhob, daß das Zweckmäßige selbst, das, was in der Gestaltung eines Baues oder eines Gerätes genau dem Zwecke entspricht, an sich ein Element der Schönheit sei. Genau wie die Wirklichkeitsschilderung, wie oben hervorgehoben, ein Element in der Schönheitswirkung der Dichtung in der Hand eines Meisters mit den anderen, von ihm beherrschten Elementen darstellt, ist auch die Zweckmäßigkeit ein notwendiges Element in der Kunst der großen Baumeister und im Kunsthandwerk. Bereits Sokrates hob hervor, daß das Gerät, das seinen Zweck erfüllt, schöner sei, als ein unzweckmäßiger goldener Schild. Wie ich oben hervorgehoben habe, muß Anspruch 1), die Zweckmäßigkeit, erfüllt werden. Das gilt sowohl Geräten als Gebäuden. Aber neben diesem berechtigten Funktionalismus gibt es auch noch einen einseitigen, der behauptet, es gebe überhaupt keine architektonische Schönheit außer der, die der Anspruch 1) an sich schafft. Wie im vorhergehenden gezeigt, ist diese einseitige Richtung falsch. Sie verwechselt, wie so viele andere einseitige Richtungen vor ihr, das Notwendige mit dem Genügenden. Es ist vor allem notwendig, praktisch, d. h. dem Zweck des Baues entsprechend zu bauen; aber das ist nur selbstverständlich, und zwar eine Selbstverständlichkeit, die die Architektur alter Zeiten und ihre fähigen Meister stets ohne weiteres erfüllten. Aber praktisch zu bauen genügt nicht. Wenn das der Fall wäre, dann brauchten wir in der Gegenwart nur Hochbauingenieure zum Bau unserer Gebäude — ein besonderer Architektenstand wäre in diesem Falle völlig überflüssig — alle Architektenakademien oder Bauschulen könnten geschlossen werden und die technischen Hochschulen würden durchaus genügen. Architekten dieser eingleisigen Richtung graben also selbst ihr eigenes Grab, allerdings ohne sich dessen bewußt zu sein. Aber neben den Hochbauingenieuren wird man dennoch stets einen besonderen Architektenstand nötig haben. Denn die Hochbauingenieure können rein sachlich nur die Ansprüche 1) und 2) meistern. Der
461 Architekt allein kann 3) und 4) verwirklichen, also die notwendige Harmonie zwischen dem Gebäude, dem Stadtbilde und dem Naturbilde und durch Verwendung der Momente der Abwechslung der Gesetzmäßigkeit und des Überblickes jene Verhältnisse der Maße und der Farbenzusammenstellungen schaffen, die uns den Eindruck harmonischer Ruhe und Schönheit am Gebäude und damit auch Freude herbeiführen. Die einseitige, moderne Sachlichkeit übersieht, daß architektonische Schönheit genau wie die Schönheit in der Malerei und der Bildhauerkunst, in der Poesie und in der Musik eine selbständige Qualität neben der Zweckmäßigkeit ist, und daß sie in der Architektur der großen modernen Gesellschaften von Stadt und Natur aus den durch 2) und 4) angegebenen Faktoren besteht. Es gibt bei jedem Bau rein technisch gesehen mehrere Möglichkeiten, a. b. c., die Alle gleich zweckmäßig sind, aber nur Eine von ihnen, a, schenkt uns gleichzeitig die Freuden, den seelischen Reichtum, den wir Schönheit nennen. Das Schöne aber ist, wie Sokrates gesagt hat, schwierig. Es ist selbstverständlich das Leichteste für einen Architekten, von dieser Qualität völlig abzusehen und sich ausschließlich an das Zweckmäßige und praktische Bauen zu halten. Für den weniger begabten Architekten ist das sogar sehr verführerisch. Genau wie die weniger begabten Schriftsteller und Künstler zur Zeit des Realismus im 19. Jahrhundert unerwartet große Möglichkeiten, und zwar größere Möglichkeiten erhielten, als innerhalb irgend einer anderen Richtung, so bekamen die weniger talentvollen Architekten plötzlich große Chancen durch den einseitigen Funktionalismus. Denn wenn es die einzige Aufgabe der Architektur ist, ein Gebäude ausschließlich mit Rücksicht auf den praktischen Zweck und ohne irgend welchen Gedanken daran einzurichten, ob der Bau durch seine Formen, das Zusammenwirken seiner Elemente und seiner Farbenzusammenstellung uns jene Freude gebe, die wir Schönheit nennen, und die außer der Zweckdienlichkeit auf einer ganzen Reihe anderer Momente beruht, dann werden künftig selbst die talentlosesten Architekten alle Arten von Gebäuden, große und kleine, öffentliche und private aufführen können, wenn sie überall nur den Anweisungen der Bauingenieure folgen. Man würde künftig überhaupt nicht mit irgendwelcher sachlichen Begründung eine Grenze zwischen talentvollen und weniger begabten Architekten ziehen können; man würde dann einfach die Architekten durch rein technische Kräfte — Ingenieure und Maurermeister — ersetzen. Und die Gemeinschaft der Zukunft würde dann von endlosen Reihen langweiliger, schematisch gebauten Häuser und
462 Baukomplexe ohne Geist und Phantasie von allerdings sehr einfachen, aber leeren Baumassen umgeben sein, die zusammenzustellen nicht mehr Fähigkeiten erfordert, als die Bauklötze der Kinder es tun. Es sind in diesem Jahrhundert bereits viele langweilige und geistlose Gebäude dieser Art aufgeführt worden. Nur eine feste Rechtsordnung kann die Gemeinschaft von diesen Greueln der Leere und der Talentlosigkeit retten , die nur dank der Nivellierung aller Qualitäten und aller Begabungen nach demselben Schema durch die Demokratie und den Liberalismus geschaffen sind. Eine neue Rechtsordnung muß auf diesem wie auf anderem Gebiete zwischen Begabung und Mittelmäßigkeit unterscheiden. Dann wird es den hervorragenden Architekten vorbehalten, die führenden Richtlinien festzulegen, die Werte der Architektur aus ihren großen Zeiten auszunutzen und neue Formen und Verhältnisse zwischen Linien, Maßen und Farben, dieses ganze feine Zusammenspiel der Einzelheiten zu erreichen, das — von der praktischen Befriedigung völlig abgesehen — den Menschen Behagen und Freude an der Baukunst wie an jeder anderen Kunst vermittelt.
Neben den Städten stellt die Natur den zweiten Teil der großen, gemeinsamen Wohnstube der Gemeinschaft dar. Wie die Bebauung der Städte in der gegenwärtigen und künftigen Gesellschaft nicht völlig den privaten Besitzern überlassen werden darf, so ist es auch nicht angängig, die Behandlung der Natur und ihr Zusammenwirken mit der Bebauung den Besitzern oder den breiten Schichten der Bevölkerung frei in die Hand zu geben. Die Naturschönheit ist genau wie die Schönheit der Kunst eine besondere Qualität, die gehegt und gepflegt werden muß. Wenn man bisher den Schutz, die Schonung der Natur besonders hervorgehoben hat, liegt dies daran, daß man auf diesem Gebiete lange darauf bedacht sein mußte, große Schönheitswerte gegen überflüssige Zerstörung durch die oft zufällige und unschöne Entwickelung der Großstädte zu bewahren. Aber ebenso wichtig wie das Hegen und das Schonen ist die Schaffung einer neuen, schönen Natur. In der Gemeinschaft der Zukunft müssen wir nicht nur die Natur bewahren, sondern sie auch gestalten, wie ein Bildhauer den Ton zu neuen Welten der Schönheit und des seelischen Reichtums gestaltet. Aber genau wie dasjenige, was wir die Schönheit in der Kunst nennen, bestimmen und begründen müssen, wie ich es oben versucht habe, muß auch das, was wir Schönheit in der Natur nennen, näher
463 formuliert und begründet werden. Selbst die ethischen Werte, j a sogar die Wissenschaft, können, wie ich durch die vorhergehende Untersuchung zu zeigen versuchte, nicht ohne wirkliche Begründung anerkannt werden. Wir müssen zunächst prüfen, ob es möglich sei, das, was wir Naturschönheit nennen, näher zu bestimmen. Wir müssen folglich fragen: welche besonderen Erscheinungen in der Natur sind es eigentlich, die sich erfahrungsmäßig als die größten Quellen für Freude enthüllen? Soweit ich es festzustellen vermag, zeigen die Erfahrungen, daß das Gesundheitsmäßige und das Schönheitsmäßige nicht von einander zu trennen sind. Was auf uns seelisch ermunternd und erfrischend wirkt, dient auch unserer Gesundheit. 1) Für die Bevölkerung der Großtädte ist es gesundheitlich von größter Bedeutung, daß sie in die Natur hinauskommen und die reine, frische Luft im Wald und Strand, ungehindert durch planlose Bebauung und andere Schranken genießen kann. 2) Aber untrennbar mit dieser Gesundheitsquelle verbunden ist das für die Seele Befreiende und Erquickende, sich ungehindert an den frischen grünen Farben des Waldes und der Wiese, an den weißen Sand des Strandes und am Blau des Himmels oder des Meeres erfreuen zu können. Aber wir müssen noch tiefer in den Kern des Problems eindringen. Unsere Erfahrungen scheinen zu zeigen, daß es durchaus nicht alle Teile der Naturgebiete um die Städte herum sind, die uns gleich große Freuden bereiten. Es ist ein bedeutender Unterschied zwischen dem Charakter und dem Aussehen der verschiedenen Naturgebiete vorhanden. Eine Landschaft mit ganz ebenen, flachen Feldern, die nirgends durch Höhenzüge, Wälder, Seen u. ä. unterbrochen werden, wirkt — von dem rein Gesundheitsmäßigen, das die frische Luft bedeutet, abgesehen — monoton. Sie hat keine besondere Wirkung auf die Seele, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Leute, die sich z. B. auf den gewaltigen und weiten Ebenen in großen Teilen Argentiniens aufgehalten haben, die eine einzige, unendlich lange Reihe von Kornfeldern ohne die geringste Andeutung eines Höhenzuges oder eines Waldes bilden, bezeugen, wie eintönig und auf die Dauer sogar langweilig diese ungeheuren Flächen wirken. Solche gewaltigen flachen Areale sind j a für den Zweck der Anbau außerordentlich zweckdienlich. Aber genau wie in der Kunst deckt das Zweckmäßige auch in diesem Falle nicht das Schöne. Denn die Schön-
464 heit der Natur ist eine besondere Qualität, die neben der Zweckmäßigkeit selbständig besteht. Das dänische Land besitzt ja viele solcher, einheitlicher, ungebrochener Flächen von Äckern, so wie es auch in gewissen nordöstlichen Gegenden Deutschlands der Fall ist. An solchen Stellen geht rein schönheitsmäßig nichts durch eine Bebauung verloren. Hier könnte eine Bebauung nach festen Linien und abwechselnden Plänen durchgeführt, sogar belebend und erfrischend wirken. Dagegen zeigen die Erfahrungen umgekehrt, daß es viele Stellen so wohl in Dänemark als auch in anderen Ländern gibt, die an sich reiche Quellen zur Freude, zur Belebung und Erfrischung sind, und zwar auch für die weiten Schichten einer Stadtbevölkerung. Diese Stellen — die in dem dicht bevölkerten Dänemark relativ selten sind — sind der Erfahrung nach vor Allem: Wälder, Auen, Felder in Verbindung mit Wäldern, und die Abhänge der Hügel oder der Berge, ferner auch Seen, die offenen Küsten des Meeres und schließlich auch die weiten Landschaften, von denen aus man dank langgestreckter Höhenzüge einen weiten Ausblick in das Gelände hat. Man muß wahrscheinlich annehmen, daß die hier genannten Stellen wegen ihres reich abwechselnden Charakters besondere Quellen der Freude für die Bevölkerung darstellen. Wenn die Seele der Bevölkerung der großen Städte am Alltage durch die monotonen und langweiligen Eindrücke, die ihr die Steinwüsten der Straßen und der Höfe geben, jene Steinwüsten, die das besondere Kennzeichen der modernen Großstädte sind, abgestumpft geworden ist, so findet eben sie deshalb ganz besonders reiche Quellen zu ihrer Befruchtung und Erfrischung in den ungebrochenen Natureindrücken der Wälder, der Auen, der Seen und der Berge, des Meeresstrandes u. ä. Es kann nicht genügend betont werden, daß die Stellen dieser Art jedenfalls in unserem dänischen Lande allmählich selten geworden sind. Die dänischen Wälder nehmen beispielsweise einen relativ außerordentlich geringen Teil der Bodenfläche Dänemarks ein. Dasselbe gilt von den Seen, um von der Kombination von Seen und Wäldern und von Wäldern längs der Meeresküste gar nicht zu sprechen. Es ist deshalb in diesem Lande für die Gemeinschaft ganz besonders wichtig, diese seltenen Naturgebiete zu schützen, so daß sie von der verunstaltenden und ungeordneten Bebauung unberührt und damit der Bevölkerung Quellen zur Erholung bleiben können. Hier liegt auch für die Gesetzgebung eine bedeutungsvolle gesellschaftliche Aufgabe vor. W i r sehen, wie die sogenannte Befriedung dieser
465 Naturgebiete überall in den Kulturländern spontan entsteht, zunächst tastend und unsicher durch die Praxis der Servitute und später zielbewußt und systematisch durch eine Naturschutz-gesetzgebung. Dann muß aber noch ein besonderes Naturphänomen berührt werden, für das ich kein besonderes Wort finden kann als: der Ausblick. In der Schack'schen Gallerie in München hängt eine Reihe von Bildern von Moritz v. Schwind, jenem deutschen Maler, der vor rund 100 Jahren lebte. Als ich seine Bilder sah, wurde mir zum ersten Male klar und bewußt, welch seelischer Wert in dem weiten Ausblick über die Natur verborgen liegt. Viele Natureindrücke erfreuen uns durch ihre Intensität, z. B. ein Sonnenstrahl zwischen den Stämmen eines Waldes, ein Flüßchen oder ein Bach, der durch den Waldboden rieselt, oder eine Wiese längs des Waldes; sie wirken durch die verschiedenen wechselnden Stimmungen, die sie hervorrufen, erneuernd auf unsere Seele. Aber andere Natureindrücke sprechen zu anderen Seiten unserer Seele, zur Phantasie, zur Sehnsucht, zur Ahnung des bisher Unbekannten, zum Abenteuer in der Ferne. Es sind vor Allem diese Quellen der Freude in unsrer Seele, die der weite Ausblick hervorströmen läßt. In den Landschaften Moritz v. Schwinds blickt man oft weit hinaus über mächtige Täler, über Hänge mit Flüssen, Wäldern und Bergen in der Ferne, wo der Blick sich verliert, Bilder, die vor Allem dank seiner hervorragenden Darstellung der Lufterscheinungen, das Glastes, der leichten Nebel in der Abendröte gleichzeitig unsere Phantasie und unsere Stimmung erregen. Eine entsprechend hervorragende Darstellung jener Lufterscheinungen, die die Ferne ausdrücken, finden wir unter Anderem — wenn auch im Stil anderer Epochen der Malerei — in den Gemälden eines Claude Lorrain oder eines Turner. Vielleicht wird man jetzt verstehen, warum es notwendig ist, auch durch die Gesetzgebung einzuschreiten, um den freien Ausblick über Wiesen und Felder nach den Wäldern, nach den Seen und dem Meere gegen eine planlose Bebauung zu schützen, die diesen Ausblick verhindern würde. Wir haben, besonders in der Umgebung der Großstädte, Beispiele genug dafür, daß solche Häuser dicht an den Waldrand gebaut sind, so daß der Wald wie in einem Hinterhofe liegt. Dadurch wird der Ausblick über den Wald zum Nutzen einer relativ kleinen Anzahl von Menschen für die Gesamtheit der Bevölkerung verdorben; und selbst diese Leute verlieren den Ausblick. Dasselbe gilt Villenvierteln dem Waldsaum entlang. Lediglich die ersten Reihen der Villen, die dem Walde am nächsten liegen, haben eine Freu30 Erkenntnis und Wertung
466 de am Walde; aber auch ihren Besitzern ist der weite Ausblick doch genommen. Die Besitzer der hinten liegenden Villen — und das sind selbstverständlich die meisten — haben weder den Ausblick auf den Wald, noch einen weiteren Ausblick. Es gibt auf diesem Gebiete gewisse unsichtbare Werte, die man volkswirtschaftlich allerdings nicht direkt in Geldwert umsetzen kann, die aber für den Charakter und die Seele der Bevölkerung doch Bedeutung haben, Werte, die infolge des fernen, oft unmerkbaren Abhängigkeitsverhältnisses in der Natur und im Menschenleben unschätzbar sind und die eine Gemeinschaft klugerweise hegen soll. Was z. B. die jütländische Heide für den jütländischen Volkscharakter und die jütländische Dichtung bedeutet hat, kann man gewiß nicht in Mark und Pfennig ausrechnen, und dennoch dürfte sie vielleicht doch einen Wert für eine Gemeinschaft haben. Ähnliches gilt auch z. B. für die Landschaften der deutschen Ostmark oder die in der Umgebung einer Großstadt wie Berlin. Wenn ein solcher Ausblick über Felder und Wiesen nach einem Walde durch die Bebauer verschlossen wird — und warum eben diese Stellen für eine Bebauung wählen? — gehen immer wieder seelische Werte verloren, die durch Geld nicht aufgewogen werden können. Solche Ausblicke nach Wäldern in der Ferne bedeuten für die Seele des Kindes die Poesie, einen Traum, der erhebt und den Gedanken Flügel verleiht, Gedanken, die allerdings nicht unmittelbar in Tausenden von Mark gemessen werden können, die ein Volk aber nicht verlieren kann, ohne daß seine Seele darunter leidet. Aus den Gründen, die ich hier klarzulegen versucht habe, habe ich in der Gesetzgebung meines Landes Regeln für Verbote gegen Bebauung innerhalb eines gewissen Abstandes von den Wäldern und vom Meere durchgeführt (Gesetz vom 7. Maj 1937, §§ 23 und 25). Eine besondere Erscheinung in der Natur, die erfahrungsgemäß eine reiche Quelle zur Erneuerung der Seele dient, muß auch noch besprochen werden. Das sind die eigenartigen, ganz individuellen Formen der Natur, wie z. B. unsere mächtigen, oft wundersam gestalteten und verzweigten Eichen, eigentümliche Formationen des Schlehdorns und des Unterholzes, die Hünengräber, die in schöner Abwechslung die Eintönigkeit der Landschaft unterbrechen und gleichzeitig die Erinnerung an fernen Zeiten wachrufen, die entzückenden, moosbewachsenen Steindämme, die die Felder und Wälder entlang gebaut sind, und endlich auch die weiten und großen Heiden Jütlands — alles Erscheinungen, die man ja auch in Deutschland, besonders im
467 Norden findet, aber dort gibt es j a noch viele andere dieser schönen individuellen Erscheinungen der Natur und jener Vergangenheit, in der die Menschen der Natur näher standen. Diese Naturformen stellen eine wertvolle Quelle zur Bereicherung der Seele für die Bevölkerung dar, vor Allem für die Bewohner der Großstädte, die täglich durch die eintönigen Fassaden der Häuser und die endlosen, nüchternen Straßen und die dunklen Höfe verstimmt werden. Die Gefahren, die den obenerwähnten Naturwerten drohen, sind auf das gedankenlose und unbedachtsame Auftreten der Menschen zurückzuführen. Es dreht sich dabei teils um direkte Beschädigung, z. B. Verunzierung der schönen Bäume, Schlagen der sondergeprägten, einzelnen Bäume oder ganzer Baumgruppen, Zerstörung der Steindämme und der Hünengräber, und schließlich und nicht zum wenigsten um planlose Bebauung der naturschönen Gegenden. Für die Rechtsordnung der Zukunft gilt es überhaupt, die Schönheit unserer Wälder, unserer Seen, unserer Küsten, die eigenartige Landschaft, das freie Land mit Äckern, Wiesen und Auen, mit Wäldern, Strand und Bächen gegen den inneren Feind zu schützen, der ihnen überall droht (und das gilt im hohen Maße auch für das deutsche Land mit seinen außerordentlichen Natur Schönheiten). Und dieser Feind heißt hier wie dort: die verworrene, banale und geistlose Bebauung und jede weitere Zerstörung der Natur, eine Zerstörung, die vor Allem dank der Technik der Gegenwart wie eine mächtige Dampfwalze Alles, was in der Landschaft eigentümlich, sondergeprägt und schön ist, niederzutrampeln, auszulöschen und zu vernichten droht. Die Menschheit hat auf ihren ersten Stadien genug damit zu tun gehabt, sich die Erde im wirtschaftlichen Sinne Untertan zu machen, um die größtmögliche Ausbeute materieller Art zu erzielen, und die gesamte Technik, auch die Maschinentechnik, die die Erde unterworfen hat, muß notwendigerweise davon geprägt sein. Wir stehen noch mitten in der Epoche dieser technischen und wirtschaftlichen Ausbeutung; aber wir sind in dieser Beziehung so weit gekommen, daß wir sowohl wirtschaftlich als auch geistig die Voraussetzungen dafür zu erhalten anfangen, daß wir uns die Erde auch in diesem anderen Sinne Untertan machen, so daß wir die Werte, die bisher nur Gruppen angefertigter Gegenstände, nämlich diejenigen, denen die Kunst ihr Gepräge schenkte, auch unser Verhältnis zur umgebenden Welt bestimmen lassen können und unseren Boden und seine Gegenstände entweder gestalten oder in Ruhe lassen, und zwar in einer 30»
468 solchen Weise, daß er nicht nur zu unserem wirtschaftlichen Arbeitsfeld, sondern auch zu einer seelischen Schönheitswelt wird, die unser Dasein und unsere Tätigkeit umschließt. Durch eine frühere Untersuchung habe ich bereits gezeigt, daß es selbst auf dem materiellen, produktiven Gebiet notwendig gewesen ist, dem privaten Eigentumsrecht gegenüber mit einem umfassenden System zwingender Regeln einzugreifen, damit dieses Eigentumsrecht und seine Kräfte nicht Verderb großer Teile der Bevölkerung mit sich führen, wie es der Fall sein würde, wenn sie selbständig und ungehemmt handelten. Aber es wäre naiv zu glauben, daß man dasselbe Eigentumsrecht auf den großen Gebieten, die die körperliche und seelische Gesundheit der Bevölkerung betreffen, frei sich selbst überlassen könnte. Mit der stark steigenden Bevölkerung und der daraus folgenden gewaltigen Bebauung des Landes und mit der mächtigen Entwickelung der Maschinentechnik im 19. und 20. Jahrhundert ist überhaupt ein Problem entstanden, das in der stärksten Weise in den weiteren Aufbau der Gemeinschaft eingreifen wird, und von dessen richtiger Lösung die größten Werte abhängen. Man kann dieses Problem das Umweltproblem nennen. Nach meinen Erfahrungen wird es notwendig sein, durch eine vorausblickende und gründliche, bis in die kleinsten Einzelheiten genau zusammenarbeitende Gesetzgebung die festen Rahmen für die Entwickelung unserer Städte und ihr Verhältnis zur Natur zu schaffen, so daß wir einmal sagen können, daß wir nicht nur ökonomisch, materiell und technisch uns die Erde Untertan gemacht, sondern für die gesamte Bevölkerung gemacht haben. Dieses Ziel wird unsere Erde zu einer Schönheitswelt nicht nur für einzelne Individuen, sondern für die gesamte Bevölkerung gemacht haben. Dieses Ziel wird aber niemals ohne jene durchgeführte Zucht und Ordnung, die man heute vermißt, erzielt werden können. Wenn nicht die großen Werte in der kommenden Zeit sowohl wirtschaftlich als auch gesundheitlich, und seelisch für die menschliche Gesellschaft verloren gehen sollen, braucht die Gegenwart die Zucht und die Ordnung des Gesetzes innerhalb der Produktion, der Bauunternehmungen, der Stadtplanung und der Befriedung. Vor Allen aber ist die Disziplin und Ordnung unentbehrlich, die den Einzelnen zwingt seine materiellen Interessen den höheren Zielen unterzuordnen.
16.
Kapitel
DIE LETZTE SYNTHESE. WELT U N D MENSCHENLEBEN
Die Naturwissenschaften vermitteln uns die Kenntnis der äußeren, physischen Natur, und die Geisteswissenschaften die der inneren, psychischen; aber keine gibt uns einen zusammenfassenden überblick über die gesamte Natur, eine letzte Synthese. Die Erkenntnislehre, die den allgemeinen Teil aller Wissenschaften bilden sollte, zeigt uns — wie in diesem Buche beleuchtet —, daß jede Wissenschaft oder Erkenntnis eben bei diesem grundlegenden Gegensatz zwischen dem Physischen und dem Psychischen als den letzten, irreduktiblen, unerklärlichen Erscheinungen stehen bleibt. Wir verstehen nicht, was das Physische, d. h. die äußeren Körper und ihre Bewegung, ist. Wir stellen Verschiedenheiten und Gleichheiten sowie gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen diesen Körpern und ihren Bewegungen fest, aber wir wissen nicht, ob diese Erkenntnis uns auch eine Erkenntnis der Welt an sich vermittelt. Wir wissen nicht, ob sich etwas Anderes hinter den äußeren Körpern und ihren Bewegungen verberge und was dieses sei. Das Menschenleben ist die einzige Stelle im Universum, von dem wir wissen, daß Etwas hinter den materiellen Prozessen liegt und was dieses ist. Hinter dem Menschen und den materiellen Vorgängen in seinen Gehirnzellen gibt es etwas Anderes, als Bewegungen im Räume, nämlich die Erscheinungen, die wir psychische nennen: Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle und Willensentschlüsse. Diese seelische Welt ist während eines stufenweisen Entwickelungsvorganges im materiellen Universum entstanden. In dem quantitativ immensen Weltraum gibt es eine im Verhältnis zu ihm unendlich kleine Erscheinung, nämlich den Stoff, die Materie. Aus diesem ist wiederum ein neues Phänomen entstanden, das quantitativ noch geringer ist als der Stoff, nämlich das Leben. Seine Entstehung kann nicht rein mechanisch also von den Körpern und ihren Bewegungen aus erklärt werden; die verstehen wir ja übrigens auch nicht. Ferner durchläuft das Leben von seiner Entstehung an eine Reihe von Wandlungen, die wir eine Entwickelung nennen. Worin diese besteht und was sie eigent-
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lieh ist, wissen wir auch nicht. Der Einfluß der äußeren Umgebung auf die lebenden Organismen genügt nicht, um die Entwickelung zu erklären. Während dieser entstehen neue Typen scheinbar stoßweise, in Sprüngen. Dadurch entspringen in unerklärlicher Weise aus dem Inneren des Universums neue Qualitäten und neue Lebensformen und während ihres Zusammenwirkens mit der Umgebung bleiben gewisse Lebensstufen am Leben, während andere verschwinden. In dieser Weise entstehen während der Entwickelung immer höhere Typen — höhere in dem Sinne, daß sie besser als die bisherigen imstande sind, das umgebende, materielle Universum zu beherrschen. Seinen höchsten Typ erreichte bisher die gesamte organische Entwickelung in der Gestalt des Menschen, der es verstand, alle anderen Organismen, Pflanzen und Tiere in seinen Dienst zu nehmen und sogar im weiten Umfange erreicht hat, das unorganische Universum zu beherrschen und auszubeuten. Wenn ihm das Alles gelungen ist, liegt das ausschließlich daran, daß eine neue Qualität, nämlich das geistige Leben, im Menschen entwickelt wurde. Durch sie unterscheidet er sich von der vorhergehenden organischen Lebensstufe des Tieres. Der Geist ist wiederum etwas Neues im Dasein und bedeutet die Herrschaft des höheren Wesens über seine eigenen materiellen Triebe und die Schaffung ganz neuer Werte. Die Macht des Menschen über sich selbst war die Voraussetzung für seine Herrschaft über die ihn umgebende Natur. Das Tier folgt nur instinktiv und sklavisch seinen Trieben und findet deshalb niemals den Weg aus dem kleinen, engbegrenzten Kreise, der durch die reflexbestimmten Gewohnheiten geregelt wird. Der Mensch hat sich, durch diese seltsame neue Eigenschaft der Beherrschung seiner selbst, indem er sich zwang, systematische Arbeit zu leisten, und durch andere Formen dieser Beherrschung, die ganze Erde Untertan gemacht. Was dem Kulturmenschen das Gepräge gibt, sind Wissenschaft, Charakter, Gesellschaft und Kunst. Diese Kulturwerte wären nie ohne die Herrschaft des Geistes über das Tier im Menschen entstanden. Aber wir haben, wie im Vorhergehenden gezeigt worden ist, noch einen weiten Weg zurückzulegen, bevor der Geist die vollkommene Herrschaft über den Menschen und damit erst über die Umwelt erreicht hat. Noch herrscht das wilde Tier in zahlreichen Menschen. Solange die Menschen einander, teils in Kriegen und teils außerhalb dieser, totschlagen und verstümmeln und solange sie ihre Mitmenschen im Erwerbsleben totkonkurrieren oder sie in ihrem Dienste ausbeuten, solange ist der Geistesmensch nicht der herrschende Typ geworden. Wie ich im Vorhergehenden zu zeigen
471 versucht habe, muß man, um die sachlich richtigen Lösungen sowohl in der Leitung des Staates, als auch im Erwerbsleben und auf dem geistigen Gebiete zu finden, statt des Hasses gegen den Nächsten vor Allem und überall Selbstlosigkeit und Gerechtigkeit verlangen. Erst durch diese Selbstlosigkeit und diese Gerechtigkeit wird die vollkommene Harmonisierung der Kräfte, jene Brüderlichkeit in der Zusammenarbeit erzielt, die die qualitativ besten Kräfte im Interesse Aller zur vollen Anwendung bringt und damit die rechte Verteilung der Güter gewährt. Selbstlosigkeit und Gerechtigkeit unter den Menschen bedeutet die größte Herrschaft, die der Mensch über sich selbst gewinnen kann, und sie sind die Voraussetzungen dafür, daß die Menschheit ihre höchste Befriedigung erreichen kann. Die Besten innerhalb der Menschheit haben seit ihrer Kindheit im Morgengrauen der Kultur und alle späteren Zeiten hindurch von einer Gemeinschaft oder einem Reiche geträumt, das einmal als die Welt des Verstehens, der Güte und der Schönheit unter den Menschen entstehen werde. Dieser Traum wird aber niemals verwirklicht, wenn nicht der gerechte Mensch statt ein seltener Typ zu sein, wie es heute der Fall ist, zum allgemeinen Menschentyp wird. Aber wie weit die meisten Menschen auch von dieser Gemeinschaft der Zukunft entfernt sind, hat eine Elite der Menschheit doch durch eine Jahrtausende alte Entwickelung bereits in der Wissenschaft, der Gesellschaft und der Kunst eine neue Welt geschaffen. Aus dem materiellen Universum ringt sich eine Welt des Geistes empor, als deren Diener die Besten unter den Menschen sich fühlen. Dieses Reich ist nicht äußerlich; es hat auch keine Quantität; es ist das Geringste des Geringen in dem gewaltigen Universum und seinen Stoffmassen; und selbst innerhalb der Welt der lebenden Organismen, ja, selbst im Menschenleben ist die Zahl derer, die dem Reich des Geistes angehören, nur gering. Es ist eine kleine Schar, die gegen die Gewalttätigkeit und den Unverstand der Massen kämpft. Aber trotz Allem, trotz ihrer geringen Zahl im Verhältnis zu den Massen, ist es doch diese Elite gewesen, die Jahrhunderte hindurch wie eine Schar von Rittern bald mit dem Schwerte, bald mit dem Worte das Tier im Menschen bekämpft und die Menschheit immer weiter empor und unter die Macht des Geistes gezwungen hat. Die religiösen Vorstellungen sind Symbole, die diese Geistesmacht und ihr Reich in schönen Bildern auszudrücken suchen. Aber wenn diese Vorstellungen zu festen, religiösen Dogmen gemacht werden, die versuchen, das Verhältnis des geistigen Reiches zu dem materiel-
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len Universum — besonders im Kausalverhältnis zu diesem, wie die Dogmen von der Schöpfung, der Allmacht u. ä. es tun — verstandesmäßig festzustellen, sind sie genau so verfehlt, wie die Spekulationen der philosophischen Systeme über dieses Problem. Sie sind alle kleinliche und enge Vorstellungen von Fragen, die außerhalb jedes menschlichen Fassungsvermögens und eines jeden Kausalzusammenhanges jenseits von Zeit und Raum liegen. Und sie führen nur zu weiteren, kleinlich-vernünftigen Räsonnements über »Ursache« und »Verantwortung« für die Unvollkommenheiten des materiellen Universums, zu belanglosen Fragen, deren Beantwortungen außerhalb der menschlichen Fähigkeiten liegen. Diese hoffnungslosen Versuche der Erklärung sind außerdem überflüssig. Für den Geistesmenschen ist es nicht das gewaltige, materielleUniversum, das dem Leben Wert verleiht, sondern nur jenes Licht, das aus der hohen Welt des Geistes, die in unerklärlicher Weise entstanden ist und sich in diesem Universum emporgerungen hat, über das Leben des Menschen geworfen wird. Betrachten wir nur das materielle Universum, muß leider eingestanden werden, daß Leben und Schicksal der Menschen oft ein bloßes Spiel des Zufalls zu sein scheinen. Wohl herrscht Gesetzmäßigkeit im materiellen Universum, aber dieses selbst und seine gesetzmäßigen Wandlungen scheinen den Menschenschicksalen gegenüber gleichgültig. Katastrophen und Leiden stürzen über das Menschenleben mit derselben Gesetzmäßigkeit herein, wie jene Begebenheiten, die ihm Glück und Erfolg bringen. Die Menschen haben freilich, dank der Entwickelung der Wissenschaft und der Technik die meisten der Unglücksfälle der Natur zu vermeiden gelernt. Viele Leiden sind auf die Menschen selbst zurückzuführen, und zwar teils dank ihres eigenen Mangels an Beherrschung, teils infolge der schlechten Gesellschaftsorganisation und der Selbstsucht, die es gemeinsam verhindern, daß jedem Menschen sein gerechtes Los zugeteilt wird. Aber selbst wenn diese Übel einmal abgeschafft werden, bleiben doch gewisse unabwendbare Leiden im Dasein selbst übrig, die mit jedem Leben verknüpft zu sein scheinen. Buddha erkannte die Nichtigkeit der menschlichen Glücksbestrebungen, weil sie ja doch nicht imstande sind, die drei fundamentalen Leiden: Krankheit, Alter und Tod abzuschaffen. Allerdings sucht die Wissenschaft diese Übel bis zu einem gewissen Grade zu mildern. Aber wenn die moderne Medizin auch erfolgreich viele Krankheiten bekämpft, einen Teil sogar ab-
473 geschafft und das Leben verlängert hat, bleibt doch richtig, was ein nordischer Dichter dem Gedanken eines sehr langen Lebens gegenüber gesagt hat: »Allein daß der Tod da ist, macht selbst das längste Leben zu Nichts.« Es ist denn auch vor Allem der Tod, der den meisten Menschen die große Verneinung alles Sinnes im Leben zu sein scheint, weil er ihnen ihre Lieben nimmt und ihre T r ä u m e und Hoffnungen vernichtet. Lamartine sagt: »Wie in das Totengewand hüllt die eilende Zeit uns f r ü h oder spät in den Schatten des Vergessens — uns Alle, unseren Stolz, unseren Kummer, unser Glück.« Das stete Weitereilen der Zeit und der Tod widersprechen dem tiefsten, geistigen Drang des Menschen, der Sehnsucht nach Beständigkeit und nach Ewigkeit. Diese Sehnsucht äußert sich beim Menschen, sowohl dem Intellektuellen als dem Gefühlsbetonten, in der verschiedensten Weise. Piatons ewige Ideen hinter der Veränderlichkeit und Unsicherheit der Sinnenwelt, Demokrits ewige Atome hinter dem Gewimmel der äußeren Welt der Veränderung und der Mannigfaltigkeit, die einzige Substanz Spinozas sind nur verschiedene Ausdrücke derselben Ewigkeitssehnsucht. Denker, die sich mit den Problemen der Gesellschaft beschäftigen, sahen zu allen Zeiten das Ideal in einer festen und glücklichen Gesellschaft, die so wenigen Änderungen unterworfen werde, wie nur möglich. Der Geistesmensch wird stets einen dauernden und festen Zustand der Harmonie und des Friedens suchen. Augustinus hat gesagt: »Unruhig ist unser Herz, bis es in Dir Ruhe fundet.« Buddha sah im Nirwana den höchsten Z u stand, weil es den vollkommenen und ewigen Frieden bringt, den nichts stören kann, die unbedingte Befreiung von allen Stürmen der Leidenschaften und der Unruhe der Begierde. Diesen Zustand kann der Weise bereits i m Leben erreichen. Philosophie und Religion geben j a Ausdruck f ü r dieselbe Sehnsucht. Der Mensch ist ein Paradoxon, eine Eintagsfliege mit Ewigkeitssehnsucht. Dieser Drang nach Unveränderlichkeit, nach Ewigkeit, wird im materiellen Universum nicht befriedigt. Der Stoff ist in unaufhörlicher Umwandlung, in ständiger Bewegung, und der Mensch bleibt mit dem materiellen Teil seiner Natur dem Gesetz der W a n d l u n g und der Vergänglichkeit unterworfen. Das materielle Universum ist jedoch nur ein Teil der W e l t und das Innerste dieses Teiles kennen wir nicht. Die alte indische Philosophie betrachtet nur die innere Welt, die unsichtbare W e l t des Geistes, als Wirklichkeit, während die äußere W e l t bloß wie ein Schleier ist, der die wahre Wirklichkeit verhüllt. In dieser A u f f a s s u n g liegt ein Kern der Wahrheit, nämlich die: während
474 wir zutiefst gesehen, die materielle W e l t nicht kennen und nicht wissen, was sie an sich ist, kennen wir dagegen unmittelbar die innere W e l t des Geistes, die nämlich in uns selber ist, ganz abgesehen davon, daß wir auch nicht wissen, woher diese W e l t stammt und was ihr gesetzmäßiger Zusammenhang bedeutet. W i r wissen nicht, wie die geistige W e l t sich zu dem unbekannten Materiellen verhält. Ebensowenig wissen wir, was der T o d f ü r den geistigen Teil des Menschen bedeutet. W i r wissen nur, daß der Geistesmensch ein Glied eines größeren Zusammenhanges ist als desjenigen, den die physische Natur uns enthüllt. Dem materiellen Universum gegenüber, das der Mensch nicht kennt und nicht versteht, empfindet er, daß es eine W e l t darstellt, die ihm im tiefsten Innern f r e m d ist und »daß er anderswo seine Heimat hat.« Der Mensch fühlt sich nur in der W e l t zuhause, die er kennt, in jener W e l t der Schönheit, des Verstehens und der Güte, die im Menschen selbst entsteht und die aus unsichtbaren und unbekannten Gegenden kommt. W i e Goethe gesagt hat: » I m ganz gewöhnlichen Leben hängt viel von W a h l und W i l l e n ab, aber das Beste, was uns ereignet, kommt — wer weiß woher.« Für den Menschen ist es ausschließlich das unsichtbare Reich des Geistes, das dem Leben W e r t verleiht. Nur indem er freiwillig wählt, diesem Reich ganz und unbedingt angehören zu wollen, fühlt der Mensch sich über den Zufall erhaben. O f t empfindet er, gleich einem Sonnenstreifen, der aus einer anderen W e l t in sein Leben fällt, daß ein tieferer Sinn in Allem vorhanden sei, was geschieht, und zwar ebenso gewiß, wie daß die Entwickelung des Menschenlebens zu höheren Geistesformen nicht zufällig geschehe, sondern das Glied eines großen, für uns allerdings unfaßbaren Zusammenhanges bilde. Die religiösen Symbole können wechseln, aber jene Lebensstimmung, aus der sie hervorgehen, und die den Kern aller Religion ausmacht, bleibt. Das Licht, in dem der Mensch sein eigenes Leben im großen Zusammenhang des Daseins sieht, und die Empfindung, die ihn diesem Licht gegenüber erfüllt, ist die letzte Synthese. Der Geistesmensch kann sein Leben nur im Lichte dessen, was ihm das
In dem chinesichen Buch »Das Geheimnis der goldenen Blüte« (übers, von Richard Wilhelm, mit Kommentar von C. G. Jung) heißt es (S. 135): »Das Land, das nirgends ist, das ist die wahre H e i m a t . . . «
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Leben wertvoll macht, nämlich der Geistesmacht im Dasein sehen. Er fühlt, daß er für sein Leben und dessen Taten dem Geiste gegenüber eine Verantwortung trägt. Er empfindet, daß er dem Besten in seiner Natur untreu wird und die tiefste Befriedigung in seinem Leben verliert, wenn er den Geist verrät. Er erkennt, daß er hier dem Erhabenen und Ewigen begegnet, dem er dienen muß, während alles Andere, Alles in der materiellen Welt, nur Eitelkeit und Vergänglichkeit ist.
ANMERKUNGEN
Seite 26-U. Von den Werken der vorsokratischen griechischen Naturphilosophen Thaies, Heraklit, Demokrit etc. sind nur Fragmente und hin und wieder bei späteren Schriftstellern Aussprüche über ihre Lehren bewahrt. Siehe übrigens Näheres über diese Naturphilosophen hei Gomperz: »Griechische Denker, Eine Geschichte der antiken Philosophie«, Leipzig 1896-1909 (I, 36-204. 254-306), Deussen: »Allgemeine Geschichte der Philosophie«, Leipzig 1911 (33—145). Von der sonstigen deutschen Literatur darüber sei hier auf folgendes hingewiesen: bez. Heraklits »über die Natur«: Schleiermacher, Diels: »Herakleitos von Ephesos, griechisch und deutsch«, 1901, und »Fragmente der Vorsokratiker« (1903). Außerdem zahlr. Werke, u.a. von Lassalle (1858), Pf leiderer (1886), auch Nietzsches: »Die Philosophie der Griechen im tragischen Zeitalter«. Vgl. auch Wundt: »Geschichte der griechischen Ethik«, Leipzig 1911, I, 251-270, 349-89. über Sokrates gibt es eine umfassende Spezialliteratur bes. von Döring (»Die Lehre des Sokrates als soziales Reformsystem« 1895), Pfleiderer und Zeller u. A. Von der dänischen Literatur über Sokrates seien hier erwähnt: S0ren Kierkegaards berühmte Abhandlung »Om Begrebet Ironi med stadigt Hensyn til Sokrates« (deutscher Titel: »über den Begriff der Ironie«), Troels Lund: »Om Sokrates Laere og Personlighed« (1871), I. L. Heiberg: »Sokrates' Udvikling«, 1913, William Norwin »Sokrates« (1933) als Festschrift der Universität Kopenhagen erschienen. — Einer der bedeutendsten Sophisten, Gorgias, drückte seinen erkenntnistheoretischen Negativimus oder Nihilismus folgerndermaßen aus: 1. Es existiert Nichts. 2. Selbst wenn es etwas gäbe, würde es nicht vorgestellt (erkannt) werden können. 3. Selbst wenn es etwas gäbe, könnte es Anderen nicht mitgeteilt werden. Sokrates war mit diesem erkenntnismäßigen Negativismus insoweit einig, als auch er erklärte, von dem innersten Wesen der äußeren Natur nichts zu wissen und von der Naturerkenntnis nichts zu verstehen; wie in der Darstellung angeführt behauptete er aber positiv, daß eine Erkenntnis der inneren Welt, unseres Selbst, und der Wege zu deren Wohlfahrt oder zu den Tugenden möglich sei, und daß diese Erkenntnis auch Anderen mitgeteilt werden könne. Die Lehre des Sokrates lernen wir teils durch die Dialoge Piatons und teils durch die Memorabilien des Xenophon kennen. Es kann indessen nicht geleugnet werden, daß die Ethik des Sokrates von Xenophon oft als eine ziemlich flache Nützlichkeitslehre wieder-
480 gegeben wird: Man solle Freundschaft pflegen, weil ein Freund der nützlichste Besitz sei; man solle den Gesetzen gehorchen, weil ein solcher Gehorsam einem Selbst den größten Nutzen bringe usw. Xenophon ist außerdem recht weitschweifend in seiner Darstellung von Selbstverständlichkeiten. Vgl. darüber deutsch: Joel: »Der echte und der xenophontische Sokrates« (1893—1901) und Krohn: »Sokrates und Xenophon (1874).« Die demokratische Regierungsform in Athen war zur Zeit des Sokrates so weit gediehen, daß selbst die Wahl der Beamten durch Verlosung geschah, was natürlich mit sich führte, daß völlig ungeeignete und unfähige Personen oft für sehr wichtige Posten gewählt wurden. Diese Regelung war der Gegenstand ständiger Angriffe von Seiten des Sokrates. Er wünscht statt dessen eine Beamtenregierung von Sachkundigen, und zwar von den Besten. Das ethische Hauptwerk Piatons: »Der Staat (Politeia)« untersucht zunächst den für die Gesellschaft grundlegenden Begriff der Gerechtigkeit. Er kommt hier (durch die Auseinandersetzungen in den Büchern 1—4) zu der Erkenntnis, »daß Gerechtigkeit ist, wenn man das Eigene besitzt und das Seine tut« (Deutsche übers, von Rufener, S. 232), so daß jeder bei der strengen, systematischen Arbeitsteilung, die dem Nutzen der Gemeinschaft dient, diejenige Tätigkeit ausübt, die mit seiner Anlage und Fähigkeit übereinstimmt. An anderer Stelle variiert Piaton seine Auffassung folgendermaßen: »Und daß es Gerechtigkeit ist, wenn man das Seine tut und nicht mancherlei Dinge treibt« (Rufener, ibid. S. 231). — Der Gedanke, daß die Gerechtigkeit darin bestehe, Jedem das Seine zuzuteilen, ist übrigens tief in den alten griechischen Vorstellungen verwurzelt. Vgl. C. W. Westrup (dän.): Kosmos, 1937. Aber außer dieser Grundauffassung und anderer im Text angeführten Meinungen über die ethischen Hauptfragen bringt er im »Staate« eine Reihe von Anschauungen über allerlei besondere Gesellschaftsfragen zum Ausdruck. Ein Teil dieser Anschauungen sind jetzt veraltet, indem sie den besonderen Aufbau der antiken griechischen Gesellschaft voraussetzen, während Andere in die Welt der Utopien gehören. Man könnte besonders die Einteilung der Gesellschaft durch Piaton in die Herrscherklasse, die Kriegerklasse und die Klasse der Gewerbetreibenden nennen, von denen die erstgenannten, zwei Klassen seiner Ansicht nach in einer Art Kommunismus oder Gemeinschaft sowohl in bezug auf Eigentum als auch auf Familie, Kinder und Frauen leben sollten, während das Privateigentumsrecht und die allgemeinen Familienverhältnisse und deren Rechtsregeln für die größte Klasse der Bürger (die Gewerbetreibenden) gelten müßten. Die ersten Klassen, die »Wächter« des Staates, dürfen keinen Besitz haben, damit ihre Gedanken nicht durch die Begierde in Versuchung gebracht und dadurch in eine Verderbnis geführt werden, die so oft mit dem Besitz des Privatvermögens folgt. Sie müssen deshalb einen Lohn von der Gesellschaft erhalten, der zur Deckung ihres Bedarfes im Laufe des Jahres genügt. Sie dür-
481 fen auch keine Ehefrauen haben. Es soll eine gewisse Gemeinschaft mit Bezug auf Frauen herrschen, und alle Kinder der Staatswächter sollen den Müttern nach der Geburt abgenommen und gemeinsam erzogen werden. In seinen Gedanken folgte er zum Teil dem Vorbild des spartanischen Staates. In einem späteren Werke Piatons, »Die Gesetze« (Nomoi), das wahrscheinlich erst nach seiner dritten Reise nach Syracus und nach den traurigen Erfahrungen, die er dort als politischer Ratgeber der Machthaber gemacht hatte, geschrieben ist, hat er seine Ansichten in mehreren Beziehungen bedeutend geändert. Er ist sich bewußt, daß Vieles, das möglicherweise eine ideelle Ordnung sein könnte, im praktischen Leben nicht durchzuführen sei. In bezug auf mehrere Hauptpunkte hält er indessen an seiner Auffassung aus dem »Staate« fest. E r gibt z. B. die Forderung nicht auf, daß die Besten, die Kundigsten den Staat leiten sollen. Er kritisiert auch hier die Demokratie, aber ebenso stark die Tyrannei oder die absolute Monarchie, die leicht der Willkür und dem Zufall verfallen, wenn sie in den Händen eines weniger tüchtigen aber aufgeblasenen Herrschers liegen. Piaton geht in den »Gesetzen« auf eine Reihe von Einzelheiten der Rechtsordnung näher ein. Der Staat solle das Volk geistig, durch Aufklärung und Propaganda für das Schöne und Gute leiten. Es dürfe den Künstlern und Dichtern nicht erlaubt werden, Alles darzustellen, was ihnen Vergnügen bereitet. Was sie darstellen und lehren, müsse ethisch gut sein, und der Gesetzgeber habe die Aufgabe, Regeln dafür festzulegen. Und wie der Staat das geistige Leben leiten solle, müsse er auch das Erwerbsleben durch eine starke Planökonomie, eine fachliche und ständische Arbeitsteilung lenken. Piaton war übrigens nicht nur in seinen Hauptforderungen an die Leitung des Staates, sondern auch in gewissen, besonderen Gesellschaftsfragen seiner Zeit weit voraus. Er meinte z. B. daß die Frauen die Möglichkeit haben sollten, öffentliche Ämter zu bekleiden, wenn sie dazu fähig wären (Piaton gibt diese Darstellung seiner Ansichten durch das Gleichnis der drei »Wogen«: die erste betrifft die Forderung einer gleichen Erziehung, die zweite die Gemeinschaft der Frauen und Kinder, die dritte und größte betrifft dann die Herrschaft des Philosophen, sowie die Frauen und ihre Gleichheit, d. übers. S. 257-267, 228). Er trat auch für eine durchgeführte Eugenik ein — in bezug auf die Nachkommenschaft müsse der Staat eine scharfe Kontrolle zur Verbesserung der Rasse durchführen. Die Gemeinschaft der Wächter bedeutete in bezug auf Frauen keine zufällige Paarung, sondern entgegengesetzt Verbindungen, deren Eingehen von dem Staate mit der Zweck der Veredlung der Menschenrasse genau geregelt werden sollte. Die Ausbildung der Herrscher des Staates sollte nach Piaton, wie bereits angeführt, sehr sorgfältig sein (in den Büchern 3 und 4 genau dargestellt). Die künftigen Regenten sollten erst eine gründliche, wissenschaftliche Ausbildung (bis zum 35. Lebensjahre) durchmachen. Gleichzeitig sollten sie aber auch durch Dichtung, Musik und 31
Erkenntnis und Wertung
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Leibesübungen allgemein geistig und körperlich, vor Allem charakterlich entwickelt werden. Nach dem 35. Jahre sollten sie 15 Jahre hindurch an dem praktischen Leben und an öffentlichen Geschäften teilnehmen, damit sie lernten, die wissenschaftlichen Gedanken in praktische Handlung umzusetzen. Erst mit dem 50. Lebensjahre hätten sie dann eine solche allgemein geistige und praktische Reife erzielt, daß man ihnen die Leitung des Staates anvertrauen durfte. Es gibt zahlreiche deutsche Übersetzungen von Piatons Werken - Schleiermacher (1855-1862), Müller (1850-66), Apelt u. A. (1912—21) und eine Reihe von Übersetzungen einzelner Werke Piatons. Wie Sokrates beurteilte auch Piaton die Entwickelung der Demokratie in Athen und anderen griechischen Städten sehr pessimistisch. Im Gegensatz zu dem Individualismus, der unter der Demokratie herrschte und nach dem jeder seiner Lust folgte, behauptete Piaton die Notwendigkeit einer Bändigung des Einzelnen. Dem Streben des Individuums nach Genuß stellte er die Zucht, die Pflege der Seele gegenüber. Nach der Ansicht Piatons mußte die Demokratie in Griechenland mit der Tyrannei der Diktatur, jener Staatsform, die Piaton zutiefst verabscheute, enden (»Der Staat«, deutsche übers. S. 426 ff, auch 449 und 440). Der richtige Staat sollte nach seiner Ansicht die rechte Mitte zwischen dem Despotismus der Perser und der uneingeschränkten Freiheit der Athener sein. Ein guter Staat müsse auf drei Grundsäulen ruhen: Freiheit, Weisheit und Liebe. Die Perser hätten die Freiheit und die Liebe verloren, die Athener aber die weise Scheu und die liebevolle Ehrfurcht. Deshalb sanken beide Völker von ihrer Höhe herab. Die grundlegenden, ethischen Betrachtungen des Aristoteles, die oben angeführt sind (S. 21 ff), sind in der »Ethica Nikomachea« zu finden. Aristoteles hat einen eigentümlichen Einwand gegen die Menschen, die ihr Glück in solchen Gütern wie den materiellen Genüssen, Ehre und Reichtum suchen, angeführt. Sein Gedankengang ist in Kürze der folgende: Für die Menge besteht das Glück in sinnlichen Genüssen. Die Menge scheint vollen sklavenartig vorgezogen zu haben, als Tier zu leben. Aber selbst viele große Männer meinen dasselbe und haben denselben Geschmack wie ein Sardanapal. Gewisse Naturen, die verfeinerter sind, streben nach Ehre. Aristoteles aber meint, daß das wichtigste Gut etwas sein müsse, das wir in uns selbst besitzen und das man uns also nur schwierig nehmen könne. Auch nicht der Reichtum scheint ihm dieses Gut darzustellen, nach dem wir streben müssen. Geld ist ja doch nur um eines anderen Gutes willen da. Und das Leben des Geldmannes ist mühsam. Glück wählen wir stets nur um seiner selbst willen, niemals um etwas Anderes zu erreichen. Ehre, Reichtum, Genuß, Verstand und jegliche Tüchtigkeit wählen wir dagegen nicht um ihretwillen, sondern weil wir ein anderes Gut, nämlich das Glück, durch ihre Hilfe erzielen wollen, weil wir glauben, daß wir dadurch glücklich werden. Glück ist, was sich selber genug ist. Es ist das wünchenwerteste von AI-
483 lern. Hiernach folgt dann seine, im Text S. 37—38 bereits hervorgehobene Begründung, warum das Glück in einem seelischen Zusammenwirken mit der Vernunft bestehe, das über die menschlichen Triebe erhaben und den höheren Freuden gewidmet ist. Aristoteles kehrt immer wieder zu den Fragen über Tugend und Laster, Unenthaltsamkeit und Selbstbeherrschung und zur Unterscheidung zwischen den sogenannten höheren und niederen Genüssen oder Freuden zurück. Seine Lehre von der Tugend als der rechten Mitte zwischen den gegensätzlichen Extremen — und zwar einer Mitte, die in allen Verhältnissen des Lebens da sein müsse — entwickelt er an verschiedenen Stellen, oft recht weitläufig. Spätere Zeiten haben dafür den Ausdruck »die goldene Mitte« geschaffen. Die Ethik des Aristoteles ist überhaupt ein höchst unsystematisches Werk. Das eine Mal nach dem anderen kehrt er mit großen Zwischenräumen zu denselben Themen zurück, über einzelne Themen, vor Allem über die Freundschaft, ist die Darstellung etwas zu breit. Auf der anderen Seite muß hervorgehoben werden, daß Aristoteles in diesem Werk neben den tiefsinnigen Ausführungen über die ethischen Grundfragen, die im Text und hier geschildert sind, Beiträge gibt, die große Menschenkenntnis und Einsicht in das Leben verraten, so beispielsweise über Großmut, über Starrsinn, und verschiedene Bemerkungen über die Freundschaft. über den Zusammenhang zwischen der Erkenntnislehre und der Ethik des Aristoteles vgl. übrigens Deussen, II, 348 ff. und Wundt 95 ff. Aristoteles gibt mehrere Beiträge zur Rechtslehre. Er hebt hervor, daß der gute Gesetzgeber danach strebe, die Bürger durch Gewöhnung gut zu machen. Die Gesetze seien notwendig und müssen deshalb die Macht zum Zwange haben, weil die Natur der Menge sich nicht durch Ehrgefühl, sondern durch Furcht leiten lasse. Die Leidenschaft weiche nicht der Überlegung, sondern nur der Macht. Der Gesetzgeber sei deshalb genötigt, auch diejenigen zu strafen, die über das gesetzliche Gebot, das sie kennen müßten, in Unwissenheit sind, insofern das Gebot nicht schwierig sei. — Die Gerechtigkeit ist nach ihm jene Tugend, die das Glück und seifte Güter im Interesse der Gemeinschaft hervorbringen und schützen kann. Es gebe verschiedene Arten der Gerechtigkeit. Eine gehe darauf hinaus, die Ehre, das Geld und andere Güter unter den Mitgliedern der Gemeinschaft zu verteilen. Eine andere bezwecke, Sachen zwischen Mann und Mann zu entscheiden. In diesem Zusammenhang sondert er auch zwischen Privatrecht und Strafrecht. — Aristoteles unterscheidet zwischen Schädigung, die Jemandem durch Zufall angetan wird, und einer solchen, die unachtsam geschieht — wenn die Schädigung wohl zu erwarten ist, aber doch nicht aus Bosheit angetan wird — und schließlich die Schädigung, die aus Schadenfreude oder absichtlich zugefügt wird, indem also in diesem Falle aus einer bewußten und. beabsichtigten Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten heraus gehandelt wird. Schließlich sei erwähnt, daß Aristoteles zwischen positiven und 31»
484 natürlichem Recht unterscheidet. Das natürliche Recht, das für alle Völker gilt, würde das Ideale sein. Von den Schriften Epikurs und anderer Epikuräer und von denen Xenons, Chrysippos' und der anderen griechischen Stoiker sind nur Fragmente übrig, abgesehen von der Erwähnung in den Schriften späterer, besonders römischer Schriftsteller. über Piaton und Aristoteles, die Epikuräer und die Stoiker vgl. übrigens Gomperz, I. 203-533, III, 1 ff., Deussen, II. 216-384, 394_448. Wundt, I. 421-535, II, 88-299. über die Skeptiker vgl. besonders letztgenanntes Werk I, 300-311. Unter den Skeptikern seien Pgrrhon, sein Schüler Timon und Karneades hervorgehoben. Bei Aristoteles' Auffassung von der Demokratie Athens vgl. auch »Staatsverfassung der Athener«, aus den »Politien« (eine Sammlung aller, bis zur Zeit des A. bekannten Staatsverfassungen u. ä., von der nur Bruchstücke und die »Statsverf. der A.« gefunden sind), herausgeg. von Kaibel und Wilamowitz-Möllendorf, 1891, deutsche übers, von Kaibel und Kießling, Straßb. 1891). übersetz, in Deutsche sonst u . a . : »Philosophische Bibliothek« ( 1 9 1 8 - 2 3 ) und »Die Lehrschriften (des Aristoteles), herausgegeben, übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Dr. Paul Gohlke.« Spez.: »Nikomachische Ethik«, Paderborn 1956. Seite
46 f.
In einer ganzen Reihe von Wissenschaften haben die Araber die europäische Welt des Mittelalters beeinflußt. Innerhalb der Medizin erhielten die Araber einen bedeutenden Einfluß auf die europäische Heilkunde. Allerdings hielten sie sich innerhalb der Therapie in Abhängigkeit von dem griechischen Galenos, dessen Arbeiten und Theorien durch Honein ibn Ishal übersetzt und kommentiert wurden. Eine Menge von Krankheiten wurden durch sie den Europäern bekannt gemacht, wie z. B. die Pocken, die Masern, die Röteln, der Aussatz. Arabische Ärzte waren imstande das Quecksilber aufzulösen und Salben daraus zu bereiten. Sie lehrten die westlichen Ärzte Nahpta, Alkohol und Sirupe zuzubereiten. Sie bereicherten die europäische Botanik. In der Mathematik brachten sie neue Fortschritte, obgleich sie sich theoretisch auf der Grundlage der griechischen Mathematiker hielten — so verdanken wir ihnen den Gebrauch des Sinus statt der Chorden. Sie übersetzten das Buch des Eukleides (arabisch und Latein herausgeg. von den Dänen Besthorn und Heiberg, Kopenhagen, 1893—97). Auf dem Gebiete der Astronomie haben sie bedeutungsvolle Arbeiten vorgenommen (Berichtigung der Ekliptik. Sie ließen neue astronomische Tafeln ausarbeiten). In der Arithmetik führten sie die heute bei uns gebräuchlichen arabischen Zahlen ein (die allerdings von den Indern übernommen waren). Der arabische Gelehrte und Denker Averroes (Ibn Roschd) war ein eifriger Verteidiger des Aristoteles. Seine Gedanken von der Einheit der »allgemeinen Vernunft« erregte einen lange dauernden Streit innerhalb der
485 christlichen Kirche. Er modifizierte den Koran nach der Lehre des Aristoteles, den er allerdings kaum aus dem Griechischen gekannt hat — Renan sagt, seine Wiedergabe des Aristoles sei »eine lateinische Übersetzung einer hebräischen Übersetzung eines Kommentars zu einer arabischen Übersetzung einer syrischen Übersetzung des griechischen Textes des Aristoteles« (Renan: »Averroes et l'Averroisme,« Paris 1869). Auch der Arzt und Philosoph Avicenna (Ibn Sina) hat für die westliche Philosophie und Medizin eine Rolle gespielt. Seine Werke wurden schon im zwölften Jahrhundert ins Lateinische übersetzt. Eine von ihm geschriebene »Augenheilkunde« wurde 1902 ins Deutsche übertragen. Wiegler erzählt in seiner Geschichte der Weltliteratur, »daß er von der persischen Legende zu einem kabbalistischen Entdecker der Geheimnisse« und »zu einem Sucher des Steins der Weisen« erhoben wurde (S. 141). In Dänemark hat Prof. Dr. Johannes 0strup eine eingehende und verständnisvolle Schilderung der arabischen Kultur in »Folkenes Historie«, Band III, 357—551 gegeben, und zwar auf der Grundlage der arabischen Quellen. Seite 48 f f . Siehe übrigens über Pomponazzi (1462—1525) und Montaigne (1533-1592) Cassirer: Das Erkenntnisproblem, 2. Ausg. I—II 1911, III, 1920 (vgl. auch andere Werke von Ernst Cassirer »Idee und Gestalt«, 1921, »Freiheit und Form«, 1916, »Philosophie der symbolischen Formen«, 1923-29, »The Myth of the State«, 1946). - Auch Harald H0ffding: »Geschichte der neueren Philosophie, (1894—95). (In der dän. Ausgabe B. I, S. 10-14, 23-30). Althusius' Hauptwerk: »Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata«, erschien 1603. Das Hauptwerk des Hugo Grotius: »De jure belli ac pacis«, 1625. Hobbes gab seine staatsrechtlichen Werke »De cive« 1642 und »Leviathan« 1651 heraus. Diese Werke übten im damaligen Europa bei der Begründung und bisweilen sogar beim Ausbau des Absolutismus in den kontinentalen Staaten einen großen Einfluß aus. Inwieweit die Ansichten Hobbes' einen Einfluß in Dänemark ausgeübt haben, und zwar auf Griffenfeldt und durch diesen auf das dänische Königsgesetz, ist sehr umstritten, vgl. J. A. Fredericia in »Danmarks Riges Historie« B. IV, 506—8, der die Frage im bejahende Sinne beantwortet, und Knud Fabricius: »Kongeloven«, 1920, der die Frage mit einer sehr eingehenden Begründung verneint, vgl. S. 1—20. Locke veröffentlichte 1690, also zwei Jahre nach der »glorreichen Revolution« seine » T w o Treatises on Government«, in denen er seine Staats- und Rechtslehre näher begründet. Während Althusius, Grotius, Locke u. A. von ihren großen praktischen Erfahrungen heraus ihren besonderen Beitrag zum Aufbau eines Naturrechtes gaben, haben Pufendorf und Thomasius auf der Grundlage dieser Schriften systematische Darstellungen des Natur-
486 rechtes geschrieben. Pufendorf (1632—1694), der sich in der Welt sehr viel umgesehen und eine Zeit lang sowohl in den Diensten der schwedischen als auch der brandenburgischen Regierung gestanden hatte, war von Grotius und Hobbes stark beeinflußt. Im Jahre 1660 gab er das Werk über die »Elemente der juris prudentia naturalis« und 1672 das ausführlichere Werk über dasselbe Thema »De jure naturae et gentium« heraus, in dem er die Grundsätze des natürlichen Rechtes geltend machte und darstellte. Christian Thomasius (1655—1728), der Professor an verschiedenen deutschen Universitäten war, war von Grotius, Locke und Pufendorf beeinflußt. Er veröffentlichte 1705 sein naturrechtliches Hauptwerk »Fundamenta juris naturae et gentium«. Wie die meisten Naturrechtslehrer wirkte er stark agitatorisch für Reformen der Rechtsordnung und der Rechtspflege und kämpfte z. B. gegen die barbarischen Hexenprozesse und für die Religionsfreiheit — im Anschluß an Locke u. A. Mehrere Fürsten des aufgeklärten Absolutismus, vor Allem Friedrich der Große, schlössen sich warm seinen Ansichten an. Die systematische Darstellung des Naturrechtes durch Pufendorf und Thomasius erhielten großen Einfluß auf die Einführung und das Studium des Naturrechtes an den Universitäten in Europa. Als illustrierendes Beispiel seien unter Anderem die Bestrebungen für die Einführung des Studiums desselben an der Universität Kopenhagen gegen Schluß des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts genannt, Bestrebungen, die schließlich mit der Prüfungsverordnung von 1736 entscheidend siegten (vgl. Hierüber Näheres in der Abhandlung Poul Johs. J0rgensens in der Festschrift anläßlich des 200. Jahrestages der Einführung der juristischen Prüfung an der kopenhagener Universität (1936, 64—114), und die Abhandlung von Frantz Dahl, (ibid. 120 ff.)). Die ersten nordischen Darstellungen des Naturrechtes, vor Allem auch die von dem großen Schauspieldichter und Historiker Ludvig Holberg, waren recht unselbständige Wiedergaben der Werke Pufendorfs und anderer fremder Naturrechtslehrer. vgl. darüber Kaare Foss: »Ludvig Holbergs Naturret paa idehistorisk Baggrund«, 1934. Dieses Buch gibt übrigens auf seinen ersten 350 Seiten eine eingehende und anregende Schilderung der Entwickelungsgeschichte des Naturrechtes vom Altertum bis zur neueren Zeit, (über die neuere deutsche Literatur bez. Naturrecht vgl. Trendelenburg: »Naturrecht«, Lpz. 1868, Ahrens: »Naturrecht«. Wien, 1871, Dahn: Die Vernunft im Recht, Grundlagen der Rechtsphilosophie«, Berl. 1879, Ihering: »Der Kampf ums Recht«, Wien 1903 u . v . A . ) . Seite 58. Spinoza behauptet auch, daß die Menschen nicht mit der Naturübereinstimmen, wenn sie ihren Leidenschaften unterworfen sind, während sie dagegen notwendigerweise mit ihr übereinstimmen, insofern sie unter der Leitung der Vernunft leben. In diesem Falle
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handeln sie nach den Gesetzen ihrer Natur (Spinoza: Ethica, herausgeg. von Kirchmann, Berlin 1877, 196—99). Es bleibt indessen ungeklärt, was hier mit dem Begriffe »Natur« gemeint ist und was das Verhältnis zwischen den Leidenschaften und demjenigen, das Spinoza die Vernunft oder die Natur nennt, eigentlich darstellt. Seite 58 f f . Hume zeigt auch größeres historisches Verständnis in der Frage nach der Entstehung der Regierungsmacht, indem er bemerkt, daß der erste Keim einer Regierung, die Wahl eines Häuptlings, nicht durch Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern derselben Gesellschaft, sondern durch Zwistigkeiten zwischen mehreren Gemeinschaften — also zwischen mehreren Stämmen — untereinander entstanden sei, weil es im Kampfe gegen einen äußeren Feind notwendig wurde, einen Einzelnen zum Häuptling zu wählen und ihm große Machtvollkommenheiten zu übertragen. Er hebt dann auch hervor, daß die Treue zur Regierung, selbst wenn sie ursprünglich durch ein stillschweigendes oder ausdrückliches Gelöbnis, dem Häuptling zu gehorchen, entstanden wäre, doch nicht später auf diesem Gelöbnis, sondern lediglich auf dem Eigeninteresse der Menschen, eine feste Gesellschaftsmacht aufrechtzuerhalten, beruhe. Und wir erhalten die Gesellschaft aufrecht, weil sie für unsere Wohlfahrt unentbehrlich sei. Unser Interesse an Gehorsamkeit gegen die bürgerlichen Behörden sei also anderer Art als unser Interesse an der Einhaltung unseres Gelöbnisses. Selbst wenn es nichts in der Welt gäbe, das Gelöbnis heißt, würde eine Regierung für jede Kulturgemeinschaft dennoch unentbehrlich sein. Wir halten unser Versprechen, um das gegenseitige Vertrauen innerhalb der Gesellschaft zu fördern und wir errichten eine Regierungsmacht und gehorchen den von ihr eingesetzten Behörden, um die Ordnung und die Einigkeit innerhalb der Gesellschaft aufrechzuerhalten (Hume: »The philosophical works of David Hume«, Ed. by T. H. Green and T. H. Grose, 1890., Bd. II, S. 263). Verschiedene englische Autoren haben vor Hume sporadisch moralphilosophische Gedanken ausgesprochen, die mit denen Humes verwandt sind. Aber erst bei ihm begegnen wir der tiefschürfenden und systematischen Durchführung der Probleme, die nur dem umfassenden Geiste möglich ist. Shaftesbury (1671—1713) betont beispielsweise die Bedeutung der Gefühle und des Instinktes für unsere moralischen Wertungen. Er behauptet, es sei ein Instinkt, der das Individuum mit der Familie verknüpft, und daß der Mensch niemals außerhalb der Gemeinschaft hätte bestehen können, weshalb es auch unrichtig sei, einen sogenannten Naturzustand dem Gesellschaftszustand gegenüberzustellen. Sein Gedankengang wendet sich also gegen die naturrechtliche Vertragstheorie, wonach die Gesellschaft durch einen willkürlichen und bewußten Zusammenschluß selbständiger Individuen entstanden sein solle. Francis Hutcheson
488 (1694—1747) mißt ebenfalls den Gefühlen große Bedeutung f ü r unsere ethischen Wertungen bei. Vgl. Hfiffding (in der dän. Ausgabe I, 395-401). Rousseau ist mit Bezug auf seine Auffassung von dem Ursprung der Gesellschaft und der Reg'ierungsmacht in seinem Buche »Contrat social« (1762) von Locke und Hume stark beeinflußt (vgl. Rousseau, S. 263 ff., 243 ff., 304). Hutcheson betont übrigens als Ziel unserer guten Handlungen das größte Glück für die größte Anzahl von Menschen: »the greatest happiness for the greatest number«, und zwar in einem W e r k e aus dem Jahre 1725. Er ist also in dieser Beziehung Bentham voraus. Auch Beccaria betonte in seinem W e r k über Verbrechen und Strafe aus dem Jahre 1764, also vor Bentham, den Grundsatz des größten Glücks f ü r die größte Zahl als Ziel der Gesetzgebung. Dieses W e r k bekam übrigens einen mächtigen Einfluß auf die Rechtsentwickelung auf dem Gebiete des Strafrechts durch seine Vorschläge humaner Reformen der damals bestehenden, oft mittelalterlichen und barbarischen Gesetzgebung in den europäischen Ländern. Das »Essay on Government« von dem Naturforscher J. Priestley, der denselben Grundsatz aufstellt, erschien später als die Arbeiten der beiden erwähnten Autoren, nämlich 1768, und ist, wie das W e r k Benthams, von ihnen beeinflußt.
Ein Zeitgenosse dieser Philosophen, der Franzose Morelly, von dem man nur weiß, daß er Abbé gewesen war und lange in Vitry-le-Français gelebt habe, erkannte ebenfalls: »Der Mensch will stets und eigensinnig glücklich werden, aber seine Unfähigkeit läßt ihn immer erkennen, daß es eine Unmenge anderer Wesen gibt, die dasselbe wollen wie er«. Er war ein Gegner der Tyrannei, aber kein Freund der Freiheit, und er suchte andere Wege als Bentham und Hume, die dem Menschen helfen sollten, dieses Glücks teilhaftig zu werden. In seinen Büchern: »Naufrages des îles flottantes ou la Basiliade du célébré Bilpai« Amsterdam 1755, » L e prince; les délices du coeur ou traité des qualités d'un grand roi«, Amsterdam 1751, und »Code de la nature«, Amsterdam 1755, gibt er nicht nur eine sehr scharfe Kritik der damaligen Regierungsformen, aber auch teils (in der Basiliade) eine lebhaft geschriebene Schilderung der Gesellschaft, die ihm ideell scheint, teils (besonders in der Code de la Nature) eine Darstellung und Verteidigung seiner Theorien. Er betrachtet die kommunistische Gemeinschaft als den besten Weg, die Menschen glücklich zu machen, da sie dort Alle für das gemeinsame Wohl arbeiten und deshalb die Arbeit als einen Segen und eine Freude betrachten. Er steht in seinen Gedanken dem englischen Sozialisten Owen sehr nahe und ist vielleicht auch direkt von ihm beeinflußt. Seinerseits beeinflußte er den französischen Sozialismus, und ein Herausgeber der »Code de la Nature«, François Villegardelle, meint die Anhänger Babeufs sollten sich nicht Babouvistes, sondern Morellisten nennen. Seine Werke sind eher Werke eines Dichters und großen Stilisten als die eines Soziologen, und geben keine wissenschaftliche Begründung seiner Gedanken, sondern nur einen romantischen Glauben an die Güte der Menschen und der Vorsehung: »Alles ist gut im Universum« und das Ziel des Lebens: »Eine Lage zu finden, in der der Mensch so glücklich und so wohltätig werden könnte, wie es in diesem Leben möglich ist«. Diese letzten Worte enthüllen einen gewissen Zweifel.
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Seite 61 f f . Charakteristisch für Benthams Verwendung des Grundsatzes: »the greatest happiness for the greatest number« in der Frage der Vermögensverteilung ist eine Anmerkung des angeführten Werkes Seite 3, wo er in einer Antwort an den Juristen Wedderburn, den späteren Lord Chancellor Loughborough, der sich Bentham gegenüber kritisch ausgesprochen hatte, daß dieser Grundsatz gefährlich sei, bemerkt, daß dieses Prinzip für Menschen, die wie Wedderburn in seinen Ämtern als Attorney General und Chancellor in verschiedener Weise Einnahmen von 15.000 Pfund und 25.000 Pfund jährlich bezogen, unzweifelhaft gefährlich sei, denn so gewaltige Einnahmen widersprächen unbedingt jenem Grundsatz. Während die Gedanken Benthams in bezug auf bestimmte Reformen sich oft als in hohem Maße fruchtbar und praktisch erwiesen, waren seine direkten Vorschläge für große Gesetze, Kodifikationen und Verfassungen abstrakt und wenig praktisch, was teils auf seine ungenügende, gesetztechnische Einsicht und teils auf den ihm abgehenden Kontakt mit den Kämpfen des täglichen Lebens und den vielen einander tatsächlich kreuzenden Rücksichten und Umständen zurückzuführen war. Die kurze Darstellung der Lehre Benthams durch Stuart Mill ist in dessen Buch: »Utilitarism« (1863) zu finden. Ihering hat die hier hervorgehobenen Anschauungen in seinem angeführten Werk »Der Zweck im Recht« (B. I, 1877, B.II 1883) dargestellt, dessen Motto lautet: »Der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechtes«. Zur Beleuchtung des Verhältnisses zwischen Individuum und Ganzheit, d. h. Gesellschaft, verwendet Ihering an einer Stelle das Bild, daß ebenso wie eine Unzahl kleiner, dem Auge unsichtbarer Wesen, der Infusorien, imstande ist, einen Kreideberg zu schaffen, genau so bauen viele Menschen — indem sie rein egoistisch glauben, nur ihrem eignen, elenden, vergänglichen Ich zu dienen — die gewaltige menschliche Welt, die Gemeinschaft und ihre Werke auf, im Verhältnis zu denen der Einzelne nur wie ein Sandkorn ist. Das Infusorium ist der Egoismus — es kennt und will nur sich selbst kennen — und baut dennoch eine Welt auf (I, 34). Dieses Gleichnis scheint mir eine unrichtige und ungerechte Darstellung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft zu sein. Ihering vergißt, was Kant eingeschärft hat, nämlich daß jeder Mensch als Ziel und nicht nur als Mittel zur Erreichung anderer Ziele zu behandeln ist. Es gibt ja auch ein anderes kluges Wort, das sagt, der Mensch sei nicht da um des Sabbates willen, sondern der Sabbat um des Menschen willen. Man kann den Sabbath als Symbol für die Ansprüche der Gesellschaft auffassen. Die Betrachtung Iherings über das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft ist aber auch gefährlich, denn von diesem Gedankengang aus wurden die
490 großen Machtstaaten und ihre Weltkriege um der Macht willen geschaffen. Das obenerwähnte W e r k v. Iherings enthällt vertwolle Betrachtungen über die Begriffe Ursache und Zweck, Nutzen, Selbsterhaltung im Verhältnis zu den seelischen Grundgefühlen der Lust und des Schmerzes und über mehrere rechtliche Grundbegriffe. Aber in verschiedenen Beziehungen ist es vermutlich doch eine schwache Arbeit und k a n n sich keineswegs mit dem historisch-philosophischen Hauptwerke Iherings »Geist des römischen Rechts« oder mit seinen anderen Abhandlungen über besondere Themen aus dem römischen Recht messen. Das W e r k »Zweck im Recht« ist erstens ganz unverhältnismäßig breit geschrieben und enthält ferner neben wertvollen Darstellungen eine Menge allgemeiner Betrachtungen und Selbstverständlichkeiten, wie z. B. »Äquivalent ist die Verwirklichung der Idee der Gerechtigkeit auf dem Gebiete des Verkehrslebens« oder »die Konkurrenz ist die soziale Selbstregierung des Egoismus« ( S . 103 und 104). Weiter sind mehrere seiner Behauptungen veraltet, wie die hier berührte über die freie Konkurrenz, und zwar nach der gewaltigen Entwickelung der Kartelle und Trusts' im Laufe des 19. und 2Q. Jahrhunderts. Ihering gibt auch weitschweifige Darstellungen über Themen wie Rangstufen, die Heirat der Offiziere (I, 150—61), und von Anstand und Höflichkeit und der gegenseitigen Abgrenzung dieser Begriffe, von dem Anstößigen und dessen verschiedenen Unterkategorien usw. (II, 280 ff. 322-76). Unter den anderen deutschen Autoren, die die Zweck-Ethik beleuchten und ein höchstes, ethisches Ziel behaupten, dem alle anderen Zwecke unterworfen werden müssen, sind besonders Fr. Jodl: »Allgemeine Ethik« (Ausgabe 1918) und seine »Geschichte der Ethik« (2. Ausgabe 1906—1912) zu nennen. Fr. Paulsen gibt in seinem »System der Ethik« (2. Ausg. 1891) eine Kritik des Hedonismus und des Utilitarismus Mills und postuliert ein höchstes, ethisches Gut, das nicht Lust oder Lustquantum sei. Aber auch diesen Autoren fehlt eine tieferschürfende erkenntnistheoretische Untersuchung des Begriffes Wissen und der Frage, ob die Ethik ein Wissen, eine Wissenschaft sei, und ferner auch, ob Wissenschaft als solche begründet werden könne. Im Norden ist die beste Darstellung der Ethik auf utilitarischer Grundlage von Harald H0ffding in seiner »Ethik«, (1887, 4. Ausg. 1913, 5. Auflage 1926) gegeben worden. Der genaue Titel lautet: »Ethik. Eine Darstellung der ethischen Prinzipien in ihrer Anwendung in den wichtigsten Lebensverhältnissen«. Er will darin die Ethik auf die Biologie, die Psychologie und die Soziologie begründen. Grundlage der Ethik bilde nach seiner Ansicht die universelle Sympathie als Wertungsprinzip. Mit dem Erscheinen der Entwickelungstheorie im 19. J a h r h u n d e r t entstanden ja auch Tendenzen, den Standpunkt des Utilitarismus mit den neuesten biologischen Erfahrungen zu vereinen, die Darwin und Andere darzustellen und zu beleuchten versucht hatten. Eine
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Reihe von Autoren suchten danach eine sogenannte biologische Ethik zu verfechten, d. h. eine Lehre, nach der das Ethische in Wirklichkeit auch das Lebensbewahrende und Lebensfördernde sei, und daß die Entwickelung auf ihrer höchsten Stufe dazu neige, das Menschenleben in seiner Ganzheit, also nicht nur das Leben des einzelnen Individuums, sondern das der ganzen Menschheit, der Art, zu bewahren und zu fördern. Gut sei, was das Leben fördere, Böse, was das Leben schädige und es vernichte. Und gleichzeitig wurde mehr oder weniger offen behauptet, daß auch Dasjenige lebensfördend sei, das im großen Ganzen die Lust oder das Glück fördere. Solche Gedankengänge findet man u. a. bei Herbert Spencer in »The principles of Ethics« (1892), in W. H. Rolph: »Biologische Probleme, zugleich als Versuch zur Entwickelung einer rationellen Ethik« (2. Ausg. 1884), J. M. Guyan: »Esquisses d'une morale sans Obligation ni sanction« (1896). Das Verhältnis zwischen dem Lebensfördernden und dem Lustgebenden ist bei diesen Autoren jedoch nicht geklärt worden — so wenig wie das Verhältnis zwischen den Begriffen: Entwickelung und Fortschritt. Spencer benutzt ständig den Begriff »weiterentwickelt« als gleichbedeutend mit dem Begriff »höher«. Das ist jedoch, wie Moore richtig bemerkt hat (G.E.Moore: »Principia ethica«, 3. Ausg. 1929), eine unberechtigte Vermutung. Es ist durchaus nicht gegeben, daß die Entwickelung durch »the survival of the fittest« einen Sieg des Besten, des ethisch höchststehenden Typus bedeutet (Moore, S. 45 ff.). Der Utilitarismus versucht — wie andere ähnliche Richtungen — die Moral auf Erfahrungen der Lust und der Unlust, dabei auch auf der Untersuchung der Dauer des den Menschen und die Gesellschaft Nützlichsten, d. h. dessen, das die größte Summe der Lust und die kleinste Summe der Unlust mit sich führt, aufzubauen. Von diesem Ziele gebraucht man oft den Ausdruck: das höchste Gut oder der höchste Wert. Deshalb wird diese Ethik recht allgemein Wert-Ethik genannt. Es gab indessen in der Philosophie auch Richtungen, die behaupteten, die Moral könne nicht auf dem Wege der Erfahrung begründet werden. Der Grundbegriff der Moral sei weder Lust noch Glück, sondern der Begriff der Pflicht und die Pflicht und deren Inhalt seien apriorische Elemente unseres Geistes, d.h. Elemente, die jeder Erfahrung vorausgehen und über sie erhaben seien. Der bedeutendste Vertreter dieser Richtung, der Pflicht-Ethik, ist Kant. Für ihn ist das Eigentümliche des moralischen Gesetzes seine Allgemeinheit, sein Charakter als unbedingte Forderung (der kategorische Imperativ). Zu einem solchen, allgemeinen und unbedingten Gesetz gelange man indessen niemals durch die Erfahrung, denn diese sei stets begrenzt und bedingt, während die moralische Regel unbedingt sei. Nun meint Kant aber, daß die unbedingten Forderungen der Moral — genau wie unsere Erkenntnis der Welt nach der Auffassung Kants
492 teils aus dem Stoff der Erkenntnis, unseren Sinneswahrnehmungen, die ununterbrochen wechseln und die von Außen herrühren, und teils aus Formen bestehe, die konstant, universell, für alle Erkenntnis allgemeingültig (also für Raum und Zeit, Größe, Kausalzusammenhang etc.) und wie die Formen unserer Vernuft in uns selbst zu finden — also das, was wir apriorisch nennen — ebenfalls apriorisch d. h. ewige und allgemeingültige Formen, die unserer eigenen Natur entspringen und damit sowohl über die sinnliche Welt erhaben als auch unbedingt für sie gültig und sie beherrschend seien (Vgl. Kant: Ges. Schriften, herausgeg. von der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. V, 1908, S. 42 f f . ) . Die erwähnte erkenntnistheoretische Auffassung Kants von dem Stoff und den Formen unserer Vernunft — die er in seinem Hauptwerk »Kritik der reinen Vernunft«, 1781, dargestellt hat — habe ich an anderer Stelle genau untersucht (vgl. »Erkendelseslaeren og Naturvidenskabens Grundbegreber«, 1941, S. 127—64). Ich habe dort zu zeigen versucht, daß diese Auffassung Kants unhaltbar sei. Damit fällt auch die Grundlage seiner apriorischen Moralauffassung, die er vor Allem in seinem Werke »Kritik der praktischen Vernunft« (1788) dargestellt hat. übrigens ist wahrscheinlich etwas Richtiges in der Bemerkung Schopenhauers (Schopenhauer: »Die Welt als Wille und Vorstellung«, Ausg. durch Ludwig Berndl, 1912, I, S. 584), nämlich daß es infolge der Liebe Kants zur architechtonischen Symmetrie notwendig gewesen sei, der theoretischen Vernunft ein Pendant in der praktischen Vernunft zu geben. Ein anderes und sehr wesentliches Motiv für diese Zusammenstellung scheint mir jedoch eine in der Natur Kants tief verwurzelte Ehrfurcht vor den Geboten der Moral, ein starker Glaube an die Erhabenheit der moralischen Gesetze gewesen zu sein, die seinem ganzen Gefühl nach nur aus dem Absoluten, dem Apriorischen herrühren können, das diese Gesetze für immer über die Vergänglichkeit der Sinnenwelt und die Zufälligkeit der Erfahrungen emporhebe. Es ist daran nicht zu zweifeln, daß die Morallehre Kants in der »Kritik der praktischen Vernunft« rein menschlich gesehen, gegen Schluß des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts dank ihres tiefen Ernstes, der Strenge der Ansprüche, die an den Einzelnen gestellt werden, und ihres ganzen erhabenen Idealismus für den geistig wachen Teil des deutschen Volkes die größte Bedeutung gehabt hat. Aber rein wissenschaftlich beurteilt scheint die Morallehre Kants schwach fundiert zu sein. Das ist vermutlich auch der Fall, selbst wenn man von ihrer Verbindung mit seiner Erkenntnistheorie absieht. Das universale Moralgesetz Kants soll, wie die Formen unserer reinen Vernunft (Raum, Zeit, Größenbegriff etc.), rein formal und nicht auf Gefühle oder sinnliche Wahrnehmungen begründet sein. Es ist jedoch psychologisch unmöglich, daß ein rein formales Vernunftgesetz jemals das Motiv irgend welcher Handlungen sein könne. Motive unserer Handlungen können lediglich unsere Gefühle (seelische Erregungen, wie Gemütsbewegungen, Triebe u. ä.) sein. Im Allgemeinen erkennt Kant dieses ja auch an. Er meint aber,
493 daß der Gedanke eines universellen moralischen Gesetzes an sich ein Gefühl der Ehrfurcht vor diesem Gesetz in uns hervorrufe. Diese Ehrfurcht oder diese Achtung solle, seiner Ansicht nach, ein Gefühl sein, das nicht aus der Erfahrung zu erklären sei, sie sei weder Lust noch Unlust, vielmehr kalt und ohne W o h l w o l l e n den Menschen gegenüber, also ein rein abstraktes Interesse, das durch die Erhabenheit des Gesetzes in unserem Innern geweckt werde; und dieses Interesse solle imstande sein, unseren W i l l e n in Bewegung zu setzen. Ein solches Motiv ist jedoch praktisch gesehen völlig unerklärlich und es widerspricht außerdem den eigenen Anschauungen Kants, daß der Kausalsatz nämlich f ü r alle Erscheinungen — sowohl die inneren als die äußeren — unbedingte Gültigkeit habe. Denn diese Ehrfurcht darf j a nach der Meinung Kants eben nicht durch Ursachen der Erscheinungswelt erklärt werden ( H 0 f f d i n g , II, 84—84). Soweit ich sehen kann, hat Hume lange vor Kant bewiesen, daß eine Erklärung wie die Kants unmöglich sei. Hume hebt hervor: » N o action can be virtuous or morally good, unless there be in human nature some motive to produce it, distinct f r o m the sense of moral i t y « . ( I I , 253). Hume wendet sich in Wirklichkeit hier gegen den Gedankengang, den er bei seinen englischen Vorgängern auf dem gefunden Gebiete der Moralphilosophie, besonders bei Hutcheson, hat und der darauf hinausgeht, daß die moralischen Tugenden einem moralischen Sinne (moral sense) entspringen, der nicht durch die Erfahrung zu erklären, sondern von anderswo her (nämlich durch Gott) in uns gepflanzt sein müsse, und der völlig instinktiv und unwillkürlich entstehe. Dieser moralische Sinn ist unzweifelhaft derselbe, dem wir später im Laufe des Jahrhunderts in der reinen Ehrfurcht Kants dem sittlichen Gesetz gegenüber begegnen, das auch nicht durch die Erfahrung zu erklären ist. Diese gesamte unpsychologische Auffassung von dem moralischen Handeln aus einem moral sense oder einem regard to virtue (Kants Respekt dem sittlichen Gesetz gegenüber) zerschlägt Hume durch den folgenden Schluß: W i r können die Tugend, die in einer Handlung zum Ausdruck kommt, nicht achten, wenn diese Handlung nicht im voraus tugendhaft ist; keine Handlung kann tugendhaft sein, ohne einem tugendhaften Motiv zu entspringen. Folglich könne das tugendhafte Motiv und die Achtung vor der Tugend, the regard to virtue, nicht dasselbe sein ( I I , 254). Etwas ganz Anderes sei es aber, daß allmählich ein Gefühl der Befriedigung durch die Erfüllung aller moralischen oder juristischen Pflichten: jedem Nächsten zu helfen, Darlehen zurückzuzahlen, Versprechen zu erfüllen, das Eigentum eines Anderen zu achten etc. — entstehen könne, wenn die Menschheit das Vorteilhafte an einer solchen gegenseitigen und stillschweigend angenommenen W a h r nehmung der Regeln der Moral und des Rechtes erfahren habe, und diese wiederum durch die Sympathie f ü r diejenigen, die durch die Beiseiteschiebung der Moral oder des Rechtes Schaden erleiden, so wie durch die Erziehung gestärkt würden. Dann sind aber weder
494 regard to virtue noch ein solches to public interest das erste und ursprüngliche Motiv unserer moralischen und juristisch richtigen Handlungen (Hume II, 259 ff., 2 7 0 - 7 3 ) . Frägt man danach Kant, welche die universellen Moralgesetze seien, enthüllen seine ersten fundamentalen Moralgesetze die Unmöglichkeit, sie als rein formal aufzufassen. Das erste moralische Grundgesetz geht darauf hinaus, daß man stets so handeln müsse, daß die Handlung als allgemeine Regel, als Norm für alle Anderen in dem entsprechenden Falle dienen könne; und das nächste moralische Gesetz gebietet, daß man immer so handle, daß man den Menschen als Zweck und niemals nur als Mittel betrachte. Aber nach der Auffassung Kants kan dieses zweite Gesetz aus dem ersten abgeleitet werden. Das ist indessen in Wirklichkeit — wie im Text erwiesen — unmöglich, wenn man das erste Gesetz als rein formal auffassen soll, da das zweite jedenfalls einen positiven und realen Inhalt hat. Aber selbst dem ersten fundamentalen Gesetz legt Kant in der Tat, wie auch bereits dargetan, ohne sich dessen bewußt zu sein, einen bestimmten realen Inhalt bei. Der kategorische Imperativ Kants kann also nicht entscheiden, was in Einzelheiten richtig zu tun sei, ohne die Erfahrung und einen bestimmten Wert als Ideal anzurufen. (Vgl. Schopenhauer I, 596 ff., Stuart MiU II, 4 - 7 , H0ffding II, 79-85, Rashdall I, 108 ff., Moore, 128 ff., Carritt 76 ff. - über Schopenhauers Ethik siehe übrigens Näheres in einer Abhandlung von S0ren Holm, 1932, in dän. Sprache). Die moralischen Gesetze enthüllen die Fähigkeit des Menschen zur Selbstgesetzgebung, also sich Gesetze, unbedingte Regeln für das eigene Handeln zu geben. Während die theoretische Vernunft sich nach Kant damit beschäftigt, festzustellen, was ist, also mit dem Sein, geht die praktische Vernunft darauf aus, festzustellen, was sein soll, also das Sollen. Und diese Sonderung hat seither innerhalb der deutschen Philosophie eine große Rolle gespielt. Es ist übrigen eine nicht unbedeutende Mystik in der ethischen Grundauffassung Kants vorhanden, die mit einer Unklarheit seiner Erkenntnistheorie zusammenhängt. Das Ding an sich, das innerste Wesen der Dinge, liegt nach Kant außerhalb der Grenze unserer Erkenntnis — wir erkennen nur die Erscheinung der Dinge in unserer Anschauung, d. h. die Welt der Phänomene. Und die Anschauungsformen unseres Gemütes (Raum und Zeit) und die Kategorien (Größenbegriff, Ursachenbegriff u. ä.), also die apriorischen Elemente, haben nur für diese Erscheinungswelt Gültigkeit. Dasselbe müßte man konsequenterweise auch von dem moralischen Grundgesetz annehmen. Das Moralgesetz sollte also in dieser Beziehung nicht anders stehen, als das Kausalitätsgesetz. Aber dennoch nimmt Kant nichtsdestoweniger an, daß der Mensch dank des Moralgesetzes Mitglied zweier Welten sei: der Mensch bewegt sich in der Erscheinungswelt, der wandelbaren Sinneswelt, aber kraft seiner Wahl eines Moralgesetzes und des Umstandes, daß er sich diesem unterwirft, gibt der Mensch dennoch als Teil der innersten Welt der Dinge, des Din-
495 ges an sich, unbedingte Gesetze für sich selber als Glied der Erscheinungswelt. Das ist aber sowohl unklar als auch inkonsequent. Kant glaubte selbst, daß er durch seine Untersuchung der Formen und der Grenzen unserer Erkenntnis allen spekulativen, philosophischen Systemen den Riegel vorgeschoben hätte. In seiner kritischen Einstellung diesen gegenüber vergaß er nicht, was er von Locke und Hume gelernt hatte. Die Schwächen der kantischen Erkenntnistheorie, vor Allem des Begriffes an sich und der Lehre vom Stoff und den Formen der Vernunft gaben in der folgenden Zeit nicht nur Anlaß zu nüchterner Kritik, sondern eröffnete die Möglichkeit spekulativer, philosophischer Systeme, besonders derjenigen Schellings und Hegels, die im ersten Teile des 19. Jahrhunderts entstanden. Als man dann im Laufe des Jahrhunderts das Unbefriedigende und wissenschaftlich Unhaltbare dieser Systeme allmählich allgemein erkannte, kehrten die Gedanken indessen ganz natürlich zu Kant zurück. Innerhalb dieser Bewegung zu Gunsten einer Rückkehr zu Kant, die in der letzteren Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand, muß man eine Richtung hervorheben, die Neukantianismus im engeren Sinne oder kritischer Idealismus genannt werden kann, die aber auch als Marburgerschule bezeichnet wird. Die bedeutendsten Vertreter derselben, Herman Cohen und Natorp, wirkten nämlich Beide als Lehrer an der Universität Marburg. Dieser Neukantianismus ist wohl darüber klar, daß die Erkenntnistheorie Kants gewisse schwache Punkte enthalte, vor Allem die Lehre Kants vom Begriff des Dinges an sich und die unklare Auffassung von der Stellung der Wahrnehmung als Erkenntniselement. Er behauptet aber, daß die erkenntnistheoretische Grundauffassung Kants die Begrenzung unseres Erkenntnisvermögens richtig zeige, da unsere Erkenntnisformen — die Bedingungen dafür, daß wir überhaupt erkennen können — in uns selber lägen, also apriorisch seien, und daß sowohl die spekulativen Systeme, wie die Hegels und Schellings, als auch der naive materialistische Naturalismus, der im Laufe des 19. Jahrhunderts unter dem übermächtigen Einfluß der starken Entwickelung der Naturwissenschaft entstand, Beide unhaltbar seien. Unsere apriorischen Erkenntnisformen seien für alle Erfahrung allgemeingültig, da wir überhaupt nicht vermögen, ohne diese Formen Erfahrungen zu machen; dafür aber sei diese unsere Erkenntnis auf die Erscheinungswelt begrenzt und lehre uns nichts von dem Innersten der Welt; alle Vorstellungen auf diesem Gebiete seien lediglich leere Spekulation. Auch auf dem Gebiete der Ethik ist die Grundbetrachtung des Neukantianismus dieselbe wie Kants, selbst wenn man sie durch andere Wörter und Begriffe bei den verschiedenen Denkern innerhalb dieser Richtung ausgedrückt hat. Mit Kant übereinstimmend meinen diese Denker, daß genau wie die reine Vernunft für die mannigfaltigen, wechselnden und höchst verschiedenen Sinneswahrnehmungen gelte, selbst über diese Wahrnehmungen erhaben und doch für sie allgemein gültig sei (die oft erwähnten Begriffe Raum und Zeit, Kausalitätsgesetz u. ä.), so sei für die vielen wechselnden und verschiedenen Formen
496 des Begehrens eine reine, über den Inhalt dieses Begriffes erhabene, praktische Vernunft oder moralische Grundvorstellung, ein moralisches Grundgesetz, gültig, das ebenfalls für alle die dazu gehörigen Empfindungen des Begehrens allgemein gelte. Jeder Beweis der Moral durch eingehende Untersuchungen in der Erfahrung, wie ihn der Utilitarismus und ähnliche Richtungen zu geben versuchten, sei folglich überflüssig, denn die moralische Grundvorstellung oder das Grundgesetz gelte im Voraus apriorisch für alle dahin gehörenden Erfahrungen, unsere Begierden und Triebe, genau wie Raum und Zeit u. ä. für unsere Sinneswahrnehmung gültig seien. Worin diese apriorische Grundvorstellung oder Kategorie eigentlich bestehe, darüber verwenden die verschiedenen Neukantianer indessen, wie schon angedeutet, sehr verschiedene Wörter und Begriffe. Herman Cohen, der von der Lehre Kants von dem freien, selbst sich gesetzgebenden Willen ausgeht, arbeitet hier mit einem Grundbegriff, den er den »reinen Willen« nennt, und der nach seiner Lehre der reinen Vernunft auf dem Gebiete der Erkenntnis entsprechen und also die apriorische Grundvorstellung auf dem Gebiete der Moral sein solle. Aber worin dieser reine Wille eigentlich bestehe, darüber spricht Cohen sich äußerst unklar und unbestimmt aus. (Vgl. Cohen: »Logik der reinen Erkenntnis« 1914, S. 357 ff. und »Ethik des reinen Willens«, 1907, S. 177). Natorp, der ebenfalls den freien Willen als Grundvorstellung zum Ausgangspunkt nimmt, findet das Charakteristische an diesem Willen darin, daß er sich Ziele setzt. Welche Ziele ich mir setze, mache das ethische Grundproblem aus. Der Mensch sei nicht nur ein Naturmechanismus, von Naturgesetzen bestimmt. Er habe einen freien Willen, d. h. das Vermögen, sich Ziele zu setzen. Die Naturgesetze, vor Allem das Kausalitätsgesetz, führen uns zur Erkenntnis, zur Feststellung dessen, was ist (Sein), das Zweckgesetz aber lehre uns, was sein soll, also wie wir handeln sollen. Es gebe somit zwei Arten der Gesetzmäßigkeit, nämlich das Naturgesetz und das Zweckgesetz. Das Naturgesetz sei die große Tatsache der Naturwissenschaften, das Zweckgesetz das große Faktum der Geisteswissenschaften, vor Allem der Rechtswissenschaft. Aber diese beiden Gesetze seien so wesensverschieden, daß das Eine dem Anderen nicht unterstellt werden könne. Alle Naturgesetze zeigen uns mehrere Reihen von Erscheinungen, die beigeordnet seien, und zwar als Ursachen und Wirkungen und damit in der Zeit verlaufend. Im Zweckgesetz seien die einzelnen Glieder dagegen einander untergeordnet. Sie seien Mittel im Verhältnis zum Zweck. Während es die Ursache sei, die die Wirkung bestimme, seien es die Ziele oder die Zwecke, die die Mittel bestimmen. — Die Zwecke können indessen nicht empirisch bestimmt werden. Von dem, was ist, könne man niemals etwas von dem, was werden soll, ableiten — »Das Problem des Sollens« löst Natorp durch die Grundbetrachtung, daß die Einheit der Zwecke den obersten Grundsatz der Ethik bilden müsse, genau wie die Einheit »des Seienden« das höchste Ziel der Erkenntnis, das Gesetz der Gesetze sei. Im ganzen, geistigen Leben gebe es also die
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Gesetzmäßigkeit: Gesetze der Größenverhältnisse (die mathematischen Gesetze), Gesetze des Zeitverhältnisses der Begebenheiten (die Kausalitätsgesetze oder die Naturgesetze) und schließlich die Zweckgesetze. Diese Gesetze haben alle ihre Wurzeln in der Gesetzmäßigkeit im Allgemeinen und weisen alle auf sie hin. — Es müsse einen höchsten Zweck geben, dem alle anderen Zwecke entspringen und der die unbedingte Forderung an unser Handeln stelle. Diese höchste Zweckidee, die eine notwendige, allgemeingültige, apriorische Grundform alles Handelns darstelle, könne nur die Gesetzmäßigkeit selbst sein. Unser Handeln müsse Ausdruck des Allgemeingültigen sein. Der kategorische Imperativ Kants, daß unsere Handlung so sein müsse, daß der Grundsatz, den er zum Ausdruck, bringt, zum allgemeinen Gesetz gemacht werden könne, enthülle also den höchsten und absoluten Zweck der Ethik. Dieses formale Gesetz zeige in der Ethik dasselbe, dem wir in der Erkenntnislehre begegnen. Das Streben nach Gesetzen, nach Einheit, können wir auch in der Ethik zwischen Form und Stoff unterscheiden: den Stoff bilden auf dem Gebiete der Ethik die vielen, tatsächlichen Handlungen oder Willensäußerungen, die Form aber das allgemeingültige Gesetz, dem sie untergeordnet werden müssen. Es seien indessen nicht nur die Zwecke der Individuen, die eine Einheit bilden sollen — auch die Zwecke sämtlicher Individuen müssen demselben Gesetz unterstellt werden. Der Zweck der Gemeinschaft sei der für alle Individuen allgemeingültige Zweck (vgl. F. Natorp: »Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften; 1910, S. 49 ff., und »Sozialpädagogik«, 1909, S. 35 ff.). Die Betrachtung des Zweckes als eines Grundbegriffes der Ethik und die Herleitung der vielen Zwecke aus einem höchsten Ziele wurden ja bereits vor Natorp von dem Utilitarismus hervorgehoben. Und der Grundgegensatz zwischen Kausalitätsgesetz und Zweckgesetz wurde vor ihm in der deutschen Philosophie von Ihering stark und eindringlich dargestellt. Der Unterschied zwischen Natorp und diesen Vorgängern ist in dieser Beziehung, daß der Zweck des Menschenlebens für den Utilitarismus, und damit auch für Ihering, lediglich durch eingehende Untersuchungen in der Erfahrung zu finden sei, während Natorp — wie der Neukantianismus überhaupt — der Ansicht ist, daß die Frage nach den Zwecken, die wir im Menschenleben verfolgen, eben nicht auf empirischem Wege gelöst werden könne, sondern in Übereinstimmung mit einem höchsten apriorischen Begriffe, dem Zweck der Zwecke, dem absoluten und allgemeingültigen Gesetze entschieden werden müsse. Gegen diesen Zweck der Zwecke, gegen dieses höchste, formale Gesetz, kann man — wie gegen den »reinen Willen« Cohens u. ä. Begriffe — denselben Einwand wie gegen Kants kategorischen Imperativ, sein moralisches Grundgesetz, erheben. Solche Alles umfassenden Grundsätze sind in Wirklichkeit vollkommen leer, eben weil sie rein formal sein sollen und gar keine reale Qualität enthalten dürfen. Sie entbehren tatsächlich eines jeden moralischen Elementes 32 Erkenntnis und Wertung
498 und können, wie früher angedeutet, genau eben so gut dazu verwendet werden, die egoistischsten wie die selbstlosesten Lebensregeln auszudrücken. W a s Kant und seine Nachfolger, die Neukantianer, in der T a t tun, ist lediglich, daß sie den Begriffen der Allgemeingültigkeit, denen des Gesetzes und des Zweckes, einen ganz bestimmten Inhalt, eine bestimmte menschliche Qualität, die Selbstlosigkeit, beilegen, d. h. die Tätigkeit sich dem allgemeinen W o h l unterzuordnen, eine Qualität, die durchaus nicht apriorisch in der menschlichen Natur vorhanden ist, sondern entgegengesetzt erst durch die unzähligen Erfahrungen der Menschheit Jahrtausende hindurch gelernt werden konnte. Alle Menschen müssen sich des Raumes und der Zeit, des Kausalitätsgesetzes und der Gesetze der Zahlen und Größen bedienen und sich ihnen unterordnen; diese sind in der w a h r e n Bedeutung des Wortes allgemeingültig; auch die selbstischsten Individuen sind gezwungen, ihnen zu folgen, sich ihnen unterzuordnen, da sie nicht imstande sein würden, die geringste W i r k u n g z u m eigenen Vorteil und zum Schaden Anderer zu erzielen, ohne diese Grundbegriffe der V e r n u n f t anzuwenden. Die Grundbegriffe oder Gesetze Kants, Cohens und Natorps sind j a nicht von dieser allgemeingültigen Art. W i r vermissen die erste Voraussetzung, um die Grundkategorien dieser Denker mit dem Kausalitätsbegriff, mit R a u m und Zeit u. ä. vergleichen zu können, da diese Grundkategorien rein formaler Art sind und eines jeden realen Inhaltes entbehren. W i e umfassend Grundbegriffe von der Art des Kausalitätsbegriffes oder der Begriffe der Zeit und des Raumes auch sind, so vermitteln sie uns doch überall eine reale Orientierung, und zwar sowohl in unserem täglichen Leben als auch innerhalb der Wissenschaft. Der Kausalitätsbegriff und der Zeitbegriff sagen uns beispielsweise, daß eine große Zahl einander zeitlich folgender Begebenheiten aus der Mannigfaltigkeit des Daseins als Ursachen und W i r k u n g e n aufgefaßt werden müssen. Das gibt uns, genau wie der Raumbegriff, Richtlinien sowohl f ü r unser Denken als auch für unser Handeln. Das bloße Gesetz, der bloße Wille oder Z w e c k ohne irgend welchen realen Inhalt, gibt uns j a nicht die geringste Orientierung im Leben, nicht die allerkleinste Richtlinie. A u c h innerhalb der Rechts- und Staatsphilosophie haben neukantianische Gedankengänge sich selbst in der neuesten Zeit geltend gemacht. So baut der österreichische Staatsrechtslehrer Hans Kelsen auf dem Grundsatz zwischen »Sein und Sollen« auf und behauptet, daß das Sollen eine ursprüngliche Kategorie oder Grundform des Denkens sei, die sich stark von den Kategorien oder Grundformen unterscheide, die für die Naturwissenschaft gelten, aber auf ihrem Gebiete, also für die Geisteswissenschaften, besonders aber f ü r die Staats- und Rechtswissenschaft, ebenso gültig sei wie jene. A u ß e r der Gesetzmäßigkeit, die f ü r alles Sein, für die Natur gültig sei, nämlich die Gesetzmäßigkeit der Kausalität, gelte f ü r den Staat und das Recht eine von dieser grundverschiedenen Gesetzmäßigkeit, nämlich die Gesetzmäßigkeit der Norm. Jeder Staat, alles Recht, alle Moral set-
499 zen voraus, daß es Normen oder Regeln gebe, denen die Menschen folgen müssen. Fragen wir, warum wir einem bestimmten rechtlichen oder moralischen Auftreten folgen müssen, sei das nur von einer Norm oder einer Regel aus zu begründen, die dieses Auftreten zu unserer Pflicht macht, z. B. durch eine bestimmte, besondere Gesetzesregel; und fragen wir dann, warum wir dieser Gesetzesregel oder dieser Norm folgen müssen, müsse das durch eine noch umfassendere Norm begründet werden, nämlich durch die, daß wir stets den Gesetzen gehorchen müssen. Das Rechtsleben bestehe überhaupt aus einem System von Normen, von denen die eine von der anderen hergeleitet werden könne; es sei eine ganze Stufenleiter von Normen; die Anordnung werde von dem Gesetz, das Gesetz von dem Grundgesetz abgeleitet. Wir enden also schließlich in einer Grundform, durch die alle Anderen begründet werden können. Die Grundnorm selbst aber könne nicht begründet werden — so wenig wie das mit dem Kausalitätsbegriff auf dem Gebiete der Naturwissenschaft der Fall ist. (Vgl. besonders H. Kelsen: »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre«, 1923, S. 7 ff.). Mit dieser Grundnorm Kelsens als oberster Kategorie steht es indessen nicht besser, als mit dem kategorischen Imperativ Kants, dem »reinen Willen« Cohens oder dem Zweckgesetz Natorps. Keiner dieser — nach der Auffassung der genannten Denker grundlegenden — Begriffe hat Allgemeingültigkeit vor Anderen, wie die Begriffe des Raumes und der Zeit und der Kausalitätsbegriff. Auch die Grundnorm Kelsens ist nämlich, wenn sie konsequent aufgefaßt wird, rein formal und gibt keinen bestimmten rechtlichen oder moralischen Inhalt, keinerlei Richtlinien oder Direktiven an. Sie kann deshalb, genau wie der Imperativ Kants oder das Zweckgesetz Natorps der Ausdruck aller möglichen, der brutalsten Selbstbehauptungsgesetze genau so gut, wie der Entgegengesetzten sein. Und da sie jedes realen Inhaltes entbehrt, kann sie schon aus diesem Grunde mit solchen Begriffen wie denen der Kausalität, der Zeit und des Raumes u. ä., den realen Grundbegriffen unseres täglichen Lebens und unserer Wissenschaft, in keiner Weise verglichen, geschweige denn zusammengestellt werden. Seite 66 f f . Bereits H. Sidgwick stellte sich in seinem Buche: »The Methods of Ethics«, 1877, gewissen Seiten der Auffassung Benthams und Stuart Mills gegenüber kritisch. Sidgwick hebt u. a. hervor, daß das Wünschenswerte durchaus nicht mit dem identisch sei, was faktisch gewünscht oder angestrebt wird, und daß der Hedonismus und der Utilitarismus als tatsächliche, psychologische Beschreibung nicht gänzlich mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Wenn wir annehmen, daß wir so oder so handeln sollen, daß wir dieser oder jener Lust nachstreben, gehen wir über das hinaus, was tatsächlich begehrt oder gewünscht wird, und stellen damit ein Ideal, eine Norm, als 32*
500 Direktive unseres Handelns oder Benehmens auf. In bezug auf die Norm, die Direktive unseres Handelns, schließt Sidgwick sich dem Utilitarismus an, indem er behauptet, daß wir das größtmögliche Glück oder Lustgefühl für die Gesellschaft als Ganzheit nachstreben sollen. Sidgwick sah übrigens in dieser Verbindung ein, daß Mill inkonsequent war, wenn er nicht nur auf die Quantität, sondern auch auf die Qualität der Lust Wert legte; er bestreitet deshalb auch diese Unterscheidung und behauptet, daß nur die quantitative Bestimmung der Lust haltbar sei (Vgl. bez. Näheres Sidgwick, S. 379 ff.). Im 20. Jahrhundert geht die englische Philosophie indessen in ihrer Kritik des Utilitarismus bedeutend weiter. G. F. Moore gibt eine oft scharfsinnige Widerlegung der Beweise des Hedonismus und des Utilitarismus. Wenn diese beiden Richtungen behaupten, das Glück sei allein als Ziel wünschenswert, sucht Mill dies wie folgt zu beweisen: der einzige Beweis dafür, daß ein Ding sichtbar oder hörbar sei, bestehe darin, daß die Leute es tatsächlich sehen oder hören können. In derselben Weise sei der einzige Beweis dafür, daß Etwas wünschenswert oder zu wünschen sei, eben der, daß die Leute es auch tatsächlich wünschen. Jeder Mensch aber wünsche das Glück und strebe danach (Mill, II, S. 66). Dagegen wendet Moore ein, daß »wünschenswert« nicht bedeute, »imstande zu sein, gewünscht zu werden« im selben Sinne wie »sichtbar« bedeutet »imstande zu sein, gesehen zu werden«. Es involviere in Wirklichkeit: dasjenige, was gewünscht werden soll oder verdient gewünscht zu werden. Nicht Alles, was man wünscht, sei gut. Mill spricht selber von »besseren und edleren Zielen des Wunsches«. Er hat versucht, das Gute mit dem Gewünschten zu identifizieren, indem er die richtige Bedeutung des zu Wünschenden mit etwas ganz Anderem, nämlich dem Gewünschten in dessen tatsächlicher Bedeutung vermische (Moore, S. 67 ff.). Auch Moore hebt übrigens hervor, daß der psychologische Hedonismus unhaltbar sei. Wie Sidgwick bestreitet er ferner, daß Mill von seinem utilitaristischen (hedonistischen) Standpunkt aus, zwischen Quantität und Qualität des Lustgefühles unterscheiden könne. Er geht jedoch weiter und behauptet, daß die Einräumung Mills einer Qualität neben der Quantität der Lust eine Einräumung sei, daß Etwas gut oder böse sein könne, ganz davon unabhängig, ob es Lust oder Unlust errege (Moore, S. 79 ff.). Bisweilen kommt die Argumentation Moores mir ein bißchen zu formell vor, wie beispielsweise Sidgwick gegenüber. S. 83 ff., 87 ff. Aber im großen Ganzen ist die Kritik Moores wertvoll. Auch die Untersuchungen H. Rashdalls geben eindringliche und wertvolle, kritische Beiträge. Rashdall hebt hervor, daß teils Handlungen, die instinktive Ausschläge des Selbsterhaltungstriebes des Individuums oder der Rasse, aber auch teils Handlungen, die Ausschläge unserer Triebe und Leidenschaften sind, zeigen, daß die Grundbehauptung des Hedonismus und des Utilitarismus, nämlich daß alle menschlichen Handlungen Ausdrücke des Wunsches nach der größtmöglichen Lust wären, unhaltbar sei (Rashdall, I, S. 7 - 5 3 ) .
501 Rashdall beleuchtet danach das Problem des Lustquantums nach der Lehre des Utilitarismus und dessen Verteilung im Verhältnis zum höheren Rechtsbewußtsein kritisch und ausführlich (S. 98 ff.)» und gibt eine Reihe von Beispielen dafür. Rashdall behauptet übrigens, wie Moore, daß unsere Wahl höherer Genüsse zeige, daß wir seelische Zustände nach anderen Gründen bewerten, als nach dem Wunsche, ein Lustgefühl zu erzielen (I, 25—29). Er hebt auch hervor, daß der Utilitarismus — wenn er nicht nur als das Glück einzelner oder mehrerer Individuen, sondern als das größtmögliche Glück für die Gesellschaft als Ganzheit, also für alle ihre Mitglieder, durchgeführt würde — von gewissen letzten Voraussetzungen ausgehe, die nicht vernunftmäßig begründet werden können (I, 44 ff.). Während man der psychologischen Kritik des Hedonismus und des Utilitarismus seitens Moore und Rashdall an wesentlichen Punkten beistimmen kann, läßt sich aber nicht einräumen, daß der von ihnen vertretene, eigene Standpunkt auf dem Gebiete der Ethik uns irgendwie weiterführe. Für Beide gibt es einen letzten ethischen Grundbegriff — für Moore den Begriff »Gut« (good), für Rashdall den Begriff »Wert« (value). Dieser Begriff umfaßt mehr als das Lustgefühl des Einzelnen. Unter Anderem umschließt er auch dieses, aber daneben ebenfalls das allgemeine Wohl. Die moralische Pflicht, die mit dem Worte »soll« ausgedrückt wird, gehe darauf hinaus, Alles zu fördern, was als »gut« oder von »Wert« betrachtet werden könne. Aber dieser letzterer Grundbegriff des Guten oder des Wertvollen und die Pflicht ihm gegenüber kann vernunftmäßig weder begründet noch bewiesen werden. Nach Moore und Rashdall sei dies das Richtige in den intuitiven und apriorischen Schulen, aber diese irren sich darin, daß man in den Einzelheiten, in den einzelnen Fällen des Lebens ohne Erfahrungen das Gute und Wertvolle festzustellen vermöge, denn dazu werden oft sogar umfassende Erfahrungen notwendig sein {Moore, bes. 146 ff., Rashdall, I, 44 ff., 63 ff., 180-138). Moore betont, daß die Frage nach dem rechten Benehmen, also nach dem, was wir tun müssen, eine ganz neue Frage involviere, nämlich die: welche Dinge sind Ursachen zu dem, was an sich gut ist. Und diese Frage sei nur durch die empirische Untersuchung in derselben Weise, wie die Ursachen innerhalb der anderen Wissenschaften entdeckt werden, zu beantworten. {Moore, S. 146). Die Behauptung: ich bin moralisch verplichtet, diese Handlung auzuführen, ist identisch mit der Behauptung: diese Handlung wird die größtmögliche Summe des Guten im Universum hervorrufen. Unsere »Pflicht« kann nur als die Handlung definiert werden, die im Universum eine größere Menge des Guten als irgendwelches andere Alternativum verursachen werde. Es ist übrigens der Grundstandpunkt Moores, daß die intuitive Schule in der Moralphilosophie in einem Hauptpunkte Recht habe, nämlich, daß wir nur intuitiv wissen, was gut an sich sei, und daß dafür keine Gründe gegeben werden können. Diese Schule habe aber darin unrecht, daß die Regeln unseres Handelns,
502 die moralischen Gesetze dessen, was wir tun müssen, auch in derselben Bedeutung intuitiv sicher seien. Sie können es im psychologischen Sinne sein, aber sie müssen durch eine empirische Untersuchung der Ursachen und Wirkungen bewiesen werden können (Moore, S. 147 ff.). Rashdall hebt hervor, daß es mehr Güter oder Werte als das Lustgefühl (pleasure) gebe: es gebe auch ein universelles Wohl: das sei der gute Charakter oder die Tugend (virtue), d. h. die Anlage oder die Fähigkeit, nach diesem universellen Wohl zu streben — und das eben sei die Förderung der Kultur. Diese Werte sind es, die alle Gebote der Moral und des Rechtes zu fördern bezwecken. Der Begriff »Wert« ist für Rashdall der fundamentale Begriff jeder Moral und jedes Rechtes — wie er es j a auch für den dänischen Philosophen H0ffding war. Dieser Begriff enthalte die Vorstellung des »müssen« oder »sollen«. Das moralische Urteil sei ein Werturteil: dies ist gut, dies ist recht. Unser moralisches Urteil enthalte einen letzten Gedanken, der nicht zu analysieren sei: das »Sollen«, die »Pflicht«. Insoweit habe Kant recht gehabt. Nämlich darin, daß die Erfüllung der Pflicht das höchste Gut des Handelnden sei. Aber er irrte sich, wenn er lehrte, daß der bloße Begriff des kategorischen Imperativs und seine abstrakten Gebote, ohne die Erfahrung zu fragen, entscheiden können, was im einzelnen Falle recht sei oder nicht (Rashdall, 91, 100, 102 ff, 137). Deshalb ist es an sich nicht inkonsequent, wenn Rashdall an einer Stelle ausspricht, daß »keine Erfahrungen von dem, was ist, uns ein »sollen« geben, uns also beweisen könten, daß eine Handlung recht sei« (I, 109), und an wiederum anderer Stelle spricht er von dem »Soll« als von einer Realität (I, 138). Soweit ich zu sehen vermag, führen Standpunkte, die — wie die persönlichen ethischen Anschauungen Moores und Rashdalls — mit einer gewissen Vermittlung zwischen der englischen, empirischen Schule (der Wertethik) und der apriorischen, vor Allem der kantischen Schule (der Pflichtethik) abschließen, zu einer bedeutenden Unklarheit. Wenn der Grundbegriff dieser Autoren als ein höchstes, undefinierbares Gut oder ein ebensolcher Wert aufgefaßt wird, der nicht durch die Erfahrung bewiesen oder begründet werden kann, sehe ich nicht ein, wie dieses abstrakte summum bonum es vermeiden könne, eben so leer zu werden, wie der kategorische Imperativ Kants, und wie dieser Grundbegriff des höchsten Gutes oder Wertes ohne bestimmten Inhalt überhaupt in der Erfahrung angewandt, geschweige denn für das Benehmen des Menschen wegweisend sein
Wenn Moore behauptet, wir müssen nicht nur Lust empfinden (was selbst tiefstehende Tiere vermögen), sondern uns auch dieser Lust bewußt sein (Moore S. 87 ff.), scheint mir dies kein Argument gegen den Hedonismus und damit gegen den Utilitarismus zu sein. Das bedeutet ja nur, daß das Lustgefühl bei dem bewußten Wesen umso größer wird.
503 könne. Auf der anderen Seite m u ß doch hervorgehoben werden, daß es nicht einzusehen sei, w a r u m der umfassendste Begriff des Guten oder des Wertvollen letzten Endes nicht ebenfalls durch dieselben Erfahrungen in bezug auf Ursache und W i r k u n g , nur folglich weit umfassendere Erfahrungen und Generalisierungen unzähliger Einzelerfahrungen zu suchen sei, wenn diese Autoren selbst behaupten, man könne in den Einzelheiten, in den einzelnen Fällen des Lebens, nicht erkennen, was gut oder was wertvoll sei, ohne in der Erfahrung nach Ursachen und Wirkungen, d. h. danach zu suchen, welche Ursachen gute W i r k u n g e n geben. W a s etwas unklar hinter der oben erwähnten A u f f a s s u n g eines höchsten ethischen Grundbegriffes durch Moore und Rashdall verborgen liegt — eines Grundbegriffes, der auf der einen Seite nicht bewiesen und auf der anderen Seite nur in den Einzelfällen des Lebens durch die Erfahrung von Ursache und W i r k u n g angewandt werden könne - ist, so weit ich sehen kann, eine gewisse Empfindung davon, daß Erfahrungen von Ursache und W i r k u n g zum ethischen Gebrauche überhaupt nicht verwendbar seien, ohne daß man dieser E r f a h r u n g ein Element hinzufügt, das durch keine E r f a h rung dieser Art bewiesen oder begründet werden könne. Aus diesem ganzen Gedankengang heraus scheint es mir indessen unmöglich, ein anderes Resultat zu erlangen, als daß man den Begriff der »Erfahrung von Ursachen und Wirkungen« in einer ganz anderen Bedeutung, als innerhalb der Naturwissenschaft auffassen müsse. Die naturwissenschaftliche Erfahrung in bezug auf Ursache und W i r k u n g stellt nur fest, daß diese oder jene Ursache tatsächlich diese oder jene W i r k u n g habe, sagt aber nichts darüber aus, daß wir eine bestimmte Handlung durchführen sollen, weil sie diese oder jene W i r kungen für solche Erscheinungen wie das universelle Gut oder den universellen W e r t als Ursache mit sich führen werde, Erscheinungen, von denen die naturwissenschaftliche Kausalitätserkenntnis nichts weiß und die von dieser Kausalitätserkenntnis aus überhaupt nicht bewiesen oder begründet werden können. In diesem Falle aber muß man — meiner Ansicht nach — folgerichtig zu dem Erkenntnisergebnis kommen, daß nicht nur das höchste, ethische Gut oder der höchste, ethische Wert einer jeden Begründung, eines jeden Beweises in der Erfahrung von Ursache und Wirkung entbehre, sondern auch, daß die nähere Anwendung dieses höchsten Wertes in den einzelnen Fällen des Lebens ebenfalls eine jede Begründung oder jeden Beweis innerhalb derselben naturwissenschaftlichen Erfahrung in bezug auf Ursache und Wirkung vermisse. Gleichgültig ob wir dem obersten ethischen Gedanken: du sollst versuchen das universelle W o h l zu realisieren, oder aber der Anwendung des Gedankens im Einzelfall des Lebens gegenüberstehen: du darfst deinem Nächsten A keinen Schaden zufügen, oder du sollst deinem Nächsten B helfen u. ä., m u ß man konsequent erkennen, daß die ethischen Gesetze in allen diesen Fällen von der naturwissenschaftlichen Erfahrung in bezug auf Ursache und W i r k u n g aus betrachtet nur Postulate sind.
504 Die Unterscheidung, die Moore und Rashdall zwischen den beiden Gruppen der Anwendungen machen wollen, ist unhaltbar; und ich kann deshalb zu keiner anderen Schlußfolgerung kommen als der, daß der ethische Standpunkt, den diese Autoren durch diese Unterscheidung, durch diese Behauptung des höchsten, ethischen Guten und seiner Realisierung in den Ursachenverkettungen des Lebens bei konsequenter Durchführung ihrer Gedanken entweder in den reinen Negativismus den ethischen Werten und der Ethik überhaupt gegenüber, oder aber in einen unbeweisbaren, subjektiven Glauben an diese Werte enden müsse. Negativismus und Glaube sind ja auch die beiden Gegenpole, nach denen die vielen Richtungen und Bewegungen der Gegenwart sowohl auf philosophischen als auch auf sozialem und politischen Gebiete streben. Es gibt also offenbar im ethischen Denken ein der naturwissenschaftlichen Kausalitätserkenntnis fremdes Element, das man bisher vergeblich zu beweisen versucht hat. Es ist schwierig, klar auszudrücken woraus dieses Element besteht. Man drückt es, wie oben erwähnt, oft durch das Verbum »sollen« in grundsätzlichem Gegensatz zum Verbum der Naturwissenschaft aus, das lediglich feststellt, daß etwas »ist«. Aber oft wird, vor Allem von den Anhängern des Utilitarismus, in vielen Fällen auch von denen der apriorischen Richtungen, ein anderes Wort verwendet, das sogar als Versuch einer Art Erklärung der Regeln der Moral und des Rechtes angewendet wird. Dieses Wort heißt »Zweck«. Auch im Text ist z. B. die energische Verwendung durch Ihering und die bei ihm und Anderen oft als eine Erklärung gebrauchte Unterscheidung zwischen Kausalitätsgesetz und Zweckgesetz erwähnt worden (vgl. auch oben S. 64). Auch wiederholt sich bei den Autoren oft der Ausdruck, daß nicht nur das Menschenleben, sondern auch das organische Leben überhaupt nicht nur von dem Kausalgesetz, sondern auch von dem Zweckgesetz beherrscht werde. Diese sogenannte teleologische Erklärung (vom griechischen Worte telos, d. h. Zweck, Absicht, Ziel) wurde ja, wie bereits gezeigt, schon von Sokrates und nach ihm in der späteren griechischen Ethik reichlich verwendet. In der neueren Zeit wurde diese Erklärung indessen stark umstritten. Der Begriff Zweck oder Absicht wird von der neueren Biologie oder Psychologie stark angezweifelt. Eine Richtung innerhalb der Biologie der neuesten Zeit lehnt die wissenschaftliche Berechtigung des Zweckes ohne weiteres ab. Durch zahlreiche Versuche, besonders mit Tieren, hat man ein großes Material zur Beleuchtung der äußeren Bewegungen oder des äußeren Verhaltens der Tiere und anderer Organismen gesammelt. Gleichzeitig untersucht man die physiologischen Processe, die sich in den Bewegungen und dem Verhalten der Tiere Ausdruck geben. Beispielsweise untersucht man den physiologischen Zustand (im Magen oder Darm), der den Hunger des Tieres bezeichnet, und folgt dann den äußeren Bewegungen, die vom Tiere (um sich Futter zu schaffen) vorgenommen werden. Da die gesamte Untersuchung ausschließlich die Bewegungen des Tieres und seiner
505 Organe im Räume (die physiologischen Bewegungen innerhalb des Körpers und dessen daraus folgenden Bewegungen nach A u ß e n hin) umfaßt, also das, was man im weitesten Sinne das äußere Verhalten des Organismus nennen könnte, wird das Studium und die Lehre darüber nach dem englischen W o r t f ü r »Benehmen«, nämlich behaviour, oft Behaviourismus genannt. Innerhalb der Physiologie sind in der letzteren Zeit ferner umfassende und eingehende Untersuchungen der sogenannten Reflexbewegungen, d. h. der Bewegungen, die das Tier, also auch der Mensch, der lebende Organismus überhaupt, unwillkürlich als Folge eines äußeren Reizes ausführt, vorgenommen werden. Nun steht es aber fest, daß viele Handlungen und Bewegungen der Menschen und der Tiere ganz unbewußte Reflexe äußerer Bewegungen sind, und daß diese Reflexbewegungen in hohem Maße gewohnheitsmäßig ausgeführt werden. Der physiologische Zustand des Hungers löst beispielsweise unwillkürlich und unbewußt eine nach der Nahrung greifende oder sich ihr nähernde Bewegung aus. A u c h außerhalb der Triebe entstehen durch eine rein gewohnheitsmäßige Wiederholung vielerlei unbewußte Reflexbewegungen. W e n n beispielsweise ein Hund oft von seinem Herrn in den W a g e n mitgenommen worden ist, wenn er ausfährt, wird der Hund unwillkürlich jedes Mal, wenn die W a g e n t ü r geöffnet wird, eine Sprungbewegung unternehmen, u m in den W a g e n hieinzuspringen. Durch Experimente hat man ferner festgestellt, daß man gewohnheitsmäßig die A n k n ü p f u n g einer Reflexbewegung an ein Objekt auf ein anderes übertragen kann, indem nicht mehr der normale, äußere Eindruck, z. B. der Anblick der Nahrung, sondern ein anderer, angelernter Eindruck den Reflex auslöst (die sogenannten bedingten Reflexe). W e n n man beispielsweise einem Hunde mehrmals beim Füttern ein Lichtsignal zeigt und ihm später öfters das Futter ohne Lichtsignal zeigt und ihm in diesem Falle das Futter nicht gibt, wird ein Reflex, der sonst natürlich auf den Anblick des Futters folgt (z. B. eine Speichelabsonderung), schließlich auf das Lichtsignal folgen, selbst wenn das Tier das Futter überhaupt nicht sieht. Umgekehrt wird der erwähnte Reflex aber nicht eintreten, wenn das Tier das Futter sieht, auch wenn dieses von keinem Lichtsignal begleitet wird. Indem der Behaviourismus die Triebe der Tiere und Menschen und der daraus folgenden Handlungen als äußeren Bewegungen im Räume (sei es innerhalb oder außerhalb des Organismus) als Ursachen und W i r k u n g e n innerhalb des Raumes zu beschreiben und zu erklären versucht, und indem die moderne Reflexlehre dazu neigt, Alles, w a s im Nervensystem geschieht, physiologisch als mehr oder weniger komplizierte Reflexbewegungen zu erklären, ist es verständlich, daß für diese Richtungen des Denkens f ü r solche Begriffe wie Zweck, Handeln oder Streben nach freigewählten Zielen, womit die Ethik — und die Religion — aller Zeiten stets gearbeitet hat, kein Platz übrig bleibt; denn in der äußeren, wahrnehmbaren Reihe von physiologischen und physischen Ursachen und W i r k u n g e n wird man nirgends solche Erscheinungen wie Zweck, Handeln oder Streben
506 nach einem Ziele feststellen können; man wird nur gewisse physiologische Prozesse im Körper des betreffenden Wesens (z. B. den physiologischen Hungerprozess) — automatisch oder reflexmäßig — bestimmte, andere, physiologische Bewegungen, Körperbewegungen und damit deren äußere Wirkungen auf die Umwelt auslösen sehen. Von diesen Denkrichtungen aus wird man konsequent geneigt sein, solche Begriffe wie Zweck und Handeln nach einem Zweck als unverständliche mystische Begriffe zu betrachten, die von der naturwissenschaftlichen Methode mit ihrer Erklärung durch bestimmte, äußere, wahrnehmbare Ursachen aus gesehen unwissenschaftlich sind. Es wird ferner von gewissen Behaviouristen selbst in Fällen, in denen ein Organismus anscheinend in Übereinstimmung mit einem »Zweck« — infolge der genannten »mystischen« Auffassung — handelt oder »wählt«, behauptet, daß es sich bei genauer Beobachtung zeige, gar nicht nötig zu sein zu solchen Erklärungsversuchen seine Zuflucht zu nehmen. Ein oft erwähntes Experiment besteht beispielsweise darin, daß man das Tier — ein Kätzchen z. B. — in einen Käfig mit einer Tür einschließt und das Futter außerhalb des Käfigs anbringt. Wenn das Tier hungrig ist, wird es zuerst viele vollkommen planlose Hinund-her-bewegungen machen, um das Futter zu erreichen, und es wird damit fortsetzen, bis es durch einen Zufall die einzig richtige Bewegung (nämlich die Tür aufzustoßen) macht, die es an das Futter heranbringt. Wenn man den Versuch immer wieder wiederholt, werden die planlosen und erfolglosen Bewegungen des Tieres immer weniger werden und schließlich wird es nur die einzige, richtige Bewegung ausführen, die zum richtigen Ergebnis führt. Während einzelne Autoren innerhalb des Behaviourismus sich doch so ausdrücken werden, daß sie sagen, das Tier werde zuletzt unter den vielen Bewegungen diejenige ausführen, die zur Befriedigung des Triebes, in diesem Falle des Hungers, oder wenigstens zu angenehmen Folgen führe, werden die konsequentesten Anhänger dieser Richtung, die sich ausschließlich an die äußeren Bewegungen und deren Kausalzusammenhang halten, alle Ausdrücke, die das Benehmen des Tieres von inneren seelischen Phänomenen aus als »Befriedigung« oder »Lust« zu erklären versuchen, nur als wissenschaftliche Mystik oder Spekulation betrachten. So vermeidet Watson beispielsweise völlig Ausdrücke dieser Art als Erklärungen und hält sich ausschließlich an die physischen oder physiologischen Prozesse — hier also diejenigen Bewegungen im Magen oder Darm, die den Hunger bezeichnen, und deren Wirkungen oder Ausschläge in Organbewegungen, die den Organismus an das Futter heranbringen. Nach Watson ist es keine objektive Psychologie, wenn man von der Befriedigung des Tieres spricht. Wir können überhaupt nicht feststellen, daß das Tier eine »Befriedigung« fühlt. Was wir beobachten können, ist ausschließlich eine Assoziation zwischen körperlichen Vorgängen. Sowohl bei Tieren als auch bei Menschen reagieren Drüsen und Muskeln in diesen Assoziationen — also in körperlichen Prozessen, die zeitmäßig unmittelbar nacheinander und in äußerer Berührung mit
507 einander stattfinden. Watson will das Benehmen und die Gewohnheiten der Tiere und der Menschen überhaupt als Reflexe, erworbene Reaktionen oder bedingte Reflexe erklären (vgl. J. B. Watson: Behaviourism S. 166 ff.). Andere Physiologen erklären indessen, daß das Erfahrungsmaterial Watsons und anderer Autoren derselben Richtung — darunter auch ihre Versuchsfälle — zu begrenzt sei, als daß man generalisierende Schlüsse ziehen dürfe. Ihre Versuche betreffen u. a. gar nicht die höchstentwickelten Tiere. Beispielsweise hat W. Köhler, der mit den höchstentwickelten Tieren, gewissen Affenarten, besonders experimentiert hat, ein Material (in einer Schrift: »Mentality of Apes«) von Erfahrungen und Versuchen vorgelegt, das mit den von Watson und Anderen mit Katzen, Hunden und ähnlichen unternommenen Versuchen nicht übereinstimmt. Die Versuche Köhlers mit hochentwickelten Affen zeigen nämlich, daß diese Tiere in verwandten Versuchsfällen den Gegenstand — das Futter — nicht nach einer Reihe planloser Handlungen und einer letzten durch Zufall vorgenommenen, die zum Futter führt, erreichen, sondern daß bereits nach wenigen zufälligen Handlungen eine Pause entstehe, wonach die einzige richtige Handlung, die an das Futter heranreicht, vorgenommen werde, und daß diese Pause nach dem ganzen Benehmen des Affen während des Versuches überhaupt nur natürlich als ein gewisses Nachdenken, ein gewisses Wählen und Wägen von Mitteln zur Erreichung des Futters als eine nach einer gewissen Einsicht vorgenommene Wahl aufgefaßt werden könne. Unter den vielen Versuchen Köhlers mag hier erwähnt werden: Köhler brachte die genannten Affen zu einer Stelle hin, wo sie einige Früchte die hoch über ihnen aufgehängt waren, sehen, aber nicht erreichen konnten. In die Nähe stellte er einige Kisten, über den ganzen Platz verteilt auf. Nach einigen planlosen Handlungen, die die Tiere nicht an die Früchte heranbrachten, trat die obenerwähnte Pause ein. Dann aber begannen die Affen die Kisten auf einander zu stellen, bis sie die Früchte erreichten. Die Erklärung, daß die Lösung durch einen reinen Zufall entstanden sei, ist unannehmbar. Zusammengefaßt scheint die Erklärung der gesamten Versuche: Reflexe und bedingte Reflexe, die zufälligen Assoziationen, nur einer gewissen Gruppe der Fälle des bisher herangeschafften Erfahrungsmaterials, nämlich den Experimenten mit Hunden, Katzen u. ä. zu entsprechen, während sie bei einer anderen Gruppe von Fällen, nämlich bei den obengenannten Versuchen mit hochentwickelten Affenarten, nicht genügen. Der einseitige Behaviourismus, der die psychologische Selbstbeobachtung als Erkenntnismittel verwirft, ist in der letzten Zeit von den bedeutenderen Psychologen und Philosophen verworfen worden, vgl. u. A. B. Russell: »An Outline of Philosophy«, 1927, 32-45, Mc. Dougall: »Body and Mind« 1928, I S. 224 ff., 258 ff., 281 ff., Wolf gang Köhler: »Psychologische Probleme, 1933, 5—42. Russell sagt treffend, daß der Behaviourismus Watsons zusammenbreche, weil die Daten, mit denen wir beginnen müssen, um die körperlichen Bewegungen
508 des Tieres oder des Menschen kennen zu lernen, eben Data der Art seien, die Watson zu vermeiden wünscht, nämlich solche, die wir nur durch Selbstbeobachtung bekommen können (Russell, S. 135). Wenn man im Behaviourismus ausschließlich ein Bestreben findet, das äußere Benehmen von Tieren und Menschen zu beobachten, um dadurch die Processe biologisch zu beleuchten, über die die Psychologie ihrerseits ein Licht wirft, ist der Behaviourismus durchaus berechtigt. Wenn er es aber als sein Ziel betrachtet, von den seelischen Prozessen, von unserem Bewußtseinsleben abzusehen und damit die Berechtigung der psychologischen Beobachtung zu verneinen, beruht er auf einer unrichtigen, wissenschaftlichen Methode, auf dem, was ich bisher eine wissenschaftliche Grundlagenillusion nennen möchte (vgl. Näheres in den Kapiteln 7—8.)! S.
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Innerhalb der älteren Soziologie, derjenigen des 19. Jahrhunderts, macht sich eine doppelte Tendenz geltend, nähmlich teils eine, die man die naturwissenschaftliche nennen könnte, teils eine normative; das Verhältnis zwischen diesen beiden Tendenzen steht den betreffenden Autoren aber nicht immer klar vor Augen. Saint-Simon forderte eine neue Gesellschaftswissenschaft, die die Gesellschaft und zwar nicht nur den Staat und dessen Verfassung, sondern auch den übrigen Zustand der gesamten Gemeinschaft nach der Methode der Naturwissenschaft untersuchen sollte. Dieser Gedankengang wurde von Comte weitergeführt, der (vor Allem in »Cour de la philosophie positive«, B. 1—6, 1830—42) geltend macht, die Gesellschaftswissenschaft oder die Soziologie solle genau wie die Naturwissenschaft eine positive Wissenschaft sein, die auf Tatsachen aufgebaut werde, und müsse eine beschreibende und ursachenerklärende Darstellung aller Tatsachen innerhalb der Erscheinung geben, die wir die menschliche Gesellschaft nennen. Diese entwickele sich nämlich wie andere Organismen nach bestimmten Naturgesetzen. Der Richtung der Entwickelung gegenüber scheint also für die Machthaber des Staates oder die Politiker nicht Viel zu tun übrig zu bleiben. Auf der anderen Seite begegnen wir auch bei Comte Gedankengängen, nach denen die Menschen innerhalb gewisser Rahmen der Entwickelung - deren Hauptrichtung naturnotwendig ist — imstande sind, das Richtige zu fördern. Die Hauptlinien sind gegeben, aber der Mensch kann die Einzelheiten der Entwickelung beeinflussen, genau wie er diese selbst beschleunigen kann. Aber das Verhältnis zwischen Tatsächlichem und Naturnotwendigem innerhalb der Entwickelung und dem durch den menschlichen Willen Bestimmbaren, darunter auch der Staatsleitung, dem Normativen, ist bei Comte völlig ungeklärt. Dürkheim meint, daß die Soziologie allerdings zuerst eine eingehende, beschreibende Darstellung der sozialen Tatsachen zu geben habe ,daß sie aber auch imstande sei, auf der Grundlage dieser eingehenden und tatsächlichen Untersuchung Regeln für das Handeln der Men-
509 sehen im allgemeinen Verkehr, in der Moral und im Recht aufzustellen, also mit anderen Worten: normativ zu wirken (Vgl. die Entwickelung der soziologischen Methode bei Durckheim: »Les Régies de la Methode sociologique«, 7. Ausg. 1919, und »De la division du travail«, 1893). Diese normative Aufgabe der Soziologie macht sich ständig, auch in der französischen Soziologie und Ethik der letzten Zeit, geltend. Aber gleichzeitig hiermit macht sich in der neuesten, französischen Soziologie und Ethik auch eine Richtung bemerkbar, die jedes normative Wirken der Soziologie und der Ethik aufgibt, da sie behauptet, daß Soziologie und Ethik überhaupt nicht imstande seien, irgend welche Art von moralischen oder rechtlichen Regeln oder Gesetzen zu begründen, sondern daß diese Wissenschaften sich in der Zukunft im großen Ganzen, genau wie die Naturwissenschaft, nur damit beschäftigen dürfen, eine rein tatsächliche Beschreibung und Ursachenerklärung der sozialen, rechtlichen und moralischen Phänomene, des faktischen Auftretens der Menschen in der Gesellschaft, das man gewöhnlich moralisch oder rechtlich oder entgegengesetzt nennt, zu geben, da die Wissenschaft sich jeder Art der Wertung enthalten müsse. Dieser Standpunkt ist vor Allem von LevyBrühl (1903) in seiner Arbeit: »La morale et la science des moeurs« ausführlich begründet worden (vgl. über Comte und die neuere französische Soziologie und Ethik : H0ffding, II, 345 ff., über Dürkheim spec. — in dänischer Sprache — H0ffding: Sociologi og Religionsfilosofi [Les Formes Elémentaires de la Vie Religieuse] in der Zeitschrift »Vor Tid«, 1914, Heft Oktob. S. 1-16, ferner dänisch: Georg Cohn: Etik og Sociologi, 1913 und schwedisch: Joseph Daoidsohn: Eksakt sociologi, 1923). Auch in anderen Ländern macht sich der Negativismus in der neueren Zeit in hohem Maße geltend. In Deutschland bezeichnen die Arbeiten Friedrich Nietzsches (von denen »Also sprach Zarathustra«, 1885, »Jenseits von Gut und Böse«, 1886, und »Die Genealogie der Moral«, 1887, die wichtigsten sind) zwar keine Aufgabe einer jeden ethischen Wertung, sondern eine Umwertung aller Werte. Sein Denken — das durchaus nicht konsequent ist — bricht in entscheidender Weise mit der christlichen Moral und dem Utilitarismus. Er vermag nichts Wertvolles darin zu sehen, daß man das Gleichmaß von Lustgefühl bei der großen, mittelmäßigen Menschenmasse fördere. Er betrachtet die großen Menschen, die Genies, als das Ziel der Menschheit. Und vom Ausgangspunkt des Hedonismus und des Utilitarismus aus gesehen scheint es ihm inkonsequent, daß die starken und intensiven Lustgefühle dieser Auserwählten eine Menge von kleinen, nichtssagenden Lustgefühlen des großen Haufens mittelmäßiger Menschen nicht aufwiegen sollten. Die christliche Moral ist ihm mit ihrer Unterwerfung und Aufopferung selbst zum Besten der Feinde eine Moral der Sklaven, während er die Zukunft in einer Moral der Herrscher und Herren, der Großen der Menschheit sieht, die — wie die Geschichte zu zeigen scheint — sich nicht voll entfalten und nicht die großen Werke und Tagen vollbringen können, ohne daß die Masse
510 unterdrückt und ausgenutzt werde. Hier liegt indessen eine Unklarheit bei Nietzsche vor. Der große Wert dieser Werke und Taten scheint nämlich schwierig von einem anderen Gesichtspunkt als dem folgenden begründet werden zu können: nämlich von ihrem Werte für die Menschheit in ihrer Gesamtheit, für das Menschenleben in dessen Zusammenhang in Gegenwart und Zukunft. Aber in diesem Falle enden wir ja wiederum in einem Utilitarismus in erweitertem Sinne. Hält man eine Wertung von diesem Standpunkt fest, ist überhaupt nicht einzusehen, wie man dazu kommen sollte zu entscheiden, welche Menschen die großen, die führenden Genies sind. Ohne eine solche Wertung endet Nietzsches Herrscher- oder Herrenmoral aber in einer unzweideutigen Verherrlichung der Macht, der rücksichtslosen Lebensentfaltung des Einzelnen, des Glückstrebens des Einzelnen ohne jede Rücksicht auf die Konsequenzen für Andere. Und damit fällt jede Grundlage der Moral und des Rechtes fort. — Eine Lehre wie die Nietzsches ist übrigens für das deutsche Volk einer gewissen historischen Periode symptomatisch. Eine solche Macht- und Herrscherlehre verbreitete sich nämlich, bewußt oder unbewußt, in großen Kreisen desjenigen Deutschlands, das nach dem Siege über Frankreich 1870 entstand. Diese Macht- und Herrscherlehre mußte diesem Volke während seines Kampfes um einen größeren Platz in der Welt verführerisch erscheinen. Sie wurde während des großen Zusammenstoßes gegensätzlicher Machtgruppen im ersten Weltkriege 1914—18 auf die Probe der Erfahrung gestellt. Eine Hingabe an Vorstellungen der Macht und des Herrentums und der daraus folgenden unbegrenzten Lebensentfaltung für einen selbst, kann ja — unter Staaten wie unter Individuen — relativ gut gehen, bis die Macht- und Lebensentfaltung des einzelnen Volkes mit dem entsprechenden Macht- und Lebenswillen anderer Völker zusammenstößt — und von solchen, in dieser Weise ausgerüsteten Nationen gab es ja in Europa außer dem deutschen noch etliche Andere. Die Machtkollision verlief ja nicht besonders gut — übrigens auf die Dauer weder für die Sieger, noch für die Besiegten. Nach dem hier angeführten wird man verstehen, daß Gedankengänge wie die Nietzsches, selbst wenn sie auf einer gewissen Form der Lebensbejahung als Wert gegründet wären, dennoch konsequent durchgedacht zu einer wissenschaftlichen Verneinung aller ethischen Werte und nicht nur zu einer Umwertung der bisher anerkannten führen würden. Am Anfang des 20. Jahrhunderts begegnen wir ja auch sonst bei vielen anderen Autoren der deutschen Ethik und Soziologie einer entsprechenden, negativistischen Tendenz, wie derjenigen, die wir innerhalb des neuesten französischen Denkens trafen. Dasselbe ist im Norden der Fall. Als der sogenannte Realismus mit Georg Brandes im nordischen Geistesleben zum Durchbruch kam, treffen wir bei ihm und anderen Vertretern derselben Geistesrichtung während ihrer Entwickelung eine ähnliche Unklarheit, wie wir sie bei Nietzsche finden. Georg Brandes war ursprünglich ein Anhänger
511 des Utilitarismus; er übersetzte Stuart Mills: »Utilitarism« unter dem Titel: »Moral, gründet pä lykke -eller nytteprincipet«, 1872. Und wenn er die üblichen ererbten Moralbegriffe und Institutionen, wie z. B. die Ehe in ihrer anerkannten Form angriff, geschah es von einer neuen Wertung, der Glücks- und Nutzwertung aus, die für ihn das Rationelle war und die vor Allem die ererbte Moral und das ererbte Recht danach bewerten mußte, ob sie das Glück des Einzelnen, die freie Lebensentfaltung des Einzelnen und auch die Wohlfahrt des Volkes im Ganzen förderte oder nicht. Später wurde er indessen von Nietzsche stark beeinflußt und er bekannte sich jetzt zu einer sogenannten aristokratisch-radikalen Lebensschau, die das größte Ziel der Menschheit und der Kultur in der Hervorbringung führender Geister, der Genies sah, wobei die Rücksicht auf die große Menge, auf das Volk, notwendigerweise etwas in den Hintergrund treten mußte. Aber es war etwas unklar, ob dadurch ein neuer Fundamentalwert eingeführt wurde oder ob diese neue Schau letzten Endes auch von dem Utilitarismus, der Wohlfart der Menschheit in weiterem Sinne, aus erklärt werden könnte. Selbständiges, philosophisches Denken war überhaupt nicht die Sache Brandes'. Er war aber ein glänzender Propagator der Ideen der großen Philosophen. Seine selbständige Bedeutung für das nordische Geistesleben liegt auf ganz anderen Gebieten, nämlich in der begeisterten und geistvollen Erläuterung der Werke der großen Dichter und in seiner von bedeutender Menschenkenntnis getragenen Schilderung der großen Gestalten der Geschichte und ihrer Umgebung. Teils dadurch und teils als Propagator der neuen Ideen in Europa übte er einen anspornenden und anregenden Einfluß vor Allem auf die Jugend seiner Zeit aus, der für die selbständig Denkenden wertvoll war. In ethischer Beziehung mußten seine starken Angriffe auf die überlieferte Moral und auf die Rechtsordnung vor Allem auf die christliche Moral und die von ihr getragenen Institutionen, sowie seine starke Betonung des Rechtes des Einzelnen zur freien Lebensentfaltung und zum eigenen Glück in schroffem Widerspruch zu den allgemein anerkannten, moralischen und rechtlichen Vorstellungen notwendigerweise zu einem gewissen Negativismus den moralischen Werten überhaupt gegenüber, zu einer Auflösung aller festen Regeln führen, was bei vielen seiner Anhänger in Büchern und im Leben als bewußtes Lebensprogramm auch gespürt wird — für die schwächeren Charaktere oft als ein W e g zu einem verfehlten Lebensschicksal. Irgendwelche wirklich wissenschaftliche Begründung dieses Negativismus gaben weder er noch seine Anhänger. Gleichzeitig mit Brandes wirkte in Kopenhagen Harald H0ffding. Dieser Philosoph hielt während seines ganzen Lebens am Utilitarismus fest, und gab, wie früher erwähnt, eine systematische Darstellung der Ethik auf utilitaristischer Grundlage. Als Brandes zur Lebensbetrachtung Nietzsches überging, entstand ein Meinungsaustausch zwischen Brandes und H0ffding (in der dän. Zeitschrift »Tilskueren, 1889-90). Für viele seiner Zeitgenossen, besonders für
512 die Jugend, erhielt H0ffding große Bedeutung, vor Allem durch seine positive Behauptung bestimmter, ethischer Werte und Richtlinien. Auch in seiner Religionsphilosophie (1901) behauptete er, der Kern aller Religion sei der Glaube an das Bestehen des Wertes. Irgend welche selbständige Begründung seiner Ethik und der Wertlehre im Ganzen hat H0ffding jedoch nicht gegeben, ebensowenig wie Brandes eine selbständige Begründung seines ethischen Negativismus gab. Einen tiefgehenden und wirklich wissenschaftlichen Versuch einer Begründung des Negativismus den ethischen Werten gegenüber hat erst verhältnismäßig spät, im 20. Jahrhundert, der selbständige und talentvolle dänische Philosoph Herbert Iversen unternommen und zwar in seinen beiden »Essays über unsere Erkenntnis« (1919). Man kann wohl von ihm, wie von vielen anderen seiner jungen Zeitgenossen sagen, er sei in allgemeiner Geistesrichtung von Brandes beeinflußt; aber in Gegensatz zu diesem und dessen eigentlichen Anhängern ist er ein selbständiger, wissenschaftlicher Denker.
Seite 93 f f . Die Stellung Herbert Iversens zur Ethik ist nur in Verbindung mit seiner Erkenntnistheorie zu verstehen. Sein allgemeiner, erkenntnistheoretischer Ausgangspunkt ist der, daß das Einzige, was wir kennen, und das Einzige, das existiert, bestimmte psychische Erlebnisse in bestimmten Augenblicken seien, seien diese nun gewisse Empfindungen, gewisse Vorstellungen oder Gefühle der Lust oder der Unlust. Von diesem Standpunkt aus behauptet er, daß das Wertproblem — das Problem von Gut und Böse, von Wert, Pflicht und Ähnlichem, gleichgültig ob es sich um das soziale Wohlfahrtsprinzip der Utilitaristen o. ä. oder um Kants Pflichtethik, die »praktische Vernunft« drehe — nichts mit objektiver Wissenschaft zu tun habe, daß alle sogenannten »objektiven« Argumente für unsere Handlungen sowie alle Wertungen und Wertungstendenzen lediglich Phantastereien seien (vgl. oben angeführtes Werk, S. 220—21). Welches Erlebnis eines bestimmten Augenblickes sollte denn diesen Wert darstellen? Ein Erlebnis der Lust? Von einem psychologischen Standpunkt aus gesehen sind alle Erlebnisse gleich »gut«, »richtig«, »wirklich« und »wertvoll« (S. 225). Wenn man sagt, daß wir eine bestimmte Handlung einer anderen vorziehen und sie wählen, entweder weil die Ursache dazu ein lustbetontes Ereignis oder weil ihre Konsequenzen Lustgefühle sind, dann ist 1) der Begriff der Handlung unklar, genau wie der Begriff des Willens, aber 2) kommen wir psychologisch nicht weiter als bis zur rein tatsächlichen Beschreibung, die damit endet, daß eine jede Handlung, die einer anderen vorgezogen wird, zu ihrer bestimmten Stunde wertvoll und gut ist (223—24). Der Ausdruck »Zweck« sei damit für die Psychologie unbrauchbar (226). Behaupten wir, daß wir eine Handlung wählen, die — sei es nun zur
513 Lust oder zur Unlust führt —, weil sie auf die Dauer vielleicht mehr Lust und weniger Unlust mit sich bringt, was bedeutet dann der Ausdruck »auf die Dauer«? Rein faktisch psychologisch, also objektiv, sei doch darüber nichts Anderes zu sagen, als daß der Umstand, daß Etwas gut oder schlecht, wertvoll oder wertlos sei, ausschließlich bedeute, daß ich zur bestimmten Stunde diese Handlung als gut und wertvoll betrachte und sie tatsächlich anderen Zwecken vorziehe, Etwas, das wahrscheinlich aus meiner besonderen Lage und meiner ganzen Vergangenheit zu erklären sein würde (227). Es könne danach kein allgemeingültiges Wertprinzip geben (228).: »Weder meine Erfahrung noch meine Lektüre hat mich jemals einem solchen 'Wertprinzip', dem alle Individuen innerhalb unserer Art auf der Erde sich beugen müssen, gegenübergestellt« (228). » W i r täten deshalb am Besten, nicht zu viel über allgemeine Werterklärungen in bezug auf menschliche Handlungen zu philosophieren« (228). Die philosophische Wertlehre sei deshalb am ehesten »eine Art religiös-politischer Agitation, von gewissen 'metaphysischen' oder halbpsychologischen Argumenten begleitet«, die den wirklichen Psychologen nicht zu überzeugen vermögen (228). Die Ethik, die Wertphilosophie, müsse deshalb durch eine rein wissenschaftliche, d. h. historisch-statistische Beschreibung dessen, was die Menschen in bezug auf verschiedene, typische Handlungen und Dinge im Laufe der Zeit »gut« und »böse« genannt und als solche angesehen haben, ersetzt werden und daraus könne man natürlich gewisse Werttheorien für verschiedene Völker, Klassen, Gruppen, Geschlechter und Alter innerhalb unserer Art formulieren. Daraus wäre es dann vielleicht möglich, wiederum gewisse Gesetze für das Wachstum, die Blüte und den Verfall aller menschlichen Wertungstendenzen abzuleiten (228—29). Aber darüber hinaus sei Alles nur polemisch-pädagogisch-politische Agitation und nicht objektive Wissenschaft. Für den Gedankengang Iversens ist die folgende Erläuterung sehr charakteristisch: »Ich bin dann in eine Ecke hineingezwungen worden. Das 'philosophische' Wertproblem von Gut und Böse läßt sich überhaupt nicht 'philosophisch' verteidigen. Es ist gewiß von der größten praktischen Bedeutung, was 'gut' und was 'Böse' ist — z. B. in einer zwingenden Lage, und aus gewissen historisch-praktischen Erfahrungen, die gründlich fundiert und in der Praxis erprobt sind, kann ich möglicherweise eine Art wissenschaftlicher Methodik in dieser Beziehung ableiten: welche Handlungen effektive Mittel zur Erreichung bestimmter 'Zwecke' (oder mit gewissen, engeren, bestimmten 'Prinzipien', wie man sie auch nennen kann, übereinstimmend), also 'gut' sind. Aber es fehlt mir jeder Maßstab zu zeigen, warum diese 'Zwecke' an sich 'gut' oder 'wertvoll' im Gegensatz zu anderen 'Zwecken', den Lieblingsprinzipien anderer Personen oder Prinzipien, sein sollten, die ich selbst geringschätze. Wenn ich dennoch den Wunsch hege, für meine Lieblingszwecke (die nur als bloße Mittel und also 'philosophisch' nicht zu verteidigen sind) Anhänger zu 33
Erkenntnis und Wertung
514 werben, ist es nach meinem Geschmack sympathischer, wenn man alle pseudo-wissenschaftliche Masken abwirft und in einem leichteren und loseren Anzug als offenkundiger Prophet, Agitator, Künstler oder Praktiker auftritt« (233). Er sagt ferner: »Wenn erst der 'philosophische' Nimbus, der Ausdrücke wie 'Wert', 'gut', Moral', 'Ethik' u. ä. zu umgeben pflegt, verschwunden und wenn es ein stillschweigendes übereinkommen geworden ist, daß Fragen in bezug auf die Moral der Leute keine besonderen Rätsel enthalten, sondern einfache Fragen nach den mores dieser Leute in bezug auf gewisse praktische Verhältnisse (und in einer einfachen praktischen Lage diskutiert) sind, und daß Fragen nach der Wertungstendenz nur Fragen nach gewissen Tendenzen ihres Benehmens oder ihrer Betrachtungsweise oder natürlichen Reaktionen (einfache, werktägliche Ausdrücke sind hier besonders am Platze) in ihrer Eigenschaft als lebende Menschen im Verkehr mit anderen irgendwo auf dieser Erde sind: dann ist die Luft für wissenschaftliche Gesichtspunkte geklärt...« In bezug auf die Rechtsregeln sagt er: »'Das Gesetz' und 'das Recht' kann nichts Anderes und nicht mehr sein als gewisse Lebensäußerungen Peters oder Thomas' oder eines Anderen unter ihnen — Männer, Frauen oder Kinder, deiner und meiner einfachen Mitmenschen —, Ausdruck ihrer subjektiven Annahmen und Wünsche, Ausschläge ihres faktischen Einflusses oder ihrer Macht, Symptome ihrer natürlichen, wenn man will: naturgeschichtlichen Haltung zu einer gewissen Zeit.« Wir sind hier, meine ich, in eine Betrachtungsweise hineingeraten, die für alle (objektiven) Einfälle und jede höhere »Philosophie« in bezug auf sogenanntes Gesetz und Recht einfach prohibitiv ist. Und Iversen fügt in einer Note hinzu: »Wer ist so weise, daß er die einfache Frage beantworten kann, die Tolstoi in seiner »Auferstehung« stellt: Mit welchem Recht erlauben sich einige Leute, Andere zu strafen?« (S. 254). In Schweden ist Axel Hägerström der bedeutendste Vertreter des modernen Negativismus den ethischen Werten gegenüber. Es ist ja,
Runkels Kritik von Hägerströms römerrechtlichem Hauptwerk endet mit folgenden Worten: »Das bisher gesagte muß genügen um die Bedenken zu kennzeichnen, die sich gegen Methode und Gesammtergebnis des Verf. erheben. Eine völlige Nachprüfung der Beweisführung ist hier nicht möglich; sie wäre wohl auch unnützige Arbeit. Denn mir scheint ohnehin das Resultat der Kritik festzustehen: die These des Verf. ist eine Verirrung; sie beruht auf einer außerordentlichen Überschätzung gewisser richtiger Beobachtungen und auf unhistorischer Fragestellung. Der Verf. hat sich schließlich in seine Gedankengänge so sehr eingewöhnt, daß er allenthalben nur noch die Bestätigung und nicht mehr das Unwahrscheinliche seines Systemes sieht.« Die Kritik Küblers steht den Theorien Hägerströms gegenüber ebenso abweisend. Binder faßt seine scharfe Kritik in folgende Worte zusammen: »Während Hägerström in seiner Studierkammer eingeschlossen saß und Stein auf Stein zu seinem sonderbaren Gebäude fügte, schritt die
515 wie bereits e r w ä h n t , eine r e c h t verbreitete A u f f a s s u n g i n n e r h a l b d e r n e u e r e n E t h i k , d a ß die B e g r i f f e P f l i c h t u n d W e r t die beiden G r u n d b e g r i f f e der m o r a l i s c h e n u n d r e c h t l i c h e n V o r s t e l l u n g s w e l t seien. Häg e r s t r ö m s u c h t jetzt zu zeigen, d a ß diese G r u n d b e g r i f f e k e i n e o b j e k tive Realität besitzen. A u s d r ü c k e wie W e r t u n d P f l i c h t sind n a c h d e r M e i n u n g H ä g e r s t r ö m s n u r u n m i t t e l b a r e G e f ü h l s a u s d r ü c k e , die kein e n logischen Sinn h a b e n , u n d er v e r s u c h t psychologisch zu e r k l ä ren, wie diese A u s d r ü c k e , die o b j e k t i v sinnlos sind, e n t s t a n d e n sein m ü s s e n . B e s o n d e r s gibt er eine A n a l y s e v o n d e m U r s p r u n g des P f l i c h t g e f ü h l s d u r c h d e n Befehl als W i l l e n s i m p u l s , d u r c h die Suggestion i m Z u s a m m e n l e b e n der Gesellschaft, wie er a u c h zu zeigen v e r s u c h t , in w e l c h e r W e i s e die Illusion v o n d e r O b j e k t i v i t ä t der P f l i c h t e n t s t a n d e n sei. Die P f l i c h t sei n a c h seiner A n s i c h t d a s E r lebnis eines W i l l e n s i m p u l s e s , der v o n A u ß e n k o m m t , v o n einer ä u ß e r e n Macht, e i n e m S y s t e m von H a n d l u n g e n — d a s d u r c h Gewohnheit, Suggestion u n d Z w a n g f ü r das I n d i v i d u u m e n t s c h e i d e n d geword e n sei, e i n e m System, d a s von den I n t e r e s s e n , d e r L u s t , d e n L a u n e n des I n d i v i d u u m s u n a b h ä n g i g sei u n d das, weil es v o n A u ß e n k o m m t u n d »über-individuell« ist, f ä l s c h l i c h so bezeichnet w e r d e , als h a b e es t a t s ä c h l i c h e O b j e k t i v i t ä t . D a s Gebot d e r P f l i c h t : »Du sollst dieses o d e r j e n e s t u n « sei A u s d r u c k eines Aktiv-impulses, d e r a l l m ä h l i c h e n t s t a n d e n u n d d u r c h A u f f o r d e r u n g z u r H a n d l u n g oder d u r c h Befehl z u r G e w o h n h e i t g e w o r d e n sei, u n d d e r schließlich d u r c h diese soziale Motivgestaltung, d u r c h die infolge z a h l r e i c h e r B e f e h l e u n d N a c h a h m u n g e n e n t s t a n d e n e Suggestion als z w i n g e n d e m p f u n d e n w e r d e . U n d so e n t s t e h e die Illusion, d a ß die P f l i c h t O b j e k t i v i t ä t besitze. Diese A u f f a s s u n g h a t H ä g e r s t r ö m b e s o n d e r s in seiner S c h r i f t »Till f r ä g a n o m d e n o b j e k t i v a r ä t t e n s begrepp« ( Z u r F r a g e des B e g r i f f e s des o b j e k t i v e n R e c h t e s ) i m J a h r e 1917 i n den v o n »Kgl. H u m a n i s t i s k a V e t e n s k a p s - S a m f u n d e t « h e r a u s g e g e b e n e n S c h r i f t e n (Bd. 19") v e r ö f f e n t l i c h t . Auf d e m r ö m i s c h e n Rechtsgebiete h a t er d a s T h e m a b e s o n d e r s in s e i n e m W e r k e »Der r ö m i s c h e Obligationsbegriff i m L i c h t d e r allgemeinen r ö m i s c h e n R e c h t s a n s c h a u u n g « ( v e r ö f f e n t l i c h t
Wissenschaft draußen weiter und nahm seiner Arbeit die Grundlage weg. Die Richtung, die Hägerström eingeschlagen hat, gehört einer vergangenen Zeit an; die wirklich lebende Wissenschaft von heute und morgen ist nach anz anderen Gesichtspunkten orientiert.« Und Binder sieht eine gewisse ragik darin, daß Hägerström die Arbeitskraft seiner besten Jahre zur Durchführung eines Gedanken verwendet hat, der seine Bedeutung f ü r die Wissenschaft selbst verloren hat (vgl. oben erwähnte Abh. S. 273). Nach diesen Worten geht Binder zu den Einzelheiten über. — In der neuersten Literatur haben mehrere Autoren dagegen Anschauungen ausgesprochen, die an diejenigen Hägerströms erinnern, jedoch ohne daß sie seinen Namen erwähnten wie z. B. Düll. Arunzio Ruiz hat sich über Hägerström in seinem Werke »Institutioni di diretto romano« direkt anerkennend ausgesprochen.
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516 ebenda im Bd. 19, 1917) behandelt. Wenn der Richter oder ein Anderer dem Gesetz Untergebener sagt: »Dieses sollst du tun«, liegt selbstverständlich in dem Augenblick, in dem der Richter danach handeln muß, als Realität ein Willensakt seinerseits vor und damit auch ein Willensimpuls und ein Erlebnis desselben. »Der Willensimpuls« sei als ein Glied eines Wirklichkeitszusammenhanges nur durch die Introjizierung in das Ich und damit ausschließlich als Erlebnis desselben bestimmbar. Das bedeute indessen, daß er überhaupt nicht als etwas Reales zu bestimmen sei (zuerst angef. Werk S. 43—49, 58, danach S. 60 f f . ) : »Die moralischen Normen werden als ein mit Befehlsausdrücken objektiv verbundenes Handlungssystem dargestellt«. Aber eine solche Vorstellung sei »vollkommen ohne Wahrheitswert (87)«. Die Auffassung Hägerströms in seiner römerrechtlichen Abhandlung ist innerhalb der deutschen rechtsgeschichtlichen Wissenschaft Gegenstand scharfer Kritik gewesen, die hervorhebt, daß seine Anschauung veraltet und zum Teil durch mangelhafte Kenntnis der neueren römerrechtlichen Forschung entstanden sei (vgl. Kunkel in der »Savigny Zeitschrift«, R A Bd. 49, 1929, S. 249 ff., kühler in der »Berliner philologische Wochenschrift«, 1929, S. 203 ff. und Julius Binder in der »Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtwissenschaft«, Bd. 24, 1931, S. 269-315. In Schweden hat Hägerström Schule gemacht, indem mehrere juristische und philosophische Schriftsteller sich seinem Gedankengang angeschlossen haben, vergl. beispielsweise vor Allem A. V.Lundstedt: »Föreläsninger över valda delar af obligationsrätten« III, Obligationsbegreppet 2, 91 ff., Tegen: »Nya riktlinjer inom rättsfilosofi och strafrätt«, Forum 1921, Karl Olivecrona: »Law as fact«, 1939. Lundstedt hebt hervor, daß der Umstand, daß diese oder jene Regel Gültigkeit habe, keinen für den Gedanken realisierbaren Inhalt bedeute. Regeln seien überhaupt nur Ausdruck dafür, daß staatliche Behörden in einer gewissen Art von Situationen auf eine gewisse Weise handeln, die einer Reihe von psychologischen Ursachen entstamme und wiederum in verschiedener Weise auf die Handlungen der einzelnen Menschen wirke ( L u n d s t e d t , angf. Werk S. 91—92,). Olivecrona hebt hervor, daß die bindende Kraft des Gesetzes eine Illusion, die Vorstellung von Pflichten folglich rein subjektiv und die Begriffe der Rechte und der Pflichten überhaupt keine objektiven Realitäten seien. Nicht nur natürliche, sondern auch positive und legale Rechte seien unwirklich (Olivecrona, 75 ff.). Der imaginäre Begriff des Rechtes hat nach Hägerström seinen Ursprung in den magischen Vorstellungen des primitiven Rechtes (112 ff.). Nach ihm und seiner Schule müssen, wie erwähnt, nicht nur Begriffe wie Recht und Pflicht, sondern auch die Grundbegriffe, von denen viele Menschen meinen, daß sie hinter jenen liegen, wie Wert, Zweck u. ä. unwirklich, d. h. imaginär sein. Aber es zeigt sich hier, wie auch bei Herbert Iversen, daß dieselben Denkrichtungen, die diese Grundbegriffe verwerfen, sie bei ihren eingehenderen Darstel-
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lungen und Erklärungen dennoch nicht ausschalten können, sondern das eine Mal nach dem anderen bei ihnen Zuflucht nehmen müssen, ohne daß sie sich dessen bewußt sind. Selbst wenn man behauptet, daß es in der Realität keine Rechte und Pflichten gebe, muß man doch selbstverständlich als Tatsache anerkennen, daß das Gesetz und andere Rechtsregeln Ausdrücke einer organisierten Machtanwendung, der Macht des Staates, sind. Das erkennt beispielsweise Olivecrona in seiner angeführten, interessanten Schrift offen an, wenn er ausspricht, daß das Gesetz, das Recht, organisierte Macht sein müsse, wenn es in der Realität keine Rechte und Pflichten gibt. (Olivecrona 123). Da wir aber keinerlei Möglichkeit der Wertung haben, müßte jede Machtanwendung an und für sich gleich gut sein; Recht sei Macht und Macht sei Recht; und irgendwelche Begründung einer Machtanwendung — sei es nun die des Staates oder die von organisierten Banden — sei im Voraus unmöglich, da Alles, was objektiv wissenschaftlich zu tun sei, lediglich in einer tatsächlichen, psychologischen Beschreibung der Machtanwendung bestehe, die tatsächlich stattfindet. Nichtsdestoweniger gibt dieser Autor sich später damit ab, die organisierte Machtanwendung des Staates zu begründen. Ohne irgendwelchen motivierten Übergang erfahren wir plötzlich, daß »social life must be based on Law«, daß die organisierte Machtanwendung »das Rückgrat unserer Gesellschaft« darstelle, daß es ohne sie gar keine »Sicherheit, nicht einmal für Leib und Leben gäbe«, daß die »Menschen gezähmt werden müssen um friedlich zusammenzuleben« (Olivecrona 136). Das Alles aber, nämlich daß das Gesellschaftsleben auf Macht gegründet werden »müsse«, daß unsere »Sicherheit fordere« und daß Menschen Zucht »nötig haben«, ist ja von einem objektiven, faktisch beschreibenden, wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet vollkommen belanglos. Ob der Staat durch Gewalt eine friedliche Gesellschaft schaffe oder ob mehrere machtorganisierte Banden miteinander streiten und einander in verhältnismässigem Gleichgewicht und damit die ganze Gesellschaft in Unruhe, Streit und Verstümmlung halten — wie das Verhältnis in der Gesellschaft der Nationen ja faktisch ist — muß völlig gleichgültig sein. Die Wissenschaft hat nur die Aufgabe, den Verlauf der Begebenheiten zu beschreiben, ohne Partei zu ergreifen und ohne das Wort zu nehmen, sei es nun für den Frieden unter den Menschen oder für den Unfrieden. Die oben angeführten Darstellungen sind wertende Begründungen der organisierten Staatsmacht durch Hinweis auf die Güter, die sie dem Menschenleben sichert, und sie zeigen also, daß selbst diese Richtung, ohne sich dessen bewußt zu sein, um die ethischen Wertungen nicht herumkommt. Man lese auch spätere Ausführungen in demselben Werk Olivecronas (171—71), wonach Machtanwendung »gefährlich« sei, aber nützlich werden und »allgemeinen Zwecken« dienen könne, wenn sie geregelt werde, nämlich um des Menschen »Leben und Wohlfahrt zu fördern«, ferner (174—75), daß die »Monopolisierung der Macht durch den Staat und seine Behörden« für das zivilisierte Leben
518 unbedingt notwendig« sei, weiter (180), daß die Herrschaft des Rechtes eine »tiefempfundene Notwendigkeit« sei und »hohen Wert habe«, (10 ff.) daß die organisierte Machtanwendung des Staates »zum Schutze der Gesellschaft gegen die Bildung gesetzloser, terroristischer Banden notwendig« sei, damit man mit genügender Stabilität »moralische Standarde, die für ein friedliches Leben in der Gesellschaft unentbehrlich sind« handhaben könne — wie man sieht, besteht Alles aus einer ganzen Reihe von ethischen Wertungen und Zwecken, die angewendet werden, um die organisierte Machtanwendung zu begründen und die samt und sonders außerhalb der objektiven, nur tatsächlichen Beschreibung einer existierenden Wirklichkeit liegen, sei diese nun ein »friedliches«, »zivilisiertes«, »sicheres« oder gegen Gewalt, Chaos und Kämpfe geschütztes Dasein. — über den verwandten Versuch Gunnar Myrdals eine wertungsfreie, rein beschreibende Sozialökonomie zu geben, vergleiche man unten S. 560. In Norwegen hat die Lehre Hägerströms keine Anhänger gefunden. Frede Castberg nimmt in seinem wertvollen Buche: »Retsfilosofiske Grunnspörgsmäl«, 1939, von ihr Abstand (vgl besonders SS. 49—53 auch 44—49, vor Allem aber die treffenden kritischen Bemerkungen 52—53). Castberg selbst steht auf dem Standpunkt, daß es seine soziale Wirklichkeit sei, die den Rechtsbegriff entscheidet und die in einem Nachleben gewisser Regeln bestehe, daß aber »die Gültigkeitsidee«, daß Recht und Pflicht und die darauf bezüglichen Regeln »Gültigkeit« haben, keine »Wirklichkeitseigenschaft«, sondern ein »apriorisches Element« sei und daß man eine tiefere Begründung für die Gültigkeit des Rechtes nur finde, wenn man sich dem Problem der Gültigkeit des Rechtes im moralischen Sinne des Wortes zuwende, daß man aber damit auch in dem Grundproblem einer wirklichen und wahren Moral, also in der Welt der metaphysischen Ideen geendet sei (Castberg, 67 ff., 76, 125 ff., 146-53, 156). Da der Autor indessen keine erkenntnistheoretische Untersuchung der Grundbegriffe »Wirklichkeit«, »apriorisch« und »Erfahrung« gibt, scheint seine Auffassung mir in dieser sonst so interessanten Darstellung nicht völlig klar. (Vgl. auch die Abhandlung Castbergs in ZFR 1941, 121-34). In Dänemark hat Hägerström von einer einzelnen Seite Zustimmung gefunden. Von Hägerström beeinflußt ist Alf Ross in seinen Schriften: »Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis«, 1933, und »Virkelighed og Gyldighed«, 1933, (vgl. TfR 1934, S. 259 ff., 296 ff.), in denen er im Wesentlichen mit der Grundanschauung Hägerströms übereinstimmt. Alf Ross gibt indessen eine geschichtliche Darstellung der ethischen Hauptrichtungen, wie man sie bei Hägerström nicht findet, und beleuchtet diese durch die typischen Werke. Er gibt gleichfalls eine kritische Wertung derselben (vgl. Ross 116 ff., und übrigens Aussagen desselben Autors in TfR 1936, 325 ff., 1940, 281-98. UfR 1940, 149-71). In der Darstellung Hägerströms von der Entstehung des Pflichtgefühls gibt es einige scharfsinnige, psychologische Beiträge. Für
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die erkenntnistheoretischen Schlußfolgerungen, die er in bezug auf die fehlende Wirklichkeit oder Objektivität der Rechts- und Moralregeln daraus zieht, hat er indessen keinen Beweis geführt. Um zu beweisen, daß die Rechtsregeln und die Regeln der Moral keine Objektivität oder Wirklichkeit besitzen, wäre nämlich eine tiefergehende, erkenntnistheoretische Untersuchung dessen erforderlich, was man unter »objektiv« oder »wirklich« zu verstehen habe. Was kennzeichnet die Erscheinungen, die wir wirklich oder objektiv nennen? Was heißt überhaupt etwas »erkennen« oder »wissen«, daß etwas »sei«? Diese tiefere, erkenntnistheoretische Untersuchung hat Hägerström nicht gegeben. Es gilt überhaupt von Hägerström und den Schriftstellern seiner Schule, daß sie teils keine nähere, erkenntnistheoretische Untersuchung der Grundbegriffe geben, von denen aus sie operieren, also von solchen Begriffen wie »Wirklichkeit«, »Erfahrung«, »apriorisch«, »objektiv«, »metaphysisch« u. ä. und teils selber, ohne sich dessen bewußt zu sein, letzten Endes nicht unterlassen können, Wertbegriffe und Gültigkeitsvorstellungen zu verwenden, denen sie sonst jede Wirklichkeit absprechen. Zur Kritik von Hägerström und seiner Richtung siehe übrigens meine Abhandlung in TfR. 1934 250 ff. und UfR 1940, 177-86, ferner Cassirer: »Axel Häger ström, eine Studie über die schwedische Philosophie der Gegenwart«, in Göteborg H0gskolas Ärsskrift 1939. In dieser Beziehung steht Herbert Iversen stärker in seinem Negativismus, denn er hat eine außerordentlich eindringliche Untersuchung dessen gegeben, was er unter »Wirklichkeit« versteht. Wie bereits oben hervorgehoben, ist die gesamte Wirklichkeit für ihn gleichbedeutend mit dem seelischen Erlebnis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das Problem ist indessen hiernach: ist diese Definition richtig oder erschöpfend? Der Standpunkt des dänischen Philosophen J0rgen Jflrgensen auf diesem Gebiete muß am ehesten als negativistisch gekennzeichnet werden, da er sich der Möglichkeit gegenüber, einen objektiv moralischen Maßtab zu finden und zu begründen, ablehnend und zweifelnd stellt (vgl. J0rgen J0rgensen: »Aktuelle Stridssp0rgsmäl.« S. 44 ff.: »Om Moralbegrebet« bes. S. 44, 61, 65-66.). Einer negativistischen Haltung begegnet man auch bei dem finnischen Soziologen E. Westermarck, der verneint, daß die moralischen Wertungen objektive Gültigkeit haben (vgl. seine Abhandlung in der »Theoria«, 1839, 14 ff. und sein Werk: »The origin and development of the moral ideas«, 1906-08). Eine Sonderstellung nimmt Svend Ranulf ein, der mit seinen Schriften: »Moralen og Samfundet« und »Gudernes Misundelse og Strafferettens Oprindelse i Athen«, 1930, nicht als moralnegativistisch, sondern als moralkritisch gekennzeichnet werden kann, da er der traditionellen Moral besonders von soziologischen Untersuchungen und Betrachtungen aus skeptisch gegenübersteht. Mit besonderer Kritik betrachtet er die traditionelle Moral auf sexuellem Gebiete. Es muß ja auch eingeräumt werden, daß es keine reale, Wissenschaft-
520 liehe Begründung der Regeln dieser Moral gibt. Auf sozial-ethischem Gebiete hebt Ranulf hervor, daß die Gesellschaft effektive Rechtsregeln zum Schutze gegen solche Handlungen wie Mord, Diebstahl, Vergewaltigung geben müsse und erkennt damit einwandfrei die ethische Wertung an, die hinter dem Schutze der Gemeinschaft gegen diese schädlichen Handlungen der Menschen liegt (vgl. vor Allem die zuerst angeführte Schrift S. 103, auch 94). über den Moralskeptizismus oder Negativismus unserer Zeit siehe übrigens K. Grue-S0rensen: »Vor Tids moralskepticismus«, 1937, ein Buch, das eine gute Orientierung innerhalb dieses Problems gibt (S. 7 ff., 33 ff.). Eine kurze und klare Darstellung des Negativismus oder Wert-Nihilismus ist von Ingemar Hedenius in einer Schrift: »Om rätt och moral«, 1941, gegeben, die übrigens der Lehre Hägerströms gegenüber und zwar auf dem rechtlichen Gebiete gewisse Vorbehalte macht (Vgl. oben angeführtes Werk S. 60 ff.).
Seite 111. Eine neuere Richtung innerhalb der Philosophie des 20. Jahrhunderts, die als logischer Empirismus bezeichnet wird, hat sich als besondere Aufgabe gestellt, eine sprachlich-logische Analyse der fundamentalen Wörter und Begriffe wie der genannten u. ä. vorzunehmen und zu untersuchen, wie wir sprachlich und psychologisch zu unseren Urteilen und Aussagen kommen; innerhalb dieser Philosophie unterscheidet man recht allgemein zwischen den sogenannten »Protokollsätzen«, d. h. den Sätzen, die das augenblickliche Erlebnis eines einzelnen Menschen enthalten, »singulären« Sätzen, d. h. Sätzen über individuelle, physische oder nichtphysische Gegenstände, die auf einer Menge von Protokollsätzen beruhen, und ferner »allgemeinen« Sätzen, die ein allgemeines Urteil über eine Erscheinung aussprechen. Von Philosophen innerhalb dieser Gruppe seien hervorgehoben: R. Carnap: »Die logische Syntax der Sprache«, 1934, C. H. v. Wright: »Den logiske empirismen« 1943, und E.Kaila: »Den mänskliga kunskapen«, 1939. Das Buch Kailas gibt außer einer guten Einführung in den Gedankengang des logischen Empirismus eine geistvolle geschichtliche Beleuchtung von dem, was er die Invarianten in der menschlichen Erkenntnis nennt. Der logische Empirismus bedeutet an und für sich keine neue Richtung, denn eine Reihe der bedeutendsten Philosophen der Vergangenheit haben die wichtige Aufgabe, die in der genauen, sprachlich-logischen Untersuchung der Bedeutung der verschiedenen fundamentalen Wörter und Begriffe enthalten ist, bewußt erkannt. Beispielsweise kann hervorgehoben werden, daß bereits Hobbes und Locke ein klares Verständnis für die Bedeutung dieser Aufgabe gehabt haben. Es ist aber ein Verdienst des logischen Empirismus, daß er diese sprachlich-logische Aufgabe als systematische Analyse betreibt und bewußt und im Zusammenhang den psychologisch-sprach-
521 liehen Ursprung unserer Sätze oder Urteile untersucht. Es muß jedoch selbstverständlich betont werden, daß diese sprachlich-logischen und psychologischen Untersuchungen wohl außerordentlich wichtig sind, auf der anderen Seite aber auch in keiner Weise die Aufgabe der ganzen Erkenntnistheorie erschöpfen, denn außer dieser Untersuchung gibt es j a noch die erkenntnistheoretischen Realitätsuntersuchungen. Und diese sind selbstverständlich in Wirklichkeit auch die wichtigsten. 1. Es ist leicht möglich, daß der logische Empirismus in seiner Vorliebe für die Analyse zu der Auffassung kommen kann, daß die sprachlich-logische Analyse der Wörter und Begriffe die Haupsache der Forschung sei, während die Realitätsuntersuchung in den Hintergrund gedrängt werde; und daß seine Anhänger zu dem Glauben verführt werden, daß das Realitätsproblem selber gelöst sei, wenn die sprachlich-logische Analyse durchgeführt worden ist. Es ist beispielsweise bezeichnend, daß einer der Anhänger des logischen Empirismus betont, daß der große Fortschritt, den diese Philosophie im 20. Jahrhundert gemacht hat, darin bestehe, daß man die Analyse von Wörtern und Grundbegriffen bewußt zur »Hauptmethode« gemacht habe. Typisch ist auch die folgende Äußerung desselben Autors: »Das Problem heißt nicht: gibt es Dinge oder nicht, sondern was meinen wir, wenn wir sagen, daß es Dinge gibt?« Das ist genau dasselbe, als wenn wir sagten: »Das Problem heißt nicht: gibt es Atome oder nicht — sondern: was meinen wir, wenn wir sagen, daß es Atome gibt?« Ein Naturwissenschaftler würde sich wahrscheinlich umgekehrt ausdrücken: »Das Problem besteht darin: Gibt es Atome?« Aber gleichzeitig müssen wir uns natürlich sprachlich, logisch klar machen, was wir mit dem Worte »es gibt« meinen. 2. Aber die sprachlich-logische, analysierende Richtung birgt auch eine andere Gefahr, nämlich die, daß sie schließlich in ihrer einseitigen Tendenz Alles analysieren zu können glaubt, und daß die Analyse überhaupt keine Grenze findet. Jede Analyse, auch die sprachlich-logische, ist eine Analyse oder Auflösung einer Sache oder eines Begriffes in Elemente oder Bestandteile und setzt also diese voraus. Und da es stets eine Mehrzahl von Elementen geben muß, damit eine Analyse überhaupt stattfinden kann, muß es schließlich auch eine Grenze der Analyse geben. Man endet letzten Endes bei gewissen nicht-analysierbaren Elementen und weiter kann die Analyse nicht getrieben werden. Versucht man es dennoch, gerät man in unklare und weitschweifige Betrachtungen. Unter den letzten analysierbaren Realitäten, und damit auch unanalysierbaren Begriffen, gibt es Etwas, das wir das »Psychische«, im Deutschen das »Seelische« oder das »Bewußtsein« zu nennen pflegen, das den Gegenstand jener Wissenschaft bildet, die wir Psychologie nennen. Psychologen, die nicht von dieser einseitig logischanalysierenden Richtung eingefangen sind, begnügen sich damit, das Psychische oder das Bewußtsein als Gegenstand der Psychologie als eine Tatsache festzustellen, mit der jeder Mensch vertraut ist, und
522 hervorzuheben, daß Bewußtsein immer das Bewußtsein von irgend Etwas sei und daß dieses Etwas allerlei Erscheinungen, Bewußtseinsphänomene, sinnliche Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle usw. sein könne. Wenn man aber den Versuch macht, eine genauere »Analyse« dessen zu geben, was das Psychische eigentlich darstellt, führt das nur zu langen, umständlichen, unklaren und selbstwidersprechenden Erläuterungen, die letzten Endes gar nichts erklären, sondern nur in tautologische Definitionen auslaufen, die in der Realität nicht anderes besagen, als daß »das Psychische« »psychisch« und »Bewußtseinsphänomene« »Bewußtseinsphänomene« seien u. ä., wie sehr diese tautologischen Definitionen auch in lange, gelehrte, transcendentale Redensarten eingewickelt werden (vgl. meine dänisch geschrieben Abhandlung in »National0konomisk Tidsskrift«, Kopenhagen 1943, besonders S. 3 9 9 - 4 1 1 ) . S.
US.
über die Gleichheits- und Berührungs-association Die Fähigkeit unseres Bewußtseins, Gleichheit und Verschiedenheit festzustellen, hat in neuerer Zeit zu weitschweifigen, psychologischen Spekulationen innerhalb der deutschen Literatur Anlaß gegeben. Da diese Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Wahrnehmungen oder Vorstellungen mit einander nicht auf die gewöhnlichen Typen der psychischen Erscheinungen: sinnliche Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle, Willensakte zurückgeführt werden können, hat eine Richtung, deren Wortführer — wie Marbe und Watt — besonders in Würzburg tätig waren, die Gleichheitserscheinungen als »Bewustseinseinlagen« gekennzeichnet. Ein anderer Psychologe, Betz, bezeichnet sie als »Einstellungen«. E r hebt hervor, daß »Wiedererkennen«, Gleichheit, nicht durch Vorstellungen, sondern durch Einstellungen erlebt werde. Dieser Ausdruck scheint mir besser als »Bewußtseinseinlagen«, die nicht viel aussagen. Wenn ein Sinneseindruck in unserem Bewußtsein aufbewahrt wird und ein sinnlicher Eindruck später auftaucht, der eine gewisse Gleichheit mit dem erstgenannten hat, kann man mit einer gewissen Berechtigung sagen, daß das Bewußtsein durch den in der Erinnerung aufgespeicherten Sinneseindruck auf den neuen »eingestellt« sei. Man muß aber sowohl gefühls- als vorstellungsmäßig eingestellt sein; an und für sich gehört wohl der ganze Bewußtseinsinhalt mit allen seinen Vorstellungen — gleichen oder ungleichen — mit zu der »Einstellung«, mit der wir neuen Erlebnissen oder neuen Sinneseindrücken begegnen. Das Wort »Einstellung« scheint mir deshalb zur Bezeichnung der einzelnen Wiedererkennungen oder Gleichheitsfeststellungen, die äußerst begrenzt sind, nicht völlig befriedigend. Das Phänomen des Wiedererkennens oder der Gleichheit kommt mir überhaupt nicht so verzwickt vor. Mir scheint es richtiger, diese Erscheinung einfach und natürlich als die vollständige übereinstim-
523 mung eines sinnlichen Eindrucks oder einer Vorstellung mit einem Erinnerungsrest, mit der aufgespeicherten Reproduktion eines älteren Sinneseindruckes zu charakterisieren. Es kommt mir überhaupt vor, als ob deutsche Psychologen geneigt seien, die psychischen Phänomene durch besondere Kunstausdrücke und weitschweifige Untersuchungen oft komplizierter zu machen, als sie in der Tat sind. Es ist ein umstrittenes Problem, ob jede Reproduktion und Assoziation von Vorstellungen eine Berührungs-reproduktion und Assoziation darstellt, oder ob es ebenfalls eine Gleichheitsreproduktion und Assoziation gibt. Soweit ich sehen kann, beruht jede, sogenannte Berührungs-reproduktion und jede Gleichheitsreproduktion darauf, daß eine gegenwärtige sinnliche Wahrnehmung oder Vorstellung A einen Erinnerungsrest einer früher gehabten Sinneswahrnehmung oder Vorstellung a trifft, die ganz oder teilweise der momentanen Wahrnehmung oder Vorstellung A gleicht; der Unterschied ist nur der, daß bei der sogenannten Berührungs-reproduktion eine vollkommene Gleichheit zwischen A und a vorhanden ist, wonach A die mit a verbundenen Vorstellungen b, c und d mit sich reißt, während A bei der sogenannten Gleichheitsreproduktion nur teilweise dem a, einem Teil von a, ähnlich ist und danach den Rest von a mit sich reißt. An und für sich ist das Gleichheitsmoment — das wir x nennen können — in beiden Fällen Teil einer größeren Ganzheit, entweder wie im ersten Falle a in der Ganzheit a-b-c-d oder wie im zweiten Falle ein Teil von a. Als Beispiele der beiden Arten von Reproduktionen können wir die von dem dänischen Philosophen Frithjof Brandt (II, 112 und 121) genannten erwähnen: 1) Man begegnet einem Freunde A, von dem man im Voraus das Erinnerungsbild a hat, und es fällt Einem dabei ein Buch ein, das man von ihm geliehen hat, das Erinnerungsbild des Buches b — ein Fall der Berührungs-reproduktion. 2) Man begegnet seinem Freunde A und denkt dabei an eine Person B, die man vor wenigen Tagen getroffen und von der man das Erinnerungsbild b hat, weil die Beiden (A und B) einander ähnlich sind — ein Fall der Gleichheitsreproduktion. Denken wir uns nun, daß sie Beide einander darin ähnlich sind, daß sie eine eigentümlich gebildete Nase haben, einen Sonderzug, den wir x nennen. X geth als Teil sowohl von A als von B ein. Das Verhältnis ist in beiden Fällen, 1 und 2, das gleiche. Genau wie b ein Glied der Ganzheit a-b, nämlich des Freundes und des Buches ist, stellt auch x ein Glied der Ganzheit A dar, worin x, oder B, worin x ebenfalls eingeschlossen ist. Der ganze Unterschied zwischen den beiden Fällen kommt vermutlich daher, daß die Ganzheit im Falle 2 eine geschlossenere Totalität, nämlich eine Person, von der die Nase ein organisches Glied der Ganzheit bildet, darstellt, während die Ganzheit im ersten Falle, 1, keine so geschlossene Einheit, sondern die Person zuzüglich ihrer Umgebung ist, darunter im Erinnerungsbild das Buch b, in der gegenwärtigen Wahrnehmung die Umgebungder Person ohne b.
524 Wenn man dieses einsieht, also daß alle Berührungs-reproduktionen und Gleichheitsreproduktionen letzten Endes derselben Art sind, nämlich das Treffen eines früheren Erlebnisses a durch ein ähnliches, gegenwärtiges Erlebnis A, wonach a seine Umgebung b mit sich zieht (indem A im ersten Falle den ganzen Freund, b das Buch, A im zweiten Falle die Nase des Freundes, b den übrigen Körper der zweiten Person umfaßt), scheint die Diskussion zwischen der Berührungs- und der Gleichheits-hypothese mir belanglos. Dasselbe gilt einer Diskussion zwischen den beiden dänischen Philosophen Hfiffding und Alfred Lehmann (vgl. Abhandlung des Letzteren in Schriften der Kgl. dänischen Gesellschaft der Wissenschaften, Reihe 6, Abt. 2, 1888 und Harald H0ffding: »Psykologiske Unders0gelser«, Reihe 6, Abt. 3, 1889). Lehmann, der ein Anhänger der BerührungsAssoziationstheorie war und der ableugnet, daß es ein unmittelbares Wiedererkennen gebe, scheint mir keine entscheidende Argumente für seine Auffassung ins Feld geführt zu haben. Der Theorie von der Reproduktion auf der Grundlage der Gleichheit wie beim unmittelbaren Wiedererkennen gegenüber bringt er das Folgende vor: »A ist nach dieser Anschauung ein jetziger Zustand, derselbe Zustand, nur dadurch von A verschieden, daß er z. B. gestern stattfand. Daß A a reproduziert, soll also aussagen, daß der jetzige Zustand den Zustand, der gestern vorhanden war, hervorbringt usw.« Diese ganze Betrachtung findet Lehmann mit Recht absurd. Aber sie hat leider den Fehler, daß Lehmann sie selbst gemacht hat. Die GleichheitsTheorie erkennt diese Absurdität überhaupt nicht an — nach ihr ist a eben nicht der Zustand, der gestern stattfand, denn der kommt, wie Lehmann richtig bemerkt, niemals wieder, a ist dagegen seine Nachwirkung, also kein aktueller, sondern lediglich ein potentieller Zustand. Es ist nicht schwierig, bei seinen Gegnern absurde Ansichten zu finden, wenn man sie ihnen selbst in den Mund legt. Ferner gibt es gar nicht den großen und scharfen Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Wiedererkennung, den Lehmann voraussetzt. Zwischen einer Vorstellung, die als aktuelles Erinnerungsbild vorhanden ist, und einer solchen, die nur als Disposition eines Erinnerungsbildes vorliegt, gibt es viele Grade und Übergänge. Warum sollte die Gleichheit nicht als unmittelbares Wiedererkennen empfunden werden können, wenn eine Wahrnehmung oder Vorstellung diese Disposition trifft? Dieselbe »Empfindung« einer Gleichheit trifft man in dem mittelbaren Wiedererkennen, nur ist sie um einen Grad stärker. Es ist also nur ein Gradunterschied zwischen unmittelbarem und mittelbarem Wiedererkennen vorhanden. Was in der neueren Psychologie Perzeption oder Auffassung von dem genannt wird, was wir sinnlich wahrnehmen oder uns vorstellen, wird von Brandt treffend als eine sinnliche Empfindung oder Vorstellung definiert, die von dem Bewußtsein von der Art des Wahrgenommenen oder Vorgestellten begleitet wird (Brandt II, 28). W i r erfassen oder perzipieren z. B. erst das Erscheinungsbild eines
525 Pferdes, wenn wir uns bewußt werden, daß der Gegenstand, den wir jetzt sehen, zu jenen Dingen gehöre, die wir oft früher gesehen haben, und der infolge dieser Ähnlichkeit von uns einer allgemeinen Gruppe oder Art, nämlich den Pferden, zugerechnet wird. Dieses Artsbewußtsein beruht völlig auf unserer Auffassung durch sinnliche Wahrnehmung und Vorstellung von Gleichheit und Verschiedenheit, indem diese letztere den Unterschied der Art oder der Gruppe von anderen Arten oder Gruppen darstellt. Auch Herbert Iversen kommt, wie früher angedeutet, ebenfalls auf das Phänomen des Wiedererkennens oder der Gleichheit zu sprechen. Von seinem besonderen Standpunkt, nämlich dem einzigen, mentalen Erlebnis heraus, fällt es ihm sehr schwer, diese Erscheinung zu erklären, denn »Vergleich zwischen zwei (oder mehreren) mentalen Zuständen ist natürlich strenggenommen unmöglich.« »Gemütlich gesprochen« könnte man sagen, daß eine gewisse Situation dieselbe sei wie eine andere, aber strenggenommen ist eine mentale Wiederholung nicht möglich. (Iversen S. 56, 48). Iversen ist ein scharfsinniger Psychologe, aber man kann nicht leugnen, daß er sich oft in eine außerordentlich weitschweifige und breite Darstellung verliert. Das gilt auch hier, wo er zu erklären sucht, wie das Bewußtsein Gleichheit findet, da diese Gleichheit ja unter Anderem die abstrakten Allgemeinbegriffe für viele Gegenstände schafft und uns in den Stand setzt, mittels Symbole (Zahlen, Buchstaben, anderer Zeichen), mit einer Mannigfaltigkeit von Gegenständen und Größen zur selben Zeit zu manövrieren (Iversen 48—69). Iversen nähert sich bisweilen dem Richtigen, aber wenn er es dennoch nicht erreicht und sich in eine Reihe langer Erläuterungen vertieft, liegt es meines Erachtens daran, daß seine Grundbetrachtung — das einzige Erlebnis, der einzige Mentalzustand — unrichtig ist. Damit kommt man auch nicht weiter und damit kann man in Wirklichkeit nicht einmal das einfachste Wiedererkennungs- oder Gleichheitsphänomen erklären, geschweige denn die umfassenden Allgemeinbegriffe und abstrakten Symbole. Der Grundfehler seines Denkens ist, daß er trotz Allem das »Tiefste« nicht erkannt hat, nämlich das, was ich im Text zu zeigen versucht habe: daß wir nicht einmal »das einzige Erlebnis« haben können, ohne neben den sinnlichen Wahrnehmungen dieses Erlebnisses die unterscheidende und vergleichende Tätigkeit oder Fähigkeit instinktiv anzuwenden, die über jenes Ereignis zu anderen, früheren hinausführt, da das »einzige Erlebnis« von uns überhaupt nur im Verhältnis zu anderen Erlebnissen, also entweder als ihnen gleich oder aber als von ihnen verschieden, aufgefaßt werden kann. Indem Herbert Iversen seinen Standpunkt konsequent verfolgt, gerät er überhaupt in die größten Schwierigkeiten, wenn er das Phänomen der Gleichheit, d. h. die Wiedererkennung eines früheren mentalen Zustandes, durch den gegenwärtigen erklären soll. Diese Erscheinung selbst setzt eine Selbstbeobachtung eines früheren,
526 mentalen Zustandes voraus — und das ist »aufrichtig gesprochen leerer Unsinn, da nichts Vergangenes beobachtet werden kann« (Iversen 326) (Der Kürze wegen wird im Folgenden »mentaler Zustand« in Übereinstimmung mit Iversen als MZ und mehrere solche durch MZZ bezeichnet). E r muß einräumen, daß gewisse Erlebnisse »bekannt« vorkommen (326), man könnte das »Bekanntschaftsqualität« nennen. Es ist aber nur »gemütlich gesprochen«, daß wir sagen dürfen, zwei MZZ seien einander ähnlich, Beide eine gemeinsame Eigenschaft besäßen (Iversen 315). Schließlich kommt Iversen, wie bereits erwähnt, überhaupt zu dem Ergebnis, daß es nur einen einzigen MZ gebe, nämlich den gegenwärtigen, den ich eben in diesem Augenblick habe. Vergangene und künftige MZZ existieren überhaupt nicht. Man könne überhaupt nicht wissen, daß irgend Etwas präsent gewesen sei oder werde (358 ff, 364). Es gebe allerdings einen MZ mit ultrapräsenter Qualität, das sei aber kein Beweis dafür, daß diese Qualität, nicht ebensogut täuschen, wie nicht täuschen könne. Die Darstellung Iversens davon (im Essay über die Zeit) ist außerordentlich breit geworden, weil er auch hier nicht nur von den alltäglichen üblichen Vorstellungen, sondern letzten Endes auch von seinen eigenen befreien soll. Das Letztere kommt ihm allerdings nicht völlig zum Bewußtsein. Er behauptet j a im ersten Essay, daß die deskriptive Psychologie die einzige eigentliche Wissenschaft sei; in diesem Bekenntnis zur Psychologie, zur Selbsterkenntnis, schließt er sich der großen Reihe von Denkern an, die von Sokrates über Locke bis zur Gegenwart gemeint haben, diese Erkenntnis sei die rechte Grundlage alles Wissens. Auch im Essay über die Zeit begegnen wir hin und wieder diesem Bekenntnis zur deskriptiven Psychologie (wie S. 343 ff), und diesen Standpunkt muß er j a auch festhalten, denn selbst seinen einzigen MZ oder sein einziges Erlebnis erreicht er nur durch die Psychologie, durch die Selbsterkenntnis. Denn eine psychologische Beschreibung stellt j a an sich einen mentalen Zustand oder ein Erlebnis dar. Er frägt aber mit Recht: »Kann ein mentales Erlebnis sich selbst beschreiben oder erklären?« Und kann etwas Vergangenes durch irgend ein gegenwärtiges »Verständnis« wieder hervorgerufen werden? Diese Fragen nennt er dann plötzlich logischmathematische Fragen und sagt, daß wir Gefahr laufen, daß »unsere deskriptiv-psychologischen Erklärungen von kräftigen mathematischen Zweifeln gebremst werden« (334). Aber Iversen hat j a selbst Mathematik und Logik zu mentalen Zuständen ohne objektive Gültigkeit herabgesetzt; ihre anscheinende Sicherheit in bezug auf Begriffe ist nur »gemütlich«. In seinem Essay über die Zeit sucht er nach dem letzten Datum, das nicht umstritten werden könne und das von jedweglichem Standpunkt aus »unbezweifelbar« sei. Er will damit jenseits aller Wissenschaft streben und »rücksichtslos« die mentale Sukzession und die Zeit untersuchen (355). Wenn er danach im Folgenden schließlich zu dem Ergebnis: dem einzigen Erlebnis, nämlich dem des Jetzt, kommt, so hat er dies durch eine Untersuch-
527 ung erreicht, die in einer »sorgfältigen Selbstbeobachtung« besteht, d. h. »was ich nach einem vorsichtigen Prüfen und Wählen erinnern zu können behaupten darf« (343). Aber er sieht dabei nicht, daß selbst dies: einen MZ zu erinnern, der nu wenige Sekunden zurückliegt, ihn zu prüfen und wählen und damit auch komplizierte Denkprozesse besonders mittels Unterscheiden und Vergleichen und also eine »unvorsichtige«, »gemütliche«, »verdächtige« Tätigkeit auszuüben zwingt. Iversen selbst glaubt in diesem Essay daran, daß eine deskriptive Psychologie möglich sei, und er sieht nicht, daß auch sie in Verdacht stehe und in Wirklichkeit durch seinen eigenen Standpunkt untergraben werde. Er versucht hier unentwegt, ob die Worte »mehrere sukzessive, ungleichartige Erlebnisse« in Verbindung mit dem, was er erinnert, stimmen oder nicht stimmen; und er erinnert und erkennt, d. h. wiedererkennt, bestimmte mentale Zustände (343—44). Aber in Wirklichkeit baut er hier, wie man sieht, auf Vergleichen und Unterscheiden zwischen mehreren MZZ, also auf einer »verdächtigen« Tätigkeit auf. In der Erläuterung des Zeitbegriffes zieht Iversen schließlich die letzte Folgerung seines Standpunktes; aber diese letzte Konsequenz ist so radikal, daß ich nicht umhin kann zu meinen, daß sie jede Untersuchung und damit auch die eigenen, vorhergehenden Erklärungen Iversens umschlägt. Hier sagt er z. B. daß ein mentaler Zustand keine Eigenschaft »haben« oder »besitzen« könne; er sei, was er ist, und nichts anderes. Eine »Eigenschaft« eines MZ setze eine Relation zu früheren MZZ voraus, nämlich entweder Gleichheit oder Verschiedenheit im Verhältnis zu einem früheren MZ. Vergangene oder künftige MZZ existieren aber nicht. Damit wird die Zeit über den Haufen geworfen. Eine mentale Änderung kann auch nicht zu jedem Zeitpunkt erlebt werden. Es ist nur eine »sogenannte Veränderung«, die erlebt werde. Iversen behauptet sogar, daß selbst eine »gleichzeitige Verschiedenheit oder Ungleichheit unmöglich ist, denn i. B. zwischen verschiedenen Bestandteilen eines Sehbildes zu unterscheiden und sie zu zählen, sind grobgemütliche Ausdrücke für neue MZZ« (352, 355-56, 358-59). Danach ist es eigentlich unmöglich, irgendwelchen MZ zu beschreiben, zu erwähnen, zu benennen, zu untersuchen oder zu erklären oder in anderer Weise »etwas mit ihm zu unternehmen«. »Die Möglichkeit einer jeden Annahme und Argumentation des Denkens, der Erkenntnis und des Wissens muß bezweifelt werden«. Die klassifizierten Einheiten der Mathematik und der Logik sind ebenso unmöglich, wie alle anderen Wiederholungen mentaler Zustände. Daß eine mathematische oder logische Bezeichnung, eine Konstante, ein Begriff Relation zu einem anderen habe, daß es Klassen u. ä. gebe, seien eben nur »Gemütlichkeiten«; von dieser Seite sei keine Hilfe zu erwarten (374, 375, 377). Das einzige, direkte Datum, der einzige MZ sei kein Jetzt; man könne ihn nicht charakterisieren und ihm keinen Namen geben, nicht einmal den Namen Jetzt. Es sei überhaupt sinnlos, ihm irgend-
528 welche Eigenschaft beizulegen, nicht einmal die Eigenschaft präsent. Er sei weder momentan noch dauerhaft, denn diese Ausdrücke setzen Relationen zu anderen Sachen voraus und seien also gemütliche Ausdrücke; sie setzen sogar die Zeit selbst veraus. Die Möglichkeiten nicht präsenter MZZ sei aber ein unbegründets Postulat. Mehrere Zeitpunkte vorauszusetzen, die Zeit zu introduzieren sei in Wirklichkeit ein verzweifelter Sprung (371, 376-77). Deshalb ist es inkonsequent, wenn Iversen an anderer Stelle davon spricht, daß ein MZ eine ultrapräsente Eigenschaft habe, z. B. den sogenannten Farbeneigenschaften oder den sogenannten Temperatureigenschaften beigeordnet sei (383). Aber abgesehen von solchen und einigen anderen, oben erwähnten Aussagen endet Iversens Untersuchung also damit, daß nur Eines: nämlich das »eine unfruchtbare, direkte Datum«, der eine MZ., heil übrig bleibe. Denn, wie im Texte gezeigt, ist jede Erkenntnis, auch jede Selbstbeobachtung sogar dieses einfachen Datums ohne die vergleichende und unterscheidende Fähigkeit unseres Bewußtseins gar nicht möglich; selbst die einfachste, sinnliche Wahrnehmung erfordert Gleichheit und Verschiedenheit. Der ganze Ausgangspunkt Iversens nämlich, das Erlebnis zu bestimmter Zeit — die sigmatische Situation, wie er sie nennt — ist also tatsächlich nur ein Gedankenprodukt, durch Vergleichen und Unterscheiden entstanden. Aber diese Tätigkeit des Erkennens vermittelt nach Iversen nur eine gemütliche Erkenntnis. Danach bleibt überhaupt nichts zurück, nicht einmal das letzte, einzige und direkte Datum. Die ganze Untersuchung Iversens ist also soweit davon entfernt (wie er selber glaubt) mißtrauisch zu sein, daß sie entgegengesetzt sogar tiefer gesehen nur gemütlich ist. Von Einzelheiten in der Untersuchung Iversens sei noch bemerkt, daß er in bezug auf Gleichheit und Verschiedenheit einsieht, daß wir durch Allgemeinbegriffe und die daran geknüpften sprachlichen Bezeichnungen eine Namensgebung oder rationelle Symbolisierung vornehmen, und daß wir dabei mentale Typen, d. h. typische Gleichheiten und Verschiedenheiten aufstellen. Diese Ausdrucksweise ist aber nach seiner Ansicht eigentlich zu locker (308). Unmittelbar danach verwendet er jedoch selbst unentwegt Verschiedenheit und Gleichheit bei der Aufstellung seiner mentalen Zustände und Vorgänge. Er hebt unter Anderem hervor, daß es mentale Zustände — von mentalen Prozessen verschieden — gebe, worunter solche sukzessiven Teile eines mentalen Prozesses zu verstehen sind, die sich durch Vergleich als von anderen Teilen verschieden erweisen, aber selbst in mehrere sukzessive Teile nicht aufgelöst werden können (308). Die (von mir hervorgehobenen) Worte zeigen klar, daß er in seiner Untersuchung um das Vergleichen und Unterscheiden und um die Wiedererkennung nicht herumkommen kann, deren Erkenntnisgültigkeit er sonst in seinen bewußten Aussagen verneint. — Derselben Inkonsequenz begegnet man S. 323, wo er ohne weiteres ein »zusammengesetztes Erlebnis« annimmt, das nämlich aus »zwei Ar-
529 ten von Elementen« bestehe: aus Wahrnehmungen und aus Gefühlselementen. Aber diese und andere psychologische Sonderungen und Gruppierungen können ja nur durch Vergleichen und Unterscheiden entstehen. Edgar Rubin hebt mit Recht Iversen gegenüber hervor, daß es eigentlich gar kein Problem in bezug auf das Verhältnis zwischen dem Gedanken und seinem Inhalt gebe, wenn es nach der Auffassung Iversens nur mentale Zustände gibt, und wenn keiner von diesen einen eigentlichen Inhalt hat, weil es streng genommen unmöglich ist, einen mentalen Zustand zu beschreiben und zu erklären — aber gleichzeitig wird streng genommen jede Erkenntnis damit verneint. Im Verhältnis zu diesem Standpunkt ist es indessen inkonsequent, mentale Zustände mit ultrapräsenter Qualität anzunehmen, denn damit sind wir zur Einsicht gekommen, daß mentale Zustände von Etwas handeln können, was allerdings frühere mentale Zustände berührt, aber selbst kein mentaler Zustand ist. Iversen kann deshalb um Bewußtseinsbildungen des Typus »Bewußtsein von« nicht herumkommen (Rubin: »En ung dansk Filosof og hans Vserk« 34, 35, 46, 48). Rubin vermißt bei Iversen eine Erklärung dafür, was man meint, wenn man sagt, daß eine Annahme wahr sei (43). Iversen kann darauf nur antworten: daß eine Annahme wahr sei, heißt, daß ich sie zu einer bestimmten Zeit als wahr erlebe. »Diese Behauptung hängt eng mit der anderen Behauptung Iversens zusammen: daß ein Zweck gut sei, heißt, daß ich ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt als gut betrachte.« S.
152
ff.
Bereits bei älteren Philosophen, Piaton, Aristoteles, Descartes und Hobbes finden wir Ansätze zu Unterscheidungen zwischen einem sicheren logischen Wissen und einem unsicheren, realen Wissen.
S.
Elementpsychologie
173-178.
und
Gestaltpsychologie
Die bisherige Erkenntnislehre und ihre Konsequenzen werden durch den Gegensatz zwischen Elementpsychologie und Ganzheits(Gestalt-) -psychologie nicht berührt, denn gleichgültig, ob ich meine gegenwärtigen, sinnlichen Eindrücke, wie z. B. einen Gesichtseindruck von dem Teil meines Zimmers, den ich überblicken kann, als eine Ganzheit von Farben und Dingen auffasse, oder ob ich die einzelnen Dinge durch Figuren und Farben und innerhalb des einzelnen Dinges die verschiedenen Farben und Figuren von einander unterscheide und von einander abstrahiere, sind meine sämtlichen Gesichtseindrücke und Abstrahierungen mein mentales Erlebnis in einem bestimmten Augenblick und haben nichts mit dem erkenntnistheoretischen Problem einer äußeren Welt zu tun, die hinter den 34
Erkenntnis und Wertung
530
Eigenschaften der sogenannten Dinge steht und Ursache der Gesichtseindrücke sein soll. Es spielt keine Rolle, ob wir den seelischen Komplex, den wir ein Ding nennen, sofort unmittelbar als eine Ganzheit auffassen, deren Glieder oder Eigenschaften wir erst nachher unterscheiden, oder ob wir zunächst diese verschiedenen Eigenschaften auffassen und sie erst danach zu einer Ganzheit zusammenfügen, denn in keinem Falle gelingt es uns, den Weg zu einer Substanz zu finden, die dahinter liegt. Wir fassen oft eine Ursache und ihre Wirkung als einen unmittelbaren »Wirkungs-Zusammenhang« auf; ich sehe in diesem Augenblick das Feuer und spüre in genau demselben Augenblick die Wärme in meinem Körper. Das aber erschüttert nicht — wie der Däne J0rgen J0rgensen mit Recht hervorhebt — die Behauptung Humes, daß keine allgemein notwendige Verbindung zwischen den sinnlichen Eindrücken der Ursache und der Wirkung, des Feuers und meiner Wärme, keine »innere« Verbindung hinter den Eindrücken, kein notwendiger Zusammenhang in der Umwelt vorhanden sein müsse, ein Zusammenhang, der in der Zukunft dieselben Eindrücke, Ursache und Wirkung, einander folgen lassen werde. — Das mentale Erlebnis Herbert Iversens in dem bestimmten Moment ist eben immer eine Ganzheit, die Alles befriedigt, was eine Ganzheits- (oder Gestalts-) psychologie verlangen könnte. Aber nach diesem mentalen Erlebnis hört alle Sukzession von Ursache und Wirkung in der Zeit, ja alle Zeit auf, wie Iversen hervorhebt. Auch Russell deutet diesen Gedanken an. Der Streit zwischen der Elementpsychologie und der Gestaltpsychologie scheint übrigens noch nicht gänzlich geklärt zu sein. Es war wahrscheinlich nie die Meinung Lockes, Berkeleys, Humes oder die anderer sogenannten Elementpsychologen, daß wir bei dem Anblick eines Pferdes erst im Augenblick 1) die Empfindung der braunen Farbe seines Körpers, dann im Augenblick 2) die des weißen Flecks an der Stirn, im Augenblick 3) die der weißen Socken, im Augenblick 4) die seiner Größe und Gestalt bekämen und daß wir dann im Augenblick 5) alle diese Eindrücke zu einer Ganzheit zusammensetzen. Diese Philosophen haben sich über diese Frage nicht in Einzelheiten ausgesprochen. Aber es gibt in ihren Aussagen nichts, das ausschließt, daß sie ganz natürlich gemeint haben, daß wir gleichzeitig, in demselben Augenblick 1) sowohl die verschiedenen Gesichtseindrücke (braunen Leib, weiße Socken usw.) auffassen und gleichzeitig sie alle zu einem Ganzheitseindruck, nämlich den eines Pferdes, zusammenfügen. Das wahre psychologische Verhältnis ist wahrscheinlich dies, daß wir im ersten Augenblick 1), in dem wir das Pferd sehen, einen mehr oder weniger unbestimmten, halb unbewußten Eindruck sowohl vom Pferd in seiner Ganzheit als auch von gewissen Teilen des Tieres erhalten. Danach kann es natürlich geschehen, daß wir in den Momenten 2), 3) usw. unsere Aufmerksamkeit bewußt auf seine Stirn oder seine Socken richten. Die Anschauung der Gestaltpsychologen, daß unsere Auffassung der Umgebung
531 und der Dinge in ihr uns eine seelische Ganzheit oder seelische Ganzheiten unmittelbar gebe, scheint danach im hohen Maße auf unsere Gesichtseindrücke hinzuweisen. Fügen wir indessen diesen unsere anderen Sinnesempfindungen, die Empfindung von Druck, von Bewegung u. ä. bei, muß man einräumen, daß die Elementpsychologen bis zu einem gewissen Grade das Richtige getroffen haben. In meiner Umgebung, d. h. in dem Abschnitt einer Wohnung, dem Teile eines Feldes usw., den ich im Augenblick überschauen kann, gibt es in der Regel eine oder mehrere Erscheinungen — besonders diejenigen, die wir Dinge nennen — die stärker dominieren als andere. Wir können sie die psychischen Dominanten nennen. Trete ich beispielsweise in ein Zimmer ein, in dessen Mitte ein großer Tisch steht, der im Verhältnis zu den anderen Gegenständen des Zimmers dominiert, trennt diese Dominante sich sofort von der übrigen Umgebung; sie tritt sofort aus der Ganzheit heraus und zerschlägt sie in dieser Weise. Von dieser Dominante, dem Tische, bekomme ich sicher sofort und ganz unmittelbar als Ganzheit einen Gesichtseindruck seines Umrisses und seiner Farbe (ohne die eine oder die andere dieser Eigenschaften hervorzuheben, jedenfalls nicht bewußt), Augenblick 1). Aber später, im Moment 2), 3) usw. bekomme ich, wenn ich den Tisch berühre oder um ihn herumgehe, Empfindungen von Druck, Muskeländerungen, die mir einen weiteren Eindruck von der Härte, der Form und der Größe des Tisches vermitteln, wie ich auch gleichzeitig neue Gesichtseindrücke vom Tisch (von der anderen Seite her gesehen) erhalte. Auch diese Eindrücke tragen zu meinem Gesamteindruck des Tisches bei. Und im Verhältnis zu diesen, durch mehrere zeitliche Zwischenräume fortgesetzten, einander supplierenden, sukzessiven, sehr verschiedenen Sinneseindrücken ist es unzweifelhaft richtig, daß wir in unserem Bewußtsein alle diese Eindrücke zu einer ganzen, jedoch zusammengesetzten Vorstellung des Tisches als eines Dinges sammeln. Dieser seelische Sammlungsvorgang geht ständig vor sich, oft mit langen Zwischenräumen, indem wir immer neue Eigenschaften der Dinge kennen lernen. Es ist insoweit etwas Richtiges daran, wenn man sagt, daß wir eine Reihe von Sinneswahrnehmungen zu einer Vorstellung eines Dinges zusammensetzen. Und in der wissenschaftlichen Untersuchung wird dieser Sammlungs- und Zusammensetzungsprozess bewußt. — Eine neuere, gründliche (allerdings nicht immer klare) Darstellung des Gedankenganges der Gestaltpsychologie gibt Wolfgang Köhler in seinem Werke: »Psychologische Probleme«, 1933. Diese Psychologie, die oft umfassende, experimentelle Untersuchungen hinter sich hat, beleuchtet den Ursprung derjenigen Einheiten der Anschauung, die wir Dinge nennen. Die Gestaltpsychologie behauptet, daß diese Einheiten von einander gesondert im Anschauungsfelde vorkommen, bevor ein Wissen von ihnen als Ding entstehe. Blindgeborene, die operiert worden sind, sehen die Gegenstände als abgesonderte Einheiten, selbst wenn sie nicht imstande sind, sie als Dinge 34*
532
wiederzuerkennen, mit denen sie durch Berührungserlebnisse vertraut sind. Dies Letztere bestätigt, was ich hier oben hervorgehoben habe, daß die Einheiten, die wir Dinge nennen, erst — selbst wenn sie im Gesichtsfelde abgesondert vorkommen — ihren vollen Sinn und Umfang durch ein erworbenes Wissen von anderen Eigenschaften des Dinges als Gestalt, Farbe und Größe erhalten (Vgl. Köhler, »Psychologische Probleme«, 1933, besonders S. 93 ff., 118 ff.). Eine klare und wertvolle Untersuchung, die sich auf besonders aufschlußreiche, experimentelle Untersuchungen stützt, gibt der Däne Edgar Rubin in seinem Buche »Synsoplevede Figurer«, Kopenhagen 1915. Er ist der Erste, der in der Auffassung des Gesichtsfeldes eine Sonderung zwischen Gestalt und Grund eingeführt hat. Wir fassen in der Regel unser Gesichtsfeld als bestimmt ausgesonderte und ausgestaltete Figuren auf, die gegen einen mehr oder weniger unbestimmten Hintergrund erscheinen. Der Unterschied zwischen Gestalt und Grund ist also der, daß die erlebte Gestalt stets Form hat, während der erlebte Grund keine besondere bestimmt geprägte Form besitzt. Die Teile des Gesichtsfeldes, die als Gestalten erlebt werden, sind meistens diejenigen, die wir Dinge nennen (Vgl. Rubin S. 29 f.). Oder wie Rubin sich ausdrückt: »Der Unterschied zwischen den beiden erlebten Gegenständen (Gestalt und Grund) läßt sich dadurch beschreiben, daß die Gestalt eher den Charakter eines Dinges und der Grund den eines Stoffes besitzt« (S. 45). Bei einer Zusammenfassung des Vorhergehenden können wir kurz hervorheben: wir erleben im Gesichtsfeld die einzelnen Eigenschaften — die Farbe oder die Gestalt eines Dinges — nicht isoliert, sondern unmittelbar im Ding als eine Ganzheit — doch oft mit einzelnen, besonders hervorgehobenen Zügen. Wir fassen die Dinge auch nicht gänzlich isoliert, sondern gegen den Hintergrund anderer Dinge und anderer sichtbarer Erscheinungen und im Zusammenhang mit diesen auf. Bereits im Gesichtsfeld unterscheiden wir bis zu einem gewissen Grade zwischen den einzelnen Dingen als abgesonderten Einheiten, aber wenn die anderen Wahrnehmungen — von Bewegung, Berührung, Druck u. ä. — dazu kommen, wird die Auffassung vollständiger und zu unserer normalen Vorstellung des Dinges. Es gibt andere anschauliche, selbständig abgesonderte Einheiten als diejenigen, die wir Dinge nennen, z. B. ein Feuer, eine Wolke. Oft werden die abgesonderten Einheiten, seien sie nun Dinge oder Anderes, in dem besonderen Zusammenhange mit einander erlebt, den man den Wirklichkeits-Zusammenhang genannt hat, in dem die Einheiten a, z. B. ein Feuer, eine Änderung der Einheit b, z. B. des Dinges Blei, bewirkt. Die neuere Psychologie hat mit Recht hervorgehoben, daß diese beiden Eindrücke von uns nicht als eine bloße Sukzession, sondern als ein Zusammenhang empfunden werden, von denen der eine, das Feuer, von uns als dasjenige aufgefaßt wird, was dem anderen, nämlich die Änderung des Bleies, also dessen
533 Schmelzen, bewirkt. Noch stärker empfindet man diese »Bewirkung« z. B., wenn ein Feuer schnell das trockene Gras auf einem Felde verzehrt, wobei das Feuer direkt über das Gras hinwegläuft und es vernichtet. Wenn ein plötzlicher Lichtstrahl das Auge des Menschen blinzeln macht, empfindet der Mensch auch unmittelbar und intensiv diese Bewirkung. Hume würde hier behaupten, daß in der sinnlichen Wahrnehmung auch in diesem Falle nur Sinnesempfindungen in Sukzession wirksam seien, im ersten Falle: der Anblick der Flammen, das Knistern des trockenen Grases und die Änderung des Grases in verkohlte Reste, im letzten Falle: die Gesichtsempfindung des plötzlichen, starken Lichtes und der schnellen Bewegung der Lider. Dennoch steht es fest, daß wir hier eine starke Empfindung des Wirkungs-Zusammenhanges, nämlich davon haben, daß das Feuer die knisternde Umwandlung des Grases in verkohlte Reste, und daß der plötzliche Lichtsein mein Augenblinzeln veranlassen. Wir drücken auch diesen aktiven Zusammenhang mehr unbestimmt aus, indem wir sagen, daß das Feuer die Kraft habe, das Gras zu verzehren, der Lichtschein das Auge blinzeln zu machen.
S. 164 f f . Über Kants »apriorische« Methode. Die Methode der englischen Erkenntnislehre ist empirisch-psychologisch. Kant wollte diese Methode nicht anwenden, sondern behauptete, die von ihm angewandte sei apriorisch, transzendental. Damit meinte er, daß die Untersuchung der Erkenntnislehre aller Erfahrung vorausgehen und von ihr unabhängig sein müsse, da jede Erfahrung, auch die psychologische, gewisse Geistesformen verwende, und diese Formen der Struktur des menschlichen Geistes entstammen und also apriorisch seien; sie seien aber gleichzeitig die Vorbedingung jeder Erfahrung. Diese apriorischen Geistesformen können nur durch eine apriorische, außerhalb aller E r f a h r u n g liegende (transzendentale) Untersuchung festgestellt werden. Wenn eine Methode nach ihren Früchten beurteilt wird, m u ß die Methode Kants schon aus diesem Grunde als unhaltbar betrachtet werden, denn sie hat, wie im Texte erwiesen, zu einer Reihe von Sonderungen und Behauptungen geführt, die teils unbeweisbar, teils unrichtig sind. Aber die Frage ist danach: ist es überhaupt richtig, daß Kants Methode einen Gegensatz zu der seiner englischen Vorgänger darstellt? Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, was man unter dem Worte »apriorisch« versteht. Wie ich an anderer Stelle nachgewiesen habe, faßt man das Wort »apriorisch« in drei verschiedenen Bedeutungen auf. Wir beschäftigen uns zuerst mit der dort angeführten, dritten Bedeutung.
534 »Apriorisch« in der Bedeutung 3): eine Erkenntnis, die ganz durch die besondere Struktur unseres Geistes und nicht durch die von Außen kommenden Eindrücke geschaffen worden ist, die aber unsere Auffassung derselben bestimmt, kann nicht aufrechterhalten werden, da alle Betrachtungen darüber freie Spekulationen sind. Die sinnlichen Wahrnehmungen und die Relationen sind beide allgemeine und notwendige Glieder unserer Erfahrung in dem Sinne, daß jede dieser Gruppen von Erkenntnismitteln als Ganzes genommen in der Erfahrung unentbehrlich sind; sie sind aber nicht in dem Sinne notwendig, daß jede innerhalb der Gruppe, z. B. die Farbenempfindung oder das Kausalitätsverhältnis, zu jeder Erfahrung allgemein und unumgänglich gehöre. Ich kann beispielsweise Licht ohne Farbe, Gleichheitsverhältnisse ohne Kausalitätsverhältnisse erfahren. Und unter keinen Umständen können wir aus dem allgemeinen und notwendigen Charakter der Erkenntniselemente (der sinnlichen Wahrnehmungen oder der Relationen) für die Erfahrung die Schlußfolgerung ziehen, daß sie als subjektive Erscheinungsformen in uns liegen. Das Einzige, was man mit Sicherheit sagen könnte ist nur, daß die eine oder die andere sinnliche Wahrnehmung notwendig sei, damit wir erfahren können. Aber wir wissen nichts davon, ob die sinnlichen Wahrnehmungen oder die Relationen nur in uns liegen oder nicht. Die Methode Kants kann also nicht aus dem Grunde apriorisch genannt werden, daß sie von apriorischen Geistesformen der Erfahrung handelt, da man innerhalb der Erfahrungserkenntnis zwischen apriorischen und nicht apriorischen Bestandteilen in diesem Sinne überhaupt nicht unterscheiden kann. Aber die Erkenntnislehre Kants ist ferner gewiß auch nicht in dem Sinne apriorisch, wie es als 1) angegeben worden ist: nämlich als ein allgemeines, absolut sicheres (apodiktisches) Wissen, dessen Elemente wohl aus der Erfahrung stammen, dessen allgemeine Behauptungen aber die Erfahrung nicht angehen und von jeder Erfahrung, jeder sinnlichen Wahrnehmung — wie z. B. die Mathematik, deren unveränderliche Figuren, Größenverhältnisse und Allgemeingültigkeit wir selbst angenommen haben — unabhängig sind, denn die wichtigsten Behauptungen in der Erkenntnislehre Kants sind so weit von der absoluten Gewißheit entfernt, daß sie, wie oben klargestellt, ganz entgegengesetzt völlig unbeweisbar sind. Schon aus diesem Grunde sind sie auch nicht in der Bedeutung 2) apriorisch: als Behauptungen, die eine Erfahrung in der Zukunft betreffen, was der Fall ist, wenn wir von einem Gliede in einem gesetzmäßigen Zusammenhang auf das zweite Glied schließen, von denen entweder das erste oder das zweite Glied noch nicht sinnlich wahrgenommen ist (von Wirkung auf Ursache oder von Ursache auf Wirkung), denn seine Behauptungen sind ganz allgemein sowohl mit Rücksicht auf Vergangenheit, Gegenwart als auch Zukunft unbeweisbar. Schließlich muß auch hervorgehoben werden, daß Eines die Methode sei, von der ein Denker behauptet, daß er sie verwende und die
535 er auch zu verwenden glaubt, und ein Anderes die Methode, die er tatsächlich benutzt. Untersucht man die Methode, die Kant faktisch anwendet, zeigt es sich, daß sie empirisch, erfahrungsmäßig, psychologisch ist, und zwar sogar in der Bedeutung, in dem Sinne in dem Kant selbst Erfahrung auffaßt. Er sagt nämlich, Erfahrung sei das Produkt, das unser Verstand schaffe, indem er den rohen Stoff der sinnlichen Wahrnehmungen verarbeite. Und selbst wenn in der Verwendung des Wortes Erfahrung durch Kant ein gewisses Schwanken bemerkbar ist, wird seine eigentliche Meinung doch in dem oben angeführten und in verwandten Äußerungen deutlich, das aber heißt, daß Erfahrung für Kant gleich sinnliche Wahrnehmungen plus Relationen, Sinneswahrnehmungen in Raum-, Zeit-, Gleichheit und Verschiedenheit, Ursachen und Wirkungszusammenhängen ist. Wie ich aber im Vorhergehenden gezeigt habe, ist die Erkenntnislehre Kants mit ihren Hauptgruppierungen — sinnlichen Wahrnehmungen, Antschauungsformen, Verstandesformen u.s.w. — und ihrer Grundbetrachtung, daß unser Geist die Sinneswahrnehmung als Stoff, der von dem Ding an sich kommt, »hervorbringe« oder »bearbeite«, eben psychologische Erfahrung in der von ihm selbst genannten Bedeutung: als psychische Elemente im Zeit-, Gleichheits- und Verschiedenheits-, Raum- und Kausal-zusammenhang, wenn seine Erfahrung auch ungenügend ist und er unberechtigte Schlußfolgerungen aus ihr zieht. Wenn Kant glaubt, daß diese seine empirische, psychologische Methode eine apriorische, transzendentale Methode sei, unterliegt er selber unbewußt einer entscheidenden Grundlagen-Illusion (vgl. oben S. 164). Er bewegt sich methodisch im Kreise. Er will seine Erkenntnislehre nicht auf die Erfahrung bauen, denn er will diese, ihre Elemente und ihre Relationen eben kritisch prüfen, benutzt aber bei dieser Untersuchung, wie gezeigt worden ist, eben diese Erfahrung, ihre Elemente und Relationen, nämlich psychologische Elemente in den Relationen, ohne sich dessen bewußt zu sein.
Zur Frage der
S. 169. Grundlagen-Illusion
Bei verschiedenen, philosophischen Schriftstellern findet man hin und wieder verstreute Bemerkungen, die die Frage des Kreisschlusses in der Erkenntnislehre berühren, aber nur selten wird die Frage der Grundlagenvernichtung gestreift. Es gibt auch keine zusammenhängende und tiefergehende Untersuchung des gesamten Problems, das ich die Grundlagen-Illusion genannt habe. Einer der ersten Kritiker Kants, Jacobi, hob in seiner Schrift von 1787 in bezug auf die Anwendung des Kausalitätsbegriffes bei Kant hervor, daß dieser folgerichtig jede Existenz außerhalb unserer Vorstellungen verneinen und wie Hume einen reinen Subjektivismus oder Idealismus behaupten müßte. Die Annahme eines Dinges an sich als Ursache
536 unserer Wahrnehmungen streite gegen die eigene Lehre Kants vom Kausalbegriff als einer Geistesform, deren Anwendung nur innerhalb des Gebietes der Erfahrung gültig sei (Vgl. Höffding II, S. 57). W i e ich im Text oben hervorgehoben habe, ist dieser Einwand wohl richtig, aber die entscheidende Grundlagen-Illusion bei Kant liegt meiner Ansicht nach darin, daß er überhaupt ein Ding an sich annimmt, was er nur mittels unserer Auffassung von Verschiedenheit und Gleichheit tun kann, einer Verstandesform, die Kant selbst nur als für das Gebiet der Erfahrung gültig anerkennt. G. E. Schultze: Aenesidemus, 1792, läßt sich auch auf eine Kritik von der Anwendung des Kausalsatzes durch Kant ein: »Offenbar bringt ja nämlich der Verfasser der Vernunftkritik seine Antwort auf das allgemeine Problem: W i e nothwendige synthetische Sätze in uns möglich sind? nur dadurch zu Stande, daß er den Grundsatz der Kausalität auf gewisse Urtheile, die nach der Erfahrung in uns da sind, anwendet, diese Urtheile unter den Begriff von Etwas subsumiert; und dieser Subsumption gemäß das Gemüht für die wirkende Ursache derselben annimmt und ausgibt«, (obenerw. Werk, S. 104). »Allein diese Ableitung der nothwendigen, synthetischen Urtheile von einem Dinge an sich würde auch offenbar dem ganzen Gebiete der kritischen Philosophie widersprechen und eine Erkenntnis voraussetzen, welche nach ihr für den Menschen gar nicht möglich sein soll« (S. 117). »Nun ist aber weder das Entstehen der verschiedenen Bestandtheile der menschlichen Erkenntnis, noch auch das Gemüt und seine Handlungsweise ein Gegenstand der Erfahrung und beyde sind uns in keiner einzigen empirischen Anschauung gegeben: Also ist es auch nach der Vernunftkritik gänzlich ungereimt, den eigentlichen Ursprung unserer Erkenntnis und besonders den Ursprung derselben aus dem Gemüthe oder die wahre Handlungsweise von diesem, und daseinige, was es zur wirklichen Erkenntnis beyträgt, jemals einsehen zu wollen.« (S. 129). > Bei einzelnen Kritikern der neueren Zeit wird der Kreisschluß als Einwand gegen die kritische Philosophie nach Kants Methode berührt. Aber der Einwand wird abgewiesen. Arthur Liebert spricht z.B. an einer Stelle seiner Schrift: »Kritische Philosophie« (2. Aufl. 1923) von dem scheinbaren »Zirkel in der grundsätzlichen Fragestellung« (S. 8—13); aber seine Bemerkungen darüber sind sehr unklar. Er frägt zuerst, wie die kritische Philosophie überhaupt möglich sei, wenn die systematische Kritik dem Kritizismus selber, als aus dem Begriff und der Bedeutung des Kritizismus hervorgewachsen, übertragen wird. Diese kritische Theorie scheint sowohl Gegenstand und Objekt als auch Subjekt dieses Gegenstandes zu sein. Dennoch meint er, daß dieser Versuch durchaus logisch möglich und sachlich durchführbar sei (S. 9). Es ist Liebert doch nicht gelungen, irgend eine Begründung dafür zu geben. Er will zwischen Theorie und Prinzip der Theorie unterscheiden, aber in den folgenden Bemerkungen kommt er doch zu keinem entscheidenden Ergebnis (10 f f . ) . Er meint, wie Kant, die Frage durch irgendeine psychologische Methode nicht lösen zu können (S. 4 f.), sondern nur durch
537 eine Methode, die er die kritisch-phänomenologisch-systematische nennt (S. 23 ff.). Was aber damit gemeint wird, scheint völlig unklar. Die letzte Quelle oder Instanz solle sein, was er die Idee der systematischen Einheit der Vernunft nennt (S. 26). Verwandte Ausdrücke findet man bei Kant (vgl. z. B. den Anfang des Abschnittes »Analytik der Begriffe« in der »Kritik der reinen Vernunft«). Liebert sagt: » . . . die Systematik und systematische Einheit der V e r n u n f t . . . ist, wenn man so will, die einzige Voraussetzung, die das transzendentale Verfahren macht, eine Voraussetzung, die wohl nicht gut abzulehnen ist, da sie die Voraussetzung schlechthin, die Voraussetzung der Erkenntnis überhaupt, bedeutet« (S. 29). Was diese systematische Einheit der Vernunft, die die oberste Instanz der kritischen, transzendentalen Philosophie sein solle, eigentlich ist, wird nicht näher erklärt. Ausdrücke wie »die Gesetzmäßigkeit der Vernunft«, »die teleologische Systematik der Vernunft« (vgl. im Ganzen S. 26—28) bringen uns der Sache nicht näher. — Alf Nyman berührt in seiner Abhandlung »Psychologism mot Logism«, 1917, die Frage des Verhältnisses zwischen der Psychologie und der Logik. Er sagt von Kant, daß es eine Frage sei, ob er der Psychologie Eintritt in die Erkenntnislehre gegeben habe und ob es ihm gelungen sei, die transzendentale Methode von allen psychologischen Rücksichten frei und ungetrübt zu halten (S. 11). An anderer Stelle sagt dieser Autor, man könne nicht behaupten, daß die Logik auf die Psychologie baue, sondern daß entgegengesetzt die Psychologie als wissenschaftliche Theorie betrachtet sich auf die Logik und ihre Gesetze stütze, denn die Psychologie setze selbstverständlich die Gültigkeit des Wahrheitsbegriffes für ihre auf Observationen aufgebauten Erfahrungssätze (Assoziations- und Reproduktionsgesetz u. a.) voraus — ihre Schlußfolgerungen verlaufen nach den allgemeinen Regeln der Logik. Diesen Kreis könne »der Psychologism« niemals sprengen (S. 17—18). Eine tiefere Erläuterung gibt der Autor indessen nicht, und die eigentliche Grundlagen-Illusion wird nicht berührt. — In mehreren Aufsätzen der Zeitschrift »Kantstudien« findet man Beiträge zu einer kritischen Beleuchtung der kantischen Erkenntnistheorie, aber nur hier und dort kommen Bemerkungen vor, die das Grundlagenproblem berühren. In einer Abhandlung in den »Kantstudien« ( l . B a n d 1897) von E. Adickes: »Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwickelung und die beiden Pole seines Systems« (S. 9—59) wird hervorgehoben, daß die Methode Kants in Wirklichkeit eine psychologische sei: »Daß Kants sogenannte transzendentale Methode in Wirklichkeit eine rein psychologische ist, daß seine transzendentalen Beweise ihren Zweck nicht erreichen und im Grunde aus nichts als aus psychologischen Erörterungen und Hypothesen zusammengesetzt sind, ist mir persönlich nicht zweifelhaft« (S. 57). (Vgl. auch Heinrich Maier: »Die Bedeutung der Erkenntnistheorie Kants für die Gegenwart«, »Kantstudien«, Band 2, 1898, S. 404 ff.) J. Mirkin: »Hat Kant Hume wiederlegt?«, »Kantstudien«, Band 7, 1902, hebt hervor, daß Kant das
538 Kausalitätsproblem Humes nicht gelöst habe. Dieser Verfasser sagt: »Die Kantische Beweisführung für die Apriorität ebensowohl des Substanz- wie des Kausalitätsbegriffes ist unhaltbar und beruht auf Mißverständnissen: so daß wir auch die Frage, ob Kant in bezug auf den Substanz- und den Kausalitätsbegriff Hume widerlegt habe, entschieden mit einem Nein beantworten müssen« (S. 299). H.Spitzer, der sich auf die Kritik des oben erwähnten G. E. Schultze stützt, erklärt in einer Abhandlung: »Der unausgesprochene Kanon der Kantischen Erkenntnistheorie«: »Die objektive Zeitordnung, die nach Kant durch die Kausalbetrachtung ermöglicht werden sollte, geht also in Wirklichkeit viel mehr dieser voran und ist eine ihrer Grundlagen. »(S. 51). »Den einen Fall verbotener, nämlich nach Kants eigenen Grundsätzen verbotener Anwendung des Kausalgedankens hat bekanntlich Aenesidemus-Schultze aufgedeckt, indem er die Rolle erörterte, die der Vermögensbegriff in der Kritik der reinen Vernunft spielt. Dieser Begriff ist eine Modifikation oder Spezialisation des Ursachenbegriffes: das Vermögen, die Kraft, Anlage, Fähigkeit, und was sonst für Synonyme man wählen möge, bedeutet nichts als eine beharrende Grundursache, die bei Hinzutreten anderer, der auslösenden oder Gelegenheitsursachen sich betätigt oder entfaltet. Die Vermögen, welche die Vernunftkritik in Anspruch nimmt und welche, indem sie sich in Tätigkeit setzen, die Welt der Erscheinungen hervorbringen, liegen nun offenbar nicht diesseits, sondern jenseits und hinter der phänomenalen Welt, die ja erst durch die Aktion der Vermögen erzeugt wird« (S. 54 ff.). H. Driesch betont in einem Aufsatze »Skizzen zur Kantauffassung und Kantkritik« (Kantstudien, Band 22, 1917): »Daß die ungeprüften Voraussetzungen der Kantischen Lehre von Empfindungen, Raum und Zeit metaphysisch, und zwar von der naiv-realistischen Art sind, wird wohl allgemein zugestanden« (S. 83). Paul Hof mann erklärt in einem Aufsatz in den »Kantstudien«, (Band 31, 1926, S. 3 3 0 - 3 4 3 ) : »Riehls Kritizismus und die Probleme der Gegenwart« seine Bedenken gegen Riehls Anwendung des Prinzips von der Einheit des Bewußtseins zur letzten Begründung des logischen Aprioris überhaupt. Riehl führe, sagt er, hier einen Gedanken Kants mit voller Konsequenz durch. Kant finde in der »Synthetischen Einheit der Apperzeption« den höchsten Punkt, an den man die gesamte Verstandesverwendung, sogar die ganze Logik und nach ihr die Transzendentalphilosophie anknüpfen müsse. »Warum hat dieses Prinzip von der Einheit des Bewußtseins seine Gültigkeit? Kant antwortet: Weil die Mannigfaltigkeit des Gegebenen» an sich «verstreut sei, müsse es nicht nur im Subjekt, sondern auch vom Subjekt gesammelt (verbunden) werden. »Wer sieht nicht, daß diese Begründung metaphysische Voraussetzungen einschließt, daß sie also nicht rein sinn-analytisch ist? Es heißt doch hier: die Mannigfaltigkeit kommt aus den realen Dingen an sich; auf deren mannigfaltige Reize reagiert das Bewußtsein mit einer »psychologischen« Einheitsfunktion; und ohne diese letzte könnte vielleicht überhaupt kein Bewußtsein, sicherlich aber keine
539 Erkenntnis von Gegenständen zustande kommen. Gewiß habe ich hiermit schon mehr gesagt, als ich bei Kant und Riehl explicite gesagt finde. Will man aber diese Art der Deduktion ablehnen, so sehe ich nicht, wie man die Gültigkeit des Prinzips der Einheit des Bewußtseins (genauer den erlebten Gültigkeitssinn seiner Anwendungen) selbst verständlich machen will. Hier kann, wie ich glaube, nur eine vertiefte Sinnanalyse der Urphänomene des Erlebens den Ring der Zirkelerklärungen durchbrechen« (S. 342 ff.). Eine solche »Analyse« gibt der Autor indessen nicht. Ein Aufsatz in den »Kantstudien« (Band 39, 1934, S. 156-187) von Gerhard Krüger: »Der Maßstab der Kantischen Kritik« ist seinem Inhalt nach eine sehr abstrakte Spekulation. Hin und wieder findet man Andeutungen des Grundlagenproblems, aber sie werden nicht näher verfolgt. Seite 156—57 heißt es z . B . : »Auf der anderen Seite ist es nur zu begreiflich, daß Kant in einen (wirklichen oder scheinbaren) Zirkel geriet: denn wie soll man das Vermögen zur Metaphysik untersuchen, wenn man es nicht irgendwie an seiner Aufgabe, also doch im Blick auf die Untersuchung metaphysischer Gegenstände messen kann?« An anderer Stelle heißt es: »Soll die Kritik ursprüngliche Kritik der Erkenntnis in ihren Prinzipien sein, dann muß sie zwar diese Prinzipien als gegeben voraussetzten, aber ohne sie selbst mit ihrer eigenen Hilfe erklären zu wollen« (S. 159). In derselben Zeitschrift (Band 41, 1936) wird in einem Aufsatz von Hugo Dingler: »Methodik statt Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre« zwischen der Erkenntnistheorie in zwei Bedeutungen unterschieden, nämlich: a) einer Theorie der vorhandenen Erkenntnis und b) einer Theorie über die Erkenntnis, die erworben werden soll (S. 3 4 6 ) : »Wie kann eine Theorie vorhandener Erkenntnis gegeben werden, ohne selbst schon Erkenntnisse dabei zu benutzen, also vorauszusetzen (Hegel) (S. 347)«. Seit Locke wurde die Erkenntnistheorie in der Bedeutung a) aufgefaßt (S. 347). Kant ist in seiner Einstellung gespalten. Im Anschluß an Kant hebt er den Zirkelschluß in der empirischen Psychologie hervor; »Versucht man, wie es z. B. von Fries geschehen ist, Logik und Erkenntnistheorie auf die Wissenschaft der Psychologie zu gründen, so liegt offenbar ein sogenannter Zirkel oder, um einen Ausdruck der alten Skeptiker zu gebrauchen, eine Diallele vor« (S. 374). Notwendige Vorbedingung eines solchen Zirkels ist also, daß zu begründende Dinge benutzt werden, bevor sie diese Begründung erhalten können. Daraus folgt schon: die Verwendung von Nichtzubegründendem kann keine Zirkel verursachen, auch wenn dabei Worte benutzt werden müssen, die äußerlich identisch sind mit später zu begründenden Begriffen« (S. 374). Der dänische Philosoph Fritjof Brandt berührt am Schluß seines Lehrbuches: »Formel Logik« 1933 die Frage des Zirkelschlusses bei den logischen Prinzipien, indem er S. 92 sagt: »Wenn die logischen Prinzipien Grundprinzipien sind, können sie nicht bewiesen werden, denn dann sind sie j a eben diejenigen Prinzipien, die jedem Beweise zu gründe liegen. Folglich können sie nicht selber bewiesen
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werden. Da man die logischen Prinzipien aber durch eine Analyse gefunden hat, kann man niemals ganz sicher sein, daß man die Analyse bis zum letzten Ende geführt habe. Es kann sein, daß es noch tiefer liegende logische Prinzipien gebe . . . Wenn jemand die Gültigkeit der aufgestellten Prinzipien verneinen will, muß er andere Prinzipien aufstellen und von ihnen aus raisonnieren. Aber etwas Derartiges scheint nicht möglich. Wer z. B. die Gültigkeit des Identitätsprinzipes verneinen würde, aber dennoch meint, daß eine solche Verneinung, um irgendwelchen Sinn zu haben, festgehalten werden müsse, hat bereits dadurch das Identitätsprinzip anerkannt. Derjenige, der z. B. die Gültigkeit des Dualitätsprinzipes anzweifelt, aber dennoch der Ansicht ist, daß es entweder gültig oder nicht gültig sei, hat ebenfalls durch seine Zweifel bereits das Dualitätsprinzip anerkannt.« Es ist auch die Zirkularität, auf die Leonard Nelson in seinem Buche: »über das sogenannte Erkenntnis-Problem«, 1908, eingeht. In dieser Abhandlung (Glied einer Reihe von Abhandlungen verschiedener Autoren zur Wiederbelebung der Philosophie von Fries) gibt Nelson eine scharfsinnige Kritik von Kant und den Neukantianern (angef. Werk S. 581—646) und sucht im übrigen die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie durch eine philosophiegeschichtliche, kritische Durchprüfung Kants und einer Reihe anderer, deutscher Erkenntnislehrer klarzustellen (648), während er dagegen keine entsprechende Kritik der englischen Erkenntnistheoretiker gibt. Er entlarvt verschiedene Zirkelschlüsse und behauptet vor Allem, daß die Erkenntnistheorie, d. h. der Versuch, eine objektiv gültige Erkenntnis zu begründen, auf einem Zirkelschluß beruhe, indem sie dasjenige, was sie beweisen sollte, nämlich eine gültige Erkenntnis, voraussetzt und verwendet. Dagegen hat Nelson das Problem, das die Hauptsache meiner Erkenntnislehre bildet, nämlich das Problem der Grundlagenvernichtung, das nichts mit der Zirkularität zu tun hat, nicht gesehen, geschweige denn behandelt. Denn während diese nur darin besteht, daß man von dem ausgeht, was man beweisen sollte, besteht die Grundlagen-Illusion eben darin, daß man die Denkformen kritisiert und als Resultat ihre Ungültigkeit behauptet und doch gleichzeitig unbewußt dieselben Denkformen verwendet, um dieses zu beweisen; es ist diese Illusion, von der ich gezeigt habe, daß sie sowohl der Erkenntnislehre der englischen Philosophen wie Locke, Hume und Berkeley als auch derjenigen Kants und der neueren, deutschen Philosophen zugrunde liegt und überhaupt den Hauptirrtum der bisherigen Erkenntnislehre bildet. Im übrigen stützt sich Nelsons eigene Auffassung des Erkenntnisproblems, genau wie die seines Vorbildes Fries, auf Etwas, das er die unanschauliche, unmittelbare Erkenntnis nennt und die die Grundlage einer Vernunftkritik sein soll, aber sonst sehr unklar ist. T. H. Green berührt in der Einleitung zu den von ihm und Grose herausgegebenen philosophischen Werken Humes hin und wieder zirkuläre Gedankengänge bei Locke und Hume und an einzelnen Stellen auch Grundlagen-Illusionen. So erklärt Green z. B. daß die pri-
541 mären Qualitäten, von denen Locke spricht, nämlich Masse und Gestalt der Körper in Wirklichkeit den Raum voraussetzen und folglich wie dieser selbst »relations«, also »inventions of the mind« seien (Vgl. Green S. 89 ff., auch S. 40). Weiter hebt Green hervor, daß die Relationen bloße Fiktionen seien, wenn Hume konsequent sein würde, da sie nicht, wie z. B. Gleichheit und Verschiedenheit oder Identität, auf irgend welche »impressions« zurückgeführt werden können. Diese »impressions« geraten wohl in einen »perpetual flux of succession«, aber »just so far, as they are qualified by likeness or unlikeness to each other, they must be taken out of that succession by something which is not itself in it, but is indivisibly present to every moment of it. This we may call soul, or mind, or what we will«. Aber damit fällt die Grundlage für die Polemik Humes gegen die Vorstellung eines Selbst, einer Seele, eines Geistes, fort. (Vgl. Green, S. 175-76, 173-73, 295-98). Auch innerhalb der neueren, scholastischen Philosophie werden, besonders innerhalb des erkenntnistheoretischen Skeptizismus und des Idealismus, zirkuläre Gedankengänge berührt und kritiziert, beispielsweise von Joseph de Vries: »Denken und Sein«, 1937, (S. 120 ff., 137 ff.), A. Lehman: »Lehrbuch der Philosophie«, (I, S. 150 ff.). Am einer Stelle im Werk des letztgenannten Autors wird auch eine Grundlagenvernichtung erwähnt, nämlich bei Kant, indem Lehman (oben angf. W. S. 211) hervorhebt, daß Kant eine kritische Untersuchung der reinen Vernunft geben will und in bezug auf die Fähigkeit dieser Vernunft, die Welt zu erkennen, Fragen und Zweifel erhebt, aber doch selber während dieser Untersuchung eben diese Vernunft anwendet.
Wie man bemerkt, berühren die oben erwähnten verstreuten Stellen bei den einzelnen Autoren a. die Zirkularitäten (den Kreisschluß, petitio principii) in gewissen erkenntnistheoretischen und logischen Gedankengängen, aber in der Regel nicht b., dasjenige, was ich die Grundlagenvernichtung oder die eigentliche Grundlagen-Illusion genannt habe, die — soweit ich es beurteilen kann — den Hauptfehler der ganzen, bisherigen Erkenntnislehre ausmacht und den zu enthüllen und zu analysieren der Hauptzweck meiner Untersuchung in bezug auf die Erkenntnislehre gewesen ist.
S. 183 f f . über die Stellung Humes zur Vorstellung der äußeren Welt. Wie im meinem Buch »Erkendelseslaeren og Naturvidenskabens Grundbegreber«, Kopenhagen 1941, S. 44 erwähnt, gibt es einen gewissen Gegensatz zwischen verschiedenen Teilen von dem Werke
542 Lockes, indem der eine Teil mehr dogmatisch, der andere mehr skeptisch ist. Dasselbe gilt dem Werke Humes, wenn gleich in geringerem Maße. Es sieht aus, als ob Hume zuerst von der Richtigkeit seines psychologischen Ausgangspunktes, den er besonders durch das Studium Lockes erreicht hatte, überzeugt gewesen sei. Danach hat er ihn allmählich — aber ohne Verbindung — auf alle wichtigsten erkenntnistheoretischen Fragen angewendet, behandelt sie aber alle für sich ohne andere Verbindung als die, daß diese Begriffe, Zeit und Raum u.s.v. von derselben psychologischen Grundlage aus kritisiert werden. Hume hat z. B. nicht eingesehen, daß das Ergebnis, das er in der Darstellung der Objektivität der sinnlichen Welt erzielte, in hohem Maß in die Untersuchung des Kausalitätsverhältnisses miteinzubeziehen wäre, da es einen starken Einfluß darauf ausüben würde. Teil IV in seinem »Treatise« ist mit Teil III gar nicht zusammengearbeitet. Infolgedessen ist ein sonderbarer Widerspruch zwischen den Resultaten dieser beiden Teile entstanden. Als Hume nämlich in Teil III auf dem Höhepunkt seiner Untersuchung des Kausalitätsverhältnisses steht, faßt er das Hauptergebnis mit folgenden Worten zusammen: »Also liegt die Notwendigkeit nicht bei den Objekten, sondern bei uns«. Es ist dieser Satz, der sozusagen den Nagel auf den Kopf trifft und es ist dieselbe Betrachtung, die in der »Enquiry« das populäre Bewußtsein am meisten überzeugt. Aber in Teil IV verschwindet der Gegensatz zwischen den Objekten und uns vollkommen. Er wird dort einfach als Hirngespinst hingestellt. Und die Vorstellung von einer äußeren Welt und ihren Objekten wird als bloße Fiktion gestempelt.
Nicolai Hartman gibt in seinem interessanten und scharfsinnigen Werke: »Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis,« 2. Ausg. 1925 eine eingehende und klare Analyse der Objekt-Subjekt-relation und dabei auch eine Kritik von Kants Auffassung von dieser Relation. Hartmann hebt u. a. mit Recht hervor, daß Kant das Ding an sich im Widerspruch zu seinen eigenen Voraussetzungen angewendet habe. Hume sucht festzustellen, daß unsere Vorstellung von einer äußeren Welt weder von a) einer sinnlichen Wahrnehmung, noch b ) von einem Verstandesakt herrühre. Die Behauptung a) ist richtig, b) aber falsch. Hume meint, daß b) dadurch bewiesen werden könne, daß Kinder und einfache Leute des Volkes am allerstärksten an das Dasein der äußeren Dinge glauben, aber von den gelehrten Argumenten, mit denen einige Philosophen das Dasein der äußeren Substanz zu beweisen versuchen, nicht das Geringste wissen. Diese Betrachtung ist vollkommen abwegig. Die Auffassung der äußeren Welt beruht bei keinem Menschen, weder bei Gelehrten noch bei den Kindern und den einfachen Menschen auf bewußtem Räsonnieren oder auf Argumenten, sondern auf instinktiver Anwendung unserer normalen Erkenntnisfähigkeiten, nämlich Unterscheiden und Ver-
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gleichen, Raum und Zeitauffassung und Kausalzusammenhang, aber unter diesen, wie hier gezeigt, vor Allem auf unserer Fähigkeit zu unterscheiden und zu vergleichen. Die lehrt uns nämlich zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen der äußeren Welt der sinnlichen Wahrnehmung, die von unseren Wünschen und unserem Wollen unabhängig ist, und diesem letzteren, also der inneren Welt, zu sondern. Und man braucht nicht gelehrt zu sein, um diese Unterscheidung zu verstehen. Die lernt man bereits als Kind nachdrücklich und bitter kennen. S.
188-192. Die verschiedenen Theorien vom Verhältnis zwischen Seele und Leib. Wie im Text schon erwähnt hat man sich im Laufe der Zeiten in vielerlei Weise außerordentlich um das Problem des Verhältnisses zwischen Seele und Leib bemüht. Es sind auch die verschiedensten Meinungen zum Ausdruck gekommen: 1. Der Monismus oder die Einheitslehre, die in verschiedenen Formen vorkommt: a. Der spiritualistische Monismus: Alles ist Geist — eine Auffassung, die wiederum mehrere Formen annehmen kann: I. Es gibt zwei Welten, sowohl das Ich als auch die sogenannte äußere Welt; sie sind aber beide vom selben Wesen oder von derselben Substanz; sie sind beide Geist (die geistigen Monaden Leibnizens) oder II. Alles, auch die äußere Welt, ist nur Erlebnis in uns selbst (Berkeley, Hume, Iversen). Man kann diese Auffassung den Mentalismus nennen. Es können indessen auch gewisse Unterschiede innerhalb des Mentalismus mit Bezug auf die Ursachen unserer Erlebnisse vorhanden sein. Berkeley meint, daß es Gott sei, der unsere Erlebnisse der sogenannten äußeren Welt hervorbringe. Hume sagt nur, daß diese Erlebnisse aus unbekannten Ursachen entstehen. b. Der materialistische Monismus: Alles ist Materie, materieller Stoff und Bewegungen desselben. Was wir seelische Zu*stände nennen, Bewußtseins-Phänomene, ist Bewegung in Stoffteilen des Gehirns (Hobbes); ein gut illustrierender Ausdruck für diese Auffassung ist das Wort Cabanis, das Gehirn scheide Gedanken aus, wie die Leber Galle. c. Derjenige Monismus, der behauptet, daß Geist und Materie nur zwei verschiedene Erscheinungsformen derselben Allsubstanz seien (Spinoza). 2. Der Parallelismus. Diese Auffassung behauptet — im Gegensatz zur Auffassung I.e., daß es keine Identität zwischen dem Physischen und dem Psychischen gebe, sondern daß diese beiden verschiedenen Erscheinungen parallel mit einander auftreten.
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Jedem seelischen Phänomen, einem Gedanken, einem Gefühl, einem Wollen entspreche ein paralleler, materieller Gehirnprozess. Nach dieser Auffassung ist aber keine Kausalitätsverbindung zwischen den Beiden vorhanden. 3. Der psycho-physische Dualismus. Diese Auffassung steht auf dem Standpunkt, daß es einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Seelischen, dem menschlichen Bewußtsein, dessen Gedanken, Gefühlen u. ä., und dem Physischen, den entsprechenden Gehirn- und Nervenprozessen gebe und daß diese bei den Erscheinungsgruppen in Wechselwirkung mit einander auftreten, die wir unseren gewöhnlichen Vorstellungen gemäß in der Weise ausdrücken, daß das Physische, die äußere Welt durch physische Sinnesnerven und Gehirnvorgänge Ursachen des Seelischen sei: nämlich zur Entstehung der sinnlichen Wahrnehmungen und der Vorstellungen in unserem Bewußtsein und daß umgekehrt das Psychische, vor Allem die Willensentschlüsse, Ursachen der Nerven- und Muskelbewegungen und der dadurch veranlaßten Veränderungen der Umwelt darstellen. Von diesen Anschauungen ist der Monismus in allen seinen Formen (a—c), wie ich gezeigt habe, schon aus dem Grunde unhaltbar, daß die fundamentale menschliche Erkenntnisfähigkeit, Unterscheiden und Vergleichen, eine bestimmte Verschiedenheit zwischen dem Physischen und dem Psychischen feststellt, und daß eine Verneinung dieses Unterschiedes augenblicklich eine Verneinung des Vergleichens und Unterscheidens, überhaupt der gesamten Logik, also auch des ganzen Monismus ist, der wie jede andere Anschauung keinen einzigen Gedanken ohne diese Fähigkeit denken kann. Wenn dieser Grundirrtum der wissenschaftlichen Methoden entdeckt worden wäre, würde die gewaltige philosophische Spekulation und die ganze philosophische Literatur mit monistischen Anschauungen, gleichgültig ob materialistisch oder idealistisch, von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart als völlig überflüssig gar nicht geschrieben worden sein. Der Parallelismus (2) hält mit Recht daran fest, daß es einen Wesensunterschied zwischen dem Psychischen und dem Physischen gebe. Aber während er sich also nicht, wie der Monismus, des Widerspruches schuldig macht, Gleichheit und Verschiedenheit zu verneinen, übersieht er, daß die psychischen und physischen Erscheinungen etwas mehr als Verschiedenheiten und Gleichheiten (die letzteren zwischen den beiden Gruppen unter sich) darbieten; sie zeigen uns, wie hervorgehoben, gleichzeitig zwei Erscheinungen in der Zeitfolge — nach unseren gewöhnlichen Vorstellungen darüber sagen wir: in einem Kausalitätsverhältnis. Es ist ein Zeitunterschied zwi-
Der Mentalismus wird kurz durch das alte Wort ausgedrückt: »esse est percipi«. Schopenhauer sagt: »Die Welt ist meine Vorstellung« (3).
545 sehen meinem Willensentschluß und meinen danach folgenden Muskelbewegungen vorhanden; und ich erlebe hier unmittelbar das Kausalitätsverhältnis. Dies ist tatsächlich dasjenige Kausalitätsverhältnis, das wir am Besten, in der direktesten und lebendigsten Weise erleben. Ferner gibt es einen Zeitunterschied zwischen Licht- und Lautschwingungen, die aus dem Univers kommen, und dem Augenblick, wo sie unser Bewußtsein erreichen. Auch hier empfindet man direkt und intensiv das ursächliche Verhältnis zwischen dem Eindruck und unserem Erlebnis. Das gilt am stärksten, wenn der Eindruck uns Schmerz zufügt. Aber auch ohne Schmerz wird das Kausalitätsverhältnis direkt erlebt. Wenn ein plötzlicher Lichstrahl uns mit den Augen blinzeln läßt, erleben wir intensiv ein ursächliches Verhältnis, selbst wenn es keine Empfindung von Schmerz mit sich führt. Es ist möglich, daß jedem seelischen Erlebnis, jedem Gedanken, jedem Gefühl und jeder Stimmung u.s.w. eine kleine Bewegung in den Gehirnzellen entspricht, selbst wenn wir sie nicht feststellen oder wahrnehmen können; den Punkt aber, in dem die Zellenbewegung des Gehirns in das davon verschiedene Phänomen des Bewußtseins, des entsprechenden Gefühls oder Gedankens übergeht, kennen wir nicht; und die Zeitfolge zwischen den beiden Phänomenen, beziehungsweise der physischen Wirkung oder der Beeinflussung des Psychischen und diesem selbst und unserem Erlebnis des ursächlichen Verhältnisses zwischen ihnen festzustellen ist das Einzige, das uns ganz nüchtern betrachtet übrig bleibt. Es wird daraus hervorgehen, daß die einzige, wissenschaftlich haltbare Anschauung auf diesem Gebiete der psycho-physische Dualismus (3) ist. Es wird vorausgesetzt, daß diese Auffassung von allen Vorstellungen einer ewigen Seelensubstanz befreit ist und daß sie sich überhaupt darauf beschränkt, den Unterschied, die Zeitfolge und das Kausalverhältnis zwischen den psychischen und den physischen Erscheinungen nüchtern festzustellen. Da dieses das Ergebnis davon ist, daß alle Grundlagen-Illusionen enthüllt worden sind, wie ich oben im Text zu zeigen versucht habe, bedeutet es nicht nur, daß wir künftig davon befreit sind, uns mit allen Spekulationen der Vergangenheit mit Bezug auf das Problem vom Verhältnis zwischen Seele und Leib zu beschäftigen, sondern auch, daß die umfangreiche Gegenwartsliteratur, die sich noch immer verpflichtet fühlt, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, überflüssig wird oder jedenfalls bedeutend vereinfacht werden kann. Die bisherige, weitschweifige Widerlegung und die Diskussion über die vielen spekulativen Auffassungen (I, 1, II, b, c, 2) kann aus der Literatur in der Zukunft völlig ausgeschaltet werden, nachdem wir den oben erwähnten fundamentalen Fehler der wissenschaftlichen Methode klargestellt haben; und das wissenschaftliche Denken kann hiernach zu fruchtbareren Untersuchungen übergehen. William Mc Dougall hat in einem Werk: »Body and Mind« eine Darstellung der gesammten Anschauungen gegeben, die über das Verhältnis zwischen Seele und Leib ausgesprochen worden sind, und 35
Erkenntnis und Wertung
546 hat selber einen Beitrag zur Beleuchtung dieser Frage geliefert. Seine außerordentlich eindringlichen geschichtlichen Darstellungen der vielen verschiedenen Anschauungen, die sich von den ältesten Zeiten bis auf unsere Tage bei den Diskussionen dieser Frage in der Religion, der Philosophie und der modernen Wissenschaft geltend gemacht haben, sind wertvoll, (S. 1—148). Aber seine danach folgende, umfangreiche Untersuchung der Argumente für und gegen die verschiedenen Auffassungen ist eine allzu große Bemühung im Verhältnis zu dem Wert der widerlegten Ansichten. Da die meisten derselben auf dem Grundfehler der wissenschaftlichen Methode, den ich hier aufgezeigt habe, beruhen, ist es sinnlos längere Auseinandersetzungen darauf zu vergeuden. Mc Dougall selbst huldigt von seiner großen Einsicht in das Thema aus dem psychophysischem Dualismus, der die einzige nüchterne, wissenschaftliche Auffassung darstellt. Er nennt diese Auffassung auch Animismus, weil sie im Gegensatz zu allen einseitigen materialistischen Ansichten den selbständigen, von allen leiblichen Phänomenen grundverschiedenen Charakter und das selbstständige Wesen des Bewußtseinslebens oder des menschlichen Geistes behauptet. Meiner Ansicht nach hätte Mc Dougall es indessen nicht nötig gehabt, soviel Kraft in der Polemik gegen den Materialismus zu opfern oder sein Werk mit dem Untertitel: »A Defence of Animism« zu bezeichnen, da es nach dem oben gezeigten nicht der Animismus oder der psychophysische Dualismus ist, der irgendwelche Verteidigung benötigt, weil er einfach die einzige, wissenschaftlich haltbare Ansicht vertritt, und da es entgegengesetzt alle anderen Auffassungen, und zwar sowohl der spiritualistische als auch der materialistische Monismus sind, die nicht nur in der Defensive, sondern auch als eines jeden wissenschaftlichen Beweises nach dem fundafentalen Erkenntnismitteln entbehrend einfach als Spekulationen gesprengt sind. Nach der Entdeckung des Blutkreislaufes durch Harvey und nach der Feststellung der Mechanik des Atmens durch Borelli und des später entdeckten Zusammenhanges zwischen Blutkreislauf und Atmung ist es verständlich, daß man sich in der ersten Zeit danach einem naiven Materialismus ergab, und daß man glaubte, alle physiologischen und seelischen Prozesse auf physisch-mechanischem Wege erklären zu können. In der Physiologie des 17. und 18. Jahrhunderts war die Auffassung des Organismus als eines physischmechanischen Werkes stark vorherrschend. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde diese mechanistische Auffassung verlassen. Bereits auf dem Gebiet des rein organischen Lebens erkannte die moderne Biologie an, daß die organische Tätigkeit selbst in einfachsten Zellen nicht als physisch-chemische Prozesse zu erklären sei. W a s das Bewußtseinsphänomen oder das Seelenleben betrifft, erkennt die moderne Wissenschaft allgemein an, daß wir Etwas gegenüberstehen, das von physisch-chemischen Voraussetzungen aus völlig unerklärlich sei. Innerhalb der Biologie des 20. Jahrhunderts hat die Klarstellung des Unter-
547 schiedes zwischen dem Anlagengepräge und dem Erscheinungsgepräge der Lebenstypen und der Mutationen — wie bereits früher erwähnt — sogar gezeigt, daß der äußere Einfluß, der in der ersten Zeit des Darwinismus die leicht anschauliche Ursache zur Wandlung und Entwickelung war, zur Erklärung der Entstehung neuer Lebenstypen völlig unzureichend ist. In der neueren Gehirnphysiologie ist es gelungen, in steigendem Maße die Gehirnfunktionen in bestimmten Teilen des Gehirns zu lokalisieren, die große Bedeutung der sogenannten Gehirnrinde für die höhere geistige Tätigkeit aufzuzeigen, indem sowohl Intelligenz als auch Moral von dem Zustand der Gehirnrinde abhängig sind, und schließlich überhaupt das genaue Verhältnis festzustellen, das zwischen der Entwicklung des Bewußtseinslebens und des Gehirns sowohl innerhalb der Entwickelung des einzelnen Individuums (vom Kind bis zum Erwachsenen) als auch der Rassen, indem der relative Umfang und das relative Gewicht des Gehirns beim Menschen und den höchst entwickelten Tieren am größten sind, besteht. Das Alles zeigt aber selbstverständlich nur den engen Zusammenhang und die Wechselwirkung, die zwischen dem Phychischen und dem Physischen vorhanden ist, erlaubt aber keineswegs irgendwelche mechanistische Schlußfolgerungen auf einen materiellen Monismus. Siehe übrigens darüber Näheres bei Mac Dougall, 94 ff., 99 ff., 224 ff., Frithiof Brandt I, 58 ff., 71 ff., Jorgen J0rgensen, 288. Mc Dougall verwirft mit Recht den Parallelismus (vgl. S. 221 f., 277 ff., 355 ff.) und hebt hervor, daß die ein zige Kausalität, die wir verstehen können, die psychische sei, 208 ff. Er führt auch mit Recht an, daß der psycho-physische Dualismus auf der Grundlage der Erfahrungswissenschaft bleibt, daß er Niemanden zwingt, eine bestimmte metaphysische Doktrin anzunehmen, sondern die Frage der wirklichen Natur des Körpers und der Seele offenstehen läßt. Er stellt deshalb Allen frei, die Frage der Religion zu entscheiden und wendet sich nicht gegen diese (192, 356 ff.). Man muß hier sagen, daß er — wie alle wahre Wissenschaft — sich in dieser Beziehung völlig neutral verhält. Herbert Iversen opfert ebenfalls den Fragen von der Außenwelt, vom Ich und vom Verhältnis zwischen Seele und Leib eine eindringliche Darstellung. Die ganze äußere Welt ist seiner Ansicht nach nur ein mentaler Prozess, ein Erlebnis unseres Bewußtseins in einem bestimmten Moment, was Iversen auch die Sigmastellung nennt. Alle Vorstellungen wie Substanz, auch die materielle Substanz, die Akzidentien, fallen ihr gegenüber fort, denn wir haben etwas Derartiges nie erlebt. Wenn aber die äußere materielle Welt der Sigmastellung gegenüber fällt, fällt damit auch das Verhältnis zwischen Leib und Seele oder Bewußtsein fort. Denn Alles ist j a Bewußtsein, also Vorstellungen in uns. Das Bewußtsein besteht indessen nur aus einer Reihe wechselnder Zustände, es ist keine Substanz und kein besonderes »Ich«, über das Ich hat Iversen genau dieselbe Ansicht wie Hume, und er zitiert die gesamte diesbezügliche Abhandlung Humes 35»
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(in »Treatise« 1, Buch IV, 6, anfangs) wo Hume erklärt, daß er, wenn er in sich selbst hineinschaut, eine Menge wechselnder voreinander sehr verschiedener Zustände, der Hitze, der Kälte, des Lichtes, des Schattens, der Liebe, des Hasses, des Schmerzes und der Freude, aber niemals sich selber finde. Denn dieses Ich ist nur »a bündle or collection of different perceptions, which succeed each other«. Iversen meint, nach dieser Definition Humes sei die ganze »Ich«-vorstellung über den Haufen geworden. Gleichzeitig fügt er aber hinzu, daß der einzige Einwand, den er gegen Hume anzuführen habe, der sei, daß er hier den Ausdruck »bündle or collection« verwende, den Iversen »ein bißchen unvorsichtig« finde, »da die verschiedenen mentalen Zustände, wie Hume ja auch selbst betont, sukzessiv seien und also niemals gesammelt vorhanden sein können. Besser wäre es wohl Reihe oder Kette zu sagen« (Iversen. S. 182—86, 208). Diese Änderung des Ausdruckes verbessert indessen nicht die gedankliche Verwirrung, der sowohl Hume als Iversen unterliegen. Denn gleichgültig, ob man seelische Erscheinung ein »Bündel« oder eine »Sammlung«, eine »Reihe« oder eine »Kette« nennt, stellt unser scharfes Unterscheiden eben durch die genannten Ausdrücke fest, daß im Bewußtsein mehr vorhanden sei, als die vielen mentalen Erlebnisse, seien sie nun Gefühle, Gedanken oder Ähnliches, nämlich Etwas, das die Erlebnisse zu einer Einheit trotz der Verschiedenheit »zusammenbindet«, »sammelt«, »zusammenkettet«, nämlich eben das »/ch«. Humes und Iversens vergebliches Suchen nach dieser grundlegenden Tatsache enthüllt nur den wissenschaftlichen Selbstbetrug, dessen sie sich schuldig machen, indem sie nach dem Schuh suchen, den sie selbst anhaben, während sie ihn suchen, also, daß sie während ihres Suchens nach dem Ich und ihrer gleichzeitigen Feststellung der vielen verschiedenen Wahrnehmungen, Gefühle u. Ä. und von deren Verschiedenheit von der »Reihe« oder der »Sammlung« dasselbe Unterscheiden verwenden, das eben das Ich als eine von allem Anderen verschiedene Tatsache konstatiert. Diese Denker können den Wald, das Ich, vor lauter Bäumen, vor den einzelnen Erlebnissen des Ich, nicht mehr sehen. Man kann die Fähigkeit des Unterscheidens und des Vergleichens, die Logik, nicht auf einem Gebiete verwenden und dann mit einem Schlage ihre Anwendung auf einem anderen Gebiete verneinen. Entweder ist die Unterscheidung dieser Philosophen zwischen den einzelnen Erlebnissen des Bewußtseins richtig, dann ist aber auch das Ich als Vorstellung richtig — und sie unterscheiden sogar selbst zwischen »dem Bündel« oder der »Reihe« und den Erlebnissen — oder aber ist diese Unterscheidung des Ich von seinen einzelnen Erlebnissen unrichtig. Solchenfalls ist aber auch die ganze Unterscheidung Humes und Iversens, ihre gesammte Logik und ihre ganze Untersuchung unrichtig. Danach kann festgestellt werden: wenn diese wissenschaftliche Selbstvernichtung erst enthüllt worden ist, können alle derartigen Erörterungen, wie diejenigen Humes und Iversens in bezug auf das Ich, als überflüssig künftig unterlassen werden.
549 Die Anschauung Machs ist Monismus, denn er will keinen Unterschied zwischen einer äußeren und einer inneren Welt anerkennen. Er verneint ebenfalls die Materie als Einheit und das Ich als solche. Alle seinen Erklärungen in dieser Beziehung beruhen auf demselben methodischen Fehler, auf derselben wissenschaftlichen Selbstvernichtung wie die Ansichten Humes und Iversens und des ganzen Monismus überhaupt. Und sie werden folglich wie alle ähnlichen Darstellungen wertlos, sobald die Selbstvernichtung oder die GrundlagenIllusion entlarvt wird. Jorgen J0rgensen gibt eine sehr gründliche und eindringliche Darstellung der Frage, wie die Auffassung des Menschen von der Umwelt und seine Auffassung von sich selbst entstanden sei (425 ff) 484 ff.). Diese Darstellung enthält wertvolle Beiträge zur Beleuchtung dessen, wie die Menschen sich psychologisch innerhalb dieser Themen orientiert haben. Wenn aber die Grundlagen-Illusionen enthüllt werden, wie ich hier im Text zu tun versucht habe, wird die Darstellung dieser Themen im übrigen, soweit ich sehen kann, in hohem Maße vereinfacht werden können. Vieles von dem, was man bisher notwendigerweise — nämlich von den bisherigen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen aus — als aüßerst kompliziert und unklar betrachtete, wird vermutlich einfacher und klarer werden.
Aus dem oben Angeführten geht hervor, daß der einseitige Behaviorismus auf demselben Grundfehler der wissenschaftlichen Methode überhaupt beruht. Der einseitige Behaviourismus, der als objektive Tatsachen nur die äußeren Bewegungen der Menschen und der Tiere anerkennt und deshalb von dem Bewußtseinsleben absieht, ist ein naiver Materialismus, der seine eigene Grundlage nicht erkenntnistheoretisch durchdacht hat. übrigens liegt das eigentümliche Verhältnis vor, daß man selbst innerhalb des Behaviourismus und seinem besonderen Gedankengang auf einem gewissen Punkt völlig festfährt. Während der allseitige Behaviourismus, der mit Recht behauptet, daß Beobachtung des äußeren Benehmens und die psychologische Selbstbeobachtung einander in wertvolle Weise supplieren, bereits mehrere Probleme in fruchtbarer Weise beleuchtet hat, endet der einseitige Behaviourismus sehr bald in Unfruchtbarkeit und vermag mit seinen eingleisigen Erklärungen in Wirklichkeit nicht von der Stelle zu kommen. Selbst in dem genügend besprochenen und allzu überschätzten Beispiel des Behaviorismus mit dem jungen Tier im Käfig ist es tatsächlich unerklärlich, warum das junge Tier, das zahlreiche Assoziationen zwischen den vielen »zwecklosen« Bewegungen, den vielen »nutzlosen« Griffen um die Stangen des Käfigs erhalten hat und erst zuletzt die einzige Bewegung macht, die zum Futter führt, nicht das zweite Mal, wenn es in den Käfig gesetzt wird, mit denselben
550 zwecklosen Bewegungen fortfährt, sondern nach immer wenigeren von diesen und schließlich ohne eine einzige solche denjenigen W e g wählt, der zur Nahrung führt. Diese W a h l unter Ausscheidung anderer möglicher Bewegungen in der Zukunft kann überhaupt nicht ohne die psychisch wahrnehmbare Erscheinung eines Willensentschlusses mit dem Zwecke — nämlich dem Zwecke, den Drang nach Nahrung zu befriedigen — erklärt werden. Die A f f e n Köhlers zeigten diese W a h l nach dem Zweck sogar noch deutlicher als Resultat einer Überlegung, als Einsicht in die Mittel, die zur Nahrung führen würden. Nun ist es wohl wahrscheinlich, daß außer den Bewegungen und dem Eindringen der Nahrung in den Magen und den Darm auch eine Bewegung in den Gehirnzellen des Tieres stattfinde, die dem Gefühl der Befriedigung, des Lustgefühles bei der Sättigung und bei der Bewegung, die dazu führt, entspricht. Es ist diese Bewegung in den Gehirnzellen, die die W a h l der Bewegungen in der Zukunft entscheidet, nämlich zwischen den Bewegungen, die unzweckmäßig, und denen, die zweckmäßig sind. Aber selbst wenn eine Bewegung in den Gehirnzellen stattfindet, ist das Lustgefühl des Tieres doch etwas davon Verschiedenes. Meinen Gedanken, meinen Lustgefühlen im Augenblick entspricht wahrscheinlich auch eine äußere Bewegung in meinen Gehirnzellen, aber dennoch ist diese letztere nicht mit den ersteren identisch. W e n n ich gleichzeitig mit dem Gefühl der Freude über irgend eine Begebenheit — mittels eines besonders eingerichteten Fernrohres — die Bewegung in meinen Gehirnzellen beobachten könnte, die dieser Freude entspricht, würden das Gefühl und mein äußerer Gesichtsausdruck ja dennoch zwei völlig verschiedene Erlebnisse bleiben. Ich habe zwei — 2 — Erlebnisse, nicht nur eines, 1. Der Mensch hat, genau wie die Tiere, viele unbewußte Reflexbewegungen, aber an einem gewissen Punkt tritt plötzlich das rein seelische Phänomen ein, nämlich das Bewußtsein. W i r werden uns dann einer Reflexbewegung, einer sinnlichen Wahrnehmung, einer Vorstellung bewußt. Alles, was innerhalb des Gehirns, der Gehirnrinde, vor sich geht, ist uns j a leider verborgen. Aber sollten wir einmal — durch das oben genannte besondere Zukunfts-Fernrohr oder durch ein entsprechendes Mikroskop — dazu kommen, daß wir selbst die kleinsten Bewegungen in den Gehirnzellen beobachten können, würde man vielleicht auch diesen Zusatz zum Bewußtsein festzustellen vermögen. Aber gleichgültig ob das nu gelänge oder nicht, ist und bleibt der Umstand, daß ich mir einer Bewegung, einer Wahrnehmung, eines Gefühles bewußt bin, eine Tatsache, die von einer jeden materiellen Bewegung der Gehirnzellen fundamental verschieden ist. Der Gedankengang des einseitigen Behaviourismus ist also nicht imstande, die W a h l der Bewegungen durch Tiere und Menschen, die f ü r die Aufrechterhaltung des Organismus zweckmäßig sind, zu erklären. Und die Grundtatsache, die Bewußtsein genannt wird, ist von dieser Theorie aus ebenfalls vollkommen unerklärlich. Der alles entscheidende Einwand ist indessen der, daß der gesammte einsei-
551 tige Behaviourismus auf einer fehlerhaften, wissenschaftlichen Methode beruht, nämlich auf einer unkritischen Verwendung der letzten Voraussetzungen der Erkenntnis. Er verneint die fundamentalen Unterschiede im Dasein — den Unterschied zwischen äußerer Bewegung und psychischer W a h l , zwischen Z w e c k und Befriedigung, den Unterschied zwischen Reflexbewegung und Bewußtsein, kurz, den Unterschied zwischen der äußeren und der inneren Welt. Aber selbst vermag er keinen einzigen Gedanken zu denken, keine einzige Beobachtung äußerer Bewegungen zu vermitteln oder über diese in seiner einseitigen Weise zu räsonnieren, ohne überall dasselbe Unterscheiden zu verwenden, das er selbst verneint. Nach der Enthüllung dieser naiven Erkenntnisillusion kann dieser Behaviourismus überhaupt nicht mehr wissenschaftlich aufrechterhalten werden. Schließlich soll noch bemerkt werden, daß man — falls man nur einer W a h l zwischen monistischen Richtungen gegenüberstände — unzweifelhaft die mentalistische wissenschaftlich vorziehen würde. Das Sicherste von Allem, das sicherste Wissen in dieser W e l t stellen die Erlebnisse in meinem Bewußtsein unzweifelhaft dar. W a s wir am besten und klarsten kennen, sind unsere Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Willensentschlüsse, unsere Zwecke, unsere Wünsche, unser absichtliches Handeln. Von den äußeren, körperlichen Bewegungen in der Umwelt wissen wir tatsächlich nicht, w a s sie eigentlich sind. W e n n der einseitige Behaviourismus behauptet, er wisse nicht, w a s »denken«, was »fühlen« sei, muß dazu bemerkt werden, daß der Behaviourist im selben Augenblick, in dem er das sagt, gleichzeitig polemisch »fühlt« und »denkt«. Das weiß er also von sich selbst her; dagegen wissen wir strenggenommen nicht, was Bewegungen äußerer Körper sind; gleichgültig, ob die Bewegung durch den Stoß eines Körpers an einen anderen oder durch Fernwirkung, durch den Fall eines Körpers gegen die Erde oder durch den Kreisgang um die Sonne entsteht, verstehen wir an und für sich nicht, was das Alles darstellt. Das Sonderbarste aber ist daß wir, um uns dieses Unerklärliche — die äußeren Bewegungen — richtig zu erklären, unsere Z u f l u c h t zu unseren eigenen inneren, psychischen E r f a h r u n g e n : unserem eigenem Willen und dem Gefühl der Muskelkraft als Ursachen dieser Bewegungen nehmen müssen. Das ist das Einzige, was wir in W i r k lichkeit verstehen. Von allen Kausalverhältnissen ist das innere psychische das einzige sichere, das einzige, das wir völlig begreifen. Die äußeren Bewegungen und ihre Kausalverhältnisse werden uns durch Analogie mit diesem Kausalverhältnis in uns selbst erst verständlich. W e n n der naive, materialistische Behaviourismus die Wörter »denken«, »fühlen«, »wollen«, »befriedigen«, nach »Zweck handeln« in diese Anführungszeichen als Dinge setzt, die er nicht versteht, meint er damit, daß wir diese phychischen Erscheinungen als äußere Bewegungen nicht verstehen, als solche nicht auffassen können. W e n n er das Bedürfnis empfindet, das Psychische als äußere Bewegung zu erklären, geschieht es wahrscheinlich, weil er visuell veranlagt ist und Anderen seine besondere, individuelle Anschauungsweise auf-
552 zwingen möchte. Aber »verstehen« und »erklären« heißt: Etwas im Augenblick Unbekanntes von etwas im voraus Bekannten herzuleiten. Äußere Erscheinungen der Umwelt können durch andere, äußere Phänomene, z. B. Wärme als Bewegung in den Molekülen, Elektrizität als Bewegungen von Elektronen und Ionen u. s. w. erklärt werden. Wenn wir die Bewegung von Körpern »bekannt« nennen, heißt das, wie im Text hervorgehoben, lediglich, daß wir aus unserem täglichen Leben mit ihnen vertraut geworden sind — und normalerweise deshalb auch nicht tiefer über sie nachdenken —, in Wirklichkeit verstehen wir sie aber nicht und können sie nicht erklären, da wir die Bewegungen äußerer Körper nicht auf andere, uns bekannte äußere Phänomene zurückführen können. Was die kinetische Wärmetheorie und die Atomtheorie tun, besteht also nur darin, daß sie unsere Unwissenheit anderswohin verlegen und vereinfachen, indem sie zwei oder mehrere unverständliche Erscheinungen — Wärme, Elektrizität u. Ä. — auf ein unverständliches Grundfaktum zurückführen: nämlich die Bewegung äußerer Körper. Wenn wir auch diese letztere, äußere Tatsache verstehen wollen, müssen wir, wie erwähnt, unsere Zuflucht zum einzigen Faktum nehmen, das wir wirklich kennen: unsere psychischen Erlebnisse. Das heißt, daß wir den Kraftbegriff zur Erklärung der Bewegungen in der Umwelt heranziehen, da Kraft die einzige Ursache ist, die wir in der Tat, nämlich von uns selbst her, kennen. Statt Wörter wie »denken«, »wollen«, »entschließen«, in Anführungszeichen zu setzen, soll man diese typographischen Attribute des mangelnden Wissens streichen und den Wörtern »äußere Bewegung«, »äußere Körper«, »physische« Ursachen dieses Zeichen der Unverständlichkeit überlassen. Da das Meiste in dieser Welt aber in diesem Sinne unverständlich ist, täte man besser daran, diese typographische Sitte, die es unerträglich macht eine Darstellung zu lesen, vollkommen aufzugeben. Bei Tagungen oder Kongressen der sogenannten Physikalisten (oder einseitigen Behaviouristen) ist von Teilnehmern öfters wiederholt worden: Ich weiß nicht, was denken oder fühlen eigentlich ist. Das Sonderbare dabei ist aber, daß kein einziger Teilnehmer aufgestanden ist und gesagt hat: »Ich weiß auch nicht, was es heißt, sich in der äußeren Welt zu bewegen oder was die Bewegung überhaupt für eine Erscheinung ist«. Damit wäre der wissenschaftliche Grundfehler, der hinter dem gesamten Physikalismus steckt, enthüllt worden. Denn danach wäre man gründlicher zu Werke gegangen und hätte angefangen zu fragen: »Was heißt denn »wissen«, »verstehen«?« Da der Physikalist hier eigentlich sagen müßte: »Ich weiß nicht, was wissen oder verstehen und eben so wenig was denken ist«, hört damit nämlich jede Denktätigkeit auf; die physikalistische Tagung hätte dann ohne Möglichkeit für spätere Wiederaufnahme schließen müssen. Und alle physikalistische Literatur hörte in Zunkunft damit auf.
553 Die Auffassung des Ichs als einer Einheit trotz der wechselnden verschiedenen Erlebnisse hat durch die moderne experimentelle Psychophysik eine wertvolle Erfahrungs-bestätigung erhalten. Das Weber-Fechnersche Gesetz stellt bereits die in dieser Beziehung wichtige Erscheinung fest, daß die Intensität einer jeden Empfindung innerhalb gewisser Grenzen durch das Verhältnis zwischen dem gegenwärtigen und dem vorausgegangenen Eindruck bestimmt werde. Sehr eigentümlich ist auch das Zeitverhältnis in der Auffassung der nacheinander eintretenden Eindrücke durch das Bewußtsein. Edgar Rubin hat durch eine Reihe interessanter Versuche bewiesen, daß Eindrücke durch verschiedene Sinne verschiedene Zeiten beanspruchen, um das Bewußtsein zu erreichen, daß z. B. der Eindruck durch ein Lichtsignal längere Zeit beansprucht, um das Bewußtsein zu erreichen, als der Eindruck durch ein Lautsignal, wodurch bewirkt werden könne, daß wir z. B. den Laut einer Klingel vor dem Lichtsignal hören, z. B. bevor der Zeiger einer Scheibe mit Strichen den Strich passiert, bei dessen überschreiten die Klingel läutet. Der Laut der Klingel tritt tatsächlich beim Strich 30 ein, das Bewußtsein faßt ihn aber auf, als ob er schon bei Strich 20 käme, denn so lange Zeit braucht das Bewußtsein, um den Gesichtseindruck des Striches 20 aufzufassen und zu bearbeiten, daß es erst damit fertig geworden ist, wenn Strich 30 faktisch passiert worden ist, und der Strich 30 wird wiederum durch die Bearbeitung noch später aufgefaßt u. s. w. Die Verarbeitungszeit ist also verschieden bei den verschiedenen Sinneseindrücken. Hier haben wir ein klares Beispiel des großen Einflusses, den unsere Einstellung auf das, was wir erleben, ausübt. Unser Bewußtsein besteht nicht nur aus einer Reihe isolierter Sigmastellungen, sondern aus der Bearbeitung verschiedener Eindrücke in Verknüpfung mit einander, überhaupt werden die vorausgehenden Teile eines Sinneseindruckes im Zusammenwirken mit den späteren verarbeitet. Diese und andere Versuche zeigen, daß zwischen dem Punkt, in dem ein Sinnesorgan gereizt wird, und demjenigen, in dem wir die Dinge in der Umwelt erleben, Zeit vergeht. Das ist es, was oben dadurch ausgegedrückt wurde, daß ein Zeitverhältnis und ein Ursachenverhältnis zwischen dem Psychischen und dem Physischen, zwischen dem physischen Reiz durch die Sinne und dem entsprechenden Erlebnis in unserem Bewußtsein vorhanden ist. Und durch die Verarbeitung besteht ein Zusammenhang und eine Einheit im Bewußtsein.
S. 211 Verblaßte
Vorstellungen.
Was man abstrakte Vorstellungen nennt, umfaßt vor Allem zwei Gruppen verblaßter Vorstellungen, nämlich teils Typenvorstellungen, (Allgemeinvorstellungen von Dingen oder Wesen) und teils allgemeine Eigenschafts-Vorstellungen, z. B. von der ersten Gruppe Begriffe wie Tier, Vogel, Mensch, Pflanze, von der zweiten Gruppe Be-
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griffe wie Weiß, Härte, Schönheit. Die abstraktesten Vorstellungen sind diejenigen, die das Dasein oder sehr große Teile desselben umschreiben, wie z. B. das Weltall, die Substanz, der Stoff, der Geist. Es ist eine, besonders in der amerikanischen Psychologie häufig diskutierte Frage, ob diese sehr umfassenden, abstrakten Begriffe völlig bildlos, d. h. von jeder Erinnerung an Sinneswahrnehmungen, sei es nun Gesichts-, Gehör-, Tast- oder anderen Empfindungen, frei seien. Meiner Ansicht nach gibt es keinen Begriff, sei er auch noch so abstrakt, der nicht, wenn auch in sehr schwachem Grade, irgend ein Empfindungsmoment in sich birgt: dabei dreht es sich vor Allem um Gesichtsempfindungen. Selbst so umfassende Begriffe wie das Weltall, die Substanz, der Stoff u. Ä. schließen schwache, allerdings undeutliche Bild-elemente in sich ein. Oft sind sie verschieden bei verschiedenen Menschen, in der Regel aber sind sie Elemente von etwas unbestimmbar Grauem und Dunklem mit sehr schwachen Umrissen. Nur wo es sich um das rein Psychische, um Bewußtsein und Seele handelt, verwenden wir unsere inneren Erlebnisse von Gedanken, Gefühlen und Wollen als Elemente. Alle diesen stark verblaßten, abstrakten Begriffe sind selbstverständlich von der Psychologie Lockes und Humes und von der ihrer Nachfolger aus völlig unverständlich. Sie sind auf keine bestimmten Sinnesempfindungen, weder auf einfache noch zusammengesetzte, zurückzuführen. Sie sind Früchte unserer unterscheidenden und vergleichenden Fähigkeit. Beim Begriff Substanz unterscheiden wir Alles, was es im Universum von materiellen Dingen und geistigen Wesen gibt, von dem völlig leeren Raum, der den bei weitem größten Teil des Universums einnimmt. Bei der Alles umfassenden Vorstellung des Weltalls oder des Universums denken wir wahrscheinlich zuerst an den Weltraum und die mannigfaltigen Sterne und später fügen wir zu diesem Bilde die vielen Dinge und die lebenden Wesen, die auf diesen Sternen vorhanden sind oder sein mögen. Den abstrakten, negativen Begriffen gegenüber — wie »Nichts«, »nichtmental« »unsichtbar«, »nichtexistierend«, »Ding an sich« (das Unerkennbare) — haben Philosophen wie Locke, Hume und Iversen die größten Schwierigkeiten. Iversen nennt sie, von seinem Standpunkt aus mit Recht, »unmögliche Begriffe«, denn er kann sie in Wirklichkeit nicht erklären (Iversen S. 67). Wir sinnesempfinden und erleben kein Nichts, kein Nicht-dasein, kein Nicht-rot u. s. w. Es ist unsere Fähigkeit zu unterscheiden, diese unsere schärfste logische Fähigkeit, die uns diese Begriffe diktiert. Sie dienen dazu, uns in scharfer Weise klar zu machen, was Etwas unter den vielfältigen Erscheinungen nicht ist. Wenn wir nach der Farbe Rot, Grün, Blau, Gelb, Schwarz, Weiß sehen, fassen wir das Alles gegensätzlich zusammen, was alle diese Farben der erst genannten Farbe gegenüber gemeinsam haben, nämlich daß sie alle nicht rot sind. Die schwach verblaßte Vorstellung des leeren Raumes kann der Gedanke sich denken, indem er sie von allem Inhalt unterscheidet, aber wir können uns sie dem Gedanken nach nicht exakt vorstellen.
555 Anschauungsmäßig müssen wir vage Sinneseindrücke wie das unbestimmbare Grau oder das Dunkle zur Hilfe nehmen, nämlich um das zu repräsentieren, was nur unser unterscheidender Gedanke erfassen kann. S. U8 Wenn Poincaré sagt: Die Mathematik ist nicht wahr, aber zweckmäßig, hat er eine Ahnung vom richtigen Verhältnis gehabt; aber er hat das Problem nicht erkenntnistheoretisch gedacht. Denn wie ich meiner Ansicht nach nachgewiesen habe, gibt es zutiefst gesehen keinen Gegensatz, keinen Unterschied zwischen dem Wahren und dem Zweckmäßigen, wenn das letztere Wort in der Bedeutung aufgenommen wird, daß es die Erkenntnis oder die Handlung ausdrückt, zu der wir uns vortasten, oder die wir durch Versuche als diejenige erreichen, die wir als die für die ganze Menschheit, durch ihr gesamtes Leben und ihr Fortschreiten zu höheren Lebensformen vorteilhafteste Einstellung dem Dasein gegenüber anzusehen ist. S. 259 Kant meinte, daß die reine Physik und die reine Mathematik, also die ganz generellen Naturgesetze und die generellen mathematischen Sätze der subjektiven Natur unseres Geistes entstammen müssen, da ihr genereller Charakter niemals durch die Erfahrung bewiesen werden könne. Dazu muß bemerkt werden, daß die Sätze der Mathematik und die Naturgesetze in einer Sekunde, in einer Minute und Morgen mit den Erscheinungen der Umwelt übereinstimmen, da uns unsere Erfahrung sowohl in der Vergangenheit als in der Gegenwart eine solche Übereinstimmung immer und generell gezeigt hat. Die Erfahrung selbst, alle vergangene und gegenwärtige Erfahrung hat uns gelehrt, das zu erwarten; und diese Erwartung kann deshalb unbedingt nicht gänzlich von der subjektiven Struktur unseres Geistes herrühren. Wie werden hier von der Erfahrung in Gang gesetzt und fahren in Wirklichkeit nur im Strome der Zeit, der für uns eine Ganzheit ist, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (die vorige Sekunde, dieser Augenblick, das Jetzt und die nächste Sekunde) von uns als Eins empfunden wird, die eigenen Gleise der Erfahrung entlang fort. Aber schon der Umstand, daß wir bei näherem Nachdenken darüber klar werden, daß wir an und für sich keine Sicherheit dafür besitzen, daß die Naturgesetze in aller Zukunft gültig bleiben werden, zeigt, daß wir unseren Geist auf Anderes als auf diese Gebiete einstellen können, wenn die Erfahrung sich in dieser Beziehung plötzlich ändern sollte. Dank der modernen Atomphysik haben wir bereits angefangen, uns darauf einzustellen, daß wir in den atomaren Prozessen keinen allgemeinen, notwendigen Naturgesetzen, sondern nur einer gewissen statistisch häufigen Regelmäßigkeit begegnen. Wenn wir uns bisher auf die Konstanz der Natur eingestellt haben, ist es lediglich geschehen, weil alle Erfahrung uns Konstanz gezeigt hat.
556 S. 274 Vom Pragmatismus
und von der ökonomischen
Erkenntnistheorie.
Wenn der Pragmatismus behauptet, es gäbe keine absoluten Wahrheiten und daß die Wahrheit aller Anschauungen, Theorien und Annahmen deshalb lediglich darin bestünde, ob sie natürliche Konsequenzen hätten oder nicht, liegt schon in der Verwendung des Wortes »absolut« durch die pragmatische Richtung in Beziehung zur Wahrheit eine bedeutende Unklarheit vor, die dadurch entsteht, daß diese Richtung nicht scharf zwischen dem unterscheidet, was ich im Vorhergehenden Wirklichkeit 1 und Wirklichkeit 2 genannt habe. Diese Unklarheit finden wir sogar in den besten Darstellungen dieser Richtung, wie z.B. bei D. L. Murray: »Pragmatism«, 1912 und William James: »Pragmatism«, 1907. Es gibt keine absolute Wahrheit im Sinne einer Erkenntnis, die sich mit Sicherheit über die Wirklichkeit 2, die Welt an sich, die absolute Wirklichkeit, ausspricht. Es ist möglich, daß z. B. die Atomtheorie uns die absolute Wirklichkeit oder die Welt an sich wiedergeben werde. W i r wissen nur nichts davon. Schon an dieser Stelle muß man also der Behauptung des Pragmatismus gegenüber, daß es keine absoluten Wahrheiten gebe, ein Fragezeichen stellen, denn davon weiß der Pragmatismus eben so wenig, wie wir anderen. W i r müssen uns hier mit einer bedeutend bescheideneren Behauptung begnügen, nämlich mit der folgenden: wir wissen nicht, ob die wissenschaftliche Erkenntnis uns die absolute Wirklichkeit, die Welt an sich gibt. An Stelle der Behauptung des Sokrates, daß wir nur wissen, daß wir nichts wissen, ist es richtiger zu sagen: wir wissen nicht, ob wir Etwas wissen, nämlich von der Welt an sich, von der Wirklichkeit 2. Deshalb ist die Auffassung Kants: das Ding an sich, eine Welt, die absolut unkennbar ist, ebenfalls falsch. W i r wissen nicht und können also auch nicht behaupten, daß die W e l t an sich unerkennbar sei, so wenig, wie wir das Entgegengesetzte sagen können. Der Pragmatismus spricht aber auch von absoluter Wahrheit im Gegensatz zur relativen; und damit haben wir die Wirklichkeit 1 vor uns, unseren gewohnten, wissenschaftlichen Wirklichkeitsbegriff, von dem wir sichere Erfahrung haben. Wenn der Pragmatismus hier erklärt, daß alle Anschauungen, Theorien, Hypothesen relativ seien daß wir niemals sagen können, ob sie absolut wahr seien, daß sie immer durch neue Erfahrungen geändert werden können, daß ihre sogenannte Wahrheit sich erst durch ihre Konsequenzen zeigen werde, nämlich ob sie nützlich oder nicht sind, so ist diese ganze Auffassung irreleitend. Erstens haben wir — stets innerhalb der Wirklichkeit 1, von der hier allein gesprochen wird — Sätze, die absolute Wahrheit geben, an der nicht zu rütteln ist, die niemals relativ, nimmer geändert werden können, nämlich die mathematischen und logischen Axiome 1 + 1 = 2, a = b, b = c, die Gerade ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten u. ä. Hier ist überhaupt keine Relativität vorhanden; es ist nicht die Rede von Arbeits-hypothesen, die später durch neue Er-
557 fahrungen geändert werden können. Die mathematischen und logischen Axiome haben es nicht nötig, um ihrer Wahrheit willen auf ihre »nützlichen Konsequenzen« geprüft zu werden, auf ihren »praktischen Nutzen« hinzuweisen. Sie sind einfach unwiderlegbar wahr. Sie sind absolut wahr in diesem Sinne: sie entsprechen stets der Wirklichkeit 1. Es ist ferner möglich, daß sie auch mit der Wirklichkeit 2 übereinstimmen. Die ganze Erklärung und Definition der Wahrheit durch den Pragmatismus als Annahmen, die nützliche, praktische oder vorteilhafte Konsequenzen haben, ist also völlig überflüssig und nichtssagend. Das mußte William James in Wirklichkeit auch zugeben, als er erkannte, daß die Axiome der Mathematik ewige Wahrheiten seien; und schon damit war der Pragmatismus als Erkenntnislehre tatsächlich gesprengt. Übrig bleibt noch die Frage, ob die Wahrheit oder Unwahrheit unserer allgemeinen Erfahrungsurteile auf ihre vorteilhaften, beziehungsweise unvorteilhaften Konsequenzen beruhe und ob unsere Ansichten, Anschauungen und Theorien über die Wirklichkeit 1 nur von diesen Konsequenzen aus beurteilt werden sollen. Diese Frage muß unbedingt verneinend beantwortet werden. Erfahrungsurteile wie: »diese Rose ist rot, gewisse Rosen sind rot, einköpfige Tiere haben die Eigenschaften, die wir bei der Art finden, die wir Pferde nennen« u. ä. sind, wie im Text hervorgehoben, als Wirklichkeit 1 absolut wahr. Es gibt auch hier keine Relativität. Die erwähnten Erfahrungsoder Realitätsurteile sind wahr, ohne Rücksicht darauf, ob sie für die Menschen nützliche oder vorteilhafte Konsequenzen haben oder nicht; und sie können nicht durch eine solche Wertung geändert werden. Von gewissen Anschauungen und Theorien müssen wir wohl bis auf weiteres sagen, daß sie wahrscheinlich wahr sind; das gilt z. B. gewissen Hypothesen in bezug auf die atomaren Prozesse und vorherrschenden Erklärungen solcher Phänomene wie Elektrizität und Magnetismus. Aber die Richtigkeit dieser Hypothesen oder Erklärungen wird künftig durchaus nicht davon abhängen, ob sie nützliche Konsequenzen oder vorteilhafte Wirkungen für die Menschen haben, sondern ausschließlich davon, ob es sich bei näherer Verifikation zeigt, daß sie noch immer nach weiteren Erfahrungen auch ferner mit der Wirklichkeit 1 übereinstimmen. Der Pragmatismus hat also übersehen, daß nicht nur die mathematischen und logischen Axiome und Schlüsse ewige und absolute Wahrheiten innerhalb der Wirklichkeit 1 darstellen, sondern daß auch dieser unser Wirklichkeitsbegriff selbst ewig und absolut als unerschütterliche Grundlage für die Beurteilung der Wahrheit oder der Unrichtigkeit aller erfahrungsmäßigen Urteile, Ansichten und Theorien ist. Unser Weltbild kann geändert werden, wie z. B. vom ptolemäischen zum kopernikanischen; das bedeutet aber nicht, daß diese letztere nützlichere Wirkungen habe als die erste, sondern einzig und allein, daß dieses letztere Weltbild nach unseren späteren und umfassenderen Erfahrungen die Wirklichkeit wahrer wiedergebe, als das erste. Dies bedeutet auch nicht,
558 daß unser Wirklichkeitsbegriff selbst sich danach ändert, ob er günstige oder ungünstige Wirkungen mit sich führt. Wenn dieser Begriff, der Wirklichkeitsbegriff 1, der unerschütterliche Ausgangspunkt und die Beurteilungsgrundlage unserer gesamten empirischen Urteile, Anschauungen und Theorien und deren Wahrheit bildet, so ist der Grund dazu, daß dieser Wirklichkeitsbegriff aller Wissenschaft, wie ich im Text erläutert habe, denselben fundamentalen Erkenntnisfähigkeiten oder Erkenntnisfaktoren, nämlich unserer Auffassung von Gleichheit und Verschiedenheit und Gesetzmäßigkeit entspringt, wie die mathematischen und logischen Axiome und Schlüsse. Es sind diese, und zwar ausschließlich diese Faktoren, die ihre letzte Begründung im menschlichen Gefühlsleben nur durch das Tastgefühl oder die Methode des Experimentierens zur Befriedigung des menschlichen Bedarfes durch das gesamte Dasein der Menschheit finden müssen. Keine Anschauung, die den Anspruch erheben will, sine wissenschaftliche Wahrheit zu sein, kann den kürzeren W e g zu den Gefühlen, zur Begründung durch diese einschlagen und die schwierige Prüfung durch die Erkenntnisfaktoren, die Wahrnehmung der physischen und psychischen Phänomene durch Unterscheiden und Vergleichen und durch Feststellung der gesetzmäßigen Zusammenhänge umgehen. Diese Faktoren und der darauf aufgebaute Wirklichkeitsbegriff, die logischen Axiome und die davon abgeleiteten Methoden sind die unvermeidlichen Instanzen am Obersten Gerichtshof der Wahrheit. Die Laienbewegungen, die im Kielwasser des Pragmatismus folgten, benutzen oft ein Argument anderer Art, indem sie meinten, ihre Anschauungen oder Dogmen von der Prüfung der Wirklichkeit und der Logik durch den Hinweis befreien zu können, daß sie ihre Ansicht allerdings nicht beweisen könnten, daß dasselbe aber auch der Wissenschaft gelte, die auch nicht imstande sei, ihre letzten Begriffe und Anschauungen zu beweisen. Die Unrichtigkeit dieses Gedankenganges, der einen starken Eindruck auf kritiklose Versammlungen zu machen pflegt, geht schon daraus hervor, daß man selbstverständlich die letzten Begriffe und Anschauungen der Wissenschaft nicht willkürlich vermehren kann, wie es Einem gefällt. Diese würden sonst sehr bald nur eine Rumpelkammer allerlei subjektiver Ansichten werden, die von einem Teile der Menschheit ebenso fanatisch verteidigt werden würden, wie ein anderer Teil ihnen widerspräche. Die letzten Begriffe oder Annahmen der Wissenschaft werden dagegen von Allen ohne Unterschied auch in ihren gegenseitigen Argumentationen und Zwisten gebraucht. Die letzten Begriffe oder Ansichten der Wissenschaft sind ja nur diejenigen, die ich bei der vorhergehenden Untersuchung als letzte Voraussetzungen aller Erkenntnis analysiert habe: der Wirklichkeitsbegriff und die logischen Axiome und jene Erkenntnisfaktoren, auf denen dieser Grundbegriff und diese Axiome aufgebaut sind. Diese Faktoren aber, auf denen alles menschliche Wissen beruht, sind nur wenige, und zwar ganz bestimmte, nämlich die oft hervorgehobenen: Verschieden-
559 heit und Gleichheit, Gesetzmäßigkeit, Zeit, Raum, sinnliche Wahrnehmung und Selbst-Wahrnehmung. Die Anzahl der Anschauungen und Theorien kann man nach Belieben vergrößern. Die Erkenntnisfaktoren kann man also nicht nach Belieben vermehren. Und nur sie und zwar sie allein stellen nach den gesamten Erfahrungen der gesamten Menschheit in ihrem uns bekannten Dasein durch alle Zeiten den einzigen Prüfstein der Wahrheit aller denkbaren Anschauungen und Urteile dar. Der Pragmatismus und ähnliche Richtungen könnten leicht zu einer Kulturgefahr werden, denn die geistige Trägheit und die mangelnde Fähigkeit zum scharfen und klaren Denken, von denen diese Richtungen zu tiefst zeugen, entsprechen dem Standpunkt der großen Menge. Es wird ja leicht zu denken und zu räsonnieren, wenn man Alles z. B. von dem Dogma der Abstinenzbewegung bis zum Dogma von den Strafen nach dem Tode, von der Betrachtung aus beweisen kann, daß das Dogma der erstgenannten Bewegung richtig sei, weil es günstige Wirkungen auf gewisse Teile der Bevölkerung, nämlich die Alkoholiker, ausübe, während das letztgenannte Dogma seine Wahrheit dadurch erhält, daß es auf einen anderen Teil der Bevölkerung, die Verbrecher, eine günstige Wirkung ausüben könne. Zu den anderen Unklarheiten des Pragmatismus kann, wie im Texte angeführt, auch die Vermischung beschreibender und angewandter Wissenschaften gerechnet werden, indem alle Anschauungen in derselben leichten Art durch einen Hinweis auf die günstigen Wirkungen bewiesen werden, ohne Rücksicht darauf, ob die Anschauungen auf dem Gebiete der beschreibenden Wissenschaften oder der angewandten liegen. Es kann ja überhaupt nur auf dem letzteren Gebiete von einem Beweis oder einer Begründung durch eine Untersuchung der günstigen Wirkungen die Rede sein. Die Vorstellung von einer Strafe in einem Leben nach diesem gehört zu den beschreibenden Wissenschaften. Hier ist der Wirklichkeitsbegriff also entscheidend. Aber die erwähnte Vorstellung kann von keiner Wissenschaft als Wirklichkeit bewiesen werden. Damit fällt die wissenschaftliche Behauptung unter den Tisch und wird auf das Gebiet des Glaubens, der unbeweisbaren Anschauungen verwiesen. Das Dogma der Abstinenzbewegung unterliegt der Prüfung der angewandten Wissenschaften. Aber die angewandten Wissenschaften, die hier zu urteilen haben, nämlich die Physiologie und die Heilkunde, bauen, wie alle anderen angewandten Wissenschaften, auch auf der Wirklichkeit, auf dem gesetzmäßigen Zusammenhang innerhalb dieser, und auf allen allseitigen Untersuchungen über die schädlichen und nützlichen Wirkungen des Alkohols von dieser Grundbetrachtung aus, und nicht auf den Erfahrungen und Behauptungen einer einzelnen Menschengruppe, der Abstinenzler. Aber diese objektive, experimentale Untersuchung durch die Wissenschaft hat die Richtigkeit dieser einseitigen Behauptungen nicht festgestllt.
560 Wenn man die ökonomische Erkenntnistheorie Ernst Machs durchdenkt, zeigt es sich, daß seine Anschauungen einen Gedankengang enthalten, der mit demjenigen des Pragmatismus verwandt ist und bis zu einem gewissen Grade auf demselben Gedankenfehler beruht, den man bei dieser Richtung findet. Wenn er die Wahrheit eines Allgemeinbegriffes, einer Hypothese, in ihrem »Erfolg«, also in ihrer zweckmäßigen, gedankenökonomischen Anpassung sieht — wenn er konsequent wäre, müßte er übrigens auch die Wahrheit des Allgemeinbegriffes »äußerer Dinge«, des »Ichs« und der »Umwelt« überhaupt in einer solchen zweckmäßigen Anpassung finden — hat er in Wirklichkeit auch den gefährlichen Weg eingeschlagen: die Wahrheit eines Begriffes, einer Vorstellung, einer Anschauung durch ihre praktisch-nützlichen Konsequenzen als bewiesen zu betrachten, genau wie der Pragmatismus es getan hat. Das aber ist und bleibt unrichtig. Die Wahrheit irgend einer Vorstellung, irgend eines Begriffes und damit auch irgend eines Allgemeinbegriffes kann niemals durch ihre nützlichen und zweckmäßigen Konsequenzen, sondern einzig und allein durch ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und den logischen Axiomen und den darauf aufgebauten experimentalen Methoden bewiesen werden. Ein Allgemeinbegriff, wie z. B. Pferd, ist nicht wahr, weil er, wie Machs wirtschaftliche Erkenntnistheorie behauptet, durch Zusammenfassung mannigfaltiger Einzelwesen, der zahlreichen Pferde unserer Erde, in eine gemeinsame Vorstellung, den Begriff Pferd, eine gedankenersparende Vereinfachung der Wirklichkeit ist. Nein, der Allgemeinbegriff Pferd ist wahr, einfach weil er alle Momente oder Eigenschaften enthält, die in den zahlreichen Pferden der Wirklichkeit zu finden und ihnen Allen gemeinsam sind. Wenn die mannigfaltigen Pferde der wirklichen Welt diese gemeinsamen Momente, die Gleichheiten nicht enthielten, würden wir mit allen Vereinfachungsbestrebungen völlig hilflos dastehen. Die wirkliche Welt enthält aber glücklicherweise selbst die Einfachheit, die Vereinfachung, dank ihrer mannigfaltigen Gleichheiten mitten in der Verschiedenheit. Dieses Einfache, Vereinfachte der Wirklichkeit beruht, wie diese selbst, wie der ganze Begriff der wirklichen Welt, auf unseren Erkenntnisfaktoren, auf unserer Auffassung von Verschiedenheiten und Gleichheiten und von gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen unseren Wahrnehmungen. Diese Faktoren zeigen uns aber auch eine Welt von Unterschieden, genau wie die Gleichheiten. Und ob das Einfache, das Gemeinsame, ob die Gleichheiten, die Vereinfachung die Anpassung und die Ordnung einer äußeren Welt im Chaos durch unseren Geist hergestellt werden, oder ob das Einfache, ob die Gleichheiten in der Welt selbst, in der Wirklichkeit 2 vorhanden sind, wissen wir überhaupt nicht. Die Auffassung Machs und des Pragmatismus von der menschlichen Erkenntnis als »Anpassung«, »zweckmäßiger Ordnung« eines Stoffes aus Erfahrungen, ist nichts Anderes als eine Wiederholung der Kant-
561 sehen Theorie, daß unser Geist den Stoff der Erfahrungen gestaltet, hier nur im Gewand der darwinistischen Entwickelungslehre. Aber gleichgültig ob man diese Lehre von Form und Stoff in das eine oder das andere Gewand kleidet, ist und bleibt sie, wie ich im Texte bereits gezeigt habe, gänzlich unbeweisbar. W i r wissen nicht, ob dasjenige, was diese Philosophie die » F o r m « der Erkenntnis, die »Ordnung« unseres Geistes, »die Anpassung« o. Ä. nennt, mit der Welt an sich, der Wirklichkeit 2 übereinstimme oder nicht, oder ob sie von ihr stamme oder nicht. Und ebenso wenig wissen wir, ob der » S t o f f « dieser Wirklichkeit entstamme und mit ihr übereinstimme oder nicht. Mach versucht also in Wirklichkeit auch den bequemen W e g um die Sache herum, den ich im Text den Weg von D—A um C und B herum genannt habe. Aber dieser kürzere Weg ist, wie festgestellt, gesperrt. Jeder Allgemeinbegriff, überhaupt alle Grundbegriffe, Grundsätze, Gesetze der Wissenschaft und alle Theorien und Anschauungen müssen den mühseligen Weg durch C und B, durch die Prüfung vor dem Gerichtshof der Wirklichkeit und der Logik gehen. Die Wirklichkeit und die logischen Axiome müssen aber wieder von der Oberinstanz: den Erkenntnisfaktoren, geprüft werden. Die Prüfung und die Analyse des Wirklichkeitsbegriffes selbst und der logischen Axiome von den grundlegenden Erkenntnisfaktoren aus, die ich in der vorhergehenden Darstellung im Text versucht habe, haben sowohl die wirtschaftliche Erkenntnistheorie als auch der Pragmatismus versäumt. (In meinem Werke: Erkendelseslaeren og Naturvidenskabens Grundbegreber, Kopenhagen 1941, sind diese Untersuchungen in Einzelheiten durchgeführt, bemerke besond. S. 363—377).
In bezug auf ein einzelnes Axiom, nämlich den Kausalsatz, behauptet der dänische Philosoph Kroman, daß dieser seine Quelle im Selbsterhaltungstrieb habe, da wir weder leben noch wirken können, ohne daß die »Dinge sich regelmäßig das eine wie das andere Mal benehmen, daß jedesmal, wenn eine Änderung geschieht, der Grund dazu sei, daß dieselbe Gruppe von Umständen vorhanden sind, die voriges Mal vorhanden waren« und dieselbe Veränderung veranlaßten, mit anderen Worten: wir setzen voraus, daß »jede Änderung ihre bestimmte und zureichende Ursache habe« und daß jedes Ding oder jeder Zustand ohne eine solche Ursache sich selber gleich bleibe. W i e Meyerson behauptet Kroman, daß wir mittels des Kausalzusammenhanges den Versuch machen, die Identität zwischen den Zuständen vor und nach der Änderung zu wahren. Die Weltelemente, die Atome, bewahren ungeachtet ihrer Bewegungen ihre Identität mit sich selbst durch die Zeiten, ihre Unvergänglichkeit (Kroman: »Vor Naturerkendelse«, Kopenhagen 1883, S. 23-24, 262-76, 296 f f ) . 36
Erkenntnis und Wertung
562 Kroman hat den psychologischen Ursprung des Kausalsatzes und des Kausalbegriffes nicht näher untersucht. Deshalb hat er nicht gesehen, daß wir zwischen gesetzmäßigen Zusammenhängen und Ursachenzusammenhang (die Kroman mit einander vermengt) sondern müssen, daß wir vermeintlich den Kausalbegriff und den Kausalsatz; daß jede Änderung ihre Ursache habe, aufgeben müssen, und daß wir dieses tun können, ohne daß unser Selbsterhaltungstrieb reagieren würde. Kroman hat nicht gesehen, daß es, eben wenn der Kausalzusammenhang als Identität in der Zeit, Unveränderlichkeit der Grundelemente, der Atome u. A., durchgeführt werden würde, indem alle Änderungen nur als Bewegungen dieser Elemente angesehen werden, so aussieht, als ob wir den Kausalsatz aufgeben müßten, da wir keine Ursache finden können, daß Elemente, Körper überhaupt, in Bewegung gesetzt oder ihre Bewegungen in Bezug auf Richtung und Schnelligkeit geändert werden können, wenn andere Körper sich ihnen nähern. Wenn der Kraftbegriff aufgegeben wird, müssen wir uns damit begnügen, einen gesetzmäßigen Zusammenhang festzustellen. Aber nicht einmal einen solchen können wir immer verlangen; und unser Selbsterhaltungstrieb würde auch gar nicht reagieren, weil wir uns bisweilen mit einem gewissen, statistisch häufigen Zusammenhang begnügen müßten. Kroman erwähnt übrigens selbst, daß es ein bedeutendes Gebiet gebe, auf dem er erkennen müsse, daß das Kausalverhältnis nicht gelte, nähmlich das Psychische, da das Verantwortungsgefühl des Menschen seinen Handlungen gegenüber eine Willensfreiheit vorauszusetzen scheine, die im Wiederspruch zum Kausalverhältnis stehe. Kroman sagt hier: »Weil das Ursachenlose unerkennbar ist, ist es nicht gegeben, daß es nichts Ursachenloses gibt« (Kroman S. 255. Vgl. überhaupt über die Frage Determinismus — Indeterminismus S. 230 ff.). Wenn Kroman also hier selbst zugibt, daß es möglicherweise ursachenlose Änderungen gebe, daß Gebiete zu finden seien, wo der Kausalsatz keine Gültigkeit habe, dann wird dieser Satz nicht von unserem Selbsterhaltungstrieb gefordert. Man soll sich überhaupt hüten, irgend ein Prinzip oder irgendwelche Anschauung als naturnotwendiger Ausschlag unseres Selbsterhaltungstriebes zu verkünden. Wenn man keine tiefere, psychologische und erkenntnistheoretische Untersuchung der fundamentalen Erkenntnis-Fähigkeiten gibt, denen der Kausalsatz und andere Axiome entspringen, und keine Untersuchung der Methode der Erkenntnislehre unternimmt, endet man im Pragmatismus, nach dem die Haltbarkeit aller Axiome und Grundanschauungen auf ihren günstigen Wirkungen für die Menschheit beruht. Kroman fühlte sich denn auch vom Gedankengang des Pragmatismus stark angezogen. H0ffding hat Kroman gegenüber mit Recht hervorgehoben, daß dieser nicht näher untersucht habe, wie der Selbsterhaltungstrieb zur Aufstellung des genannten Axioms führen könne und daß eine solche Untersuchung ihn zur Auffassung des Pragmatismus gebracht hätte. Man vermißt bei ihm eine nähere, psychologische Untersuchung darüber, wie der Selbsterhaltungstrieb in
563 ein intellektuelles Interesse umgestaltet oder umgestellt werden könne, das fortfährt, seine Schlüsse zu ziehen, selbst wenn sie weit über dasjenige hinausgegangen sind, das diesem Triebe dienen könnte. Es liegt, wie Höffding hervorhob, in Gedankengange Kromans und des Pragmatismus das für die Wissenschaft beunruhigende, daß sie Beide den willkürlichen Charakter der wissenschaftlichen Prinzipien behaupten, denn diese Auffassung muß letzten Endes dazu führen, daß man die Prinzipien wird aufgeben können, sobald ihre Folgerungen inopportun werden (Vgl. »Correspondance entre Harald H0ffding et Emil Meyerson«, S. 138-40). Auffassungen wie die Machs und Kromans und wie die des Pragmatismus zeigen, daß man in der Erkenntnislehre um die tiefere psychologische und erkenntnistheoretische Auseinandersetzung in bezug auf die Methode der Erkenntnislehre, die ich in der vorhergehenden Untersuchung versucht habe, nicht herumkommt. Erst wenn man dadurch die Grundlage enthüllt hat, auf der jede Erkenntnislehre aufgebaut ist und wenn die Grundlagen-Illusionen, auf denen die Auffassung der verschiedenen Richtungen beruht, klargestellt sind, kann man den fundamentalen Streit zwischen empirischer und apriori scher Methode beenden und den Weg zu derjenigen Grundlage der Wissenschaft finden, die unerschütterlich scheint und die alle Versuche, die Wahrheit der Axiome, der Behauptungen und der Anschauungen nach den opportunen Wirkungen zu beurteilen, verhindert. Man soll nicht damit anfangen, Axiome, aufzustellen, sei es nun eines oder mehrere, und zu ihrer Begründung nur darauf hinweisen, daß sie eine Zurechtlegung der Erscheinungen ermöglichen, die mit unserem praktischen Bedarf übereinstimmen mag, daß sie dem Selbsterhaltungstrieb der Menschen entspringen u. ä., denn in diesem Falle werden selbst die wichtigsten Axiome der Wissenschaft nur willkürliche Postulate, die nach den wechselnden, nützlichen Wirkungen, den praktischen Lebensbedürfnissen, geändert, aufgegeben, durch andere ersetzt werden können. Und ferner kann man von diesen wechselnden Konjunkturen aus neue, willkürliche Axiome, Anschauungen und Behauptungen aufstellen. Man muß deshalb zuerst psychologisch und erkenntnistheoretisch untersuchen, in welchen fundamentalen Erkenntnisfähigkeiten oder Faktoren der menschlichen Natur die ersten Axiome der Wissenschaft ihren Ursprung haben und woher unser Wirklichkeitsbegriff stammt. Wie ich zu zeigen versucht habe, entspringen unser Wirklichkeitsbegriff und die ersten, logischen Axiome (1 + 1 = 2 ) den fundamentalen Erkenntnisfaktoren oder Erkenntnisfähigkeiten 1—6, vor Allem Verschiedenheit und Gleichheit und gesetzmäßigem Zusammenhang. Ohne diese Faktoren und die darauf aufgebaute Wirklichkeit gibt es überhaupt keine Erkenntnis oder Handlung, ja, nicht einmal Sinneswahrnehmung. Deshalb stellen diese Wirchlichkeit und die darauf begründeten Axiome und experimentellen Methoden den Prüfstein für die Wahrheit aller Anschauungen dar. 36»
564 S. 285 f f . , 295 f f . Gunnar Myrdal ist in seiner interessanten und scharfsinnigen Arbeit: »Vetenskap och politik i National0konomien« energisch für die Befreiung der Nationalwirtschaft von allen Wertungen eingetreten. Die Aufgabe der Nationalwirtschaft solle nur die sein, tatsächliche Erscheinungen zu beobachten und zu beschreiben und die gegenseitigen Kausalverbindungen darzustellen. Dagegen sei es nicht möglich, rein wissenschaftlich zu beweisen, daß ein gewisser Gesellschaf tszustand politisch einem anderen vorzuziehen sei (genanntes W. S. 13.). Myrdal schließt sich hier dem Gedankengang an, der in Deutschland von Max Weber und in Schweden von Hägerström entwickelt worden ist und nach dem die Volkswirtschaft, alle Soziologie eine theoretische Wissenschaft sein solle und deshalb »wertungsfrei«, »von allen Normen, von allen Vorstellungen von dem, was geschehen sollte, f r e i . . . « gehalten werden müsse ( M y r d a l , SS. 27, 47, 135, 277). Die Ausführungen Myrdals sind durchaus selbständig und geben tatsächlich eine weit eindringlichere Untersuchung und weit schärfere Beleuchtung des ganzen Problems, als Max Weber und Hägerström zu geben vermocht haben. Myrdal hat darin Recht, daß man um der Klarheit willen zwischen der rein tatsächlichen Beschreibung innerhalb der Nationalökonomie (und jeder anderen soziologischen Wissenschaft), soweit die Kausalzusammenhänge in Betracht kommen, und einer auf dieser Grundlage gegebenen Untersuchung davon, wie die Gesellschaft oder Teile derselben einzurichten seien, scharf unterscheiden müsse. Er hat ferner darin Recht, daß der Utilitarismus durch seine unklaren Begriffe von »Glück« und »Nutzen« für die größte Anzahl von Menschen einen ungünstigen Einfluß auf die Wertlehre der Nationalökonomie ausgeübt hat. Dadurch wird das schwierige Problem der quantitativen Messung der Lustgefühle bei dem Einzelnen und bei Vielen mithineinbezogen (50 ff., 67 ff., 88). Innerhalb der älteren klassischen Nationalökonomie meinte man, daß die Gewerbefreiheit unwillkürlich zu einem Maximum der Zufriedenheit (der Lustgefühle) in der Gesellschaft führen müßte. Da es sich aber zeigte, daß die ungebundene Gewerbefreiheit in gewissen Gesellschaften (vor Allem in den stark industrialisierten, wie in der englischen) zu einer gewaltigen Kapitalanhäufung bei relativ wenigen Menschen und einer entsprechenden Not bei Vielen führte, wurde das Problem, nicht nur ein Maximum der Lustquanta hervorzubringen, sondern auch diese unter so Vielen wie möglich zu verteilen. Mehrere wirtschaftliche Denker beschränkten deshalb die Gewerbefreiheit auf eine Produktion und den Umsatz der Güter, schlössen jedoch die Verteilung der Güter aus; hier dürfte die Gesellschaft mit Gesetzen und Ähnlichen eingreifen (S. 157 ff., 184 ff.). Aber in Wirklichkeit könne man nicht einmal irgendeinen wissenschaftlichen Beweis dafür führen, daß die Gewerbefreiheit innerhalb der Produktion maximalen Wohlstand hervorbringe. Und übrigens gibt es tatsächlich auch kein
565
vollständig freies Erwerbsleben. Abkommen verschiedener Art begrenzen in weitem Umfange die freie Konkurrenz (193 ff.). Es sind indessen nicht nur die Begriffe des Utilitarismus, Glück und Nutzen für die Menge, die der Reinigung durch die streng theoretische, beschreibende Wissenschaft zum Opfer fallen. Dasselbe Schicksal trifft denjenigen Begriff, der bisher als der zentrale in der Nationalökonomie betrachtet wurde, nämlich den Begriff Wert, der der Wert-Ethik entstammt und mit ihr eng zusammenhängt, vor Allem das Lustmaximum des Utilitarismus und des Hedonismus überhaupt (Myrdal 91 ff.): »Je mehr wir die Wertlehre durcharbeiten, umso inhaltsloser und gleichzeitig um so wissenschaftlich überflüssiger ist sie geworden... Der Begriff Wert kann nur in dem völlig »wertfreien« Sinne faktischer Umtausch-Relationen oder tatsächlicher Angebots- und Nachfrage-Preise (d. h. der Preise, die ein Individuum unter angegebenen Bedingungen tatsächlich bereit ist, für eine Ware zu nehmen, bzw. zu geben) verstanden werden« (S. 93). Dagegen sei Wert ein moralischer Begriff und solange er der zentrale Begriff der Natioalökonomie sei, werde er seinen normativen Charakter bewahren. Beim konsequenten Durchdenken werde es sich indessen zeigen, daß mehr als der Begriff Wert einer solchen »Reinigung« zum Opfer fallen werde. Myrdal will diesen Begriff mit faktischen UmtauschRelationen oder Angebots- und Nachfrage-Preisen ersetzen, aber die hinzugefügte Klammer an der angeführten Stelle bei Myrdal zeigt, daß wir damit faktisch in der Psychologie, d. h. in einer psychologischen Darstellung der Lust- und Unlust-Motive der kaufenden und verkaufenden Individuen enden, da die »tatsächliche Bereitschaft« eines Individuums Preise für eine Ware zu geben oder zu nehmen überhaupt keine anderen Motive haben kann — aber damit geraten wir in den Hedonismus hinüber, in eine eigentliche Wertlehre (vgl. auch die treffenden Bemerkungen J0rgen Pedersens in der dänischen »National0konomisk Tidskrift« 1931. S. 148-49). Die Grenznutzlehre, nach der man ebenfalls Angebot und Nachfrage definieren kann, ist letzten Endes auch in der hedonistischen Psychologie und Wertlehre begründet. Dann muß noch hervorgehoben werden, daß Myrdal erkennt, daß die wirtschaftlichen Erscheinungen, die eine tatsächlich beschreibende Volkswirtschaftlehre in ihrem ursächlichen Zusammenhange schildern soll, sich alle innerhalb dessen befinden, was er das »institutionelle System«, den institutionellen Zustand, nennt, dem in erster Linie die Rechtsordnung innerhalb der Gesellschaft, besonders die Eigentums-Rechtsordnung angehört (S. 281—85). Jede Rechtsordnung ist aber eher normativ und sie wird überhaupt nur nach normativen Wertungsgesichtspunkten geändert oder bewahrt. Die Rechtsordnung der Gesellschaft und ihre Wirtschaft hängen ja, wie ich anderswo klargestellt habe, organisch auf das engste miteinander zusammen, ja, sie können überhaupt nicht von einander getrennt werden. Die wirtschaftlichen Erscheinungen sind deshalb
566 mit normativen Phänomenen, mit rechtlichen Wertungen auf das innigste verwoben und untrennbar mit ihnen verknüpft. Die Gesellschaft ist, wie ich anderso gezeigt habe, kein rechtlicher oder wirtschaftlicher Organismus, sondern ein rechtlich-wirtschaftlicher und man hat bisher übersehen, daß selbst die einfachsten Rechtsregeln des bürgerlichen Rechtes tief in das wirtschaftliche Leben der Gesellschaft eingreifen und es umgestalten (vgl. mein früher erwähntes Buch I, S. 27-29, 40-44). Diese lebende, sich ständig ändernde Rechtsordnung, die tief in die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse eingreift, macht unleugbar — wie Myrdal selbst erkennt (284) — eine rein beschreibende, wirtschaftliche Technologie »außerordentlich schwierig«, man könnte auch »unmöglich« sagen. Wenn man übrigens wirtschaftlich-technologisch die Fragen der Gesellschaft nur von den Interessengesichtspunkten einer bestimmten sozialen Klasse oder Gruppe aus als konkretisierte Wertprämisse behandeln kann und wenn es in dieser Beziehung besser ist, daß die Wertprämisse so allseitig gewählt werden, daß sie den bis zu einem gewissen Grade verschiedenen Interessen starker Sozialgruppen entsprechen (Myrdal S. 285), wird man vermutlich erkennen, daß es hierbei tatsächlich das einzig Natürliche sei, die Möglichkeiten einer unparteiischen Ausgleichung dieser Interessen sachlich und gründlich zu untersuchen. Aber damit sind wir bereits bei dem normativen Wertungsgesichtspunkt angelangt, der nichts weniger heißt als: Gerechtigkeit unter den Klassen oder den sozialen Gruppen. Dazu kommt, daß die Motive zum Kampf der Klassen oder sozialen Gruppen durchaus nicht nur wirtschaftlicher, sondern im hohen Maße auch idealer Art sind, nämlich in erster Reihe der Anspruch auf Gerechtigkeit unter den verschiedenen Klassen der Gesellschaft, wofür Myrdal selbst einen offenen Blick hat (S. 286). Endlich muß noch bemerkt werden, daß Myrdal mit Recht hervorhebt, daß es im politischen Leben der Gegenwart, sowohl in der Demokratie als unter der Diktatur, bei der mehr an die Gefühle als an den Verstand appelliert wird, während die Suggestion durch den Propagandaapparat in den Dienst der Parteien gestellt wird, außerordentlich wichtig sei, daß durch eine objektive soziale Erforschung des wirtschaftlichen Interessenfeldes eine gewisse Redlichkeit im politischen Kampfe gewahrt werde. Die einseitige politische Agitation müsse »im Interesse der allgemeinen Redlichkeit« bekämpft werden (294). Dadurch geschieht es aber Myrdal, daß er unbewußt, aus der ganzen Macht seiner Seele, als Ziel seiner gesammten sozialen Forschung für einen reinen Wertungsstandpunkt, ein ethisches Ideal, kämpft: die Wahrung der geistigen Redlichkeit in der Gesellschaft, für den Schutz derselben gegen einseitige und falsche Vorstellungen. Von dem Standpunkt einer rein beschreibenden, vollständig wertungsfreien, sozialen Wissenschaft aus sollte es konsequenterweise völlig gleichgültig sein, ob die gesellschaftliche Entwickelung die geistige Einstellung des Volkes einseitig und suggestiv in eine bestimmte Rieh-
567 tung oder in eine allseitige und objektive Richtung geleitet und über die Falschheit gewisser Vorstellungen belehrt werde. Eine rein beschreibende Wissenschaft wird sich damit begnügen, wirklichkeitstreu diese verschiedenen Richtungen, ihre Tätigkeit und ihre sozialen Wirkungen festzustellen und zu registrieren. An und für sich ist ja nicht im voraus gegeben, daß eine Bevölkerung sich nicht bei der Gleichschaltung einseitiger und falscher Vorstellungen glücklicher fühlen würde, als bei allseitiger, objektiver Belehrung. Wenn man dennoch behaupten will, daß das Volk auf die Dauer durch objektive und richtige Vorstellungen geleitet werden und daß der politische Kampf von Redlichkeit und nicht von suggestiven, einseitigen und falschen Vorstellungen beherrscht werden dürfe, ist dieses lediglich von der Wertung aus zu begründen, daß das Volk sich im Laufe der Zeiten durch die ersterwähnte Beeinflussung alles in allem am besten oder glücklichsten fühlen werde. Dazu ist ein Beweis seitens einer Erfahrungswissenschaft erforderlich, aber diese Erfahrungswissenschaft, die ein ungeheures Material aus der Geschichte des gesamten Menschengeschlechtes mithineinbeziehen muß, wird genötigt sein, überall mit sozialen Wertungsbegriffen zu arbeiten; sie wird keine einzige W i r kung untersuchen können, ohne die Frage zu stellen: gereichte sie zum Schaden oder zum Vorteil der Menschheit oder der betreffenden Gesellschaft? Die Untersuchungen jeder sozialen Forschung mit Bezug auf die Kausalzusammenhänge — von den einfachsten bis zu den kompliziertesten Verhältnissen zwischen Ursache und Wirkung — sind nicht imstande einen einzigen Schritt zu tun, ohne die fundamentalen Wertungsfragen zu stellen. — In der vorhergehenden Untersuchung im Text habe ich versucht, näher darzutun, daß diese ganze Richtung der Soziologie, die nur eine wertungsfreie Beschreibung der sozialen Erscheinungen als ^Wissenschaft hat anerkennen wollen, nur dadurch entstanden sei, daß diejenigen, die diese Richtung begründeten, nicht erkannten, daß man, bevor man überhaupt behaupten kann, daß Wissenschaft ^Beschreibung desjenigen sei, was ist, also der Wirklichkeit, erst eine ¿tiefere, erkenntnistheoretische Untersuchung des Begriffes der Wissenschaft, des Begriffes Wissen, und was es heißt, daß Etwas sei, -also überhaupt von dem Grundbegriff der Wissenschaft, nämlich der Wirklichkeit, vorzunehmen habe. Die Erkenntnislehre muß im•mer der Ethik, muß aller Gesellschaftswissenschaft vorausgehen. W i e ich zu zeigen versucht habe, ist der Grundbegriff der Wissenschaft selbst, der Wirklichkeitsbegriff, zutiefst gesehen ein Wertungsbegriff, da er völlig auf der menschlichen Fähigkeit zu unterscheiden und zu vergleichen und gesetzmäßige Zusammenhänge aufzufassen beruht, und weil diese Fähigkeiten in letzter Instanz überhaupt nur dadurch begründet werden können, daß sie durch Vorfühlung und Vorwärtsarbeiten der gesamten Menschheit durch Jahrmillionen sich zur Abwehr der Gefahren für das Menschengeschlecht und zur Befriedigung seines vitalen Bedarfes, kurz ausgedrückt: zum Nutzen und zur Entwickelung der Menschen als ein
568 höchster Wert notwendig erwiesen haben, der hinter aller Wissenschaft, aller Gemeinschaft, allem menschlichen Streben und aller Kultur liegt und sie erst begründet. Es ist folglich nur ein Gradunterschied und kein Wesensunterschied zwischen den sogenannten angewandten oder praktischen Wissenschaften, zwischen Wissenschaften wie Physik und Chemie und den technischen Wissenschaften, die eine Anwendung der erstgenannten sind, zwischen Physiologie und Psychologie und Medizin, Rechtswissenschaft, Nationalökonomie und jeder Soziologie vorhanden. In der letzten Instanz ist alle Wissenschaft praktische oder angewandte Wissenschaft. Da die Nationalökonomie während der parteipolitischen Streitigkeiten innerhalb der demokratischen Gesellschaften sehr mißbraucht und für die verschiedensten politischen Anschauungen beansprucht worden ist, scheint es sehr verständlich, daß innerhalb der eigentlich wissenschaftlichen Volkswirtschaft ein Widerwillen und ein Ekel an allein »politisch« bestimmten, nationalökonomischen Gesichtspunkten und Argumenten entstand, und daß man deshalb den Versuch machte, die Nationalökonomie von allen politischen Wertungen zu befreien, indem man sie zu einer rein beschreibenden, wertungs- und tendenzfreien Wissenschaft machte. Die parteipolitischen Streitigkeiten und die ganze parteipolitisch bestimmte Gesellschaft werden wahrscheinlich bald ein überwundenes Stadium in der soziologischen Entwickelung darstellen. Dann wird man viel bessere Bedingungen für eine wirklich objektive, allseitig beleuchtende, kritisch wertende, wissenschaftliche Untersuchung sowohl innerhalb der Nationalökonomie under der Rechtswissenschaft als auch innerhalb der Soziologie überhaupt vorfinden.
S. 301 und 309. Die Fachwissenschaften, die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften bauen empirisch auf psychologischen bezw. physischen Tatsachen auf. Die Erkenntnislehre baut empirisch sowohl auf psychologischen und physischen Fakten als auch auf Selbstbeobachtungen und sinnlichen Wahrnehmungen in Gleichheiten und Verschiedenheiten und in gesetzmäßigen Zusammenhängen, in Zeit und Raumbegriffen und zwar mit der größt-möglichen Abgestimmtheit oder Korrelation sämtlicher dieser Erkenntnisfaktoren auf.
S. 320. Bei Leibniz begegnen wir, wie so oft bei den älteren spekulativen Philosophen, richtigen Bemerkungen und gänzlich unberechtigten Schlußfolgerungen in unklarer Mischung. Es ist z. B. etwas Richtiges in seiner Definition der Kraft als desjenigen im gegenwärtigen
569 Zustand, das eine künftige Änderung mit sich führt. Wenn er aber behauptet, daß die Teilbarkeit der ausgedehnten Materie ins Unendliche zeige, daß die letzten Einheiten nicht materiell sein und keine Ausdehnung haben können und folglich geistig sein müssen, ist dazu erstens zu bemerken, daß die unendliche Teilbarkeit unbeweisbar ist und von keiner sinnlichen Wahrnehmung bestätigt wird. Dann muß aber zweitens hervorgehoben werden, daß die Schlußfolgerung von der unendlichen Teilbarkeit auf die Geistigkeit der Materie vollkommen unberechtigt zu sein scheint. Die Zahl der Alles umfassenden Begriffe innerhalb der Philosophie und mehrerer Fachwissenschaften ist beträchtlich. Außer der im Text genannten seien hier ferner beispielsweise die Begriffe Sein, Nicht-sein, Werden, die innerhalb der romantischen Philosophie viel verwendet wurden, genau wie ein Begriff, der selbst innerhalb der neueren Zeit eine größere Rolle gespielt hat, erwähnt, nämlich der Begriff der »Totalität« oder »Ganzheit«, ein Begriff, der sogar selbst von einzelnen Philosophen wie Rickert und teilweise sogar H0ffding zur Würde einer Kategorie erhoben und auch auf soziologischem Gebiete mißbraucht wurde, in Wirklichkeit aber völlig leer ist (vgl. mein früher genanntes Werk. S. 74—75, Anmerkung, und meine Abhandlung in der dän. »Tidskrift for Retsvaesen«, 1930, S. 153 ff.) Ein anderes Beispiel dieser allumfassenden Begriffe ist der Bewegungsbegriff bei Heraklit und Hobbes. Diesen Philosophen schien, wie bekannt, Alles Bewegung, die sowohl die Bewegungen der äußeren Gegenstände als auch die der inneren seelischen Phänomene umfaßte. Gefühle, Stimmungen und Willensentschlüsse waren bei Hobbes nur Bewegungen in der Stoffmasse des Gehirns.
S. 374. Bei gewissen Krankheiten, vor Allem den Gichtkrankheiten, ist die moderne Medizin bereits dahin gekommen, daß sie entsprechende körperliche Übungen oder körperliche Arbeiten innerhalb gewisser Grenzen anrät. Umgekehrt können gewisse Gichtformen durch zu starke und einseitige körperliche Arbeit oder durch übertriebene und einseitige Sportsübungen entstehen (mit dem Ausdruck »Gicht« bezeichnet man wie bekannt mehrere höchst verschiedene Leiden). Bei Schwund oder Schwächung des Zahnfleisches und der Zähne hat die heutige, zahnärtzliche Wissenschaft bereits angefangen, die Verknüpfung solcher Schwächungen mit der Zusammensetzung der Nahrung (Vitaminfrage) zu untersuchen und gleichzeitig den natürlichen Gebrauch und die Massage, die durch ein gründliches Kauen der Speisen erreicht wird, anzuraten. Ein gründliches Kauen wird ja übrigens auch bei gewissen Darmkrankheiten angeraten. Das stellt überhaupt ein physiologisches Problem dar, das im weiteren kausalen Zusammenhang zu untersuchen wäre: ob und in welchem
570 Maße eine natürliche Lebensweise, darunter auch Leibesübungen oder körperliche Arbeit in frischer Luft und die daraus folgende Blutzirkulation, auf den Allgemeinzustand des Körpers, auf die örtlichen Leiden und auf die Widerstandskraft gegen diese einen Einfluß ausübt. Die Untersuchung dieses Problems ist mit außerordentlich großen Schwierigkeiten verbunden, da man — um sich überhaupt eine Hoffnung auf verhältnismäßig sichere Resultate machen zu können — mit einer sehr großen Anzahl von Versuchspersonen und noch dazu durch relativ lange Zeiträum arbeiten muß. Wenn die Spezialisten der verschiedenen Gebiete ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf das örtliche Leiden und dessen spezielle Behandlung, sondern gleichzeitig auch auf den Allgemeinzustand ihrer Patienten und deren persönliche Lebensführung richten und sich Versuchs- und zeitweise mit solchen Änderungen desselben vortasten würden, die sich natürlich darbieten, würde man allmählich aus den Gebieten vieler Spezialwissenschaften ein umfassendes Material von Erfahrungen zur Beleuchtung dieses zentralen, physiologischen und ärtzlichen Problems des Einflusses der persönlichen Lebensführung auf örtliche Leiden und auf die verschiedenen Krankheiten überhaupt sammeln können. Dieses Problem ist von der größten ethischen Bedeutung für die Menschheit.
S. 373—74. Josef Lunddahl bringt in seinem Werk »On mental hygiene« (Acta Psychiatrica et Neurologica, Supplementum I, S. 69 ff.) mehrere charakteristische Beispiele, wie seelische Leiden (z. B. durch wirtschaftliche Sorgen, Prozesse entstanden) körperliche Krankheiten verursachen können.
S. 375. Es ist wie bekannt Sigmund Freud und seine Schule, die eine Lehre von der Verdrängung gewisser Vorstellungs- und Gefühlsgruppen (Komplexe) besonders sexueller Art entwickelt und gezeigt hat, wie deren Verdrängung das freie Wachstum und freie Entfaltung verursachen soll. Als heilende Behandlung wendet die sogenannte Psycho-analyse an: eine Untersuchung, besonders durch Ausfragen des Patienten, seiner Erinnerungen an frühere Erlebnisse in dieser Beziehung, eine Deutung seiner Träume als Ausdruck verdrängter Komplexe u. A. Indem Freud die Aufmerksamkeit auf diese Erscheinungen und die oben angeführte Behandlung lenkte, hat er sich unzweifelhafte Verdienste erworben. Er hat aber die Bedeutung derselben übertrieben und sie weit über das eng begrenzte Gebiet hinaus, das seine Erfahrungen mit Sicherheit deckte, unberechtigt generalisiert. Es gibt eine umfassende ausländische Literatur sowohl für als gegen die Theorien Freuds.
571 S. 378. Nach der heutigen Gehirnforschung hat das Gewicht des Gehirns weniger Bedeutung als die Vermehrung der grauen Gehirnsubstanz bestimmter Rindengebiete, z. b. leiden die intellektuellen Fähigkeiten bei der Zerstörung der Stirnrinde (beim Menschen macht diese 29 p. c. der Oberfläche der Gehirnrinde, beim Schimpansen 17, beim Pavian 10, beim Kaninchen 2,« p.c. aus). Das bedeutet nicht, daß das Gehirngewicht ohne Bedeutung ist (Beim Chinesen 1428 gr. bei der weißen Rasse 1361, beim Neger 1316. Diese Zahlen sind leider unkontrollierbare Generalisationen). S. 382. über den
Buddhismus.
Das gründlichste und eindringlichste Werk der nordischen Literatur über den Buddhismus ist das Werk des dänischen Indologen Paul Tuxen: »Buddha, hans Lsere, dens Overlevering og dens liv i Nutiden«, Kopenhagen 1928. Eine tiefgehende Darstellung vom Gedankengang Buddhas findet man i Skandinavien auch bei dem dänischen Religionsforscher V.Gr0nbech: »Mystiker in Europa und Indien«, 1925, S. 105-43. Für Buddha war das Menschenleben nur Leiden. Drei Dinge, alle Zeugnisse der Vergänglichkeit, hatten den tiefsten Eindruck auf Buddha (Gautama) gemacht: Krankheit, Altern und Tod. Nach der Überlieferung war Buddha in seiner Jugend ein Prinz (Siddharta), der in seinem Palaste mit Frau und Kindern glücklich lebte. Sein Vater wachte sorgfältig darüber, daß keine disharmonischen und störenden Eindrücke aus der Welt auderhalb des Palastes den Prinzen erreichten. Dennoch geschah es eines Tages, daß der Prinz auf einem Ausfluge einen vom Alter gebeugten, zitternden Greis sah, an einem anderen Tage wiederum einen Kranken, der sich in Schmerzen wand, und an einem noch späteren Tage eine Leiche. Da wurde ihm klar, daß er auch selbst dieser Vergänglichkeit, der Krankheit, dem Altern und dem Tode unterworfen sei, und er verließ deshalb sein Schloß und seine Familie und ging in die Einsamkeit. Sein Vater, der König, suchte ihn zurückzuhalten, der Prinz aber sagte zu ihm: »Wenn du mir vier Sachen schenken willst, bleibe ich hier und werde dich nie verlassen; was ich mir wünsche, ist dies: niemals zu altern, sondern in ewiger Jugend und Schönheit zu leben, niemals von Krankheit betroffen zu werden, sondern ewig zu leben ohne dem Tode zum Opfer zu fallen.« Der König war nicht imstande, diese Wünsche zu erfüllen. Der Prinz begnügte sich dann damit, ihn wieder um das eine zu bitten, daß er, wenn er einmal sterbe, nicht zu einem neuen Dasein wiedergeboren werde. Auch diesen Wunsch konnte der Vater nicht erfüllen. Deshalb ließ er seinen Sohn ausziehen, um die Welt zu erlösen. Wie man hieraus ersieht, ist es der tiefe Schmerz darüber, daß
572 nichts im Menschenleben unveränderlich und ewig ist, daß alles Glück verschwindet, der Buddha bewegt, allem Begehren zu entsagen, um dadurch vom ganzen, leiderfüllten Dasein des Menschen erlöst zu werden. Die Leiden des Lebens sind übrigens mit den drei großen — der Krankheit, dem Altern und dem Tode — nicht erschöpft. Es ist Leiden, von Allem, was man lieb hat, geschieden zu werden, und es ist auch Leiden, mit dem, das einem unlieb ist, vereint zu werden. Und es ist Leiden, nicht zu erhalten, was man begehrt. Da es die Begierde ist, die uns an das Dasein bindet, muß jedem Begehren, jedem Genuß der Sinne entsagt werden. Wie die Lampe erlischt, wenn sie keine Nahrung mehr erhält, weil das alte Oel verbraucht ist und man für frisches Oel nicht sorgt, so schwindet die Begierde bei demjenigen, der an der Erkenntnis festhält, daß Alles, was uns an Begierde bindet, vergänglich ist. Und mit der Begierde schwindet auch das Streben, das Dasein, die Geburt, das Altern und der Tod. Begehren und Verlangen macht widerstandslos der Krankheit, dem Altern und dem Tode gegenüber und läßt uns in Verzweiflung über diese Qualen jammern. Nach der Lehre Buddhas geht ein Gesetz tiefer Verantwortlichkeit durch das gesamte Dasein, insoweit als alle unseren Gedanken, Empfindungen und Handlungen in der Weise Folgen nach sich ziehen, daß sie uns entweder in das Dasein verstricken oder uns von ihm erlösen. Deshalb wird der Erkennende alle seine Gedanken, Gefühle und Handlungen genau überlegen. In den heiligen Büchern des Buddhismus wird eine Reihe von Geboten aufgestellt und es werden mehrere Wege empfohlen, damit man im Geiste Buddhas richtig leben und das Ziel, die Unterdrückung der Begierde, erreichen kann. Daß diese Gebote und Wege auch in rein menschlichen Verhältnissen zu einer ethisch richtigen Handlung den Mitmenschen gegenüber führen, ist an und für sich sekundär im Verhältnis zu dem großen Ziele, der Erlösung aus dem Dasein in der Form, in der wir es kennen. Es werden fünf Gebote aufgestellt: Niemandes Leben zu nehmen, Nichts zu nehmen, was nicht gegeben wird, nicht unkeusch zu leben, nicht zu lügen, keine berauschenden Getränke zu genießen. Aus diesen Handlungen und überhaupt aus dem Begehren nach materiellen Genüssen folgen nämlich die Handlungen des Hasses gegen Andere oder zum Schaden Anderer und deshalb sind die Gebote gegen die obenerwähnten, grundlegenden, speziellen Handlungen gerichtet. Das sinnliche Begehren gebiert überhaupt Leidenschaft, Feindschaft, Haß und Vergehen gegen das Leben und das Eigentum Anderer. Man muß deshalb verzichten, muß Feindschaft und Grausamkeit, Lüge, Verleumdung, Klatsch, Totschlag, Diebstahl und Ausschweifungen aufgeben. Wenn wir uns von allem Begehren befreien, werden wir vom Leiden erlöst. Der Weg zum Aufhören aller Leiden ist der »heilige achtfältige Weg«: rechtes Anschauen, rechtes Entschließen, rechtes
573 Handeln, rechte Lebensweise, rechtes Streben, rechtes Nachdenken und rechte Selbstvertiefung. Je mehr es einem Menschen gelingt, sich von der Begierde frei zu machen, die ihn bindet, um so besser wird sein nächstes Dasein und wenn er die Vollkommenheit in dieser Beziehung erreicht hat, w i r d er von jedem Dasein in dem Sinne befreit, in dem w i r gewöhnlich das Dasein auffassen. Er geht in das Nirwana ein. Jetzt darf man nicht glauben, daß die meisten einfachen Leute in den buddhistischen Ländern diese bittere Lebensbetrachtung Gautama Buddhas oder seine Vorstellungen vom Jenseits teilen. Es ist nur relativ Wenigen gegeben, sich zu dieser Lebensanschauung zu erheben, die meisten unter den gelehrten Mönchen. Die Masse innerhalb der einfachen Bevölkerung ist durchschnittlich mit dem Dasein zufrieden, wie sie auch in irgend einer F o r m an ein Dasein nach dem Tode glaubt. Erstens gehen die meisten Menschen von Dasein zu Dasein, bessere oder schlechtere, j e nach ihren Taten. Aber selbst den höchsten Zustand, das Nirwana, stellen sich Viele als einen Seligkeitszustand und nicht als die völlige Vernichtung vor. A n und f ü r sich kann man das Nirwana gar nicht definieren, denn wie w i r es auch versuchen würden, müßten w i r zu den gewohnten menschlichen Vorstellungen von Leben und Dasein greifen, und diese lassen sich dazu nicht verwenden. Es ist deshalb nicht wunderlich, daß es viele verschiedene Auffassungen des Nirwanas selbst unter den Anhängern Buddhas gibt — von dem Lande der Seligkeit bis zu einem rein seelischen Zustand, in dem es kein Begehren, keinen Zorn und keine Verblendung gibt, einem höchsten Glück, das Ruhe und Frieden ist, und weiter bis zu rein negativen Vor-
Das Wort Nirwana wird von den Buddhisten ungern verwendet — sie ziehen den Ausdruck Nibbana aus der Palisprache vor, in der die heiligen Bücher des Buddhismus geschrieben sind. Der Grund ist der, daß der Hinduismus das Wort Nirwana als Bezeichnung für die Absorption der Seele in Brahma gebrauchen. Wie aüs dem Text oben hervorgeht, kann dieses Nibbana auch während des Lebens erreicht werden — nämlich die Befreiung von den Unsicherheiten, den Begierden, der Unwissenheit u. s. w. dieses Lebens: »Der Jünger, der Lust und Begierde abgelegt hat, der Mächtige an Weisheit, er hat hier auf Erden Befreiung vom Tode, den Frieden, Nibbana, das Stadium der Ewigkeit erreicht« (Suttasangaha, Sacred Books of the East, XIII, p. 118 ff.). Ein moderner Buddhist wie Ananda Maitreya erklärt das Nibbana dieser Art mit folgenden Worten: »If I am asked: 'Is the Nibbana Annihilation! Is it Cessation? Is it the End of All? I reply, thus even have we learned. It is Annihilation — the annihilation of the threefold fatal fire of Passion, Wrath and Ignorance. It is annihilation of conditioned beeing it is the End of All — the end of the long torturous pilgrimage through Worlds of interminable illusion; the End of Sorrow, of Impermanence, of Selfdeceit... a Being, an Existence, that to name Life were a sacrilege and to name Death a lie . . . unnameable, unthinkable, yet even in this life to be realised and entered into: — thus is the glory of Nibbana by our Lord declared and such the Goal of this our Buddhist Faith . . . « (Ananda Maitrua: Nibbana, Buddhism, Rangoon, I, 15. Sept. 1903, Nr. 1, S . l f ) .
574 Stellungen. Nach heiligen Texten, die als die ursprünglichen gelten, gibt es im Nirwana kein Ich und kein Selbst in dem Sinne, in dem wir Menschen das Wort auffassen. Nirwana ist Nicht-vorhandensein der Begierde, des Zornes un der Verblendung: »Derjenige, der in das Nirwana verschwunden ist, kann von uns nicht erkannt werden und er besitzt nichts, durch das wir ihn bezeichnen könnten. Wenn alle die Einzelstücke, aus denen sein Ich bestand, vernichtet sind, sind auch alle Worte aus dem Spiele gesetzt«. Von deutschen Büchern über B. seien hier erwähnt: Oldenberg: Buddha (1897, 1921), Kern: Der B. und seine Geschichte (1882—84), Hardy: Der B. nach den älteren Palischriften (1890), Winternitz: Geschichte der indischen Literatur, (Bd. 2, 1920). Zahlreiche Übersetzungen und Werke von engl, und franz. Indologen. Buddha macht offentsichtlich keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Sinnen. Alle scheinen sie den Menschen an das Leben zu finden. In seiner dunklen Lebensanschauung hat er keinen Blick dafür, daß es Sinne gibt, die ohne Begierde sind und den Menschen deshalb nicht in das gewöhnliche Dasein von Leidenschaft, Jammer, Haß, Verleumdung, Diebstahl, Totschlag u. Ä. verstrickt. Die fünf Gebote aber zeigen, daß der Buddhismus praktisch genommen ausschließlich die niederen Sinne vor Augen hat, wenn er vor der Begierde und allen daraus folgenden Leiden für den Menschen warnt. Der Buddhismus hat in seiner Praxis deshalb auch nicht auf die Welt der Kunst verzichtet. Davon zeugen die vielen prachtvollen und schönen Tempel zu Buddhas Ehren, die von alters her und bis heute in den buddhistischen Ländern gebaut worden sind. Dann gibt es ferner noch das Problem von der Erkenntnis und ihren Freuden. Die rechte Erkenntnis kann nach Buddha bereits in diesem Leben den Weisen in einen Nirwanazustand führen, nämlich wenn die Erkenntnis ihn zum Aufgeben alles Begehrens bringt. Auf drei Stadien der »rechten Selbstvertiefung« (des letzten Gliedes des achtfältigen Weges) erzielt der Weise denn auch Zufriedenheit und Glück. Nur auf dem letzten wird von ihm gesagt, daß er einen über Schmerz und Glück erhabenen Zustand des geistigen Gleichgewichtes erreiche. Ein solcher Zustand ist indessen psychologisch unmöglich. Andere Textstellen preisen ganz allgemein das Glück am Denken: »Nichts kenne ich, Mönche, das durch Übung so großes Glück bringen kann, wie der Gedanke; der geübte Gedanke bringt großes Glück« (Tuxen, 205, 268 ff.). Es gibt also mehr Probleme, sowohl psychologischer als ethischer Art, als diejeningen, von denen die Philosophie des Buddhismus geträumt hat. Erkenntnistheoretisch ist die Grundbetrachtung des Buddhismus auch nicht befriedigend, denn — wie die ganze entsprechende Anschauung von Hume — beruht sie auf dem, was ich eine Erkenntnis- oder eine Grundlagen-Illusion genannt habe.
575 S. 437 f f . Innerhalb der Philosophie des Altertums ging bereits Piaton auf das Phänomen der Schönheit, besonders in der Musik, im Tanz und in der bildenden Kunst ein. Er sagt, daß die anderen Lebewesen keinen Sinn für gute oder schlechte Ordnung innerhalb der Bewegungen hätten. Gute Ordnung der Bewegungen nennt man Takt und Harmonie. Die Regelmäßigkeit der Bewegung nennt man Takt, die Regelmäßigkeit des Lautes aber, die durch die rechte Mischung hoher und tiefer Töne entstehe, wurde Harmonie genannt. Piaton fordert, daß sowohl die Musik als der Tanz und die bildende Kunst ethisch erhebend wirken sollen. In der Beurteilung dessen, was schön sei, solle man sich nicht nach dem richten, was die große Menge verlange. Sich nach dem Zuschauer richten und die Mehrzahl entscheiden lassen, was schön sei, wie es im demokratischen Athen die Sitte war, habe nicht nur die Dichter, sondern auch den Geschmack der Zuschauer selbst verdorben. Er meint, daß ein hervorragender Gesetzgeber auch auf dem Gebiete der Kunst eingreifen, den Geschmack des Volkes leiten und von den Dichtern und den bildenden Künstlern fordern sollte, daß sie das Volk ethisch in der Weise erziehen, daß sie die Menschen für Güte und Gerechtigkeit begeistern. Erst i m 18. Jahrhundert begann man indessen in größerem Zusammenhang und bewußter systematisch zu untersuchen, worauf die Schönheitswirkungen beruhen. Besonders muß Winckelmanns: »Geschichte der Kunst des Alterthums« (1764) hervorgehoben werden, die die reinen und abgeklärten Typen der antiken Kunst als Schönheitsideal hervorhob, sowie Lessings: »Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie« (1766) und seine »Hamburgische Dramaturgie« (1767—69). Lessing unterscheidet wesentlich zwischen der bildenden Kunst und der Dichtkunst, da diese letztere nicht nur die ideale Schönheit, sondern auch die Gegensätze, die Leidenschaften und Stürme, das Böse und das Erhabene des Lebens darstellen solle. Er hebt deshalb die Werke Shakespeares denen des französischen Klassizismus gegenüber hervor (Racine, Voltaire). Von entscheidender Bedeutung war auch Kants »Kritik der Urteilskraft« (1790), die die Kunst scharf von dem Nützlichen und Zweckmäßigen sonderte und das Schöne als dasjenige definierte, das nur durch seine Form ein interessenfreies Behagen erregt. An diesem Letzteren, ist richtig, was bereits Piaton und Aristoteles angedeutet hatten, nämlich daß die höheren Sinne, das Auge und das Ohr für das, was schön genannt wird, entscheidend sind, so daß Schönheitseindrücke also Eindrücke sind, die wir durch diese Organe und nicht durch die niederen, an die Alles geknüpft ist, was wir materielle Begierde nennen, erhalten. Daraus darf allerdings nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, daß die Schönheitseindrücke nicht auch physiologisch bedingt wären. Eine spätere Ästhetik hat im 19. Jahrhundert mit Recht und im weitem Umfange den Versuch gemacht, auf experimentalen Wege ausfindig zu machen, auf welchen
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physiologischen Verhältnissen die ästhetischen Lustwirkungen beruhen. G. T. Fechner leitete diese Richtung mit seinem Buche »Vorschule der Ästhetik« (1876) ein, das mir doch nicht sonderlich wertvoll erscheint. Die beste Arbeit in dieser Richtung ist meiner Auffassung nach das Werk »Nydelsernes Fysiologi« von dem Dänen Carl Lange (1899). Psychophysische Experimente können unzweifelhaft auch auf diesem Gebiete verwendet werden, um ein gewisses Licht darüber zu werfen. Auf der anderen Seite darf man aber deren Bedeutung nicht übertreiben. Die tiefsten Grundverhältnisse, auf denen sowohl die ethische als auch die ästhetische Wertung beruht und die ich bereits in meiner Untersuchung im Text ausfindig zu machen suchte und die ich da beleuchtet habe, sind alle in dem Sinne phychischer Art, daß sie durch psychologische Erfahrung, menschliche Selbsterfahrung erklärt und begründet werden können. Daß jedem einzelnen Erlebnis ein physischer Vorgang in den Gehirnzellen entspricht, ist möglich, ja sogar wahrscheinlich. Die meisten dieser physischen Prozesse sind indessen auf dem gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaft unnachweisbar. Es wird deshalb der Erklärung nichts dadurch hinzufügt, daß man hinter dem seelischen Prozess einen physischen Vorgang supponiert, insofern dieser nicht experimentell nachzuweisen ist. Schiller hat besonders in den Abhandlungen »über Anmut und Würde« (1793), »über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1795) und »über das Erhabene« (1801) wertvolle, ästhetische Beiträge gegeben. Die im Text angeführten Äußerungen sind in der oben angeführten Abhandlung »über die ästhetische Erziehung« in Schillers sämtlichen Werken (in der Klassikerausgabe Max Hesses, Leipzig, 12. Band, S. 7, 43-44) zu finden. Aus der englischen Literatur müssen besonders John Ruskin: »Modern Painters« (1842) und »Stones of Venice« (1853) hervorgehoben werden. Er hat in England große Bedeutung gehabt, als er im Zeitalter der Maschinen und der Massenfabrikation für das alte, gediegene Handwerk eintrat. Er macht geltend, daß das Handwerk individuell geprägt, von persönlicher Tüchtigkeit und von Liebe zur Arbeit getragen sein müsse. Er verabscheut die Großindustrie, ihre Maschinen, die den Menschen zum Sklaven machen, und die von ihr geschaffenen trüben und einförmigen Arbeiterviertel der Großstädte. Von neuerer englischer philosophischer Literatur über ästhetische Fragen sei E. F. Carritt: »What is beauty?« genannt. Aus der französischen Literatur verdient besonders H. A. Taine »Philosophie de l'art« (1865) und »L'ideal dans l'art« (1867) hervorgehoben zu werden. Georg Brandes war von Taines naturalistischkritischer Methode stark beeinflußt. Dieser Schriftsteller ist in seiner ästhetischen Grundanschauung ebenso wenig klar, wie in seiner allgemein-philosophischen. In seinem Werke »Hauptströmungen« erklärt er bald, daß es die Aufgabe der Literatur sei, das wirkliche Menschenleben zu schildern, bald aber an anderen Stellen die Literatur solle für »die freie Entfaltung der Humanität«, für »Freiheit hoch über
577 dem Zwange des Herkommens der Gesellschaft und der Gesellschaftsmoral« kämpfen und »Probleme zur Debatte stellen«. Das ist aber mehr als Wirklichkeitsschilderung. Es ist eher ein Kampf um eine neue Gesellschaftsordnung und eine neue Ethik. Aber auch nicht in der etischen Grundwertung gelangte er zur Klarheit (vgl. oben S. 506 und Georg Brandes: »Samlede Vaerker«, 1900, S. 7, S. 5, S. 12-13). Von neuerer dänischer Literatur über Ästhetik seien außer der vorgenannten Schrift von Carl Lange (1899) noch folgende genannt: Cl. Wilkens: »^Estetik i Omrids« (1887) und »Poesien« (1893), Emil Rasmussen: ».¿Estetiske Studier (1899), Harald Nielsen: »Moderne Litteratur« (1904, neue Sammlung 1923), Vilh. Wanscher: »Den aestetiske Opfattelse af Kunst« (1906) und »Grsekernes Syn paa Kunst« (1904), V. Kühr: »iEsthetisk Opleven og kunstnerisk Skaben« (1927). — Von dänischer Literatur über bildende Kunst müssen Julius Lange »Billedkunstens Fremstilling af Menneskeskikkelsen« (1892, 1898 und 1899), von denen das erstgenannte Werk deutsch in 2. Teilen: »Die Darstellung des Menschen in der älteren griechischen Kunst« durch Furtwängler 1899 und »Die menschliche Gestalt in der Geschichte der Kunst« 1903 erschienen sind, hervorgehoben werden. Julius Lange war in seiner Auffassung der Kunst durchaus selbständig und ließ sich von der vorherrschenden, realistischen Richtung seiner Zeit nicht binden. Er war ein Gegner der sklavischen und geistlosen Nachahmung der Wirklichkeit durch den Realismus und Naturalismus und suchte (wie im erstgenannten Werk) den Weg in die großen Zeiten der Kunstgeschichte zurück. — Von dänischen Werken über die Architektur seien Vilh. Wanscher: »Arkitekturens Historie«, I—III, 1927-31 und Steen Eiler Rasmussen: »Nordische Baukunst« (1939), »London« (1933-34) und »Britisk Brugskunst« (1933) erwähnt.
Physiologische und psychologische Ästhetik. Wie oben hervorgehoben kann man sich mit einer physiologischen Erklärung der ästhetischen Lustwirkungen nicht zufrieden geben. Die erwähnte Abhandlung von Carl Lange: »Die Physiologie der Genüsse« zeigt meiner Ansicht nach deutlich das Unbefriedigende einer solchen Erklärung. Die Abhandlung enthält wertvolle ästhetische Betrachtungen, ihre Erklärungen genügen aber oft nicht, eben weil sie einseitig physiologisch sind. Carl Lange hat sich nirgends in entscheidender Weise über das Verhältnis zwischen Seele und Körper ausgesprochen; seiner ganzen Behandlungsweise nach scheint er am ehesten dem veralteten Materialismus zu huldigen, nach dem nur physische Prozesse anerkannt werden können. In seinem Buche »Om Sindsbevaegelser« geht er davon aus, daß die Änderungen innerhalb des Gefäßnervensystems (Erweiterungen oder Verengungen der Gefäße) die Ursachen der Sinnesbewegungen oder vielleicht diese selbst seien, während man später festgestellt hat, daß die vasomotorischen Änderungen erst nach dem Eintreten der Sinnesempfindungen stattfin37 Erkenntnis und Wertung
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den. Von seiner einseitigen, physiologischen Einstellung aus ist er genötigt, mehrere Erscheinungen als gänzlich unverständlich zu betrachten. In der Abhandlung »Die Physiologie der Genüsse« hebt er Sympathie als für viele ästhetischen Wirkungen entscheidend hervor. Unter Sympathie versteht er indessen eine rein physiologische, reflektorische Ansteckung oder Übertragung, die darin bestehe, daß man unwillkürlich die äußeren Bewegungen, die Mimik, die Stimme einer anderen Person nachahmt. Nach der Auffassung Langes beruht jede Sympathie letzten Endes auf dieser rein äußeren Übertragung. Er sagt beispielsweise: »Es ist notwendig, daß man sich völlig klar macht, was hier ansteckt, daß man deutlich einsieht, wie es sich hierbei handelt« lediglich um Übertragung rein körperlicher Erscheinungen (letztangef. Werk S. 93—94, von mir hervorgehoben). Es gibt auf dem Gebiete der Sinnesbewegungen in der Tat nichts Anderes, das anstecken könnte, als die rein körperlichen Erscheinungen; denn sie sind es allein, die von Anderen beobachtet werden können« (S. 94). Danach darf es nicht wunder nehmen, daß Lange es als gänzlich unverständlich betrachtet, daß »das Sehen oder das Hören gewisser bestimmter Bewegungserscheinungen eben solche Innervationszustände hervorrufen, daß ganz entsprechende Erscheinungen beim Zuschauer oder Zuhörer entstehen«; das — fährt Lange fort — »lag bisher, wie mir scheint, völlig außerhalb unseres Verständnisses und muß einfach als Tatsache übernommen werden.« Daß Lange diese Erscheinung nicht erklären kann, ist durch seine eigene, enge, physiologische Definition der Sympathie begründet. Nennen wir diejenigen, von dem die »Ansteckung« ausgeht (z. B. einem Trauernden, einem Schauspieler, einem Gemälde u . s . w . ) A und den, der der Gegenstand der Ansteckung ist, B, wird Lange wohl erklären können, daß die trauernde Mimik und das ganze Auftreten des A sich wie jeder sinnliche Eindruck auf den Organismus des B verpflanzt und vielleicht durch eine rein mechanische, physiologische Einwirkung eine unwillkürliche Nachahmung des Gesichtsausdruckes und des übrigen Äußeren des Trauernden A hervorruft. Aber wie B wirklich dazukommt, Trauer, und Mitleid zu fühlen oder jedenfalls in eine trauervolle Stimmung gerät, das kann Lange nicht erklären. So verhält es sich auch, wenn es ein Dichter ist, der die Stimmung erregt. Langes oben angeführte Definition der Sympathie als körperliche Ansteckung ist ja eine rein physiologische, ein Ausschlag seiner allgemeinen Tendenz: sich streng innerhalb des Gebietes der Physiologie und der physiologisch feststellbaren Tatsachen zu halten, indem er meint, daß man lediglich auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete Sicherheit erreichen könne, während die Psychologie und die Philosophie mit ihren »seelischen« Erscheinungen (das Wort »seelisch« setzt er immer pflichtschuldigst in Anführungszeichen) von reiner Unsicherheit zeugen (S. 3). Steht Lange nun einer Erscheinung gegenüber, die er notwendigerweise als Tatsache anerkennen muß, die er aber physiologisch nicht erklären kann, wie eben im Falle der Übertragung von Stimmungen, erklärt er sie einfach für »unverständlich«. Hätte er nicht überall die Hilfe
579 der Psychologie abgelehnt, hätte er eingesehen, daß diese Wissenschaft eben hier im vorliegenden Falle zum Verständnis beigetragen hätte. Die Stimmungsübertragung ist, um uns des Beispiels mit A und B zu bedienen, in folgender Weise zu erklären: B sieht A trauern. B kann sich nun mit dem Gesichtsausdruck allein begnügen, sich also völlig apathisch stellen, oder er versetzt sich kraft seiner Phantasie, d. h. kraft der Art von Phantasie, die man Vorstellungsvermögen nennt, lebhaft in die Lage des Trauernden, so daß die Stimmung Trauer oder Mitleid die Folge wird. Danach dürfte es aber auch nicht schwierig sein, den Fall physiologisch zu erklären, selbst wenn es der Forschung noch nicht gelungen ist, die Bewegung in den Gehirnzellen festzustellen. Der Seheindruck des trauernden A pflanzt sich von dem Sehnerv auf die Zellen der Gehirnsubstanz fort, in der das Bewußtsein seinen Sitz hat. Ist das Individuum B ein besonders apathischer Mensch (und hierbei machen sich individuelle oder aber rassenmäßige Eigentümlichkelten natürlich geltend) heißt dies, daß seine Gehirnzellen für eine Bewegung nicht besonders empfänglich sind, daß sie also nicht leicht in Gang gesetzt werden. Folglich entsteht lediglich eine ganz geringe Bewegung in den zentralen Nervenzellen und folglich wird auch die Bewegung, die sich auf die vasomotorischen Nervenzellen verpflanzt, ebenfalls sehr gering und die Bewegung in den Gefäßnerven, die Sinnesbewegung, ganz minimal. Ist B dagegen ein bewegliches Individuum, wird das Bild des A sehr lebhaft und anschaulich sein und in seinem Bewußtsein stark hervortreten, d. h. rein physiologisch, daß in seinen Hirnrindenzellen eine starke Bewegung eintritt, die wiederum den vasomotorischen Zellen und durch sie den Blutgefäßen einen kräftigen Impuls gibt, so daß eine starke Sinnesbewegung entstehen muß. Durch diese Erklärung erhält die Physiologie, was ihr gebührt, und der Psychologie wird gegeben, was ihr zusteht. Es gibt nichts, was physiologisch unerklärlich bliebe. Es gibt keine Lücke in dem physiologischen Kausalzusammenhang. Hiernach darf angenommen werden, daß das, was Lange als eine einzige Erscheinung betrachtet und Sympathie nennt, in Wirklichkeit zwei verschiedene Phänomene umfaßt: 1) die rein mechanische körperliche Übertragung gewisser Bewegungen, der Mimik, der Stimme u. s. w. von dem einen Individuum auf das andere, eine Übertragung, die gewiß ohne Mitarbeit der Gehirnzellen stattfinden kann, durch die aber folglich auch keine Sinnesbewegung ingang gesetzt wird, und 2) die Sinnesbewegung, die dadurch entsteht, daß der Beobachter sich nicht damit begnügt, Zuschauer oder Zuhörer zu sein, sondern sich kraft seiner Phantasie, seines Vorstellungsvermögens lebhaft in eine gewisse Lage versetzt und dadurch selbst in die mit dieser verbundenen Sinnesbewegungen gerät. Diese Phantasie ist vor Allem den Werken der Dichtkunst gegenüber notwendig, bei denen der Leser in höherem Maße als bei irgend einer anderen Kunst selbständig tätig (selbsttätig) sein, nämlich selbst die Bilder und die Lagen reproduzieren muß, die der Dichter vor Augen hatte. 37*
580 Diese letztere Art der Sympathie ist es, die nicht nur die Quelle vieler ästhetischen Genüsse darstellt, in dem sie die im Kunstwerk niedergelegten Stimmungen und Sinnesbewegungen auf den Empfänger überträgt, sondern auch die Quelle vieler allgemein-menschlicher Gefühle, des Mitleidens und aller seiner aktiven Ausschläge wie Gebefreudigkeit und Hilfbereitschaft bildet. Und in diesem Sinne fassen utilitaristische Ethiker wie z. B. H0ffding das Wort Sympathie (also im Gegensatz zur Apathie) auf. Es gibt in dessen noch eine dritte Art der Sympathie, diejenige nämlich, die ich 3) die Sympathie des Verstehens (im Gegensatz zur Antipathie) nennen möchte. Darunter verstehe ich das besondere Gemeinschaftsgefühl, das zwischen seelisch oder geistig verwandten Menschen entsteht. Man könnte die Sympathie des Verstehens auch die aristokratische Sympathie nennen, während die Sympathie des Mitgefühls die demokratische genannt werden könnte. Der Ausdruck »Sympathie« wird also in mindestens drei verschiedenen Bedeutungen aufgefaßt. Carl Lange faßt das W o r t ausschließlich im Sinne 1), also als eine reflektorische Übertragung oder Ansteckung körperlicher Ausdrücke oder Bewegungen auf, während H0ffding in seiner Ethik das W o r t im Sinne 2) als Mitgefühl oder demokratische Sympathie erklärt. Eine 3) Bedeutung ist also die obenerwähnte, das Gemeinschaftsgefühl zwischen seelisch oder geistig Verwandten. Außer der Sympathie ist nach Carl Lange auch die Abwechslung ein wesentlicher Faktor der ästhetischen Wirkung. Er meint, daß das Lustgefühl, das der Rhythmus uns verleiht (sei es n u n derjenige der Verse, der Säulenreihen eines Tempels u. s. w.) auf der Abwechslung + Spannung beruhe, die der Ausdruck besonderer Bewegungen des Gefäßnervensystems sei (Vgl. angef. W e r k S. 78-79, 66-78). Soweit ich sehen kann, hat die Spannung aber nicht viel mit der Lustwirkung des Rhythmus zu t u n ; und die Abwechslung erklärt sie allein auch nicht. Der Bedarf nach Abwechslung erklärt nämlich nur, daß wir nicht aushalten können, ununterbrochen einer und derselben Einwirkung ausgesetzt zu sein und daß wir also neue Eindrücke nötig haben; sie erklärt aber nicht den Genuß, den wir darin finden, daß derselbe Eindruck mit bestimmten Zwischenräumen wiederkehrt und das ist eben der Rhythmus. Es macht sich hierbei ein Bedarf nach Wiederholung geltend, der dem Drang nach Abwechslung durchaus entgegengesetzt ist; und dabei dreht es sich wohlgemerkt um eine besondere Art der Wiederholung, nämlich die der regelmäßigen Wiederholung. Daß dieser Drang nach regelmäßiger Wiederholung auch nicht durch den Genuß der Spannung zu erklären ist, geht daraus hervor, daß das Lustgefühl des Rhythmus davon völlig unabhängig ist, ob man mit Sicherheit weiß, ob die Wiederholung eintreffen werde, oder nicht. Außerdem erfordert der rechte Genuß der Spannung nicht allzu kurze Zeitspannen, jedenfalls keine, die so kurz sind, wie diejenigen, von denen hier die Rede ist (Musik, Ornamentik, Säulenreihe). Im Rhythmus ist also eine Erscheinung, nämlich die der Wie-
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derholung, vorhanden, die nicht durch die von Lange aufgestellten generellen Genußfaktoren erklärt werden kann. Wie ich im Text (S. 344 ff.) zu zeigen versucht habe, entsteht die besondere Schönheitswirkung, die wir im Rhythmus wiederfinden durch das Zusammenwirken zweier Faktoren, nämlich durch das Belebende der Abwechslung und durch die Ruhe und Harmonie der Ordnung, des gesetzmäßigen Zusammenhanges, in dem die wechselnden Eindrücke sich wiederholen. — Was besonders den Rhythmus in der Poesie und in der Musik betrifft, hat man hervorgehoben, daß die Stimme des Menschen bei starker Erregung eine Neigung habe, rhythmisch zu werden. Außerdem wirkt der menschliche Organismus in mehreren Beziehungen rhythmisch — das gilt beispielsweise dem Gang, dem Herzschlag, der Atmung. Menschliche Grundverhältnisse dieser Art liegen, soweit ich sehen kann, überhaupt unbewußt hinter mehreren von unseren Schönheitsbegriffen. Im Text habe ich beispielsweise hervorgehoben, daß der aufrechte Gang wahrscheinlich in nicht geringem Maße für unsere Gefühle der Befriedigung durch das Erhabene, beim überblick mit weitem Horizont, als Element vieler Schönheitswirkungen bestimmend gewesen sei. Wir finden die hohe und schlanke Menschengestalt schön, die kleine, vierschrötige dagegen unschön. Der Urmensch und mehrere noch heute lebende, primitive Menschenrassen sind kleinstämmig. Auch die Entwickelung des Gehirns ist nach oben gerichtet. Der Urmensch hatte eine niedrige Stirn. Mit den hier genannten, organischen Grundverhältnissen zusammen wirkt die Zweckmäßigkeit überhaupt als ein Element der Schönheitswirkung. Mit bezug auf die Zweckmäßigkeit als Schönheitselement der Werkkunst siehe die oben erwähnte Schrift von Steen Eiler Rasmussen »Britisk Brugskunst«. Aber selbst innerhalb der Werkkunst stellt die Zweckmäßigkeit nicht das einzige Schönheitselement dar — mit ihr zusammen wirkt das rein Künstlerische als selbständiges Moment, man vergleiche z. B. die Abwechslung und ihre Regelmäßigkeit oder Gesetzmäßigkeit der in der oben genannten Schrift S. 97 gezeigten Teppichmuster in der lebhaften Kontrastwirkung der gegen einen dunklen Hintergrund sowohl durch helle Farbe als auch durch Relief hervorgehobenen Muster, die auf Tonkrügen vorkommt (S. 127) u. Ä. Es ist ein architechtonisches Mißverständnis, wenn man die lebhaften und hellen Farben nicht als Kontrastwirkung zum grauen und trüben Klima verwendet, sondern sogar selbst sehr großen Baukomplexen langweiligen und grauen Zementputz gibt. Es ist dieser traurige Zementputz, der den Großstädten, die im 19. Jahrhundert entstanden sind, ihr trostloses Aussehen verleiht. Ungeputztes Mauerwerk gibt nicht nur eine lebhaftere Farbenwirkung, sondern auch eine besonders gediegene Wirkung (Vgl. letztgen. Autor: »Nordische Baukunst, S. 102).
582 Die meisten Definitionen der Schönheit kranken an dem Fehler, daß sie zu umfassend sind. Der englische Philosoph Carritt hebt eine von dem italienischen Ästhetiker B. Croce gegebene Definition, die darauf hinausgeht, daß die Schönheit Ausdruck der Gefühle sei, als die seinige hervor. Unsere Wünsche und Leidenschaften seien an sich blind, die Kunst aber sei eine Art Sprache, die Ausdruck dafür gebe, sei es nun in Worten, Tönen, Bildwerken o. Ä. Die Kunst drücke aus, was vage, fließend und lediglich Gefühl sei (vgl. Carritt: »The Theory of Morals«, 1928, S. 87-111). Diese Definition ist viel zu umfassend und sagt deshalb in Wirklichkeit gar nichts. Es gibt viele Ausdrücke für Gefühle — auch solche, in denen der Empfänger eigene Gefühle wiedererkennt — die keine Kunst sind und nichts mit Kunst oder Schönheit zu tun haben. Die meisten Menschen geben, in Worten oder Taten, Gefühlen Ausdruck, aber nur sehr wenige dieser Ausdrücke sind Kunst. Definitionen, die die Kunst anderen Gebieten des Geisteslebens, besonders der Wissenschaft gegenüber abzugrenzen versuchen, waren auch nicht befriedigend. Von bornierten, psychologischen Rubriken aus hat man beispielsweise oft betont, daß Phantasie und Intuition in der Kunst, aber nicht in der Wissenschaft entscheidende Faktoren seien. In Wirklichkeit kann man aber zwischen Kunst und Wissenschaft oder anderen Seiten des Geisteslebens nach der Art der psychischen Tätigkeit keine Grenze ziehen. Auch innerhalb der Wissenschaft begegnen wir bei jeder schöpferischen Tätigkeit der Phantasie und der Intuition, und zwar in umso höheren Maße, je bahnbrechender die Forschung ist. Der individuelle, schöpferische Einsatz kann in der Wissenschaft genau so groß sein, wie innerhalb der Kunst. — Ebenso unberechtigt ist es zu behaupten, die Kunst solle das Leben individuell, die Wissenschaft aber abstrakt schildern. Diese Gegensätzlichkeit stimmt aber nicht. Die Wissenschaft schildert eben oft das individuelle Leben. So stellt die Geschichtsschreibung z. B. die großen, individuellen Menschenschicksale dar, wie z. B. Julius Cäsar. Umgekehrt schildert die Kunst oft das Allgemeine, z.B. Typen (vgl. Molière und Holberg). — Aber auch nicht die Form stellt einen entscheidenden Gegensatz zwischen Kunst und Wissenschaft dar. Der Wissenschaftler kann ebensowohl wie der Dichter oder wie der Autor einer Novelle seinen eigentümlichen Stil haben. Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst liegt deshalb meiner Ansicht nach in dem Ziel. Das Ziel der Wissenschaft ist Erkenntnis, eine systematisch zusammenhängende Beschreibung der Natur und eine experimentale Ausnutzung oder Verwertung derselben, während es dagegen das Ziel der Kunst ist, durch besondere Anordnungen der Gesichts- und Gehöreindrücke ein unmittelbares Lustgefühl oder Freude zu erwecken. Mit Bezug auf die Definition der Schönheit und der Kunst vergleiche man überhaupt den Text oben S. 447-448. Die Abgrenzung der verschiedenen Kunstarten hat wahrscheinlich kein so großes Interesse, wir ihr oft in ästhetischen Abhandlungen beigelegt wird. Eine Einteilung nach dem Bildmaterial ist meines
583 Erachtens irreführend, denn das Wort »Bild« selbst stimmt eigentlich nur bei der Malerei, der Skulptur und der Poesie, aber nicht bei der Musik. Wenn man mit bezug auf die Musik von Bildmaterial sprechen will, verwendet man das Wort »Bild« in einem unklaren und übertragenem Sinne, der nicht korrekt ist. Die Musik braucht gar nicht in der Seele der Zuhörer Bilder hervorzurufen. Sie kann es tun, wie z. B. den Zuhörer in der Phantasie in schöne Gegenden versetzen, sie kann ihn das Rieseln eines Baches hören lassen. Sie kann bewirken, daß er sich in der Phantasie an das Ufer eines Baches setzt. Aber sie kann auch rein unmittelbar, d. h. ohne Bilder, ohne Bildvorstellungen als Zwischenglieder, Stimmung hervorrufen. Es ist zwischen der Poesie einerseits und den anderen Kunstarten (Malerei, Plastik, Architektur und Musik) andererseits ein Unterschied vorhanden. Die letztgenannten Arten beeinflussen den Empfänger, den Zuschauer oder den Zuhörer unmittelbar durch äußere Mittel: durch Formen, Linien, Farben und Töne, während die Poesie mittelbar auf den Empfangenden einwirkt. Es findet hier eine Umbildung, eine Wiedergestaltung statt. Der Leser muß die Worte in Vorstellungsbilder umwandeln, er muß seine eigene Phantasie in Bewegung setzen, um das Gefühl, die Stimmung, die hinter den Worten verborgen liegt, lebendig auffassen zu können. Man ist bei der Poesie selbst tätiger als bei jeder anderen Kunstart.
Das S. 447 Angeführte gilt natürlich nur dem hier genannten Gebiet und darf nicht auf andere Gebiete generalisiert werden, vor Allem nicht auf die Werkkunst, wo diese mit beweglichen Gegenständen arbeitet. Hier werden langgestreckte, horizontale Linien und Formen oft eine Schönheitswirkung hervorrufen können, nicht zum Wenigsten weil die Zweckmäßigkeit, die ein besonderes starkes Element in der Werkkunst bei beweglichen Gegenständen ausmacht, diese Formen, von Automobilen bis zu Möbeln, entschieden verlangt. In der Gegenwart ist ein neuer Möbelstil im Entstehen, der durch seine einfachen und reinen Linien und die praktische Anpassung an den Zweck einen wohltuenden Gegensatz zur verworrenen, mit überflüssigen Ornamenten arbeitenden Möbelindustrie der vorhergehenden chaotischen Periode, der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bildet. Ein besonderes Moment des modernen Mobiliars stellen die verhältnismäßig niedrigen, langgestreckten Formen der Stühle dar, die der Ruhe und der Entspannung vorzüglich angepaßt sind.
Die neuere abstrahierende Richtung innerhalb der Bildkunst, die man den Surrealismus nennt, erscheint als eine Reaktion gegen den Naturalismus oder Realismus der vorhergegangenen Epoke mit deren bis in die kleinsten Einzelheiten gehenden Schilderung der Wirklichkeit. Diese Reaktion ist insoweit berechtigt, als es eben so wenig die
584 Aufgabe der Kunst, als die der Literatur, sein kann, eine Nachahmung oder Kopierung der Wirklichkeit zu sein, wie es die Werke aus der Zeit des Naturalismus oder Realismus waren. Kunst ist eben keine Photographie, ebenso wenig wie die Dichtung beschreibende Naturwissenschaft ist. Die abstrahierende oder surrealistische Richtung hat deshalb instinktiv das Gefühl des Richtigen, aber sie tastet sich auf ihrem Wege durch ein sehr oberflächliches Experimentieren auf ihrem Wege vor und gerät deshalb oft auf Irrwege. Die Kunst soll uns eine tiefere Wirklichkeit, einen tieferen Lebenszusammenhang vermitteln, als denjenigen, den die genaue Beschreibung eines Ausschnittes der Wirklichkeit uns zu geben vermag, und zwar ein Erlebnis, das über diese Wirklichkeit hinausweist, ein Erlebnis seelischen, verheißungsvollen Reichtums. Ein Teil der akstrakten Kunst wirkt aber entgegengesetzt ausschließlich verstimmend. Vilhelm Wanscher sagt an einer Stelle: »Abstrakte Kunst, also Surrealismus, muß als teures Experiment einer Zeit, die die Natürlichkeit verloren hatte, zurückgelassen werden . . . « Nach einer interessanten Analyse des klassischen Kunstwerkes des Apoxyomenos von Lysippos sagt Wanscher über diese Kunst: »Ich glaube nicht, daß wir in der modernen dänischen Kunst aufräumen können, bevor sie nicht wieder imstande ist, ein natürliches Figurmotiv in seiner »gebundenen« Bewegung zu erfassen und die klassische Schönheit zu schützen, die die Seele der Kunst ausmacht.« S. h*10. Nach der neueren religionshistorischen Forschung darf angenommen werden, daß der Glaube an Götter und an ein Leben nach dem Tode einen sehr verschiedenen Ursprung hat: 1. Der Glaube an Götter ist dadurch entstanden, daß die Menschen ursprünglich annahmen, hinter den verschiedenen Naturerscheinungen ständen Wesen in Analogie mit dem Menschen selbst. Hinter dem Flusse, dem Meere, der Sonne und dem Mond u. Ä. — kurz hinter allen Erscheinungen in ständigem Wechsel und in ständiger Bewegung — dachten sich die primitiven Menschen höhere Wesen, und zwar als die treibenden Kräfte dieser Bewegungen. Der Glaube an Götter ist somit ursprünglich eine primitive, anthropomorphe Kausalerklärung. Diese Naturmächte waren für das Werk der Menschen oft gewalttätig und zerstörend. Die Menschen waren von ihnen abhängig und sie suchten deshalb diese Naturmächte oder Götter durch Geschenke, durch Opfer, in ältester Zeit oft durch Menschenopfer, später durch Opfer von Vieh und anderen wertvollen Gegenständen zu versöhnen und zu besänftigen. 2. Dagegen muß man annehmen, daß der Glaube an ein Leben nach dem Tode einer völlig anderen Quelle entspringt, nämlich solchen psychischen Erscheinungen wie Träumen, Fernsehen (Telepathie), Sinnestäuschungen (Halluzinationen) u. Ä. Wenn primitive Menschen in ihren Träumen verstorbene Verwandte wiedersahen, lag es
585 nahe zu glauben, daß die Toten ihr Leben fortsetzen. Ursprünglich glaubte man, die Toten lebten im Grabe selbst weiter, deshalb sorgte man auch dafür, daß sie ihre Kleider und ihre Waffen, ja sogar ihre Diener und Frauen mitbekämen. Deshalb wurden diese Letzteren geopfert — auf dieser Stufe stehen noch heute mehrere, primitive Völker. Als man auf einer späteren Stufe der Entwickelung lernte, scharf zwischen Körper und Seele zu sondern, vermutete man, daß die Letztere durch den Tod vom Leibe befreit wurde und anderswohin, ursprünglich in die Unterwelt (Hades), später nach unbestimmten Orten wanderte. Parallel mit dieser späteren Auffassung von der Unabhängigkeit der Seele vom Körper begannen bei einigen Völkern die Leichenverbrennungen die Beisetzung zu ersetzen. Das erste bahnbrechende Werk der religionsgeschichtlichen Forschung ist David Humes: »Natural history of religion« (1757). Von neueren religionshistorischen Arbeiten sind Max Müller: »Lectures on the origin and growth of Religion« (1878), Tylor: »Primitive Culture« (1872). Robertson-Smith: The religion of the Semites« (1884, neue Aufl. 1894 und 1914), Erwin Rhode: »Psyche« (1890-94), vierte Aufl. 1907), J.Frazer: »Totemism« (1887, 2. Aufl. 1907) und »The Golden Bough« (1890, 2. Aufl. 1900) zu nennen. Daß die Hauptbestandteile des religiösen Glaubens nach der neueren Forschung wahrscheinlich den hier genannten Ursprung haben, verringert selbstverständlich nicht den Wert dieses Glaubens. Wie die Erkenntnislehre zeigt, sind die Natur und ihre sogenannten Kräfte und Erscheinungen, Leben und Tod, heute ebenso rätselhaft wie in den ältesten Zeiten der Menschheit. Die bestehenden Religionen müssen aber einsehen, daß sie den Wert der Religion für die Menschen der Gegenwart nur verringern, wenn sie an Vorstellungen oder Dogmen über Dinge festhalten, die außerhalb jedes menschlichen Verstandes, außerhalb unseres Erkenntnisvermögens liegen. Die Welt des Geistes ist eine Tatsache in eben so hohem Maße, wie die des Stoffes. Das Verhältnis des Geistes aber zum materiellen Universum liegt zutiefst gesehen außerhalb jeden Kausalzusammenhanges und jenseits von Zeit und Raum. Wenn deshalb alle kleinlich-vernünftigen Vorstellungen aus dieser letzteren Welt, wie Schöpfung, Allmacht und auch die Ursache der Übel und Katastrophen der materiellen Welt fortfallen, fällt damit auch die alte, so oft diskutierte Frage über das Verhältnis Glauben und Wissen fort.
NAMENVERZEICHNIS Autoren, deren Werke lediglich Literaturhinweise darstellen, sind nicht mitgenommen.
A Abelard, Pierre, frz. Theolog (1092-1142) 399, 399 Anm. Adickes, E., deutsch. Philosoph 537 Alexander der Große (356-323) 93 Althusius, Johs., deutsch. Philosoph (1557-1638) 49, 50, 51, 485 Ampère, frz. Physiker (1775-1836) 258 Andersen, H. C., dän. Dichter (1805-1875) 403 d'Annunzio, Gabr., ital. Dichter (1863-1938) 400, 401 Anm. Archimedes, gr. Physiker (287-212) 28, 47 Aristoteles, gr. Philosoph (384-322) 37, 38, 39, 40, 43, 45, 47, 48, 49, 54, 66, 200, 378, 379, 387, 396, 482, 483, 484, 529 Augustinus, Kirchenlehrer (353-430) 313, 473 Averroes, arab. Philosoph (1126-1198) 484 Avicenna, arab. Arzt (390-1037) 484 Ayer, A. J., engl. Philosoph 95 Anm.
B Babeuf, frz. Kommunist (1760-1797) Bacon, engl. Philosoph (1561-1626) Balzac, frz. Dichter (1799-1850) Beccaria, ital. Sociolog (1738-1794) Bentham, engl. Philosoph (1748-1832)
488 Anm. 58, 87, 321 Anm., 360 Anm. 399 61, 488 61, 62, 63, 64, 65, 66, 68, 70, 488, 489, 499 Berkeley, engl. Philosoph (1684-1732) 89, 91, 92, 93, 95 Anm., 96, 97, 99, 101, 103, 107, 109, 110, 113, 115, 117, 148, 149, 151, 152, 157, 158, 162, 163, 171, 172, 173, 178, 182, 183, 186, 188, 189, 191, 192, 193, 196, 199, 202, 212, 213, 217, 228, 262, 272, 276, 283, 359, 530, 540, 543 Bernstorff, A. G., Graf 411, 412, 413, 414 Bernstorff, J . H., Graf (1712-1772) 412 Bernstorff, A. P., Graf (1735-1797) 411 Anm., 412 Betz, deutsch. Philosoph 520 Binder, Julius, deutsch. Philosoph 514 Anm., 515 Anm., 516 Bj0rnson, Bj0rnstjerne, norw. Dichter (1832-1910) 399, 400, 401 401 Anm.
588 Bohr, Niels, dän. Physiker (geb. 1885)
261 Anm., 340, 341, 342, 343, 344, 345, 366 Borelli, ital. Chemiker (1608-1679) 546 Brahe, Tycho, dän. Astronom (1546-1601) 278 Brandes, Georg, dän. Literaturforscher (1842-1927) 400, 401 Anm., 510, 511, 512, 576, 577 Brandt, Fr., dän. Philosoph (geb. 1892) 127, 214, 347 Anm., 523, 524, 539, 547 Brantôme, frz. Schriftsteller (1540-1614) 398 Brunschvicg, frz. Philosoph 127 Anm., 132 Anm. Buddha (Gautama), ind. Religionsstifter (angeb. gest. 480 v. Chr.) . . . . 191, 313, 389, 472, 473, 571, 572, 573, 574 C Cabanis, frz. Philosoph und Arzt (1757-1808) Cäsar, röm. Staatsmann (102-44) Carnap, Rud., oesterr. Philosoph (geb. 1891) Carrière, M., deutsch. Philosoph (1817-1895) Carrit, engl. Philosoph Cassirer, Ernst, deutsch. Philosoph (geb. 1874) Castberg, Frede, norw. Rechtslehrer Cecil, Lord Burgleigh, engl. Staatsmann (1520-1598) Charlotte Amalie, dän. Königin (1650-1714) Chrysipposj gr. Philosoph (c. 280-205) Cohen, Herman, deutsch. Philosoph (1842-1918) Cohn, Georg, dän. Rechtslehrer (geb. 1887) Comte, J., frz. Philosoph (1798-1857) Coulomb, frz. Physiker (1736-1806) Croce, B., ital. Philosoph (geb. 1866) Cromwell, Oliver, engl. Staatsmann (1599-1658) Cusanus (Nie. Cusa), ital. Arzt (1404-1464)
543 432, 582 94 Anm., 520 399 Anm. 494, 576, 582 396, 485, 519 518 398 407 484 495, 496, 497, 498 509 507 208, 350 Anm. 582 51 45
D Dahl, Frantz, dän. Rechtslehrer (1860-1937 486 Darwin, Ch., engl. Naturforscher (1809-1882) 490 Davidsohn, Jos., schwed. Philosoph 509 Demokrit, gr. Philosoph (c. 450 v. Chr.) 29, 82, 272, 346, 473, 479 Descartes, frz. Philosoph (1596-1650) 84, 85, 87, 272, 322 Anm., 342, 529 Deussen, P., deutsch. Philosoph, Indolog (1845-1919) 497, 483 Dickens, Ch., engl. Dichter (1812-1870) 457 Dingler, H., deutsch. Philosoph (geb. 1881) 539 Dostojewski, russ. Dichter (1821-1881) 401 Anm. McDougall, engl. Philosoph 507, 546, 547 Driesch, H., deutsch. Pilosoph (geb. 1867) 538 Düll, deutsch. Philosoph 515 Dürkheim, E., frz. Soziolog (1858-1917) 508, 509
589 E Einstein, A., deutsch. Mathematiker (1879-1955) 261 Anm., 340, 341, 342, 343, 344, 345, 366, 367, 368, 368 Anm. Elizabeth, engl. Königin (1533-1603) 397, 398 Epikur, gr. Philosoph (341-270) 40, 41, 43, 66, 249 Anm., 484 Euklid, gr. Mathematiker (um 300 v. Chr.) 28, 47, 205, 205 Anm., 484 F Fabricius, K., dän. Historiker (geb. 1875) 485 Fechner, G., deutsch. Physiker (1801-1887) 576 Feigl, H., österr. Philosoph 94 Anm. Fejlberg, L., dän. Philosoph (1849-1912) 403, 403 Anm., 404, 405, 406 Foss, K., dän. Philosoph 486 Fräser, A. C., schott. Philosoph (1819-1914) 397 Freud, Sigm. österr. Arzt (geb. 1856) 570 Fridericia, J. A., dän. Historiker (1849-1912) 48, 485 Friedrich der Große, preuß. König (1712-1786) 486
G Galilei, ital. Physiker (1564-1642) . . . . 46, 83, 84, 85, 86, 162, 223, 258, 272, 322, 327, 346, 347 Goethe, J. W. v., deutsch. Dichter (1749-1832) 44, 54, 369, 379, 399, 432, 459, 474 Gohlke, P., deutsch. Philosoph 38 Anm., 480 Green, T. H„ engl. Philosoph (1836-1882) 183, 540, 541 Grotius, Hugo, niederl. Philosoph (1583-1645) 49, 50, 51, 56, 485, 486 Grue-S0rensen, dän. Philosoph 520 Grundtvig, N. Fr. S., dän. Prediger (1783-1872) 403 Gr0nbech, Vilh., dän. Religionsforscher (geb. 1873) 571 Guy au, J. M., frz. Philosoph (1854-1888) 491
H Hägerström, A., schwed. Philosoph (geb. 1868) . . . . 94 Anm., 95 Anm., 514, 515, 516, 518, 519 Hahn, H., österr. Mathematiker 94 Anm. Hahn, Otto, deutsch. Chemiker (geb. 1879) 369 Anm. Hammurabi, assyr. König (c. 1955-1913) 245, 416, 417 Hartmann, Nie., deutsch. Philosoph (geb. 1882) 542 Harvey, W., engl. Arzt (1578-1657) 84, 546 Hauch, C., dän. Dichter (1790-1872) 408, 408 Anm. Hedenius, Ingm., schwed. Philosoph 520 Hegel, Fr., deutsch. Philosoph (1770-1831) 270, 318, 321 Anm., 325 Anm., 495, 539 Heinrich IV (Henri Quatre), frz. König (1553-1610) 49, 397 Heisenberg, W., deutsch. Physiker (geb. 1901) 344, 348 Anm. Heloise, berühmt durch die Liebe zu Abelard 399, 399 Anm.
590 Heiweg, Hj., dän. Arzt (geb. 1886) 409 Heraklit, gr. Philosoph (c. 540-480) 29, 479, 569 Hervieu, P., frz. Schriftsteller (1857-1915) 407 Herzfeld, Marie, deutsch. Schriftstellerin 401 Anm. Hjelmslev, J., dän. Mathematiker (geb. 1873) 220 Hobbes, Th., engl. Philosoph (1588-1679) 50, 51, 52, 57, 84, 85, 87, 195, 222, 272, 339, 347, 347 Anm., 354, 485, 486, 520, 529, 543, 569 Hoffmann, P., deutsch. Philosoph 538 H0ffding, H., dän. Philosoph (1843-1931) 485, 488, 493, 494, 502, 509, 511, 524, 536, 562, 563, 569 Holberg, L., dän. Dichter (1684-1754) 486 Holm, S0ren, dän. Theolog 494 Honein Ibn Ishak, arab. Arzt (gest. 873) 484 Hostrup, Chr., dän. Dichter (1818-1892) 403 Anm., 406 Hugo, V., frz. Dichter (1802-1885) 454 Hume, David, engl. Philosoph (1711-1776) 57, 58, 59, 60, 61, 89, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 106, 107, 108, 109, 110, 113, 115, 117, 118, 120, 121, 122, 123, 123 Anm., 124, 125, 126, 127, 128, 129, 131, 133, 136, 138, 139, 140, 147, 148, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 158, 160, 162, 163, 164, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 196, 199, 202, 212, 213, 217, 228, 262, 272, 276, 283, 324, 351, 487, 493, 495, 530, 533, 537, 538, 540, 541, 542, 543, 548, 549, 554 Hume, Martin, engl. Philosoph 397, 398 Hutcheson, Fr., engl. Philosoph (1674-1747) 61, 487, 488, 493 / Ibsen, H„ norw. Dichter (1828-1906) Ihering, R. v., deutsch. Rechtslehrer (1818-1892)
408, 408 Anm., 409, 410 63, 64, 489, 490, 497, 504 Iversen, H., dän. Philosoph (1890-1920) . . . . 89, 93, 94, 105, 106, 107, 151, 162, 166, 167, 168, 170, 283, 512, 513, 519, 525, 526, 527, 528, 529, 547, 548, 549, 554 J
Jacobi, Fr. H., deutsch. Philosoph (1743-1819) James, W., amer. Philosoph (1842-1916) Jodl, Fr., deutsch. Philosoph (1849-1914) J0rgensen, J. J., dän. Philosoph (geb. 1894) J0rgensen, P. J., dän. Rechtsgelehter (geb. 1873) Jung, Schweiz. Psycholog (geb. 1875)
535 556, 557 490 519, 530, 547, 549 486 474 Anm.
K
Kaila, E., finn. Philosoph 520 Kant, Immanuel, deutsch. Philosoph (1724-1804) 65, 69, 70, 89, 90, 91, 92, 92 Anm., 93, 96, 97, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110,
591 111, 164, 233, 493,
113, 165, 249 494,
115, 118, 123, 124, 125, 126, 141, 147, 148, 149, 152, 158, 160, 162, 166, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 181, 191, 199, 215, 216, 229, Anm., 250, 258, 263, 276, 283, 284, 285, 331, 347, 390, 491, 492, 495, 496, 498, 499, 530, 533, 534, 535, 536, 537, 538, 539, 540, 541, 555, 571, 575 Kelsen, deutsch. Rechtsgelehrter (geb. 1881) 498, 499 Kepler, J „ deutsch. Astronom (1571-1630) 46, 83, 86, 258, 322, 346, 360 Anm. Kierkegaard, S0ren, dän. Philosoph (1813-1855) 403, 405 Knudsen, Jacob, dän. Schriftsteller (1858-1917) 399, 401 Anm. Koehler, W., deutsch. Zoolog (geb. 1887) 507, 531, 532, 550 Konfuzius, chin. Philosoph (angeb. 551-478) . . . . 423 Anm., 434, 434 Anm. Kopernikus, deutsch. Astronom (1473-1543) 46, 83, 132, 268, 360 Anm. Kraft, V., österr. Philosoph 94 Anm. Kroman, K., dän. Philosoph (1846-1925) 89, 93, 162, 561, 562 Krüger, G., deutsch. Philosoph 539 Kübler, deutsch. Philosoph , 514 Anm., 516 Kunkel, deutsch. Philosoph 514 Anm., 516 L Lamartine, A. de, frz. Dichter (1790-1869) 47 Lange, C., dän. Arzt (1834-1900) 402, 576, 577, 578, 580, 581 Lange, J „ dän. Kunsthistoriker (1838-1896) 445, 577 400 Lassalle, F., deutsch. Politiker (1825-1864) Lavoisier, A., frz. Chemiker (1743-1794) 354 Lehmann, A., dän. Psycholog (1858-1921) 402, 524, 541 Leibniz, G. W„ deutsch. Philosoph (1646-1716) . . . . 87, 169, 195, 213, 319, 320, 321, 397, 543, 568 Leicester, Robert Dudley, engl. Hofmann (1532-1588) 398 Lescaut, Manon 399, 399 Anm. Lessing, deutsch. Dichter (1729-1781) 575 Levy-Brühl, L„ frz. Philosoph (geb. 1857) 509 Liebert, Art., deutsch. Philosoph (geb. 1878) 536, 537 Locke, J., engl. Philosoph (1632-1704) 51, 52, 53, 56, 57, 61, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 95, 95 Anm., 96, 97, 98, 99, 100, 101, 103, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 115, 117, 118, 120, 123 Anm., 128, 147, 148, 149, 150, 151, 153, 154, 158, 160, 162, 163, 168, 169, 170, 171, 173, 181, 182, 186, 192, 193, 202, 215, 216, 217, 228, 262, 276, 320, 321, 326, 345, 396, 397, 482, 485, 486, 488, 495, 520, 526, 530, 539, 540, 541, 542, 543, 554 Lorrain, Claude, frz. Maler (1600-1682) 465 Lunddahl, J., schwed. Philosoph 570 Lundstedt, schwed. Philosoph 95 Anm., 516 M Mach, E„ deutsch. Physiker (1838-1901) . . . . 89, 93, 104, 151, 162, 166, 168, 170, 223, 283, 546, 560, 561, 563 Maier, H., deutsch. Philosoph (1867-1933) 537
592 Maine de Biran, frz. Philosoph (1766-1824) 127, 127 Anm. Maintenon, Françoise de (1635-1719) 407 Malebranche, N., frz. Philosoph (1638-1715) 126, 127 Anm. Manu (Svaymbhuva), mytischer Autor des ältesten indischen Gesetzbuches (manava-dharmashastra) . . . . 245, 416 Marbe, deutsch. Psycholog (geb. 1869) 522 Maria Stuart, schott. Königin (1542-1587) 397, 398 Maxwell, engl. Physiker (1831-1879) 349 Maytreya, ind. Buddhist 573 Anm. Menger, österr. Mathematiker 94 Anm. Menon, gr. Philosoph und Arzt (4. Jahrh. v. Chr.) 31 Meyerson, frz. Philosoph 89, 133, 162, 168, 223, 561, 563 Michelangelo, ital. Künstler (1475-1564) 408, 455 Mill, Stuart, engl. Philosoph (1806-1873) 63, 66, 67, 68, 93, 121, 152, 168, 324, 487, 494, 499, 500, 511 Milton, engl. Dichter (1608-1674) 407 Mirkin, J., Philosoph 537 M0ller, Ernst, dän. Rechtsgelehrter (1862-1916) 410, 410 Anm. Montaigne, frz. Philosoph (1533-1592) 49, 397, 485 Montesquieu, frz. Philosoph (1689-1755) 52, 56, 89 Moore, G., engl. Philosoph 64, 491, 494, 500, 501, 502, 503, 504 Morelly, frz. Soziolog (18. Jahrh.) 488 Anm. Moses 245, 416, 417 Murray, D. L., engl. Philosoph 554 Myrdal, Gunnar, schwed. Nationalökonom (geb. 1898) . . . . 518, 564, 565, 566
N Napoleon, frz. Kaiser (1769-1821) 399, 406, 407 Natorp, P., deutsch. Pilosoph (1854-1924) 495, 496, 497, 498, 499 Nelson, L., deutsch. Pilosoph (1882-1927) 540 Neurath, O., österr. Philosoph 94 Anm. Newton, Isaac, engl. Philosoph (1642-1727) . . . . 46, 142, 227, 257, 322, 342, 345, 360 Anm. Nietzsche, Fr., deutsch. Philosoph (1844-1900) 475, 509, 510, 511 Nyman, Alf., schwed. Philosoph (geb. 1884) 537 0 Oehlenschläger, A., dän. Dichter (1779-1850) Olivecrona, schwed. Rechtsgelehrter (1817-1905) Owen, engl. Soziolog (1771-1858)
439, 440 516, 517 488 Anm.
P Paulsen, Fr., deutsch. Philosoph (1846-1908) Pedersen, J., dän. Philosoph Pico della Mirandola, ital. Humanist (1463-1494) Planck, deutsch. Physiker (geb. 1858)
490 565 396 340, 344, 368 Anm.
593 Platon, gr. Philosoph (427-347) . . . . 31, 32, 35, 36, 37, 39, 40, 43, 47, 48, 49, 66, 73, 76, 200, 215, 381, 396, 423, 473, 479, 480, 481, 484, 529, 575 Poincaré, frz. Mathematiker (1854-1912) 555 Pomponazzi, ital. Philosoph (1462-1524) 45, 48, 485 Popper, Philosoph 95 Anm. Prévost d'Exilés, frz. Schriftsteller (1697-1763) 399, 399 Anm. Priestly, engl. Philosoph (1733-1804) 488 Protagoras, gr. Philosoph (c. 485-415) 132 Ptolemäus, gr. Astronom (um 150 v. Chr.) 132 Puchta, G., deutsch. Jurist (1798-1846) 56 Pufendorf, S., deutsch. Rechtsgelehrter (1632-1694) 485, 486 Pyrrhon, gr. Philosoph (c. 360-c. 275) 484 Pythagoras, gr. Philosoph (c. 580-c. 500) 28, 47, 394
R Racine, J., frz. Dichter (1639-1699) Ranulf, Sv., dän. Soziolog (geb. 1894) Rashdall, Hastings, engl. Philosoph 64, 494, Rasmussen, Steen E., dän. Architekt (geb. 1898) Rembrandt, niedl. Maler (1606-1669) Renan, frz. Philosoph (1829-1892) Richert, deutsch. Philosoph Riehl, A„ österr. Philosoph (1844-1924) Rolph, W., deutsch. Philosoph Ronsard, frz. Dichter (1524-1585) Ross, A., dän. Soziolog (geb. 1899) Rousseau, J . J., frz. Philosoph (1712-1778) Royé, frz. Diplomat Rubin, E „ dän. Philosoph (geb. 1886) Rufener, R., deutsch. Philosoph Ruiz, Arunzio Rümford, engl. Physiker (1753-1814) Ruskin, J „ engl. Philosoph (1819-1900) Russell, R., engl. Philosoph (geb. 1872) 89, 93, 94, 168, Rutherford, engl. Physiker (1871-1937) Ryle, engl. Philosoph
407 518, 520 500, 503, 504 581 455 484 569 538, 539 491 398 518 52, 89, 488 407 529, 532, 553 37 Anm., 480 515 Anm. 354 576 283, 507, 508 341 95 Anm.
S Sadi, pers. Dichter (1184-1291) Saint-Simon, Cl. de, frz. Soziolog (1760-1825) Saint-Simon, Louis de, Hertug (1675-1755) Savigny, F. v., deutsch. Rechtsgelehrter (1779-1861) Schelling, F., deutsch. Philosoph (1775-1854) Schiller, Fr. v., deutsch. Dichter (1759-1805) Schlick, Moritz, österr. Philosoph (1882-1936) Schopenhauer, deutsch. Philosoph (1788-1860)
432 497, 508 407 56 318, 322, 323, 360, 495 Anm. 442, 576 94 Anm., 95 Anm. 492, 494, 544
594 Schulze, G. E„ deutsch. Philosoph (1761-1833) 536 Schwind, Moritz v., deutsch. Maler (1804-1871) 448, 465 Shaftesbury, A. A. C., engl. Philosoph (1671-1713) 487 Shakespeare, engl. Dichter (1564-1616) 359, 434, 455 Sibbern, F. C., dän. Philosoph (1785-1872) 403 Anm., 403, 405 Sidgwick, H., engl. Philosoph (1838-1900) 499, 500 Sienkiewics, poln. Dichter (1846-1916) 399, 399 Anm. Slocombe, engl. Philosoph 397 Sokrates, gr. Philosoph (469-399) 30, 31, 32, 33, 35, 40, 43, 47, 48, 49, 53, 58, 64, 72, 73, 74, 82, 87, 88, 95, 225, 249 Anm., 479, 480, 526, 556 Spencer, H., engl. Philosoph (1820-1903) 491 Spengler, Osw., deutsch. Philosoph (1880-1936) 391 Spinoza, Baruch, niederl. Philosoph (1632-1677) 58, 60, 61, 85, 169 183, 195, 213, 229, 270, 319, 320, 321, 396, 473, 486, 487, 543 Spitzer, H., österr. Philosoph 586 Stuart, schott. Königshaus (1371-1688) 19, 51, 52 T Taine, H., frz. Geschichtsphilosoph (1828-1893) Teger, schwed. Philosoph Thaies von Milet, gr. Denker (c. 625-545) Thomas von Aquino, Scholastiker (1225-1274) Thomasius, Chr., deutsch. Philosoph (1655-1728) Timon, gr. Philosoph (3. Jahrh. v. Chr.) Tolstoi, russ. Dichter (1828-1910) Turgeniew, L., russ. Dichter (1818-1883) Turner, engl. Maler (1775-1851) Tuxen, P., dän. Indolog (geb. 1880)
28, 81,
400, 399, 401 Anm., 448, 410 Anm., 571,
576 516 479 45 486 484 454 454 465 574
W Wanscher, W., dän. Kunsthistoriker (geb. 1875) Watson, J „ amer. Psycholog (geb. 1878) Watt, deutsch. Psycholog Weber, M„ deutsch. Philosoph (1864-1920) Wedderburn, engl. Jurist Westermarck, finn. Soziolog (geb. 1862) Westrup, C., dän. Rechtshistoriker (geb. 1874) Whitehead, A. N., engl. Mathematiker (geb. 1861) Wieger, L., S. J., frz. Sinolog Wiegler, deutsch. Literaturhistoriker Wilhelm, R., deutsch. Sinolog Wilhelm III, König v. England (1650-1702) Villegardelle, frz. Schriftsteller Wilkens, Cl., dän. Philosoph (1844-1929) Winckelmann, J. J., deutsch. Archäolog (1717-1768) Wittgenstein, L., österr. Philosoph (1889-1951) Voltaire, frz. Philosoph (1694-1778)
584 506, 507 522 564 589 519 479 361 Anm. 428 Anm. 485 434 Anm., 474 Anm. 19, 51, 52, 53 488 Anm. 578 575 95 Anm. 52, 89
595 Vries, Jos. de, deutsch. Philosoph Wright, C. H., finn. Philosoph Wundt, W., deutsch. Philosoph (1832-1920)
541 520 479, 484
X Xenophon, gr. Feldherr und Schriftsteller (c. 430-359)
479, 480
Z Zenon, gr. Philosoph (c. 336-264)
484
0 (dän. Laut.) 0rsted, H., dän. Physiker (1777-1851) 0strup, Johs., dän. Orientalist (1867-1938)
258 485