Das Begehren der Mystik: Eine Kriteriologie für Erkenntnis und Praxis 9783495999363, 9783495999356


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Hinführung und Grundlegung
1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung
2. Zur aktuellen Methodenfrage in der Mystikforschung
Teil I: Mystik und transzendentale Lebensgeburt
1. Das Offenbarungsverhältnis von Schrift und Leben
2. Inkarnatorische Elemente einer »Christusmystik«
3. Offenbarungsbegriff und Frage der Tautologie
Teil II: Sprache und Praxis der Mystik
1. Affektivität als Ur-Sagen – mit Blick auf die spanische Mystik
2. Mystische Tradition des Unausprechbaren – vom 5. ins 15. Jahrhundert
3. Mystik als Lebens- und Welthingabe gemäß Meister Eckhart
Teil III: Begehren und nicht-religiöse Mystik
1. Simone Weil und die »dekreative Weltlektüre« als Universalmystik
2. Erotik und Gewalt als »Mystik« bei Georges Bataille
3. Mystik und jouissance gemäß Jacques Lacan
Teil IV: Mystische Leere und Fülle interkulturell
1. Illusion des Ich und Leid im Buddhismus
2. Mystik des Einen im Sufismus und »Erotik Gottes« als Sublimierung
3. Lebensmystik und Zukunft von Religion und Gesellschaft
Gesamtbibliographie
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Das Begehren der Mystik: Eine Kriteriologie für Erkenntnis und Praxis
 9783495999363, 9783495999356

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Seele, Existenz, Leben

| 39

Rolf Kühn

Das Begehren der Mystik Eine Kriteriologie für Erkenntnis und Praxis

https://doi.org/10.5771/9783495999363 .

https://doi.org/10.5771/9783495999363 .

Seele, Existenz, Leben Herausgegeben von Rolf Kühn und Frédéric Seyler Band 39

https://doi.org/10.5771/9783495999363 .

Rolf Kühn

Das Begehren der Mystik Eine Kriteriologie für Erkenntnis und Praxis

https://doi.org/10.5771/9783495999363 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99935-6 (Print) ISBN 978-3-495-99936-3 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

https://doi.org/10.5771/9783495999363 .

Inhaltsverzeichnis

Hinführung und Grundlegung . . . . . . . . . . . .

9

1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung . . . . . . . . . . . . .

11

2. Zur aktuellen Methodenfrage in der Mystikforschung

35

Teil I: Mystik und transzendentale Lebensgeburt

55

1. Das Offenbarungsverhältnis von Schrift und Leben

57

2. Inkarnatorische Elemente einer »Christusmystik«

.

73

3. Offenbarungsbegriff und Frage der Tautologie . . .

109

Teil II: Sprache und Praxis der Mystik . . . . . . . .

125

1. Affektivität als Ur-Sagen – mit Blick auf die spanische Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

2. Mystische Tradition des Unausprechbaren – vom 5. ins 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

3. Mystik als Lebens- und Welthingabe gemäß Meister Eckhart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

Teil III: Begehren und nicht-religiöse Mystik . . . .

213

1. Simone Weil und die »dekreative Weltlektüre« als Universalmystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

5 https://doi.org/10.5771/9783495999363 .

Inhaltsverzeichnis

2. Erotik und Gewalt als »Mystik« bei Georges Bataille

251

3. Mystik und jouissance gemäß Jacques Lacan . . . .

287

Teil IV: Mystische Leere und Fülle interkulturell . .

325

1. Illusion des Ich und Leid im Buddhismus . . . . . . .

327

2. Mystik des Einen im Sufismus und »Erotik Gottes« als Sublimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Lebensmystik und Zukunft von Religion und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gesamtbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»Danach blieb ich in einem Zustand des Aufgenommenseins in meinem Geliebten, so dass ich ganz und gar in Ihn hineinschmolz und mir von mir selbst nichts mehr übrig blieb.« Hadewijch Das Buch der Visionen, Siebte Vision »Alle Dinge, welche durch irgendeine Vorstellung vorgestellt werden, bilden das vorgestellte Wesen. Dieses ist nicht vorhanden.« Vasubandhu der Ältere Nachweis, dass (alles) Erkenntnis ist, 20 »Das Heilige ist das verschwenderische Aufbrausen des Lebens, dem, um zu dauern, die Ordnung der Dinge Fesseln anlegt und das die Fesselung in Entfesselung, mit anderen Worten in Gewalt verwandelt.« Georges Bataille Theorie der Religion III, § 9

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Hinführung und Grundlegung

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1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung

Unabhängig von bestimmten historischen Voraussetzungen zeigt eine rein strukturelle Betrachtung der mystischen Tradition, dass sie nicht ohne implizite Spannungen bestehen kann, die mit dem Verhältnis der Existenz zu den Dimensionen von Zeit/Raum gege­ ben sind. Denn insofern die Mystik etwa die Zeit im Sinne einer Neubestimmung von Leben/Ewigkeit überwinden möchte, bzw. die transzendente Räumlichkeit als immanentes Verhältnis von Welt/ Gott,1 hat sie damit bereits Richtungen und Weisen zur Aufhebung von solchen Grundspannungen festgelegt. Diese können als Liebe oder Leere überwunden werden, mithin als ein Verhältnis von Akti­ vität/Passivität, durch welche die leiblich-seelischen Vermögen des Menschen sich unterschiedlich auf Gott ausrichten werden, um sich zuletzt von ihm selbst erfüllen zu lassen. Das heißt, die Aktivität des Suchens nach Gott durch die Liebe des Menschen endet selbst in der Passivität, um Gott am Ende jeder mystischen Vertiefung allein wirken zu lassen.2 Die unterschiedlichen Synthesen zwischen Gnade/ freier Wille nehmen in solchem Zusammenhang grundsätzlich ihren jeweilig philosophischen, theologischen oder spirituellen Platz ein, was ebenfalls für die orientalischen wie fernöstlichen Traditionen mit ihren sprachlichen wie kulturellen Eigenbedingungen gilt.3 1 Vgl. B. Casper u. W. Sporn (Hgg.), Alltag und Transzendenz. Studien zur religiösen Erfahrung in der gegenwärtigen Gesellschaft, Freiburg/München 1992; M. Enders, »Immanenz und Transzendenz einer absoluten Einheit im Raum der abendländischen Metaphysik«, in: M. Enders (Hg.), Immanenz und Einheit. Festschrift zum 70. Geburtstag von Rolf Kühn, Leiden-Boston 2015, 3–19; Th. Alferi, »Worüber hinaus Größeres nicht gegeben werden kann«. Phänomenologie und Offenbarung nach J.-L. Marion, Freiburg/München 2007. 2 Vgl. für die neutestamentlichen Anfänge Chr. Meier, Mystik bei Paulus. Zur Phänomenologie religiöser Ekstase im Neuen Testament, Tübingen-Basel 1998. 3 Vgl. beispielsweise F. Heiler, Die Bedeutung der Mystik für die Weltreligionen, München 1919; L. Gardet, Mystische Erfahrungen in nicht-christlichen Ländern, Col­ mar 1956; G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt/M.

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1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung

Der Weg der Leere im absoluten Sinne meint daher nicht nur als oft gegebene mystische Struktur das Absterben von Empfindungen, Wille und Denken, sondern eine prinzipielle Entleerung von den genannten Voraussetzungen und Grundspannungen selbst. Sowohl der Mensch wie Gott werden dann ein »Nichts«, ohne jede Bestimm­ barkeit im Sinne einer Repräsentation oder eines Namens, die diesen »Ungrund« irgendwie treffen könnten. Die Wirklichkeit der Welt wie der Seele und des Leibes wird dadurch nicht zerstört, sondern sie generiert sich als apperzeptive Erscheinungen in jedem Augenblick von diesem »Nichts« aus, welches zugleich die originäre Einheit aller denkbaren Wirklichkeitsformen von Natur und Geist in sich birgt. Anders gesagt, benötigt das als Leere radikalisierte Leben innerhalb solch mystischer Praxis keine Hermeneutik und Metaphorik mehr, um auf die Grundspannungen der raum-zeitlichen Existenz reduktiv zu antworten. Dieses Leben ohne jede vorausgesetzte Differenz ist in rein phänomenologischer Hinsicht als Leere oder Nichts aller Erschei­ nensmanifestationen zugleich Fülle. Mithin ausschließlich Begehren (désir) seiner selbst ohne jede besondere Teleologie, weshalb solches Begehren als permanent innere Bewegung die Grundmotivation der Mystik im entsprechenden Sinne bildet. Das »Licht Gottes« als Wirklichkeit der Seele nach Bonaventura räumt dabei auch der Philosophie eine Hinführung zum Erstursprung ein, wo Spiegelund Leitermetapher der Seelenkräfte ineinander spielen. Allerdings werden Sehnsucht (desiderium) und Begehren unterschieden, da letz­ teres nur »Begierde« (concupiscentia) sei, was der originären Phäno­ menalisierung jedoch nicht gerecht wird, sondern dem scholastischen Zusammenhang von Habitus und Tugend geschuldet bleibt.4 Diese Problematik wird sich durch die gesamte Mystikgeschichte ziehen, so dass wir sie zugleich als Leitfaden im weiteren benutzen.

1957; Th. Ohm, Die Liebe zu Gott in den nichtchristlichen Religionen, Freiburg/Br. 1957; R.C. Zaehner, Inde, Israel, Islam. Religions mystiques et religions prophétiques, Paris 1965; P.S. Ariel, Die Mystik des Judentums. Eine Einführung, München 1993; C.-A. Keller, Approches de la mystique dans les religions occidentales et orientales, Paris 1996; G. Schmid, Die Mystik der Weltreligionen, Stuttgart 2000; P. Schäfer, Die Ursprünge der jüdischen Mystik, Berlin 2011; T. Freke u. P. Gandy, Die Welt der Mystik. Die mystischen Traditionen in Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam, Judentum, Schamanismus, München 2001. 4 Vgl. Der Pilgerweg des Menschen zu Gott (Hg. M. Schlosser), St. Ottilien 2010, Kap. III,3 (S. 65); außerdem Kap. III,6 (S. 68f.) u. Kap. IV,1 (S. 71).

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1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung

Da dieses Begehren alle Erkenntnis wie Praxis durchzieht, um sie für die originäre Einheit transparent werden zu lassen, ist ein als Leere/Fülle erprobtes Begehren reines Sich-Begehren und dadurch zugleich eine Kriteriologie aller konzeptuellen Voraussetzungen, mit denen man das Leben gewöhnlich von außen verstehen will. Für diese kriteriologische Analyse benutzen wir den Begriff der rein immanenten »Erprobung«,5 welche als rein praktischer Grundvollzug der Mystik auch gegenüber ihrer je eigenen Tradition und Sprache zu befragen bleibt. Denn die Mystik selber ist als kontextuelle wie individuelle Synthese zu untersuchen, um zu erkennen, ob sie ihren eigenen innersten Anspruch zu verwirklichen vermag oder nur je einem »Körperdrama« folgte, welches die lebensweltlichen Spannun­ gen zum Ausdruck bringt. Erst nach solchen Klärungen, wie Michel de Certeau6 sie vorgeschlagen hat, lässt sich dann sagen, ob die Mystik jener reinen Erprobung des Lebens in seiner originären Ab-gründigkeit entspricht, für die es weder Form noch Bild oder Rede gibt. In diesem Sinne werden die mystischen Texte und ihre Kommentare sowie die entsprechende phänomenologische Analyse in den folgenden Kapiteln in ein kriteriologisches Gespräch miteinan­ der gebracht, um sich dergestalt jener nicht erinnerbaren wie nicht aussagbaren Wirklichkeit anzunähern, welche die Mystik als eine der ursprünglichsten Menschheitserfahrungen umkreist, auch wenn der Begriff selbst als Substantiv erst am Ende des 16. Jahrhunderts erscheint. Er bezeichnet dabei eher eine Methode und Praxis denn eine Erkenntnis der Seinshierarchie, um nach einer reichen literarischen Produktion daraufhin gegen 1700 durch eine meist abwertende his­ torisch-ekklesiale wie auch medizinisch-juristische Einordnung dem Niedergang geweiht zu sein.7 Der Begriff existiert dennoch als epistemologischer Schatten angesichts zunehmender methodischer Wissensanhäufung weiter, um die Unabschließbarkeit aller Texte durch ein verbleibendes Unsag­ bares zu dokumentieren, welches letztere Schmerz wie Genuss (jouis­ 5 Vgl. M. Henry, Radikale Religionsphänomenologie. Beiträge 1943–2001, Frei­ burg/München 2015, 145–160: »Hinführung zur Gottesfrage: Seinsbeweis oder Lebenserprobung?« (1990), als Diskussion zum Verhältnis zwischen Anselm von Canterbury und Meister Eckhart. 6 Vgl. La fable mystique, 2 Bde., XVIè-XVIIè siècle, Paris 1982 u. 2013 (posthum) (dt. Die mystische Fabel, Berlin 2010). 7 Vgl. L. Bouyer, »Mystique. Essai sur l'histoire d'un mot«, in: Supplément de la Vie spirituelle 9 (1949) 3–23.

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1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung

sance) zugleich sein lässt, um adjektivisch noch eine »Präsenz« zu verheißen, die nirgendwo welthaft aufzufinden ist. Dem trägt die sub­ jektive Selbsterprobung als radikale Phänomenalisierung Rechnung, in der kein anderes Wissen mehr als die Unmittelbarkeit von Affekt und Leib in ihrer transzendentalen Verlebendigung gegeben ist. Die Aktualität der »Mystik« heute wäre dann eine erneuerte Zuordnung von Wollen und Können, das heißt eines Begehrens, welches die originäre Möglichkeit eines je situativ Möglichen erschließt.8 Darin bilden sowohl der genannte Affekt wie »Gott« jene Öffnung,9 die als Ausgangspunkt all der Akte gelebt werden kann, die sich gemäß dem mystischen Begehren als permanente Bewegung der immanent lebendigen Modalitäten erweisen. Mit anderen Worten als ein subjek­ tives Übermaß ohne Diskurs letztlich, was etwa Angelus Silesius10 als »Mensch-" wie »Gottwerden« aufgreift, wo die Sprache das Begehren nicht länger zu begrenzen vermag, da das abgründige Handeln, so unmöglich es erscheint, die eigentliche Wirklichkeit berührt, ohne weiterhin der mittelalterlichen Allegorese unterworfen zu bleiben. Mit Jakob Böhme11 wäre es der ursprüngliche »Kern des Lebens«, der »zerreißt«; bei Pascal12 der unterschiedliche Sinn durch das »Wört­ liche« (littéral) und »Mystische« (mystique), um nur drei Beispiele hier zu erwähnen. Dann ist die Mystik nicht länger ein Effekt der jeweiligen Metaphorik, sondern die unendliche Entfaltung der Leiden wie Leidenschaften (passions),13 die sich in allen mystischen Lektüren manifestieren, wo ein Raum für das Begehren frei gegeben wird, dem sich jeder – gemäß der langen Tradition von lectio – affectus – motus – öffnen kann.14

Vgl. H.-J. Schrade u. H. Schilling (Hgg.), Jansenismus, Quietismus, Pietismus, Göttingen 2012; J. Wallmann, Der Pietismus, Göttingen 2005. 9 Für ein gegenwärtig »pathisches« Gottesverständnis vgl. E. Durand, Les émotions de Dieu. Indices d'engagement, Paris 2019. 10 Vgl. A, Silesius, Der Cherubinische Wandersmann (Hg. L. Gnädinger), Stutt­ gart 1985. 11 Vgl. Sex Puncta Mystica oder Kurze Erklärung sechs mystischer Punkte, in: Mys­ terium Pansophicum oder Gründlicher Bericht von dem irdischen und himmlischen Mysterio (Hg. G. Wehr), Freiburg/Br. 1980, 145–161. 12 Vgl. M. de Certeau, La Fable mystique II, 309ff. 13 Vgl. R. Kühn (Hg.), Religio und passio. Texte zur neueren französischen Religi­ onsphilosophie, Würzburg 2014, mit Beiträgen von Simone Weil, Levinas, Ricœur. Derrida, Henry und Marion. 14 Vgl. etwa Bonaventura, Der Pilgerweg des Menschen zu Gott, Kap. V,3 (S. 83ff.). 8

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1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung

Der Affekt war neben dem »Laien« (idiota)15 und der Frau seit der Ausbildung neuer Methoden und Sprachen in der Renaissance eine Wirklichkeit, die der theologischen Spekulation widerstand, so dass der mystische »Geburtsgedanke« seit Meister Eckhart16 anstelle aus­ schließlich ontologischer Genealogien von Sein/Wissen bereits neue »Erfahrungen« ankündigte, die sich dann innerhalb des mystischen Sprechens als freier Umgang mit Schrift, Tradition und scholastischer Rhetorik affirmieren konnten.17 Denn im schmerzhaft wie freudig erlebten Leib findet zugleich ein Sprechen wie Schweigen statt, so dass er als die körperliche Erfahrung des mystisch Unsagbaren des Geistes angesehen werden kann, der diese Unvergleichbarkeit mit sich selbst nicht versteht. In diesem Sinne wurden dann ebenfalls die einzelnen Erzählungen in der Bibel zu einem ständigen Gleiten des Wortes, das von einem absoluten Anfang als Schweigen durchzogen bleibt. Somit ist die Leiblichkeit wie Erotik für das mystische Sprechen zugleich eine biblische Präsenz des Schweigens innerhalb der nie erfüllten Referenz der Worte, was nur mit Hilfe einer radikalisierten Phäno­ menologie der Vergegenwärtigung einer inkarniert christologischen Unmittelbarkeit in der je eigenen affektiven Erprobung zugeführt werden kann.18 In der Mystikerforschung wird inzwischen anerkannt, dass das Begehren ein Übermaß erzeugt, welches – identisch mit dem originären Leben als solchem – nirgendwo einen Ort hat, wodurch weder ein Hier noch ein Dort ihm entspricht, so dass es auch in kein Dieses oder Jenes mehr aufzugehen vermag. Die noch nicht gänzlich hieraus gezogene Konsequenz in den verschiedenen Disziplinen ist daher,19 dass gerade die ortlose Identität von Leib/Begehren als mystischem Übermaß jeden Einordnungsversuch des Lebens sprengt. Der Leib als Begehren ist dann weder nur ein sozialer, erotischer, pathologischer, narrativer oder poetischer Körper, der sich in die Vgl. N. von Kues, Der Laie über die Weisheit (Hg. R. Steiger), Hamburg 1995. Vgl. P. Schürmann, »Trois penseurs du délaissement: Maȉtre Eckhart, Heidegger, Suzuki«, in: Journal of the History of Philosophy 12 (1974) 455–478; W. Schweidler (Hg.), Wiedergeburt und kulturelles Erbe, St. Augustin 2001; Wiedergeburt, Frei­ burg/München 2020. 17 Vgl. Bernhard von Clairvaux, Predigten über das Hohe Lied XX,9 (Sämtliche Werke V), Innsbruck 1994, S. 291. 18 Vgl H. de Lubac, Corpus mysticum, Paris 1949; R. Kühn, Der Erst-Lebendige. Christologie leiblicher Ursprungswahrheit, Freiburg/München 2021. 19 Vgl. K. Hock, Einführung in die Religionswisschaft, Darmstadt 2014; G. Löhr, »Mystik in den Religionen. Überlegungen zu einer religionswissenschaftlichen Defi­ nition des Mystikbegriffs«, in: Saeculum 57 (2006) 115–129. 15

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1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung

Hetereologie von Tropen, Metaphern und Kontexten disseminiert – als lebendiger Leib ist er vor allem ständige Selbsterprobung als Ursprung, dessen Namenlosigkeit die Mystik verpflichtet bleibt, wie immer sie spricht. Ob solch mystische Praxis schließlich bevorzugt zur Liebe oder Leere führt, entscheidend ist beides Mal die Wiedererkennung des Begehrens in seiner Objektlosigkeit, die es als seine eigene Fülle affiziert. Im »Mystischen« erfüllt sich dann sprachlich-poetisch wie individuell-kommunikativ das immemoriale Gedächtnis des Leibes als die Unerschöpflichkeit seiner reinen Lebensabkünftigkeit, welche die immanente Verlebendigung des Möglichen der Möglichkeit unbe­ grenzt sein lässt.20 Ideen und Texte heute sind darin kein Letztes mehr, sondern Übergang zum je Unsagbaren, das jede Mystik als Ein­ heit von Erleiden/Erfreuen stets unterstrichen hat, um diese Einheit in Zukunft durch eine sowohl individuelle wie kollektive »Dunkle Nacht« oder »Wüste« jedem zugänglich zu machen, der sich von solchem Begehren berühren lässt.21 Denn durch das mystische Spre­ chen findet eine Verlagerung des Subjekts aus allen Sinnbereichen statt, da es als reine Praxis eine Loslösung intendiert, welche die Sprache nicht länger als Nachahmung der Dinge behandelt, sondern von der gewöhnlich semantischen Referenz Wort/Ding emanzipiert. Die Sprache wird also eingesetzt, um dieselbe zu verlassen; mithin alle Dinge und Gefühle nicht mehr als fixierte Vorstellungen ergreifen zu wollen, sondern um offene Relationen zur Umwelt wie zu sich selbst zu erstellen, die dem Begehren ohne Objekt entsprechen, für welches in der westlichen Mystiktradition der Name »Gott« steht.22 Solcher Bruch oder Übergang schließt die nicht übersehbare Frage nach der Bedeutung von Psychose und Wahnsinn ein, ohne die Mystik selbst pathologisieren zu können, da die mystische Erpro­ bung in keinem symptomalen Zustand als solchem psychologisch verharrt.23 Damit ist einleitend der Rahmen der folgenden Untersu­ 20 Was für alle Lebensbereiche gilt; vgl. unter anderem J. Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund« der Autorität, Frankfurt/M. 1991. 21 Vgl. H. Girndt (Hg.), Zeit und Mystik. Der Augenblick im Denken Europas und Asiens, Sankt Augustin 1992. 22 Vgl. zur Geschichte der Gottesvorstellung Th. Römer, Die Erfindung Gottes. Eine Reise zu den Quellen des Monotheismus, Darmstadt 2018. 23 Vgl. R. Wimmer, »Wittgensteins Auffassung von der therapeutischen Funktion der Religion«, in: R. Kühn u. H. Petzold (Hgg.), Psychotherapie und Philosophie -Philo­ sophie als Psychotherapie?, Paderborn 1992, 283–315.

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1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung

chung abgesteckt, um das Verhältnis von Begehren/Mystik in deren vielfältigen religiösen wie profanen Facetten über jede empirische Festlegung hinaus kriteriologisch aufscheinen zu lassen. Dass darin auch die östlichen Traditionen ihren Platz haben, zeigt exemplarisch das buddhistische »Sutra vom abhängigen Entstehen«,24 wonach das »Werden« als »Geburt« alle Erscheinungen umgreift, um in die »Auslöschung« zurückgeführt zu werden: »Abhängig vom Ergreifen entsteht das Werden. [...] Werden in der Sphäre der Begierde, Werden in der Sphäre des Materiellen und Werden in der Sphäre des Nichtma­ teriellen. [...] Die Geburt ist das In-Erscheinung-Treten, das Sichtbar­ werden«, welches insgesamt der Vergänglichkeit von Alter und Tod unterworfen ist und wovon das »Nirvana« als Aufhebung jeglicher Veränderung befreien soll. Bezieht man dies auf jede religiöse und mystische Lehre als solche, dann kann auch diese noch aufgehoben werden, um wie beim persischen Dichter Maulana Rumi25 zum reinen Anruf oder Schrei zu werden. Ihm werden folgende Verse über die – jedem Menschen zugängliche – Liebe zu Gott zugesprochen: »Komm! Komm! Wer du auch bist! Wenn du auch Götzendiener oder Feueranbeter bist. Komm wieder! Dies ist die Tür der Hoffnung, nicht der Hoffnungslosigkeit. Auch wenn du tausendmal dein Versprechen gebrochen hast. Komm! Komm wieder!«

Um die bisher herausgestellten Strukturelemente mit unserer nach­ folgenden Methodendiskussion zu verbinden, wollen wir als heu­ ristischen Vergleichspunkt die sowohl religionsphilosophisch wie gesellschaftlich relevante Mystikbestimmung von Henri Bergson (1859–1943) aufgreifen, da bei ihm exemplarisch die mystischen Grundorientierungen wie Problembereiche zur Sprache kommen. Bergson entwickelte einen Religionsbegriff mit korrespondierender Moralkritik von der Mystik her, die eine Synthese von Technik und Nächstenliebe für die Zukunft einer »offenen Gesellschaft« ermög­ lichen soll.26 Ohne Zweifel ist für ihn die christliche Mystik der 24 Digha-Nikaya XV,1–9; Übersetzung E. Frauwallner, Die Philosophie des Buddhis­ mus, Berlin 2010, 25–27. 25 Liebesmystik. Gedichte aus dem Diwan (ins Deutsche übertragen von R. Mascha­ jechi), Weitra 2004, 129. 26 Vgl. Les Deux Sources de la morale et de la religion (1932), Paris 2012 (dt. Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Frankfurt/M. 1993); dazu M.

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1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung

Höhepunkt der Mystik als solcher, aber seine zentrale Kategorie ist dabei nicht der katholische Glaube, sondern die subjektive mystische Erfahrung schlechthin. Dabei setzt er unter anderem die religionsund mystikkritische Psychologie wie Soziologie seiner Zeit wie bei Emile Durkheim, William James oder Lucien Lévy-Bruhl voraus. Aber sein eigener Ausgangspunkt ist die Unterscheidung von »geleb­ ter Zeit« (durée) und »räumlicher Zeit« (temps d'espace), wodurch die bisherige Seins- und Bewusstseinsphilosophie von einer dynami­ schen Naturphilosophie her neu gedacht werden soll.27 Mit anderen Worten von einer Philosophie des Werdens her, wobei allerdings die Natur letztlich nicht nur schöpferisch oder dynamisch zeitlich von Bergson gesehen wird, sondern originär von einen göttlich verstan­ denen Trieb aus, der als élan vital im Sinne einer göttlichen Psyche gedacht wird. Dadurch äußern sich die Seele oder der Geist in den verschiedenen Naturbereichen ihrerseits als schöpferisch, die somit nicht aufeinander reduzierbar sind, so dass auch der Mensch in der Dualität eines Natur- und Kulturwesens auftritt.28 Religion wurde zu seiner Zeit – wie bei Pierre Janet und Sigmund Freud – als eine Krankheitserscheinung im Sinne von Hysterie und Halluzination verstanden, so dass durch Bergsons schöpferische Sicht des élan vital die Mystik als »Ekstase« aus dem Kontext positivisti­ scher Psychologie herausgelöst wurde, um eine Synthese mit Berg­ sons Philosophie der »Intuition« einzugehen. Darin sind Elemente des neu-platonischen Denkens als nichtsinnlicher Schau enthalten, aber auch Auseinandersetzungen mit Descartes, Kant und Hegel, die eine rein »intellektuelle Anschauung« ablehnten. Für Bergson ist es jedoch charakteristisch, dass er den klassischen Intuitionsbegriff, der auch für die zeitgenössisch sich entwickelnde Phänomenologie seit Husserl zentral ist, weiter fasst. So gehört ebenfalls die Empa­ Cariou, Bergson et le fait mystique, Paris 1976; G. Steunebrink, »Warum definiert Bergson Religion von der Mystik her?«, in: Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society (2019) 1–30. Über den im Sinne einer universellen Spiritualität entstehenden »Mystizismus« unter dem Einfluss des Ersten Weltkrieges siehe auch J. Sageret, La Vague mystique, Paris 1920; E. Poulat, Critique et mystique, Paris 1984. 27 Vgl. P. Spatenender, Leibhaftige Zeit. Die Verteidigung des Wirklichen bei Henri Bergson, Stuttgart 2007. 28 Vgl. K.P. Romanos, Heimkehr. Henri Bergsons lebensphilosophische Ansätze zur Heilung vom erstarrten Leben, Frankfurt/M. 1988; F. Worms, Bergson et les deux sens de la vie, Paris 2004.

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1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung

thie wie das Miterfahren des Ganzen in einer Teilerfahrung dazu, wodurch verständlich wird, dass die mystisch religiöse Schau für ihn mit der Intuition des »kosmischen Lebensschwungs« (élan vital) zu korrelieren vermag, der das schöpferische Vermögen Gottes darstellt, bzw. sogar Gott selbst.29 Die Vernunft als pragmatisch technische Rationalität besitzt hingegen kein solches Vermögen, so dass der ästhetische wie mystische Bezug zu den Dingen letztlich eine Verbin­ dung von Intuition und Praxis bedeutet, wodurch Bergson den Impuls des Christentums aufnimmt, dass Mystik vor allem als Aktion und Liebe zu verstehen sei. Was die damalige Diskussion zwischen Psychologie, Kulturan­ thropologie und Soziologie betrifft, so argumentiert Bergson für ein alternatives Verhältnis zwischen primitiven Religionen und Welt­ religionen, womit er sich von Lucien Lévy-Bruhl30 abgrenzt, der durch den Begriff der »mystischen Teilhabe« (participation mystique) zugleich eine prälogische Mentalität postuliert hatte.31 Damit wäre Religion ein primitives Phänomen, das keine Sekundärursachen kenne, bzw. die Subjekt-Objekt-Relation ignoriere. Da Bergson Reli­ gion stets im Zusammenhang mit einer geschlossenen und offenen Gesellschaft sieht, können auch die primitiven Religionen für ihn nicht einfach »irrational« sein, sondern Mystik bedeutet hierbei für ihn bereits die Quelle für eine offene Gesellschaft. Dadurch wider­ setzt sich Bergson auch der soziologistischen Auffassung Emile Durk­ heims,32 der in der Religion nur den Zusammenhalt der Gesellschaft sowie die entsprechende Symbolisierung der Moral ausgedrückt fin­ det. Primitive Religion ist für Bergson nur ein bestimmtes Stadium in der Geschichte der Religion und Gesellschaft, nämlich die Bildung von religiös motiviertem gesellschaftlichem Zusammenhang durch Gewohnheit, worin der soziale Organismus noch keinen Platz für den Individualismus geschaffen hat.33 Als »natürliche« frühe Gestalt der Gesellschaft und Moral im Sinne einer »geschlossenen Gesellschaft« handelt es sich dennoch um eine Neuschöpfung im Kosmos, auch Vgl. Les Deux Sources de la morale et de la religion, Kap. II,4 u. III,1,2; S. Abokomi (Hg.), Dissémination de l'Evolution créatrice de Bergson, Hildesheim-Zürich-New York 2012. 30 Vgl. La Mentalité primitive, Paris 1922; L'Ame primitive, Paris 1927. 31 Vgl. H. Bergson, Les Deux Sources de la morale et de la religion, Kap. III,1,2,3 u. 12. 32 Vgl. Sociologie et philosophie, Paris 1924; B. Sitbon-Peillon, Religion, métaphysique et sociologie chez Bergson, Paris 2009. 33 Vgl. Les Deux Sources de la morale et de la religion, Kap. I,2–3. 29

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wenn die Perspektive einer umfassenden Menschheit darin noch nicht gegeben sei. Die offene Gesellschaft ist daher nicht nur eine schöpferische Neubildung in der Geschichte, sondern in diesem Sprung der kultu­ rellen Entwicklung wird Gott zugleich mit der Menschheit entdeckt. Anlass zu diesem Sprung sind große Persönlichkeiten wie die Wei­ sen in Griechenland, die Propheten Israels und die Heiligen bzw. Mystiker im Christentum, aber ebenfalls die mystischen Arhats des Buddhismus.34 Hier beruht die Moral nicht mehr auf Gewohnheit und Zwang, sondern auf Vorbild und Nachfolge, das heißt in einem mystischen Appell in der Einheit von Vernunft, Gefühl und Praxis, wodurch Nächstenliebe und Menschheitsliebe eins sind, was sich für Bergson besonders in der Bergpredigt des Neuen Testaments ausdrückt. Entscheidend sei dabei für ihn nicht, ob Jesus als Gott oder Mensch betrachtet wird, sondern alle Menschen insgesamt als göttlich angesehen würden.35 Diesbezüglich hätten die Propheten Israels zwar bereits die Idee der Gerechtigkeit für alle vorbereitet, aber die Botschaft universaler Gerechtigkeit werde erst durch das Christentum wirklich greifbar, da es das Ideal der Gerechtigkeit in seine Mystik integriere, während Israel als »Schwellenland« keine Mystik kenne, wobei Bergson allerdings Kabbala und Chassidismus ausblendet. Auf diesem Wege gelangt er zur Unterscheidung von »prophetischer und mystischer Religion«, die dann auch bei Rudolf Otto und Nathan Söderblom wieder im religionswissenschaftlichen Sinne auftreten wird.36 Da Bergson die primitive Religion nicht als »Irrationalität« deutet, stößt er ebenfalls ein neues Verständnis der Mythen an, die nach ihm der »Fabulierfunktion« (fonction fabulatrice) folgen. Als Sinngebungsgeschichten haben die Mythen nichts mit der Finalität der Natur zu tun, weshalb Geister und Götter in solchen Erzählun­ gen keinen Ersatz für kausale Erklärungen darstellen, sondern als fabula eher mit den Fiktionen in der Kunst verwandt sind. Dadurch ist die »Fabulierfunktion« mit dem élan vital verbunden, denn sie Vgl. ebd., Kap. I,6. Vgl. ebd., Kap. III,6. 36 Vgl. ebd., Kap. III,5–7; N. Söderblom, Das Werden des Gottesglaubens. Untersu­ chungen über die Aufgabe der Religion, Leipzig 1916; Einführung in die Religions­ geschichte, Leipzig 1920; P. Antes, »Mystische und prophetische Religionen: Eine gültige Unterscheidung?«, in: Religionen unterwegs. Zeitschrift der Kontaktstelle für Weltreligionen in Ostereich 4/1 (1998) 4–8. 34 35

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stellt für den Menschen den Zusammenhang mit dem Ganzen von Natur und Kosmos wieder her. Dergestalt wird auch die Religion als eine im Menschen sich ereignende Reaktion der Natur gegen die zersplitternde Kraft des Denkens angesehen. Mithin lässt sich auch sagen, dass die Religionen eine Folge des Verschwindens der Instinkte bilden – ein Gegengewicht gegen die Instabilität, welche zur Depression führe und letztlich in unserer Sterblichkeit gründet. Religion entspringe daher nicht der Furcht wie bei Freud, sondern sie ist vor allem eine Reaktion gegen die Furcht. Daher kann Bergson die Religion als Teil der dynamischen Gesellschaft auch »suprarational« nennen, denn sie bedeutet eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis, wodurch sie sich über die Philosophie erhebe. Bei Sokrates und Plotin sei diese mystische Orientierung noch zu theoretisch, um erst in der neutestamentlichen caritas ihre eigentliche Konkretion zu errei­ chen. Religion kann daher gleichfalls als die popularisierte Form der Mystik bezeichnet werden, denn es gäbe eine gewisse Verwandtschaft zwischen dynamischer und statischer Religion, insofern es sich um zwei Dimensionen innerhalb einer Religion handle. Als Beispiel führt Bergson das Gebet an, welches als Bewegung der Seele formlos ist, andererseits jedoch nicht ohne Bezug zu den vorgeprägten Formen der statischen Religion.37 Die dynamische Religion übersteigt letztere, insofern sie per se Weltreligion ist. Das heißt, wer versteht, was Gott bedeutet, der versteht zugleich die Menschheit, was praktisch einschließt, zugleich zu verstehen, dass es keinen Krieg geben darf. Wenn die christliche Mystik die Norm und das Urbild aller Mystik im Sinne der gelebten Nächsten- und Menschheitsliebe ist, dann steht sie auch nicht im Gegensatz zur Verbesserung der Welt ein­ schließlich Technik und zunehmender Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit einer Verbindung von Mystik und Technik antwortet Bergson auf die Unterscheidung des indischen Philosophen Vivekananda, der 1893 in Chicago die einflussreiche Unterscheidung zwischen einem »mystischen Osten« und dem »technischen Westen« vorgebracht hatte.38 Gegen Vivekananda wie auch Ramakrishna39 Vgl. Les Deux Sources de la morale et de la religion, Kap. II,24. Vgl. Hinduismus. Ansprache gehalten auf dem internationalen Religionskongress Chicago 1893, Zürich 1935; H. Torwesten, Vivekananda. Ein Brückenbauer zwischen Ost und West. Die Biographie, Grafing 2015. 39 Vgl. Das Vermächtnis. Die Botschaft eines der größten indischen Weisheitslehrer der Neuzeit, Frankfurt/M. 2003. 37

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bemerkt Bergson, Indien könne so leidenschaftlich mystisch sein, weil es sich durch die Übernahme westlicher Wissenschaft und Technik bereits fortschrittlich entwickelt habe, denn das alte Indien sei zu theoretisch geblieben und habe sich gegenüber der Armut als ohn­ mächtig erwiesen. Im Yoga erblickt Bergson hingegen noch keine eigentliche Mystik, sondern nur ein »Gefäß« für dieselbe, welche dann im Brahmanismus und Buddhismus gegeben ist. Auch erkennt Bergson im Buddhismus und dessen Auffassung vom Mitleid mit allen lebendigen Wesen eine große Nähe zur christlichen Mystik an, auch wenn er in dieser Mitleidskonzeption die »Wärme« wie im Christentum vermisse.40 Zur Mystik im Islam äußert er sich nirgendwo in seinem Werk über die beiden Quellen der Religion und der Moral, aber insgesamt kehrt Bergson schließlich den Gegensatz von fernöstlicher Spiritualität und westlicher Technik um, insoweit die christliche Mystik aktiv wäre und damit in eine technische Welt­ verbesserung übergehe. Bevor wir auf diese Problematik anschließend noch einmal zurückkommen werden, um die Frage nach dem Verhältnis von Mystik und kultureller Zukunft genauer zu verfolgen, sei hier kurz auch der Zusammenhang von Mystik und Psychopathologie ange­ sprochen, der seitens Janets und Freuds schon als »krankheitspsycho­ logisch« erwähnt wurde.41 Für Bergson gilt zum einen, dass er mit Evelyn Underhill42 und Henri Delacroix43 für den Begriff der Mystik faktisch von den großen Gestalten der Mystik ausgeht und nicht von Patienten mit mystischen Zuständen, zumal die großen Mystiker sel­ ber vor solchen psychopathologischen Zuständen warnen, die auf dem mystischen Weg auftreten könnten.44 »Ekstasen« dürften daher nicht auf Halluzination etc. beschränkt werden, sondern seien Umwälzun­ gen der Person, in der sich der Übergang von der traditionellen Religion und Gesellschaft zur dynamischen Menschheitsreligion hin Vgl. Les Deux Sources de la morale et de la religion, Kap. III,4–5. Vgl. auch unser folgendes Kapitel III,3. 42 Vgl. Mysticisme. A Study on the Nature of Developpement of Man's Spiritual Consciouness, London 1911. 43 Vgl. Etudes d'historie et de la psychologie du mysticisme, Paris 1908. 44 Vgl. Les Deux Sources de la morale et de la religion, Kap. II,4 Anm. 2; siehe bei­ spielsweise Johannes vom Kreuz, Subida del Monte Carmelo, in: Vida y Obras de San Juan de la Cruz. Madrid 51964 (dt. Aufstieg auf den Berg Karmel (Ges. Werke 4), Freiburg-Basel-Wien 1999), II,16,7, über die zu unterscheidenden Formen bei Visio­ nen. 40 41

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zeige. Die Zustände der Mystiker bleiben mit ähnlichen Zuständen bei schöpferischen Künstlern zu vergleichen, und was die Psychologie untersuche, sei »infrarational«. Die Gefühle der MystikerInnen hält Bergson hingegen für »suprarational« und hat dabei die Beispiele von Paulus, Theresa von Avila, Katherina von Siena, Franziskus und auch Jeanne d'Arc von Augen. Wenn der Mensch in der mysti­ schen Erfahrung fühlt, dass Gott in der Seele wirke, wodurch der élan vital neu zur Erscheinung kommt, dann finde eine existentielle Umwandlung statt, die vom bloßen Vergnügen (plaisir) zu einer großen Freude (joie) hinführt. Die Menschheit wird dann in Gott geliebt und Gott in der Menschheit, was auch nicht mehr bloß mit einer Erweiterung des sozialen Instinkts zu vergleichen ist, sondern etwas radikal Neues darstellt. Zwar scheint die mystische Erfahrung zunächst nur von großen Persönlichkeiten gelebt worden zu sein, aber ihre Erfahrung kann nicht nur nacherlebt werden, sondern alle können an ihr teilhaben, anstatt sich nur mit der Vulgarisierung der Mystik in der Religion zu begnügen, wo die Alltagswelt ihre Prägung hinterlassen hat. Auf zusätzliche Weise versteht Bergson Jesus von Nazareth selbst als einen Mystiker, dessen Nachfolge die christlichen MystikerInnen dann antraten.45 Neben der Abgrenzung von der Psychopathologie schreibt Berg­ son ebenfalls der Mystik eine Erneuerung der klassisch philosophi­ schen Theologie zu,46 da eine effektive Erfahrung in deren rein begriff­ liche Welt eingebracht werde. Die Gottesbeweise der philosophisch theologischen Tradition stellen für Bergson eine irrtümliche Defini­ tion Gottes dar, welche eine die Erfahrung übersteigende Entität durch das Sein Gottes ausdrücken will, aber die wirkliche Beziehung zum Menschen verliere. Die Mystik in den verschiedenen Religionen zeigt, dass Gott tatsächlich erfahren werden kann, so dass es eine Konvergenz zwischen den verschiedenen Mystikströmen gebe, die alle dieselbe Entwicklung durchliefen. Zwar führt Bergson selber keinen »Gottesbeweis« durch diese geschichtliche Übereinstimmung der verschiedenen Mystikformen, aber er sieht in ihnen eine zuver­ lässige Erfahrung. Daher könne auch jeder Mensch in sich einen Widerhall dieser Mystik nachempfinden, wobei er sich auf William James47 beruft, selbst wenn derselbe in diesem Punkt keine Ekstase 45 46 47

Vgl. H. Gouhier, Bergson et le Christ des Evangiles, Paris 1961. Vgl. Les Deux Sources de la morale et de la religion, III,8–13. Vgl. Varieties of Religious Experience, London/New York 1902.

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für sich in Anspruch nimmt, aber dieselbe dennoch nachempfinden konnte. Der Möglichkeit nach sind wir gemäß Bergson mithin alle Mystiker, was wir in unserer Untersuchung ebenfalls unter dem Begriff einer originären »Lebensmystik« diskutieren werden. Wenn Bergson auch die christliche Mystik als die höchste Form der Mystik einstuft, so will er sich allerdings nicht auf eine bestimmte Religion oder Offenbarung berufen, sondern ein neues Bewusstsein für Gott überhaupt ermöglichen. Dabei konvergiert bei aller Distanz zur rein begrifflichen Philosophie die Gemeinsamkeit philosophischer und mystischer Erfahrung in einem Gott von unendlicher Kreativität. Damit gelangt bei Bergson eine lebensphilosophische Relatio­ nalität ins Spiel, die als gegenseitige Suche von Gott und Mensch angesehen werden kann, wodurch der aristotelische »unbewegte Beweger« verlassen wird. Denn für Bergson gibt es nicht nur eine mystisch schöpferische Anwesenheit Gottes in allen Dingen, sondern die Gottesbeziehung ist Liebesbeziehung, so dass der aristotelische Gott als ein nicht religiöser Gott angesehen wird. Der späte Bergson überdenkt seine gesamte Lebensphilosophie im Lichte dieser Liebes­ beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf, die auf der mystischen Grunderfahrung aufbaut. In solcher Perspektive gleitet gleichfalls die Theodizeefrage an den konkreten menschlichen Leiderfahrungen ab, so wie andererseits die mystische Erfahrung als Freude über Lust und Schmerz hinaus eine Erfahrung der Fülle darstelle, welche eine Bejahung des Guten inmitten des Leids zulässt. Was in solchem Zusammenhang den Tod betrifft, so hält Bergson die platonische Auf­ fassung von der Unsterblichkeit der Seele für unfruchtbar, da sie einer reinen Begrifflichkeit folge. Er selber greift für diese Frage nach dem Fortleben der Seele seine eigenen Untersuchungen zum Gedächtnis auf, die eine gewisse Unabhängigkeit seelischer Zustände von der Körperlichkeit nahe legen wollen, wodurch sich die Möglichkeit eines Fortlebens der Seele abzeichne. Weist dabei die mystische Intuition als »Erfahrung von oben« auf diese »Erfahrung von unten« in ihrer Berechtigung darauf hin, dass bevorzugte Seelen bereits auf Erden in das jenseitige Fortleben eingehen? Bergson will diesen Hinweis nicht als Beweis verstehen, sondern vielmehr eine existentielle Perspektive eröffnen, um zu unterstreichen, dass dank der mystischen Erfahrung das Verhältnis von Gott/Seele auch der Erfahrung des Sterbens wie des Todes standhält. Damit wird der Jenseitsglaube zu einer ein­ drucksvollen Glaubensaussage über das Gottesverhältnis, welches als Antizipation ewiger Schau von zahlreichen MystikerInnen angeführt

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wird. Bergson lotet mit anderen Worten die Möglichkeit aus, ob die mystische Intuition unsere Einsichten über ein Weiterleben der Seele zu erweitern vermag. Hierbei wird vor allem greifbar, dass es seine Grundabsicht ist, den alten Gegensatz von Materialismus und Spiritualismus der Seele zu überwinden, um dadurch auch die Frage nach Technik und Weltfrieden in ein neues Licht zu rücken. Diese beiden letzteren Bereiche sind für Bergson eng mit der Bewältigung der Probleme der industriellen Gesellschaft verbunden, deren ökonomische Spannungen oft zu Kriegen führten. In der geschlossenen Gesellschaft ist der Gegensatz zwischen »Wir« und »Anderen« meist vorherrschend, während gegenwärtige Gründe für den Krieg wie Bevölkerungswachstum, die Suche nach neuen Märkten und die Gewinnung von Rohstoffen vermehrt in den Vordergrund träten. Für Bergson setzt sich nun gerade die offene Gesellschaft und die als Mystik verstandene Religion der kriegstreibenden Logik von ingroup/outgroup entgegen. Andererseits sieht er ebenfalls die Ver­ einnahmung der Mystik durch nationalistische Ideologien, die sich selber eine göttliche Aufgabe in der Welt zuschreiben, so dass Impe­ rialismus mit einem gewissen Mystizismus verschmelzen kann.48 Aber eine imperialistische Weltsicht als mystische Idee stellt für Bergson geradezu eine Parodie der wahren Mystik dar, so dass er eine Lösung darin erblickt, den Prozess der künstlichen Vermehrung von Bedürfnissen besser zu beherrschen, wobei er an Diagnosen von Jean-Jacques Rousseau anknüpft.49 Die Frage geht deshalb dahin, ob die Mystik in ihrer klassischen Verbindung mit der Askese der Weg zur Bewältigung des Fortschritts sein könnte. Da Mystik/Askese meist Eliten vorbehalten sind, sucht Bergson, der eine Mystik für alle möchte, die Antwort in der schon erwähnten Caritas, das heißt in der Hilfe für Menschen, die nichts zu essen haben. Insoweit die Technik Neues entdecken kann, gehört sie nicht nur wesentlich zum Men­ schen, sondern sie vermag für letzteren – neben neuen Bedürfnissen – auch neue Dimensionen überhaupt zu erschließen. Damit beurteilt Bergson die Technik als grundsätzlich positiv, nämlich als Verbreitung industrieller Gesellschaftsformen, welche zusammen mit der Caritas die Entwicklung der Technik zur Behebung von Menschheitsproble­ men – wie der Armut beispielsweise – stimulieren können, weshalb Vgl. E. Seillière, Mysticisme et domination, Paris 1913. Vgl. Le Discours sur l'origine et le fondement de l'inégalité parmi des hommes (Œuvres complètes III), Paris 1965. 48

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für ihn Technik und Mystik nicht voneinander getrennt werden müssen.50 Anders gesagt, betrachtet Bergson die Technik als unseren neuen Leib, der nicht ohne innere Belebungskraft ist, womit als neue Identität von Seele/Mystik auch ein neues Stadium der Evolution einsetzt, in welchem der Mensch sich selber transzendiere. Ganz offensichtlich bietet Bergsons Untersuchung damit sowohl eine spekulativ evolutionistische Dimension wie eine existentiell mystische und experimental wissenschaftliche Seite. Neben der aske­ tisch mystischen Beschränkung aller Bedürfnisse enthält das mysti­ sche Selbstbewusstsein ebenfalls eine neue Beseelung der technisch industriellen Kultur. Insgesamt handelt es sich um eine psychologi­ sche wie anthropologische Diagnose im Dienste eines erweiterten Bewusstseins, das die je persönliche Frömmigkeit übersteigt, da es für Bergsons Wahrnehmungspsychologie viele Erfahrungswelten gibt, die noch nicht verwirklicht wurden, insoweit die rein praktische Daseinserhaltung sich davor abgeschirmt hat. Dazu gehören für ihn auch parapsychologische Phänomene, die er in die Erforschung der Mystik integrieren möchte, weil sein intuitiver Mystikbegriff sowohl die ganze Menschheit im Blick hat wie eine erweiterte psychologische Wissenschaft. Die Menschheit soll aus den Bindungen an das bloß Vorhandene befreit werden, um empfänglich für all jene moralischen Aspekte zu werden, welche zu einer umfassenden dynamisch mysti­ schen Religion gehören. Die Vergnügen, die noch aus der Gebunden­ heit an das Vorhandene herrühren, sollen im Lichte der Ewigkeit verblassen, um die mystische Freude, die Lacan jouissance nennen wird, mit der originären Einfachheit des Lebens zu verbinden. Für die genannten epochalen Umwälzungen ist nach Bergson folglich eine sittliche Reform notwendig, die er von einer Mystik her fundiert sieht, welche die Entwicklung des élan vital als einer originär göttlichen Kreativität zum Durchbruch verhilft. Schöpferi­ sches Menschsein, Technik und Weltfrieden in allen Bereichen des menschlichen Bedürfens vereinigen sich dergestalt mit der Frage einer théosis, das heißt in einem Gleichwerden mit Gott, welches sowohl der mystischen Theologie des Christentums ähnelt, wie auch gewisse Elemente des »Übermenschen« gemäß Nietzsche aufgreift, der sein Denken beeinflusste. Es ist nicht ganz einsichtig, ob das Religionsund Mystikverständnis der schöpferischen Kosmosentwicklung letzt­ lich eine Vergöttlichung des Menschen im Sinne einer mystischen 50

Vgl. Les Deux Sources de la morale et de la religion, IV,10.

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unio meint oder ob das Menschsein sich in Richtung auf eine Gottähn­ lichkeit hin vertieft. Was als Ergebnis hier zurückbehalten werden kann, ist auf jeden Fall die Selbstverwirklichung des Menschen in Form einer voranschreitenden menschlichen Selbstschöpfung, die als mystische Weiterentwicklung immer neue historische Gestalten des Menschseins hervorbringt. Bergson antizipiert auf diese Weise kommende Themen über die Evolution der Natur im Sinne des »Anthropozän«, wo die Natur geschichtlich durch die Technik mitge­ staltet werden soll. Noch kennt Bergson keine ökologische Kritik eines solchen Denkens, sondern betont die Möglichkeit der sozialen Entwicklung in der Perspektive einer die ganze Menschheit umspannenden Nächs­ tenliebe, bei der die Mystik zum allgemeinen Movens aller Menschen werde. Innerhalb der Sichtweise der dargestellten dynamischen Reli­ gion, Gesellschaft und Moral kommt es dabei zu einem Zusammen­ fall von Gottesidee und Menschheitsidee, worin sich gleichfalls ein immer intensiverer Dialog der Religionen untereinander abzeichne. Es mag problematisch erscheinen, denselben gegenwärtig bereits gänzlich von der Mystik her motiviert zu sehen, aber für Bergson war dies bereits die maßgebliche Betrachtungsweise. Sie war gekoppelt mit seiner Grundauffassung von einer »Tiefendimension« unseres Bewusstseins, kann aber als Herausforderung in theoretischer wie praktischer Hinsicht prospektiv für unsere Zukunft aufgegriffen wer­ den, wie wir es in den folgenden Kapiteln unter dem Leitfaden einer originär lebensmystisch fundierten Kriteriologie für Erkenntnis und Praxis auf dem Boden abgründigen Begehrens untersuchen wollen, um den innersten »Elan« der Mystik als tiefsten menschlichen Aus­ druck dieses Begehrens selbst zu fassen. Dazu sollen überleitend einige Anmerkungen zu Bergsons Denkansatz allgemein erfolgen, die gleichzeitig zu unabdingbaren Methodenfragen in der Mystikdiskus­ sion hinführen, da sich die universalen Strukturelemente der Mystik und Bergsons Analyse spiegelbildlich zueinander verhalten, um die maßgeblichen Bestimmungen von Ich, Passivität und Lebensimma­ nenz herauszuarbeiten. Bei Bergson bleiben – phänomenologisch betrachtet – die »unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins« mit dem konstitu­

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ierten Organleib verbunden,51 das heißt quantitative Erlebnisabstu­ fungen als »Intensitäten« treten zum rein qualitativen Moment des Erlebens hinzu, so dass innerhalb des reinen Zeitflusses als »Erlebnis­ dauer« (durée) eine Art »Innenraum« durch messende oder verglei­ chende Distanzierung entsteht. Es ist genau diese Errichtung eines Innenraumes als Bild (image), welche die spezifische Vorstellung ermöglicht, die von jeder Mystik kriteriologisch hinterfragt wird. Mit anderen Worten fällt für Bergson die Selbstheit des »Ich« nicht mit der rein phänomenologischen Immanenz des Lebens zusammen, sondern diese »Selbstheit« besteht gerade darin, zwischen dem Sich-Selbst (Ipseität) und den Erlebnisgegebenheiten einen Abstand zu schaffen, in dem diese Gegebenheiten für ein Bewusstsein erscheinen können. Reduziere ich phänomenologisch diesen Abstand im Sinne der berg­ sonschen reinen Intuition, dann liefert mir solche Aufmerksamkeit nur die Unmittelbarkeit eines fließenden und flüchtigen Elementes – einen »affektiven Zustand«, der sich einer vitalen Anonymität annähert, da der radikalere Zusammenhang zwischen Selbstheit und reiner Lebenspassibilität als transzendentale Lebensaffektion nicht herausgestellt wird.52 Es lässt sich daher mit Blick auf Religion und Mystik festhal­ ten, dass das Tiefen-Ich (moi profond) nach Bergson weder auf der Seite der Anstrengung gegen die organisch bedingten Affektionen gegeben ist noch auf der Seite der Vorstellungen, die durch eine solche Anstrengung oder Intention herausgebildet werden. Vielmehr ist es in der für sich betrachteten affektiven Empfindung gegeben, die nicht mittelbar für das Bewusstsein ist, sondern die Unmittelbar­ keit des Bewusstseins selbst als »Dauer« bedeutet. Damit ist das Bewusstsein nicht »unmittelbar vermittelnd«, mit anderen Worten nach Husserl stets »Bewusstsein von etwas«, sondern durchaus affek­ tives Leben diesseits jeder Intentionalität, aber eben nur als »affekti­ ver Zustand« innerhalb des Blicks einer reduzierenden »Intuition«. Dies wird besonders daran sichtbar, dass die genannten affektiven Empfindungen, die an sich nicht räumlich bestimmbar sind, dem Akt der Vorstellung als »sinnliche Materie« dienen. Dadurch kann ich mich durch den so entworfenen inneren Raum von diesem selber 51 Vgl. Essai sur les Données immédiates de la conscience, Paris 1889 (dt. Zeit und Freiheit, Jena 1912); siehe ebenfalls H. Bergson, Schöpferische Entwicklung, Hamburg 1991. 52 Vgl. auch A. Robinet, Bergson et les métamorphoses de la durée, Paris 1965.

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unterscheiden, bevor ich die Differenzierung der Gegenstände im Außen vornehme. Diese interne Verräumlichung entspricht damit – auf anderem Wege als bei Kant – einer subjektiven Homogenisierung aller Erscheinungen, in denen jedoch der rein affektive Charakter der Empfindungen schließlich verloren geht.53 Der Raum ist somit eine Art der Desensibilisierung, insofern die Empfindungen in ihrer affek­ tiven Qualität darin verlustig gehen. Bergsons ganzes methodisches Augenmerk tendiert demzufolge dahin, den affektiven »Zustand« in der lebensphilosophischen Unmittelbarkeit des Bewusstseins (dessen Selbstaffektion durch das Leben nicht weiter in den Mittelpunkt rückt) vor dem sich nach außen entwerfenden Vorstellungsakt zu vertiefen bzw. zu isolieren, »um sich leben zu lassen«. Damit aber wird strukturell sein spiritueller Dualismus metaphysisch verfestigt, der das »Ich« als solches tragisch prägt, auch wenn er die Freude als Kri­ terium wahrer Mystik herausstellt. Dieses Ich ist nämlich entweder im Außen des vorstellenden Raumes oder im inneren Fluss der flüchtigen Dauer – nicht jedoch prinzipiell in der ständig sich fortzeugenden transzendentalen Geburt durch das rein phänomenologische Leben, mit dem es als ursprünglich gegebenes »Mich« eins ist und bleibt. Beleuchten wir diesen lebensmystischen Unterschied zwischen Bergson und einer radikalen Lebensphänomenologie noch genauer, so kann dazu die Bemerkung dienen, wie es in »L’Énergie spiritu­ elle« von 1919 heißt, dass die Bewegung zwar dem inneren Leben immanent ist, und dieses mehr »empfindet« als »sieht«, aber als eine Bewegung, die unweigerlich auf die Zukunft vorausgreift, wel­ che dadurch unaufhörlich zurückweicht.54 Das erwähnte »flüchtige« Moment des reinen Zeitflusses ist hier genauer bestimmbar, nämlich als ein zeitlich Absolutes, welches als Affektion oder Empfindung gerade nicht immanent in sich verbleibt, sondern als fließende Inner­ 53 Vgl. grundlegend M. Barthélemy-Madaule, Bergson adversaire de Kant, Paris 1962. 54 H. Bergson, Œuvres, Paris 1970, 825f. (dt. Die seelische Energie. Aufsätze und Vorträge, Köln 1929). In dieser Aufsatzsammlung versucht Bergson vor allem, die Thesen vom psychologischen Leib/Seele-Parallelismus seiner Zeit zu destruieren, indem er etwa im Gehirn kein materielles Substrat sieht, sondern in erster Linie ein Organ der Aufmerksamkeit gegenüber dem Lebensfluss, so dass die »spirituelle Energie« weder materialistisch noch idealistisch verstanden werden kann, sondern die Bezogenheit auf die »Dauer« in Wahrnehmung, Gedächtnis, Traum und Denken aus­ macht. – Davon inspiriert ist auch die Untersuchung von Th. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart 2007.

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lichkeit stets von einer Bewegung passiv erleidend ver-ändert wird, die sich als solche vom Tiefen-Ich differenziert.55 Dieses Absolute des bergsonschen Lebens ist damit eine Art Hetero-Affektion, die jedoch keine Transzendenz im strengen Sinne als Ek-stase wie etwa bei Heidegger ist, sondern ein lebensmystisches Absolutes in mir, von dem her ich mich entgegennehme, ohne allerdings in meiner Ipseität unmittelbar mit diesem Absoluten eins zu sein. Da die Einheit in solcher Passivität nach Bergson nicht gewährt ist, bleibt das Affektive bloß ein »Zustand«, der mich in seinem Übermaß als Absolutes (Leben) stets übersteigt, so dass die Übereinstimmung mit ihm existentiell nur je partiell sein kann, was genau den genannten tragischen Grund aller Lebensphilosophien ausmacht, auch wenn sie als »mystisch« bestimmt wird: Das Ganze ist in einem Ich, welches nicht Alles ist. Bergson berührt mithin das Absolute des Lebens, ohne in ihm das unhintergehbare Ergriffensein durch eine unbezweifelbare Selbstoffenbarung des Lebens zu erkennen, welche letztlich für die Mystik entscheidend sein dürfte. Damit bleibt der bergsonsche Lebensbegriff psychologisch wie metaphysisch geprägt, denn er kann im besten Fall »reine Zustände« der Dauer ergreifen, um das absolut phänomenologische Leben selbst jedoch entweichen zu lassen, da er es vor-phänomenologisch nur setzen kann. Bei Bergson vermag mir das Leben vielleicht nach und nach in der Zeit als fließender durée die Idee des lebensmystischen Absoluten zu offenbaren, wie es sein zuvor dargestelltes Spätwerk über »Die beiden Quellen der Moral und Religion« von 1932 zeigt. Aber es bleibt ephemere Bewegung, welche Bergson als »Ewigkeit des Lebens« im Sinne des nunc stans der Mysti­ ker als »Vorbilder« dann zwar evozieren kann, ohne diese Idee jedoch zu einer transparent praktischen Gewissheit und damit lebensmysti­ schen Wirklichkeit in jedem Affekt selbst werden zu lassen. In dieser Hinsicht lässt sich kritisch phänomenologisch wie strukturell mys­ tisch festhalten, dass Bergson sich stets im Konstituierten bewegt, im Raum und in der Zeit der psychischen Endlichkeit, um durch die intui­ tive Vertiefung eine transzendentale »Immanenz« der Subjektivität anzuvisieren, mit der das »Ich« jedoch radikal phänomenologisch nie zusammen fällt. Bergson verharrt damit methodisch im hermeneuti­ schen Bereich der von ihm gemeinten In-tuition, des Hin-Schauens Vgl. C. Riquier, »Henry, Bergson et la phénoménologie matérielle«, in: Studia Phaenomenologica 9 (2009) 157–172.

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(in-tueri) auf das Leben, wo die originäre Bewusstseins-Bewegung im Sinne der lebensmystischen Geburt dieser ur-anfänglichen Bewegung als Selbstwollen des Lebens im rein passiblen »Mich« nicht gänzlich für sich gegeben ist. Die Lebensmystik im Sinne Bergsons als ein Leben des lieben­ den »Aufschwungs« (élan) benötigt allerdings keine letzte reflexive Selbstvergewisserung mehr, denn »eine Seele, die dieser Anstren­ gung fähig und würdig ist, würde sich nicht einmal fragen, ob das Prinzip, mit dem sie in Fühlung steht, die transzendente Ursache aller Dinge sei oder nur deren irdischer Sachverwalter. Es würde ihr genügen zu fühlen, dass sie, ohne dass ihre Persönlichkeit darin aufgeht, von einem Wesen durchflutet wird, das unendlich viel mehr vermag als sie, wie das Eisen beim Schmieden vom Feuer durchflutet wird. Ihre Anhänglichkeit (attachement) an das Leben wäre von da eins mit ihrem Unzertrennlichsein von diesem Prinzip, Freude in der Freude, Liebe zu dem, was nichts als Liebe ist.«56 Darin liegt eine klare Abgrenzung von einer bloß kontemplativen Mystik, welche eine gewisse »Loslösung« (détachement) von den moralisch gesellschaftli­ chen Endlichkeitsinteressen übt, jedoch noch nicht die unmittelbare Einheit mit dem Leben als praktischem Prinzip aller Dinge ist: »Der große Mystiker wäre demnach eine Individualität, die die Grenzen überschreitet, die der Spezies durch ihre Stofflichkeit gezogen sind, und so das göttliche Wirken fortsetzt und verlängert. Das ist unsere Definition.«57 Dieses Aufgehen in die göttliche Aktivität, welches mithin keinen verschmelzenden Verlust der Einzelperson bedeutet, bleibt prinzipiell unsichtbar, und zwar nicht nur vor den Augen anderer Menschen, sondern ebenfalls vor der eigenen Reflexion, da ein solches Individuum die Verwandlung in Demut erfährt, mit anderen Worten sein strukturell lebensmystisches Verhältnis zu Gott wie bei Meister Eckhart »erleidet«, ohne das eigene Handeln aufgeben zu müssen.58 Damit greift Bergson eine lange mystische Tradition von Dionysios Areopagita bis hin zu Meister Eckhart für sich auf und führt gleichzeitig die vorherigen neo-augustinischen Strömungen in Frank­ reichs Mystiktradition wie bei Fénelon und Maine de Biran weiter.59 Die beiden Quellen der Moral und der Religion, 165. Ebd., 172. 58 Vgl. ebd., 181. 59 Vgl. C. Trèsmontant, »Deux métaphysiques bergsoniennes. Métaphysique de la créátion. Le néoplatonisme de Bergson«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 56

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1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung

So ist die Ethik bei Bergson nicht aufgehoben, wie wir schon sahen, auch wenn jetzt Freiheit und göttliche Aktivität mystisch zusammenfallen. Aber durch die gleichfalls unterstrichene Dualität in dem einen Leben, nämlich zwischen geschlossener und offener Moral wie Religion, die von mystischen Vorbildern vorangetrieben werden, bleibt die Gesellschaft durch sprachlich und rituell allgemein gegebenen Symbole dennoch eine unüberwindbare Notwendigkeit des Lebens. Wenn diese in der Tat nur von Einzelnen in Frage gestellt wird, damit sich Tiefen-Ich und Gott vereinen konnten, dann wäre auch die Lebensmystik gemäß Bergson ein bloß außergewöhnliches Ereignis, welches – trotz einer prinzipiell postulierten Mystik für alle – nur entsprechenden Individuen vorbehalten bliebe. Sollte aber ein Leben, welches originär jeden Lebendigen in sich unmittelbar zeugt, tatsächlich zwei verschiedene Wege im Rahmen seiner eigenen Evo­ lution beschreiten, um sich selbst zu erhalten, anstatt jede Handlung ursprünglich in ihrer reinen Phänomenalisierung zu ermöglichen – so dass eine lebensmystisch »neue Geburt« jederzeit im Leben möglich bleibt?60 Denn es gibt ohne Zweifel ein Paradox in Bergsons Werk, dass sich das Leben selber perzeptiv begrenzt, um pragmatischutilitaristisch seine Selbsterhaltung zu garantieren, auch wenn das Leben in diesem nicht reflektierten Instinkt zugleich wirkliches Leben ist. Dadurch müssen Bewusstsein, Denken und Handeln geradezu als »Spannung« (tension) auf dieses »wirkliche Leben« hin gesehen werden.61 Solche Spannung erklärt strukturell die schon unterstri­ chene Tragik als Grundstimmung der damaligen Lebensphilosophien, weil sie als innerer Konflikt nicht weiter aufgelöst werden kann.62 Den anderen Weg ging Nietzsche mit dem »großen Amen« und der »ewigen Wiederkehr« als Einheit jeglicher Phänomenalisierung des Lebens im Sinne von Einmaligkeit und Wiederholung, wie letztere in jeder mystischen Kriteriologie zu erproben bleiben. 67 (1959) 180–193; J.-L. Vieillard-Baron, »L’intuition mystique chez Bergson et Blondel«, in: E. Jain u. R. Margreiter (Hgg.), Probleme philosophischer Mystik. Festschrift für Karl Albert, Sankt Augustin 1991, 285ff. 60 Vgl. F. Seyler, »Michel Henrys ›Marx‹ im Kontext seiner Spätphilosophie und Bergsons Beide Quellen der Moral und der Religion«, in: E. Angehrn u. J. Scheidegger (Hgg.), Metaphysik des Individuums. Die Marx-Interpretation Michel Henrys und ihre Aktualität, Freiburg/München 2011, 66–84, hier 80ff. 61 Vgl. »L’Âme et le corps«, in: Œuvres, 550f. 62 Vgl. beispielsweise G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, Leipzig 1918.

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1. Mystische Strukturelemente im Vergleich mit Bergsons Mystikbestimmung

Da Bergson im Unterschied zu Maurice Blondel wie Teilhard de Chardin zur selben Zeit keine universale Christologie besaß, konnte er diese Frage auch nicht ausreichend inkarnatorisch weiter beantworten. Was aber zugleich heißt, dass ein metaphysisch gesetz­ ter Lebensbegriff einer zusätzlichen radikal phänomenologischen Aufklärung bedarf, die gerade für das Verständnis jeder Mystik unab­ dingbar ist. Denn mystische Erfahrbarkeit kann letztlich nicht an bloß »evolutionären« Stadien oder Zuständen festgemacht werden, sondern verlangt eine Erörterung ihrer immanent transzendentalen Struktur im Sinne reinen Erfahren-Könnens, wie es die originär christologische »Fleischwerdung« seit dem Johannes-Evangelium beinhaltet. Diese kritischen Fragen ändern nichts an dem persönlichen Sachverhalt, dass sich Bergson innerlich immer mehr dem mystischen Christentum anzunähern vermochte63 und seine Werke – obwohl von Rom innerhalb des Modernismusstreits indiziert64 – auch seitens der katholischen Theologie rezipiert wurden, wie dies etwa deutlich bei Max Scheler für die Frage der lebendigen Intuition und der Akthaftigkeit der Person zu Tage tritt.65 Es ist deshalb nicht abwegig, Bergson trotz manch offener Fragen in Bezug auf seine Lebensund Mystikbestimmung als einen Denker zu bezeichnen, welcher der lebensmystischen Tradition zutiefst verpflichtet ist66 und für ein kriteriologisches Mystikverständnis maßgebliche Strukturelemente erkennen und weiterverfolgen lässt.

63 Vgl. G. Waterlot (Hg.), Bergson et la religion. Nouvelles perspective sur »Les Deux Sourches de la morale et de la religion«, Paris 2008. 64 Vgl. C. de Belloy, »Bergsonisme et christianismue. Les Deux Sources de la morale et de la religion au jugement des catholiques«, in: Revue des sciences philosophiqes et théologiques 85/4 (2001) 641–667. 65 Vgl. M. Scheler, »Versuch einer Philosophie des Lebens«, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Bonn 1955 (51972). 66 Vgl. bereits R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Reli­ gion und Ethik im Spiegel »philosophischer Mystik«, Dresden 2018, 193–231: »Berg­ son und der lebensmystische élan vital«.

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Denn dass die Mystik ein umfassendes individuelles wie historisches »Urphänomen« darstellt,67 dessen Universalität, Vielfalt wie dennoch mögliche Einheit nicht von einseitigen Voraussetzungen her verstellt werden sollte, liegt nunmehr für jede diesbezügliche Forschung und Analyse auf der Hand. So ist im Anschluss an die bisher angeführten Beispiele zusammen mit Bergsons mystischem Plädoyer die christ­ liche Mystik von Beginn an durch vielgestaltige Einflüsse seitens griechischer Philosophie, Judentum und auch Gnosis beeinflusst, wie etwa von Platon, Philon von Alexandrien und Proklos.68 Aber die neu­ platonische Flucht des »Einsamen zum Einsamen« im Sinne des Auf­ suchens ursprunghafter Einheit des Absoluten – vor allen ontischen Erscheinensmanifestationen – mittels einer kontemplativen Schau über den Weg des philosophischen Logos wie bei Plotin gerade,69 gilt in dieser Weise bereits nicht mehr ganz von der negativen oder mystischen Theologie seit deren ersten Spuren in den Schriften des

67 C. Albrecht, Das mystische Erkennen. Gnoseologie und philosophische Relevanz der mystischen Relation, Bremen 1958, der dieses Urphänomen auf eine empirisch bewusstseinspsychologische »Wirkrelation« transpersonaler Natur gründen will. Für das Verhältnis zum Mythos siehe auch M. Buber, Mythos und Mystik (1900). Frühe religionswissenschaftliche Schriften (Werkausgabe 2,1; Hg. D. Groiser), Berlin 2014; sowie allgemein P. Dinzelbacher, Wörterbuch der Mystik, Stuttgart 1998. 68 Vgl. für die Bezüge zwischen Sokrates, Platon und Aristoteles hinsichtlich der obersten Kategorien des Wahren, Schönen und Guten R. König, Interimsliebe. Die Einheit von Syllogistik, Dialektik und Mystik, Würzburg 2021; zuvor bereits J. Daniélou, Platonisme et théologie mystique, Paris 1944; G. Boss u. G. Seel (Hgg.), Proclus et son influence, Zürich 1987; sowie M. Rohstock, »Das Eine in uns und seine Erweckung. Das Fundament der Henologie des Platonikers Proklos«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 68/2 (2021) 377–398. 69 Vgl. Plotin, Über das Gute oder das Eine, Hamburg 1966, am Ende seiner Darlegung; dazu P. Hadot, Plotin ou la simplicité du regard (1963), Paris 1992.

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2. Zur aktuellen Methodenfrage in der Mystikforschung

Neuen Testaments, wobei Paulus und Johannes besonders herausra­ gen, sowie den darauf folgenden Kirchenvätern.70 Bis ins hohe Mittelalter hinein und darüber hinaus wird die ent­ sprechende christliche Mystik nämlich von trinitarischen wie christo­ logischen Bezügen bestimmt sein, welche das Bewusstsein sowohl der Gegenwart wie der Dunkelheit Gottes als ekstatisch gelebter Ein­ heitsrelation beinhalten, die oft als »Nicht-Wissen« bestimmt wird.71 Auch wenn diese frühe christliche Mystik im engeren Sinne noch keine »Erlebnismystik« ist wie etwa ab dem 11. Jahrhundert in der Kirche des Westens, sondern vornehmlich wie im Neuplatonismus ein religiöses Leben der geistig gesteigerten »Schau« des göttlichen Logos beinhaltet, so ist dennoch von vornherein eine Betonung der gänzlichen Hingabe des Einzelnen in die Geheimnisse Gottes hin­ ein gegeben. Dadurch erfolgt bereits eine subjektive Akzentuierung der Individualität und Affektivität, wie sie vorausweisend seit den »Bekenntnissen« des Augustinus festgehalten werden kann, um dann – über den Einfluss mehr von Wilhelm von St. Thierry72 als Bernhard von Clairvaux zunächst – etwa in den »Briefen« und »Visionen« der 70 Vgl. für eine frühe maßgebliche Arbeit zur christlichen Spiritualität und der grie­ chischen Patristik W. Völker, Die Vollkommenheit des Origines. Eine Untersuchung zur Geschichte der Frömmigkeit und zu den Anfängen christlicher Mystik, Tübingen 1931; P. Dinzelbacher, Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Paderborn 1994; B. Todoroff, »Mystique occidentale: le cadre mental préliminaire«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, de l'Antiquité à nos jours, Brüssel 2005, 23–34, der die beiden Hauptwege Liebe und Leere bzw. imitatio und Loslösung herausarbeitet; D. Westerkamp, Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie, Paderborn 2006; P. Koslowski (Hg.), Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie, Zürich/München 1988. 71 Vgl. als mittelalterliches Zeugnis: Das Buch von der mystischen Kontemplation genannt Die Wolke des Nichtwissens, worin die Seele sich mit Gott vereint (Hg. W. Riehle), Freiburg/Br.-Einsiedeln 2011; dazu W. Riehle, Studien zur englischen Mystik des Mittelalters unter besonderer Berücksichtigung ihrer Metaphorik, Heidelberg 1977; K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, 4 Bde., München 1990–1996; B. McGinn, Die Mystik im Abendland, 3 Bde., Freiburg/Br. 1994–1999; G. Wehr, Europäische Mystik zur Einführung, Hamburg 1995; W. Haug u. W. Schneider-Lastin (Hgg.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte, Tübingen 2000; U. Störmer-Caysa, Einführung in die mittelalterliche Mystik, Ditzlingen 2004; P. Din­ zelbacher, Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters: ein Studienbuch, Berlin 2012. 72 Vgl. Der Spiegel des Glaubens, mit den Traktaten Über die Gottesschau und Über die Natur und die Würde der Liebe (Übers. H. Urs von Balthasar), Einsiedeln 1981.

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brabantischen Mystikerin Hadewijch die »souveräne Seele« voraus­ zusetzen: »Die Seele ist ein Weg, über den Gott aus seinen tiefsten Tiefen in seine Freiheit gelangt; und Gott ist ein Weg, über den die Seele in ihre Freiheit gelangt, und das bedeutet: in seinem Grund, der nicht berührt werden kann, es sei denn, sie berühre ihn mit ihrer eigenen Tiefe.«73 Durch die zuvor genannte Verschränkung von jüdischer Tran­ szendenzerfahrung, griechischer Logosphilosophie und christlicher­ seits sich herausbildender Synthese dieser verschiedenen Elemente, welche mystische Theologie der »Geheimen Offenbarung« annähere, wie Edith Stein74 schrieb, ist es nicht verwunderlich, in methodolo­ gischer Hinsicht unterschiedliche Disziplinzugänge in der Mystiker­ forschung ausmachen zu können. Neben der allgemein historischen wie philosophischen und theologischen Zugangsweise bilden sich im Zusammenhang mit der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts weitere komparative und psychologische Ansätze heraus, die heute beson­ ders von der durch den Positivismus beeinflussten Religions- und Kulturwissenschaft gepflegt werden.75 Unter solch epistemologischen wie metasprachlichen Gesichtspunkten lassen sich zusätzlich essen­ tialistische und erfahrungsorientierte Ansätze unterscheiden, wobei zumeist der jeweilig ideengeschichtliche Hintergrund mit berücksich­ tigt wird. Dadurch können Disziplingrenzen durchaus überschritten werden, um verschiedene Diskurse im weiten Feld der Mystik zu berücksichtigen, zumal auch ein breit gestreutes Schrifttum zu Fröm­ migkeit und Spiritualität hinzukommt.76 Dabei ist die Quantität

Buch der Briefe (Hg. G. Hofmann), St. Ottilien 2010, 18. Brief (S. 120). Vgl. Wege der Gotteserkenntnis. Studie zu Dionysos Areopagita und Übersetzung seiner Werke (Gesamtausgabe 17), Freiburg-Basel-Wien 2003. 75 Vgl. J. Greisch, Hermeneutik und Metaphysik. Eine Problemgeschichte, München 1993; M Döbler, Die Mystik und die Sinne. Eine religionshistorische Untersuchung am Beispiel Bernhards von Clairvaux, Göttingen 2013, 24–83: »Zur Forschungs- und Begriffsgeschichte von ›Mystik‹ in der Religionswissenschaft«, wo außer Schleierma­ cher auch die Positionen von Ritschl, Harnack, Troeltsch, Brunner, Tillich, Max Müller, William James, Rudolf Otto, Heiler und Mensching dargestellt werden; M. de Certeau, Le lieu de l'autre. Histoire religieuse et mystique, Paris 2005; La Fable mystique II, 19– 50: »Historicités mystiques«; A. Michals (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 2010. 76 Vgl. zum Beispiel dazu in einem weiteren Sinne E. Frick u. A. Hamburger (Hgg.), Freuds Religionskritik und der »Spiritual Turn«. Ein Dialog zwischen Philosophie und Psychoanalyse, Stuttgart 2005. 73

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solcher in Frage kommenden Texte nicht leicht zu umreißen, da sie von einem zumeist impliziten Vorverständnis der »Mystik« abhängt. Angesichts solcher Fülle der mystischen Quellen und ihrer Kommentare, vor allem falls man auch die Zeugnisse aus dem Islam, Hinduismus wie Buddhismus sowie Vergleiche untereinander mit berücksichtigen will,77 entsteht demnach die Frage, ob nicht trotz dieser Vielfalt mystischer Traditionen und Interpretationen ein gemeinsamer Ursprung ausgemacht werden kann, wie ihn auch Bergson festgehalten hatte. Denn ob nun Meditation, Versenkung, Gebet, Gesang, Tanz, Lektüre, Askese, Schau, Ekstase oder Dienst am Anderen favorisiert werden,78 es lässt sich in keinem Fall davon absehen, dass all diese mystischen Übungs-, Denk- und Erfahrungs­ modi jeweils ein Selbstempfinden im transzendentalen Sinne voraus­ setzen. Um hierbei einen zu engen – und heute daher oft in Zweifel gezogenen – Erfahrungsbegriff zu vermeiden, werden wir in radi­ kal phänomenologischer Hinsicht von Erprobung sprechen,79 welche für uns den Ab-Grund jeglicher reflexiven wie praktischen Erfah­ rungsweise, einschließlich des Göttlichen, Einen oder Absoluten, zu bilden scheint. Denn wenn man diese Frage unter gleichzeitiger Erfah­ rungsberücksichtigung unserer Moderne zum Beispiel mit Nietzsche, Kierkegaard, Lacan, Levinas, Henry oder Derrida sieht, so sind in einer solchen »Erprobung« des subjektiven Lebens jeweils originär Leiblichkeit bzw. Affekt oder Begehren unmittelbar impliziert. Deren »Läuterung« bzw. »Reinigung«, von der alle MystikerInnern hinsicht­ lich der »Sinnlichkeit« und »fleischlichen Begierde« sprechen, führt 77 Vgl. A. Wilke, Ein Sein – Ein Erkennen. Meister Eckharts Christologie und Sanka­ ras Lehre vom Atman. Zur (Un-)Vergleichbarkeit zweier Einheitslehren, Bern 1995; M.-S. Hantke, Mystik im Deutschen Idealismus und in der japanischen Philosophie, Nordhausen 2009. 78 Vgl. J. Dierkens, »Les techniques de méditation et les inductions théurgiques«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, 35–48, wo auch die pythagoreische Inspiration berücksichtigt wird sowie Bezüge zu Toten, Dämonen und Göttern oder einem Astralleib. 79 Im Französischen épreuve, womit alltäglich wie philosophisch die dichteste Erfah­ rung von Wirklichkeit gemeint ist und daher auch Prüfung, Heimsuchung bedeuten kann; ein Zentralbegriff im Werk Michel Henrys; vgl. Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München 2005, 13–32: »Phänomenologie des Lebens«, hier bes. 13ff.; dazu A. David u. J. Greisch (Hgg.), Michel Henry, L'Epreuve de la vie, Paris 2001. Zur erweiterten Diskussion siehe auch F. Ricken (Hg.), Religiöse Erfahrung. Eine interdisziplinärer Klärungsversuch, Stuttgart 2004.

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dennoch jeweils zu einer genuinen jouissance (Genießen), Weisheit oder Erleuchtung, ohne die kein mystisches Phänomen denkbar sein dürfte. Dies muss kulturelle Besonderheiten und damit interreligiöse Vergleiche nicht ausschließen, die bisher zu wertvollen Einzelstudien hinsichtlich Person, Rolle, Sprache und Umfeld im mystischen Bereich geführt haben. Aber Autoren wie Georges Bataille und auch die so genannte »wilde Mystik« seit der Antike oder bei anderen Völkern machen darauf aufmerksam,80 dass mystische Phänomene ebenfalls in einem dionysischen oder nicht religiösen Kontext erfahren werden können, der nicht der Abgründigkeit unserer Erfahrung als »Erpro­ bung« originärer Passibilität widersprechen muss. Im Gespräch mit Meister Eckhart und einem Teil der »philosophischen Mystik« haben wir diesen prä-reflexiven Ansatz bereits früher schon vorgestellt,81 um ihn hier mit noch umfangreicherem Material zu konfrontieren und dadurch ein grundsätzliches Einheitsverständnis der Mystik zu veri­ fizieren, das weder psychologisch oder essentialistisch ist, sondern unmittelbar einer radikal phänomenologischen Selbstgegebenheit des subjektiven wie kulturellen Lebens entspricht.

80 Vgl. M. Hulin, La mystique sauvage. Aux antipodes de l'esprit, Paris 1993, für Beispiele »spontaner« und durch Drogen oder Asketentum »provozierter mystischer Erfahrung«; E. Benz, Parapsych0logie und Religion, Freiburg/Br. 1983, 46–73: »Christliche Mystik und Drogen-Mystik«, A. Daniélou, Shiva und Dionysos. Die Religion der Natur und des Eros, Dresden 2020; W. Amthor (Hg.), Profane Mystik. Andacht und Ekstase in Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts, Berlin 2002; E. Tugendhat, Eogzentrik und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003; K. Jacobi (Hg.), Mystik, Religion und intellektuelle Redlichkeit. Nachdenken über Thesen Ernst Tugendhats, Freiburg/München 2012; P. Widmer, Mystikforschung zwischen Materialismus und Metaphysik. Eine Einführung, Freiburg-Basel-Wien 2004; J. Lemanski, Christentum im Atheismus. Spuren der mystischen Imitatio Christi-Lehre in der Ethik Schopenhauers, Bd. 2, London 2011; W. Wackernagel, »Mystique, avant-garde et marginalité dans le sillage de Monte Verità«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, 175–186, als Beispiel einer anarchistisch-sozialistischen Gruppe; E. Fürlus, Anarchie und Mystik. Hugo Balls theologisch-politische Kritik an der bürgerlichen Moderne, Berlin 2015. 81 Vgl. R. Kühn, Ungeteiltheit – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung. Ein radikal phänomenologisches Gespräch mit Meister Eckhart, Leiden-Boston 2012; Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »philosophischer Mystik«, Dresden 2018, zu Meister Eckhart, Spinoza, Fichte, Maine de Biran, Bergson, Heidegger, Lacan, Derrida, Henry und Marion; siehe ebenfalls E.A. Panzig, Gelazenheit und abgeschiedenheit. Eine Einführung in das theologische Denken Meister Eckharts, Leipzig 2005.

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Was für viele Interpreten die Zusammenschau der Mystik unter dem Begriff des Einen oder Absoluten ist,82 lässt sich aus immanent phänomenologischer Sicht mithin von der Analyse einer selbstaf­ fektiven Lebensselbstgegebenheit her vertiefen, insofern dadurch stringenter die praktische wie theoretische Bedingung von Transzen­ denz, Entrückung und Schau in den mystischen Beschreibungen noch bestimmt werden kann, als es bisher geschehen ist. Bei Heidegger finden sich ab 1918 Vorformen zu einer solchen »lebensmystischen« Untersuchung, die zugleich kritisch gegenüber jedweder präjudizie­ renden Religionsphilosophie und Kulturwissenschaft ist, insofern letztere metaphysisch oder konzeptuell konstruierend hinsichtlich des »religiösen Phänomens« vorgehen, da gerade in der Mystik eine Weise des »Erlebens« vollzogen werde, welches rein originär zu verstehen bleibt. Diese Originarität sei eine »Momentanerfüllung« des Bewusstseinslebens als einem »reinen Ich«, welches nicht nur das »Absolute« oder »Heilige«83 als Aufhebung der vielfältigen Gegen­ ständlichkeit zum Korrelat habe, sondern zugleich eine »personale Existenz« bilde, die Heidegger in einem spezifischen Sinne als das »historisch Eigenständige« (Da-sein) auffasste. In Abhebung unter anderem von der Beschreibung Schleiermachers84 der Religion als »schlechthinniger Abhängigkeit« kann er dabei anmerken, dass des­ sen Sichtweise noch »zu sehr objektivierend« wäre, da Gott als das »Absolute« innerhalb der »mystischen Stille« und ihrer »Frömmig­ keit« als Gebet etwa kein objektives Korrelat bilde, sondern ein »Mehr Leben« beinhalte. Dabei würden alle »andrängenden Welten« zugleich zu einem ethischen Werterleben dieses sie originär erle­ benden Bewusstseins, welches sich zu einem innerlich erfüllteren 82 Vgl. B. Beyer de Ryke, »La mystique comme passion de l'Un«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, 9–22, wo der Wandel des Mystik-Begriffs von den Eleusis-Mysterien über die Henologie Plotins bis hin zur christlich negativen Theologie festgehalten wird; siehe auch Ch. Riedweg, Mysteri­ enterminologie bei Platon, Plotin und Clemens von Alexandrien, Berlin-New York 1987; A. Lutz (Hg.), Mystik. Die Sehnsucht nach dem Absoluten, Zürich 2011, mit Begleitbuch zur Ausstellung im Museum Riedberg, Zürich 2012. 83 Vgl. R.C. Zaehner, Mysticism, Sacred and Profane, Oxford 1980; M. Eliade, Die Religionen und das Heilige, Frankfurt/M. 1998; H. Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017. 84 Vgl. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1899), Hamburg 1958; dazu W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frank­ furt/M. 1973, 249ff.; M. Döbler, Die Mystik und die Sinne, 29f.; A. Arndt, Schleier­ machers Philosophie, Hamburg 2021.

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Werterleben hin erheben könne, das von keiner formal normativen Erkenntnis mehr abhängt, ohne gemeinschaftliches Leben (Umwelt) ausschließen zu müssen. Religion und Mystik sind vom Gesichts­ punkt einer solch singulären »Momentanerfüllung« her zu verstehen, worin deren Gegebenheit mit der Grunderfahrung der »Rezeptivi­ tät« und »Einsamkeit« verbunden sei, welche individuell mystische Beschreibungen wie die »Seelengeburt« bei Meister Eckhart oder der »Seelenburg« durch Theresa von Avila85 überhaupt erst verständ­ lich machten. Dies kann vom Ansatz einer dergestalt »urfaktisch« vollzogenen Phänomenologie originären Lebens aus einsichtig machen, was eine wissenschaftliche Religions- oder Kulturwissenschaft für sich selber als Herausforderung auffasst – nämlich bei der Mystik von einem Phänomen sprechen zu müssen, welches nicht länger in ihre metho­ dischen Raster von »objektiven Formen« aufgehe.86 Damit ist für diese Vorüberlegung zur Methode bereits deutlich geworden, was der Titel unserer Gesamtuntersuchung als inhaltliche Problematik ankündigt, dass nämlich das »Begehren der Mystik« – sowohl als genitivus objectivus wie subjectivus – in keiner diskursiven Signifikanz letztlich mehr zu fassen ist, um das Begehren (desiderium, désir) selbst zum mystischen Vollzug werden zu lassen. Dass seit der frühen Moderne durch die Umkehr von Religion in Moralität gerade diese Problematik umgangen wurde, wie es am rein kategorialen Verhältnis von Sinnlichkeit/Verstand bei Kant sichtbar wird,87 um dann für Hegel eine durchgehend dialektische Bewusstseinsvermittlung zu werden, zeigt sich als Dilemma unter anderem bei Walter Benjamin, der in Bezug auf die messianische Hoffnung in der Geschichte ein solch rationales Selbstverständnis der Aufklärung allein nicht mehr stehen lassen konnte.88 Dies dürfte ein weiterer Hinweis darauf Vgl. Die Wohnungen der inneren Burg, in: Werke und Briefe Gesamtausgabe, Bd. I: Werke, Freiburg-Basel-Wien 2015, 1641–1900. 86 Vgl. M. Amet, »Die Mystik im Logos. Ein paradoxaler Gegenstand der Kulturphi­ losophie«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2020) 25–43. Gleiches gilt für die Literaturwissenschaft nach U. Spörl, »Mystisches Erleben, Leben und Schreiben um 1900. Überlegungen zu den Grenzen der Literaturwissenschaft«, in: KulturPoetik 1/2 (2001) 214–230. 87 Vgl. H.-O. Kvist, »Immanuel Kant über die Mystik und die Deutung von ihm als Mystiker«, in: M. Tameke (Hg.), Mystik – Metapher – Bild, Göttingen 2008, 101–120. 88 Vgl. A. Quero-Sanchez (Hg.), Mystik und Idealismus. Eine Lichtung des deutschen Waldes, Leiden-Boston 2020; R. Tiedemann, Mystik und Aufklärung. Studien zur 85

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sein, um prinzipiell zu verstehen, dass die Mystik alle begrenzten Fachdisziplinen vor ein Methodenproblem stellt, welches wir mit dem Begriff der »mystischen Kriteriologie« umschreiben, um die sich ergebenden Fragen hieraus nach Heideggers phänomenologischer Lebenshermeneutik mit einer effektiven »Lebensphänomenologie«89 unter Bezug auf das Selbstverständnis der Mystik weiterzuführen. Denn die schon angeführte Mystikerin Hadewijch aus der Mitte des 13. Jahrhunderts schrieb eindeutig, dass die Seele vorzubereiten sei »für das durchdringende Genießen der alles bezwingenden Liebe ihres liebreichen Gottes«. Denn »weil seine väterliche Kraft in jedem Augenblick auf so erschreckende Art seine Einheit im Genießen fordert, womit Er sich selbst genug ist, deshalb ergreift er sich jederzeit ganz gar selbst, und ganz und gar auch das Wesen von einem jeden [...]. Vollständig umgreift er es in der eigenen Einheit und fordert es ohne Einschränkung zum eigenen Genießen seines Wesens auf.«90 Diese individuell göttliche Fülle einer »genießenden Gemein­ schaft«, wie Hadewijch sie nennt, zeigt die im mystischen Begehren ausgetragene Spannung, in der Welt kein Objekt des dergestalt ein­ heitlich gegebenen Genießens finden zu können,91 wodurch die Liebe zu Gott als allein dem Begehren entsprechende Wirklichkeit immer zu wenig ist, bis Gott sie selbst über jede Vorstellung hinaus erfüllt, inso­ weit nur er diese Liebe als Vollendung selbst sein kann.92 Damit ist eine signitive Form- und Gegenstandslosigkeit innerhalb des »Begeh­ rens der Mystik« als Leere gegeben, die eine radikal phänomenolo­ gische Adäquatheit der Analyse erfordert, um dem nicht bezeichen­ baren originären Lebensvollzug als einem solch unaussprechlichen Vollzug von Bgehren/Genießen gerecht zu werden. Er liegt mithin vor aller Schau, Theorie und Transzendenz, insofern diese immer Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt/M. 2002; zum jüdischen Hintergrund siehe K.E. Grözinger, Jüdisches Denken: Theologie – Philosophie – Mystik, 5 Bd., Frankfurt/M. 2021. 89 Vgl. C. Serban, »Michel Henry und der frühe Heidegger als Lebensphänomenolo­ gen«, in: S. Grätzel u. F. Seyler (Hgg.), Sein, Existenz, Leben: Michel Henry und Martin Heidegger, Freiburg/München 2013, 107–130. 90 Buch der Briefe, 1. u. 22. Brief (S. 66f. u. 155f.); vgl. ebd., 78, 85, 136 u. 143. 91 Vgl. J.-F. de Sauvezac, Le désir sans foi ni loi. Lecture de Lacan, Paris 2000. 92 Vgl. gleichfalls J. Leclercq, Wissenschaft und Verlangen. Zur Mönchstheologie des Mittelalters, Düsseldorf 1963; N. Nabert, »L'amour de Dieu dans la spiritualité cartusienne, l'héritage du XIIIè siècle«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, 121–132, mit Nachzeichnung des Begehrens nach Gott als Brautmystik, Entrückung und vor-eschatologischer Gottesschau.

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schon einen Abstand implizieren, den die Mystik gerade – intellektua­ listisch, asketisch oder affektiv – aufzuheben versucht. Daraus ergibt sich methodisch, dass innerhalb des mystischen Erlebens und dessen Beschreibung als rein immanenter Lebenserprobung die mystiktheo­ retischen Elemente zur jeweils eigenen Deutung vom eigentlichen Vollzug selbst zu unterscheiden bleiben. Dies spricht ein genuines Sprachproblem innerhalb der Mystik an, dessen Diskussion von den angedeuteten philologischen, hermeneutischen, sprachanalytischen oder dekonstruktivistischen Vorgaben abhängig ist, was allein schon ein breites Forschungsfeld bildet.93 MystikerInnen wie Hadewijch unterstreichen immer wieder die letzte Unaussagbarkeit ihrer inneren Affektionen oder Visionen, indem etwa nach dem »Kuss« durch Gott festgehalten wird: »Und in der Einheit [von Vater und Sohn], in die ich dann aufgenommen wurde und in der ich erleuchtet wurde, da begriff ich dieses Wesen [Gottes] und lernte es deutlicher kennen, als man über die Sprache, mit Hilfe des Verstandes oder durch die Anschauung von irgendeinem Gegenstand, und sei er noch so (deutlich) erkennbar, auf der Erde Kenntnis erlangen kann.«94 All dies gemahnt zweifelsohne an Interdisziplinarität, deren Notwendigkeit wir uns bewusst sind und durch entsprechende Lite­ raturhinweise dokumentieren, ohne jeweils die Einzeldiskussion aus Umfangs- und Kompetenzgründen führen zu können. Dennoch bleibt auch jeder interdisziplinäre Zugang mit methodischen Vor­ gaben belastet, die sich klassisch phänomenologisch als Variation von Gegenständlichkeitsaspekten verstehen lassen, ohne die teleo­ logische Limesidee einer Objektidentität dabei aufzugeben.95 Dies erweist sich allerdings im Fall der Mystik als meta-genealogisch pro­ blematisch, da sie letztlich keinerlei »Objekt« mehr kennt und so über die Einzelwissenschaften und deren Zusammenwirken hinaus selbst Vgl. A.M. Haas, Sermo mysticus. Studien zur Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Fribourg 1979; Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik, Frankfurt/M. 1989; K. Baier, R. Polak u. L. Schwienhorst-Schön­ berger (Hgg.), Text und Mystik. Zum Verständnis von Schriftauslegung und kontem­ plativer Praxis, Wien 2013. 94 Buch der Briefe, 17. Brief (S. 127); vgl. ebd., 171f.; dazu E. Heszler, Der mystische Prozess im Werk Hadewijchs. Aspekte der Erfahrung – Aspekte der Darstellung, Ulm 1991; R. Jahae, Sich begnügen mit dem Ungenügen. Zur mystischen Erfahrung Hadewijchs, Löwen 2000. 95 Vgl. E. Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg 1985, 112ff. 93

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die Phänomenologie zur Verabschiedung von eidetischen Konstituti­ onsbedingungen wie Intentionalität, Ego, Anschauung, Zeitlichkeit etc. auffordert. Deshalb sprachen wir von der »Selbsterprobung« des absoluten Lebens in seiner Immanenz, da dieses originäre Leben – wie die Mystik – keine ontologisch wesenhaften oder sogar »überwe­ sentlichen« Konstitutiva wie schon bei Dionysos Areopagita mehr kennt,96 sondern unmittelbar mit einem rein empfänglichen Selbst­ vollzug als Selbstbegehren identisch ist. Nochmals ein Zeugnis hier von Hadewijch anstelle vieler anderer zur unvermittelten Mystik als abgründiger Lebenserprobung: »Willst du alles, was dir zusteht, bekommen, dann musst du dich voll Vertrauen ganz und gar an Gott übergeben und werden, was Er ist. Und um der Ehre willen, die der Liebe gebührt, sollst du soweit wie möglich von dir selbst absehen, um ausschließlich auf all das zu achten, was zur höchsten Vollkommenheit des Lebens in all seinen Facetten gehört.«97 Aus all den bisher genannten geschichtlichen wie methodologi­ schen Überlegungen wird daher auch verständlich, warum wir in diesem Buch nicht vornehmlich einzelne MystikerInnen ausführlich besprechen, wozu die bereits existierenden Kommentare ausgiebiges Material bereit stellen. Vielmehr dienen uns exemplarisch gewählte Textzeugnisse aus den mystischen Schriften zu einer durchgehend strukturellen Erhellung der Grundproblematik, wie es rein phäno­ menologisch um den Zusammenhang von mystischem Begehren und originär immanentem Lebensvollzug bestellt ist, ohne dabei Fragen nach tätigem Weltverhalten einschließlich Nächstenliebe oder Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität auszuschalten. Denn diese sind als Grundrelation von Mystik/Ethos im Sinne absolut phä­ nomenologischer Lebensmodalisierung bereits.im Ursprung vereint, wie wiederum Hadewijch unterstreicht, ohne auch auf die historische wie genderspezifische Frage einer »Frauenmystik« im Mittelalter und in der Moderne eingehen zu müssen.98 Wörtlich heißt es bei ihr: »So 96 Vgl. dazu den Kommentar von J. Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 2014, 38ff. 97 Buch der Briefe, 2. Brief (S. 73). 98 Vgl. dazu P. Dinzelbachcr u. D.R. Bauer (Hgg.), Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter, Köln 1988; H. Unger, Die Beginen. Eine Geschichte von Aufbruch und Unterdrückung, Frankfurt/M. 2005; A. Fella (Hg.), Les femmes mystiques. Histoire et Dictionnaire, Paris 2013, hier bes. 1–56; M. Cazenave, »Le feminin de l'Esprit: différence dans l'unité«: in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, 187–194, der auf die Bestimmung des Heiligen

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macht es auch die brüderliche Liebe, die in Jesu Christi eigener Nächs­ tenliebe lebt. Sie liefert der brüderlichen Liebe in allen möglichen Fällen die Grundlage, seien sie erfreulich oder schmerzlich [...].«99 Die mystische Ethik entspricht mithin der ontologischen Unmittelbarkeit des Lebens, wie es Christus selbst seinem Wesen als »Sohn« oder »Wort Gottes« nach ist, so dass jeder existentielle Augenblick als lebensmystisches Vollzugsgeschehen im Absoluten Gottes davon geprägt ist: »Mit einer unüberwindlichen Kraft und voller Freude und mit einer gleich bleibenden Leidenschaft in seinen Geliebten voll und ganz aufzugehen, (das bedeutet), mit seinen Händen zu schaffen, mit seinen Füßen zu gehen, mit seinen Ohren zu hören, wo die Stimme der Gottheit nicht verstummt, und durch den Mund des Geliebten zu sprechen in voller Wahrhaftigkeit, indem er Rat erteilt, die Wahrheit beim Namen nennt, die seligste Freude verkündet, jeden in seiner Not tröstet und vor der Sünde warnt.«100 Wenn Füße, Hände, Stimme als subjektive Leiblichkeit insge­ samt an der immanent mystischen Erprobung ohne mögliche Auf­ hebung beteiligt sind, dann besagt dies nichts anderes, als dass alle Existenzmodi im Sinne absoluter Lebensmodalitäten in dieses Leibsein als »Fleisch« (chair) integriert sind. Fassen wir letzteres unter den transzendentalen Begriff der Affektabilität oder Passibilität, dann lässt sich die Mystik als die ab-gründige Praxis von Gefühl und Begehren verstehen, die sich originär in solch affektivem Lebens­ vollzug ausdrücken. Auch hierzu noch ein Zeugnis von Hadewijch: »Mit ganzer Kraft und mit jeder Sehne des Körpers soll man jeden Augenblick dafür bereit sein und die Augen unablässig [auf den Geliebten in der Liebe] gerichtet haben, so dass alle Ströme dieses süßen Strömens sich restlos durchströmen. So muss die Liebe in der Liebe leben.«101 Weil Begehren, Verlangen wie Affektivität mithin Geistes im frühen Christentum und gegenwärtiger feministischer Theologie eingeht. Außerdem J. Maȉtre, »Impacte de la mystique féminine catholique dans la conjoncture actuelle du fait religieux«, in: Ebd., 195–204. 99 Buch der Briefe, 3. Brief (S. 75). 100 Ebd., 30. Brief (S. 192). 101 Ebd., 21. Brief (S. 143); vgl. zur Einordnung von Gefühl und Affektivität auch G. Hofmann, Hadewijch, Das Buch der Visionen, Teil II: Kommentar, Bad Cannstatt 1998, 177f. u. 286f., wobei ebenfalls die Schriften von Richard und Hugo von St. Viktor (gest. 1173) zur damals aufblühenden Anthropologie und Theologie über die »Stufen der Liebesgewalt« im klösterlichen Kontext mit zu berücksichtigen sind; siehe P. Wolff (Hg.), Die Viktoriner. Mystische Schriften, Wien 1936.

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keine bloß psychologische Gefühlsempfindung darstellen, sondern unser rein phänomenologisches Wesen selbst ausmachen, lässt sich mit der Mystik sagen, dass Leben und Liebe schließlich dasselbe sind. Dadurch vermag das »Ich« in der Einheit mit »Gott« zu dieser originären Wirklichkeit wieder hinzufinden, da wir alle in derselben »im Anfang« (Joh 1,1) bereits geboren sind und stets neu darin geboren werden.102 Dies soll in den folgenden Kapiteln als Einheitsstruktur der Mystik in ihrem ursprünglichen Begehren entfaltet werden, wobei schon deutlich geworden sein dürfte, dass das mystische Begehren als solches allen Texten, Bildern und Metaphern wie auch Charakteren, Rollen und Kontexten voraus liegt. Auch wenn es letztere konstitutiv durchzieht, so wie es überhaupt alles Sprechen und Tun der Existenz von innen her bewegt, um ein höchstes »Objekt« des Genießens (jouissance) über die Bedeutungsgrenze von Signifikanten hinaus zu realisieren, scheint allein in der Mystik ein solches Zusammenfallen von sum und cogito zu gelingen. Denn kein »Ich denke«, auch nicht in der religiösen Intention des Glaubens, ergreift jemals jenes »Ich bin«, welches vom apriorisch verlebendigenden Begehren begründet und getragen wird, so dass kein Text mit seinem internen Benen­ nungsgeflecht (langue) zum Maßstab der erprobten Einheit von sum/ cogito erhoben werden kann. Erst in der Selbstgegebenheit eines unendlichen Begehrens und seiner transfinalen Erfüllung finden sie zusammen, was in den herkömmlich religiösen Traditionen »Gott« oder das »Absolute« bzw. »Nirvana« genannt wird. Die reduktive Rolle von Verstand und Vernunft hat hierbei hauptsächlich vorberei­ tenden Charakter, wie auch Bergson unterstrich, bis diese in ihrer höchsten Form als »Intellekt« bzw. »Intuition« im Sinne vom Geist (mens) oder Bewusstsein der reinen Empfängnis des Göttlichen Platz machen. Dies war schon im aristotelischen Erbe der natürlichen Strebenstendenz der menschlichen Vermögen angelegt, um im späte­ ren Zusammenhang mit der biblischen Gottesebenbildlichkeit und dem neuplatonischen wie scholastischen Ideen-Exemplarismus zur Ähnlichkeit oder Einheit mit Gott (unio) hinführen zu können. Dabei erstaunt es nicht, das Begehren – mehr oder weniger implizit jeweils – bei den einzelnen Autoren als Antriebskraft wieder zu finden, sei es als »Verlangen nach dem Guten« im Intellekt selbst 102 Vgl. ebenfalls S. Wendel, Affektiv und inkarniert, Ansätze Deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung, Regensburg 2002.

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bei Plotin oder als éros bei Dionysos Areopagita, um den »Aufstieg in die göttliche Finsternis« durch denselben Intellekt vornehmen zu können. Und Meister Eckhart wird Avicennas Ansicht aufgreifen, das »Wesen dränge zum Sein« (omnia esse desiderat). Bei allen gleichzei­ tigen Strebungen, sich vom Körper und den Vorstellungsformen zu entblößen, kann dieses Zusammenwirken von Intellekt/Begehren nicht gelöst werden, welches sich auch in der frühen Gebetspraxis der apatheia bei Evagrius Ponticus (ca. 345–399) wieder findet.103 Wenn Meister Eckhart zudem in seiner Spätphase von der Henologie Sein/Intellekt zum Leben der Gottheit als bullitio übergeht, die der noch zu vorstellungshaften Trinität als Einheitsgrund vorausliege, dann drückt sich durch eine solch strukturelle Konsequenz aus, dass sich »Seligkeit des Geistes« in Gott und »Pathos der Entblößung« nicht ohne jene »ontologische Intimität« denken lassen, wo durch das Begehren schon immer alles für den Menschen gegeben ist. Allerdings kann es sich dabei nicht um einen »Übergang der Individualität ins Allgemeine« wie bei Kurt Flasch104 handeln, sondern gerade durch die Vertiefung der verlebendigenden Immanenz des akzidensfreien Wesens als Intellekt zeigt sich dessen Getragensein vom Begehren. Affektivität/Intellekt sind dann keine mystische Alternative, son­ dern Verwirklichung der originären Subjektivität, die keine »Selbstbe­ hauptung« im Sinne der Moderne bedeutet. Für die MystikerInnen ist das Begehren ein unmittelbares »Wollen« ohne Objekt, das heißt eine Entscheidung ohne weitere Bedingung, nur noch Gott zu ersehnen und nichts anderes, was sich in solcher Anfangsgewissheit bei Meister Eckhart und Johannes vom Kreuz bis hin zu Jean-Joseph Surin und anderen findet.105

103 Vgl. Y. de Andia, Henosis: l'union à Dieu chez Denys l'Aéropagite, Leiden 1996; »Le statut de l'intellect dans l'union mystique«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, 73–96, hier 75ff. u. 81f. 104 Vgl. Meister Eckhart. Die Geburt der »Deutschen Mystik« aus dem Geist der arabischen Philosophie, München 2006, 129, 135f. u. 151f. Das Verhältnis von Begehren/Allgemeinheit bleibt hier unbestimmt, da das Anliegen einer reinen Intel­ lekttheorie als Interpretation der »Mystik« mit Bezug auf Albert den Großen, Dietrich von Freiberg im Gegensatz zu Thomas von Aquin im Mittelpunkt steht, und zwar unter Berücksichtigung maßgeblicher Einflüsse durch Averroes und Avicenna; siehe auch unser folgendes Kapitel II,3. 105 Vgl. Guide spirituel pour la perfection (Hg. M. de Certeau), Paris 1963; dazu M. de Certeau, La Fable mystique I,, 228f., 245–256 u. 308–320; La Fable mystique II, 231–256: »De la Folie à la Science expérimentale«.

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Dieses Alles/Nichts bedeutet hinsichtlich des Subjekts dessen »Vergessen«, was als Einberaumung eines »leeren Platzes« des »Ich« sowohl ein Heraustreten aus allen diskursiv gesellschaftlichen Kon­ trollen einerseits beinhaltet und andererseits das Eintreten eines unbedingten »Ja«. So heißt es etwa bei Claudine Moine, der »mysti­ schen Schneiderin von Paris«, dass sie das »Was wird man sagen?« nicht mehr beunruhigte, nachdem ihr durch die Vorsehung Gottes »alle Orte und Umstände dasselbe geworden waren«.106 Denn so wie Gott gemäß Ex 3,14 im Sinne von Angelus Silesius »immer nur Ja spricht«,107 so drückt auch die Mystik eine Zustimmung zu allem Wirklichen in jedem Augenblick aus. Dies lässt sich nach Nikolaus von Kues auch als eine Entsprechung zum posse absolutum Gottes verstehen, dessen reine »Mächtigkeit« durch alle Erscheinungen und deren Effekte hindurch wahrgenommen wird.108 Diese Sichtweise böte zugleich eine mögliche Grundlage, sogar Mystik und Politik miteinander zu verbinden, worauf wir hier nur verweisen können. Die »unendliche Politik Gottes« in der Perspektive »theosophischer Geo­ metrie« beim Kusaner als Diplomat, Mathematiker und Philosoph vereint Utopie und Ethik in jener Hinsicht, dass die Mystik als »Nar­ ration ohne Objekt« das »Volk« einschließt, insofern das Zentrum des Unendlichen bei jedem ist. Dadurch sei eine »dialogische Figur« konjekturaler Wahrheit gegeben, deren Einheit in diesem Unendli­ chen selbst zusammenfällt – mithin »die Möglichkeit einer Erzählung durch die Immanenz des Unendlichen« einschließt. Negative oder apophatische Theologie bildeten dadurch weniger eine »Verneinung« als einen »Übergang« von einer Wahrnehmungsmanifestation zur anderen wie beispielsweise zwischen Schmecken und Sehen, so dass eine »Koinzidenz« lebendiger Gesichtspunkte in ihrer metonymi­ schen Operativität jedes Ich nicht ohne den Anderen affirmiere, 106 J. Guennou (Hg.), La couturière mystique de Paris [Claudine Moine], Paris 1981, 118 u. 120. Für die wachsende Zunahme des Unwissenden, Armen etc. als Mystiker zwischen 1600 und 1660, die allerdings – im Unterschied zur Bedeutung solcher Personen bei Tauler und Nikolaus von Cues – eine bald marginalisierte Spiritualität durch die kirchlichen Institutionen bedeutet, vgl. M. de Certeau, La Fable mystique I, 280–329: »Le Legendaire du pauvre«, was zum ganzen IV. Teil »Figures du Sauvage«, 280–405, gehört. 107 Der Cherubinische Wandersmann II,4 (Hg. L. Gnädinger), Stuttgart 1989. 108 Vgl. De apisce theoriae / Über den Gipfel der Betrachtung (Lat.-dt. Hg. H.G. Senger), Hamburg 1986; dazu J.-M. Counet, »Le sommet de la contemplation chez Nicolas de Cues«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, 141–150.

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was das Politische wie das Mystische auszeichne, welche dergestalt miteinander verbunden wären.109 Dass nun gerade auch Lieder auf dem mittelalterlichen Hinter­ grund höfischer minne in einem mystischen Sinne entstehen konnten, zeigt neben dem liturgischen Gesang, dass das mystische Begehren auch die rein literarischen Gattungen übersteigt, seien sie theologi­ scher, spiritueller oder poetischer Natur, um sich als innere Bewegung über die Melodien der Musik auszusagen.110 Dies als zusätzliche Bemerkung hier, um die Frage nach dem methodischen Zugang zum Verständnis der Mystik im Sinne ihres ab-gründigen Vollzugs als Begehren für alle originär lebendigen Bezeugungsweisen offen zu halten. Dadurch gewinnt gleichfalls die Gegebenheit der oft verwand­ ten Metaphorik in der Mystik eine rein lebensmystische Dimension, indem es nicht nur um semiologische Bezüge zwischen »Bildspender« und »Bildempfänger« in einem historisch geprägten Kontext von Kir­ chen und Klöstern geht,111 bzw. um eine philosophische Metaphorolo­ gie, die über jede erfüllte Anschauung hinaus weiteren Sinn als Begriff im Sinne Kants »zu denken« aufgibt. Vielmehr vermag gleichfalls über das ästhetisch Imaginäre die darin statthabende Lebensaffektion erprobt zu werden, womit der Bezug zwischen Begehren/Mystik zu einer prinzipiellen Relevanz für alle menschlichen Lebensbereiche im Sinne einer umfassend kulturellen Dimension wird.112 Auch diese gehört zentral zu unserer Untersuchung über jede begrenzt geschicht­ liche Kontextualität mit ihren sprachlichen Implikationen hinaus, um Vgl. M. de Certeau, La Fable mystique II, 51–122: »Le regard: Nicolas de Cues«. Vgl. V. Fraeters, F. Willkaert u. L.P. Grijp, Hadewijch: Lieder. Originaltext, Kom­ mentar, Übersetzung und Melodien, Berlin 2016, 22–26 u. 43–46, über Minnemystik bei Hadewijch; R. Wetzel u. L. Wuidar (Hgg.), Mystique, langage, musique: dire l'indicible au Moyen Age, Paris 2019; außerdem E. Keller, »Von ehelicher Privation zu erotischer Privatheit? Zur Allegorese der Geschlechterbeziehung in Christus und die minnende Seele«, in: G. Melville u. P. von Moos (Hgg.), Das Öffentliche und das Private, Köln 1998, 359–410. 111 Vgl. M. Egerding, Die Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik, 2 Bde., Berlin 1997; P. Ricœur, La métaphore vive, Paris 1975 (dt. Die lebendige Metapher, München 2004). 112 M. de Certeau, La Fablie mystique I, 9ff. u. 36ff., geht von der These der mystischen figure du désir in engem historiographischen Zusammenhang mit leidvollen Körper­ erfahrungen und neuer Erotik (Minne) aus, wobei zugleich dem Verlust kirchlicher und biblischer Einheit sowie dem gesellschaftlichen Verfall adliger und bürgerlicher Gruppen maßgebliche Bedeutung zukomme. Für heute siehe H. Lichtenberger, J. Moltmann u. E. Moltmann-Wendel (Hgg.), Mystik heute. Anfragen und Perspekti­ ven, Göttingen 2011. 109

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unverzichtbare affektive Zukunftsperspektiven für die kommender Kultur aus der Berücksichtigung der Mystik heraus zu gewinnen.113 Abschließend sei hier für die Methodenfrage ergänzt, dass die phänomenologische Forschung schon vor ihren aktuellen Selbstradi­ kalisierungen im Sinne reiner Selbstgegebenheit interne Bezüge zur Mystik erkannte und aufgegriffen hat. So lassen sich nicht nur vor Heidegger und parallel zu Bergson bereits im Spätwerk Husserls gemeinsame Ausgangspunkte von Phänomenologie und Mystik aus­ machen,114 die dann besonders von seiner Schülerin Edith Stein115 als Philosophin und Unbeschuhte Karmelitin um 1940 weitergeführt wurden. Diese phänomenologischen Bemühungen wurden bereits ab 1923 von Gerda Walther erstmals methodisch reflektiert, und zwar dank der Affinität zwischen Epoché und Mystik als einer »Urgegeben­ heit«, die keine Objekte als ontische Wirklichkeit mehr beinhalte, sondern »ideale Möglichkeiten« von der »Liebesglut« der Mystiker her, welche somit nicht von ihnen fremden Kriterien her verstanden werden könnten.116 Die Gemeinsamkeit transformativer Aspekte in Phänomenologie und Mystik als »völliger personaler Wandlung« (Husserl) oder »Wandlung des Daseins« (Heidegger) führen daher aktuell zu einer nachvollziehbaren Analyse intentionaler »Offenheit« als »Empfänglichkeit« in beiden Bereichen.117 Dies kommt unserem 113 Vgl. zur weiterführenden Diskussion J. Früchtl, Demokratie der Gefühle. Ein ästhetisches Plädoyer, Hamburg 2021. 114 Vgl. E. Wolz-Gottwald, Transformation der Phänomenologie, Zur Mystik bei Husserl und Heidegger, Wien 1999, 98ff., mit Betonung eines »letztwahren Lebens« und »Miteinanders« als »All-Subjektivität« im Sinne der »Krisis«- Schrift Husserls. 115 Vgl. Kreuzeswissenschaft. Studien über Joannes a Cruce (Werke 1), Freiburg/Br. 1954, worin ihre Philosophie der Person über die Teilhabe am Leiden Christi mystische Vereinigung und Selbstaufgabe in reflexiver Form darstellt; dazu S. Lainer, Edith Stein – von der Phänomenologie zur Mystik, Salzburg 2008. 116 Vgl. Phänomenologie der Mystik, Freiburg/Br., erw. 1955; siehe auch das Werk des Husserlschülers J. Héring, Phénoménologie et philosophie religieuse. Etude sur la thérorie de la connaissance religieuse, Paris 1926, sowie H. Duméry, Critique et religion. Problèmes de méthode en philosophie de la religion, Paris 1957, 135–177: »La description phénoménologique«; G. Berger, »La phénoménologie transcendentale«, in: Encyclopédie Française Bd. 19: Philosophie – Religion, Paris 1957, 19.10 – 12; »Connaissance de la nuit«, in: Les Etudes Philosophiques 1 (1942) 43–49. Ähnliche Tendenzen lassen sich schon bei Schelling ausmachen; vgl. Chr. Danz, »Indi­ vidualität, Religion, Mystik. Zur Transformation der Mystik in Schellings ›Stuttgarter Privatvorlesungen‹", in: A. Quero- Sanchez, Mystik und Idealismus, 436–467. 117 Vgl. A. Glück, Offenheit – Empfänglichkeit. Mystik und Phänomenologie, Würz­ burg 2012; siehe ebenfalls A.J. Steinbock, Phenomenology and Mysticism. The

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eigenen methodischen Bemühen entgegen, die Mystik von der origi­ nären Passibilität und dem darin geborenen Begehren verständlich zu machen, denn insofern die patristische und mittelalterliche Mystik oft den Versuch unternimmt, sich von »Begierde« und »Fleisch« abzugrenzen, unterstreicht sie gerade dadurch die innere phänomeno­ logische Notwendigkeit, die Frage der »Empfindung« grundsätzlich aufzugreifen, um sich über diesen läuternden Abgrenzungsversuch strukturell als reine Empfängnis Gottes zu bestimmen. Denn wie im 12. Jahrhundert Bernhard von Clairvaux sagte, sei nicht die Emp­ findung als solche zu »missbilligen«, sondern nur der verhinderte Übergang von der »fleischlichen Liebe« zur »geistigen Liebe«, um die fleischliche Inkarnation Christi in ihrem vollen Umfang als Voll­ endung des Begehrens zu erfassen: »[Christus] wollte zuerst alle Neigungen der im Fleische Lebenden, die nur fleischlich lieben konn­ ten, auf die heilbringende Liebe zu seinem Fleisch hinführen und sie so stufenweise auf die geistige Liebe hinlenken.«118 Mit anderen Worten ist im Sinne der Inkarnation Christi nicht der Leib als solcher zu verdammen, sondern er kann über eine ausschließlich verfolgte Lust (plaisir) zur Last für den Körper werden, der damit bloßer »Wiederho­ lung« (Freud) unterwerfen wird, anstatt einem »mystischen Aufstieg« zum »Schmecken Gottes« hin zu folgen. Deshalb verschränken sich in solch »monastischer Theologie« Anthropologie, Erkenntnislehre und Soteriologie miteinander, um im Klosterleben die Mönche über die Sinne kontinuierlich zu Gott hinzuleiten, da dieser nicht unmittelbar von der ratio erkannt werden könne. Das Ziel dieses integral mystischen Bemühens als Ineinander von Selbst- und Gotteserkenntnis ist mithin nicht die reine Vernei­ nung der Sinnlichkeit, sondern gerade die transformatio auf das hin, was das originäre Begehren als objektfreie Unendlichkeit verheißt und für eine radikale Phänomenologie immer schon in der unmittelbaren Verticality of Religous Experience, Bloomingtion/IN 2007; dazu J. Henningfeld, »Phänomenologische Selbstgegebenheit und vertikale Erfahrung«, in: M. Enders (Hg.), Selbstgebung und Selbstgegebenheit. Zur Bedeutung eines universalen Phäno­ mens, Freiburg/München 2018, 33–58; Ph.S. Blouin, La phénoménologie comme manière de vivre, Bukarest 2021, der Kontemplation im ethischen und existentiellen Sinne für eine »vollständige Veränderung« (transformation) unseres Weltverhaltens befragt, anstatt die Dinge beherrschen zu wollen, was der ursprünglich von Husserl geforderten »personalen Wandlung« entspräche. 118 Predigten über das Hohe Lied XX,6 (S. 285); vgl. ebd., 291, 293, 299, 309; dazu M. Döbler, Die Mystik und die Sinne, 17f. u. 106ff.

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Immanenz des Lebens gegeben ist. Daher wird eine solche Analyse zur reinen Phänomenalität als Ersterscheinen sowohl zum genaueren Verständnis der Mystik wie der Phänomenologie selber führen, um der petitio principii über einen bloß literarturhistorischen »Kanon« mystischer »Textgruppen« als »Schnittemenge« möglicher religions­ wissenschaftlicher »Familienähnlichkeit« im Sinne Wittgensteins zu entgehen.119 Da die gegenwärtige Phänomenologie, wie bereits fest­ gehalten, ihre klassischen Konstitutionsbedingungen wie Intention, Wesen, Ego, Anschauung etc. einer radikalen »Gegen-Methode« (Levinas, Henry, Marion) unterworfen hat,120 ist demzufolge eine in den letzten Jahrzehnten vermehrt kritisierte essentialistische bzw. erlebenszentrierte Interpretation der Mystik gebannt. Auch der origi­ näre Subjektivitätsbegriff bezeichnet nicht länger eine Instanz, die dem Erscheinen als Selbstgebung fremde Bedingungen auferlegen würde, sondern fällt mit dem Selbsterscheinen des Erscheinens als lebendiger Selbstaffektion zusammen. Das immanente Selbstbegeh­ ren des Lebens als unmittelbare Selbstoffenbarung Gottes ist damit identisch, und zwar als dessen zeitlose Selbstphänomenalisierung, so dass die Mystik hier in der originären Weise ihrer genuinen Selbsterprobung zu Tage treten kann, ohne noch anderen äußeren Kriterien zu unterliegen, die nicht ihrem unmittelbaren Selbstvoll­ zug entsprächen. Damit sind alle partikulären Zustände von Empfindung, Bewusstsein und Geist aufgehoben, um jeglicher Wirklichkeit in der reinen Ankünftigkeit des Lebens ihre originäre oder lebensmystische Geltung zukommen zu lassen, wie es eine absolute Gebung vom Ursprung her impliziert. Eine »post-phänomenologische« Mystikfor­ schung in der hypostasierten Alleinberücksichtigung von Texten, Topoi und Kontexten121 beinhaltet deshalb einen epistemologischen Paralogismus. Eine solche Forschung ignoriert nämlich nicht nur die inzwischen erfolgte Weiterentwicklung innerhalb der Phänomenolo­ gie, sondern sie impliziert selber – unerkannt – eine vorsprachliche 119 Vgl. V. Leppin, Die christliche Mystik, München 2005, 7, im Anschluss an Kurt Ruh. Zum ständigen Oszillieren der Mystik zwischen unmittelbarem Erleben und systematischer Theorie seit Dionysios Areopagita und im Mittelalter vgl. auch J. Schaber u. M. Thurner (Hgg.), Philosophie und Mystik – Theorie oder Lebensform?, Freiburg/München 2019. 120 Vgl. R. Kühn u. M. Staudigl (Hgg.), Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion der Phänomenologie, Würzburg 2003. 121 Vgl. M. Döbler, Die Mystik und die Sinne, 26, 80ff., 102f., 150f. u. 153f.

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Inanspruchnahme originär subjektiver Erprobung, selbst wenn die »mystische Erfahrung« als solche metabegrifflich in Frage gestellt wird. Denn es muss auch für solche Forschung eine affektive Minimal­ zustimmung zu »mystischen Texten« auf der Objektebene stattfinden, die dem eigenen Vorwissen als Erkenntnisbegehren entspricht, um überhaupt eine theoretische Gemeinsamkeit mit den deskriptiven Inhalten der MystikerInnen teilen zu können – und sei dies nur in einer heuristischen Übereinstimmung rein sprachlicher oder semio­ tischer Natur. Denn auch darin ist schon ein Begehren impliziert, das an die Ab-gründigkeit unserer transzendentalen »Erfahrung« schlechthin rührt, die Mystik wie Phänomenologie nicht einem bloß regionalen Erkenntnisinteresse überlassen kann, welches sich selbst als subjektive Leistung in seiner potentiellen Vergegenständli­ chung ignorierte. Denn jede Wissenschaft ist gleichfalls der individuelle wie kulturelle Versuch, auf jene abyssale Frage zu antworten, die für jeden Menschen sowie die Gesellschaft mit der Lebensaffektion als Begehren hervorbricht, was die Mystik ohne jede rational abweh­ rende Einschränkung anerkennt und zur kriteriologischen Triebfeder ihres innersten Verlangens in Erkenntnis und Praxis werden lässt.122 Betrachtet man nämlich die Forschungsentwicklung in Bezug auf die Mystik in den letzten Dekaden, dann ist offensichtlich, dass sie sich von der Theologie, Philosophie und Psychologie zur Linguis­ tik hin verlagerte. Dabei vermittelte eine in Anspruch genommene deskriptive Phänomenologie, die nur das Paradoxe und Ineffable als allgemeine Form noch zurückbehielt, um die Erfahrung als solche auszuschließen. Dadurch wich die These von der »mystischen Plura­ lität«123 der Interpretation eines reinen modus loquendi, wie man ihn bereits im 16. und 17. Jahrhundert allein hatte gelten lassen wollen. Das heißt, die Mystik bediene sich singulärer Sprechakte, die sich aus dem alltäglichen Sprachgebrauch herausheben, um sich auf diese Weise dennoch »operativ« in einen geschichtlichen Ort einzuschrei­ ben, dem sie nicht durch ihre eigene Performativität angehören.124 Von daher war es dann nur ein kurzer Schritt, die Mystik stellenweise als »radikalen Spiritualismus« überhaupt zu eliminieren, indem ideo­ Vgl. ebenfalls N. Largier, Die Kunst des Begehrens. Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese, München 2007. 123 Vgl. S. Katz (Hg.), Mysticism and Philosophical Analysis, New Yorl 1978. 124 Vgl. M. de Certeau, La Fable mystique II, 43f. 122

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logisch soziale Konflikte in den Vordergrund gestellt wurden, die weder von den religiösen wie politischen Institutionen noch von dem Radikalismus selbst aufgehoben wurden, wie Ernst Bloch125 und Leszek Kolakowski126 in ihren Studien aufzeigen wollten. Aber in all diesen Fällen ist gleichfalls die Minimalreferenz zur Mystik als die Verheißung eines »Anderen« gewahrt, das sich nicht nur in einen blo­ ßen Sprachmodus verliert, sondern eine effektive Begegnung mit dem Wirklichen beinhaltet. Dieses wurzelt im originären Sinne jeweils im Leben selbst, wie die folgenden Teile unserer Untersuchung im Einzelnen herausarbeiten möchten.

Vgl. Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Frankfurt/M. 1962. Vgl. Christen ohne Kirche, Würzburg 1971; siehe auch schon J. Hölluber, Sprache, Gesellschaft, Mystik, Basel 1963, E. Ozment, Mysticisme and Dissent. Religious Ideology and Social Protest in the 16th Century, New Haven (Conn.) 1973.

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Teil I: Mystik und transzendentale Lebensgeburt

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Geht man von klassischen Offenbarungsmedien wie Welt (Schöp­ fung), Sprache (Text) und Zeigen (Zeugnis) aus, so gibt sich von Anfang an im Christentum die Wahrheit der Offenbarung als von allen anderen Wahrheiten und Sprachzeugnissen des Erkennens ver­ schieden, weil das »Wort Gottes« ausschließlich göttlicher Herkunft sei, das heißt »nicht von der Welt« (Joh 17,14). In den Evangelien spricht Christus zwar als das »Wort Gottes« (Logos), aber diese Botschaft des Sohnes vom Vater ist in Texte eingefügt, die das Sprach­ spiel der Menschen benutzen, obwohl dieses Sohnsein gerade die reine Selbstzeugung des Lebens in der gleichwesenhaften Lebensre­ ziprozität von »Vater/Sohn« bedeutet. Das Paradox besteht folglich darin, dass ein sprachliches Dokument wie die Heilige Schrift das Leben bezeugen – und sogar »geben« – will, obwohl die einzelnen Wörter sowie die in Sätzen der Menschensprache ausgedrückten Bedeutungen niemals selbst das Leben sind. Diese Wörter und Sätze sind außerstande, eine andere Wirklichkeit als die ihre im Raum der Bedeutung zu setzen, weshalb sie mit Husserl in den Intentionalbe­ reich des irreellen Meinens gehören, bzw. mit Wittgenstein entweder dem begrenzten Bereich empirischen Sagens oder dem Limes von Schweigen/Zeigen zuzuzählen sind. Die Inanspruchnahme eines göttlichen Ursprungs für die Wahrheit der Offenbarung Gottes kann also keineswegs jene Ohnmächtigkeit des Wortes sein, Gott in der Sprache der Menschen oder der Welt nicht bekunden zu können, was einen ontologischen Mangel des sprachlichen Logos als Wirk­ lichkeitsreferenz impliziert, wovon die modernen Sprachanalysen nur unterschiedliche Theoretisierungsmodelle darstellen. Kennt die Selbstoffenbarung Gottes, anders gefragt, eine Quelle, die im Gegen­ satz zu Text oder Schrift in der Lage wäre, diese ontologische Karenz zu überwinden, welche dem Bereich der sprachlichen Bedeutungen und Ausdrücke als solchem inhärent ist? Schon von daher lässt sich die Mystik als Betrachtung, Schau und Umformung (transformatio) durch

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die geoffenbarten Geheimnisse Gottes als der Versuch verstehen, das »Schmecken Gottes« durch affectio und cognitio im Rahmen einer Christusnachfolge und Gnadentheologie im Sinne einer unmittelbar gewährten Weisheit zu erreichen.132 Bei Bernhard von Clairvaux kommt es daher – wie bei Hadewijch – zum »heiligen Kusse«, wenn »wir mit [Christus, dem Herrn] verbunden sind, zu einem Geiste mit ihm geschaffen werden«.133 Diese originäre Quelle, welche besonders die Christusmystik in ihrem innersten Begehren bewegt, kann daher nur das »Wort Gottes« selber sein, das sich offenbart, indem es Gott als Sich-Offenbarenden offenbart. Wir müssen dementsprechend auch in der phänomenolo­ gischen Reduktion die herkömmliche Problematik hinter uns lassen, ob eine menschliche Sprache fähig wäre, die göttliche Offenbarung in sich aufzunehmen und weiterzugeben, bzw. umgekehrt – von Gott her gesehen – zu fragen, wie eine göttliche Offenbarung überhaupt dazu gelangt, die Form einer menschlichen Sprache anzunehmen. Denn in diesem letzteren Fall wäre die göttliche Offenbarung gerade keine Offenbarung, weil sie eine wesenhaft göttliche ist, sondern insoweit sie sich entsprechend ihrer medialen Bedingung in einem Wort der Menschen ausdrückte – was wieder die Frage heraufbeschwört, wie sich dann der Beweis seines göttlichen Charakters erbringen ließe.134 All diese Offenbarungslösungen stellen Gott eine ihm konstitutiv äußere Bedingung, sich von etwas anderem als von sich selbst her zu offenbaren, während es gegenreduktiv gerade darum geht, die So bei Bonaventura, Über den dreifachen Weg (Hg. M. Schlosser), Frankfurt/M. 1993; vgl. auch A.M. Haas u. H. Stirnimann (Hgg.), Das »einig Ein«. Studien zu Theorie und Sprache der deutschen Mystik, Fribourg 1980. 133 Vgl. Predigten über das Hohe Lied III,1, in: Sämtliche Werke V (Hg. G.B. Winkler), Innsbruck 1994, 77ff. Eine solche Allegorese des »Hohenlieds« in hellenistisch-jüdi­ scher Tradition wurde bereits von Hippolyt (gest. 235) und Origines (gest. 253) gepflegt, wobei Bernhard diesem Erbe der Alexandriner durch die Verbindung von zentralen Glaubensfragen mit persönlichen Lebens- und Mönchserfahrungen einen neuen Akzent verleiht, der im ganzen Mittelalter weiterwirkte. Siehe ebenfalls B. Schellenberger (Hg.), Bernhard von Clairvaux. Rückkehr zu Gott. Die mystischen Schriften, Düsseldorf 2006; dazu auch D. Heller, Schriftauslegung und geistliche Erfahrung bei Bernhard von Clairvaux, Würzburg 1990; M. Döbler, Die Mystik und die Sinne. Eine religionshistorische Untersuchung am Beispiel Bernhards von Clairvaux, Göttingen 2013, 155ff., zu den Metaphern von Kuss, Umarmung und ungestümer Liebe. 134 Vgl. zum Beispiel W. Detel, Warum wir nichts über Gott wissen können, Hamburg 2018, der argumentiert, dass aktuale Unendlichkeit vom Menschen nicht gedacht werden könne, und daher eine zeitgemäße Religiosität ohne Gott fordert. 132

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konkrete Möglichkeit der Offenbarung als immanenten Selbstprozess Gottes zu erweisen. Darin würde dann auch die Phänomenologie selber ihre höchste Möglichkeit verwirklichen, ohne die Sprache der Texte und Worte als eine absolute Vorgabe anerkennen zu müssen, so wie die Phänomenologie gegenwärtig auch nicht mehr die Konsti­ tutionsapriori von Ich, Horizont oder intentionaler Anschauungser­ füllung als ihre Letztprämissen ausgeben muss, sondern nur auf die Phänomenalisierung der Phänomenalität als solcher für die originäre Wie-Frage als Gebung der Erscheinungen zu achten hat. Darin liegt insofern eine methodische Treue gegenüber dem husserlschen Erbe, als dieser zunächst in den »Logischen Untersuchungen« von 1901 dem Phänomen Sprache keinen Vorzug gegenüber anderen Phänome­ nen einberaumt, da sich eine solche Privilegiertheit erst erweisen müsste, was Heidegger dann seinerseits durch die Verschränkung von Dasein/Seinsverstehen schon vorentschieden hatte.135 Denn prinzipiell zu bedenken bleibt, dass sich ein weltlicher Sachverhalt nur bewahrheiten lässt, sofern er sich im klassisch phä­ nomenologischen Sinne zeigt, was für die Sprache bedeutet, dass sie einen Sachverhalt im Außen der Welt benennt und darüber spricht, also selbst an dieses Sich-Zeigen als ekstatische Erstmanifestation verwiesen bleibt, auch wenn die Arten ihres Benennens in notwen­ digen pragmatischen Verwendungszusammenhängen nach Wittgen­ stein nicht ein für allemal feststehen und keineswegs mit dem »Träger des Namens« verwechselt werden dürfen.136 Die reine Phänomenali­ tät ist aber hierbei nicht der einzelne phänomenale Inhalt (zusammen mit seinen expressiven Zeichen) als die sich zeigende Erscheinung im Wahrgenommenen, Gedachten und Benannten, sondern vielmehr die ekstatische Bedingung des sich je in der »Welt« Manifestierenden. Insoweit diese Transzendentalität die nicht kausale, phänomenologi­ sche Bedingung der Möglichkeit jeder Erfahrung als Außenheit oder »Lichtung« (Heidegger) des Welthorizontes schlechthin ist, heißt dies mit entsprechender Konsequenz für die Offenbarung Gottes, dass letztere dieser Weltaußenheit in deren zuinnerst zeitlicher Selbst­ Zur weiteren Diskussion J. Derrida, La voix et le phénomène. Introduction au problème du signe dans la philosophie de Husserl, Paris 1967 (dt. Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt/M. 1979); K. Novotny, Was ist Phänomen? Phänomenalitätskonzepte beim frühen Husserl und in der nachklassischen Phänomenologie, Würzburg 2011. 136 Vgl. Philosophische Untersuchungen § 40 (Werkausgabe 1), 261. 135

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veräußerung als Grundphänomenalisierung aller Weltphänomene unterworfen wäre, wenn diese Offenbarung in der Welt statthaben sollte. Deshalb treten für die Mystik andere Kräfte aufseiten des Menschen in den Vordergrund, um etwa durch die Sehnsucht oder das Begehren (desiderium) zu einer Hingabe an Gott zu gelangen, die im mystischen Sinne eines excessus mentis gemäß Joh 13,1 als damit identischem transire mit Christus zum Vater führt. Eine solche transformatio, bei der die augustinische Illuminationstheorie von memoria und Weisheit meist eine Rolle spielt, führt dann zum Eintritt in das »neue Leben«, das heißt zu einem Sterben mit Christus, um losgelöst von allen ontischen Verhaftungen das selbe Leben wie Gott in dessen ewigem Selbstgenuss auf christusmystische Weise zu lieben.137 Die Frage nach der Sprache oder dem Logos im Zusammenhang mit der Selbstoffenbarung Gottes – gerade auch im inkarnatorischen Sinne einer phänomenologischen Ur-Verfleischlichung – ist daher in erster Linie keine Frage nach historischer Zeugenschaft, getreuer Wortüberlieferung oder kanonischen Textsammlungen, sondern die Frage nach dem Wesen der ursprünglichen religio als solcher. Diese führt grundsätzlich eine andere Phänomenalisierung als die Phäno­ menalität der Welt in die Geschichte der Menschen ein, nämlich die Selbstphänomenalisierung des Lebens als die Selbstoffenbarung Gottes, sofern Gott nichts anderes als das absolute Leben im Sinne ununterbrochener Selbstaffektion bzw. Liebe ist, wie gerade die Got­ tes- und Christusmystik hervorhebt. Dass die Zeit jede impressio­ nale Einzelwirklichkeit im retentionalen Absinken letztlich auslöscht, weshalb auch Geschichte und sprachliche Zeugnisse stets neu inter­ pretiert werden müssen, liegt somit nicht an den partikulär bezeugten Tatsachen und ihren kontextuellen Bedeutungen als individuellen wie intersubjektiven Erscheinungen, sondern an ihrem prinzipiellen Erscheinensmodus. Dieser weiht als dif-ferent phänomenalisierende Wahrheitsform der Welt jede Art von Erscheinung in ihr dem prin­ zipiellen Verschwinden innerhalb der formalen Zeittrias (Husserl) bzw. des ereignishaften »Zuspiels« (Heidegger).138 Auch die Sprache in ihrer dia- sowie synchronischen Verkettung ist durch dieses eksta­ tische »Nichts« bedingt und wird niemals in der Lage sein, etwas 137 Vgl. Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum / Der Pilgerweg des Menschen zu Gott (Hg. M. Schlosser), St. Ottilien 2019, Kap. VII,2 u. 6 (S. 197ff.). 138 Vgl. Zur Sache des Denkens, Tübingen 1988, 13ff.

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Endgültiges zu sagen, auch wenn sie es möchte, das heißt ein Sich in seiner originären Ipseität, wie es eine Offenbarung Gottes und unserer selbst erheischt. Die meisten Individuen, die diese Erde betreten haben und noch betreten werden, finden sich des übrigen in keinerlei Geschichtsan­ nalen verzeichnet,139 so wie auch die meisten Worte, die alltäglich gesprochen oder gedacht werden – ganz zu schweigen von den Affekten und Gefühlen, sich trotz global medialer Netzwerke unserer Tage nicht aufgezeichnet finden. Dies ist ein zusätzlicher Grund, nicht von der Historie oder Information als Sammlung der Dokumente und ihrer Auslegung das »Gedächtnis« dessen zu erwarten, was das rein phänomenologische Leben unserer selbst als Individuen ist. Dies bezeugt unter anderem schon der Begriff der memoria bei Augustinus, der als »Eingedenk-Sein« des Ursprungs auf die Ewigkeit Gottes verweist und damit auf die Möglichkeit einer Teilhabe an ihr, was in der späteren Mystik dann immer wieder aufgegriffen wurde, um aus solchem »Gedenken« als unserem geistigen Wurzelboden Erkenntnis wie Liebe erwachsen zu lassen.140 Wäre Christus historisch nie bezeugt worden, oder hätte nie­ mand ihm geglaubt, er wäre nicht minder die originäre Offenba­ rung des »Wortes Gottes« als Ab-grund unserer Erfahrung, was wir in den folgenden Kapiteln genauer als Struktur jeder Mystik herausstellen möchten. Deren anfängliche Herausarbeitung als neu­ platonisch inspirierte »negative Theologie« fällt als äußerste sprach­ liche »Verknappung der Zeichen« ebenfalls noch unter diesen Vorbe­ halt der reduktiv verbleibenden Bedeutungs-Dissemination, weshalb Derrida141 Recht hat, darauf hinzuweisen, dass diese apophatische Sprache keine unmittelbare Wirklichkeit einholen kann. Denn die intendierte »ekstatische Schau« bei Dionysios Areopagita enthält als Anschauung über Gottes seinshafte Transzendenz hinaus als »NichtSein« kein Kriterium dafür, wann solche »Verknappung« effektiv ein Ende fände, auch wenn das Gebet hierbei eine besondere Rolle spiele. Das Begehren der Mystik ist, wie wir dies in unserer Hinfüh­ rung bereits hervorhoben, im Begehren als solchem zu verorten, das alles metaphorische wie dekonstruktive Sprechen der MystikerInnen Vgl. J. Derrida, Mal d'archive. Une impression freudienne, Paris 1995, 24f. Vgl. M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, 180–301: »Augusti­ nus und der Neuplatonismus« (1921), hier bes. 182ff. 141 Vgl. Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 2014, 13ff. 139

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durchzieht, um die eigentliche Weise lebendiger »Gotteserfahrung« zu beinhalten, die Derrida142 daher auch an anderer Stelle mit der passion im doppelten Sinne von Leiden und Leidenschaft verbindet. Allerdings werden nicht nur »Verneinung« und »Wortkargheit« beim Aufstieg zu Gott genannt, sondern schließlich »das Verstummen der Rede«, um »mit dem ganz eins zu werden, der unaussprechlich ist«.143 Betrifft mithin das Christentum als die genannte immanente Wahrheit der Selbstoffenbarung Gottes die Selbstphänomenalisie­ rung derselben, so betrifft es folglich das Wesen des Erscheinens als Ur-Phänomenalität schlechthin, die wir »Leben« nannten und die in den Evangelien selbst unter diesem Namen oder als »Erscheinung«, »Wahrheit« und »Offenbarung« auftritt. In dem Maße, wie es im Christentum daher um das rein phänomenologische Erscheinen in dessen lebendigem Wesen als solchem geht, kann dieses Erscheinen kein Vermögen mehr hinter dem Erscheinen als Offenbarwerden bezeichnen, sondern nur das Selbsterscheinen dieses Erscheinens selbst. Denn ein solches Vermögen in einem griechischen, onto-theo­ logischen Hintergrund gibt es hier nicht mehr, weil die Wahrheit des Selbsterscheinens ihre eigene Entfaltung als Selbstoffenbarung ist, während für die ekstatische Welterscheinung Ding und Horizont auf­ grund der Außenheits-Phänomenalisierung für immer voneinander getrennt bleiben. Damit stoßen wir eindeutig auf den Kern des phänomenolo­ gischen Unterschieds zwischen der Selbstoffenbarung Gottes und der Weltoffenbarung, der hier im Rahmen eines kriteriologischen Mystikverständnisses weiter zu erkunden bleibt. Die Trennung des Wahrheitsbegriffs zwischen der Wahrheit (Erscheinen) und dem, was wahr ist (erscheint, sich zeigt), gilt nur für die Weltphänomenalität als Außenheit – nicht aber für den Wahrheitsbegriff als Erscheinens­ grund schlechthin. Die Selbstoffenbarung Gottes als Wahrheit des Christentums in diesem Sinne besagt daher in aller radikal phänome­ nologischen wie mystischen Stringenz, dass die Offenbarung sich in nichts vom Offenbarten unterscheidet. Die Wahrheit Gottes ist Gott 142 Vgl. Über den Namen. Drei Essays, Wien 2000; dazu auch M. Enders, Post­ moderne, Christentum und Neue Religiosität. Studien zum Verhältnis zwischen postmodernem, christlichem und neureligiösem Denken, Hamburg 2010, 111–146. 143 Über die Mystische Theologie und Briefe (Hg. A.M. Ritter), Stuttgart 2020, 87– 91, hier 91; verfasst um ca. 500 n. Chr. mit großer Nähe zu Proklos; zur Forschungswie Wirkungsgeschichte siehe die Einleidung von A.M. Ritter, 29ff. Vgl. ebenfalls Die Namen Gottes (Hg. R.R. Suchla), Stuttgart 1988.

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selbst in seinem sich absolut selbst mitteilenden »Leben«, welches je neu dessen Präsenz beinhaltet, ohne syntaktischen oder rhetori­ schen Vermittlungen zu unterliegen.144 Insofern konnte Dionysos Areopagita sagen, dass das Göttliche eher mit »Leben und Güte gleichzusetzen« sei als mit »Luft und Stein«, auch wenn er in seinem letzten Kapitel V in Bezug auf Bejahung/Verneinung Gottes festhält, dieser könne weder »Kraft« oder »lebendig noch Leben« genannt werden, da das »wahrhaft mystische Dunkel« als »vollkommen unfassbar« anzusehen sei, um dennoch dabei eine »alles Begreifen übersteigende Gegenwart« festzuhalten. Eine solche Gegenwart ver­ langt zu ihrer Erfahrung die »uneingeschränkte Loslösung« von allem Seienden wie auch vor allem vom eigenen Ich. Deshalb lässt solche Anwesenheit eine jegliche Kennzeichnung für solchen »Ungrund« als Dunkelheit/Gegenwart dergestalt miteinander korreliert sein, dass als möglicher Offenbarungsmodus nur ein originärer Bezug von Dunkelheit/Begehren letztlich bestehen bleibt, welcher für den »Aufstieg« über jeden Geist hinaus die notwendige innere »Rein­ heit« thematisiert – nämlich im Verlangen »alles loslassend und von allem losgelöst«.145 Gemäß der durchgehend bezeugten Tradition christlicher Theo­ logie bedeutet Offenbarung in Bezug auf Gott mithin seine göttliche Selbstmitteilung ohne jede Einschränkung. Auch wenn diese zumeist mit Blick auf die Gläubigen auf das Wort der Schrift und das kirchliche Kerygma als Medium der Offenbarung Gottes »an die Welt« ausge­ richtet bleibt, so ist doch gerade durch die Mystik nicht zu verkennen, dass das Eigenwesen Gottes in einem Ursprung gegeben wird, der nur sich selbst verpflichtet ist, um diese absolute Selbstbindung mitteilend zu offenbaren. Sehen wir hier für unseren Zusammenhang einer kriteriologische Grundlegung des mystischen Phänomens im Einzelnen von den innertrinitarischen Modi der Selbstoffenbarung ab, die immer auch gleichursprünglich personale Relationen zwischen

Vgl. für diesen phänomenologischen Aufweis die drei letzten Werke von M. Henry, »Ich bin die Wahrheit.« Für eine Philosophie des Christentums, Frei­ burg/München 1997, hier bes. Kap. 2: »Die Wahrheit gemäß dem Christentum«; Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches. Freiburg/München 2002, Teil III: »Phä­ nomenologie des Heils«; Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg/München 2010. 145 Über die Mystische Theologie, 87f., 89f. u. 91f. 144

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Gott Vater und Gott Sohn im Heiligem Geist als Liebe sind,146 dann kann trotzdem bejaht werden, dass Gottes Selbstoffenbarung seiner innergöttlichen Selbstwahrheit als sich gebender Ursprung in ihrem Gehalt wie Vollzug insgesamt »Leben« ist. Unter Leben verstehen wir transzendental phänomenologisch daher jene Wirklichkeit, die den Grund und das Wesen des Erscheinens allein in sich selbst trägt, so dass die Selbstoffenbarung solchen Lebens immer nur dieses selbst sein kann. Und zwar letztlich auch dort, wo es die transzendente Viel­ falt als »Anderes«, welches dieses sich selbst begehrende Vermögen zur lebendigen Selbstoffenbarung nicht besitzt, mit umfasst, wie es unser leiblich sinnliches Verhältnis zur materiellen Welt zeigt, die ein solches Empfinden in sich selbst niemals kennt. Versteht man solches Leben in seiner phänomenologischen Absolutheit folglich als die absolute Selbstoffenbarung dessen, was sich weiterzeugend in sich selbst als »Gabe« mitteilen muss, dann bleibt nochmals zu sagen, dass das Absolute solchen Lebens die Verweigerung ist, sich selbst verweigern zu können. Diese unmittelbare Hineinnahme jedes lebendig Gegebenen als eines »In-Gott-Geboren-Seins« mit ihrem onto-do-logischen Hintergrund in die phänomenologische Wirklich­ keit Gottes impliziert daher, wie schon Claude Bruaire betonte,147 dass wir im uns gewährten Lebendigsein einem originären »Müssen« begegnen, das der sich niemals verweigernden »Gabe« des absoluten Lebens als dessen Sich-Geben phänomenologisch entspricht. Dieses immanente Müssen als Leben ist unser prinzipielles Bedürfen im Begehren, das seinem passiv phänomenologischen Wesen nach die reine Selbstaffektion des Erscheinens des Lebens in sich birgt, wie wir schon mit Michel Henry148 erwähnten. Denn solches Bedürfen bedarf vor aller Welttranszendenz, die es – in ihrer Wahrheit – nur als einen Mangel erscheinen lässt, zunächst seiner selbst, indem es als dauernde Empfindung, »das Leben leben zu müssen«, der affektiven Selbstergreifung des Lebens in sich selbst durch sich selbst bedarf. Das Flüchtigste und Zerbrechlichste, wenn es mit den Augen der Welt betrachtet wird, das heißt von außen wie Für den Zusammenhang von Trinität und Mystik vgl. Bernhard von Clairvaux, Predigten über das Hohe Lied XI »Gotteslob und Dreifaltigkeit« (S. 157–167); V. Lep­ pin, Die christliche Mystik, 15f. 147 Vgl. Pour la métaphysique, Paris 1980, 33f. 148 Vgl. M. Henry, Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phä­ nomenologie. Freiburg/München 1992, hier bes. 196ff., 262ff.; Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/München 1994, 279f. u. 323f. 146

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aus der Distanziertheit eines Schauspiels heraus, birgt anders gesagt als Immanenz eine absolute Bindung an sich selbst in sich selbst, die der Selbstbindung Gottes in der innergöttlichen Wesensoffenbarung als Lebensselbstzeugung kommensurabel ist. Dies wird in unserem Begehren bekundet, insoweit letzteres durch keinerlei Objekt erfüllt zu werden vermag, weshalb ideengeschichtlich die negative Theologie als christliche Mystik auch an Platons Idee vom »Guten jenseits des Seins« anschließen konnte. Dadurch wurde es gleichfalls möglich, Eros und Gottes Leben als das absolut Eine und Gute miteinander zu verbinden,149 was beispielsweise bei Bernhard von Clairvaux daran erkannt werden kann, dass zwar die »geistige Sehnsucht« vom »begehrlichen Fleisch« abgehoben wird, aber dennoch insgesamt das »Buch der Erfahrung« von jedem in Anspruch genommen werden soll, um Freude und Leid als die sinnliche Materie dieser Sehnsucht für den »Aufstieg zu Gott« zu nutzen, um dadurch das »Geschenk eines neuen Lebens« zu erproben.150 Diese Vergleichbarkeit eines ausschließlich in der transzendenta­ len Lebenseidetik statthabenden begehrenden Geschehens ist keine bloß körperliche Metapher unverbindlicher Erotisierung des Men­ schen oder eine kategorial sich verkennende Grenzüberschreitung der analogia entis etwa. Jede Metapher wie Analogie oder sonstige sprachliche Performanz impliziert nämlich einen Vergleichsraum bzw. einen Kontext mit ihren unendlichen Weiterverweisungen im intentionalen wie dekonstruktivistischen Sinne, während wir die rein phänomenologische Selbstoffenbarung Gottes und das Bedürfen des Menschen im Sinne selbstaffektiven Begehrens als immanent absolutes Leben fassen müssen. Wir wissen gegenreduktiv – das heißt diesseits ekstatischer Vorstellung – vom Leben nur, sofern wir ohne jede Unterbrechung im passiblen Empfindungsvollzug als originärer cogitatio »im Leben sind«, mit anderen Worten ständig in dieser selbstaffektiven Ankünftigkeit als unserer immemorialen Geburt im Leben gezeugt werden. Wir können daher nichts erfahren, Vgl. für den Bezug von Sein/Gutem Dionysios Areopagita, Über die Mystische Theologie, Kap. 1 (S. 87f.); zur Unterscheidung von Begehren/Begierde (Fleisch) siehe bereits R. Kühn, Ungeteilheit – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung. Ein radikal phänomenologisches Gespräch mit Meister Eckhart, Leiden/Boston 2012, 173ff.; sowie zur platonischen Idee des Guten J. Derrida, Wie nicht sprechen, 57ff. 150 Vgl. Predigten über das Hohe Lied II-III (S. 61f. u. 77f.); siehe auch Predigt XXXV »Aufstieg zur geistlichen Hochzeit: Erleuchtung, Reinigung, Einigung« (S. 629–647); dazu M. Döbler, Die Mystik und die Sinne, 165ff. 149

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was uns nicht durch diese transzendentale »Erfahrung« als und in solchem Leben vorgegeben wäre, so dass auch alles theologische oder mystische Sprechen von einer Selbstoffenbarung oder -mitteilung Gottes an diese Urphänomenalität als an unser eigentliches Wesen zurückgebunden bleibt. Ohne die unmittelbare Erprobung unseres Lebens in diesem ausschließlich präreflexiven Sinne gäbe es keinen Zugang zu Gottes offenbarendem Leben in uns, weshalb der Ansatz einer religionswissenschaftlichen Körperaisthetik, so innovativ er auftritt, in seiner mystischen Fundierung zu vertiefen bleibt.151 Wenn beispielsweise Simone Weil daher in einer ihr eigenen wahrnehmungsreflexiven Analyse sagte, Gott habe »in unsere Sinn­ lichkeit selbst eine Offenbarung eingeschlossen«,152 so ist dies letzt­ lich nicht nur als eine Radikalisierung der praktischen Erkenntnissyn­ thesis a priori im platonischen wie kantischen Sinne zu verstehen, sondern in einer gegenreduktiven Epoché auf das Wesen dieser Sinn­ lichkeit als Sich-Bedürfen oder Sich-Affizieren selbst anzuwenden. Als reines Bedürfen der Passibilität fleischlicher Sinnlichkeit schließt das Leben absolutes Sich-Offenbaren in all seinen Modalisierungen ein, die als Grundlage für jedes mystische Begehren als Sehnsucht (desiderium) gelten, denn es ist eine reine Praxis, die durch den unaufhebbaen Übergang von Bedürfen/Begehren begründet wird. Daher sind auch historische Erscheinungen der Mystik im »Hesy­ chasmus« der orthodoxen Frömmigkeit oder im »Quietismus« bei Madame de Guyon (1648–1717)153 und ihrem kirchlich verurteilten Verteidiger Erzbischof Fénélon (1651–1715) kein bevorzugtes Ziel der Mystik an sich, dem auf der anderen Seite eine entschiedene Weltzuwendung wie schon bei Hugo von St. Viktor oder Johannes Tauler entgegenstünde.154 Vielmehr kann »mystische Erfahrung« in 151 Vgl. C. Aus der Au u. D. Plüss (Hgg.), Körper – Kulte. Wahrnehmungen von Leiblichkeit in Theologie, Religions- und Kulturwissenschaften, Zürich 2007; Falsafa. Horizonte islamischer Religionsphilosoohie 2 (2021): Religion und Ästhetik (Hg. A.M. Karimi). Siehe auch bereits R. Kühn, Ästhetische Existenz heute. Zum Verhältnis von Leben und Kunst, Freiburg/München 2007. 152 Intuitions pré-chrétiennes. Paris 1951, 169 (dt. Vorchristliche Schau. MünchenPlannegg 1959, 151); vgl. auch unser folgendes Kapitel III,1. 153 Vgl. Esquisse d'une morale sans obligation et sanction, Paris 1885. 154 Vgl. Bonaventura, Der Pilgerweg der Seele zu Gott, Kap. VIII,3 (S. 103), wo zwar die Erkenntnis zur Ruhe gelangt, das Liebesvermögen aber den »Hinübergang« (tran­ situs) verwirklicht; V. Leppin, Die christliche Mystik, 42ff.; M. de Certeau, La fable mystique, 2 Bde., XVIè-XVIIè siècle, Paris 1982 u. 2013 (posthum); sowie auch zum Abnehmen dieses mystischen Erbes in dieser Zeit J. Le Brun, »Histoires de la mysti­

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allen Lebensmodalisierungen verortet sein, weshalb Henry sie auch als prinzipielle »Praxis des Gefühls« in dessen Vollzug und Verfeine­ rung einschließlich Gemeinschaftsbezug verstand. Sehen wir daher solches Gefühl als Übergang von Bedürfen/Begehren im Sinne von Gottes Selbstoffenbarung als originärem Grund eines solch absoluten Übergangs, dann lässt sich ein diesbezügliches Gefühl außer bei Bergson – auch mit der »historischen Existenz« gemäß Heidegger155 parallel sehen, das heißt als ursprünglich gegebene Subjektivität in ihrem je einmalig subjektiven wie umwelthaftem Vollzug. Dieser originär fleischliche Übergang kann sich in keiner bloß mundanen Beschreibung des reinen Bedürfens als Begehren erschlie­ ßen, sofern gilt, dass die Welt an sich in ihrer Veräußerung des Außen der Ort eines unabschließbar hermeneutischen Vergleichs ist, wozu auch die Psyche im modernen Sinne gehört. Das apophati­ sche Verständnis dieses Verhältnisses von Bedürfen/Begehren gilt nämlich nicht für die Selbstaffektion im Sinne absoluter Ur-Ipseität des Lebens, die in sich – da distanz- und weltlos – jede zeitliche wie unbewusste Identifizierung mit etwas anderem – und sei es zu Zwecken der Negation – ausschließt. Rein originär verhält es sich dergestalt, dass sich erst über ein transzendentales Bedürfen – nämlich im Sinne der absolut notwendigen Lebensangewiesenheit unseres passiblen Erfahrenkönnens überhaupt – Erscheinungen zu manifestieren vermögen, insofern sie sich in einem pathisch begeh­ renden Ur-Erscheinen phänomenalisieren, das sich selbst aufgrund seiner Unmittelbarkeit nie in einer methodisch distanzierten Schau zeigen lässt. Das Angewiesensein von Erscheinungen überhaupt auf ein selbstaffektives Erscheinen lässt das Sich-Bedürfen des stets lebendigen Begehrens daher zu einem »gesättigten Phänomen« im Sinne Jean-Luc Marions156 werden, wie dieser es insbesondere für que, du déclin de la mystique au XVIIè siècle«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, de l'Antiquité à nos jours, Brüssel 2005, 163– 174; J. Guyon, Die geistlichen Ströme. Die Heimkehr des Menschen zu Gott, Marburg 1978; F. Fénelon, Explication des Maximes des Saints sur la vie intérieure, Paris 2014; R. Spaemann, Reflexion und Spontaneität. Studien über Fénelon, Stuttgart 1963; L. Devillairs, Fénelon. Une philosophie de l'Infini, Paris 2006. 155 Vgl. Phänomenologie des religiösen Lebens, 51ff. u. 322ff. 156 Vgl. Etant donné. Essai d'une phénoménologie de la donation, Paris 1997, 280f. (dt. Gegeben sein. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/ München 2015); dazu M. Staudigl (Hg.), Der Primat der Gegebenheit. Zur Transfor­ mation der Phänomenologie nach Jean-Luc Marion, Freiburg/München 2020; in

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Offenbarung, Leib, Erotik und Schönheit im Unterschied zu den »phä­ nomenarmen« Wahrnehmungsbeispielen geometrischer Gebilde bei Kant und Husserl aufgewiesen hat. Dieser Gesichtspunkt wird von Jacques Derrida157 nicht ausreichend berücksichtigt, der in der negati­ ven Theologie – obwohl sie alle Verfahren von Epoché, Reduktion und »Verknappung« der Sprache in sich verzeichne – nur ein universales Archiv von Diskursen über das Unmögliche im Sinne einer nie gegenwärtig gewordenen »Spur« erblickt. Denn nichts lebt phänomenologisch so gewiss wie das Bedürfen in seiner unmittelbaren Selbstgewissheit, die als Hyle, Potentialität, Kraft und Begehren von keiner Vorstellung archetypisch in ihrem Wesen vorgezeichnet und erfüllt zu werden vermag, wie es auch gegenüber C.G. Jung zu sagen bliebe, der Religion und Mystik als kollektive Archetypen intergrieren wollte.158 Denn alle formal noeti­ schen Akte eines gegebenen Bewusstseinsvollzuges bleiben bestimmt von der affektiven Ur-Konkretion der jeweils noematischen Inhalts­ intentionalität, auch wenn diese im Vor- oder Unbewussten anhebt. Dadurch nähert sich das fleischlich selbstimpressionale Bedürfen der Frage nach der Selbstoffenbarung Gottes als dem Wesen des Ur-Erscheinens an, denn auf der Ebene der Vorstellungen, Bilder, Symbole, Heiligen Schriften, Dogmen etc. kann ein Gottesbild mit dem anderen um den Anspruch nach »Wahrheit« nur im Sinne einer theoria oder einer besseren kulturellen Praxis wetteifern. Die Ein­ klammerung einer Religionswissenschaft wie -philosophie auf einer diesbezüglich hermeneutischen Ebene welcher Art auch immer, deren Fruchtbarkeit für komparative, spirituelle, soziale wie existentielle Haltungen in keinerlei Weise zu beschneiden ist,159 bedeutet also keine andere radikal phänomenologische Wahl, als die Gewissheit der Affektivität als unumgehbar immanentes Lebenswissen in dessen grundsätzlicher Nicht‑Vorgestelltheit zu vertiefen. Dies leistet die Mystik mit Begriffen wie Wüste, Nacht, Dunkelheit, Gelassenheit oder Abgeschiedenheit im Sinne eines prinzipiellen »Nicht-Wissens« (agnosía) seit Sokrates, Platon und Proklos bis hin zur mittelalterli­

Abgrenzung unter anderem von Marion siehe ebenfalls E. Falques, Hors phénomène. Essai aux confins de la phénoménalité, Paris 2021. 157 Vgl. Über den Namen, 65ff.; Wie nicht sprechen, 24ff. 158 Vgl. Psychologie und Religion, München 2001, 81ff. 159 Vgl. bereits unsere Hinführung und Grundlegung, Kapitel 2.

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chen Mystik,160 wobei wir diesen kriteriologischen Impuls für eine originäre Identität von Bedürfen/Gegenwart des Ursprungs als Prä­ senz hier aufgreifen. So sagte bereits Dionysos Areopagita grundle­ gend am Schluss seines Traktats: »[Die Allursache] entzieht sich jeder (Wesens-)Bestimmung, Benennung und Erkenntnis. Sie ist weder mit Finsternis noch mit Licht gleich zu setzen, weder mit Irrtum noch mit Wahrheit.«161 Dabei handelt es sich für den radikal phänomenologischen Bezug von Bedürfen/Begehren als Absolutem um keine beliebige philoso­ phische Entscheidung, die etwa bei Friedrich Schleiermacher oder Rudolf Otto das plötzlich hereinbrechende Numinose besser durch das »Gemüt« als durch den Verstand entgegengenommen sieht.162 Denn es liegt auf der Hand, dass das affektive Wesen des Bedürfens an die originäre Erscheinensphänomenalisierung überhaupt gebunden ist – und nicht an eine kontingente Differenz von ratio/affectus inner­ halb unseres empirisch anthropologischen Wesens. Damit dürfte auch der theologie-epistemologisch gemeinte Hinweis bei Hans Urs von Balthasar in entgegengesetzte Richtung überwunden sein, christliche Religion sei nicht auf ein menschliches »Bedürfnis« zurückzuführen, da die Selbstoffenbarung Gottes nur die »Herrlichkeit« seiner Liebe in deren eigenem Glanz (kabod) zum Gegenstand habe.163 Denn einerseits handelt es sich beim phänomenologischen Bedürfensbegriff nicht um irgendeine natural gedachte »Anlage« des Religiösen, son­ dern um die transzendentale Mächtigkeit des Offenbarens in dessen Selbstoffenbarung, und zum anderen ist Gottes »Herrlichkeit« gerade 160 Vgl. W. Beierwaltes, Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wir­ kungsgeschichte, Frankfurt/M. 1985; ebenfalls Bonaventura, Der Pilgerweg der Seele zur Gott, Kap. VII,5 (S. 104), der den »unsagbaren Überschritt (excessus)« in die Ein­ heit »ohne Wissen« festhält. 161 Über die Mystische Theologie, 93. 162 Vgl. für einen begriffsgeschichtlichen Überblick M. Schreiner, Gemütsbildung und Religiosität, Göttingen 1992; außerdem A. Wilke, »Rudolf Otto's West-Östliche Mystik, die Problematik des interreligiösen Dialogs und der Vergleich Eckhart – Sankara«, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 49/1 (1997) 34–70; M. Döbler, Die Mystik und die Sinne, 53–59; J. Lauster u.a. (Hgg.), Rudolf Otto – Theologie, Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, Berlin 2014, 293ff. 163 Vgl. Glaubhaft ist nur die Liebe. Einsiedeln 1963, 5f. u. 24ff. (»Anthropologische Reduktion«); 44ff. (»Das Versagen der Liebe«– gemeint ist der Eros). Für die Herrlich­ keit der Kenose Christi auch »Mysterium paschale«, in: J. Feiner u. M. Löhrer (Hgg.), Mysterium salutis. Grundriss heilsgeschichtlicher Dogmatik III/2, Einsiedeln/Köln, 1969, 143f.

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das sich selbst gewiss bleibende Leben in dessen inkarnierter oder christusmystischen Passiblität »bis zum Gehorsam am Kreuze« (Phil 2,8).164 Allein darauf lässt sich ein rein praktischer Mystikvollzug zurückführen, der an keine Symbolik mehr gebunden ist, was etwa bei Mechthild von Magdeburg zum Ausdruck kommt, wenn bei der Aufforderung zu ihrer Entkleidung im Brautgemach Christi innerhalb der Trinität von Christus gesagt wird: »Ihr sollt allein die Tugend, die Ihr von Natur aus in Eurem Innen lebt, auf ewig fühlen. Das ist Euer edles Verlangen und Euer unendliches Begehren.« Nach dieser positiven Bestimmung des letzteren heißt es weiter: »Darauf tritt da eine selige Stille ein, wie es beide wollen. Er schenkt sich ihr sie schenkt sich ihm. Was ihr jetzt geschieht, das weiß sie – und dies ist mein Trost.« 165 Ihr »Wissen« ist mithin eine jouissance ohne Worte, die nach Jacques Lacan166 alle Signifikanten aufhebt, um ein Begehren jenseits von deren diskursivem Gesetz sich erfüllen zu lassen. Die Identität der Phänomenalisierung von Bedürfen und Selbstoffenbarung Gottes beruht mithin auf dem rein phänomeno­ logischen Sachverhalt, dass das Offenbarwerden der Offenbarung nicht irgendein Phänomen ist, sondern das, was sich als Selbsterschei­ nen in jedem Begehren phänomenalisiert, wobei sich die absolute Selbstaffektion in Gott und die Selbstaffektion in uns als unsere transzendentale Geburt in dem einen absoluten Leben Gottes glei­ chursprünglich vollzieht. Denn in beiden Fällen, das heißt in Gottes Selbstzeugung sowie in unserer Affektabilität als ständigem Bedürfen als Begehren des absoluten Lebens, bietet sich die Phänomenalisie­ rung dieser lebendigen Phänomenalität als eine rein phänomenolo­ gische Materie der Passibilität dar, deren stets gegebenes Wesen es ist, die Ur‑Phänomenalität in ihrer effektiven Präsenz als die einzige sich-offenbarende Wirklichkeit schlechthin zu sein. Deshalb kann auch von einer me-ontologischen Metaphysik im Sinne Eugen Finks gesprochen werden, ohne allerdings dessen »Selbsttrennung« Vgl. R. Kühn, Der Erst-Lebendige. Christologie leiblicher Ursprungswahrheit, Freiburg/München 2021, 149ff. 165 Das fließende Licht der Gottheit (Hg. G. Vollmann-Profe), Frankfurt/M. 2003, Kap. I,44; vgl. auch Hadewijch, Das Buch der Briefe, 9. u. 11. Brief (Hg. G. Hofmann), St. Ottilien 2010, 97f. u. 102; Bernhard von Clairvaux, Predigten über das Hohe Lied LXXI »Einigung: Gott und Mensch« (S. 443–463). 166 Vgl. Das Seminar XX: Encore, Berlin-Weinheitm 1986; 71ff.; außerdem S. Rinke, »Das ›Genießen Gottes‹. Medialität und Geschlechterkodierungen bei Bernhard von Clairvaux und Hildegard von Bingen, Freiburg/Br. 2006. 164

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des Lebens im Reduktionsvorgang mitvollziehen zu müssen: »Im Vollzug der Reduktion versetzt sich das transzendentale Leben aus sich selbst heraus, indem es den ›Zuschauer‹ hervorbringt; es spaltet sich selbst, trennt sich selbst. Aber diese Trennung ist die Bedingung des Selbstgeschehens der transzendentalen Subjektivität.«167 Was in Gott phänomenologisch gleichwesenhaft wie im Bedür­ fen geoffenbart wird, ist nämlich die Selbstoffenbarung des ewig sichzeugenden Lebens als Offenbarung des Offenbarwerdens, anders gesagt die Selbstoffenbarung in ihrem eigenen Begehren vor aller Zeit, ohne die Negativität einer selbstgesetzten Kluft, Leere oder Andersheit überwinden zu müssen, wie dies der deutsche Idealismus im Anschluss an Jakob Böhme168 versuchte. Die absolute Selbstoffen­ barung, deren Phänomenalität die Phänomenalisierung der Phäno­ menalität selbst ist, kommt ohne alles andere aus, das heißt ohne all dessen, was nicht ihre eigene ur-phänomenologische Materie oder lebendige Substanz im Sinne des Selbstpathos wäre. So schreibt Dionysos Areopagita in seinem Brief an den Mönch Gaius: »Wenn aber jemand Gott schaute und sich dessen bewusst war, was er schaut, dann schaute er nicht etwa ihn selbst, sondern (nur) etwas an ihm, das der Seinswelt angehört und (entsprechend) erkennbar ist.«169 Wenn das Christentum daher das Prinzip aller Dinge in Gott hinein verlegt, dann sagt es genau diese seine Offenbarung als rein phänomenologisches Wesen aus, das nichts anderes ist, als dass es sich selbst offenbart, weshalb eine Subsumierung des Christentums unter eine griechisch gedachte Onto-Theologie, Metaphysik oder Existenzialhermeneutik letztlich nicht statthaben kann, auch wenn die Tradition bisher zumeist so verlaufen ist, wovon die Mystik sich abzulösen versucht. Der Kernsatz des Christentums lautet nämlich: Gott offenbart sich – und dies bedeutet für die Menschen, dass er mit 167 Vgl. VI. Cartesianische Meditation. Teil I: Die Idee einer transzendentalen Metho­ denlehre (Husserliana-Dokumente 2/1), Dordrecht 1988, 37 (§ 4). 168 Vgl. Mysterium Pansophicum oder Gründlicher Bericht von dem irdischen und himmlischen Mysterio (Hg. G. Wehr), Freiburg/Br. 1980; Historisch-kritische Gesamtausgabe, 30 Bde. (Hg. G. Bonheim), Bad Cannstatt 2020; D. Schoeller-Reisch, Enthöhter Gott – vertiefter Mensch. Zur Bedeutung der Demut, ausgehend von Meister Eckhart und Jakob Böhme, Freiburg/Br. 2002; G. Wehr, Jakob Böhme, Ursprung, Wirkung, Textauswahl, Wiesbaden 2010; H.J. Friedrich, »Der Ungrund Böhmes in Schellings Freiheitsschrift«, in: A. Quero-Sanchez (Hg.), Mystik und Idealismus. Eine Lichtung des deutschen Waldes, Leiden-Boston 2020, 301–324. 169 Über die Mystische Theologie und Briefe, 94.

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ihnen seine ewige Selbstoffenbarung teilt, weil er nichts anderes und nicht weniger als sich selbst in seiner Lebendigkeit zu geben hat, wie besonders Meister Eckhart festhält.170 Gott sagt den Menschen nicht irgendeinen Glaubensinhalt, der nur für Eingeweihte zu entbergen oder zu entziffern wäre, sondern er »sagt sich« als die Selbstphänome­ nalisierung des absoluten Lebens, die jedem Lebendigen als solchem eignet. Was folglich auch Sprach- wie Religionsphilosophie oder Kulturwissenschaft auf solchem Hintergrund zu bedenken haben,171 ist diese originär phänomenologische Wirklichkeit der Religion als die überwältigende Selbstgebung des Lebens, die gerade für die Mystik jedem Wort als Ausdruck, Zeichen, Symbol, Bedeutung oder Satz wesenhaft voraus liegt. Im Neuen Testament heißt es daher schon in aller notwendigen Klarheit vom Wesen Christi als dem mit Gottes Selbstoffenbarung identischen »Sohnsein«: »Ich bin nicht von der Welt.« (Joh 17,14), was in jeder chrisstusmystischen Praxis seinen Widerhall findet, ohne sich in diesem Ursprungsverhältnis von der Welt im Tun abzukehren. Entsprechend hielt auch schon Dionysos Areopagita an der Verborgenheit Gottes in der inkarnatorischen Erscheinung Christi fest: »Verborgen ist er aber selbst noch solchem Offenbarwerden, um es in einer gottgemäßeren Weise auszudrücken, selbst im Vollzuge solchen Offenbarwerdens.«172

170 Vgl. Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München 1979, 174f. (Predigt 5); siehe auch Meister-Eckhart-Jahrbuch 15 (2021): Leben. 171 Vgl. M. van Brück, Wie können wir leben? Religion und Spiritualität in einer Welt ohne Maß, München 2002; A. Banerjee (Hg.), Mystik und mystische Spiritualität. Ein Dialog in den Weltreligionen, Hamburg 2020. 172 Brief an den Mönch Gaius, in: Über die Mystische Theologie und Briefe, 95; vgl. Bernhard von Clairvaux, Predigten über das Hohe Lied LXX »Inkarnation als Selbst­ entäußerung« (S. 429–441).

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Was daher jede Religionsphilosophie im Kontext klassischen Seins-, Bewusstseins- oder Geschichtsdenkens – aber auch gegenwärtiger analytischer oder post-strukturalistischer Sprachphilosophien – nicht gänzlich zur Kenntnis nimmt, ist der rein phänomenologische und zentrale christliche Sachverhalt, Gott sei in seinem Wort »Fleisch« geworden (Joh 1,14). Wie immer hierzu die einzelnen exegetischen, gnostischen und philosophischen Spekulationen um die Offenba­ rungsdramatik dieser Passibilität von lógos und sárx lauten -in seinem phänomenologischen Selbsterscheinen ist dieses »Fleisch« in unse­ rem Mystikverständnis nicht von der Affektabilität als Ur-Phänome­ nalisierung des absoluten Lebens abtrennbar. So schreibt Bernhard von Clairvaux, dass die Weisheit Gottes eine »Fleisch gewordene Weisheit ist« und daher »Gott sich mit dem Fleisch vereint hat«, so dass bei aller metaphysischen Trennung von Geist/Fleisch dennoch die »Lehrmeisterin Erfahrung« lehren könne: »Er bot Fleisch denen, die nach Fleisch Geschmack hatten, durch dieses Fleisch sollen sie lernen, auch am Geist Geschmack zu finden«.173 Mithin darf behaup­ tet werden, dass die innergöttliche Selbstoffenbarung nicht nur in einem menschlich leiblichen Dasein »appräsentiert« wird, um etwa Husserls psycho-physische Beschreibung der Fremderfahrung aus den »Cartesianischen Meditationen« im § 50 aufzugreifen. Vielmehr kann sich Gottes Selbstoffenbarung aufgrund ihrer prinzipiellen Nicht-Vorgestelltheit wesenhaft nur in dem in-karnatorisch äußern, was auch bei jedem Individuum eine prinzipielle Nicht-Vorgestellt­ heit einschließt – nämlich genau das affektive Leben als unsere selb­ stimpressionale Verfleischlichung im Sinne unseres absoluten Bedür­ fens wie Begehrens als originär Lebendigen. Damit ist dreierlei phänomenologisch wie mystisch für das Folgende eingeholt: Predigten über das Hohe Lied VI,3–8 (S. 103, 107 u. 109); M. Döbler, Die Mystik und die Sinne, 160f., der den Zusammenhang von Anthropologie und Soteriologie betont.

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a) Gottes absolut nicht erinnerbare Ursprünglichkeit als aprio­ risch vorgängiger Grund und das existentiell Ephemerste des Men­ schen in dessen absolut bedürftigem Grund auf der rein passiven Ebene von Sinnlichkeit als Eindruck, Empfindung, Gefühl, Begehren, Anstrengung etc. schließen sich nicht aus und ignorieren sich nicht, sondern sie werden gerade zu ein und derselben Offenbarungswirk­ lichkeit, nämlich zu jener der immanenten Passibilität. b) Christologisch gesehen, beruht hierin jedes Kind- bzw. Sohn­ sein als unsere transzendentale Ur-Geburt aus dem absolut sich gebenden Leben Gottes selbst heraus, worin alle mundan sichtbaren Unterschiede wie Mann/Frau, Herr/Sklave etc. von vornherein auf­ gehoben sind, denn letztere berühren nicht unmittelbar die ursprüng­ liche Ipseität dieser je subjektiven Gebürtigkeit als Sich des absoluten Eingetauchtseins ins rein phänomenologische Leben. c) Mit der Verfleischlichung oder Inkarnation des Logos als Affektivität treten Kosmos und Geschichte ebenfalls in eine Verle­ bendigung ein, die dem nicht vorstelligen Bedürfen einen »Ort« in der »Welt« zuweist, welche ihrerseits damit ihre Realität vorintentio­ nal aus der subjektiven Praxis der Sinnlichkeit und des Handelns heraus bezieht. Damit sind in einem originären Mystikverständnis Lebens- wie Welthingabe ein und dasselbe aufgrund des je unmittel­ bar verlebendigten Sich, welches keine originäre Trennung von vita contemplativa und vita activa in seiner Ipseisierung kennt, sofern im Leben Begehren und Bewegung identisch sind. Da die Frage unseres »Sohnseins im Sohn«, das heißt im Logos, als transzendentale Geburt andernorts schon eingehend behandelt wurde,174 können wir hier darauf verweisen und uns der Analyse der Gott selbstoffenbarenden Fleischwerdung als Liebe und Gehorsam in unserem Bedürfen zuwenden, wobei sich Liebe und Gehorsam als phänomenologische Modi im Sinne der Passibilität im imma­ nent mystischen »Übergang« von Bedürfen/Begehren zum Tun als solchem hin erweisen. Dabei schließen wir uns der einsichtigen Überzeugung Xavier Tilliettes175 von der Notwendigkeit einer »phi­ losophischen Christologie« an, worin nicht nur die Rechtfertigung 174 Vgl. M. Henry, Radikale Religionsphänomenologie. Beiträge 1943–2001, Frei­ burg/München 2015, 161–189: »Wort und Religion – das Wort Gottes«; »Ich bin die Wahrheit, 135–156. 175 Le Christ de la philosophie. Prolégomènes à une christologie philosophique, Paris 1990, sowie schon S. Breton, La Passion du Christ et les philosophies, Teramo 1954; D. Remmel, Die Leiblichkeit der Offenbarung. Zur anthropologischen, offenbarungs­

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einer eigenständigen Christologie aus philosophischer Sicht über­ haupt begründet wird, sondern wo auch deutlich zutage tritt, dass sich eine konsequente Religionsphilosophie implizit stets schon zu einer solchen Christologie hin auf dem Weg befindet, sofern es philosophisch um Wahrheit geht, die nicht ort- oder inkarnationslos sein kann. Zeichnete sich in der Tat bereits in der originären Phä­ nomenalisierung die absolute Lebensbedingung als ein »Müssen« der Selbstgebung Gottes als solcher innerhalb von dessen rein imma­ nentem Sich-Offenbaren aus, die dem Müssen unseres Bedürfens als permanentem Sich-Bedürfen der Lebensaffiziertheit entspricht, so wird dieses phänomenologische wie mystische Grundwesen der Nicht‑Verweigerung auf der modalen Ebene christologischer Fleisch­ lichkeitswerdung konkret zum Gehorsam: Er hat in seinem Dasein »durch Leiden Gehorsam gelernt«, sagt der Hebräerbrief 5,8, was die spätere »Christusmystik« aufgreifen wird. Aber lernen lässt sich nur, was als Potentialität angelegt ist, das heißt, wo die leiblichen Dispositionen das »Gedächtnis« (memo­ ria) der selbstimpressionalen Möglichkeiten selbst bilden, welche die Lebenspassibilität prinzipiell beinhaltet.176 Die christologische Kenose ist somit – lebensphänomenologisch in ihrer mystischen Struktur gesehen – eine assumptio des Affiziertwerden-Müssens, um überhaupt inkarnatorisch leben zu können, in die göttliche Offen­ barungswesenhaftigkeit als absolute Lebensselbstmitteilung hinein, insofern der lebendige Gott nicht weniger als sich selbst in seiner Selbstgabe geben kann. Oder aus der Sicht der ewigen Lebensselbst­ zeugung heraus gesehen, ist die »Inkarnation« die prinzipielle Korre­ lation von Leben/Fleisch innerhalb des göttlichen Offenbarungsvoll­ zuges selbst, denn das Wort als Sohn ist die Ipseität des Lebens als sich-erleidendes – ist Leben als Passibilität, das heißt als »Fleisch« in dessen Ur-Phänomenalisierung, welche originärer als alle cogito/ cogitata ist. Insofern ist Christi Fleisch als selbstaffektives Gedächt­ nis solcher innergöttlichen Passibilität »Gehorsam« schlechthin, was Meister Eckhart im Anschluss an Dionysios Areopagita dahingehend

theologischen und christologischen Relevanz der Lebensphänomenologie Michel Henrys, Innsbruck-Wien 2021, 508ff., zur transzendentalen Christologie. 176 Vgl. M. Henry, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München 2016; R. Kühn, »Ich kann« als Grundvollzug des Lebens. Analysen zur material phänomenologischen Handlungsstruktur, Dresden 2022.

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zusammenfasst, dass wir ursprünglich »Gott-Erleidende« sind.177 Erst damit wird letztlich verständlich, dass die »Leidenschaften« auf dem Grund ursprünglichen Begehrens direkter zu Gott hintragen als alle erkenntnisgebundene Symbolik, wie derselbe Dionysios in einem maßgeblichen Hinweis für den Bezug von Gott und immanenter Lebensbewegung zu verstehen gibt: »Der den Leidenschaften unter­ worfene (Seelen-)Teil, mit [dem leidenschaftslosen Seelenteil] fest verbunden, ihm zu Diensten ist und zugleich zum Göttlichen empor­ strebt, entlang den im voraus bereitgestellten Symbolen mit Präge­ kraft.«178 Die Fleischwerdung Christi »im Anfang« Gottes kann außerdem Gehorsam genannt werden, weil das menschliche AffiziertwerdenMüssen der innergöttlichen Liebe des Logos (Sohnes) zum Vater ent­ spricht – einer Liebe, die nicht anders vermag, als sich liebend zurück­ zugeben, ohne allerdings die Ursprungsgabe (Vater) selbst jemals restituieren zu können, womit wir einen der Grundcharaktere der rein phänomenologischen Selbstgebung wieder finden. Durch diese Nicht-Restituierbarkeit des ursprünglich göttlichen Gebens aus des­ sen zeitlosem Anfang heraus ist die Liebe zugleich Gehorsam gegen­ über einer immemorialen Vorgängigkeit, ohne diese in einem zeitli­ chen Vorher als Vergangenheit betrachten zu können. Dies würde es ebenfalls erlauben, den Gedanken der »Spur« als Vorgegebenheit, die niemals Gegenwart würde und auch die Zukunft als Versprechen oder Verheißung bestimmt, in diese Lebensimmanenz zu integrieren, ohne die »Nachträglichkeit« (Supplement) bzw. die hyperbolische Transzendenz des Anderen gemäß Levinas und Derrida als Distanz und Kluft verstehen zu müssen. Denn Gehorsam bezeichnet derge­ stalt als rein phänomenologische Modalität für den Menschen der transzendentalen Geburt die Annahme der Verfleischlichungs-Gabe der originären Lebensbedürfens-Verwiesenheit aus der sich ihrerseits nicht verweigern könnenden Vater- wie Sohnesliebe als gegenseitig göttlicher Innerlichkeit heraus.179 In der Affektivität der Lebensgeburt sind Liebe und Gehorsam ein Wesen, weil unser Affiziertsein durch Vgl. Deutsche Predigten und Traktate, 431 (Predigt 58). Brief an den Bischof Titus, in: Über die Mystische Theologie und Briefe, 115; ebenfalls Bernhard von Clairvaux, Predigten über das Hohe Lied XXXI »Auf dem Weg zur Anschauung Gottes« (S. 487–501). 179 So spricht auch Bonaventure, Der Pilgerweg der Seele zu Gott, vom »gegenseiti­ gen Innesein« als einem »Sich-Geben« oder »Verströmen« zur Gänze innerhalb der Trinität als Gutsein; Kap. VI,2 (S. 92f.). Der »erhabenste Kuss« ist für Bernhard von 177

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die absolute Lebensgabe Gottes zugleich jene Weise ist, im Leben aus diesem passiv gehorsamen Empfangen heraus dieses Leben wiederum mit der Affektivität dieses Selbstaffizierens zurückzulieben. Und damit seinen »Geber«, der das Sich-Geben der phänomenologischen Gebung innerhalb der impressional fleischlichen Passibilität selbst ist, ohne sich diesen namenlosen Geber irgendwie reflexiv repräsentieren zu können, wie sowohl Jacques Derrida wie Jean-Luc Marion es aufgewiesen haben.180 Wenn der Sohn (Logos) sodann in seinem irdisch inkarnatori­ schen Dasein gleichfalls in allem »den Willen des Vaters« tut (Mth 12,50), so bleibt konsequenterweise jede einzelne Erfüllung dieses Vaterwillens an das gehorsam liebende Sohneswollen des Lebens in sich als onto-do-logische Fülle zurückgebunden. Der Gehorsam als Antwort der Sohn- oder Kindschaft in jedem Lebendigen wäre im Hinblick auf unser Sprechen und Tun für eine strukturell betrachtete Mystik daher die Wahrheit allen Sagens und Handelns in Überein­ stimmung mit unserem Begehren aus dem Bedürfen als Passibilität der sich immanent verfleischlichenden Offenbarung Gottes zwischen Vater und Sohn heraus. Die innertrinitarischen Bezüge sind somit originäre Modalitäten des von uns selbstempfundenen und verwirk­ lichten Lebens, so dass ihre erfahrungsrelevante Bezeugung durch die christliche Mystik sowohl von der Selbstoffenbarung Gottes wie von unserem transzendentalen Lebensvollzug her einsichtig gemacht werden kann. So bemerkte beispielsweise bereits Dionysos Areopa­ gita: »Über-wesentliche, übergöttliche und übergute Dreifaltigkeit, Leiterin und Hüterin des Wissens um Gott [...], das im Geheimen belehrt, in einem Dunkel, das doch über alle Deutlichkeit ist [...], in dem alles widerleuchtet.«181

Clairvaux das »wechselseitige Erkennen des Sohnes und des Vaters [und] die gleiche Liebe ineinander«; Predigten über das Hohe Lied VIII,1 (S. 121). 180 Vgl. R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »philosophischer Mystik«, Dresden 2018, 233–266: »Mystikrezep­ tion und Dekonstruktion seit Heidegger«, hier bes. 246ff. Allerdings besitzt bei beiden die Mystik keine eigene kriteriologische Funktion, wie wir sie in unserer vorliegenden Untersuchung herausarbeiten. 181 Über die mystische Theologie und Briefe, 87f. Auch zitiert von Bonaventura, Der Pilgerweg des Menschen zu Gott, VII,5 (S. 104); vgl. ebenfalls Bernhard von Clairvaux, Predigten über das Hohe Lied LXXX »Begriff und Wirklichkeit Gottes« (S. 569–581).

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Das Wollen des Lebens selbst ist nämlich radikal phänomenolo­ gisch zunächst nicht dieses oder jenes besondere Wollen, sondern sein lebendiges Sich-Selbst-Wollen. Sofern aber dieses Lebensselbst­ wollen mit dem lebendigen Wollen des Absoluten als Lebensgabe aus dem Ursprung (Vater) heraus identisch ist, beinhaltet das ständig lebensbedürftige Lebensselbstwollen des Menschen Gottes Wollen als die sich im Sich-Geben erfüllende Lebensgabe. Ihr entspricht daher zutiefst unser modales Begehren in allem, wenn wir von den sekundären Vorstellungen des Bedürfens dabei absehen, um die scheinbare Autonomie eines begehrenden Gedankens im Hinblick auf bestimmte intentionale Ziele zu setzen. Der Gehorsam des Sohnes als fleischgewordener Logos der innergöttlichen Selbstpassibilität ist infolgedessen als phänomenologisch absolutes Sohnsein der eigentli­ che »Sitz im Leben« unseres transzendentalen Bedürfens als Affekta­ bilität, insofern alles Bedürfen das Sich-Wollen des Lebens als reines Sich-Begehren einschließt. Das heißt, wir können nicht bedürfen, ohne uns dadurch gleichzeitig selbst lebendig zu wollen, und zwar mit einem Selbst-Wollen als Begehren, das in der absoluten Selbst­ zeugung des Lebens (Vaters) als Sich-Ertragen bzw. Empfängnis dieses Lebens (Sohnes) ruht – mithin im lebendig ipseisierten Fleisch als Offenbarungswort des letzteren. Die weltlose Transzendentalität des nur als selbstaffektive Fleischwerdung möglichen Bedürfens ist mithin keineswegs ohne angebbare Bleibe als originäre »Verortung«, wenn im notwendig immanent gewollten Leben zugleich dieser Wille als Selbstoffenbarung Gottes erprobt wird. Insofern das Bedürfen die absolute Gebung des Lebens an sich selbst einschließt, kann unser Bedürfen im Begehren diese Gebung dennoch nicht ausschöpfend einholen, weil das absolute Sich-Geben des Lebens immer ein »Mehr« im Sinne des immemorialen »Voraus« enthält. Dies erklärt, warum bei Hadewijch in jedem konkreten Liebesvollzug als christusmystische minne zugleich ein Empfinden mitgegeben war, noch nicht ganz dieser Liebe entsprochen zu haben: »Die Gottheit sollst du nicht nur mit frommer Hingabe lieben, sondern mit einem unermesslichen Verlan­ gen, welches dich immer zu einem neuen Antrieb vor dem in seiner Unerhörtheit entsetzlichen Angesicht stehen lässt, in dem sich die Liebe selbst ganz offenbart und in dem sie alle Werke verschlingt.«182

Buch der Briefe, 6. Brief (S. 85f; vgl. ebd., 82 u. 93). Diese »Prädestination« eines mystischen Lebens als unendliches Begehren ist bereits vorgebildet bei Bernhard von

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Deshalb vollendet sich konsequenterweise auch das Bedürfen auf dem Grund reinster Passibilität im »Übergang« zum Tun, dem prinzi­ piell keine begehrende Grenze in seiner sich steigernden Erfüllung als Übereinstimmung (Gehorsam) mit der Mächtigkeit des Ursprungs gesetzt ist. Das Begehren bestimmt sich als eine Modalisierung des Lebens, die das Bedürfen über die Energie des Sich-Wollens auf die Anstrengung und das Tun hin bahnt. Insofern impliziert das Begehren hier in immanent mystischer Konkretion zunächst keine Einzelziele, sondern ermöglicht diese über die modale Lebensteleologie als Selbst­ verwirklichung des absoluten Lebens in seinem Wesen selbst. Die engere Analyse der Modalisierung von Bedürfen/Begehren verläuft deshalb über das Sich-Wollen des Lebens als Energie oder Kraft, sofern aus dem Pathos des rein auf sich selbst lastenden Lebens heraus jene innere Bewegung entsteht, diese absolute Passivität des Lebens sich selbst gegenüber (Bedürfen) auch als dessen innerste Selbst­ freude (jouissance) zu erproben. Bedürfen wie Begehren beinhalten so dieselbe Substanz der originär phänomenologischen Lebensma­ terialität als Sich-Geben, das nach sich selbst als immerwährende »Gabe« verlangt und diese dergestalt entgegennimmt, weil es ihrer ständig bedarf. In diesem Sinne lässt sich die Übergangsmodalisie­ rung des Sich-Gebens des Lebens als Bedürfen/Begehren auch mit den christusmystischen Grundtonalitäten von Schmerz und Freude bzw. Passivität und Hervorbringung (Zeugung) identifizieren. Da das Begehren keinerlei Gegenstand kennt, der es als Finalität erfüllen könnte, nimmt es auch keinen sinnlichen oder intelligiblen »Ort« ein, welcher in Derridas Kommentar zum »liebenden Begehren« (éros) gemäß Dionysios Areopagita183 eindeutig vom Wesen Gottes als »jenseits des Seins« getrennt wird. Wenn dann jedoch eine solch dekonstruktivistische »Topolitologie« erneut mit der »Spur« verbun­ den wird, die niemals zur Gegenwart einer Gegenwärtigkeit wird, dann bleibt dennoch ein singulärer »Ort« für solches Begehren nach Derrida gegeben – nämlich als vorgängige Verheißung des Gerechten an den Anderen in jedem Sprechen, auch wenn es ein zu vermeidendes Sprechen als Nicht-Sprechen betreffs der Namen Gottes ist.184 Clairvaux, Predigten über das Hohe Lied LXXV »Gottsuchen« (S. 509–523) u. LXX­ XIV »Die Gottsuche: praedilectio 1 Joh 4,10« (S. 621–629). 183 Vgl. Wie nicht sprechen, 41ff.; Über den Namen, 42ff. 184 Vgl. Wie nicht sprechen, 72f. In der Mystik entspräche dies der »Diskretion«; vgl. Bernhard von Clairvaux, Predigten über das Hohe Lied LXXXVI (S. 649–655).

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Wenn es demgemäß eine Grenze der Sprache im Sinne des später noch genauer zu untersuchenden »Unaussprechlichen« gibt,185 so besteht hingegen keine Grenze des Tuns, weshalb die Sprache auch von der wortlosen Praxis unserer Subjektivität als immanentem Pathos getragen wird, das nicht bloße »Privatheit« im Sinne Wittgen­ steins meint, sondern – der retentionalen Erinnerung unzugängliche – Ursprünglichkeit dieser subjektiven Ipseität als Ur-Passibilität. Sind nun gerade christologisch wie mystisch alle Gesten des geschichtlich inkarnierten Logos in seinem Dasein konkret bestimmte Gehorsams­ handlungen gegenüber dem Vaterwillen, dann sind sie es deshalb, weil dieser »Vater« als absoluter Ursprung des Lebens dieses Leben in seiner »Fülle« will,186 so wie diese Fülle in ihm selbst ist. Nämlich als »Werk« des Vergebens, der Freude, der gastlichen Gemeinschaft­ lichkeit etc., denn »der Vater und ich sind immer am Werk« (Joh 5,17). Dies unterstreicht erneut, dass besonders die Christusmystik hieraufhin kontemplativ wie aktiv eine reine Praxis darstellt, deren Vollzug nichts theoretisch oder ideologisch von der Wirklichkeit als »Schöpfung« ausschließt, um alle Wahrnehmungsmodalitäten inner­ halb des immanenten Übergangs von Bedürfen/Begehren im Sinne originärer Lebensfülle ohne Vorrangstellung eines konstituierenden Ich als Sorge bzw. Interesse zu vollziehen. Wird dies metapsycholo­ gisch als »Sublimierung« verstanden,187 dann bleibt diesbezüglich allerdings zu beachten, dass dabei nicht nur im Sinne Freuds eine Umorientierung libidinöser Objektbesetzungen erfolgt, sondern eine radikal phänomenologische Neubestimmung des Ego selbst als aus­ schließliche Geburt aus dem transzendentalen Leben heraus. In solch kriteriologischem Zusammenhang mit der Mystik nimmt daher auch die eucharistiebezogene Aussage: »Dies ist mein Leib/Fleisch für das Leben der Welt« (Joh 6,51) eine christusmysti­ sche Schlüsselstellung ein. Eine Verlebendigung der Welt als Kosmos und Geschichte, als Natur und Kultur, kann nur statthaben, weil unser Bedürfen affektive Tonalitäten als »Stimmungen« impliziert, die kein Sein werden lassen, ohne es affektiv zu prägen, so wie kein farb- oder formloses Gemälde denkbar ist. Dies gilt ontologisch wie

Vgl. unser folgendes Kapitel II,2. Vgl. ebenfalls R. Miggelbrinck, Lebensfülle. Für die Wiederentdeckung einer theologischen Kategorie, Freiburg-Basel-Wien 2009. 187 Vgl. dazu unser späteres Kapitel IV,2.

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ontisch.188 Das Sein als Transzendenz in der Offenheit seines Für und Gegen, Mit- und Nebeneinanders, erscheint als Horizont stets schon in einbildungsmäßig geprägter Ekstasis; eben als Offenheit bzw. Geschlossenheit der Angst, der Sorge, der Lust und Unlust, was Nietzsche als Imago mundi der dionysisch inneren Selbstaffi­ ziertheit der Transzendenz in ihrem apollinischen Hervorbrechen als solchem gesehen hat.189 Dass zusätzlich jedes Seiende durch unsere Selbstimpressionabilität als transzendental affektive Passibilität seine Eigenschaften wie Farbe, Wärme, Form, Schönheit, Gebrauchshaftig­ keit etc. zugesprochen bekommt, liegt auf der Hand. Denn jedes Ding gewinnt in Bezug auf seine jeweilig begehrte Lebenswerthaftigkeit seine sinnliche, praktische wie ideative Bedeutung, welche die Spra­ che als subjektive oder kollektive Rede aus diesem Bedürfen wie Begehren heraus einzelnen Gegenständen oder der Welt insgesamt dann zuspricht. Die christologisch inkarnatorische Wirklichkeit in ihrer phäno­ menologischen Ursprünglichkeit veranlasst im Sinne einer »Chris­ tusmystik« deshalb dazu, diese Verlebendigung als Verfleischlichung von allem Sein im genannten doppelten ontologischen wie ontischen Sinn genau so weit zu führen, dass die Welt selbst ständig zu einer Gabe des Lebens wird und die Geschichte ihrerseits zu einer Genea­ logie der Affektivität, wie dies besonders schon von Bonaventura in Bezug auf die Schöpfung in ihrer Einheit wie Vielfalt aufgezeigt wurde. Hier wird die Schöpfung als Spur, Leiter und Abbild mit Blick auf Gottes Gutsein, Weisheit und Mächtigkeit betrachtet, wobei sich die Metapher der Leiter beispielsweise bei den Wüstenvätern wie etwa bei Johannes Klimakos um 600 n. Chr. vorgeprägt findet, allerdings in Hinsicht auf die Laster und das asketische Leben zur Erlangung der apatheia.190 Wenn neuzeitlich alles in einer Perspektive von diskursiven Phallus-, Macht- oder Rhetorikabhängigkeiten betrachtet 188 Zur Funktion der Stimmungen bei Heidegger und Henry vgl. U. Dopatka, Phänomenologie der absoluten Subjektivität. Eine Untersuchung zur präreflexiven Bewusstseinsstruktur im Ausgang von Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre, Michel Henry und Jean-Luc Marion, Paderborn 2019, 295ff. 189 Vgl. F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (KSA 1), München-New York 1986. In dieser Hinsicht kommt das Denken Nietzsches dem Verlangen einer modernen nicht religiösen Mystik entgegen; vgl. B. Neymeyr u. A.U. Sommer (Hgg.), Nietzsche als Philosoph der Moderne, Heidelberg 2012. 190 Vgl. Der Pilgerweg des Menschen zu Gott, Kap. I-II (S. 30ff.); dazu V. Leppin, Die christliche Mystik, 41f.

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wird, wie etwa bei Lacan, Foucault oder Derrida, dann verweist der originäre Zusammenhang von Affektabilität/Mystik hingegen auf eine unmittelbar gegebene Präsenz des Lebens oder Gottes, die nicht mehr über solche Diskurse entziffert zu werden vermag. Denn selbst jeder »Philosophie des Verdachts«, um Paul Ricœur zu zitieren, liegt etwas voraus, das dem Verdacht im Sinne eines wortlosen Ursprungs entgeht, wozu auch die freudsche »Deutung« gehört, welche über die Aszese der »Realitätsüberprüfung« ein mögliches Sagen der Wahrheit intendiert, auch wenn diese stets neu durch den Bezug zwischen Symptom/Analyse aufgeschoben werden muss.191 »Mein Fleisch/Leib hingegeben für euch« (Lk 22, 19;1 Kor 11,24) – das heißt für die Welt, sofern diese selbst letztlich als selb­ staffizierte Transzendenz nur aus einer lebendigen Selbstzeugung des absoluten Lebens heraus existiert192– ist das rein handelnd vollzogene Memorial in Hinsicht darauf, dass alles Gegebene im Modus des praktischen »Bewährens« erfahren wird. Allerdings ist dieses hier gemeinte »Sich-Bewähren« nicht nur die prädikativ intersubjektive Wahrnehmungskorrektur zur gegenständlichen Identitätsbildung im unendlichen Horizont eines limeshaft anvisierten Vernunfttelos wie in Husserls »Lebenswelt«.193 Vielmehr handelt es sich um das ständig übergängliche Sich-Modalisieren unserer affektiv pathischen Ener­ gien im Sinne des bedürfenden Begehrens (Eros) aus der reinen Passibilität heraus, um die Dinge überhaupt gebrauchsfähig und lebensunterhaltend zu gestalten. Dies gilt für unser theoretisches wie praktisches Tun, das über den unmittelbar notwendigen Lebensunter­ halt hinaus jeweils zugleich auf freudige Lebenssteigerung abzielt. Wir können nämlich lebenseidetisch gar nicht anders, als unser Leben gemäß dem absoluten Wesen des Lebens in seinem Sich-Geben selbst einzusetzen, um das »Fleisch«, das wir dabei »hingeben«, als Affekta­ bilität unseres originären Bedürfens zu erproben. Und zwar perma­ nent bis hin zum – in der scheinbar unerträglichen Rekurrenz solcher

191 Vgl. P. Ricœur, De l'interprétation. Essai sur Freud, Paris 1965, 18ff. (dt. Die Interpretation. ein Versuch über Freud, Frankfurt/M. 1969). 192 Vgl. M. Henry, L'essence de la manifestation, Paris 1963 (dt. Das Wesen des InErscheinung-Tretens, Freiburg/München 2019), § 32. 193 Vgl. Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass 1916–1937 (Husserliana 39), Dordrecht 2008; M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, 9–14: »Faktische Lebenserfahrung als Aus­ gangspunkt«.

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Passibilität gegebenen – »mystischen Sterben«,194 welches eine stän­ dig phänomenologisch materiale »Transsubstantiation« impliziert, die stets im tonalen Wandel des Bedürfens wie Begehrens als unser Können zwischen Leid und Freude, Verzweiflung und Seligkeit, das Tun in seinem immanent eucharistischen Wesen kennzeichnet.195 Entsprechend hält Hadewijch in ihrer »Ersten Vision«, nachdem sie die Kommunion empfing, fest: »Als ich Unseren Herrn empfangen hatte, da empfing er mich bei sich, indem Er mir alle meine Sinne vollständig der Erinnerung an etwas Fremdes benahm, um Seiner in Einheit teilhaftig zu sein.«196 Insoweit die Sprache das Tun begleitet bzw. zum Handeln moti­ viert, gehört auch das Sprechen als Wort und Text mit in diese verlebendigende Transsubstantiation selbst hinein. Denn Handeln, diesseits eines jeden ekstatischen Entwurfs als rein pathischer Vollzug betrachtet, bedeutet folgenden rein phänomenologischen Sachver­ halt: Der Gehorsam des absoluten Lebensempfangs, die unaufheb­ bare Passivität des Bedürfens als Sich-Bedürfen des Lebens, führt dort, wo das selbstaffektive Erdrücktsein des Lebens auf sich selbst als reine Selbstgebung unmittelbar begehrendes Leben für sich selbst ist, zu einem Hingeben des Bedürfens in die Bündelung durch das Begehren und Tun, die dann als äußeres Handeln sichtbar werden. Das immanent subjektive Tun als sich phänomenalisierende Praxis lebt ganz vom Fleisch der Affektivität als transzendental gebürtiger Passi­ bilität, um im Vollzug ihrer Energien jene Bewegung selbst zu sein, mit der das Leben bei sich bleibt, um die Bewegung rein immanent sich bewegen zu lassen, das heißt als absolut affizierte Subjektivität. So ist alles distanziert in der dritten Person betrachtete Wollen und Entwer­ fen ontologisch wie phänomenologisch überdeterminiert, denn dieses Wollen lebt anfänglich niemals von der Vorstellung, sondern vom originären Leben, das selbst nicht sichtbar in Intention, Freiheit etc. erscheint – so wie der Vater nur verborgen im liebend begehrenden 194 Vgl. Th. Kobusch, »Freiheit und Tod. Die Tradition der ›mors mystica‹ und ihre Vollendung in Hegels Philosophie«, in: Theologische Quartalschrift 164 (1984) 185– 203; »Selbstentäußerung. Ein Grundgedanke der Mystik und seine Rezeption im deutschen Idealismus«, in: A. Quero-Sanchez, Mystik und Idealismus, 160–173. 195 Vgl. R. Kühn, Der Erst-Lebendige, 176ff. 196 Das Buch der Visionen, Teil I: Text (Hg. G. Hofmann), Bad Cannstatt 1998, 45; vgl. auch W. Breuer, »Philologische Zugänge zur Mystik Hadewijchs. Zur Form und Funktion religiöser Sprache bei Hadewijch«, in: M. Schmidt (Hg.), Grundfragen christlicher Mystik, Bad Cannstatt 1987, 103–121.

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Gehorsam des Sohnes anwesend ist. Auf solchem Hintergrund kann daher die Mystik als reine Praxis des Affekts und immanenten Tuns bezeichnet werden, die sich an nichts Äußerem als Signifikat mehr orientiert, sondern sich jenseits all solcher Vorgaben vollzieht. Daher greift auch Derrida197 zur Bezeichnung der »Passibilität« (passibilité), um mit ihr jene »Unempfindlichkeit des Formlosen« zu bezeichnen, welches die Quelle »unserer Passion, unseres edelsten Leidens« beinhaltet, das heißt mit Dionysos Areopagita wie Meister Eckhart, wo wir nichts anderes mehr erleiden als Gott selbst. Der eucharistische Satz vom »Fleisch für die Welt« als Paradigma eines Sprechens, welches mit dem lebensoffenbarenden Tun selbst identisch ist, beinhaltet infolgedessen einen phänomenologischen Sachverhalt, der aus der Lebensgabe als bedürftigem wie begehren­ dem Affiziertsein unmittelbar mystische Praxis werden lässt, sofern ihr stattgegeben wird, was den eigentlichen Sinn von Loslösung und Aszese ausmacht.198 Das passiv empfangene Fleisch der trans­ zendentalen Affektivität in ihrer absoluten Selbstaffektion aus dem Leben heraus ist ein stets hingegebenes Fleisch oder eine material phänomenologische Passibilität, insofern letztere sich nicht verwei­ gern kann, alle leiblich-geistigen Potentialitäten im Maße ihres fun­ damentalen Leben-Könnens als Vollzug unmittelbar einzusetzen, das heißt als mystisches »Nicht-Wissen« im Sinne der »Abgeschie­ denheit« von jeder besonderen Intentionalität: »Und dies [...] voll­ kommene Nichtwissen ist Erkenntnis dessen, der alles Erkennbare übersteigt«, schreibt Dionysos Areopagita.199 Die Transsubstantia­ tion von Affektivität/Bedürfen sowie Begehren/Handeln über die innere energetische Anstrengung ist die pathische Lebensnotwendig­ keit als affektiv materiales Fleisch selbst. Es gibt sich als originär selbstgegebenes in die Bewegung des immanenten Tuns hinein, ohne dass hier jemals. eine Kluft auszumachen wäre, wie sie der ekstati­ schen Vorstellung eignet. Darüber hinaus ist aber die Bewegung zugleich als »Widerstandserfahrung« des eigenen organischen Leibes und der Festigkeit der Welt (Erde) die »Offenbarung« derselben – und zwar gleichursprünglich mit dem »Ich« als »Mich« in seiner

Wie nicht sprechen, 88. Vgl. Bernhard von Clairvaux, Predigten über das Hohe Lied XLIII »Leidensnach­ folge: Menschwerdung« (S. 97–103) u. LII »Die Ekstase und der Alltag« (S. 195–205). 199 An den Mönch Gaius, in: Über die Mystische Theologie und Briefe, 94.

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unmittelbaren Selbstaffektion.200 Als Fleisch des Leibes ist das Leben – in inkarnatorischer Korrelation mit der sinnlichen Passibilität gese­ hen – immer auch schon welthingegeben, bzw. die »Welt« jene im Leben leiblich mitkonstituierte Wirklichkeit, an der sich das Egoleben dann – auf dem Grund seines immanenten Selbstgegebenseins – als gleichzeitig hingegeben in der phänomenalen Effektivität erprobt. In dieser Hinsicht gehören Mystik und Schöpfung zusammen, auch wenn die Akzente unterschiedlich gesetzt sein können wie etwa bei Bonaventura, Hildegard von Bingen (1098–1179),201 Meister Eckhart oder Johannes vom Kreuz sowie im Sufismus. Dies bedeutet jedoch des weiteren, dass die Welt schlechthin als Sein oder Transzendenz ihre letzte Realität der Welthaftigkeit nicht in sich selbst tragen kann, sondern der Sinn von Welt seinerseits von vornherein dahin zielt, zu einer Gabe für das Leben zu werden und so erst in seine grundsätzlich phänomenologische Bedeutung einzutreten, die sich auf hingebend alltägliche Praxis und nicht auf Erklärungen letztlich gründet, die in ihrer rationalen Allgemeinheit missverständlich bleiben und daher je weitere – heute zumeist wis­ senschaftliche – Erklärungen ohne Ende heraufbeschwören. So wie das geteilte und gereichte Brot in der Eucharistie der Schöpfung insge­ samt ihren Ursprungssinn verleiht, nämlich in den inkarnatorischen Dienst der Hingabe treten zu können, ebenso gewinnt die Welt durch die originäre Verlebendigung des Tuns ihren Dienstcharakter für das Leben zurück, was angesichts globaler Krisenerscheinungen einer dringlichen Neureflexion bedarf. Damit ist gleichfalls ein Hinweis darauf gegeben, dass die Mystik keineswegs zeitfremd auftritt, son­ dern ihre Grundhaltung zu einer fundamentalen Besinnung heute zurückzuführen vermag, um für die Neuausrichtung einer kommen­ den Kultur beizutragen.202 Wenn nun das immanente Tun bereits seine nicht ekstatische und damit zeitlose Historialität als Fleischwerdung im Sinne des Über­ 200 Verwiesen sei hier für die übrige Analyse auf M. Henry, Inkarnation, 216ff., zum Problem des Sich-Bewegen-Könnens bei Condillac und Maine de Biran. 201 Vgl. Scivias – Wisse die Wege. Eine Schau von Gott und Mensch in Schöpfung und Zeit (Hg. W. Storch), Freiburg-Basel-Wien 1998. 202 Vgl. zur Diskussion über den Gabencharakter Journal für Religionsphilosophie 2 (2013): Gabe – Alterität – Anerkennung; A. Wilke, »Widerständig und Gott-los. Zur Wiederentdeckung der Mystik in der Moderne«, in: Zeitschrift für Missionswissen­ schaft und Religionswissenschaft 84/2 (2000) 99–121; M.A. Sorace u. P. Zimmerling, Das Schweigen Gottes in der Welt. Mystik im 20. Jahrhundert, Münster 2015.

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gangs Bedürfen/Bewegung besitzt und diese Bewegung im Begehren nicht am Widerstand der Welt endet, sondern ihn sich schöpferisch einverleibt, dann beginnt damit bereits auch die praktische Genealo­ gie der sichtbaren Geschichte mit ihrem je erlebbaren Ereignischarak­ ter. Und so wie die innergöttliche Liebe ihre rein lebenszeugende Historialität kennt, die als trinitarischer Austausch des Sich-Gebens in der »gegenseitigen Innerlichkeit« beruht, so leitet entsprechend die Inkarnation als fleischliche Menschwerdung eine Geschichtsgenealo­ gie ein, wo das »Fleisch für die Welt« als Hingabe eine Welt entstehen lässt, die originär von der subjektiven Affektivität dieses sich hin­ gebenden »Sohnes« als Wort Gottes oder Logos bestimmt ist. Wo mithin eine gegenreduktive Lebensphänomenologie aufweisen kann, dass die Affektivität der Werdensgrund des Seins selbst aus der Passi­ bilität heraus ist, da kann auch eine dem entsprechende Mystik darauf hinweisen, dass die Geschichte als Ergebnis der subjektiv bestimmten Handlungen ebenfalls durch die Tat einer singulären Subjektivität mitbestimmt ist, deren Affektivität nicht nur transzendental, sondern auch existentiell reine Liebe aus Gehorsam war und als lebendige Präsenz in allem weiterwirkt.203 Folglich muss im Anschluss an solche »Christusmystik« die Geschichte in ihrer letztzählenden MetaGenealogie nicht das Absurde, Sinnwidrige oder Ziellose sein, das Moderne und Postmoderne zugleich feiern wie erleiden, sondern auch die Geschichte trägt die absolute Lebensmöglichkeit dessen in sich, was das reine Leben als göttliche Selbstoffenbarung sein will, nämlich ununterbrochenes Weitergeben des ursprünglichen Empfangens. Der christliche Glaube an die historische Faktizität der Fleischwerdung Christi als des »Erst-Lehendigen« erscheint in diesem Licht als der unzerstörbare Glaube des Lebens an sich selbst – überall dort nämlich zu triumphieren, wo das Leben als radikale Subjektivität nicht durch Flucht oder Selbstzerstörung abdankt.204 Dies bestätigt die Mystik als reine Praxis der niemals zurückgewiesenen Affektabilität, wovon

203 Zur Geschichte mit ihren »fruchtbaren Bäumen [der tugendhaften Männer] im Garten des Bräutigams« vgl. Bernhard von Clairvaux, Predigten über das Hohe Lied XXXIII,4 (S. 325f.). 204 Zur schwierigen Problematik der möglichen inneren »Selbstzerstörung« des Lebens vgl. S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, München 2020, 31ff.; M. Henry, Die Barbarei, 189ff.

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Freude wie Schmerz als Grunderfahrungen bis hin zu Ekstase oder raptus in ihr zeugen.205 Insoweit solcher Glaube ohne bildlich vorstellungsmäßigen Inhalt gleichursprünglich ein Ethos ist – das heißt jene einzige Gewissheit der Affektivität, dass sich das Leben in seinem Wesen nie verweigert, erweist sich dieses Ethos als identisch mit dem lebens­ immanenten Credo des Sohnes wie aller Lebendigen als »Söhne im Sohn«, dass »der Vater seinen Kindern keine Steine schenkt« (Mth 7,9; par Lk 11,11), sondern vielmehr ausschließlich sich selbst. Wenn ein solches Ethos für die mystische Lebensgenealogie der Geschichte als Praxis genügt, dann aus dem Grunde, weil es eben eine absolute Sohnschaft als auch existentiell gelebte Fleischwerdung in dieser Geschichte gab, die sich mit diesem »Gesetz« begnügte, welches das Gesetz des transzendentalen Lebens selbst ist. Die Philosophie mag vielleicht aus dem fragmentierten Heute heraus kein neues all­ gemeinverbindliches Geschichtsziel als Diskurs mehr zu begründen, weil alle Sinnmythen oder »Meta-Erzählungen« gemäß Jean-François Lyotard206 als unglaubwürdig dahinfielen. Aber sie kann phänomeno­ logisch – unter Rückbesinnung auf das rein immanente Leben – auf die ewig verbleibenden Potentialitäten des Lebens in dessen Ur-Kon­ kretion verweisen, die es dem Logos als »Sohn« erlaubten, in dieser Lebenspassibilität inkarnatorisch, das heißt im ewig bestimmten Leben als Ur-Ipseität, Gott und Mensch in einer Person zu sein. Alles weitere ethische und religiöse Sagen als Wort an die Menschen – und in ihnen selbst als »Gewissen« – bestünde dann darin, in den hierbei auftauchenden wesenhaften »Geboten« als anstehendem Tun die rege­ neratio aus solch absolutem Leben allein heraus zu vernehmen, falls die immemorial originäre generatio wegen des ekstatischen Besorgens im Existenz- und Weltentwurf dem »Vergessen« anheimgefallen sein sollte.207 Das Sagen der christlichen Ethik und der Religionen in ihrem fundamentalen Lebensprinzip ist daher keine Ergänzung der Ontologie des rein phänomenologischen Lebens. Es ist, wie dies auch schon Bergson gesehen hatte, letztlich stets deren mystische Vgl. den Kommentar von M. Schlosser zur »Entrückung« in Bonaventura, Der Pilgerweg des Menschen zu Gott, 192f. u. 175ff.; Hadewijch, Das Buch der Visionen, Fünfte Vision, 81–85. 206 Vgl. La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979 (dt. Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 2005). 207 Vgl. dazu ebenfalls Bernhard von Clairvaux, Predigten über das Hohe Lied XLIX zum ordo caritatis (S. 161–171). 205

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Konsequenz als nie abbrechende Lebenszeugung, die er im Sinne des élan vital als eine die gesamte Natur und Geschichte durchziehende Kraft Gottes sieht.208 Jedes Sagen sollte uns daran erinnern, indem es sich nicht als autonomes Sprechen dünkt, sondern in seinem Hervortreten aus dem originären Begehren heraus an den verborgen bleibenden Lebensgrund rührt, der das Sprechen als Begehren in Bewegung hält. So sagt die Gründungsschrift der negativen Theologie bei Dionysos Areopagita: »Die gütige Allursache kann mit vielen wie mit wenigen Worten ausgesagt werden und sich zugleich der Aussage gänzlich entziehen, da sie weder aussagbar noch denkbar ist.«209 Im Mittelpunkt einer schon öfters evozierten und hier weiter ver­ folgten »Christusmystik« steht mithin die rein phänomenologische Wirklichkeit Christi als des »Erst-Lebendigen«, den Michel Henry210 auch den »Ur-Sohn« nannte, um das Ursprungsverhältnis von abso­ luter Lebensselbstzeugung und subjektiver Ipseisierung zu klären. Dieses originäre Verhältnis ist älter als jedes thematische Denken von Philosophie und Theologie, sofern es um die Singularität eines jeden individuierten Lebens als originär passibler Impressionabilität geht. Die christologische Problematik gehört daher zur radikalen Analyse des Anfangserscheinens als rein phänomenologischem Selbsterschei­ nen, welches sich in unserer unmittelbaren Leiblichkeit als Affekt oder Fleisch offenbart, wie wir zeigten. Deshalb sind Christologie und Mystik in inkarnatorischer Perspektive ebenso gleichursprünglich wie identisch, da es sich dabei um den Grundbezug von Leben/Lebendi­ gem als originärer Wirklichkeit »im Fleisch« handelt. Dies bedeutet nicht, dass eine theologische Exegese auszuklammern wäre, sondern diese innerhalb der Analyse einer rein phänomenologischen »UrChristologie« dazu dient, dem unmittelbar mystischen Verständnis der Inkarnation gerecht zu werden.211 Denn wenn eine christusmys­ tische Immanenz das maßgebliche Ursprungsverhältnis von Leben/ Lebendigem betrifft, dann steht deren »gegenseitige Innerlichkeit« im Mittelpunkt einer Wirklichkeit, welche sich mit dem material Vgl. F. Seyler, »De l'éthique à l'esthétique: vie et création chez Michel Henry et Henri Bergson«, in: A. Jdey u. R. Kühn (Hgg.), Michel Henry et l'affect de l'art. Recherches sur l'esthétique de la phénoménologie matérielle, Leiden-Bosten 2012, 237–266. 209 Über die Mystische Theologie und Briefe, Kap. I, S. 88. 210 Vgl. »Ich bin die Wahrheit«, 79ff. 211 Vgl. auch A. Vidalin, La Parole de la Vie. La phénoménologie de Michel Henry et l’intelligence des Écritures, Paris 2006. 208

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phänomenologischen Vollzug unserer Leiblichkeit in all unseren ursprünglichen Potentialitäten deckt. Das heißt mit einer Inkarnation, die all das umfasst, was das absolut phänomenologische Leben in seiner Selbstoffenbarung »im Anfang« beinhaltet und ermöglicht (Joh 1,1). Eine solche Ur-Christologie bedeutet daraufhin naturgemäß die vorzeitliche Wirklichkeit des »originären Wie« des Erscheinens in seiner ständig lebendigen Selbstbewegung, wodurch jeder affektiv von uns gelebte Augenblick als »Lebenssituativität« die unmittelbar praktische Erprobung solch inkarnatorischer Christologie selbst bil­ det. Mithin die mystische Präsenz des »Wortes des Lebens«, welches der »Sohn« als solcher im »Vater« ist, um als Erste Ipseität die Verwirklichung der Selbstzeugung des absoluten Lebens in einer originären Proto-Relation zu sein, die keine Distanz in sich kennt – so wie auch unser Leib als vorintentionales Fleisch keine Differenz in sich selbst kennt. Über die epistemologische Relevanz der Phänomenologie für die Theologie ist seit den 1980er Jahren viel in Frankreich geforscht wor­ den. Dazu können als die wichtigsten Vertreter Emmanuel Levinas, Paul Ricœur, Michel Henry, Jean-Louis Chrétien und Jean-Luc Marion genannt werden,212 ohne die neueren dekonstruktivistischen Analysen bei post-strukturalistischen Autoren wie Jean-Luc Nancy, Alain Badiou oder auch Jacques Lacan auszusparen. Aber unser Hauptinteresse gilt hier weniger dieser Entwicklung postmoderner Diskussion der weiterhin faszinierenden Christusgestalt für das aktu­ elle religionsphilosophische und kulturelle Denken213 als eben der bisher kaum aufgeworfenen Frage, warum das Leben sich stets als ein­ zelnes und leibliches manifestiert. Denn wenn kein Leib ohne Leben erscheint, so gilt auch umgekehrt, dass es nie Leben ohne Leiblichkeit gibt. Woher stammt diese originär phänomenologische Selbstgege­ benheit, die vor allen Seins- und Bewusstseinsphilosophien liegt und beispielsweise in Bezug auf das principium individuationis seit der Antike eine ungelöste Problematik enthält? Ist diese Notwendigkeit diesseits jeglicher biologischen Evolutionstheorie eine transzenden­ tale Bedingung im Sinne rein immanenter Selbstgründung des Lebens durch sich selbst, dann beinhaltet solch konkrete Transzendentalität 212 Vgl. J.-F. Courtine (Hg.), Phénoménologie et théologie, Paris 1992, mit entspre­ chenden Beiträgen der genannten Autoren. 213 Vgl. R. Kühn, Postmoderne und Lebensphänomenologie. Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens, Freiburg/München 2019.

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die Frage eines originären Bezugs, dessen Relationalität als innerste Wirklichkeit des Lebens selbst bestimmt werden muss. In der origi­ nären Christologie als einer »Christusmystik« fällt die Wirklichkeit des Lebendigseins als »Proto-Relation« weder mit Gott noch mit unserer Leiblichkeit auseinander,214 sondern eint sie ursprünglich als die ipseisierende Weise dieser Bezüglichkeit selbst. Bevor also Philosophie und Theologie – oder andere Disziplinen – Wesens­ verhältnisse epistemologisch oder hermeneutisch bedenken, hat in jedem leiblichen Individuum bereits das stattgefunden, was jeder Diskurs nur in einer thematischen Differenz nachträglich erfassen kann – und damit in seiner unmittelbaren Wirklichkeit auch schon für immer verloren hat.215 Durch eine radikale Phänomenologie dieses immemoriale »Vor­ aus« als »originäres Wie« einsichtig zu machen, heißt nicht, Theologie bzw. sonstige Wissenschaft durch Philosophie ersetzen zu wollen, wohl aber die christusmystische Struktur der Ursprungsverhältnisse aufzuklären, ohne dabei in einer metaphorischen Sprache zu ver­ bleiben. Vater, Sohn, Christus sind solche Namen, die aus einem traditionell genealogischen Naturalismus herauszulösen sind, um die immanente Notwendigkeit einer originären Singularisierung inner­ halb lebendiger Relationalität »im Anfang« selbst aufzuweisen. Der »Erst-Lebendige« ist radikal phänomenologisch der Versuch, dies adäquat zum Ausdruck zu bringen und für die Mystik fruchtbar zu machen. Denn um sich als Leben hervorbringen zu können, bedarf es einer ersten Singularität, in der das Leben sich selbst ipseisiert, um stets ein bestimmtes – und kein allgemeines oder anonymes – Leben zu sein. Nichts ist der gläubig überlieferten Christusgestalt dadurch in ihrer geschichtlichen Konkretheit genommen, aber im Zentrum einer christusmystischen Analyse des Originären steht die Frage, warum Leben – auch göttliches – erst über eine solch inkarnatorische Verein­ zelung zum Leben in seiner ganzen Fülle wird. Dies lässt sich durch eine Analyse der Freiheit und Situativität als Implikate einer Ästhetik der neutestamentlichen doxa im Sinne religiöser Manifestation der »Herrlichkeit Gottes« in jedem inkarnatorischen Augenblick in einem mystischen Sinne konkretisieren. Vg. B. Kanabus, La généalogie du concept d'Archi-Soi chez Michel Hemry, Hildesheim-Zürich-New York 2011, 87ff. 215 Vgl. M. Henry, Inkarnation, 399–411: »Über Philosophie und Theologie hinaus – die johanneische Intelligibilität«. 214

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In immer wieder neuen Verwandlungen und Akzentuierungen malten das Mittelalter und auch noch Renaissance wie Barock unzäh­ lige Marienszenen, Geburt, Taufe, Versuchung, Geißelung, Tod, Auf­ erstehung und Himmelfahrt Christi. Mit anderen Worten Ereignisse, die niemals so gesehen wurden, wie sie auf den Gemälden oder als Glasfenster und Skulpturen erscheinen. Woher und warum diese Vielfalt, wenn nicht, um etwas zum Ausdruck zu bringen, das sich als originäre Wirklichkeit des Glaubens bereits verwirklicht hat, um erneut über die Affektivität von Freude, aber auch von Schmerz, Verzweiflung und Zuversicht, in der immanenten oder mystischen Gewissheit des je subjektiven Lebens erprobt zu werden. Insofern vermag das Heil nicht aus der künstlerischen Ästhetik selbst zu stam­ men, denn wenn sie dessen Gegebenheit auch verdeutlichen kann, setzt sie es als Ursprung bereits voraus.216 Jede Ästhetik, welche letzte Erprobungen des Menschseins anspricht, um sich selbst als ein unmit­ telbares Grundpathos der Existenz verständlich zu machen, kann also gar nicht anders, als eine mystische Ur-Ästhetik der immanenten Offenbarung in Anspruch zu nehmen, wie sie in einer Christusmystik gegeben ist. Als »Sohn« ist er nicht nur der Abglanz der Herrlich­ keit Gottes, vielmehr ist er auch jener vollendete Widerschein, in dem sich jegliches menschliche Dasein wieder zu erkennen vermag, und zwar in der Einheit von Ursprünglichkeit wie Vollendung eines rein passiblen Lebens im Sinne eines absolut abkünftigen Lebens. Neben ihrer Affinität zur Botschaft des Neuen Testaments besitzt daher eine originäre Mystik ebenfalls eine Affinität zur Ästhetik der Gestalt Christi, welche in früheren Zeiten – wie etwa im deutschen Idealismus – unter dem Begriff der Idea Christi diskutiert wurde.217 Aber diese »Idee Christi« ist eben nicht nur ein transzendentaler Spiegel der Eidetik des Wesens »Mensch« in seiner Freiheit und in seinem Gehorsam, wie es in der Neuzeit dann Maurice Blondel und Karl Rahner vor allem vorangestellt haben.218 Vielmehr ist diese Idee des Gottessohnes in der doxa reiner Offenbarungspraxis eine Wirklichkeit, deren ästhetisches Potential ergriffen werden kann, 216 Vgl. M.A. Sorace, Avantgarde nach ihrem Ende. Von der Transformation der avantgardistischen Kunst des 20. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur theologischen Kunst­ kritik, Freiburg/München 2077, 291ff. 217 Vgl. X. Tilliette, Le Christ de la philosophie. Kap. V. 218 Vgl. R. Kühn, Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie. Meta­ physische und post-metaphysische Positionen zur Erfahrungs(un)möglichkeit Gottes, Freiburg-Basel-Wien, Herder 2013, 30ff.

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um die Existenz in der Gesamtheit ihrer Erfahrungsabgründigkeit mystischer Erprobung originär aufscheinen zu lassen. Eine transzendentale Idee vermag immer nur eine eidetische Grenzbestimmung zu sein, um das empirisch Mannigfaltige zu einen, während eine ästhetische Intuition unmittelbar alle subjektiven Akte in deren Vollzug durchwirkt, und zwar mit einer immanenten Gewiss­ heit, die keinen Zweifel am selbstaffektiv fundierten Sosein eines Gefühls und Gedankens oder einer Handlung mehr aufkommen lässt. Eine Ästhetik des Heils als Christusmystik der originären Wirklich­ keit des Erst-Lebendigen mit anderen Worten wirkt in all jenen radikalen Umkehrungen, wie sie sich exemplarisch in den Berichten der Krankenheilung und Sündenvergebung durch den inkarnierten Christus im Neuen Testament erheben lassen. Das heißt als die ursprüngliche Ermöglichung eines je neu geborenen Lebens, wodurch dieses sich in allem – durch Gott selbst verlebendigt – unmittelbar affiziert weiß. Erst damit gelangt eine sinnlich ästhetische Existenz als Offenheit für das je kreativ Neue zu ihrer Verwirklichung, denn sie weiß als Gewissheit im rein affektiven Sinne, dass die Seligkeit oder »Mystik des Lebens« nicht fingierend hervorzubringen ist, sondern dessen immanent phänomenologische Wirklichkeit als permanenten Modalisierungsprozess schlechthin bildet. Es ist jener Glanz der »Herrlichkeit«, wie er sich über das gesamte Leben Jesu spannt, um Unmittelbarkeit des Willens oder des Reiches Gottes im jeweilig freisetzend erlösenden Vollzug zu sein. Jesu einzelne Worte und Taten als kala erga, mithin mehr als »schöne Werke« oder Gesten denn als magieähnliche Wunder gesehen, wie schon Simone Weil hervorhob,219 sind die jeweilige Manifestation dieser doxa, in der sich alle irdische Wirklichkeit schöpferisch oder mystisch verändert. Erst dadurch ist die ästhetische Verwandlung der Erscheinung der Welt durch die Kunst keine Illu­ sion mehr, sondern vielmehr berechtigte Rückbesinnung auf den nicht zerstörbaren Ursprung, den jeder ästhetische Glanz als Aura verheißt, nämlich die Selbstverherrlichung Gottes in seinem und aller Leben. Diese immanent mystischen Zusammenhänge eines ästhetisch phänomenologischen Erscheinens werfen ein erhellendes Licht auf den kunstgeschichtlich eindeutigen Vorgang, dass mit dem Zurücktreten des Sakralen wie Übernatürlichen als Präsenz Gottes in 219 Vgl. Lettre à un religieux, Paris 1951, 52f. (dt. Entscheidung zur Distanz. Fragen an die Kirche, München 1988).

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der Moderne ein auch immer stärkerer Naturalismus und Realismus sich in der Kunst etablierte, um letztlich derselben jede Möglichkeit einer Versöhnung abzusprechen, wie dies etwa in den ästhetischen Schriften von Theodor W. Adorno zum Ausdruck kommt.220 Genau solch originäre Versöhnung impliziert jedoch die zuvor genannte Idea Christi, da hierbei ein Mensch in der Sichtbarkeit seiner einmaligen Gestalt sowie in der mystisch verborgenen Wirk­ lichkeit seiner absoluten Lebensaffektion alle Menschen umfasst. Damit vermag er sie effektiv zu repräsentieren, das heißt ontologisch wie soteriologisch als Ur-Ipseität in sich zu gründen, ohne sie als jeweilige Singularität durch eine göttliche Totalisierung aufzuheben, insofern jedes passible Mich in einem unmittelbaren Bezug zum Erst-Lebendigen steht.221 Was wir hier mit einer originären Ästhetik als Grund aller Einzelerscheinungen zum Ausdruck bringen, lässt sich unter anderem bei Kant als Freiheitsproblematik ablesen, wenn er seine »Religionsschrift« in einem seltsamen Schwebeverhältnis zu den Werken seiner theoretischen und praktischen Kritik sowie aber auch zur Analyse der Urteilskraft hält. In seiner »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« tritt Christus nämlich als das »Urbild« aller Menschen in gehorsamer Unterwerfung unter das Lei­ den zur Erfüllung des Willens Gottes im Sinne eines Vorbilds für das freie Subjekt schlechthin auf: »Der Mensch kann sich keinen Begriff von dem Grade und der Stärke einer Kraft, dergleichen die einer moralischen Gesinnung ist, machen, als wenn sie mit Hindernissen ringend und unter den größtmöglichsten Anfechtungen dennoch überwindend sich vorstellt.«222 Gewiss bleiben wir hier im Rahmen einer idealistischen Vorstel­ lungsanalyse als Vernunft- und Reflexionskritik. Aber dabei geht es nicht nur um eine rational moralische Verkürzung der Christusfigur letztlich, wie oft angenommen wird, sondern um den ästhetischen Grundsachverhalt, wie die Freiheit oder das Subjekt sich konkret in ihrer je eigenen, von ihnen selbst hervorgebrachten Vorstellung zu ergreifen vermögen, damit daraus eine Praxis dieser Freiheit selbst erwachsen kann – und dies gerade in einem ursprünglich religiösen Sinne der sittlichen Vollendung durch das Gute. »Sich eine Kraft vor­ Vgl. Ästhetische Theorie (Ges. Schriften Bd. 7), Frankfurt/M. 1970; E. Jain, Weltanschauung und Menschenbild in der Kunst der Gegenwart, Frankfurt/M. 1998. 221 Vgl. M. Henry, Inkarnation, 385ff., zum »mystischen Leib« der Kirche. 222 Kants Werke VI (Akademie Textausgabe), Berlin 1968, 61. 220

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zustellen«, ist radikal phänomenologisch wie mystisch jedoch letztlich nicht möglich, weil das originäre Wesen der Kraft eine immanente Lebensaffektion als ur-anfängliche Hervorbringungsmacht voraus­ setzt, welche als solche niemals in den Sichbarkeitkeitsraum der Welt als thematischen Horizont eintritt. Sich mit dem angeschauten »Bild Christi« zu identifizieren, um daraus für das eigene Handeln eine gleich starke Kraft zu entwickeln, die erkenntniskritisch wie mystisch nicht kategorial deduzierbar ist und der sichtbaren Handlung als deren Motivation und innere Affektion voraus liegt, zeigt eben die Notwen­ digkeit eines ästhetischen Moments für diese gesuchte Entsprechung von Urbild und menschlicher Subjektivität. Somit geht es bei der Wahl eines solchen Bildes darum, praktisch die rein immanente Kraft ihrer Potentialisierung als sich bündelnde Anstrengung über die Motivation zu erproben, was Kant »Maxime« im Unterschied zu den bloß psychologischen »Triebfedern« nannte.223 Genau dies lässt sich als Christuskonformität bei den MystikerInnen beobachten. So wenn Hadewijch von Christus sich sagen lässt: »Dass ich mir, in welchem Ungemach ich mich auch befand, für keinen Augenblick über meine göttliche Macht eine Erleichterung verschaffte, und dass ich niemals Hilfe von den Gaben meines Geistes erwartete, außer dass ich sie mir vor dem Tag, an dem die Stunde der Vollendung meines irdischen Daseins kam, durch den Schmerz des Leidens erwarb, und zwar von meinem Vater, mit dem ich ganz eins war, wie wir jetzt eins sind.« Woraus sich als Frage Christi an Hadewijch ihrerseits ergibt: »Und ich frage dich weiter, wann du jemals in irgendeiner Lebenslage von meinem Vater verlassen warst, wann Er nicht immer mit dir war, so wie Er mit mir und ich mit Ihm war, als ich als Mensch lebte. [...] Ich will mein Menschenleben von dir in allen Tugenden so vollkommen gelebt sehen, dass du mir in meinem Wesen in keinem Punkt nachstehst.«224 Denn kein Gesetz verleiht mit seiner Norm, und sei es im Namen der subjektiven Auto-nomie, zugleich auch jene Kraft, entsprechend den Intentionen eines solchen Gesetzes zu handeln. Insofern ist auch die Urteilskraft in jeder bestimmten Situation an eine immanente UrAffektion gebunden, welche die praktische Einheit von Empfinden, Vgl. H. Renz, Geschichtsgedanken und Christusfrage. Zur Christusanscheuung Kants mit deren Fortbildung durch Hegel in Hinblick auf die allgemeine Funktion neuzeitlicher Theologie, Göttingen 1977. 224 Das Buch der Visionen, Erste Vision, S. 63. 223

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Erkenntnis, Entscheidung und Handeln erlaubt. Das mystische Urbild im christologischen Sinne durchzieht folglich in dieser Hinsicht konstitutiv all diese Erkenntnis- und Willensleistungen als originär gegründetes Freiheitsgeschehen und lässt sie wirktatsächlich werden, damit sich das Bilden der jeweiligen Vorstellung als Werden der Freiheit aus seiner als Offenheit affizierten Mächtigkeit selbst heraus erweist. Die kantische »Gesinnung« umschreibt damit mehr als nur den von keiner empirischen Triebfeder infizierten »reinen Willen«. Denn sie bewirkt das Herausbilden einer konkreten Freiheitsgestalt, welche mit dem Urbild des denkbar freiesten Handelns selbst iden­ tisch ist – mit dem Willen oder dem Reich Gottes nämlich, wie sie in der Christusmystik realisiert sind. Wenn also bereits in einer kritizis­ tischen Philosophie ein konkretes Bild auftaucht, welches nicht nur »viel zu denken gibt«, ohne eine begriffliche Äquivalenz erreichen zu können,225 sondern die größtmöglichste Freiheitsrealisierung selbst umfasst, dann kann dies zumal für eine radikale Epoché innerhalb der Mystik gelten. Hierin gibt die Urbildlichkeit Christi kein nur mehr metapho­ risch oder hermeneutisch vorgestelltes Modell ab, sondern macht die lebendige Identität derselben Wahrheit im inkarnierten Ur-Sohn sowie in jedem lebendig Gezeugten als »Kind Gottes« selbst aus. Diese ur-anfängliche Ästhetik beinhaltet dann eine ebenso unmittel­ bare wie originäre Kraft, welche in ihrer mystischen Selbstaffektion ihr eigenes »Bild« in sich trägt – nämlich die Herrlichkeit Gottes als stets effektiv verlebendigendes Erscheinen. Deshalb kann Johannes vom Kreuz seinerseits schreiben: »Dazu ist anzumerken, dass das Wort, Gottes Sohn, zusammen mit dem Vater und dem Heiligen Geist seinem Wesen nach im innersten Wesenskern der Seele verborgen gegenwärtig ist. Deshalb muss die Seele, die ihn suchen möchte, mit ihrem Fühlen und Wollen aus allen Dingen herausgehen und in tiefster Sammlung in sich hineingehen, wobei ihr alles so vorkommen muss, als wäre es nicht. [...] Man sagt dir schon, dass du selbst das Gemach bist, wo er wohnt, oder das Kämmerchen und Versteck, wo er verborgen ist, das ist Anlasse zu großer Zufriedenheit und Freude, wenn du siehst, dass dein ganzes Heil und Hoffen so nah bei dir

Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft (Kants Werke V Akademie Textausgabe), Berlin 1968, 193f.

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ist, dass er in dir ist, oder besser gesagt, dass du ohne ihn nicht sein kannst.«226 Dass sich solche doxa keineswegs der konkretesten Wahrneh­ mung versagt, sondern als mystische Ästhetik der Herrlichkeit Gottes darin anwesend ist, um die eigentliche Veränderungskraft zu bilden, zeigt sich an den vielfältigen Formen des Berührens, die Jesus selbst ausübte oder an sich geschehen ließ. Seine alltägliche Existenz ist nicht nur von Hunger und Durst, Müdigkeit und Wachen durchzo­ gen, um am Ende seines Lebens äußerste Qual, Demütigung und Verzweiflung zu erproben, sondern er berührt die Kranken, indem er ihnen – wie auch den Kindern – seine Hand auflegt oder sogar seinen Speichel zur Heilung eines Taubstummen benutzt (Mk 7,33f.): »Und er nahm ihn beiseite von der Menge weg, legte ihm die Fin­ ger in seine Ohren, spuckte auf seine Finger und berührte damit seine Zunge, blickte zum Himmel auf, seufzte und sprach zu ihm: Ephphata, das heißt: Sei geöffnet.« Ähnliche affektiv starke Szenen unter leiblicher Berührung und innerem Seufzen wiederholen sich ebenfalls bei der blutflüssigen Frau, welche innerhalb einer großen Menge nur sein Gewand berührte, um gesund zu werden: »Und sogleich merkte Jesus an sich, dass eine Kraft (dynamin) von ihm ausgegangen war. [...] Und er blickte umher, um die zu sehen, die es getan hatte.« (Mk 5,30f.) Diese Kraft, welche sich im Berühren wie Berührtwerden manifestiert, ist ein christusmystisches Korrelat jener Vollmacht (exousia), mit der Jesus überhaupt heilt und spricht. Daher stellt die dynamis Jesu nicht nur eine bloß formale Möglichkeit dar, sondern den »Erst-Lebendigen« selbst in seiner effektiven ousia – und dies unter Einbeziehung seiner unmittelbaren Sinnlichkeit als Inkarnationswirklichkeit, was ersichtlich werden lässt, dass die »Christusmystik« in allen Augenblicken gelebt zu werden vermag. Nimmt man die übrigen Evangelien hinzu, so erweitert sich das Berühren durch Gesalbtwerden, Küssen und Benetzen seiner Füße mit Tränen seitens einer »Sünderin« (Lk 7,37ff.), bzw. wäscht Jesus selbst die Füße seiner Jünger (Joh 13,1ff.), oder lässt sich nach der Auferstehung von Thomas anfassen, indem dieser seine Hand in Jesu Seite legt (Joh 20,27f.). Wenn gerade die neutestamentlichen Osterberichte davon motiviert sind, durch ihre Darstellungsweise einem bloß geistigen Verständnis der Auferweckung zuvorzukom­ 226 All mein Tun ist nur noch Lieben. Geistlicher Gesang B, Strophe 1,6–7, FreiburgBasel-Wien 2019, 119.

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men und eine tatsächliche Auferstehung des Fleisches zu bekunden,227 so drängt sich der Gesamtbefund auf, dass die subjektive Sinnlichkeit in ihrer phänomenologischen Ursprungswirklichkeit zum konkreten Vollzug der Offenbarungswirklichkeit Christi als Vollmacht und Kraft der doxa Gottes selbst gehört. Wir können hier diesbezüglich nicht alle leiblichen und affektiven Äußerungen Jesu im Detail aufzählen, etwa seine Freude über die Schönheit der Lilien des Feldes, die kostbarer als Salomo in dessen Pracht sind (Mth 6,28f.), oder auch die stille Präsenz der Frauen, welche ihn mit seinen Jüngern auf den Wanderungen von Dorf zu Dorf begleiten, um ihm zu dienen (Mth 27,55). Dabei lässt sich unter anderem auch indirekt erkennen, dass ein originär erotisches Empfinden bei solcher Begleitung nicht ausgeschlossen sein muss, denn sonst hätte Jesus kaum einen solchen Satz sprechen können, wie er bei der Auseinandersetzung um die Ehescheidung fällt: »Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau nur begehrlich ansieht, hat schon in seinem Herzen mit ihr die Ehe gebro­ chen.« (Mth 5,28) Die spätere »Erotisierung« bei den MystikerInnen kann daher im Verhalten Jesu selbst geschöpft werden, nämlich keine Begegnung einer liebenden Zustimmung zu entziehen, die sich dann christusmystisch auf alles Leben ausweitet. Dass insbesondere der für die Judenchristen schreibende Evan­ gelist Matthäus nach rabbinischer Tradition einen zusätzlich schüt­ zenden Zaun der inneren Gesinnung um das eigentliche Scheidungs­ verbot legt, mag exegetisch für die Textredaktion mit eine Rolle spielen. Aber wenn man den Blick auf die Sensibilität Jesu richtet, um in ihr eine inkarnatorische Entsprechung zwischen originärer Heilsherrlichkeit und mystisch leiblicher Vollzugswirklichkeit zu ent­ decken, dann lässt sich zu keiner anderen Schlussfolgerung gelangen, als dass im Neuen Testament eine strukturelle Christusmystik vor­ liegt, welche grundsätzlich keine konkrete Erscheinung ausschließt – bis auf den Anspruch der Sünde. Ohne dies in allen Einzelheiten innerhalb der vier Evangelienschriften belegt zu haben, was eine eigene Aufgabe wäre, kann dennoch gesagt werden, dass erst eine umfassend ästhetische Sichtweise es ermöglicht, die Einheit von jesuanischer Erscheinung in deren subjektiver Konkretheit mit der absolut lebendigen Wirklichkeit des Selbstoffenbarens der Herrlich­ Vgl. H.U. von Balthasar, »Mysterium Paschale«, in: J. Feiner u. M. Löhrer (Hgg), Mysterium Salutis III/2, 256ff.; M. Striet, Gottes Schweigen. Auferweckungssehn­ sucht – und Skepsis, Mainz 52018. 227

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keit Gottes zusammen zu sehen. Dass alles sinnlich Affizierte, das heißt alle »Lebensäußerungen« Jesu, Gott unmittelbar selber zu offenbaren vermögen, sofern seine doxa und dynamis darin wirken, sprengt jede Vorstellung, die das Erscheinen des göttlich Wirklichen nur gemäß einem kategorial intuitiven Schema der Wahrnehmung oder Seinsidee zu vereinen sucht. Insofern aber in der lebendigen Selbstaffektion eines jeden Menschen jene lebendig machende Kraft Gottes durch den Erst-Lebendigen immer schon mitgegeben ist, kann die christusmystische Gewissheit solcher Lebensübereignung als in der aisthesis jeder sinnlichen Empfindung und Wahrnehmung selbst erprobt werden.228 Wer folglich ein Fleisch im radikal phänomenologischen Sinne berührt, und zwar das seine wie das des Anderen, berührt darin grundsätzlich auch Christi Fleisch – und somit die mystische Heils­ wirklichkeit in ihm als dem Erst-Lebendigen. In diesem originären Sinne bezeichnen daher Christusmystik und Leben dasselbe, was zugleich die Möglichkeit bietet, der dekonstruktivistischen Kritik der »Haptologie Christi« als einer bloß intuitionistischen oder metaphy­ sischen Präsenzontologie zu entgehen, wie Jacques Derrida sie in Bezug auf Jean-Luc Nancy vorgebracht hat.229 Eine Phänomenologie, welche das Berühren auf den ausschließlich mundanen »Kon-takt« der intersubjektiven Wahrnehmung einengt, ohne zu sehen, dass die menschliche wie jesuanische Sinnlichkeit schon immer über eine gleich immanente Kraft der Affektivität im »Ungrund« des einen inkarnatorischen Lebens miteinander verbunden sind, verkürzt die ästhetisch mystischen Zusammenhänge, welche nicht bloß in einer substantialistischen Präsenzontologie und deren Gegensatz als einem ursprungskritischen Differenzdenken beruhen. Insofern bildet eine Wiederentdeckung der ipseisierenden Wirklichkeit Christi als einer umfassenden Mystik originärer Verlebendigung zugleich die Antwort auf jedes Denken, welches im Ansatz seiner Selbstbegründung schon um die mystisch ästhetische Unmittelbarkeit verarmt ist, um auf dem Boden einer solchen Abspaltung dann ebenfalls eine begrenzte Gegenüber Karlheinz Ruhstorfer wäre daher die Frage, ob dies nicht die eigentliche Öffnung heute darstellt; vgl. Befreiung des »Katholischen«. An der Schwelle zu globaler Identität, Freiburg-Basel-Wien 2019, 127ff. Denn außer der Integration der Postmoderne bliebe ebenfalls die Geschichtshermeneutik als solche aufzubrechen. 229 Vgl. Le toucher – Jean-Luc Nancy, Paris 2000, 116ff. (dt. Berühren, Jean-Luc Nancy, Berlin 2007); dazu R. Kühn, Postmoderne und Lebensphänomenologie, 368–407. 228

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Kritik eines sich selbst aufhebenden Christentums zu verfolgen, selbst wenn kunstgeschichtlich relevante Themen dabei nicht ausgeblen­ det werden.230 Die genuine Christuswirklichkeit kann über keinen begrifflichen Präsenzgedanken demonstriert oder differe(ä)ntiell des­ avouiert werden, weil sie immer schon qua Passibilität des leiblichen Lebens zur praktischen Möglichkeit des originär christusmystischen Empfindens selbst gehört. Genau dies zeigt der Verklärungsbericht der Synoptiker, denn Jesus wird hierbei durch die Attribute der Theophanie Jahwes aus dem Alten Testament ausgezeichnet, wie sie mit dem strahlend weißen Licht und der Wolke gegeben sind (Mth 17,2ff.; Mk 9,2ff.). Dem entspricht, dass die drei Jünger Petrus, Johannes und Jakobus nicht nur Moses und Elias »in Herrlichkeit« erblicken, sondern auch Jesu Herrlichkeit (doxan autou) sahen (Lk 9,22). Was diese Herrlichkeit und somit Verwandlung als Verklärung ausmacht (Mth 17,2), ist jenes Sohnsein, an dem der Vater, das heißt die Stimme aus der Wolke, »sein Wohlgefallen hat« (Mth 17,5). Wie alle Theophanieberichte ist auch dieser durch das Erschrecken und die Furcht der Jünger auf der menschlichen Seite gekennzeichnet. Aber wenn alle drei Texte dennoch übereinstimmend sagen, dass es für die Jünger »gut« war, »hier zu sein« (Mth 17,4 par), dann entspricht dem genau, am zentralen christusmystischen Ereignis der neutestamentlichen Botschaft teilzuhaben. Im Hören auf Jesus als den Christus (Mth 17,5) wird Gottes eigenes »Wohlgefallen« erprobt. In dieser Einheit der Doxa Gottes und der Herrlichkeit Christi nimmt mithin der Verklärungsbericht die Osterbotschaft vorweg, auf die explizit ver­ wiesen wird (Mth 17,9; Mk 9,9f.), weil das mystische Wesen dieses Ur-Sohnes die originäre Bezeugung des Wortes Gottes selbst ist, welches ein immanent vernehmbares Wort des Erst-Lebendigen für alle Lebendigen ist. So frug sich gleichfalls Theresa von Avila nach einem Kommunionempfang mit nachfolgendem Verweilen im Gebet, »was die Seele in diesem Augenblick wohl macht. Da sagte der Herr zu mir folgende Worte: Sie wird ganz und gar zunichte, Tochter, um so tiefer in Mich einzudringen. Nun ist es nicht mehr sie selbst, Vgl. J.-L. Nancy, Noli me tangere, Berlin 2008, über Auferstehungsdarstellungen in der Malerei; La Déclosion (Déconstruction du christianisme, I), Paris 2005 (dt. Dekonstruktion des Christentums, Berlin 2008); dazu auch F. Rass, A.S. Horn u. M.U. Braunschweig (Hg.), Entzug des Göttlichen. Interdisziplinäre Beiträge zu Jean-Luc Nancys Projekt einer »Dekonstruktion des Christentums«, Freiburg/München 2017. 230

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die lebt, sondern Ich lebe in ihr.« Und diesen Verweis auf Gal 2,20 kommentiert Theresa weiter mit dem Satz:" Da sie nicht begreifen kann, was sie da versteht, ist es ein Verstehen im Nichtverstehen«231 – mithin in der rein christusmystischen Erprobung. Die ästhetisch mystischen Kategorien einer radikalen Religions­ phänomenologie232 des Erscheinens Gottes in der inkarnierten Mani­ festation Jesu als Licht und Verwandlung in den Augen der drei Jünger beinhalten also keine äußere Glorifizierung des Menschensohnes als eines isolierbaren Ereignisses. Vielmehr betrifft diese Verklärungs­ mystik die Ur-Bildlichkeit Jesu Christi als Gottes lebendiges Wort selbst, so dass die stellvertretend für alle Menschen genannten Apos­ tel ein »Wohl-Sein« empfinden, um in einem solchem »Hier« (hode) des Guten »Wohnung zu nehmen« (Mk 9,5). Im Offenbarwerden der doxa Christi erfahren sie folglich ihre immanent mystische Bleibe als die originäre Gewissheit ihres Lebens und dessen Gutsein. Jedes Empfinden eines Gutseins schließt auf diese Weise im radikal phä­ nomenologischen Sinne die Christusmystik als »Verklärung« auch unseres Lebens ein, wobei die weitere Rahmenerzählung von der Passionsankündigung unmissverständlich anzeigt (Mk 8,31f.), dass das Leiden davon nicht ausgenommen ist – ohne dadurch allerdings die Grundtatsache der Freude des Evangeliums (eu-aggelion) irgend­ wie aufzuheben, welche der Seligkeit des Lebens als mystischer jouissance entspricht.233 Deshalb kann dieselbe Theresa von Avila letztlich festhalten: »In dieser Agonie [der Seele] genießt sie die tiefste Beseligung, die sich nur ausdrücken lässt. Nichts anderes scheint es mir zu sein, als ein fast gänzliches Sterben für alle weltlichen Dinge und ein Genießen Gottes. Ich weiß keinen anderen Begriff, um das auszudrücken, noch es zu erklären, und die Seele weiß in dem Augenblick auch nicht, was sie tun soll, denn sie weiß nicht einmal, ob sie spricht oder schweigt, lacht oder weint. Es ist ein herrlicher Unsinn, eine himmlische Verrücktheit, in der man die wahre Weisheit lernt, und für die Seele eine höchst beseligende Art des Genießens.«234

Das Buch meines Lebens 18,14, in: Werke und Briefe. Gesamtausgabe I-II (Hgg. U. Dobhan u. E. Peeters), Freiburg-Basel-Wien2015, S. 252. 232 Vgl. M. Henry, Radikale Religionsphänomenologie, 189ff. 233 Vgl. ebenfalls B. Spinoza, Ethik (Werke 2), Darmstadt 1967, Teil V, 504ff., über Seligkeit als ethische Nicht-Knechtschaft im Handeln. 234 Das Buch meines Lebens 16,1 (S. 237). 231

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2. Inkarnatorische Elemente einer »Christusmystik«

Die Offenbarung insgesamt als »Christusmystik« zu bestim­ men, bedeutet daher für eine originär fundierte Phänomenologie einerseits die innertrinitarischen Bezüge strukturell als Wirklichkei­ ten einer ewigen Fleischwerdung zu verstehen sowie andererseits keine Erscheinung unseres Lebens von der Inkarnation Christi als der mystischen Ur-Ipseität zu trennen. Wenn demzufolge in jeder immanenten Modalisierungsweise solchen Lebens, das heißt in seiner transzendental leiblichen Sinnlichkeit, kein Vollzug denkbar ist, der nicht die lebendige Wirklichkeit christusmystischer Offenbarung berührte, dann leben wir in allem affektiv gefärbten Situativen der Existenz ein Offenbarungsmoment der ewigen Selbstoffenbarung Gottes in seinem inkarnierten Wort selbst. In einem originären Sinne ästhetisch wie mystisch ist dabei die jeweilige Verknüpfung von Freude/Schmerz als permanenter Lebensübergang von Immanenz zu Immanenz sowie auch deren Verbindung mit einem unmittelbaren Handeln, welches durch die innere Lebensaffektion das »Wort des Lebens« im Sinne absoluter Offenbarung als ethos solcher Immanenz vernimmt.235 Denn da sich die ur-anfängliche Phänomenalisierung des Lebens im Sinne von dessen originärer Leibwerdung als »Fleisch« vollzieht, das wir je subjektiv sind, vollzieht sich darin auch jenes »Sprechen Gottes«, welches seinerseits in der ewigen Fleischwerdung des Ur-Sohnes seine mystisch immer wieder neue Gestalt gewinnt. Diesseits aller Vorstellung kann dann Gott weder als ab- noch anwe­ send proklamiert werden, sofern man darunter intentionale Modi des Vermeinens versteht, sondern als fleischliche doxa beinhaltet jeder inkarnierte Augenblick die mystisch erprobte Herrlichkeit Gottes, da nämlich das absolut phänomenologische Leben Gottes in sich selbst durch den »Sohn« als Erst-Lebendigen gelangt, in dem wir ebenfalls originär geboren werden. Weil der Übergang Freude/Schmerz als Phänomenalisierung von Leben/Leib immer auch Handeln impliziert, und sei es nur als eine erste Ausrichtung der Motivation und Anstrengung als der immanent sich konkretisierenden Kraft im Übergang, ist dieser scheinbar so ephemere Augenblick einer solch immanenten Phäno­ menalität stets ebenfalls eine mystische wie existentiell geschichtli­ che Wirklichkeit. Das Wirken des historischen Jesus von Nazareth beinhaltet – inkarnatorisch gesehen – die Gegenwärtigsetzung Gottes 235 Vgl. R. Kühn, Alles, was leiden kann. Zur Ursprungseinheit von Freude und Leid, Dresden 2019, 38ff.

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2. Inkarnatorische Elemente einer »Christusmystik«

als Verwirklichung des absoluten Lebens des Vaters in der »Gesin­ nung« wie in den Gesten Jesu. Fasst man jedoch diesen Begriff der Gesinnung nicht nur im Sinne Kants als den formalen Imperativ der Freiheit hinsichtlich ihrer autonomen Selbstsetzung, sondern eher in Übereinstimmung mit Fichte und Schelling als »Fleischwer­ dung der Liebe Gottes in uns sowie um uns herum«,236 bzw. als Potentialisierung des Bewusstseins aus einer absolut positiven Her­ vorbringungsmacht heraus, dann wird nochmals deutlich, dass solche Gesinnung unmittelbar ein originäres Ethos bedeutet – konkretes Werden des individuierten Lebens als Ausfluss oder Hervorbrechen des je originären Lebens im christusmystischen Sinne.237 Christus als das Wort Gottes, das heißt als die effektive Selbstof­ fenbarung des einen göttlichen Lebens in seinem Sohn (1 Joh 1,1–3), kennzeichnet innertrinitarisch wie geschichtlich diesen je ursprünglich gebärenden Augenblick oder mystischen Ausfluss des Hervorbrechens Gottes selbst, ohne dass er dabei sich selbst als »Ungrund« seiner Gottheit verließe. Meister Eckhart hat diesbezüg­ lich verdeutlichet, dass jede andere Bestimmung der ursprünglichen Individuierung oder »Seelengeburt« zu kurz greift, falls sie sich nicht in diesem in sich verbleibenden Über-gang von Herausfluss und Zurückfluss verortet, da nur hierdurch jede temporale Bestimmung durch einen begrenzenden Bildcharakter im Horizont der Weltsei­ enden vermieden wird.238 Und dennoch ist damit christusmystisch die Weltwerdung als Geschichtswerdung nicht ausgelöscht, denn die Kraft des Hervorbrechens als innerstes »Werk Gottes« ist zugleich das je immanent affektive Handlungsmoment, in dem »Sein« wird. Wenn wir dabei nur die Übereinstimmung mit einem Gesetz oder einer Regel suchen würden, gäbe es im strikten Sinne nie wirklich etwas Neues, sondern immer nur Wiederholung des Selben, das heißt eines imaginär vorgestellten ewigen Modells, welches es als solches nicht geben kann, insofern Gottes und der Seele Geburt »im Sohn« stets die absolute Aktualität ihrer unzeitlichen Potentialität darstellen. Christus ist damit nicht vornehmlich in der geschichtlichen Vergangenheit aufzusuchen, wodurch er ein rein hermeneutisches 236 Vgl. J G. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre, Hamburg 41994, 94f. 237 Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung (Schellings Werke, 6. Ergän­ zungsband) (Hg. M. Schröter), München 41983, 319ff. 238 Vgl. K.H. Witte, Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens, Frei­ burg/München 2013.

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2. Inkarnatorische Elemente einer »Christusmystik«

Problem der Überlieferung bliebe, sondern er ist vielmehr die sich jetzt gebende heilsentscheidende wie mystische Wirklichkeit – Freude und Schmerz als Tod und Auferstehung, als Hervor- und Übergang zum Vater (Joh 20,17) in diesem Jetzt, welches zugleich ein originäres Hier ist. Für eine dergestalt verstandene Ästhetik wie Mystik Christi macht dann die historisch bedingte Unterscheidung in religiös und profan keinen Sinn mehr. Aber deren Aufhebung bedeutet nicht, dass alles Profane oder Säkulare dann im Nachhinein von einer dogmatisch vorherbestimmten Religiosität wieder symbolisch ver­ einnahmt würde, sondern dass jede Wirklichkeit unmittelbar in ihre unverzichtbare Lebensempfängnis zurückgebunden wird – und in diesem Sinne der Bestimmung originärer Christusmystik nicht ausweichen kann.239 Als radikal phänomenologische In-karnation bedeutet jede Wirklichkeit eine Verleiblichung, eine Investitur des Fleisches, ohne deren Vollzugseffektivität nichts geschähe. Aus die­ sem Grund beinhaltet jede Situation als Geschichtsmoment eine absolute »Lebenssituativität«, die weder beliebig noch auflösbar ist. Es ist die transzendentale Geburt in einem unverrückbaren »Hier« des Lebens – wie im angeführten Verklärungsbericht – als je singuläre Ipseisierung, die als eine zuvor unhintergehbare Lebensaffektion sowohl die Unverrückbarkeit des Situativen (Kreuz) wie die Verwand­ lung der Herrlichkeit Gottes (doxa) in sich schließt. Beide Momente jedoch nur als zeitlich geschichtliche Augenblicke gelten zu lassen, bzw. als dialektische Bewusstseinselemente von Erfahrung und Kul­ tur, wie es Hegel unternimmt, verkennt zu schnell, dass das rein phänomenologische Leben nicht nur eine Offenheit des Werdens darstellt, sondern in sich ebenfalls eine unauflösbar passible Selbst­ bindung als seine ursprünglich christusmystische Bedingung kennt. Es ist dem Leben nämlich nicht möglich, sich von sich selbst zu lösen, um ein »anderes Leben« zu sein – und in diesem Sinne »wird« das Leben nicht, sondern ist es je die selbe ursprüngliche Verlebendigung, ohne damit jedoch einem allgemeinen Gesetz zu unterliegen. Diese ewige Selbstbindung des Lebens an sich selbst schließt seine immanente Selbstbewegung keineswegs aus, was die Christusmystik in ihrem innertrinitarischen wie ästhetisch sinnlichen und geschichtlichen Sinne unterstreicht, deren Einheit wir mit jedem 239 Vgl. R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätsbezug, Dresden 2017, 33ff.

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Empfinden in affektiver Historialität von Freude/Leid erproben. Die Benennungen, welche wir solchem Empfinden individuell wie inter­ kulturell verleihen, können unendlich vielfältig sein; entscheidend bleibt für den Wirklichkeitsbereich radikaler Phänomenologie ohne jede Metaphorik, dass wir dieses Empfinden erproben müssen, um im Leben zu sein. Das Müssen solcher Erprobung als Passibilität ist schließlich aber keine andere christusmystische Struktur, als dass Gott sich selbst offenbaren muss, um das Leben zu sein. Das heißt, niemals weniger als sich selbst geben kann, wie Meister Eckhart sagt, um sich als den Sohn im Sinne der Ur-Ipseität zu gebären, der wir somit in jedem Erscheinen nicht nur begegnen, sondern selbst sind, sofern sich dadurch die originäre Fleischwerdung in uns vollzieht, so wie wir die unsrige in ihr verwirklichen. Die hier verfolgte Strukturaffinität zwischen Christusmystik und radikaler Phänomenologie betrifft demzufolge eine Ursprungsanalyse reiner Singularität, in der die originäre Identität mit Gott und den Anderen als mystische Ur-Gemeinschaftlichkeit keineswegs ausgeschlossen ist. Der entscheidende Punkt hierbei in methodischer Hinsicht ist jeweils die christusmystische Frage der ur-anfänglichen Verlebendi­ gung als Untrennbarkeit von Leib/Leben, die wir ohne jede Differenz und Verdrängung in reiner Immanenz sind.240 Hadewijch drückte solche Christusmystik mit Hilfe der Braumystik aus: »Dann kam Er selbst zu mir und nahm mich fest in seine Arme und drückte mich an sich, und alle Teile meines Körpers spürten den seinen, so dass es ihnen, entsprechend dem Verlangen meines Herzens – nach meinem Menschsein – eine Lust war. [...] So wie Geliebte sich gegenseitig empfangen können und dabei eine vollkommene Befriedigung des Sehens und des Hörens, des Ineinander-Aufgehens erfahren.«241 Die Freiheit zu können als auch die radikale Situiertheit des Lebens gründen daher in jenem zuvor genannten originären Wie, dessen Potentialität Empfang und Gebung als dieselbe Ur-Affektion in sich vereint, das heißt als Affektabilität einer christusmystischen Struktur, worin Leib und Leben eins sind. Mit anderen Worten eine Wirklichkeit des Ursprungs stets aktueller Verlebendigung, welche das Neue Testament – und darin besonders das Johannes-Evangelium Vgl. daher auch in Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie R. Kühn, Primärerfahrungen, Ursprung und Nachträglichkeit. Grenzgänge zwischen Psycho­ analyse und Phänomenologie, Gießen 2021. 241 Das Buch der Visionen, Siebte Vision, S. 97. 240

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2. Inkarnatorische Elemente einer »Christusmystik«

– als das mystische Verhältnis »gegenseitiger Innerlichkeit« von Vater/Sohn und uns herausstellt. Phänomenologisch maßgeblich ist hierbei weniger die sprachlich genealogische Metaphorik als die zu erprobende Wirklichkeit der einen strukturellen Meta-Genealogie: kein singuläres Leben, das nicht hervorgebracht wäre, ohne von der christusmystischen Hervorbringungskraft selbst jemals getrennt zu sein. Diese Einheit ist unser Leib, christologisch gesprochen die Inkarnation. Um letztere zu verstehen, haben wir unseren Leib nicht interpretierend uns vorzustellen, sondern jeweils ohne Distanz zu erproben, so dass Erprobung und Immanenz christusmystisch das Selbe bezeichnen – die transzendental materiale Ermöglichung des Lebens als Offenheit, die sich originär als Situation wie Freiheit zugleich manifestiert. Von daher ist es durchaus verständlich, dass die Christusfigur philosophisch in der Neuzeit meist als Idee oder Gestalt der Freiheit verstanden wurde, aber meist um den Preis einer nicht immer gleichzeitig herausgesellten älteren mystischen Verlebendi­ gung. Denn Freiheit ist stets leiblich gebunden, und diese originäre Verbindung ist nicht kontingent, wie die Tradition meist annahm, sondern als »Können zu können« im Sinne Kierkegaards eine absolut relationale Ermöglichung, die wir nicht selbst verfügt haben.242 Insofern finden wir bei allen maßgeblichen Strukturelementen der christusmystischen Ursprungsfrage diese Bezüge wieder, welche inkarnatorisch Leib und Leben »im Anfang« miteinander verknüpfen, so dass zwischen ihnen eine zu erprobende Identität hervortritt. Letztere ist demzufolge nach dem zuvor Ausgeführten keine formale Identität von A = A, sondern die Immanenz einer Gegenseitigkeit, welche beinhaltet, dass sich das Leben selbst als Leib empfängt, indem der Leib das Leben empfängt – mithin ein und dieselbe mystische Hervorbringung als Fleisch sind. Die Einheit dieser fleischlichen oder passiblen Identität als Rezeptivität besteht im Modus des Sichgebens, welches sich selbst entgegennimmt. Ein sich selbst empfangendes Geben ist insoweit die Originarität schlechthin, als alle Phänomene des Erscheinens diese christusmystische Struktur aufweisen. Denn nichts kann erscheinen, was einerseits nicht gegeben wäre (Leben) und andererseits nicht als Sinnlichkeit empfangen würde (Leib). Dies drückt in theologisch metaphorischer Genealogie die »Fleisch­ werdung des Sohnes« aus, der die »Selbstgebung des Vaters« als 242 Vgl. M. Henry, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München 2017, 42ff.

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2. Inkarnatorische Elemente einer »Christusmystik«

immanentes »Wort« originärer Verleiblichung ist, das heißt als die ipseisierte Proto-Relation oder Christusmystik vor aller Zeit. Dies enthält gleichfalls Hadewijchs Erleben in einer »Vision über die Zeiten« hinaus: »Und ich wurde aufgenommen und auf diesen Berg geführt. Da sah ich ein Angesicht ewigen Genießens, in das die Wege alle enden und in dem all diejenigen eins werden, die die Wege bis ans Ende gegangen sind.«243 Auf dieser originär mystischen Bezüglichkeit beruhen Freiheit und Situativität unserer je leiblichen Subjektivität, welche die Offen­ heit wie Selbstbindung des Lebens in sich auf der Grundlage derselben Ursprungsermöglichung in sich vereint. Eine inkarnatorische Chris­ tusmystik als ipseisierende Selbstgründung des Lebens innerhalb seines eigenen immanenten Hervorbringungsprozesses »im Anfang« entspricht dieser originären Struktur als Offenheit/Selbstbindung im Sinne der ursprünglichen Gegenseitigkeit ohne Kluft. Als Ursprungs­ wort des »Vaters« ist der »Sohn« genau die Ermöglichung einer solchen Relation, indem er empfängt, was sich gibt, um damit jeden Bezug im Erscheinen als Offenheit zu konstituieren, das heißt als Ver­ wirklichung des Lebens, welches er als der Erst-Lebendige zugleich bleibt. Der Bezug des »Hörens« des Wortes Gottes als Wirklichkeit des Ur-Sohnes beinhaltet in solch empfänglichem Vernehmen als ori­ ginärer Offenheit aber dadurch gerade eine ebenso originäre Selbst­ bindung, insofern die Offenheit des Hörens die unauflösbare Zustim­ mung in das Ursprungsleben als Selbstbindung des Erst-Lebendigen in diesem Leben selbst darstellt.244 Wenn dies in der Philosophieund Theologiegeschichte eine transzendentale Freiheitsbestimmung des Menschen sowohl als Offenheit wie Selbstbindung im Sinne von Autonomie und Selbstgesetzgebung (Kant) bzw. als Daseinsent­ wurf und Seinsbegegnung (Heidegger) impliziert, dann sind entspre­ chende existenziale Bestimmungen jedoch nur letztlich gerechtfertigt, wenn ihr wirktatsächlicher Vollzug als Potentialisierung aus der christusmystischen Verlebendigung selbst heraus berücksichtigt wird. Eine lebensmystisch verstandene Christologie betrachtet mithin die immanente Struktur jener Singularität,245 welche als rein prakti­ sche Subjektivität die Originarität des Lebens als je selbstaffektives Können vollzieht, worin die Inkarnation des Ursprungs als stets 243 244 245

Das Buch der Visionen, Achte Vision, S. 99. Vgl. M. Henry, Christi Worte, 139ff. Vgl. ebenfalls D. Remmel, Gottes Sohn im Fleisch, 506ff.

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2. Inkarnatorische Elemente einer »Christusmystik«

lebendige Leiblichkeit im Sinne der Passibilität noch vor aller Frei­ heit als intentionalem Entwurf gegeben ist, Auf diese Weise ist die Leiblichkeit als immemoriables Fleisch dieser singuläre Ursprung als absolut phänomenologisches Leben selbst, da dieser Ursprung unter keinerlei kategorialen Vorgaben erinnert oder vorgestellt wer­ den kann. Wenn Christi Tod und Auferstehung den »vollbrachten« Durchgang (Joh 19,30) durch alle Vorstellungen, Begriffe und Bil­ der beinhaltet, und zwar als mystischen Durchgang in je konkreter sinnlich affektiver Erprobung, dann ist sein originäres Lebendigsein als Ur-Sohn die stets reine Offenheit wie Situativität für das uranfängliche Leben, ohne noch eine Metaphorik oder ein Gesetz für die Verwirklichung dieses Lebens in Anspruch nehmen zu müssen. »Christusmystik« bezeichnet dann diese singuläre Phänomenalisie­ rungweise des Ursprungslebens ohne Kluft oder Differenz, während die Weltphänomenalität die Formen der Alterität zu ihrer Vorausset­ zung hat. Damit ist auch unsere Freiheit als Offenheit wie Situativität für eine ununterbrochen originäre Verlebendigung bestimmt, die nicht an den Grenzen des Weltseins als Entfremdung endet, sondern im Ursprungsgedächtnis des Leibes als Könnensvollzug schon immer aus dieser Begrenzung mystisch herausgerufen ist – ohne die Realität des »Außer-sich« als Notwendigkeit sowie als Leid und Tod existen­ tiell zu verkennen.246 Die kategoriale Phänomenalisierung durch Raum- und Zeitan­ schauung als transzendentale Ästhetik zu bezeichnen, ist seit Kant geläufig. Da jedoch auch Räumlichkeit und Temporalisierung darüber hinaus auf einer selbstaffektiven Verlebendigung als Fundierung der Transzendenz durch die Immanenz beruhen, lässt sich der Begriff der Ästhetik als Mystik demzufolge auf den Ursprung der Verleben­ digung als Proto-Relation jeglicher Hervorbringung selbst anwenden, wie es in diesem Kapitel im Ausgang von der neutestamentlichen doxa aus geschah. Insoweit dann Ästhetik jegliches Erscheinen originär zusammenführen kann, ist sie ebenfalls die ursprüngliche Einheit von Leben/Welt sowie Gott/Mensch, ohne einen Monismus oder Pantheismus zu implizieren, da die strukturell relational bestimmte Ursprungshervorbringung als mystische Meta-Genealogie die Bedin­ gungsverhältnisse von Absolut/Singulär wahrt. Die Ästhetik wie 246 Für weitere aktuelle Leibanalysen vgl. gleichfalls E. Alloa, Th. Bedorf, Chr. Grüny u. T. N. Klass (Hgg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen 2012.

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2. Inkarnatorische Elemente einer »Christusmystik«

Mystik ginge verloren, wenn das Singuläre wie ein Tropfen im Meer oder im Nirvana verschwände,247 denn der ästhetische Vollzug ist gerade je einmalig erprobte Singularität, ohne in die Illusion der All­ mächtigkeit dabei zu verfallen. Radikale Phänomenologie wie Chris­ tusmystik bewahren beides, die Singularität wie deren Vollzug durch einen Ursprung, der sie ohne Kluft oder Allgemeinheit ipseisierend ermöglicht. Daher können wir in der Struktur einer Christusmystik durch das rein phänomenologische Leben jene transzendentale Bedin­ gung erblicken, welche den Glanz (doxa) des Absoluten im einzelnen subjektiv leiblichen Erscheinen ermöglicht, sofern diese umfassende Ästhetik der Erscheinung inkarnatorisch gefasst bleibt, das heißt als eine ursprüngliche Verleiblichung von Bezüglichkeit schlechthin. Wenn wir in allem Christus berühren, dann ist jeder singuläre Bezug unserer leiblichen Subjektivität eine solche Berührung aus der inkarnatorisch mystischen Originarität heraus, die zugleich Offenheit und Situativität des Lebens als ästhetische Einheit aufscheinen lässt. Dass dadurch jeder Lebensaugenblick eine unendliche Kostbarkeit wie Würde empfängt, welche alle Gemeinschaftlichkeit originär prä­ gen, ist keine kontingente Ergänzung dieses Ursprungsverhältnisses, sondern seine gleichursprünglich ethische Wirklichkeit als originäre Einheit von Mystik/Ethos. Die jeweilige Gesamterprobung des sin­ gulären Lebensvollzuges nicht mehr in verschiedene Disziplinen wie Ethik, Religion, Mystik und Ästhetik aufspalten zu müssen, sondern als unmittelbar sinnlich inkarniertes Einheitsgeschehen zu erproben, bleibt daher der große Gewinn einer radikal phänomenologisch ver­ standenen Christusmystik, die dann ihrerseits nicht mehr nur als Paradox oder Mysterium einer Zwei-Naturen-Lehre in einer Person erscheint, sondern im Schoß jeder gelebten Wirklichkeit selbst ange­ siedelt werden kann. Denn das stets gegebene »Mehr« des Lebens ist jene originäre Wirklichkeit, welche in jeder Situation schon immer über diese hinaus ist, wie es im Übergang von Tod/Auferstehung gerade durch den »Erst-Lebendigen« nicht nur angezeigt, sondern effektive Wahrheit ist. Insofern ist jede Mystik »Christusmystik«, da sie stets schon über jedes »Hier und Jetzt« als angenommene Fixierung des Endlichen oder Vergänglichen hinaus ist, was in jeder mystisch tautologischen Sprache zum Ausdruck kommt.

247 Zur Abgrenzung von der Lebensphilosophie Schopenhauers etwa M. Henry, Inkarnation, 285ff.

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3. Offenbarungsbegriff und Frage der Tautologie

Folgt zunächst jedes Erkennen der Welt, sei es naiv, wissenschaftlich oder philosophisch, dem Spiel der Intentionalimplikationen samt deren sprachlicher Äußerung, um jeweils in einer Momentanevidenz einen Erkenntniserwerb zu verzeichnen, so lehrt uns hingegen die bisher dargestellte Unzurückführbarkeit der phänomenologischen Wahrheit des Christentums auf irgendeine mundane Erkenntnisoder Diskursform, dass dem Denken als Denken a priori jede Möglich­ keit eines Zugangs zur göttlichen Offenbarung als Gottes Selbstoffen­ barung genommen ist.248 Und zwar keineswegs, weil unser Denken an sich zu schwach wäre, um einen Gott des Seins zu denken, »über dem nichts Größeres gedacht werden kann«, wie Anselm von Can­ terbury249 die lange Reihe ontologischer Gottesbeweise bis Descar­ tes und Leibniz einschließlich Kants und Hegels Kritik einleitete, sondern weil die Phänomenalität des Denkens prinzipiell nicht die Phänomenalität der Offenbarung Gottes als Leben in dessen ewiger Selbstzeugung ist. Deshalb bewirkt auch kein Sagen als Gesagtes (Bedeutung) irgendeinen Zugang zu Gott, sondern es kann höchstens dort die Wahrheit des Lebens aufgreifen, wo es als Bewegung des Zur Trennung von Gott/Sein und Denken/Glauben bereits bei Heidegger siehe dessen Vortrag an die Studenten der Universität Zürich von 1951; zit. J.-L. Marion, Dieu sans l'ȇtre, Paris 1984, 93 (dt. Gott ohne Sein, Paderborn 2012); J. Derrida, Wie nicht sprechen, 97f. 249 Proslogion, Kap. II (Lateinisch-deutsch, Hg. F. S. Schmitt). Bad Cannstatt 21984, 85; vgl. Chr. Brouwer, »Mystique et rationalité chez les penseurs latins des XIè et XIIè siècles: Anselm de Canterbury (1033–1109) et Bernhard de Clairvaux (1090–1153), in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, 97–108. Beide teilen die klärende Funktion der Vernunft in Bezug auf das Wahre und Gute, um den Weg zu Gott vorzubereiten; sie divergieren aber hinsichtlich einer mystischen unio, die nach Anselm nur in einer Schau des Einen durch den Intellekt bestehen kann. In seinen Predigten über das Hohe Lied XXXIII, 9–11 (S. 337f.), erkennt Bernhard »viele Schlafgemächer« je nach Verdiensten von Hoffnung, Glaube, Demut und Wahr­ heit und betont für sich selber eher den Ort der Einsamkeit sowie des Verzeihens und der Gnade Gottes (ebd. XXIII, 15; S. 345f.). 248

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3. Offenbarungsbegriff und Frage der Tautologie

Sprechens im Begehren des Lebensbedürfens selbst wurzelt, um sich als Pathos des Sprechen-Müssens selbst zu sagen. Das heißt, dem lastenden Übermaß der absolut subjektiven Lebensaffektion eine Möglichkeit des Bildes zu verschaffen, in dem es – dem apollinischen Schein nach – eine Zeitlang sich aufhalten kann,250 was zum Teil erklärt, warum mystische Theologie die neuplatonische Tradition aufgreifen konnte. Von der Welt als transzendenter Bewusstseinsphänomenalität her gesehen, vermag sich der Zugang zu Gott aber letztlich nur dort zu ereignen, wo Denken/Sprache gerade ausbleiben, weil die signitive Begriffswahrheit in der Außenheit der Welt als dem ihr zukommen­ den ekstatischen Ort verbleibt. Wenn ein Zugang zu Gott nur im Leben stattfindet, dann deshalb, weil Gott dieses Leben selbst ist und das Wesen des Lebens jene transzendentale Originarität darstellt, sich selbst zu offenbaren und so allem Lebendigen dadurch Zugang zu sich zu verschaffen.251 Die scheinbare Irrationalität des »Faktums« in der Philosophie, weil es nicht weiter durch allgemeine Notwendigkeit aufweisbar erscheint, spricht vom unbefragten Primat der Rationalität als »Licht der Welt« her; in der Gegenreduktion hingegen erweist sich die originäre Faktizität des Lebens selbst als der einzige Grund in seinem All-Offenbaren. Das Gefühl als das radikal Subjektive hat damit sein Recht in jeder Christusmystik nicht nur dadurch, »insofern sich [auch] Gott diese letzte Vereinzelung des Diesen gibt," wie Hegel sagt, sondern indem es die alleinige phänomenologische Effektivität des unmittelbaren Sich-Offenbarens besitzt, während der Geist im hegelschen Kontext nur begriffliche Vermittlung ist.252 Die Wirklichkeit des Sich-Offenbarens ist daher kein Akzidens in Bezug auf das Wesen des Lebens, sondern die absolut phänomeno­ logische Substanz dieses Wesens als dessen material immanentem Selbsterscheinen. Wenn das Christentum als Paradigma für die Reli­ gion schlechthin sagt, wir würden Gott kennen, so meint dies ein unmittelbares Wissen ohne vorherigen Spracherwerb, sei dieser onto­ genetisch oder kulturell performativ, weil das Wissen von Gott nicht Vgl. F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 285ff. Zur Auseinandersetzung auch mit der Psychoanalyse hierbei vgl. R. Kühn, Primärerfahrungen, Ursprung und Nachträglichkeit. Grenzgänge zwischen Psycho­ analyse und Phänomenologie, Gießen 2020. 252 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I (Werkausgabe 16), Frankfurt/M: 1969, 60f.; dazu G. Guo, Arkanum des Lebens. Eine systematische Untersuchung zu Hegels Idee des Lebens, Würzburg 2021. 250 251

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3. Offenbarungsbegriff und Frage der Tautologie

irgendwann wie ein kontingentes Ereignis in unser Leben einbricht,253 sondern weil es an das originäre oder mystische Lebenswissen mei­ ner absoluten Lebensankünftigkeit als dauerndes Sich-Geben der fleischlichen Passibilität selbst gebunden ist. Der erste Schrei als ver­ nehmbarer Laut der Stimme im Außen der Welt bei unserer zeitlichen Geburt ist keine andere Bezeugung als das, was ich von Anbeginn an ohne Unterbrechung bin und in mir vernehme, nämlich die originäre Stimme meiner immanent schweigsamen Geburt.254 Alle gehörten Worte des inneren wie äußeren Dialogs sind in dieser phänomeno­ logischen Gegenreduktion wie Symphonien – bestehend aus den lebendigen Klängen genau dieser Geburt, welche die Musik, weil sie mundan bedeutungs- und referenzlos bleibt, am besten darstellt. Sie trifft uns als lebendig Hörende somit genau in der Mitte dessen, was wir sind – nämlich gebürtige Wesen aus dem ur-anfänglichen Schwei­ gen des Lebens heraus. Denn auch jede Musik hebt ihrerseits im Schweigen an, wird vom Schweigen zwischen den Tönen durchzogen und endet erneut wieder im Schweigen. Der Verweis auf die Musik ist daher kein bloßes Beispiel, keine Metapher,255 sondern notwendigste Einsicht in den phänomenologischen Grundsachverhalt, dass der formale Begriff von »Es gibt«, »Ist« oder Etwas« mit jeweilig dann erfüllter Gegenstandsintention wie -benennung nicht gegeben sein muss, um originäres Wissen, das heißt Lebenswissen um unseren Ursprung als transzendentale Geburt besitzen zu können. Sagt die Musik sich ausschließlich selbst, um nur als solche aus dem Schweigen heraus verstanden werden zu können, folglich ohne Vergleich mit dem Gesehenen und Bezeichneten in der Welt, so ist 253 Vgl. E. Levinas, De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982 (dt. Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg/München 1988). 254 Vgl. hierzu S. Till, Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz. Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Levinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze, Bielefeld 2014. Hinsichtlich des homo natalis im weltlichen Sinne unter Berücksichtigung von Erinnerung, Begehren, Zeit und Raum nach Maldiney, Mer­ leau-Ponty und Patočka siehe auch F. Jacquet, Esquisses phénoménologiques, Bukarest 2021, sowie zuvor schon J. Reaidy, Michel Henry, la passion de naȉtre. Méditations phénoménologiques sur la naissance, Paris 2009, der stärker auf den Aspekt der immanenten Geburt abhebt. 255 Vgl. zum musikästhetischen Verständnis M.-A. Lescourret, »Ist Musik eine symbolische Form?«, in: E. Blattmann, S. Granzer, S. Hauke u. R. Kühn (Hgg.), Sprache und Pathos. Zur Affektwirklichkeit als Grund des Wortes. Freiburg/München 2000, 257–266; siehe auch E. Benz, Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt, Hamburg 1969, 418–440: »Die himmlische Musik«.

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3. Offenbarungsbegriff und Frage der Tautologie

auch das Leben als Selbstoffenbarung allein unmittelbares Wissen in Gott, weil dieses Leben in nichts anderem besteht, als sich ständig in seiner impressionalen Selbstpassibilität als solcher zu offenbaren. Gleiches lässt sich analog von der Kunst, sei sie Malerei oder Poesie, sagen, wobei letztere ein bevorzugtes Ausdrucksmittel der Mystik darstellt; so dass verständlich wird, warum Marvin Döbler die Mystik eher in eine »Religionsästhetik« einordnen möchte als in eine einzel­ wissenschaftlich aufgespaltete »Religionswissenschaft«. Allerdings hebt er nicht den Widerspruch auf, warum das Verständnis Bernhards von Clairvaux über Körper und Sinne doch nur eine »Teilnahme am Mystik-Diskurs« der vorhergehenden Jahrhunderte sein soll, anstatt unmittelbar eine christusmystische Originarität zu erproben.256 So wird die Bedeutung des liturgischen Gesangs hervorgehoben, den Bernhard im Unterschied zur bildenden Kunst im Klosterleben bevor­ zugt, da dergestalt ein Kloster für die »Körperwelt den Rahmen des Weges zu Gott« abgeben kann. Ein letzter Leib-Seele-Dualismus wird auf diese Weise jedoch nicht vermieden, auch wenn beide ad imaginem Dei geschaffen wurden. In der Sichtweise von Etienne Gilson ließe sich allerdings im Bezug von Affektivität und Mystik »gerade von ein und derselben mittelalterlichen Figur« sprechen, welche vorhandene Hierarchisierungen des affectus letztlich für die prinzipiell zusammengehörige Psychologie und Theologie im Sinne einer je spontanen jouissance zuließe, die eine Nähe zum freudschen Begriff des »Affektbetrags« (valeur affective) besitze.257 Fallen somit als mögliches »Kontinuum« radikal phänomeno­ logisch Eigenschaft und Wesen hier zusammen, dann stehen wir allerdings sprachanalytisch vor dem Problem der Tautologie, von dem Wittgenstein sagt:

256 Vgl. M. Döbler, Die Mystik und die Sinne, 17f., 171ff., 189ff. u. 254; P. Din­ zelbacher, Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, Paderborn 2007; J. Mohn, »Von der Religionsphänomenologie zur Religionsästhetik: Neue Wege systematischer Religionswissenschaft«, in: Münchener Theologische Zeitschrift 55 (2004) 300–309. 257 Vgl. D. Boquet, »Les mots avant les choses: mystique cistercienne et anthropolo­ gie historique de l'affectivité«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, 109–120; siehe E. Gilson, La théologie mystique de saint Bernard (1934), Paris 2000, 403ff. (dt. Die Mystik des heiligen Bernhard von Clairvaux, Wittlich 1936), in Abgrenzung von P. Rousselot, Pour l'histoire du problème de l'amour au Moyen Age (1933), Paris 1981, der bei Bernhard einen Widerspruch zwischen einer egoistischen Liebe und rein ekstatischen Liebe festhalten wollte.

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3. Offenbarungsbegriff und Frage der Tautologie

»Die Tautologie hat keine Wahrheitsbedingungen, denn sie ist bedin­ gungslos wahr [...]. Sie ist aber nicht unsinnig; sie gehört zum Symbo­ lismus [...]. Sie ist kein Bild der Wirklichkeit. Sie stellt keine eigentliche Sachlage dar. Denn sie lässt jede mögliche Sachlage zu [...]. In der Tau­ tologie heben die Bedingungen der Übereinstimmung mit der Welt – die darstellenden Beziehungen – einander auf, so dass sie in keiner darstellenden Beziehung zur Wirklichkeit steht [...]. Die Tautologie lässt der Wirklichkeit den ganzen – unendlichen – logischen Raum. [...] Die Wahrheit der Tautologie ist gewiss, des Satzes möglich [...]. Das logische Produkt einer Tautologie und eines Satzes sagt dasselbe, wie der Satz. Also ist jenes Produkt identisch mit dem Satz. Denn man kann das Wesentliche des Symbols nicht ändern, ohne seinen Sinn zu ändern [...]. Tautologie und Kontradiktion sind die Grenzfälle der Zeichenverbindung, nämlich ihre Auflösung. Freilich sind auch in der Tautologie [...] die Zeichen noch miteinander verbunden, d. h. sie stehen in Beziehungen zueinander, aber diese Beziehungen sind bedeutungslos, dem Symbol unwesentlich.«258

Halten wir hieraus fest, dass die Tautologie bedingungslos wahr und gewiss ist, so heißt dies zugleich, sie gilt für sämtliche Wahr­ heitsmöglichkeiten des tautologischen Satzes, dessen »Subjekt« für unseren Zusammenhang das sich-offenbarende Leben ist, in dem sich »Lebendiges« als solches selbstaffiziert. Weil diese Wahrheit nur tautologisch als und im Leben sagbar ist, jedoch ohne eine monotone Wiederholung des Selben zu sein, kann sie deshalb auch keine Welt­ wirklichkeit beschreiben, die immer nur in Differenzen oder Abhe­ bungen erscheint, sondern sie vermag nur einen symbolischen Wert nach Wittgenstein zu besitzen. Aber auch jeder Symbolismusbegriff wird an sich aufgehoben, wenn es sich nicht mehr um Wahrheitsver­ hältnisse an der Grenze von Sprache und Welt handelt, sondern um das phänomenologische Leben selbst. Denn in ihm ist material phä­ nomenologisch nichts mehr symbolisch oder metaphorisch, so wie in der Selbstoffenbarung Gottes nichts bildhaft ist, sondern in dieser lebendigen Sphäre ist alles wirklich, da in einem ursprünglichen Sinne die Tautologie hier bedingungslos besagt, dass Gott als das Leben sich offenbart. Das heißt, indem es diese Offenbarung vollzieht, so dass das Offenbarte – der Gehalt dieses göttlichen Lebens – wiederum nur 258 Tractatus logico-philosophicus 4.461 – 661. Vgl. ebd. 6.12ff. über die Sätze der Logik als Tautologie; dazu auch R. Kühn, Wort und Schweigen. Phänomenologische Untersuchungen zum originären Sprachverständnis, Hildesheim-Zürich-New York 2005, 89–123: »Sprachgrammatik und Sprachspiele«.

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3. Offenbarungsbegriff und Frage der Tautologie

das Leben, Gott selbst ist. Diese Identität innerhalb der Tautologie des rein phänomenologischen Lebens kennt also keinen Unterschied von Akt/Inhalt mehr und damit, was Wittgenstein richtig sieht, auch keine darstellenden Beziehungen mehr, wie sie für die Welt gelten. Aber Abwesenheit der an Differenz bzw. Negation gebundenen doxischen oder expressiven Darstellung (Vorstellung, Syntax, Sätze etc.) bedeutet nicht grundsätzlich Abwesenheit von Gründungsver­ hältnissen schlechthin, wie Derrida es als Différance voraussetzt,259 sondern gerade das einzig mögliche Wirklichkeitsverhältnis im abso­ lut gewissen Sinne – dass nämlich die ausreichende wie notwendige Bedingung für das Leben allein in diesem selbst liegen kann. Denn in der Selbstoffenbarung des Lebens als Gottes Offenbarung kann es keine Phänomenalisierungsrelation geben, die etwas außerhalb von sich beließe, so wie dieses Außer-Sich-Lassen wesenhaft die Welt als Außenheit bestimmt. Wir unterstrichen bereits, dass die Welt ekstatisch allein offenbar werden lässt, indem sie jedem Ding nur im Unterschied zu ihrem Gesamthorizont zu erscheinen erlaubt und dabei zugleich in diesem Medium radikaler Außenheit jedes Ding als solches unendlich diesem sich selbst gegenüber entäußert. Denn es wird grenzenlos teilbar als Abschattung, Apperzeption, Perspektive etc., was Wittgenstein seinerseits als Problem von »Einfachheit« und »Zusammensetzung« für den Bezug Sprache/Gegenstand the­ matisierte.260 Für die Mystik bleibt dies eine zu hinterschreitende Problematik im Sinne von Einheit/Vielheit bzw. Gott/Schöpfung, da für sie die Differenz keine letzte Kategorie der Einheitswirklichkeit des Göttlichen ist. So betont auch Bernhard von Clairvaux stets die »unsichere Gemeinschaft mit dem vergänglichen Leib« als Möglich­ keit der »Unruhe fleischlicher Begierde«, die »störende körperliche Vorstellungen« hervorrufe. Aber er sieht gleichfalls, dass die von Gott erschaffene »lebendige Seele« zu einem »lebendigmachenden Geist« umgeformt werden kann, indem sie »zum geistigen Leben erweckt wird« und dabei »die Fünfzahl der Sinne der Zweizahl der Liebe« im Sinne der christusmystischen Gerechtigkeit und Nächstenliebe unterworfen werden kann.261

Vgl. Über den Namen, 24ff.; Wie nicht sprechen, 55ff. Vgl. Philosophische Untersuchungen § 47. 261 Vgl. Predigten über das Hohe Lied XIV,5 u. XVI,1 (S. 207 u. 227ff.); ebenfalls Bonaventura, Der Pilgerweg des Menschen zu Gott, Kap. II,14 (S. 39f:). 259

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Die Tautologie des sich selbst offenbarenden Lebens als Got­ tes Leben besagt daher als Bedingungslosigkeit ihrer immanenten Selbstgewissheit, dass in solchem Leben das Offenbarte niemals nach außen geworfen wird, weil es in diesem Leben ununterbrochenen Sich-Gebens und Sich-Empfangens keinen ekstatischen Raum solcher Veräußerung gibt. Die tautologischen Sätze »über das Leben« verwei­ sen somit auf die absolute, innere Lebensselbstumschlingung, wo das Offenbarende (Vater) und Offenbarte (Sohn) dasselbe Göttliche in ihrer gegenseitigen Innerlichkeit sind, welche zugleich ihre Offenba­ rungseinheit als die gleiche immanente Historialität von Liebe und Gehorsam im Sinne des Heiligen Geistes ausmacht. Ist jedes Ding in der Welt seiner eigenen Substanz entleert, weil unausweichlich in ihr entäußert, so kann eine effektiv me-ontische Wirklichkeit nur im Leben ohne Widerspruch begründet werden, wo die Bedingungen a priori einer solchen Entwirklichung gar nicht möglich sind, da hier Wahrheit der Phänomenalisierung heißt: das Sich-Selbst-Ergreifen im Ergriffen-Werden. Dies impliziert allerdings als Konsequenz, dass sich ein derartiges Leben nicht in der Welt als solcher offenbaren kann, solange mit »Welt« in der philosophischen wie theologischen Tradition die ontologische Differenz der Erscheinungen in ihren aspekthaften Darstellungen gemeint ist. Der Verzicht auf die Tautolo­ gie, die sich im Gegensatz dazu phänomenologisch als Notwendigkeit beim Sprechen »über das Leben« erweist, wäre dann der jeweils zu legitimierende Verzicht auf das Leben als Phänomenalisierungsgrund selbst, was man in der Tat in den meisten philosophischen Diskursen seit ihrem griechischen Beginn feststellen kann, sofern sie die Ekstasis als horizonthafte Voraussetzung festschreiben. Die Mystik des Einen und Guten besonders seit Plotin und Proklos zeigt sich hingegen bereits als eine Vertiefung des Dunklen auf die reine Immanenz hin, die dann bei Dionysios Areopagita, Meister Eckhart oder Ruusbroek etwa besonders greifbar wird.262 Andererseits hat die Tautologie des absoluten Lebens zur Konse­ quenz, falls man auf dieser radikal phänomenologischen Ebene nicht in einen hermeneutisch existentiellen Symbolismus zurückfallen

Vgl. L. Brisson, »Peut-on parler de l'union mystique chez Plotin?«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un,, 61–72; W. Beierwaltes, Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt/M. 22021. 262

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3. Offenbarungsbegriff und Frage der Tautologie

will,263 dass bei allen Analysen dieses Lebens und seinen immanenten Modalisierungen jene absolute Selbstgewissheit der Lebensoffenba­ rung als rein praktisches Lebenswissen aus immanenter Stringenz heraus wieder gefunden werden muss, damit sich tatsächlich das »Erfahrene« als das »Sich-Erfahrende« erweist. Die Tautologie tritt unter diesem Gesichtspunkt dann als eine unverzichtbar mystische Kriteriologie auf, gerade weil sie sprachlich auf die lebensimma­ nent notwendige »Wiederholung« des Selben verweist, die ständige »Erprobung« des reinen Ursprungs des Lebens als solchem ist, wel­ ches sich in allem »Erleben« als Leben ohne Unterbrechung selbst ergreift. Und zwar ohne dabei eine Monotonie sein zu müssen, da sie sich affektiv unendlich historialisiert, das heißt, kein Gefühl in seiner subjektiven Materie jemals mit einem anderen verwechselt werden kann. Das tautologische Sprechen über die Grenze darstellender Sprachordnung hinaus verweist daher auf kulturelle, religiöse und ethische Bereiche, wo Handeln und Sprache (Zeichen) zusammenfal­ len, wie insbesondere – außer in der Musik und Kunst – eben in der Mystik. Deshalb erkennen wir letzterer die erwähnte kriteriologische Funktion gegenüber der Sprache zu, ohne bloß »Verheimlichung« oder apophatische »Verneinung« sein zu müssen, da sie diesseits aller Rhetorik und Metaphorik ein Tun aus erfüllter Leere heraus impliziert. Dies hat Derrida in der sprachlichen Sonderstellung des Gebets als »Adresse« zu Beginn der »Mystischen Theologie« des Dionysios Areopagita folgendermaßen analysiert« »Das Gebet ist hier keine Präambel, kein nebenhergehender Modus des Zugangs [...], es richtet die diskursive Askese ein, den Übergang durch die Wüste des Diskurses, die augenscheinliche referentielle Leerheit, die den schlechten Wahn und das Geschwätz nur vermeiden wird, indem sie damit beginnt, sich an den anderen, an Dich, zu wenden. Aber an dich als ›überwesentliche und als göttliche Trinität«.264 263 Etwa in der von P. Ricoeur vorgeschlagenen Weise der ré-inscription, dass die sym­ bolische wie metaphorische Mehrfülle immer neu in die Begrifflichkeit der Reflexion als Sinn eingeschrieben werden muss. Vgl. »Die Zuflucht der Reflexion im Symbol«, in: O. Pöggeler (Hg.), Hermeneutische Philosophie. Zehn Aufsätze. München 1972, 268–273. Hinsichtlich einer »tautologischen Phänomenologie« bei Heidegger als Notwendigkeit des »Schritts zurück« und einer besonderen Aufmerksamkeit für das »Unscheinbare« im primären Aufbrechen des Phänomenalen vgl. D. Janicaud, La phénoménologie éclatée, Paris 1998, 104–109. 264 Wie nicht sprechen, 73. Eine vergleichbare Funktion hat der »Prolog« bei Bona­ ventura, Der Pilgerweg der Seele zu Gott, 25ff., denn er macht ihn als Gebet zum

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Denn wenn es beispielsweise zusätzlich zur inkarnatorischen Christologie der Evangelien und der Dogmengeschichte eine Mög­ lichkeit gibt, die religions- und offenbarungsphänomenologische Relevanz der absoluten Lebensphänomenalisierung zu überprüfen, dann ist dies sicherlich die Mystik als die jeweilig authentischste Form einer Religion. Hierbei treten nämlich die phänomenologischen Modalitäten der Lebensselbstaffektion oder Passibilität im Sinne des Wesens des Erscheinens als die Vollzugsmodi der mystischen Erfahrung selbst auf. Allein in einem solchen Rahmen, der ausschließ­ lich die radikalisiert phänomenologischen Instrumentarien zu Hilfe nimmt, kann gesagt werden, ob dergleichen wie eine »mystische Erfahrung« und ihre Sprache möglich ist. Wir denken also nicht bloß an das geistesgeschichtliche Phänomen, dass es im Mittelalter bei Meister Eckhart, Seuse und anderen bereits erwähnten Namen ein »mystisches Erlebnis, das philosophiert« gegeben hat, sowie andererseits seit der Antike einen breiten Strom an »Philosophie, die mystiziert«, um hier eine Unterscheidung von Joseph Bernhart265 aufzugreifen. Vielmehr impliziert dieses historische Doppelphäno­ men zugleich eine Wesensgemeinschaft zwischen philosophischen Mystiken und mystischen Philosophien, welche die weitgehend vor­ herrschende historische wie komparative Methode in der Religions­ philosophie und -wissenschaft überschreitet,266 sofern es sich dabei eben um die Problematik der lebensimmanenten Tautologie als phä­ nomenologischer Praxis der Erprobung als unserer konstitutiven Abgründigkeit handelt. Denn ob auch die anfänglich mittelalterliche Mystik mehr der neuplatonisch inspirierten philosophischen Speku­ lation noch zugeneigt ist,267 um sich dann in der devotio moderna eines »Ausdruck der Sehnsucht des Herzens«, wobei er sich explizit auf das Gebet des Dionysios zurückbezieht und gleichfalls die Metapher der »Wüste« als »Durchgang« zum »Übergang« (pascha, transitus) benutzt. Über gelegentliche Anrufsformen bei Platon sowie in der neutplatonischen Philosophie informiert A.M. Ritter in seiner Einleitung zu Dionysios Areopagita, Über die Mystische Theologie und Briefe, 63ff. 265 Die philosophische Mystik des Mittelalters. Von ihren antiken Ursprüngen bis zur Renaissance (1922), Darmstadt 1962. Vgl. auch M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, 303–338: »Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik«; O. Langer, Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Radionaliiserung – Stationen eines Konflikts, Darmstadt 2004. 266 Vgl. M. Döbler, Die Mystik und die Sinne,77–81: »Religionswissenschaftliche Fundamentalkritik an der Verwendung des Mystikbegriffs«. 267 Allerdings gibt es auch andere Orientierungen gerade in der Frauenmystik; vgl. Marguerite Porete, Der Spiegel der einfachen Seelen, München 2020; sie wurde 1310

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3. Offenbarungsbegriff und Frage der Tautologie

Jan van Ruusbroek (1293–1381)268 oder schon David von Augsburg (1210–1272),269 wie auch bei Johannes Tauler (ca. 1300–1361),270 mehr der praktisch gelebten mystischen Alltagsheiligung zuzuwen­ den – gemeinsam bleibt ihnen eine Haltung, die das Wesen der Phä­ nomenologie als »vollkommen personale Wandlung« (Husserl) selbst berührt, wie wir schon im Eingangskapitel zur Methodenfrage fest­ hielten. Das Bedürfen als reine Passivität vor jeder Repräsentation ist in seiner abgründigen Natur Empfang der absoluten Liebe Gottes, bei dem sinnliche Einzeleindrücke ebenso ausgeschaltet sind wie ideative Verstandesabstraktionen, ohne allerdings jemals in dieser -entleerten wie erfüllten – »Nacht« des Tuns enthoben zu sein. Insofern lässt sich gerade sagen, dass auch religionsphilosophisch in Bezug auf »Offenbarung« das Bedürfen/Begehren zu den »absoluten Phäno­ menen« gehört, denn die Mystik ist die äußerste, lebenseidetisch tautologische Theorie und Praxis von »Erfahrung« überhaupt, die sich in der Christusmystik vollendet. Solche Erfahrung taucht in dem lebendig vollzogenen raptus durch Gott, dem absoluten Leben, in die reine Potentialität des selbstaffektiven Erfahrenkönnens als unio ein und findet damit die originäre Wirklichkeit der reinen Passibilität im Leben wieder. Denn kein Leiden, und sei es das Kreuz Christi und dessen gläubige imitatio, hat jemals seinen letzten Grund in weltli­ chen Umständen oder seelischen Zuständen, sondern ausschließlich in Paris zum Scheiterhaufen verurteilt. A. Fella (Hg.), Les femmes mystiques. Histoire et dictionnaire, Paris 2013, 628–630. Siehe für die östliche Kirche V. Lossky, Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche, Graz-Wien-Köln 1961. 268 Vgl. B. Beyer de Ryke (Hg.), Maȉtre Eckhart et Jan van Ruusbroec. Etudes sur la mystique rhéno-flamande (XIIIè-XIVè siècle), Brüssel 2004; G. Warnar, Ruusbroec: Literature and Mysticism in the Fourtheenth Century, Leiden 2007; S. Müller, Theologie und Philosophie im Spätmittelalter. Die Anfänge der via moderna und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Moraltheologie, Münster 2008. 269 Vgl. Die sieben Staffeln des Gebets (Hg. K. Ruh), München 1965; dazu K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. II: Frauenmystik und franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993, 526–540. 270 Vgl. Predigten. Gotteserfahrung und Weg in die Welt (Hg. L. Gnädinger), Olten 1983; dazu auch A.M. Haas, Nim din selbes war. Studien zur Lehre von der Selbster­ kenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse, Fribourg 1971; K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik, München 1996, 476–526; Heinrich-Seuse-Jahrbuch. Beiträge zur Deutschen Mystik 4 (2011): Das Gottesverständnis der Deutschen Mystik (Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse) und die Frage nach seiner Orthodoxie.

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in der transzendentalen Ermöglichung von Leiden/Freude durch die Ipseisierung des Lebens in einem originären Fleisch, welches als Pas­ sibilität die Eigenphänomenalisierung der je sich-offenbarenden Selb­ staffektion darstellt. So konnte Bonaventura das Leben des heiligen Franziskus von Assisi als Mystik stilisieren, da dieser zwei Jahre vor seinem Sterben in der Vision des Seraphen mit sechs Flügeln die Stig­ mata Christi empfangen haben soll, wodurch »sein Geist im Fleisch offenbar wurde«.271 Dass dabei die »mystische Theologie«, zu der Bonaventura hinführen will, allgemein als ein »Herausgerissen-Wer­ den zu dem« beschrieben wird, »was unseren Geist überschreitet«, entspricht jener neuplatonisch mystischen Tradition, welche von der absoluten Transzendenz Gottes ausging, um nur in der »Beschauung« als Ekstase für einen kurzen Moment den absoluten Zusammenfall von Immanenz/Transzendenz zuzulassen, wie etwa Volker Leppin272 durchgehend das Ereignis der Mystik versteht. Gegenüber einem möglichen romantisierenden Missverständnis solcher »Nacht«, das heißt des Wesens der immanenten Selbstoffen­ barung wie selbstaffektiven Erprobung hat wohl kaum ein Mystiker mehr sachhaltige Strenge gezeigt als Johannes vom Kreuz (1542– 1591). Ohne deshalb jedoch im poetischen Ausdruck derselben Nacht aufzuhören, die schönsten Verse in der spanischen Literatur über­ haupt zu schreiben, wobei seine christusmystische Erfahrung, wie wir schon anfführten, um die »Antithese« von Alles/Nichts kreist: »Para venir a gustarlo todo, / no quieras tener gusto en nada.«273 Dieses Nichts ist keineswegs die verachtende Zerstörung von Welt und christlich religiöser Tradition, sondern die prinzipielle Betonung von 271 Der Pilgerweg des Menschen zu Gott, Prolog (S. 26) sowie Kap. I,7 (S. 35) u. VII,7 (S. 101), wo »vollendete Kontemplation« und »vollendetes tätiges Leben« paralleli­ siert werden. Vgl. auch Bonaventura, Legenda maior XIII,3 (dt. Franziskus – Engel des sechsten Siegels. Sein Leben nach den Schriften des heiligen Bonaventura, Hg. S. Clasen), Werl 1962). 272 Vgl. Die christliche Mystik, 9f. u.ö. 273 Subida del Monte Carmelo 13,11, in: Vida y Obras de San Juan de la Cruz. Madrid 51964, 391 (dt. Aufstieg auf den Berg Karmel: Gesammelte Werke 4, Frei­ burg-Basel-Wien 1999); Der geistliche Gesang (Cantico A) (Gesammelte Werle3), Freiburg-Basel-Wien 1997; Worte von Licht und Liebe. Briefe und kleinere Schriften (Gesammelte Werke 2), Freiburg-Basel-Wien 1996. Unter den phänomenologisch relevanten Deutungen vgl. G. Morel, Le sens de l'existence selon S. Jean de la Croix, 3 Bde, Paris 1960; A. Cugno, »La temporalité mystique (Jean de la Croix)«, in: Alter. Revue de Phénoménologie 2 (1994) 397–415; R. Welten, The Night in John of the Cross and Michel Henry. A Phenomenological Interpretation«, in: Studies of Spiritualiy 13 (2003) 42–59. Außerdem unser folgendes Kapitel II,1.

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zwei heterogenen Phänomenalitätsweise, nämlich genau jener der »dunklen« göttlichen Lebens- bzw. Liebesmitteilung einerseits sowie des ontischen »Spiels« der Transzendenz innerhalb der sinnlichen, willentlichen und ideativen Anschauung andererseits. Das Dunkel der Karmel-Nacht ist nur ein Dunkel für die mundane Wahrnehmungs­ weise. In sich selbst ist dieses Dunkle als Nacht der Sinne und des Verstandes die höchste wirkliche – und nicht bloß symbolische – Gewissheit. Dies wird auch daran erkenntlich, dass Johannes vom Kreuz keine theologischen Schwierigkeiten hat, die unterschiedlichen göttlichen Eigenschaften beispielsweise wie Allmacht, Weisheit und Güte aus der Einheit wie Einfachheit des einen göttlichen Wesens hervorgehen zu lassen, wie dies auch bei Bonaventura der Fall ist. Denn insofern diese göttliche Einfachheit zugleich »Flamme« ist, also ein lebendig sich gebendes Wesen, das heißt des weiteren Kraft und Bewegung, umschließt sie alle Virtualitäten – einschließlich der Erfahrung der »Seele« in deren reiner Einheit von Akt und Gehalt. Diese Einheit des Wesens Gottes sowie des Wesens der Seele besagt nämlich im christusmystischen Sinne, dass diese Einheit jegliches »Können« umfasst, auf dem rein phänomenologisch die Vielgestal­ tigkeit ihrer je besonderen Akte und Eigenschaften beruht. Dies würde – außer auf die schon zitierte tautologische Wahrheitsformu­ lierung – auch Licht bei Wittgenstein auf den § 150 seiner »Philosophischen Untersuchungen« werfen, wo es heißt: »Die Grammatik des Wortes ›wissen‹ ist offenbar eng verwandt der Grammatik der Worte ›können‹, ›imstande sein‹. Aber auch eng verwandt der des Wortes ›verstehen‹. (Eine Technik ›beherrschen‹).« In der Mystik im bisher dargestellten Sinne, was in den weiteren Kapiteln noch zu spezifizie­ ren sein wird, geht es in der Tat um ein immanent praktisches »Wis­ sen«, das reines »Können« ist, aber eben nicht bloß innerhalb einer »grammatischen Technik« der Wortverwendung als »Sprachspiel«, sondern als Erfahrungs-Apriori schlechthin. Als These formuliert, möchten wir deshalb nochmals festhalten, dass die Mystik eben im Sinne Leppins und anderer Kommentatoren274 nicht nur ein jeweils punktuelles Zusammenfallen von Immanenz/Transzendenz dar­ stellt, sondern die rein phänomenologische Selbstgegebenheit der Ab-gründigkeit jeder »Erfahrung« schlechthin bildet. Denn diese kann transzendental nicht ohne Selbsterprobung des je subjektiven Lebens verstanden werden und umfasst deren strukturelle Kriterio­ 274

Vgl. auch A. Fella (Hg.), Les femmes mystiques, 33f.

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logie in der Mystik – und zwar ebenfalls im Vergleich zu anderen Erfahrungsanalysen wie bei Kant, Hegel, Heidegger oder in der Post­ moderne.275 Welt als »Nichts« für solche Mystik heißt daher gerade radikal phänomenologisch, dass die Transzendenz von Welt sich nicht selbst trägt, sondern sich jener immanenten Selbsterprobung verdankt, die im Bedürfen ihrer Passivität zugleich das »Können« begehren­ der Vereinheitlichung ist, wie wir schon mit Hinweis auf die chris­ tusmystische Verschränkung von Leben/Fleisch in der Passibilität herausgestellt haben, da in dieser Grundkorrelation zugleich die ab-gründige Quelle aller handelnden Bewegung gegeben ist. An den Grenzen der Weltreduktion stößt die Phänomenologie als Analyse originär transzendentaler Verlebendigung daher sowohl auf die Not­ wendigkeit letzter Ablösung von Welt wie Ego sowie zugleich auf die Unmöglichkeit, diese als Erprobung auch vollziehen zu können, ohne nicht den intentionalen, logischen oder expressiven »Gegenstand« des Denkens als »Dieses«, »Etwas«, Hyle etc. aufgeben zu müssen. Simone Weil sprach deshalb auch von einem »Zirkel« an dieser maßgeblichen Stelle, der die Offenbarung als eine Notwendigkeit der »Gnade« in sich berge, was gleichfalls alle anderen MystikerIn­ nen betonen.276 Wo die Lebensphänomenologie dementsprechend in einer Gegen-Reduktion noch vom »Sein« – und nicht nur von jeder Bewusstseinsobjektivität oder sprachlichen Symbolizität – ablöst, um zusammen mit der Zeitlichkeit auch die allgemeinste philosophische Referenz einzuklammern, hin-sicht-lich derer alles nur Denkbare ontologisch de-finiert ist, wird sie als theoretisches Sagen reiner Hinweis auf die originäre Lebensselbstaffektion. Letztere verbleibt dennoch ohne jede mögliche direkte Vergegenwärtigung im Vollzug solcher Epoché als unmittelbar selbstgegeben vorausgesetzt, weshalb auch heuristisch der Begriff »Sprung« oder »Einspringen« wie bei Kierkegaard und Heidegger gebraucht wurde,277 was durchaus mit 275 Vgl. R. Kühn, Postmoderne und Lebensphänomenologie, 409–431: »Wovon wir berührt werden – was uns berührt«. 276 »Quelques réflexions autour de la notion de valeur (1941)«, in: S. Pétrement, La vie de S. Weil II, Paris 1973, 319f.; sowie unser folgendes Kapitel III,1. 277 Vgl. R. Kühn, »Lebensphänomenologische Gegen-Reduktion«, in: R. Kühn u. Nowotny (Hgg.), Michel Henry. Zur Selbsterprobung des Lebens und der Kultur, Freiburg/München 2001, 23–54. Auf die »Durchstreichung des Seins« bei Heidegger, Marion und in seinem eigenen Denken verweist auch J. Derrida, Wie nicht sprechen, 91ff., und die kontroverse Frage ist nur, inwieweit solches Denken schon in der klassi­

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dem mystischen »Entrücktsein« als raptus verglichen werden kann, ohne Lebensphänomenologie und Mystik unmittelbar zu identifizie­ ren.278 Die Mystik als rein gewährtes und nicht eigenmächtig her­ beigeführtes Erleben verlangt nämlich vom entsprechenden philo­ sophischen Verständnis nicht, dessen eigene phänomenologische Grenzerfahrung aufzugeben, um sich in irgendein unbestimmbares X irrational zu verlieren, sondern sie bezeugt, dass die mystische Erfahrung als me-ontische oder kriteriologische – wie letztlich jede Erfahrung – eine effektive »Erprobung« ist, in der sich das absolute Leben als singuläres Sich in seiner abgründige Passibilität stets selbst­ erprobt. Ist jede Erfahrung – auch die bescheidenste, flüchtigste im kaum deskriptiv festmachbaren Eindruck, weshalb oft die Kunst zur Hilfe genommen wird279– eine solche Selbsterprobung, die das Leben in sich selbst vollzieht, insofern die Selbstimpressionabilität des Fleisches sich im Erfahren selbst ertragen muss, dann liegt gerade die Mystik nicht über dieses unscheinbare Leben hinaus. Auch sie vermag sich ebenfalls nur im Leben zu vollziehen, ohne irgendeine immanent transzendentale Gesetzlichkeit davon ausklammern zu können. Die Einheit, Absolutheit, Einfachheit, Abgründigkeit, Armut, Hingabe etc., welche die Mystik als unaussprechlich verlebendigendes Wesen der unio bezeugt, sind dann genau jene phänomenologischen Gesetze des immanenten Lebens, die als pathische – bzw. christusmystische – Modalisierungen in der alltäglichsten wie höchsten Erfahrung zum Vollzug gelangen280– nämlich als Vollzug des Sich-Bedürfens wie Sich-Begehrens des absoluten Lebens in seiner konstitutiven

schen Mystik wie bei Dionysios Areopagita, Meister Eckhart oder im »Cherubinischen Wandersmann« von Angelus Silesius (Hg. L. Gnädinger; Stuttgart 1985) gegeben ist; siehe auch J. Derrida, Über den Namen, 73ff. 278 Vgl. zur Diskussion J. Reaidy, Naissance mystique et divinisation de l'homme intérieur chez Maȉtre Eckhart et Michel Henry, Paris 2013. 279 Vgl. G. Bataille, Lascaux oder die Geburt der Kunst, Genf 1955; R. Topitsch, Schriften des Körpers. Zur Ästhetik von halluzinatorischen Texten und Bildern der Art Brut, der Avantgarde und der Mystik, Bielefeld 2002; M. Bußmann, Die Mystik in der gegenstandlosen Malerei, Wien 2008; R.A. Riepl, Kreatives Tun und seine Ermöglichung durch das absolute Leben, Dresden 2019. 280 Vgl. A.M. Haas, Mystik im Kontext, München 2004, 48–63: »Unio Mystica. Geschichte eines Begriffs«. Neben Jakob Böhme, der Schuster war, gibt es auch das Beispiel der mystischen Schneiderin Claudine Moine (1618–1642) in Paris; vgl. A. Fella (Hg.), Les femmes mystiques, 736f.

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3. Offenbarungsbegriff und Frage der Tautologie

Unansichtigkeit für jede Art von Blick oder Theorie.281 Dies gilt es im folgenden Teil II als Verhältnis von Affektivität/Sprache und Leben/Welt genauer zu überprüfen, um den Leib in der Tat als jenes »Übermaß ohne Ende« zu begreifen, der in seinem Vollzug eine »Physik des Absoluten«282 selbst darstellt. Allerdings möchten wir in dieser Fortsetzung zeigen, dass die Wirklichkeit des Leibes nicht auf die Schematisierung von Ereignis, symbolischem Diskurs und gesellschaftlicher Praxis im Sinne methodologischer Vorentscheidun­ gen begrenzt bleibt, die ein historiographisches Mystikverständnis allein zulässt.

Für weitere Standortbestimmungen mystisch-philosophischen Denkens vgl. ebenfalls J. Greisch, »Philosophie et mystique« in: A. Jacob (Hg.), Encyclopédie Philosophique Universelle, Bd. 1. Paris 1989, 26–34; K. Albert, Mystik und Philoso­ phie, St. Augustin 1986; Einführung in die philosophische Mystik, Darmstadt 1996; E. Jain u. R. Margreitern (Hgg.), Probleme philosophischer Mystik. Festschrift für Karl Albert, Sankt Augustin 1991; R. Forman (Hg.), The Problem of Pure Consciousness. Mysticism and Philosophy, Oxford 1990; Ph. Capelle (Hg.), Expérience philosophique et expérience mystique, Paris 2005. 282 M. de Certeau, La Fable mystique I, 67; vgl. ebd., 109ff. 281

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Teil II: Sprache und Praxis der Mystik

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1. Affektivität als Ur-Sagen – mit Blick auf die spanische Mystik

»Doch ist mir einst das Heilge, das am Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen, Einmal Lebt' ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.« Dieses Bekenntnis Hölderlins in seinem Gedicht »An die Parzen« drückt in maßgeblichen Versen aus, was die bisherigen Untersuchun­ gen zu Mystik und Phänomenologie auch in ihrem Verhältnis zur Sprache bereits umkreisten, nämlich ein Einmaliges zu sagen, das alles Sagbare vom Erscheinen als solchem enthielte. Auch August Wilhelm Schlegel spricht in seiner »Kunstlehre« von 1801 von der Sprache als von einem kreativen Akt, der als »Dichtung« überall in der Alltäglichkeit anwesend sei, weil er spurenhaft bis in die »Leben­ digkeit« und »Leidenschaft« des phonetischen Zeichengebrauchs zurückreiche.283 Das »Poetische« bedeutet hier also als permanenter Akt des Übergangs zwischen freier, innerer Einbildung und äußerer Objektivität die Einmaligkeit wie Einzigartigkeit der Sprache als Dichtung, insofern ihr »Material« grenzenlos ist und deshalb als schöpferischer Aspekt das Wesen des Ästhetischen schlechthin zur Anschauung bringt. Nimmt man Hölderlins und Schlegels Auffas­ sung vom transzendental Poetischen hier leitfadenartig zusammen, so ist die Möglichkeit des einen Gedichts zu jedem Augenblick gegeben, da es an der Hervorbringungsqualität der affektiven Einbildungskraft auf dem Boden der Lebensselbstoffenbarung und ihrer originären Passibilität phänomenologisch nie mangelt, sondern vielmehr als »Ur-Sagen« – wie wir dieses Verhältnis nennen möchten – diese Einmaligkeit als auch Wiederholbarkeit in einem beinhaltet. In dieser Gegenüberstellung von »nur einem Gedicht« als der einmaligen Verwirklichung des Göttlichen und der iterativen Funk­ tion der Einbildungskraft lässt sich auch die aufzuklärende Grund­ schwierigkeit des »Sprachphänomens« als rein idealer Bedeutung sowie als Hinweis auf eine ihr vorausgehende Lebensphänomenali­ 283

In: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 2, Stuttgart, 1963, 225f.

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1. Affektivität als Ur-Sagen – mit Blick auf die spanische Mystik

sierung ablesen. Auf der einen Seite muss in der Tat immer die Gefahr gesehen werden, dass sich das expressiv Zeichenhafte 24überdeckend gegen den affektiv geistigen wie leibhaften Akt wendet, der es her­ vorgebracht hat. Dies lädt bereits zu einer materialen Deinvestitur des Zeichens als Bedeutung oder Sinn ein, um die phänomenologi­ sche Ursprungserfahrung des Selbstaffektiven herauszuarbeiten, in der alle Welt-Einbildung wurzelt und auf welche die Mystik als originärer Prozess reinen Erfahrens verweist. Auf der anderen Seite bekundet jedoch gerade die kulturelle Vieldeutigkeit und Abwand­ lung jeder Symbolik eine grundlegende Relativität der Einbildung als hermeneutischer Interpretationsinstanz, so dass man mit Paul Ricœur von »einer Art Trägheit der Einbildungskraft« in Bezug auf die reine Selbstaffektion als das hier untersuchte »Ur-Sagen« sprechen könnte, um mit ihm die Hervorbringung von ganz unterschiedlichen Welten bezüglich des Selbstverstehens zu unterstreichen, das der »Verwundbarkeit« des Cogito als nicht autonomer Selbstgründung mittels der Korrelation von Begehren/Sinn abhelfen könnte.284 Es gilt daher, diese rein phänomenologische Ipseisierung der Affektivität sowie ihre transzendente Heterogenität als sprachliches Einbildungs­ produkt genauer zu erläutern. Das heißt, die Sprache nicht als etwas zu verstehen, das wir »machen«, sondern als jene Weise der selbstaf­ fektiven Einbildungskraft zu analysieren, die immer schon »da« ist und deshalb unmittelbar mit dem Wesen der Mystik zusammenhängt, insofern letztere ein »Unaussprechbares« impliziert, das uns originär gegeben ist. Wegen des stark emotional wie erotisch akzentuierten Sprachpathos gerade in der spanischen Mystik des 16. Jahrhunderts werden wir dafür Kernaussagen aus den Schriften von Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz zur Verdeutlichung unserer Untersu­ chung anführen.285 284 Vgl. Le conflit des interprétations. Essais herméneutiques, Paris 1969, 220f.; hierzu ebenfalls J. Greisch, »Descartes selon l' ordre de la raison herméneutique. Le ›moment cartésien‹ chez M. Henry, M. Heidegger et P. Ric In: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 2, Stuttgart, 1963, 225f. Vgl. Le conflit des interprétations. Essais herméneutiques, Paris 1969, 220f.; hierzu ebenfalls J. Greisch, »Descartes selon l' ordre de la raison herméneutique. Le ›moment cartésien‹ chez M. Henry, M. Heidegger et P. œur«, in: Revue des Sciences philosophi­ ques et théologiques 73 (1989) 529–548, hier bes. 543ff. 285 Vgl. J. Behn, Spanische Mystik. Darstellung und Deutung, Düsseldorf 1957; U. Dobhan, Gott – Mensch – Welt in der Sicht Teresas von Avila, Frankfurt/M. 1978; E. Münzenbrock, Teresa von Avila, Freiburg-Basel-Wien 2004.

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1. Affektivität als Ur-Sagen – mit Blick auf die spanische Mystik

Solches »Immer-schon-da-Sein« der Sprache als die korrelative Verwiesenheit von »Wort« und »Bild« aufzuklären, kann infolgedes­ sen nicht nur bedeuten, etwa wie Heidegger das Ding in seiner Unsichtbarkeit von der »Erde« als der ursprünglichsten Hyle her zu sagen,286 bzw. das Hervorbrechen des »Ich bin« in der Seinsoffenba­ rung als Eröffnung eben dieses Seins durch die Sprache. Denn auch damit könnte noch der Eindruck entstehen, als hätten wir die Sprache zu unserer Verfügung, was in der Mystik als Illusion dahinschwin­ det, sofern sie ihrem etymologischen Sinn nach »Mund bzw. Auge schließt« (myo). Die Benennung irgendeines »Da« impliziert nämlich bereits einen Akt des Versammelns, in dem selbst Heidegger schon eine gewisse Gewalt des »Nennens« durch den Sprachlogos erblickt, der so das Verborgene der Eröffnung verstellen könnte. Insofern mit­ hin das Benennen das Problem des »Da« des »Da-seins« als solchem bildet, muss daher nicht nur diese Eröffnung von Sein als Sprache in der »Gelassenheit« eines Selbst aufgesucht werden, die der »Gabe eines dichterischen Lebens« entspricht.287 Vielmehr ist genau diese »Gabe des Lebens« selbst als die Dichtung bzw. Mystik der affektiv imaginären Modalisierung im Sinne der einbildungsmäßig sprachli­ chen Ursprungsstätte zu verstehen. Damit sind nicht nur von vornhe­ rein Reden und Schweigen als scheinbarer Gegensatz überwunden, weil sie tiefer in jener »Stimme« wurzeln, die stets »in uns« spricht, sondern diese Stimme selbst wird allein aus ihrer transzendentalen Ermöglichung heraus gedacht, die sich im dichterischen Wesen der Einbildungskraft aktiv wie passiv zugleich als Affektivität im Sinne des Sich-Selbst-Sagen-Wollens dieser primordialen Modalisierung ergreift. Wir sehen insofern in diesem Zusammenhang zwischen Dichtung und Mystik keinen strukturellen Unterschied, als beide sich letztlich nur von einem Unverfügbaren her verstehen lassen, was der Begriff mystikos als mit den »Geheimnissen verbunden« besagt. Michel de Certeau 288 hat dies im Einzelnen am Zusammenhang von Vgl. beispielsweise M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt/M. 1950, 19f. (»Der Ursprung des Kunstwerks«); Phänomenologie des religiösen Lebens (GA 60), Frank­ furt/M. 2011, 14ff. 287 Vgl. P. Ricoeur, Le conflit des interprétations, 231f., mit Verweis auf die »Urdich­ tung« gemäß Heidegger als Bezeugung durch den Dichter an den Denker für die Echtheit des »Wer« oder »Ich bin«, in der sich die Antwort auf die Fundierung des Menschen (Daseins) durch Sein und Sprache vollziehe. 288 Vgl. La Fable mystique II (XVIè-XVIIè siècles) (Hg. L. Giard), Paris 2013, 123– 177, hier bes. 128ff. u. 162f. 286

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1. Affektivität als Ur-Sagen – mit Blick auf die spanische Mystik

Poesie und Prosa-Kommentar der Gedichte des Johannes vom Kreuz als canticos untersucht, die als »Musik ohne Geräusch« einen Raum des Sagens (Dire) eröffneten. Dieser ließe sich durch keine welthafte Benennung und ihre Umstände mehr schließen, wodurch zugleich auch die Autorität der Bibel und Theologie durch eine solche Poesie in Fluss geriete. Uns schwebt daher für den Bezug von Ur-Sagen/Mystik keines­ wegs eine Problematik vor, wie sie etwa bei der phänomenologischen Beschreibung eines reinen Gesichtsfeldes auftreten kann, insofern auch hier an sich eine Art »primärer Sprache« zu fordern wäre, die das Hyletische eines solchen Sinnenfeldes in seiner rein affektiv homogenen Assoziativität ergreifen müsste. Dies dürfte sich aufgrund der sekundären Transzendenzverweise in der Sprache nicht nur als unmöglich herausstellen, weshalb Phänomenologen hierfür zumeist auf die malerische Komposition als Dekonstruktion synthetischen Sehens wie etwa im Surrealismus oder bei Cézanne, Kandinsky, Pollok und Rothko verweisen. Vielmehr ist der tiefere Grund dieser Unmög­ lichkeit gerade die originäre Verwurzelung der Sprache in jenem lebendigen Sich-Selbst-Ergreifen der affektiven Kinästhesen, das aller phänomenalen Felderöffnung immer schon vorausliegt und somit das Wesen des Sinnlichen in seiner Selbstimpressionabilität als Passibi­ lität im absolut phänomenologischen Leben selbst berührt. Ist der originäre Prozess phänomenalisierender Weltgenese ein tatsächliches Pro-duzieren durch solche Einbildungskraft, dann muss diese Moda­ lisierung des Imaginären als Erstellung der grundlegenden Imago Mundi einerseits in der Zusammengehörigkeit von Affekt/Schein gesehen werden, was sowohl Irrealisierung wie Differenzierung der Dinge einschließt, sowie andererseits auch als »Poetisierung« der Welt. Und zwar im Sinne eines originären Gehaltenseins aller Dinge im genannten phänomenologischen Leben, woran das mystische Sprechen in seiner Rekurrenz auf ein transzendental affektives »UrSagen« partizipiert. Daran erinnert gerade das »innere Beten«, wel­ ches Theresa von Avila289 trotz extremer Krankheitserscheinungen 289 Vgl. Das Buch meines Lebens 4,9, in: Werke und Briefe. Gesamtausgabe I (Hgg. U. Dobhan u. E. Peeters), Freiburg-Basel-Wien 2015, 119–506, hier 141ff. u.ö.; dazu O. Steggink, Erfahrung und Realismus bei Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz, Düsseldorf 1976; J. Burggraf, Teresa von Avila. Humanität und Glaubensleben, Paderborn 1996; B. Saubignier, Die Würde des Leibes. Heil und Heilung bei Teresa von Avila, Köln 2001.

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1. Affektivität als Ur-Sagen – mit Blick auf die spanische Mystik

wie Ohnmachtsanfälle, Lähmung und Erbrechen ständig – unter dem in Europa sich verbreitenden Einfluss der devotia moderna – zu praktizieren versuchte. Denn es ging ihr nicht nur darum, eine »Selbsterkenntnis zu erreichen, wo das Empfindungsvermögen nicht länger durch Erinnerung und Vorstellung gestört wird«, sondern in solchem Selbstbewusstsein »ohne Lärm« handelt es sich »um das aufrichtige Anerkennen dessen, was wir sind, und um das schlichte Versetzen in die Gegenwart Gottes« als reines Offenbarungswort.290 Und Johannes vom Kreuz wird vergleichbar von der »Urgewalt einer abgrundtiefen Sehnsucht nach der Einung mit Gott« dichten, die dessen »kostbarer Gegenwartserfahrung« entspricht, auch wenn sie jeweils nur kurz gegeben sein sollte, um immer wieder neu verlangt zu werden.291 Wenn mithin im Gegensatz zu solcher Präsenz Gottes in sei­ ner Einfachheit die Welt als Imago der phänomenal uneinholbare Horizont aller Verhaltensweisen, Absichten und Strebungen der Menschen ist, die unausweichliche Vorgegebenheit eines »Da« als Voraussetzung all unserer Aktivitäten auf Erden, so kann die expres­ sive Sprache als Begriffs- und Sinngenese nur solch ekstatische Welttranszendentalität begleiten und jeweils nach Daseinsmodi vari­ ieren. Fasst man diese primordiale Bildgestalt der Welt als bewusst­ seinsmäßig pro-jektierten wie rezipierten Horizont zugleich als ihr mundanes »Ur-Wort«, in dem alle anderen Worte erst vernehmbar werden, dann läge zwischen einem solch ersten Bild und ersten Wort als Imago mundi – auf dem Hintergrund der ontologisch synthetisie­ renden Einbildungskraft – ein zirkuläres Fundierungsverhältnis vor. Dieses bildet mithin den Ursprung aller partikulären wie universa­ len Geltungsgenese, sofern Vorstellungs- und Bedeutungssynthesen jeweils darauf rekurrieren müssen. Reduzieren wir in Bezug auf Das Buch meines Lebens 15,8 (S. 232). All mein Tun ist nur noch Liebe. Geistlicher Gesang B (Hgg. U Dobhan u. E. Pee­ ters), Freiburg-Basel-Wien 2019, Strophe 17,1 (S. 242). Siehe auch Die lebendige Lie­ besflamme (Ges. Werke 5), Freiburg-Basel-Wien 2014, sowie als Vorbereitung zu solcher Einung: Aufstieg auf den Berg Karmel (Ges. Werke 4), Freiburg-Basel-Wien 1999, wo das Absterben der Strebekräfte Verstand, Gedächtnis und Wille sowie der imaginativen Wahrnehmung dargestellt wird, deren Objekte welthafte »Freude« bedeuten. Die »Dunkle Nacht« besteht darauf folgend in der rein passiven Läuterung, wo Einswerden mit Gott ohne Bild und Form zugleich zu einem Habitus der Liebe dieses Einsseins werden. Siehe auch M. de Certeau, La Fable mystique I, 179– 215: »Diego de Jésus introducteur de Jean de la Croix«. 290 291

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1. Affektivität als Ur-Sagen – mit Blick auf die spanische Mystik

diese Grundkorrelation von Bild/Wort wie Wort/Bild als »Welt« radikal jede geschichtlich gewordene sekundäre Sinnschicht, dann soll dies gegenreduktiv unterstreichen, dass Geschichtlichkeit unsere prinzipielle Eingeschlossenheit in den Welthorizont auf der Ebene der Transzendenz nicht aufheben kann. Und zwar unabhängig davon, wie immer auch die narrativ äußere Entbergung dieses hermeneutischen Sachverhalts erfolgen sollte, um zu einem »Ursprung« zu finden – geschehe es mythisch, philosophisch oder naiv umgangssprachlich. Deshalb entsteht der »Innenraum« des mystischen Sprechens auch nicht letztlich durch eine Erzählstruktur, welche die Räumlichkeit der Vorstellung ins Unendliche führt, um zwischen solch einem entgrenz­ ten Innen/Außen als wortlosem »Zwischen« die Begegnung mit Gott zu ermöglichen. Denn als ursprüngliches »Innesein« ist das Innen der Seele und die Inwendigkeit Gottes diesseits jeder Raumstruktur und Sprachdifferenzierung, auch wenn gerade im Mittelalter in der Mystik die meisten volksprachlichen Wortschöpfungen für das »Innewerden« Gottes in der Seele oder umgekehrt statthaben.292 Bei Theresa von Avila geht es eindeutig nicht um eine solche Raumausdehnung der Welt im Sinne damaliger Wissenschaftsentwicklung, sondern »die Welt ist für Gott zu lassen, selbst wenn [ihre Dinge] von ewiger Dauer wären«.293 Und Johannes vom Kreuz hält seinerseits fest, dass die Kontemplation »ein Höhepunkt« sei, »an dem sich Gott der Seele in diesem Leben mitteilt und sich ihr zu zeigen beginnt, ohne damit je an ein Ende zu kommen«. Denn nicht »die höchsten Einsichten in Gott« wären hier maßgeblich, sondern die »gewährende und begehrende Liebe der Seele« allein,294 weshalb die Poetik seines »Geistlichen Gesangs« (Cantico espiritual) theoretisch zu keinem Abschluss gebracht werden kann und immer wieder Anlass zu neuen Bewegungen der liebenden Seele bietet. Ohne eine erste Eröffnung im »Bild« von Welt oder auch von »Welt« als Bild, das Physis, Cogito oder Dasein in der Vor-stellung sein kann, gibt es daher keinerlei Bedeutungsmöglichkeit des Sichtba­ ren/Erzählbaren und damit eines jeden Sehens/Sagens als solchem. Nie wird diese Manifestation der Imago mundi zu einem Etwas, 292 Vgl. E. Keller, »Inluogen. Blicke in den heimlichen Raum. Beispiele aus der deutschsprachigen Literatur des 12. bis 15. Jahrhunderts«, in: P. Michel (Hg.), Symbo­ lik von Ort und Raum, Bern 1997, 51–78. 293 Das Buch meines Lebens 10,12 (S. 234). 294 All mein Tun ist nur noch Liebe, Strophe 13,10 (S. 207).

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1. Affektivität als Ur-Sagen – mit Blick auf die spanische Mystik

weshalb sie in ihrer Fundierung durch das transzendental Imaginäre oder originär Ein-Gebildete auch niemals gesehen oder abschließend geschildert werden kann – und somit in ihrer Bezeichnung als das »Unsichtbare« auch keine metaphysische Hinterwelt als »Geheimnis« festzuhalten hat.295 Vielmehr handelt es sich um das Sichtbarwer­ dende selbst in seiner dunkel affektiven Hervorbringung als erstem Hervorbrechen der Sichtbarmachung bzw. als reine Entfaltung im Bild der Welt im Sinne des für uns unhintergehbaren Erscheinens­ grundes. Die unendlichen – ebenso überraschenden wie eingeübten – Aspekte und Strukturen an den Erscheinungen sind somit je Bilder an einem Ur-Bild, das sich selbst nie zeigt, sondern nur als reines Erscheinenlassen »zu sehen gibt«. Das Bild der Welt als solches ist gegenüber den einzelnen vorstelligen Bildern indifferent. Diese sind in ihrem Sosein kontingent; das heißt, sie könnten auch anders oder gar nicht sein, und nur deshalb besteht die phänomenale Möglichkeit zu ihrer Idealisierung, Hypostasierung, Präzisierung, Erweiterung oder Negation, welche die objektivierenden Sprachweisen in ihrer intentionalen Instrumentalisierung des zunächst passiv hyletischen »Bildmaterials« ausmachen. Verständlich wird dadurch gleichzeitig, warum die phänomenale Transzendenz dieses unzugänglich primä­ ren Bildcharakters sehr leicht mit der Transzendenz des Religiösen selbst verwechselt werden kann, wie es zumeist in den frühen Natur­ religionen der Menschheit der Fall ist. Aber die Unsichtbarkeit die­ ser weltbildenden Transzendenz entspricht nicht der immanenten Unsichtbarkeit des rein phänomenologischen Lebens, so dass hierin die Sprachanalyse ihren methodischen Schwerpunkt haben muss, um von daher gleichfalls das Eigenwesentliche der Mystik zu verstehen. Diese ist nicht mangels Klarheit des Denkens dunkel, sondern aus konstitutiven Gründen der an sich verborgenen Lebensoriginarität heraus, da es sich letztlich im reinen Empfindungsvermögen um ein bereits zitiertes »Verstehen im Nichtverstehen« handelt, welches keinerlei Möglichkeit enthält, es »auch nur anfangshaft in Worte zu fassen«, was Theresa von Avila ebenfalls ein reines »Erproben« nennt, das in seiner »Dunkelheit« ihr ausschließlich die »Gewissheit« lässt, »dass sie mit Gott zusammen ist«.296 Vgl. E. Keller, »Absonderungen. Mystische Texte als literarische Inszenierung von Geheimnis«, in: W. Haug u. W. Schneider-Lestin (Hgg.), Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang, Tübingen 2000, 195–221. 296 Das Buch meines Lebens 18,9–14 (S. 254ff.). 295

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1. Affektivität als Ur-Sagen – mit Blick auf die spanische Mystik

Der Übergang zur neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft ist diesbezüglich solcher Originarität oft als ein tief greifender Bruch zum mittelalterlichen oder antiken Denken verstanden worden, das die Welt weniger als umfassenden Horizont denn nur als Gesamtheit der Seienden gesehen habe, obwohl das »Sein« als ein anfängliches »Aufscheinen« wohl ebenfalls im mythischen Weltverständnis schon nicht ganz abwesend gewesen sein kann. Da es uns hier jedoch nicht um einen philosophiehistorischen Aufweis im engeren Sinne geht, sondern um die phänomenologische Genealogie der »Welt­ idee« als solcher, wie sie immer mit jedem Wahrnehmungs- und Sprachsinn verbunden ist, muss mit Blick auf die Mystik gesagt werden, dass die neuzeitliche Bewusstseinsphilosophie bis hin zur klassischen Phänomenologie nichts anderes tut, als die Welt in ihrem originären Bild der Ver-Äußerung zu denken. Das heißt als Ob-jektivität des Bewusstseins bzw. als Intentionalität, wobei sich der Status der Subjektivität von einem zunächst noch substantialisti­ schen Subjektbegriff mit dem »Vermögen« der Einbildungskraft zur rein aktiven Transzendenzauffassung derselben hin geläutert hat, die dann bei Heidegger eine rein zeitliche Charakterisierung erhielt. Was in jedem Fall bleibt, ist die Bezüglichkeit zwischen Subjekt und Objekt bzw. das Da-sein als Weltbezug dank der Offenheit pro-jektiver Welteinbildung, wie immer sie vom Sein her begründet wird. Die Unterscheidung von Seins- oder Bewusstseinsphilosophie hilft folglich für das kriteriologische Verständnis von Mystik nicht viel weiter, wenn Weltsein sowohl von der kategorial bestimmten Objektivität her sowie vom existenzialen In-der-Welt-Sein aus nur in der Vorgegebenheit einer »Welt-Klüftung« als Erstdimensionalität möglich ist. Dies zeigt auch der Rückgriff bei Johannes vom Kreuz auf scholastische Elemente wie Substanz und Akzidenzien, die allerdings dem seelischen »Wesenskern« der umfassend mystischen Einung nur annäherungsweise gerecht werden, da auch bei ihm Erinnerung und Vorstellung im reinen Empfinden der Gegenwart Gottes ihre Kraft nicht mehr ausüben können.297 Das heißt, jede Differenz – oder jeder »Abstand« – ist zum Verständnis solcher Einheit schließlich zu suspendieren, so dass nur die Andersheit von Welt/Gott der Einbil­ dungskraft zugänglich bleibt, selbst wenn im Sinne des poetisierten Ideen-Exemplarismus ebenfalls alle Dinge in Gott als »Schönheit« 297

Vgl. All mein Tun ist nur noch Liebe, Strophe 14,14–15 (S. 219f.).

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1. Affektivität als Ur-Sagen – mit Blick auf die spanische Mystik

gegeben bleiben, um sich der christusmystischen »Schönheit des Geliebten« anzunähern. Bild, Offenheit, Feld, Vermögen, Frage/Antwort skizzieren mit­ hin nur eine phänomenalisierende Beschreibungsreihe, die das Außen der Welt als absolute Vorgegebenheit intentional strukturiert, ohne diese Intentionalität subjektiv selbst unbefragt lassen zu können, sofern wir genetische Deckungs- und Verflechtungsphänomene im Sinne passivster Egologie mit in diese Analyse hinnehmen müssen. Auch die scheinbar einfache Frage »Was ist?« kann als »Was ist die Welt?« in ihrer Doppelstruktur seins- wie sprachphänomenologisch reflektiert werden, nämlich einmal als der Identifizierungsversuch in einer schon gelichteten Präsenz des »Da« selbst oder als Teilelement des zu Denkenden als solchem im Sinne einer bestimmten Seinsart, das heißt als existentialer Gebungsmodus. Damit tritt die Welt als »Bild« mit der Bedeutung »ist« auf sowie dadurch gleichzeitig als Sein der Bedeutung und als Bedeutung »im Sein«. Die philosophi­ sche Auslegung eines solch sprachlichen Fragecharakters liefert dann aber wiederum nicht mehr als das, was jede Fragemöglichkeit als solche bedingt – nämlich einen Horizont, in dessen Abstand die Antwortdimensionen regional ontologisch vorgezeichnet sind. Das philosophische Sagen vermag zwar so der Sprache selbst nicht äußer­ lich zu werden, aber die innere Reflexivität des Sprechens wiederholt nur den originär gegebenen Entfaltungsraum der Ein-Bildung, ohne diese selbst in ihrem Hervorbringungsvermögen ideativ ergreifen zu können. Die epistemologische Vermessung des Sprachuniversums bleibt folglich vom »Weltabgrund« umhüllt und re-produziert ihn als Form desselben. Dies bedeutet gleichzeitig, dass alles weitere Existenzinterpretie­ ren diesen Grundbezug von Sprache/Welt nur je spezifisch aktuali­ siert, beispielsweise als Geworfenheit, Stimmung, Mitsein, Zuhan­ denheit usw., um hier nur Heideggers Analysen zu nennen. Verfolgt man diesen Weg von der »gesprochenen Sprache« zur »sprechenden Sprache« zurück, wie Maurice Merleau-Ponty298 ihn für eine chiasma­ tische Phänomenologie von Leib/Welt vorschlägt, dann trifft man wiederum auf das Vermögen der stummen Geste, die kinästhetische Konturen der »Es-gibt-Einbildung« in die leibliche Bewegung zur Vgl. R. Kühn, Postmoderne und Lebensphänomenologie. Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens, Freiburg/München 2019, 147–175: »Spra­ che und Leib«. 298

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Welt hin einbezieht. Deren transzendentale Ästhetik fehlt keinem Seienden »im Sein« als affektiver Schicht und verweist somit diesseits von Raum und Zeit an die imaginatio als grundlegend subjektive Selbstbewegtheit, durch die sich alles originär sinnlich eröffnet und somit in der fleischlichen Passibilität des Lebens fundiert ist. Wenn wir die Mystik daher letztlich rein phänomenologisch im Übergang von Bedürfen/Begehren ansiedeln, dann muss notwendigerweise ihre je eigene sprachliche Deskription dieses rein immanenten Voll­ zugsaktes eines originären Könnens jene Implikationen erhellen, die zur »Zerreißprobe« von Welt/Gott bzw. Gewissen/Gutem führen. Denn das Begehren zielt als Christusmystik insbesondere darauf ab, »sich ganz in Liebe zu Gott aufzulösen«, wie Theresa von Avila diese innere fundamentale Spannung in Bezug auf die notwendige Weltsuspendierung angesichts des Teilhaftigwerden der absoluten »Majestät« beschreibt.299 Um diese dann durch Nietzsche wie Heidegger vertiefte theo­ retisch-praktische Schematismusproblematik300 hier weiterzuverfol­ gen, sei zunächst daran erinnert, dass das Sprachuniversum gerade dadurch auf das transzendent originäre Seinsgeschehen hinblicken lassen kann, wenn die Worte mehr ein »Nichtwissen« als ein Wissen beinhalten. Dies ist gerade für die Mystik zentral, sofern sie keinerlei Welt-Erkenntnis für die Einung durch Gott bedarf, so dass hier auch die Ursprungssituation der Einbildungskraft suspendiert wird, überhaupt noch eine transzendente Eröffnung bewirken zu müssen. Die bedeutungsvollsten Begriffe auch der Philosophie sind somit nicht notwendigerweise jene, die konzeptuell genau umschließen, was sie sagen wollen, sondern die gewöhnlichen Evidenzen zerbrechen lassen nöteund dadurch den Gesamtkorpus der sprachlichen Selbst­ verständlichkeiten mit dem konfrontieren, was ihn zu übersteigen scheint. Diese Art spontaner Epoché in der Sprache selbst ist ebenfalls nicht nur ein Anliegen der dichterischen Verfremdung durch neue Wortmetamorphosen und Bildschöpfungen und Lautassoziationen, sondern die philosophische Analyse kann ihrerseits die auf Konzep­ tualisierung hin ausgerichtete Ontogenese eines Phänomens dadurch durchsichtiger werden lassen für Sinnwerdungen, die zwischen der Das Buch meines Lebens 5,7 u. 17 (S. 163, 167 u. 174). Vgl. M. Henry, Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris 1985, 249ff., für die lebensphänomenologisch herausgearbeitete Korrelation von Affekt und Vorstellung. 299

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Horizont-Eröffnung eines Feldes und dessen sprachlich bedeutsamer Ausschöpfung liegen. In dieser Hinsicht konnte Merleau-Ponty mit Recht sagen, dass Husserl nicht eine einzige Wesensschau zu Ende geführt habe, weil das »Wie« der Eigenschaften jeweils vom wechselnden Spiel der Gegebenheitsweisen dynamisiert wird, wie es bei allen sinnlichen qualia der Fall ist, die sich nicht auf eine einzige Stellungnahme reduzieren lassen sowie den Leib als sinnliche Gesamtheit immer wieder neu in seiner Funktion der Eröffnung von Aspekt- und Stilän­ derungen manifestieren.301 Von daher lässt sich strukturell nachvoll­ ziehen, warum die mannigfachen Manifestationen von »Gotteinung, Ekstase, Entrückung, Geistesflug und Enzückung« von vehement leiblich affektiven »Aufwallungen« begleitet sein können, die »Todes­ nöte und Glücksgefühl« für Theresa von Avila in einem bedeuten. Dass sie diese als ein »Gekreuzigstsein zwischen Himmel und Erde« beschreibt, zeigt an, dass die »Erhebung über alles Geschaffene und vor allem über sich selbst«, eine Wahrnehmung von allem Sein beinhaltet, »ohne [länger] darin verstrickt zu sein«. Denn wenn die Einbildungskraft aufgehoben ist, sind nicht nur alle Weltverhaftun­ gen aufgehoben, sondern deren Ermöglichung selbst durch die origi­ näre Einbildungskraft als Transzendenzursprung. Im mystischen Ver­ ständnis bleibt daraufhin Leere und Einsamkeit und »echte Demut« zurück, da die intentionale Verknüpfung von Welt und Eigeninteresse aufgehoben ist.302 Da die Welt kein einseitig physikalisch abschließbares Bild ist, sondern vielmehr unaufhebbar sinnlicher oder subjektiver Eindruck bleibt, muss die Reflexion auf solch mögliche Einseitigkeiten oder Einschnitte zurückkommen, die sie durch das Denken – etwa in der Wissenschaft – von nur einer bestimmten Erscheinensweise in der Gesamtrealität hervorruft. Ob die Sprache dies insgesamt leisten kann, sich allen Erscheinenstonalitäten wie einer Musikalität anzu­ schmiegen, mag zweifelhaft sein, obwohl gerade in allem Beschreiben ein ästhetisches Sehen und Sprechen notwendig ist. Aber dieser Zweifel enthebt nicht der phänomenologischen Grundeinsicht, dass Selbstkritik philosophischen Sagens »etwas« aus der Welt- oder 301 Vgl. U. Dopatka, Phänomenologie der absoluten Subjektivität. Eine Untersu­ chung zur präreflexiven Bewusstseinsstruktur im Ausgang von Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre, Michel Henry und Jean-Luc Marion, Paderborn 2019, 237ff. 302 Vgl. Das Buch meines Lebens 20,1–23 (S. 268–281).

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Seinseröffnung heraus sich selbst sagen lassen will, was an sich schon zur eigenen Unsagbarkeit verdammt wäre, sobald nur das gelten sollte, was ein Ding als »Gesagtes« (Dit) ist, wie es besonders auch Emmanuel Levinas als ethische Selbstradikalisierung veranschaulicht hat.303 Daher können wir die Mystik radikal phänomenologisch als ein »Ur-Sagen« vrstehen, das vor allem Gesagten zu verorten ist und deshalb auch methodisch nicht ausschließlich in Text- oder Erzähl­ strukturen eingeschlossen werden kann. Das »Vertrauen gänzlich auf Gott zu setzen«, ist daher das Verlassen aller im Außen verharrenden Strukturen, um originär durch das »Verweilen bei [Christus als] einem Freund zu der zu werden, die ich hätte sein sollen«, wie Theresa von Avila für sich sagt. Das »innere Beten« ist mithin in der spanischen Christusmystik als kontemplatives wie poetisches »Wortereignis« zugleich die Versenkung in den, »der mir das Leben gab« – anders gesagt ein Versenken in die rein transzendentale Geburt, welche aller Welthaftigkeit vorausliegt, und zwar einschließlich der existentiellen Weltanhaftungen des Ich.304 Damit wäre reine »Welt« im Sinne philosophischer Eröffnung nicht nur ontologisch das »Voraus« der Sprache als Repräsentations­ system insgesamt, sondern sie bliebe zugleich ihr phänomenologi­ sches Gesetz in jedem sprachlichen Vollzug. Allerdings ist solch grundsätzliche Wachsamkeit gegenüber dieser transzendenten Ver­ schränkung von Welt/Sprache gerade nicht durch eine methodologi­ sche via negationis allein zu erreichen. Denn wenn das Bewusstsein als Subjekt oder als transzendentales Feld sich auch jedem Bild von Welt selbst als eine negierende Kluft gegenüberstellen kann, die ständig alle Bestimmungen in Bewegung hält, so bliebe dennoch in solcher Negation das Sein der Welt stets als eine absolute Fülle vorausgesetzt. Damit ist einerseits eine durchgehende Abhängigkeit des »Subjekts« von dem gegeben, was an sich reduktiv aufgehoben werden soll, so wie andererseits die ontologische Unangemessenheit bestehen bleibt, dass diese Abhängigkeit selbst nicht als Bezug in der Seins-Eröffnung gedacht wird. Dies führt dann dazu, die Welt nur als eine Pluralität von Ebenen und Perspektiven erscheinen zu lassen, anstatt die tatsächliche Begegnung mit dem »Guten über das Sein hinaus« zu denken, wie es die Mystik des Einen, Absoluten oder der Gottheit seit Platon unter­ Vgl. Th. Wiemer, Die Passion des Sagens. Zur Deutung der Sprache bei E. Levinas und ihrer Realisierung im philosophischen Diskurs, Freiburg/München 1988. 304 Theresa von Avila, Das Buch meines Lebens 5,5 u. 12 (S. 174 u. 177f.).

303

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nahm.305 Jene problematisch deskriptive Haltung, die Welt nur zum »Schauspiel« macht, das distanziert im Panoramablick überflogen werden könne, lässt sich sowohl in Husserls »Zick-Zack«-Methode zwischen Empirie und Reduktion sowie in Sartres306 dialektischer »Nichtung« beobachten, während Merleau-Ponty zwar die Heteroge­ nität der sinnlichen Erfahrungen untereinander hervorhebt, aber die chiasmatischen Interaktionen des leiblichen »Überstiegs« als »Ambi­ guität« belassen will.307 Der klassisch phänomenologische Befund der Grundoffenheit des Weltseins ist jedoch keine solche Zweideutigkeit, indem er als Horizont-Transzendenz keine ontologische Alternative auf derselben Ebene gelten lässt. Dies stellt die Mystik durch eine andere – unendliche, originäre oder inkarnatorische – Wirklichkeit in Frage, die dunkel bleibt, wie es besonders nach Dionysios Areopagita, Meister Eckhart auch bei Johannes vom Kreuz zu Tage tritt, insofern »Vermögen, Strebekräfte und Regungen« selbst »göttlich werden«, »da Gott die Seele in sich selbst verwandelt«. Die »höchste erreichbare Stufe in diesem Leben« als »Umarmung durch Gott« ist dann als »geistige Vermählung« eine »Berührung nackter Wesenskerne der Seele mit der Gottheit« – das heißt ein rein passives Empfangen ohne Etwas im Sinne der originär lebenden Selbstaffektion im Sinne absoluter Lebensrelation vor aller Welthaftigkeit.308 Die phänomenologische Grundproblematik von Wort/Bild macht somit verständlich, warum Sinnliches und Geistiges keiner unterschiedlichen urphänomenalisierenden Ordnung im Bereich der eigenwesentlichen »Dunkelheit« von Leben oder Gottheit angehören. Gerade beim Dichter fallen im Höchstmaß Bild und Wort zusam­ men, insofern durch ein sprachliches Zeichensystem die immanente Landschaft einer Erfahrung entsteht, die – abgekürzt gesagt – die Genealogie des Lebens als Sicherfreuen/Sicherleiden in dessen origi­ närer Historialität selbst ist. Der philosophische Diskurs gleicht dem insofern, als er im Ausdruck von Sein, Welt oder Leben ebenfalls einen schweigenden Grund an den Rand der Offenheit treten lässt, ohne damit zu behaupten, dass in solcher re-praesentatio endgültig alles gesagt sei, was bei solcher Epiphanie an zusätzlichen Durchbrüchen,

305 306 307 308

Vgl. J. Le Brun, Le pur amour de Platon à Lacan, Paris 2002. Vgl. U. Dopatka, Phänomenologie der absoluten Subjektivität, 92ff. Vgl. Le visible et l' invisible, Paris 1964, 125ff. u. 195ff. Vgl. All mein Tun ist nur noch Liebe, Strophe 19,4 (S. 258–264).

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Verlagerungen und Modalisierungen möglich wäre.309 Neben der grundsätzlichen Eröffnung von Bild/Wort innerhalb der primordialen Einbildungskraft von Welt bedeutet daher deren Korrelation, dass die logisch linguistischen Effekte selbst offen bleiben für ein noch anderes Sagen, das sich des sprachlichen »Materials« selbst annimmt, um nicht nur etwa eine Umkehrbarkeit von Objekt/Subjekt zu voll­ ziehen oder Dimensionen, Konfigurationen und Verflechtungen im Sinne immanenter »Textarbeit« anstelle von bloßen Begriffen, Ideen und Vorstellungen sichtbar zu machen.310 Vielmehr geht es letztlich um eine Fulguration des Wortes aus dem »Urbild« des Affekts als Eigenwesen der Einbildung heraus, weshalb auch das mystische Ver­ haftetbleiben in transzendente Beschreibungsstrukturen selbst noch aufzubrechen ist, so wenn bei Johannes vom Kreuz etwa »Leben im Geist« und »Leben im Leib« sich als »Gegensätze widerstreiten«, da das »Fleisch Gott nicht sehen« könne. Denn das »heiße Begehren« oder die »Liebesbegierde« blieben ohne die originäre Lebensselbstge­ gebenheit phänomenologisch unverständlich, insofern auch schon die »vergängliche Liebe« eine Liebe bildet, die sich originär als solche in der Selbstaffektion praktisch erprobt hat, um die Liebe nach der »Gegenwart Gottes« überhaupt ersehnen zu können. Solche Liebe nur dem Geist zuzusprechen, gehört deshalb noch einer dualistisch geprägten Tradition christlicher Frömmigkeit an, welche durch das umfassende Einheitsempfinden eigentlich aufgehoben ist, jedoch als Element sprachlicher Vermittlung nicht weiter reflektiert wird – auch wenn das »Genießen« (jouissance) in Gott des erfüllten Begehrens keinerlei Mangel mehr hinterlässt.311 Wenn Johannes vom Kreuz bei einem Weihnachtsfest in Granada das Jesuskind der Krippe in 309 Für diese mögliche Durchdringung von »Literatur« und »Philosophie« vgl. M. Blanchot, Le livre à venir, Paris 1959 (dt. Der Gesang der Sirenen, Frankfurt/M. 1988), mit Beiträgen zu Proust, Artaud, Mallarmé, Musil, Hesse, Simone Weil usw., die alle zu einer nicht religiösen Mystik hin tendieren, was zugleich eine wichtige Inspiration für Bataille war. 310 Vgl. J. Derrida, La dissémination, Paris 1972 (dt. Die Dissemination, Wien 1995). 311 All mein Tun ist nur noch Liebe, Strophe 8,2–3 (S. 167–186). Zur umfassenden Einheit dieses Genießens vgl. ebenfalls B. Sesé, »La jouissance mystique selon Thérèse d'Avila et Jean de la Croix«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, de l'Antiquité à nos jours, Brüssel 2005, 151–162, mit gleichzeitiger Betonung von Seligkeit und Leiden bei ihrer Teilhabe an den »Geheimnissen Gottes«. Allerdings sei dieses Genießen nicht mit dem Selbstgenuss Gottes identisch, wie auch schon J. Baruzi betonte; vgl. Saint Jean de la Croix et le problème de l'expérience mystique, Paris 1931, 658f. Dieser macht zugleich darauf aufmerksam, dass die »lyri­

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seine Arme nimmt, um seine eigenen »Gesänge« zu tanzen, dann wird dadurch gerade der Leib in die Dichtung der Einung mit Gott aufgenommen und offenbart die umfassende Freisetzung innerhalb des christusmystischen Gesamtlebens.312 Gegen-Reduktion, Diakritik, Hyperreflexion sowie Dialektik zum Beispiel, um kritisch als auch schöpferisch mit dem Wort als »Bild« der Welt umzugehen, zeigen durch den angesprochenen Gedanken einer einheitlich passiven Empfängnis des Lebens wie des Geistes, dass trotz allen Herausstehens in die Offenheit des Seins damit letztlich kein Jenseits vom rein phänomenologischen Leben gemeint sein kann. Denn die originäre Passivitätsgegebenheit als Rezeptivität setzt bereits das gesamte selbstimpressionale Leben innerhalb der Modalisierung des Imaginären wie Wirklichen dank der hyletischen Bedeutungsfülle des Unsichtbaren voraus. Erst dadurch kann auch die Beschreibung Paul Ricœurs hinsichtlich der Metapher als »semantische Innovation« gegenüber herrschender Benennungs­ dürftigkeit mitvollzogen werden, da zumeist nur das transzendent Objektive berücksichtigt wird.313 Aber gerade solch neue Erscheinung besagt dann keineswegs Beliebigkeit oder Inflation der Bilder, son­ dern Genauigkeit der Metaphern im Hinblick auf die notwendigen Richtungswechsel des Diskurses. Dies zeigt sich gerade im kriterio­ logisch mystischen Sprechen überall dort, wo von Nacht, Nichts, Abgrund oder Gottesgeburt die Rede ist. Hierdurch wird nämlich das Wesen der Sprache selbst offen gehalten, denn wenn letzteres – hermeneutisch gesehen – Offenheit aus der Kluft der Welt heraus ist, dann muss sich diese Offenheit gerade auch an seiner möglichen Öff­ nung für nicht-sprachliche oder immanente »Welten« noch bewähren. Daher sagte Theresa von Avila mit Recht, die »mystische Theologie« sei in ihrem Verständnis nicht dazu da, unsere »Seelenvermögen zum Verstummen zu bringen«, insofern es »keine Tätigkeit gäbe, die die Seele niedergedrückt zurücklässt« – das heißt, sich nicht jeweils als

sche Dimension« bei Johannes vom Kreuz aus der »Nacht« seiner mehrmonatigen klösterlichen Kerkerhaft unter extremsten Bedingungen hervorbrach; siehe ebd., 232f. 312 Vgl. M. de Certeau, La Fable mystique II, 131f. 313 La métaphore vive, Paris 1975, 369f. (dt. Die lebendige Metapher, München 2004). Vgl. auch schon H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (Archiv für Begriffsgeschichte 6), Bonn 1960, der an entscheidenden Theoriestellen in philo­ sophischen Werken neue Erkenntnisschwellen gerade auch durch die Metaphorik für weitere Rezeptionen ausmachte.

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praktische Selbstoffenbarung des ursprünglichen Lebens in seiner fundierenden Passibilität erwiese.314 Der Affekt als Grund des Weltbildes aus dem lebendigen Kön­ nen heraus ist daher keine geringere Universalität als die ideelle Konzeptualisierung, auch wenn die Weise der begrifflichen Veran­ schaulichung nicht mehr diesselbe sein kann. Im Gegenteil, Wort und Bild rücken sogar aufs engste zusammen, um schließlich dasselbe zu sein, nämlich das Vermögen des Affekts, sich befreiend in der äußeren Versinnbildlichung als Urwesen des Erscheinens zu bekun­ den. Damit zeichnet sich ab, dass die Bild/Wort-Korrelation auch eine genauere phänomenologische Sichtweise von Sein/Erscheinen erlaubt. Mithin eine strengere Aufklärung des Imaginären als tran­ szendentaler Weltmöglichkeit aus dem ästhetisch dichterischen bzw. poetisch mystischen Leben heraus, ohne einem metaphysischen Dua­ lismus der Transzendenzheterogenität zur Immanenz zu verfallen. Weder Materie noch Geist im intentionalen Konstitutionssinne zu sein, sondern imaginatio, beinhaltet originär, Welt vor jedem Singular oder Plural impressional fleischlich bzw. rein passiv hyletisch aus der Lebensgeburt heraus zu buchstabieren. Hierzu hat die philosophische Tradition bisher kaum Begrifflichkeiten bereit gestellt – was wir hier als »Bild« des Affekts, des Lebens sowie ihrer Selbstbewegung als »Wort« im Sinne des Sich-Selbst-Sagens immanenter Passibilität für die Mystik unterstreichen wollen. Da diese Letztwirklichkeit von Leben/Fleisch als Ur-Cogito im Sinne eines kriteriologischen Begeh­ rens weder als einzelnes Objekt noch als teleologische Universalität vorweisbar ist, muss sie allein durch sich selbst gedacht werden, und nicht als Substanz oder deren Derivate wie Akzidenzien. Was schließlich heißt, als »Logos« der Lebensselbstzeugung in ihrer origi­ nären Ipseität absoluter Reziprozität im Sinne eines unverbrüchlichen Offenbarungswortes wie in der spanischen Mystik hier. Bei Theresa von Avila verbinden sich in dieser Hinsicht »spirituelle Sprache« und »Entschlossenheit« als »Wandel« in der »Freiheit des Geistes« miteinander, um jede welthafte oder ego-abhängige »knechtische Furcht« hinter sich zu lassen und ausschließlich als »Diener der Liebe zu leben«. Folglich in allen existentiellen Modalitäten von Trocken­ heit, Unlust, Überdruss oder Trostlosigkeit mit dem Bewusstsein zu existieren dass es »auf der Erde nur Gott und die Seele gibt«. Diese rein originäre Lebensrelation als stets »gegebene Gegenwart Gottes 314

Das Buch meines Lebens 5,5 (S. 205).

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in meinem Inneren« entzieht sich jeder machbaren Methode und tritt bildhaft als »Bewässern« des inneren Gartens durch einen Brunnen auf, der nie versiegt, sofern diese unzerstörbare Grundgegebenheit ein Überlassen an Gott als Quelle in allem bedeutet.315 Solch christlusmystische Bekundung von Bild/Wort ist inner­ halb affektiver Einbildungskraft daher eine prinzipielle Annäherung an das, was sich jeder Vorstellung entzieht und zugleich jedoch deren Möglichkeit material phänomenologisch beinhaltet, weshalb die Überlegungen zu phänomenologisch wie mystisch sprachlichen Beschreibungselementen zugleich Erkundungen des Weltmöglichen aus dessen »Urbild« überhaupt heraus sind. Affekt und Vorstellung sind in ihrem je eigenen Offenbarungswesen zwar nicht dasselbe und können es nicht sein, weil der Unterschied von Horizont und Passivi­ tät zwischen ihnen liegt. Aber als reine Kraft der Ein-Bildung ist der Affekt gerade die Möglichkeit von Welt in der Modalisierung der Vor­ stellung durch das urphänomenologisch Imaginäre, das seinerseits die Weltekstase als innere Genese des »intentionalen Lebens« im Sinne Husserls in sich trägt. Ist in der eidetischen Variation beides operativ gegeben, nämlich Welt und Einbildung, so ist die Kluft als Horizont sowohl Idee wie Sinnlichkeit, die heterogen in ihrer Duplizität erscheinen. Bedeutet der Horizont die Unbestimmtheit des Potentiellen als Orientierung weiterer Welterfahrung, so ist das Sinnliche selbst damit dem Imaginären eröffnet. Das heißt, die Idealität des Horizontes lässt ein fragmenthaftes Bild der Welt zu, um es in weiterer Ausübung der Einbildung perzeptiv wie sprachlich zu ergänzen, fallen zu lassen oder neu zu schaffen. Getragen von der Sprache kann mithin die Idealität neue Sinnlichkeit pro-vozieren, und der Affekt dergestalt – das heißt in seiner nie unterbrochenen transzendentalen Selhstimpressionabilität – eine bessere Vorausset­ zung bieten als jede Abstraktion, wenn es um das »Sein insgesamt« als Grund geht. Gemäß der autobiographischen Darstellung Theresas von Avila zu den Bedingungen der Wirkungen des »inneren Betens« soll daher angesichts solch absoluten Grundes ein »falsches Verständ­ nis von Demut« unsere »Wünsche nicht klein halten«. Wohl aber soll jedes »Trostdenken« von Welt der »größten Geringschätzung« anheim fallen, da es in seiner Illusion in Bezug auf die wirklich lebendige Kraft unseres Könnens als reiner Einbildungskraft jene 315

Das Buch meines Lebens 10,1–9 (S. 185ff., 194ff. u. 211).

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Möglichkeit verstellt, in jedem Augenblick durch unser Begehren den zu empfangen, »der alles vermag« (Phil 4,13).316 Die praktisch mystische Transzendentalität ist daher prinzipi­ ell gewollter Verzicht mittels Epoché auf empirische Vorgaben als äußere Entscheidungskriterien, und deshalb ist beim Urphänomena­ lisierungsproblem von »Welten« im verbalen Sinne als Bild/Wort nicht vorweg entschieden, wie die Rollen von Imaginär und Signifi­ kanz zu verteilen sind oder nur einer jeweils bestimmten ontische Region zuzuordnen wären. Ist noch grundsätzlicher jedes Erscheinen ein affektives Sich-Offenbaren, dann muss auch von jedem Wort und Bild her ein Weg zum Ur-Imaginären zurück möglich sein, der vom Affekt gewiesen wird, sofern er der Grund solcher Ein-Bildung des UrSeins in dessen Selbstzusage oder »Ur-Sagen« ist. Enthalten Sein und Sprache eine Kluft, die von den Subjekten ereignishaft nicht absolut beherrscht werden kann, wie Heidegger immer wieder betont,317 so vermag zwar auch der Affekt in solcher Kluft als zeitliche Präsenz nicht sichtbar erscheinen. Aber das Hervorbrechen des Erscheinens als sol­ chem ist in jedem Erleben vorausgesetzt, in dem sich zugleich Affek­ tives manifestiert und die Einheit mit anderem kompossiblen Erleben durch die Übergänge der Gefühlstonalitäten bildet. Deshalb verweist die Kluft nicht allein auf einen vorherigen Modus der sich eröffnenden Entfaltung des Grundes als »Ereignis«, sondern gleichermaßen auf eine ebenso archaische wie ständige Leistung des Zusammenhalts, der von keiner perspektivischen Vorstellung errichtet werden kann. In mystischer Tradition ist diese letzte Kohäsion als rein sich offenbaren­ des Leben »Gott« im Sinne des »Bräutigams« des »Hohenlieds«, was wir hier auf dem Weg der Herausarbeitung der originär gegebenen Weltidee als ästhetisch sprachliches Einbildungsprodukt zu verstehen versuchen. Denn wie nach Bernhard von Clairvaux und anderen auch Johannes vom Kreuz sagt, spürt der Mystiker sein unwiderrufliches »Eingenommensein« durch Gott, »so dass für die Seele alle Dinge Gott sind«, weil durch die »geistliche Vermählung« eine »friedliche Selbstmitteilung [des] Geliebten und Liebesaustausch mit ihm« statt­ finden, die einer »genauen Anpassung« als »innere Stimme an jede Seele« mit ihren praktischen Weltbezügen entspricht.318

316 317 318

Ebd., (S. 208f.). Vgl. Phänomenologie des religiösen Lebens, 75ff. All mein Tun ist nur noch Liebe, Strophe 14–15 (S. 209f.).

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Radikale Phänomenologie ist ihrerseits der prinzipielle Aufweis, um das Zusammenspiel von Welt/Seele in »Gott« als Leben aus ihrer transzendental imaginären Ermöglichung heraus zu sagen, weshalb sie das Bild als Sprache sowie die Sprache als Bild thematisiert, um verfälschende Homogenisierungen wie Dualismen zu vermeiden, ohne vom Sagen des Originären zu lassen. Aus demselben Grund ist sie unmittelbar auch Meta-Genealogie, das heißt Rückkehr in eine Ursprünglichkeit, die Einheit ist und doch intentional aufbricht; affek­ tiv fundierte Perspektivität beinhaltet und trotzdem Erprobung des Selben bildet, wo und wie immer es sich lebendig in unserem Können manifestiert. Deshalb muss auch die Analyse der Verstandesbegriffe, sofern sie vom kategorialen Außen der Welt als Objektivität oder »Mechanik« gekennzeichnet sind,319 zum immanent phänomeno­ logischen Hervorbrechen dieser Außenheit selbst zurückkehren, wo sich das Denken als Investitur einer transzendentalen Lebendigkeit erfährt. Diese besitzt als Nicht-Welt kein Bild ihrer selbst mehr, und gerade deshalb, um sich selbstobjetivierend zu verstehen, zur Explosion der modalisierten Bilderfolge in die Implosion des Affekts hinein wird, an denen das Wort sich selbst ebenso begrifflich wie poetisch oder mystisch abarbeitet. In dieser materialen Meta-Genea­ logie des affektiven Grundes ist die Philosophie als Phänomenologie mithin dem am nächsten, was ihr Wesen ausmacht, nämlich die Ein-Bildung als Leben immanent zu erproben, was bedeutet: als unablässig vermögende Pro-duktion, der selber keiner Vorstellung thematisch eignet. Wenn das Denken als solches dann nirgendwo mehr ist, nicht mehr hier als dort in irgendeinem »Da«, dann nicht deshalb, weil seine phänomenologische Ursprungsstätte irgendein dunkler »Ato­ pos« wäre.320 Vielmehr will es die Bildung aller Orte benennen, in die hinein der Affekt sich entlädt, denn er allein muss originär das Wesen solcher Ein-Bildung als sein lebendiges Wesen erproben, wie außer Nietzsche und Hölderlin insbesondere die MystikerInnen es zu verdeutlichen wussten und daher nicht ohne Grund gleichfalls als Dichter auftreten, wie es bei Johannes vom Kreuz als auch The­ resa von Avila der Fall ist.321 Aus diesem Grund des Sich-Erprobes 319 Vgl. H. Bergson, Les deux sources de la morale et de la religion (1932), Paris 2012 (dt. Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Frankfurt/M. 1993), Kap. IV. 320 Vgl. J. Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 2014, 51ff. 321 Vgl. Gedichte, in: Gesamtausgabe I, 1479–1503.

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heraus kann der Affekt dann auch das immanent selbstaffektive Wesen von Raum und Zeit sein, die für sich reines Außen sind und somit imaginär ein-bildend getragen werden müssen, um in ihrer ontologischen Möglichkeit überhaupt sein zu können. Eine literatur- oder religionswissenschaftliche Begrenzung der Mystik auf bloß sprachliche Kodifizierung von Topoi erscheint uns daher erneut als eine Verkürzung der Ab-gründigkeit transzendentaler Einbildungskraft, welche als unendliches Begehren in der Mystik bis zu jeder Signifikantengrenze überhaupt hin erprobt wird, um auf diese Weise ihrem eigentlichen Verlangen gerecht zu werden. Die christusmystische Versetzung in das menschliche Leiden Christi als auch eine Relativierung von Krankheit/Gesundheit und sozialer Rollen, vor allem als Frau im Spanien des 16. Jahrhunderts, sind solche Annäherungen an dieses originäre Begehren. Dies schließt gerade bei Theresa von Avila auch als Ordensreformatorin und Klostergründerin »Sich-Entspannen« und »Sanftheit« nicht aus, da durch die Aufgabe von Prestige und Bedeutung erst deutlich wird, dass Gott in allem gewahr werden kann.322 Nach Descartes' reiner extensio dachte Kant konstitutiv die bisher untersuchte transzendentale Einbildung als jene Bewusstseinsobjek­ tivierung, ohne die sich kein Phänomen welthaft verorten lässt, während Heidegger hinter dieser scheinbar rein wissenschaftshörigen Ontologisierung nochmals eine der entscheidensten Seinseröffnun­ gen entdeckte – nämlich unsere passive Bewegtheit der Subjektivität

Vgl. Das Buch meines Lebens 11,16–17 (S. 200ff.); zur »Freiheit des Geistes« angesichts fremder Werturteile von außen siehe ebenfalls: Die Wohnungen der inne­ ren Burg, Siebente Wohnungen 1, in: Gesamtausgabe I, S. 1867ff.; außerdem ebd., 559–832: Das Buch der Gründungen u. 1547–1576: Die Konstitutionen. Siehe dazu auch M. de Certeau, La Fable mystique I (XVIè- XVIIè siècles), Paris 1982, 257–279: »La fiction de l'åme, fondement des Demeures (Thèrese d'Avila)«. Allerdings sieht M. de Certeau aufgrund seiner lingusitsch-historiographischen Vorentscheidungen die »Innerlichkeit« der »Seelenburg« nur als eine Fiktion, welche den metaphorischen Ausdruck einer Suche des Geistes nach einer »Bleibe« (demeure) darstelle, die als Raum nur durch die Entfernung aller Inhalte gegeben ist, wodurch das mystische »Ich« (Je) dieses Sprechens selbst leer ist, um dem »Ich spreche« Gottes Raum zu geben. Demgegenüber lässt sich als effektiv lebendige »Bleibe« jene radikale Selbstaffektion verstehen, in welcher die MystikerInnen mit ihrer inneren Erprobung unmittelbar zusammenfallen, auch wenn das Sprechen imaginär und fiktiv bleibt. 322

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als Bild zeitlicher Selbstaffektion.323 Entfaltet die Zeit den Raum ver­ geschichtlichender Vor-stellung, so darf allerdings dabei die Unter­ scheidung zwischen dem irreellen Selbst der Vorstellung und dem immanenten Realprozess des produzierten Sich-Vorstellens selbst nicht vergessen werden, dessen Ausdruck das irreelle Selbst ist. Denn jedes mögliche Denk- wie Vorstellbare verweist auf ein originäres Sich, das in seiner selbstaffektiven Materialität den Grund für das »Ich«-Sagen überhaupt erst bildet. Ein »Mensch« spricht nur in dem Maße, wie er überhaupt »Ich« sagen kann, und dieses »Ich« ist nur auf dem Boden des Wesens der immanenten Ipseität in ihm gegeben, wobei die transzendentale Ermöglichung dieses Ich allein deshalb möglich ist, weil das »Sein« sich jeweils als ein passibles »Mich« ereig­ net, das sich kraft konkreter Ipseisierung in seiner Lebendigkeit und deren Potentialität bestimmt. In der anfänglichen »Seinsereignung« wird der »Mensch« als ein Lebendiger vom Leben gezeugt, und als solcher kann er aufgrund der primordial fleischlichen Ipseität in sich »Ich« sagen, ohne damit einer trügerisch selbstreflexiven Selbstkon­ stitution zu verfallen.324 Radikal phänomenologisch gesehen, gibt es daher in solchem Ur-Cogito kein Sprechen, das von der Ichqualität losgelöst wäre, welche an der Quelle des »Seins« als rein phäno­ menologischem Leben der selbstimpressionalen Subjektivität selbst schöpft. In diesem Sinne müssen deshalb alle formalen Begriffe der Signifikanz als Hinweise für die phänomenologische Ur-Materialität aufgegriffen werden. Und diese ist im Fall der originären Ipseisierung deren affektive Kraft als immanente Bewegung selbst, mit der sich ein Selbst als konkret bestimmtes »Ich« dank der in ihm gezeugten Modalisierungsvermögen selbst ergreift, das heißt in jeder Tonalität oder Idee als cogitatio. Dies wird für die Mystik zur Einheit von Todes- und Liebesemp­ findung Gottes, wenn nach Johannes vom Kreuz ein »Ich-weiß-nichtwas« im Erproben west, das »man nicht auszusagen vermag«, aber als ein »Hinsterben von Liebe durch die Unermesslichkeit der Geschöpfe in Gott« empfunden wird.325 Die reine Passibilität ist auf solchem 323 Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M. 21951, 156ff. (»Die transzendentale Einbildungskraft und das Problem der menschlichen reinen Vernunft«). 324 Vgl. M. Henry, Généalogie de la psychanalyse, 101f., 118f.; »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/München 1997, 51ff. u. 157ff. 325 All mein Tun ist nur noch Liebe, Strophe 7,1 (S. 160); zum Todesempfinden vgl. auch Aufstieg auf den Berg Karmel II,5 (S. 138ff.).

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Hintergrund daher nicht grundlos ohne Nähe zur originär religiösen Erfahrung, welche als Erprobung reiner Passivität die göttliche »Got­ tesgeburt« im mystischen Sinne selbst darstellt. Das Sagen selbst ist hier die Unmittelbarkeit des Affekts in seiner sich entfaltenden Einbildungskraft. So lehrt uns dieses Ich-Sagen des Liebens, dass das Begehren als solches seine eigene Stimme sein kann, um sich selbst – zusammen mit dem geliebten »Bräutigam« der MystikerInnen – zum weiteren affektiven Austausch zu rufen, in dem das Leben der eingeschriebenen Spur der unmittelbaren Einbildungsbewegung folgt. Von daher wird verständlich, dass Poetik, inneres Beten wie Betrachtung und Kontemplation als »liebendes Aufmerken« – gemäß der zentralen Ordensregel des Karmels – bei Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz stets ein Ineinander von Schmerz wie Freude beinhalten. In den »Wohnungen der inneren Burg«326 schreibt erstere, um zugleich die Angemessenheit ihrer Metaphorik von Gott als »Feuer« zu unterstreichen: »Und da es noch nicht ausreichte, um sie zu verbrennen, das Feuer aber beseligend ist, bleibt dieser Schmerz in ihr zurück und löst in ihr diesen Vorgang aus, sobald es sie berührt. Das ist, glaube ich, der beste Vergleich, mit dem es mir gelungen ist, [diesen köstlichen Schmerz] auszudrücken.« Solcher Unmittelbarkeit der Berührung durch Gott als »Feuer« oder »Flamme« eignet eine Ausschließlichkeit, die der Idealität und Universalität des artikulierten Sprechens entgegenzustehen scheint. Aber das zuvor skizzierte Sprechen vor dem distanziert beobacht­ baren, objektivierten Sein lässt entsprechend verstehen, dass die Sprache prinzipiell keine Bedrohung für das Leben ist, sondern so zu sagen eine Mitschwingung in dessen schweigender Ipseisierung selbst, wenn gilt, das Schweigen nicht verschlossene Verschwiegen­ heit irgendeines Autismus meint. Das Begehren der Sehnsucht, in der sich das Leben diesseits der worthaften Geräuschhaftigkeit umschlingt, ist zugleich der Schutz dieses Lebens selbst, sich in seiner unentrinnbaren Selbstumschlingung als Passibilität von sich selbst über die imaginatio zu befreien. Es ist die Affektivität, die sich selbst dient, um in ihrer Selbstgebürtigkeit dem intentionalen Erwachen des »Ich« zu dienen, das sich in einer solchen Vorzeichnung der Ich-Einbildung ergreift, um dem weiteren Pathos des Lebens in dessen universalisierender Einbildung zu folgen. Denn die Exklusivität einer Liebe ist zugleich auch Ruf nach »Dauer« derselben, wenn man diesen 326

Siebente Wohnung 2,4 (S. 1795).

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Ausdruck im Sinne der durée als mystischen élan vital bei Bergson327 nimmt. Stimme als Laut und Gespräch bahnen diese idealisierende Beständigkeit an, die das affektive »Ur-Sagen« in seiner selbstbefrei­ enden Modalisierung vorzeichnet. Denn in den »Raum« und in die »Zeit« dieses Begehrens zeichnet sich ein Logos des Austausches ein, der als affektive generatio die originäre Gemeinschaftlichkeit zwischen Lebendigen zeugt – und zwar innerhalb des je selben Zugangs im Leben durch die christusmystische Figur des »Inkarnierten«, das heißt im Ur-Cogito von Leben/Fleisch des »Erst-Lebendigen«.328 Diese rein affektive Zeitlichkeit als antizipierte universale Gemeinschaft­ lichkeit der Begegnung ist zugleich Sprache in deren Grundgestus, denn der Andere investiert sich in die Offenheit des begehrenden Affekts hinein, um dort seine subjektive Exklusivität in die Bestän­ digkeit einer begegneten Eigenständigkeit zu verwandeln. Wird dies in Bezug auf alle Menschen gedacht, wie es phänomenologische Ontologie als Reziprozität von Ethos und Mystik erfordert, dann ist damit zugleich der gemeinsame Geburtsort im »Ur-Sagen« als Mit-Pathos angezeigt, den die Mystik in der Praxis der Nächstenliebe als Wesenskern zusammen mit der identischen Liebe zu Gott unter­ streicht. Wir können deshalb insgesamt festhalten, dass die Sprache in ihrer affektiven Ursprungsstätte der phänomenologischen Imma­ nenz im genannten transzendentalen Sinne effektiv »dichterisch« begründet ist, da das schweigende Leben originär eine musikalische oder mystische Schwingung bildet. Diese »Poetologie« des unendlich variierten, absolut selbstaffektiven Lebens in Geburt und Erwachen des Ich-Sagens selbst ist bereits »Lyrik«, wenn man darunter eine Bewegung versteht, wie sie Kandinsky auf einem gleichnamigen Ölgemälde von 1911 malte, nämlich als »Sprung«, der sich zu sich selbst in der Verneinung eines jeden Raumes gesellt, weil die her­ vorbrechende Ausdehnung vom rechten zum linken Bildrand nichts anderes als die ungeteilte Implosion des Lebens ist.329 Letztlich die Welt als »Schöpfung« insgesamt »in Gott« zu betrachten, und 327 Vgl. Les deux sources de la morale et de la religion, Kap. III,9; sowie unsere Hinführung und Grundlegung, Kapitel 1. 328 Vgl. R. Kühn, Der Erst-Lebendige. Christologie leiblicher Ursprungswahrheit, Freiburg/München 2021, 90ff. 329 Vgl. M. Henry, Radikale Lebensphänomenologie, Freiburg/München 1992, 274– 292: »Die abstrakte Malerei und der Kosmos«.

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dieses Leben seinerseits als das unmittelbare Sich-Offenbaren Gottes, kann dann nur heißen, die Welt selber als die Sprache Gottes aus solchem Leben heraus zu lesen. Dies betont in aller Grundsätzlichkeit Meister Eckhart, sofern jungfräuliche Bildlosigkeit und kreatürliche Bildhaftigkeit diese beiden Phänomenalitätsweisen von Gott/Welt beinhalten und letztlich nicht auseinander fallen. Das »urwortliche Ur-Wort« der Gottesgeburt wird deshalb durch seine Predigten nicht für seine Zuhörer »übersetzt«, sondern es aktualisiert sich genau als inneres Hören bei denselben, ohne in Vorstellung und Begriff gebracht werden zu müssen, auch wenn Eckhart dies in seinen weite­ ren lateinischen Werken philosophisch entfaltet.330 Auf diese Weise schließt schon »das dichterische Wohnen« an der Ursprungsstätte des Lebens vor jedem »Da« den Kosmos und die Idealität der Beziehungen, für welche vornehmlich die Sprache steht, nicht aus. Denn alles Sprechen hebt prinzipiell im pathischen »Zuviel« des Lebens an, um die affektive Selbstlast aus dem reinen Sich-Selbst-Wollen des Lebens heraus in die ihm gemäße Modalisie­ rung eines bei sich bleibenden »Sprungs« zu verwandeln, der zugleich empfängliche Offenheit für alles Sein ist. In keinem Augenblick irgendeiner Bewegung ist jemals das Leben von sich selbst entbunden, aber diese Selbstbindung als gleichzeitig immanente Selbstbefreiung ist gewisser als irgendetwas anderes das dichterische wie mystische Moment als solches – nämlich Stiftung eines »Seins«, in dem das Leben sich ereignet, ohne im geringsten in seiner Präsenz von sich selbst lassen zu müssen. Bei dieser Selbstbewegung kann das Leben nicht »neben sich« als Zuschauer treten wie bei Eugen Fink, so wie eben keine Dichtung, Liebe oder Mystik erfahren zu werden vermag, wenn ihre sprachlichen Bilder und Übergänge nicht selbst als solche erprobt werden. Nicht nur in einem semantisch metaphorischen, sondern in einem tatsächlich ontologisch phänomenologischen Sinne kann deshalb gesagt werden, dass ich die originäre Affektivität mit Hilfe der Sprache wie durch eine Scheibe hindurch betrachte, so wie niemand, der während der Fahrt im Zug aus dem Fenster schaut, an dessen transparentes Glas denkt. Die Mystik vollzieht diese reine Transparenz in Bezug auf einen nicht benennbaren Ursprung, der aber deshalb nicht weniger die Intensität jeder anderen Objekt-Gegenwart Vgl. S. Ueda, »Das Problem der Sprache in Meister Eckharts Predigten«, in: E. Jain u. R. Margreiter (Hgg.), Probleme philosophischer Mystik. Festschrift für Karl Albert, Sankt-Augustin 1991, 95–108. 330

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übersteigt, wie die angeführten Textbeispiele der spanischen Mystik aus dem 16. Jahrhundert in diesem Kapitel zeigen. Die Sprache ist dann Vermittlung wie Unmittelbarkeit in einem. Sie ist nicht mehr zunächst die Versammlung des Seienden in der »Lichtung des Seins« gemäß Heidegger, sondern für eine radikal materiale Phänomenologie vor allem der Zugang zur selbstaffektiven Offenbarung des einen Lebens. Da dieser Zugang aber unmittelbar ist, lässt sich prinzipiell auch nicht sagen, dass die Sprache für diese Offenbarung immer schon zu spät komme.331 Denn die Befreiung des affektiv mit sich selbst beladenen »Wortes des Lebens« in das Sprechen hinein ist sowohl die Wahrheit der Affektivität wie die Wahrheit jeder Rede, sofern von den ausschließlich transzendenten Bedeutungsverweisen als »Wahrheit der Welt« abstrahiert wird, wie die Mystik es bezeugt. Die »Eröffnung« in die Sprache hinein sowie durch diese ist kein isolierter Akt des sich offenbarenden Lebens, der erst durch das »Licht« des Seins verständlich würde, sofern Verste­ hen nur in einem verallgemeinernden Horizont überhaupt möglich erscheint. Vielmehr bedeutet die Wahrheitsphänomenalität als Real­ prozess des Selbsterscheinens des Erscheinens, dass die Reduktion auf das rein immanente Wirken der Affektivität hin auch das Sich-Öffnen des Sagens einschließt. Diese Transzendenzbewegung wird als Ereig­ nung im Leben nur durch eine Kraft möglich, die aus der Überfülle des Lebens selbst erwächst. Mithin als reine Selbstbeladenheit mit sich allein, weshalb alles Sprechen im in-karnierten Logos des Lebens wurzelt. Wenn im Theater aus Sophokles »Aias« beispielsweise die explosiven Ausrufe »Ih – oh!« oder »Ai – ah!« am schwierigsten für den Schauspieler darstellend zu sprechen sind, weil sich hierin die äußerste Leiddramatik der Tragödie verdichtet,332 dann wohnt diesen Weherufen trotz ihrer semantischen Dürftigkeit nicht weniger »Wahrheit des Lebens« inne als irgendeinem kommentierenden Satz

So urteilt ebenfalls B. Forthomme, »Manifestation et affectivité selon Michel Henry«, in: Annales de Philosophie 16 (1995) 1–92, hier 71ff.; vgl. zu dieser Sprachtransparenz auch R. Kühn, Wie das Leben spricht: Narrativität als radikale Lebensphänomenologie. Neure Studien zu Michel Henry, Chams 2016, 20ff. 332 Vgl. Aias, Vers 343 u. 423, in: Sophokles, Tragödien (Übers. R. Woerner), Darmstadt 1960, 21 u. 24. Wir verdanken diesen Hinweis Susanne Granzer vom Max Reinhardt-Seminar in Wien. 331

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über das »Unglück in der Tragödie«, wie es auch der Mythos bekräfti­ gen kann.333 Die phänomenologische Gewissheit, die jeder empfindet, wenn er liebt, leidet oder betet, kann folglich nicht weniger groß sein als die Wahrheit der Sprache, in der wir diese Gegebenheiten ausdrücke. Die Wahl eines Paradigmas, die symbolische Vermittlung oder der begriffliche Terminus entsprechen der inneren Kraft der Selbstgewiss­ heit, mit der sich eine erprobte Angemessenheit in der expressiven Sprachform finden lässt oder nicht. Wie wäre sonst zu erklären, dass dafür oft die alltagssprachliche Formulierung im engeren Sinne als zu oberflächlich empfunden wird, um Zuflucht bei Dichtung, Kunst oder Mystik zu suchen und dadurch das Entscheidende des subjektiv phänomenologischen Lebens auszudrücken? Solange die Gefühle selbst so flach wie die mehr oder weniger monotone, habitualisierte Durchschnittswahrnehmung sind, solange wird auch der umgangs­ sprachliche Ausdruck dafür ausreichen, um sie zu bezeichnen. Steht aber die Frage der phänomenologischen Wahrheit des Empfindens als Offenbarungswirklichkeit in ihrer Ab-gründigkeit selbst zur Debatte, dann gilt wohl mit Hölderlin zu Recht, dass »die Dichtung der Anfang und das Ende [der] Wissenschaft« ist, da die Dichtung in die absolute Wahrheitseröffnung durch die »Schönheit« selbst hineinreicht, wel­ che das undenkbar »Eine« vor jeder verstandesmäßigen »Zerteilung« betrifft.334 Diese Schönheit als letztes Offenbarungsgeschehen ist dann kein partikuläres »ästhetisches« Empfinden mehr, sondern die Sinnlichkeit schlechthin, die als solche in ihrer Natur ästhetisch wie religiös im transzendentalen Sinne ist,335 da Offenbarung und Offen­ bartes hier nicht mehr auseinanderklaffen können. Diese originäre Einheit ist das Wesen der Mystik selbst, wie es ihr untrennbarer Bezug zu Erotik und Poesie zeigt, wo Sprachpathos und absolute Lebenstransparenz eins sind. Man hat dies auch die »theopoetische

Vgl. R. Kühn, »Mythos als Dichtung«, in: G. Ahn u.a. (Hgg.), Mitteilungen für Anthropologie und Religionsgeschichte 12 (1999) 247–286; überarbeitet in: Wort und Schweigen. Phänomenologische Untersuchungen zum originären Sprachverständnis, Hilsdesheim-Zürich-New York 2005, 125–159. 125–159. 334 Vgl. Hyperion oder der Eremit in Griechenland, 389ff. (Ende des Ersten Bandes). 335 Zur Sinnlichkeit als eigentlicher Fundierung aller Erkenntnis, und nicht nur als ein Moment derselben, vgl. ebenfalls G. Dufour-Kowalska, L' art et la sensibilité. De Kant à M. Henry, Paris 1996, 7ff. 333

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Dimension« genannt,336 da gerade in den Gedichten des Johannes vom Kreuz, die auch als Lieder gesungen wurden, sich erotische Liebeslyrik der damaligen Zeit – unter Beeinflussung durch den Sufismus wie bei Ibn Arabi337 – mit der höchsten Liebe in Gott verbindet, um dem menschlichen wie göttlichen Begehren einen ebenso gemeinsamen wie unabschließbaren Ausdruck zu verleihen. Mit anderen Worten ereignet sich das radikal phänomenologi­ sche wie mystische »Ur-Sagen« an den Grenzen menschlicher Abgründigkeit, um sich von dieser ohne Ausflucht ergreifen zu lassen. In der angeführten spanischen Mystik stehen dabei äußerste Erprobun­ gen von seelischem wie leiblichem Schmerz oft im Mittelpunkt. Auch Gewissenqualen in Bezug auf Schuld und eigene Begrenztheit werden deutlich wahrgenommen, welche sich der Möglichkeit mystischer Vertiefung zu widersetzen scheinen, falls nicht Gott selbst den Fort­ schritt ohne jeden erkennbaren Anlass plötzlich durch seine Gegen­ wart erlaubt. So heißt es bei Johannes vom Kreuz mit Anlehnung an die Christusmystik aus Gal 2,20: »Der Grund dafür ist, dass in der Einung und Gleichgestaltung aus Liebe der eine sich dem anderen [Geliebten] zu Eigen gibt, und jeder sich dem anderen überlässt und mit ihm austauscht. So lebt jeder im anderen, und der eine ist der andere und durch Gleichgestaltung aus Liebe sind beide eins.«338 Vergessen werden darf jedoch bei solchen Aussagen nicht, dass einer­ seits die »Gotteinung« schon von Anfang an in der menschlichen Existenz angelegt ist und sich in der vorwärts treibenden Oszillation von Freude/Schmerz letztlich als ein »Aufstieg« durch die »Nacht« als solche hindurch erweist. Dies wurde radikal phänomenologisch in der christusmystischen Verbundenheit von Leben/Lebendigem als transzendentaler Geburt festgehalten, um durch kein äußeres Ereignis der Existenz jemals bei den MystikerInnen in Frage gestellt werden zu können. Angesichts der Inquisition in Spanien wurden teilweise Aussa­ gen über die schon gegebene unmittelbare Einheit von Gott/Seele von Johannes vom Kreuz selber für seine zweite, längere Fassung des »Geistlichen Gesangs« (B) in eschatologische Formulierungen

336 Vgl. B. Teuber, Sacrificium litterae. Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz, München 2003, 26 u. 37. 337 Vgl. dazu unser folgendes Kapitel IV,2. 338 All mein Tun ist nur noch Liebe, Strophe 12,7 (S. 195).

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überführt.339 Dies zeigt, dass hinter den geschichtlichen und litera­ rischen Kontexten genau eine solche Unmittelbarkeit zur Analyse ansteht, wie es ein radikaler Bezug von Ontologie und Phänome­ nologie erfordert, den wir hier am Leitfaden des »Begehrens der Mystik« verfolgen. Der Affekt als reines Empfindungsvermögen wird im Sinne originärer Empfänglichkeit zum Zugang zur Wirklichkeit Gottes unter Ausschluss diskursiver Weltgesetzlichkeit. Gott ist dann kein Name mehr, der auf etwas verwiese, sondern der Hinweis auf jenes »Ur-Sagen«, worin das Leben unmittelbar um sich selbst weiß. Die vordergründigen Bilder und Objekte, um es zu bezeichnen, sind einer rein immanenten Bezüglichkeit gewichen. Wenn Theresa von Avila daher in der höchsten Kontemplationsstufe der inneren Wesen­ haftigkeit der Trinität selbst teilhaftig wurde,340 dann bedeutetet dies, dass die kreatürliche Abhängigkeit der Existenz nicht nur als absolu­ tes Leben erfahren wird, sondern dessen immanente Wirklichkeit als Relationalität oder Sich-Geben schlechthin. Die ursprüngliche Einheit von Empfängnis/Geben als Leben/Relation ist damit als Vollendung des mystischen »Aufstiegs« die Verwirklichung seiner originären Ermöglichung selbst, wo jede Sprache endet und nur noch das »Ur-Sagen« als »Wort des Lebens« in der Weise der Erprobung der Mystik selbst spricht. Dieses Ergebnis soll an weiteren Beispielen aus der mystischen Tradition zusätzlich erhärtet werden, welche der spanischen Mystik in der mittelalterlichen Epoche vorausging und dieselbe teilweise mit vorbereiten half.

339 340

Vgl. Einführung ebd., 42f. Vgl. Die geistlichen Erfahrungsberichte 14,1, in: Gesamtausgabe I, 1412f.

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Wenn wir uns hier nunmehr der Mystik und ihrem Sprechen beson­ ders zuwenden, dann mit dem Gedanken, dass gerade sie frei ist von einer spezifischen intentio, »religiöse Wahrheiten« thetisch zu setzen, sondern dass sie – phänomenologisch gesehen – letztlich die menschliche Erfahrungsmöglichkeit als solche zum Mittelpunkt allen subjektiven Lebens erhebt. Und zwar dergestalt im Sinne originärer Erprobung, dass sich zwischen Erfahrung und Leben »in Gott« und dem eigenen »Selbst« keinerlei Vorgestelltheit als Bedeutung oder sprachliche Abstraktion mehr einschiebt. Solche Vorstellungen kön­ nen sich sowohl auf Gott selber im allgemein religiösen Bewusstsein beziehen sowie auch auf die existentiellen Haltungen, die dem je individuellen Leben als Dasein ein zu verwirklichendes Ziel vermit­ teln, anstatt in die vollständige »Armut« des Erkennens und Wollens einzutreten, wie unter anderem Johannes vom Kreuz und Theresa von Avila es forderten, und was auch von Husserl als radikaler Anfang im Philosophieren durch die Reduktion wie in seiner »Ersten Philosophie« vorausgesetzt wird: »Vorweg hat [der Philosoph] keine Gegenstände, für ihn gibt es kein selbstverständliches Recht natür­ licher Erfahrung, die ihm daseiende Gegenstände freigiebig bietet; [...] nichts darf selbstverständlich sein und vorweg hingenommen.«341 Dem entspricht genau die zuletzt berücksichtigte Karmeltradition, wenn es im »Geistlichen Gesang« bei Johannes vom Kreuz heißt: »Auch du musst alles, was dein ist, vergessen, um ihn zu finden, und musst dich von allen Geschöpfen trennen und in die innere Kammer deines Geistes gehen.«342 Die Frage, die wir im folgenden zur 341 Vgl. Erste Philosophie (1923/24), 2. Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion (Husserliana VIII), Dordrecht 1996, 6. 342 All mein Tun ist nur noch Liebe, Strophe I,9 (S. 120). Vgl. auch H. Bastel, Der Kardinal Pierre de Bérulle als Spiritual des Französischen Karmels, Wien 1974, wo es darum geht, ein mystisches Leben angesichts des Verlustes der Einheit der Kirche und des Aufkommens an staatlichem Absolutismus aufrecht zu erhalten.

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weiteren Überprüfung dieses Bezugs an zeitlich frühere Beispiele aus der mystischen Tradition der Patristik und des Mittelalters stellen,343 ist daher im wesentlichen eine dreigliedrige: 1.

2.

3.

Wie ist das Verhältnis der Mystik zur Theologie, das heißt der Bezug zwischen sprachlich formulierten Glaubensinhalten und reiner Erfahrung im Sinne der Lebensselbstaffektion als des immemorial Unaussprechlichen? Wie verhält es sich in der Mystik mit der zeitlosen »Geburt Gottes« im Menschen und mit den phänomenologischen Modi derselben, wobei zugleich eine korrelative Geburt des Menschen »in Gott« mitgegeben ist? Gibt es nach dieser generatio allein durch Gott noch einen praktischen Unterschied zwischen Bedürfen/Begehren und Tun/ Vorstellen, bzw. herrscht, um die Frage des affektiven Ur-Sagens hier weiterzuführen, ein originäres »Sprachpathos« in Rede wie Schweigen?

Da ich mir eine transzendentale »Geburt Gottes« im Menschen imaginär durch Phantasievariation vorstellen kann, mir also durch die Einbildungskraft mythisch, spirituell, poetisch, ethisch etc. eine bildli­ che Repräsentation dessen vorzugeben vermag, was den Unterschied von absolutem Leben und endlichem Leben eventuell überbrücken könnte, dann ist in phänomenologischer Hinsicht darauf zu achten, welche Identität mystische Erfahrung und Bild Gottes genau erge­ ben. Denn ein Bild, sei es nun imaginär, sinnlich oder geistig, ist jeweils der singuläre Versuch des immanenten Lebens, seine an sich unvorstellbare und unaussprechbare Selbstaffektion in der absoluten Selbstoffenbarung als einen intentionalen Objektivierungsprozess zu veranschaulichen. Dabei kann diese Teleologie, transzendental gesehen, wiederum nur selbstaffiziert auftreten, sofern jede intentio eben intentionales Leben birgt. Die Mystik, die vom »ganz Anderen« (Transzendenz) oder aber auch vom »innigst Selben« (Immanenz) spricht, um jeweils die Vereinigung damit auszudrücken, ist somit zugleich auch immer die Aufklärung des Bezuges zwischen der Origi­ narität von Bedürfen und Offenbarung. Denn das Bild enthält zum einen das Begehren als solches in seiner affektiven Stimmung und 343 Vgl. außerdem A.M. Haas, »Schulen spätmittelalterlicher Mystik (14. und 15. Jahrhundert)«, in: R. Raitt (Hg.), Geschichte der christlichen Spiritualität, Bd. 2: Hochmittelalter und Reformation, Würzburg 1995, 154–187.

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impliziert zum anderen auch eine ersehnte Antwort auf dieses unaus­ sprechbare Begehren, so dass der Steigerungswille des Bedürfens darin zur Darstellung gelangt – und damit die sich offenbarende Präsenz des Absoluten im Bedürfen als Begehren selbst. Ergänzen wir daher die bisherigen Aussagen und Textauszüge in unserer Untersuchung mit einem älteren patristischen Werk, worin diese beiden Seiten der Mystik, nämlich einerseits Gottes Unerkenn­ barkeit und andererseits die vollständige Teilnahme an seinem Leben, noch ganz rein die Struktur der Erfahrung in ihren Übergängen erken­ nen lassen. In seiner Schrift »Perì akatalépton toû Theoû«344 lehrt Johannes Chrysostomos (354–407), dass das Wesen Gottes selbst der menschlichen Erkenntnis nicht mitteilbar sei, durch den Glauben jedoch eine Teilnahme an Gottes Natur sich vollziehen könne. Diese beiden Grundaussagen bezüglich der Gotteserkenntnis will Chrysost­ omos als eine »Regel wahren Glaubens« verstanden wissen. Das heißt, wir befinden uns hier nicht im ausschließlich apriorischen Erfahrungsbereich, sondern im hermeneutischen Feld von »Sätzen«, die den spirituellen Erkenntnisbereich und dessen teilweise praktische Ausweitung durch den Glauben betreffen. Denn auch der Glaube ist eine Erkenntnis, sofern er sich – phänomenologisch gesehen – auf Vorstellungsinhalte bezieht, die etwas als gegeben oder nicht gegeben meinen. Chrysostomos wechselt dann diesen Bereich, indem er die doxische Erkenntnisbegrenzung für die kontemplative Haltung aufhebt, die er vor allem im mönchischen Leben gewährleistet sieht, das er selbst teilte, bevor er 397 Patriarch von Konstantinopel wurde. In der wahren Meditation stimmten nämlich erfahrungsimmanent »die göttlichen Dinge« überein, indem sie zusammen auftreten, wäh­ rend der Gegensatz allein das Kennzeichen des begrenzten Geistes sei, dessen Denken wie Glauben sich in Differenzen vollziehe. Die­ ses mystische Grundschema wird bis ins Mittelalter hinein tradiert werden, um etwa bei Richard von St. Viktor345 als letzte Kontempla­ tionsstufe »außerhalb des Geistes« beschrieben zu werden. Das gleichzeitige phänomenologische Mitgegebensein wider­ sprüchlicher Korrelationen ist in der Tat nur in dem möglich, was wir 344 Sur l'incompréhensibilité de Dieu (Hg. J. Daniélou), Paris 1970; vgl. J. Tyciak, Morgenländische Mystik. Charakter und Wege, Düsseldorf 1949, 43–102: »Die mys­ tische Theologie des Ostens«; V. Leppin, Die christliche Mystik, München 2007, 40ff. 345 Vgl. Über die Gewalt der Liebe. Ihre vier Stufen (Hg. M. Schmidt), Mün­ chen/Paderborn 1969; Die Dreieinigkeit (Hg. H. Urs von Balthasar), Einsiedeln 1980.

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welthafte Erfahrung im passiv und aktiv verschränkten Motivations­ spiel zwischen Zweifel und Evidenz nennen. Denn unser Denken – zumindest gemäß der aristotelischen »Zweiten Analytik«346– kennt bei Aussagesätzen einfacher Art nur »wahr« oder »falsch« bzw. ein­ schränkende Bedingungsangaben bei fortschreitender Komplexion. Und es ist eine solche Komplexion, die in den weiteren Stufen der dog­ matischen Theologieentwicklung auch auf die Mystik zurückwirkt. Zum Beispiel dort, wo die christologischen Implikationen immer stärker in den Mittelpunkt des Glaubenslebens treten und zugleich das menschliche Selbstverständnis als »Person« differenzieren wer­ den – bis hin zu einer christusmystischen Praxis im Mittelalter, wo der Begriff der devotio mit der imitatio Christi in dessen Leben und Sterben identisch wird. Dies bedeutet, dass die christlich mystische Erfahrung in geschichtlicher Sicht eine singuläre Erfahrung – nämlich die jesuanische – einholen will, die selbst im eminenten Sinne als proto-mystisch bezeichnet werden kann.347 So nämlich in dem ganz einmaligen Verhältnis des fleischgewordenen Logos zum Vater, deren Natur der pathischen Reziprozität durch die absolute Selbstoffenba­ rung als Liebe und Gehorsam innerhalb des göttlichen Lebens selbst gekennzeichnet ist, wie wir dies schon zuvor zeigen konnten. Dieser Vorgang lässt sich bei Johannes von Damaskus (ca. 675– 749) dokumentieren. In der kappadozischen Mönchstradition ste­ hend, entwirft er gegen die ikonoklastische Kritik die metaphysischen und theologischen Grundlagen der byzantinischen Mystik im eigent­ lichen Sinne, wobei sich eine erste christliche Synthese zwischen Pla­ tonismus und Aristotelismus einstellt. In seiner Schrift »Quelle der Erkenntnis«348 um 740 dient der erste, epistemologische Teil zu einer Umstrukturierung der Methode griechischer Philosophie aufgrund der spezifischen Bedürfnisse christlicher Theologie, wobei der Begriff »Bedürfnis« hier eben nicht nur rein theoretischer Natur ist, sondern Vgl. Analytika hystera, in: Werke Bd. 3/2 (Übers. G.C. Detel), Berlin 1993. Der Apostel Paulus wäre in dieser Hinsicht als der Begründer dieser mystischen Christologie anzusehen, später gefolgt vom johanneischen Kreis. Vgl. außer unserer Hinführung und Grundlegung bereits auch A. Wikenhauser, Die Christusmystik des Apostels Paulus, Freiburg/Br. 1956, worin ebenfalls S. 110ff. die hellenistische Mystik zur Sprache kommt. Für eine ausgeprägte Chistuskonformität im 13. Jahrhundert siehe etwa Hadewijch, Das Buch der Visionen, Teil I: Text (Hg. G. Hofmann), Bad Cannstatt 1998, Vierte und Zwölfte Vision (S. 73–79 u.129 – 137). 348 He Pegè tês gnóseos, in: Patrologia cursus completus. Series I: Ecclesia graeca, Bd. 94 (Hg. J. P. Migne). Paris 1860 (Reprod. Athen 1989). 346

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sich konkret aus der praktischen Bilderverehrung Christi ergibt, das heißt aus einem Bedürfen an darstellender Nachahmung.349 Die konkrete Existenz Christi ist die zentrale Realität, um die sich Johan­ nes von Damaskus müht, indem er die Hypostase der singulären »Person« Christi begrifflich bestimmen will. Dies hat zur Folge, dass er die aristotelische Unterscheidung zwischen Substanz (ousía) und Natur (physis) durch den Begriff eigenständiger Individualität ersetzen muss, denn Jesus Christus ist eine Person (Hypostase) in zwei Naturen. Die folgende Christusmystik hat insofern hier ihren deutlichsten Ursprung, als das Wesen als Form (ousía, später lat. sub­ stantia) bei Aristoteles mit den Akzidenzien zu Prädikaten des Seins werden musste, um jetzt in eine soteriologische Perspektive einzuge­ hen. Denn der conatus essendi, das Seinsverlangen des Menschen, wird in seinem unendlichen Begehren nur durch die Kommunion mit Gott erfüllt, die allein Christus durch seine Menschwerdung tatsächlich darstellt. Das »Unaussprechbare« der Mystik ist daher kein abwesendes Wort, sondern die christusmystische Fülle einer Relation als Einheit. Hatte Irenäus von Lyon (ca. 130–202) – also 500 Jahre frü­ her – seine Lehre der recapitulatio noch stärker im Zusammenhang mit der Heilsgeschichte als einer »göttlichen Pädagogik« gesehen, die nach der Vorbereitung im Alten Testament die ursprüngliche Schöpfungsordnung durch die Heilstat Christi wiederherstellt,350 so steht bei Johannes von Damaskus eindeutiger ein theologisches und anthropologisches Interesse im Mittelpunkt, das die Mystik als ihr Begehren im Sinne des Gottverlangens akzentuieren wird. Auch methodisch wie begrifflich ist seine Schrift »Quelle der Erkenntnis« bereits eine Vorwegnahme der mystischen Erfahrungen von später, insofern er zugleich als Philosoph, Theologe und Dichter schreibt. Das Bemühen um eine denkerische Synthese des Glaubens wird zudem von einem adäquaten Sprachempfinden begleitet, um in eine Spiritualität einzuführen, welche die christologische Konkretion zu einer Wahrheit macht, die unmittelbar der Zugang selbst zur absolu­ ten Transzendenz sein soll. Denn diese Transzendenz der letztlich trinitarischen Einheit wird von Johannes von Damaskus auf solche Weise mit den liturgischen Riten und mit der Schönheit des Kosmos Vgl. H. Menges, Die Bilderlehre des hl. Johannes von Damaskus, Münster 1938. Vgl. Adversus haereses: Fünf Bücher gegen die Häresien (Bibliothek der Kirchen­ väter. Ausgewählte Schriften 2 Bde.), München/Kempten 21912; W. Hunger, »Die Weltplaneinheit und Adameinheit bei Irenäus«, in: Scholastik (1942) 161–179. 349

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verbunden, dass Gott in erster Linie kein rational Unaussprechbares ist, sondern das Geheimnis seiner Selbstgabe als communio. Wir können an dieser Stelle deshalb den begrenzt historischen Ikonoklasmusstreit und die christologisch fundierte Antwort einer berechtigten Bilddarstellung hierauf in seiner grundsätzlichen Proble­ matik erweitern und für die Mystik fruchtbar machen.351 Eugen Biser hat in seiner »Theologischen Sprachtheorie und Hermeneutik«352 strukturell darauf hingewiesen, dass die Formen der biblischen Spra­ che grundsätzlich die bildhafte Notwendigkeit eines jeden lebendigen Wortes beinhalten. Das moderne, rein auf Information ausgerich­ tete Sprechen weise die symbolische Vermittlung einer Erkenntnis des »objektiv Wahren« ab. Die göttliche Offenbarung bleibe jedoch insofern anders in ihrer Mitteilung strukturiert, als hierbei »das Vermittelte« in der Bedeutungsvermittlung selbst enthalten sei, das inkarnierte oder gesprochene Wort ist als Logos Gott selbst. Im Rahmen dieser hermeneutisch konzipierten Theologie bedeutet dies in letzter Konsequenz, dass die Offenbarung den verkündeten Gehalt in dem Maße gibt, wie er auf der freien »Selbstmitteilung Gottes« beruhe. Sprache ist also in der Tat nie bloße Information, sondern sie erschafft eine echte Gegenseitigkeit. Für die Sprache der Offen­ barung hieße dies in einem noch strengeren Sinne, dass sie als »Medium« ein Prinzip »personalen Zur-Verfügung-Stellens« seitens Gottes beinhalte, das jeder linguistischen Systematik vorausliegt, so wie die Sprache etwa fundamentalontologisch bei Heidegger353 das Sein selbst eröffnet. Wird die Sprache der Offenbarung von ihren instrumentalen Verfremdungen befreit, dann bedarf sie auch keiner künstlichen Aktualisierung mehr, sondern sie ist in sich je »zeitge­ mäß«, da Sinn und Sein dem Menschen zugleich in ihr dargeboten würden. Dabei wird allerdings von Eugen Biser nicht reflektiert, dass der hermeneutische Begriff eines Mediums als phänomenologisch fundierter Feldbereich für die einzeln darin erscheinenden Sinnein­ heiten die Differenz der Andersheit konstitutiv nicht aufheben kann, sondern vielmehr festschreibt, wodurch uns gerade die »Selbstmit­

Vgl. M.A. Sorace, Avantgarde nach ihrem Ende. Von der Transformation der avantgardistischen Kunst des 20. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur theologischen Kunst­ kritik, Freiburg/München 2007, 334ff. 352 München 1970, 43ff., über Patristik, Scholastik und Mystik. 353 Vgl. Phänomenologie des religiösen Lebens, 147ff. 351

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teilung Gottes« als sprachliches Ereignis der Transzendenz in Frage gestellt zu sein scheint.354 Anders gesagt, bleibt diese Hermeneutik der semantisch perso­ nalen »Disponibilität« Gottes noch in den phänomenologisch unauf­ geklärten Voraussetzungen des Transzendenzdenkens stecken und findet nicht zur selbstaffektiven Präsenz des Absoluten in unserer immanenten Erprobung als solcher hin. Aber dennoch ist für das Verhältnis von Mystik und Theologie hier ausschlaggebend, dass grundsätzlich die Identität von Bild und Erfahrung Gottes in dessen Selbstmitteilung anerkannt wird und es nicht nur bei einem dogma­ tischen oder sonstigen theoretischen Sprechen über Vorstellungen bleiben muss. Insofern bei Johannes von Damaskus der lebendige Ort dieser Identität von Logos und Gott der conatus essendi als die einmalige »Person« Jesu Christi ist, kann das Bedürfen/Begeh­ ren innerhalb dieses conatus essendi mit dem conatus Dei identisch sein. Was dieser Logos deshalb als Wort sagt, ist Gottes authenti­ sches Offenbarungswort, so dass das Bildsein dieser Offenbarungsart zugleich die innerste Erfahrung des Gottseins selbst ausdrückt. Damit wäre strukturell eingeholt, dass das Verhältnis von Bedürfen/Bild das an sich nicht vorstellige Leben des Absoluten über das Pathos des conatus als Begehren jeweils zum Ausdruck bringt. Die mystische Bilddimension wird daher in Zukunft zum bevorzugten »Medium« jener phänomenologischen Passibilität werden können, in der die Seele die absolute Selbstmitteilung Gottes als ihr eigenes Wesen erprobt, wodurch das Medium keine Differenz mehr impliziert; mit­ hin nicht bloß ein »Feld« ist, sondern – als Zugang zu Gott – Gott selbst. Die Aussprechbarkeit dieser unio wird dann ein sekundäres Phänomen, insofern die Erfahrungsverwirklichung des Mystischen die eigentliche Wirklichkeit darstellt, welche sich adäquater als im Sprechen vor allem im Handeln als mystischer Praxis bekundet. Diese Bilddimension selbst kann sehr einfach oder höchst speku­ lativ sein, wie es gerade die Beispiele verschiedenster Art aus dem Mittelalter zeigen. Bevor wir auf einige mystische Autoren wie David von Augsburg, Ruusbroec, Tauler und Seuse näher eingehen, sei des­ halb die schlichte, anonyme Sammlung »Geistlich Herzen Baumgart« 354 Vgl. M. Henry, Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offen­ barung, Freiburg/München 2010, 52ff.; siehe auch J.-L. Marion u. J. Vandeggeer (Hgg.), The Enigma of Divine Revelation. Between Phenomenology and Comparative Theology, Springer eBook 2020.

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von ca. 1270–1290 angeführt.355 Als Zusammenstellung von mehr als zweihundert Traktaten, Predigten, Gebeten etc. ist diese Schrift insofern besonders interessant, als sie das erste Beispiel asketischer Mystik und Frömmigkeit im deutschen Sprachraum darstellt. Die Texte sind im Franziskanermilieu um David von Augsburg (ca. 1210– 1272) entstanden, und was die tiefere Struktur der verschiedenen Teile in ihrer Einheit ausmacht, ist die Zentralfrage des abendländischen Mittelalters überhaupt – das Heil oder die endgültige Verdamm­ nis einer jeden Seele. Gegenüber der morgenländisch orthodoxen Mystik verschiebt sich folglich der Akzent von einer Betrachtung der »Offenbarungsherrlichkeit«, um einen Haupttitel Hans Urs von Balthasars aufzugreifen, auf einen bereits gnadenzentrierten Anthro­ pozentrismus, der das zwingende Gegenstück zum hypostasierten Allmachtsbegriff Gottes ist, wie dieser besonders im scholastischen Nominalismus durchbrach. Der Bildgedanke der individuellen Erlö­ sung hält nunmehr weniger die philosophische und theologische Erscheinungsproblematik der harmonisch aufeinander zugeordneten Wirklichkeiten wie Gottesoffenbarung, Sein und Geist (Erkenntnis) in schauender Transparenz zusammen, als dass vielmehr ein Bild in fast obsessioneller Weise hervortritt: Wie finde ich einen gnädigen Gott?356 Das kalón der Griechen, das in der Moderne nur noch eine pro­ blematische Existenz besitzt, nachdem es die idealistischen Systeme meist aus der Transzendentalität verbannt hatten, befördert mithin nicht mehr eine ebenso kontemplative wie ethische Haltung, sondern es wird vom formalen Prinzip Gut/Böse abgelöst.357 Dieser teils ethische, teils metaphysische Dualismus führt bereits in den Texten von »Geistlich Herzen Baumgart« zur Betonung eines praktisch zu lehrenden geistigen Lebens. Die Frage: »Welches Leben ist angesichts möglicher Verdammnis zu führen?«, lässt Weisungen einer allgemei­ nen christlichen Ethik aufstellen, von der dann nochmals besondere Regeln für Ordensleute abgegrenzt werden. Gedanklich ergibt sich 355 Hg. H. Lunger 1969; vgl. dazu K. Ruh, Verba Vitae et salutis, Münster 1959, 8–39: »David von Augsburg und die Entstehung eines franziskanischen Schrifttums in deutscher Sprache«. 356 Zum wirkungsgeschichtlichen Epocheproblem von Nominalismus und Moderne vgl. H. Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1966, 2. Teil: »Theologi­ scher Absolutismus und humane Selbstbehauptung« (S. 75–200). 357 Vgl. H. U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, 3 Bde., Einsiedeln 1961–1969.

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daraus eine Verbindung von Theologie und Ethik, welche die Kapitel über Wahrheit und Gerechtigkeit zum Beispiel mit praktischen Hin­ weisen zur Askese versieht. Bei dieser Sachlage wird leicht einsichtig, dass der letzteren Perspektive asketischen Handelns dann eine Vor­ rangstellung über die eigentlich mystische Betrachtung zukommt. Auf diese Weise bleibt zwar durchaus die gesamte mystische Meta­ phorik – einschließlich der Thematik sinnlicher und geistiger Liebe – im »Baumgart« gegeben, wie es auch schon die Titelanspielung auf den mystischen »Garten« vorweg zu verstehen gibt. Aber die Bilder des Lichtes, Feuers, Wassers sowie Kampfes etwa bleiben geprägt von der zu bestehenden irdischen Existenz angesichts der zentralen Richtereigenschaft Gottes – ein Gedanke, der sich außer bei Luther bis hin zur spanischen Mystik des 16. Jahrhunderts durchziehen wird. Mystik als Praxis verlagert die innere Möglichkeit der Erfahrung des Wesens Gottes als Schau im Bild auf die sich in sich selbst bewährende Erprobung des Tuns. Damit ist Wesenhaftes von der Selbstaffektion als phänomenologischem Bedürfen/Begehren getrof­ fen, wenn man allerdings von den ethisch vorgegebenen Weisungen als normativen Geboten absieht. Denn das Tun erprobt sich in seiner inneren Kraft als Könnensaffiziertheit rein in sich selbst, womit eine unmittelbare Gewissheit gegeben ist, die auch radikal phänomenolo­ gisch als »Heil« angesprochen werden kann, sofern der Glaube in solch lebendigem Tun die Mächtigkeit oder Gnade Gottes wieder erkennt, wonach das Leben überall dort »triumphiert«, wo es seinen Selbstglauben in sich niemals verliert. Denn wenn ich in der Lage bin, asketische Anweisungen zu befolgen, die im Namen Gottes selbst aufgestellt werden, dann erweist sich die innere Ermöglichung dazu als eine »Sicherheit« für das Heil. Bekannterweise hat diese Haltung bestimmter Bußübungen ihre extremste Ausformung in der Katharerbewegung des Mittelalters gefunden, wo diese Heilsgewiss­ heit über die sakramentsanaloge Handhabung des consolamentum eine entschiedene Welt- und Existenzsicht beinhaltete. Das heißt die bereits im irdischen Leben erreichte endgültige »Reinheit«, die auf keine weitere ekklesiale Vermittlung mehr angewiesen war.358 Auch in diesem Denken ist die allegorisch metaphysische Bildhaftigkeit dem Tun eindeutig zugeordnet, so dass die Erfahrung in der bildhaften Projektion als Begehren das ihr gemäße Bedürfen bestätigen kann – 358 Vgl. G. Schmitz-Valckenberg, Grundlehren katharischer Sekten des 13. Jahrhun­ derts, München 1971, 229ff.; R. Nelli (Hg.), Ecritures cathares, Paris 1968.

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nämlich das Leben prinzipiell als in sich selbst unversehrt oder heil zu empfinden. Natürlich ist auch eine andere deskriptive Historiographie mög­ lich, die nachzeichnet, wie die Begriffe Orthodoxie und Häresie die mörderischen ideologischen Spaltungen in der abendländischen Welt bis in die Moderne hinein vorbereitet haben.359 Aber konkret gelebte Geschichte verweist stets auf ihre subjektiven Träger, wie diese als Individuen ihr originär pathisches Verhältnis zur inneren Lebensab­ solutheit gelebt haben, und erst aus diesem – im letzten transzenden­ tal zu denkenden – »Lebensgefühl« erwachsen die entsprechenden Praktiken. Offenbarung bezeichnet damit immer auch die phänome­ nologische Art und Weise, wie Leben subjektiv erprobt und teleolo­ gisch als dessen Vollendung vorentworfen wird. Und nur dort, wo diese äußere Offenbarung wie Schriften, Praktiken, Institutionen etc. dem rein immanenten Lebensbedürfen entspricht, das sich unter dem Bild der sichtbar gemachten Offenbarung selbstexpliziert, kann diese Offenbarung ebenfalls dem inneren Charakter der Selbstoffenbarung als Lebensgewissheit gerecht werden. Das heißt, das originäre Pathos der unverfügbaren Lebensübergabe erkennt sich im zugesagten Wort der bildhaften Offenbarung als dem unaussprechbar Eigensten wie­ der. Die devotio moderna, die ab dem 14. Jahrhundert beginnt, sich auf das Hauptwerk Davids von Augsburg über »Die Form des äußeren und inneren Menschen« zu stützen,360 und sich bis Geert Groote, Thomas von Kempten und Ignatius von Loyola weiter entwickelt, um sogar noch den späteren reformatorischen Pietismus zu beeinflussen, trifft genau dieses Anliegen, in zwei Erscheinungswelten leben zu müssen – nämlich im Bereich der inneren Affektion (Mystik) und im Bereich der welthaften Gesetze und Institutionen (Norm, Moral).361

Vgl. als immer noch erhellend für diesen Zusammenhang I. von Döllinger, Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters, 2 Bde. (1890), Darmstadt 1983. 360 De exterioris et interioris hominis compositione secundum triplecem statum incipientium, proficientium et perfectorum, Rom 1899. Dazu K. Ruh, Altdeutsche und niederdeutsche Mystik, Darmstadt 1964, 17ff. u. 240–275; U.J. Eichhorn, »Der Begriff der Innerlichkeit bei David von Augsburg und Grundzüge der Franziskanermystik«, in: Franziskanische Studien 48 (1966) 336–376. 361 Vgl. M. Derwick u. M. Staub (Hgg.), Die Neue Frömmigkeit in Europa im Spätmittelalter, Göttingen 2004; für die Zeit danach auch B. Goreix, Flambée et Agonie, Mystiques du XVIIè siècle allemand, Berlin 1977. 359

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Zur reinen Bild- als Ikonenschau362 des Ostens und zum anfäng­ lich ethischen Dualismus tritt nun eine Methodik der Meditation hinzu, die sich zu einer religiösen Psychologie anreichert. Die triplex via, die den Novizen bis zur perfectio hinführen soll, indem sie die gefallene Natur des Menschen wiederherstellt, bedient sich folglich einer Praxis, die als Psycho-logie im wahren Wortsinne noch – unter ihrem theologischen Gewand – die Rolle einer Ersten Philosophie spielt. Die erste Stufe der aedificatio ist nämlich die Abwendung von der ausschließlichen Weltgesetzlichkeit, das heißt dem kreatürlichen »Nichts« bei Johannes vom Kreuz oder Meister Eckhart, um in die Sichtweise der mönchischen Enthaltsamkeit eingeführt zu werden.363 Dieser Epoché religiöser Natur folgt die reformatio, die naturgemäß nach der Einklammerung der Welt die reinen »Seelenvermögen« gemäß der philosophischen und theologischen Tradition des heiligen Augustinus in den Mittelpunkt stellt: Vernunft, Wille und Gedächtnis als Bild der Trinität. Solch meditative wie psychologische Praxis, wie wir sie zuvor auch schon in den Kommentaren zum »Hohelied« bei Bernhard von Clairvaux kennen lernten,364 führt anders gesagt zur höchsten »Ikone« christlicher Theologie. Diese hat die innere Selbst­ Zur Unterscheidung von »Idol und Ikone« vgl. das gleichnamige 1. Kap. von J.-L. Marion, Dieu sans l'être (1982), Paris 1991, 15–37 (dt. in: B. Casper [Hg.], Phänomenologie des Idols, Freiburg/München 1981, 7–31). Insofern wir für unseren Zusammenhang »Bild« als reine Selbstobjektivierung des absoluten Lebens in der Korrelation von Bedürfen/Begehren auffassen und nicht als »Vorstellungsbild« im Sinne von einem »Idol«, das sich an die Stelle der reinen Selbstoffenbarung zu setzen versucht, umfasst dieser Bildbegriff gerade auch die Bedeutung von »Ikone«. In der byzantinischen Mal- und Frömmigkeitstradition gibt die Ikone zu sehen, was das metaphysische Emanationsgesetz des göttlichen Lebens als kosmisches wie spirituelles Prinzip ist. Das heißt, die Dinge und heiligen Gestalten erscheinen in ihrer wesenhaften Zuordnung zu den Grundsachverhalten des Heils wie Trinität (Gottes inneres Leben), Christus Pantokrator, Jüngstes Gericht etc. Der malerische Raum ist dabei nicht der Raum der Plastizität (Griechen) oder der Perspektive (Renaissance), sondern genau die wesenhafte Zuordnung zum lebendigen Geheimnis der Heilsökonomie. Im Westen wird dann zum Beispiel Giotto so malen; im fernen Osten finden sich Parallelen im Taoismus und Zen. Vgl. auch M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/München 1994, 136ff. 363 In der Perspektive von Ignatius von Loyola vgl. H. Krügler, »Sexualität, Spiri­ tualität und zölibatäre Keuschheit«, in: Geist und Leben. Zeitschrift für christliche Spiritualität 95/1 (2022) 15–22. 364 Auch Hadewijchs »Visionen« bergen in sich das pädagogische Prinzip, für andere Frauen und Gläubige den Weg der Vollkommenheit aufzuweisen; vgl. W. Willaert, »Hadewijch und ihr Kreis in den Visionen«, in: K. Ruh (Hg.), Abendländische Mystik im Mittelalter, Stuttgart 1986, 368–387. 362

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mitteilung Gottes zu bedenken, um daraus eine praktische Anweisung für die menschliche Seele werden zu lassen, die in diesem Bild ihre eigene originäre Absolutheit leben kann. Selbstoffenbarung des Lebens (Seele) und Gottesoffenbarung (vollkommene Reziprozität des Lebens in der Trinität) sind als mystische Entsprechung die eigent­ liche Praxis, die dem phänomenologischen Wesen des Erscheinens als Selbsterscheinen gerecht wird. Denn Ausklammerung von Welt heißt transzendentale Selbstbesinnung des Menschen – wie etwa später bei Husserl – auf die innersten Möglichkeiten »geistigen Lebens«, die als Anspruch bei den MystikerInnen als rein immanenter Anruf gege­ ben365 sind und vielfältige Verwirklichungsformen der Kontemplation bzw. im karitativen und kreativen Bereich hervorgerufen haben. Die dritte und letzte Stufe in sieben Einzelschritten führt deshalb auch den Mönch nach David von Augsburg zur Weisheit, die eine ebenso praktische wie theoretische Tugend ist. Wo eine solch mystische Praxis in der devotio als weisheits­ empfänglichem Gebet endet, muss dann dieses Gebet naturgemäß zur reinen Praxis der Seele mit ihrem innersten Leben als Bedür­ fen/Begehren werden, das heißt Gebet als Jubel, Trunkenheit des Geistes, Lieblichkeit und Verschmelzung (jubilatio, ebrietas, spiritua­ lis iucunditas, liquefactio).366 Die Kunst der »Seelenführung« erweist sich hier noch ganz in ihrem originären Sinne, wie etwa auch beim zeitgenössischen heiligen. Bonaventura mit seiner Schrift »Itinera­ rium mentis in Deum« von 1269, das wir gleichfalls schon anführten. Dass nämlich die Führung der Seele identisch mit ihrem Zugang zu sich selbst ist, das heißt wiederum zu dem, was sie als absolutes Leben sie selbst sein lässt, wie uns auch das »innere Beten« bei Theresa von Avila zeigte. Radikal phänomenologisch gesprochen, kann daher auch gesagt werden, dass die Seelenveränderungen – angefangen vom Jubel bis hin zur Versunkenheit – die originär gegebenen Modalitäten des rein transzendentalen Lebens in dessen historialer Affektivität selbst sind. Denn freudiger Jubel ist die Seele wesenhaft darüber, dass sie als vom absoluten Leben affiziertes Leben ganz mit diesem Leben ohne jede Kluft »verschmolzen« ist, indem nur das originäre Leben als einzige Wirklichkeit sich selbst dergestalt an sich selbst ohne jede Verweigerung zu geben vermag. Mit Meister 365 Vgl. A. Fella (Hg.), Les Femmes mystiques. Histoire et Dictionnaire, Paris 2013, 7ff. (Einleitung). 366 Vgl. B. Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2016.

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Eckhart367 aus seiner Predigt 35 gesprochen, hat die Seele »dasselbe Sein und Empfinden« wie Gott, weshalb sie in der reinen Freude wie er selbst ist. Auch Hadewijch kennt dieses »gegenseitige Genießen« als die ausschließliche Liebe zwischen Gott und Mensch, wo die heilsgeschichtliche Bestimmung der gottmenschlichen Wirklichkeit sichtbar wird, die einem »Liebeswahn« gleicht, welchem sie ihre Existenz verschrieben hatte.368 Da alle Dinge des Wirklichen darin eingeschlossen sind, kann der ganze Kosmos als ein »spiritueller Kosmos«, und zwar dank des Gebundenseins aller Dinge an die selbstimpressionale Sinnlich­ keitsaffizierung, in diese Mystik der unbegrenzten Verlebendigung miteinbezogen werden. Dies zeigen beispielsweise die »Predigten« des Berthold von Regensburg (ca. 1210–1272), der wahrscheinlich David von Augsburg zum Lehrer hatte. Noch die idealistische Natur­ philosophie eines Schelling im 19. Jahrhundert wird von diesem Strom eines mystischen Neuplatonismus und Naturdenkens genährt werden,369 wenn Berthold in seinen deutschen Predigten unter ande­ rem eine Zahlensymbolik verwendet, welche den kosmologischen Interessen und Naturbeobachtungen seiner Zeit entspricht, wie in seinem Text »Die siben planeten«, wo diese die sieben Tugenden darstellen.370 Das Naturbeispiel dient als Bild im Sinne der zuvor genannten Ikone für eine mystische Wahrheit und kann daher zum Gegenstand einer intensiven Betrachtung werden, die sich zugleich mit dem klösterlichen Leben selbst verbindet, insofern der formale Aufbau dieser Predigten folgender ist: lectio des Tages, historia und dispositio. Darin vereinigen sich christliche Tradition – meist Bibel und Kirchenväter – mit volkstümlichen Mären, Tagesablauf und Kosmossymbolik, um zusammen eine Verinnerlichung des religiösen Lebens als solchem in dessen alltäglicher Praxis anzustreben.371

Vgl. Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München 1979, 317–322. Vgl. Das Buch der Visionen, Vierzehnte Vision (S. 152f.). 369 Vgl. D. Barabaric, »Die große Dißonanz, mit der alles anfängt«. Zur Philosophie Schellings, Würzburg 2022. 370 Vgl. Vollständige Ausgabe seiner deutschen Predigten, 2 Bde. (Hg. F. Pfeiffer u. J. Strobl), Berlin 1862 (Reprod. 1965 mit Einleitung und Anmerkungen von K. Ruh); I. G. Banta, Art. »Berthold von Regensburg«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1 (Hg. K. Ruh), Berlin 1983, 817–823. 371 Vgl. auch für den Übergang von der mittelalterlichen lectio zur späteren »spiritu­ ellen Lektüre« M. de Certeau, La Fable mystique II, 197–218: »La lecture absolue«. 367

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Wie weit dieser spirituelle Einbezug von Kosmos und Geschichte zurückreicht, zeigen unter anderem die »Zwanzig Bücher über die Ety­ mologien oder über die Ursprünge« des Isidor von Sevilla (ca. 570– 636).372 Im Mittelalter diente diese Enzyklopädie als Referenzwerk für alle Wissenschaften, insbesondere für die artes liberales und für die Medizin. Dabei wird auf theologischer Ebene von den biblischen Schriften, von Gott, seinen Engeln373 sowie von den Heiligen in der Bibel gehandelt. Aber vom 9. Buch an finden sich auch Hinweise über die Sprachen, das Militärwesen, die menschliche Biologie sowie über die Zoologie, die Geographie und Städte. Aber ebenfalls die Metalle und Maße wie die Landwirtschaft als auch Theater, Gymnas­ tik, Schiffe, Gebäude, Hausgegenstände und Kleidung kommen zur Sprache. Dabei werden christliche wie nichtchristliche Autoren zitiert, und es ist deshalb nicht erstaunlich, dass dieses monumentale Werk einen großen Einfluss im 8. und 9. Jahrhundert auf Historiographen wie Beda, Alkuin und Hrabanus Maurus ausübte. Warum allerdings im Zusammenhang mit der Mystiktradition des »Unaussprechlichen« überhaupt darauf hinzuweisen bleibt, ist der phänomenologische Sachverhalt, dass echtes mystisches Leben keinerlei Wirklichkeit zu zerstören hat, da es sich bei ihm um eine Erfahrungsverwirklichung handelt, die ohne prinzipielle Realitätsbegrenzung ist. Das heißt, durch die Erprobung des Wirklichen schlechthin kann alles an der Selbstoffenbarung Gottes teilhaben, insofern dem affektiven Bedür­ fen durch das modalisierte Begehren jene Verlebendigung der Dinge gelingt, welche grundsätzlich in unserer transzendentalen Sinnlich­ keit als Offenbarungswirklichkeit des absoluten Lebens angelegt ist. Dazu können auch des weiteren ekklesiologische Betrachtungen im Mittelalter gehören, wie etwa die Schrift »De domo Dei« von Boto von Prüfening (ca. 1105–1170), der sie gegen den zeitgenössi­

Etymologarium sive originum libri XX, 2 Bde. (Hg. J. O. Reta), Rom 1982–1983 (Patrologia latinae, Bd. 81–84). Vgl. J. Fontaine, Isodore de Séville et la culture classique, 2 Bde., Paris 1959. 373 Zur Engellehre – außer vorher bei Dionysos Areopagita – siehe im 12. Jahrhundert Autoren wie Alanus ab Insulis und Achard von St. Viktor; vgl. die Einleitung zum »Buch der Visionen« Hadewijchs, 30f, die ihren eigenen Aufstiegsprozess insgesamt als Gang durch die Hierarchien der Engel beschreibt. Siehe ebenfalls M. de Certeaum, La Fable mystique II, 257–307: »Le parler angélique«. 372

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schen Verfall der katholischen Kirche verfasste.374 Sein Ideal war die Urkirche, die von ihm als eine Gemeinschaft ohne individuelle Privilegien gesehen wurde. Daher entwirft Boto ein Bild der irdischen und himmlischen Kirche auf der Grundlage der Metaphorik des »Hauses«. Er unterscheidet darin »Schatten der Kirche« im Alten Testament, sodann die eigentlichen »Bilder« im Neuen Testament und schließlich die Wahrheit der Kirche in einem ewigen »Urbild«. Auf der Ebene mystischer Psychologie und Anthropologie als Meditation und Praxis ist es wiederum zentral festzustellen, dass der Gläubige »das Haus Gottes« in sich selbst errichten soll, was der neutestamentlichen Lehre entspricht, dass jene, denen Gottes Selbstoffenbarung zuteil wird, auch »lebendige Tempel Gottes« seien, in denen Gott wohnt. Meister Eckhart sieht diesen Tempel im übrigen als Seele, die mit Gott eins ist, wenn sich nichts anderes mehr in diesem Tempel befindet.375 Allgemein kann man für die Mystik festhalten, dass die einzelne kontemplative Erfahrung und die daraus entstehende mystische Beschreibung des »Aufstiegs« oder der unio in einem Kommunikationsaustausch standen, der eben nicht nur literarische Topoi erklärt, sondern gerade das Ekklesiale zu dieser Austauschwirk­ lichkeit selbst macht, wie dies Michel de Certeau in seiner sowohl historiographischen wie linguistischen Analyse immer wieder auf­ weist.376 Gewiss erklärt sich bei Boto diese notwendige Individualisie­ rung des Institutionellen auch durch den damaligen beklagenswerten Zustand der Kirche und Klöster. Aber wenn er als Anhänger des klassischen Mönchtums im Frieden und in der Kontemplation die eigentlichen Grundlagen von Kirche wie Klosterleben sieht, dann macht er damit deutlich, dass sich Institutionen nicht von selbst tra­ gen, sondern wie alle Erscheinungen der Welt der Aufrechterhaltung durch subjektive Praxis bedürfen, die hier eine bestimmte spirituelle Haltung ist. Dies wird auch daran sichtbar, dass Boto die körperliche Arbeit mit in seine Reformideen einbezieht, was nicht nur der Versuch ist, zu Beginn der aufkommenden Scholastik die Tendenzen eines neuen Individualismus (privata singularitas) auszugleichen, sondern 374 De domo Dei (Hg. A. Brassicani), Hagenau 1532; Lyon 1677. Vgl. H. de Lubac, Exégèse médiévale, Bd. 2., Paris 1964, 43ff.; F. J. Worstbrock, Art. »Boto von Prüfe­ ning«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1, 972–976. 375 Vgl. Deutsche Predigten und Traktate, 153f. (Predigt 1). 376 Vgl. La Fable mystique I, 25ff.; II, 19ff u. 177ff.

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gerade die Gesamtwirklichkeit als Gesamtaktivität zu verlebendigen, in der sich alle Vermögen des Menschen miteinander vollziehen können. Gott ist dann kein abstrakt höchster Seinsbegriff, sondern naturierendes Ursprungsprinzip wie auf den byzantinischen Ikonen, das heißt Quelle des Lebens auch im Bereich der Gemeinschaftlich­ keit, die dem individuellen Leben korrelativ ist, sofern die Menschen alle in dem einen Leben Zugang zum selben Leben als Gottes Selbstof­ fenbarung haben. Dies bleibt für die Mystik immer wieder zu betonen, da die Erprobung der Vereinigung mit Gott gerade kirchliche und soziale Bezüge nicht ausschließt.377 Wenn die Wege religiöser Psychologie wie bei David von Augs­ burg folglich als eine phänomenologische Erste Philosophie des Lebens verstanden werden können, die theologisch die höchste Kon­ templation wie deren inkarnatorische Konkretion zu akzentuieren imstande ist, nämlich Trinität und Passion als Liebe und Gehorsam der Seele, dann vermag andererseits auch das »tätige Leben« ganz daraus hervorzugehen, und zwar einschließlich seines gemeinschaft­ lichen Aspektes. Trinität und Passion entsprechen der ursprunghaf­ ten Lebensmitteilung und der reinen Passivität in der Ipseität der selbstimpressionalen Lebensentgegennahme, was transzendental wie christusmystisch unser »Personsein« begründet.378 Das Handeln ist korrelativ beides, vermögendes Können einerseits aus der sich als Kraft affizierenden Lebensmacht heraus sowie andererseits eine sich hingebende Verlebendigung an die Welt, wie Berthold von Regens­ burg dies exemplarisch erkennen ließ. Jan van Ruusbroec (1293– 1381) hat dies als doctor extaticus im Begriff des werkenden leven für die devotia moderna grundlegend zusammengefasst.379 Für ihn besteht der mystische Zustand keineswegs in einer natürlichen Ruhe, die einem Quietismus Vorschub leiste, sondern eben in jenem »akti­ ven Leben«, das die praktischen Tugenden übt, wobei die Liebe diesen vorausgehen bzw. folgen soll. Der historische Anlass seiner diesbe­ züglichen Schrift über die »Zierde der geistlichen Hochzeit« war sicher 377 Vgl. zur Diskussion A. Houziaux (Hg.), La Mystique, une religion épurée?, Paris 2008. 378 Vgl. S. Breton, »La mystique: lieu fondamental de tout ȇtre humain«, in: Theóphilyon 237 (1988): Scientillements de la mystique, 245–278. 379 Die chierheit der geesteliker brulacht (1335); lat. De ornatu spiritualium nup­ tiorum (1538); Zierde der geistlichen Hochzeit und kleinere Schriften (Hg. F. M. Huebner), Leipzig 1924. Vgl. J. Huizinga, Der Herbst des Mittelalters, München 7 1953, Kap. 12–14.

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sein Kampf gegen eine falsch verstandene Mystik, die den Quietismus sogar zur Indifferenz gegenüber allen äußeren Ereignissen werden ließ. Aber religiös wie phänomenologisch entscheidend ist, dass nach Ruusbroec das aktive Leben zu einer der drei Stufen gehört, die ein einziges Leben formen und deren Bild die Trinität darstellt. Denn das aktive Leben ist der Ausfluss des inneren Lebens (innighe leven) und des rein mystischen Lebens, worin Gott die Seele zum göttlichen Leben (godscowende leven) selbst gelangen lässt. Daran wird ersichtlich, dass unser Handeln nie adäquat von verallgemeinernden Normen her begriffen werden kann, sondern das Wesen des Handelns mit dem rein praktischen Wesen der immanen­ ten Lebenserscheinung als dessen Selbstoffenbarung identisch ist. Die Kraft des Handelns ist als subjektiv affiziertes Können je einmalig, was der singulären Affiziertheit der individuierten Lebensipseität als »Sich« in jedem Vollzug selbst entspricht.380 Die drei göttlichen Personen drücken nach Ruusbroec genau jene »Aktivität« aus, die im Schoß der Trinität selbst herrscht, während die Einheit des göttli­ chen Wesens eine Innerlichkeit biete, in der die Weisheit Gottes ihr Ruhezentrum besitzt. Wenn der kontemplative Mensch in diesem Gott verankert ist, dann kann er denselben inneren Frieden leben und gleichzeitig seine Energien frei nach außen einsetzen, wie es auch Hadewijch durch ihr häufiges Sprechen vom »freien Bewusstsein« betonte.381 Denn unter der originär mystischen Bedingung sind alle Seelenkräfte wie Gefühl, Gedächtnis, Verstand und Wille von Gottes Liebe getragen, die das gemeinsame Wesen dieser Potentialitäten als deren absolutes Leben im Sinne unzerstörbarer »Ur-Mächtigkeit« bildet. Auf diese Weise können weder actio noch contemplatio sich außerhalb von Gott befinden, was vor allem die Einheit dieser mysti­ schen Theologie als devotio moderna ausmacht, die sich alsbald von den Niederlanden aus auch nach Deutschland und Frankreich wie nach Spanien verbreitete. Für unseren Zusammenhang einer durchgehend bezeugten Tra­ dition des »Unaussprechbaren« in der Schau wie im Handeln ist es entscheidend, dass die theologisch mystischen Kategorien in radikal phänomenologischer Sicht als gegenreduktive Wesensbeschreibung der immanenten Modalitäten unseres Pathos verstanden werden Vgl. R. Kühn, »Ich kann« als Grundvollzug des Lebens. Analysen zur material phänomenologischen Handlungsstruktur, Dresden 2022, 29ff. 381 Vg. Das Buch der Visionen, Elfte Vision (S. 113).

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können und in diesem Sinne eine »philosophische Mystik« der Lebensselbstoffenbarung möglich wird, ohne damit außergewöhnli­ che, ekstatische Zustände verbinden zu müssen,382 bzw. die Analyse der Phänomenologie als solche zu verlassen ist, indem sie vorrangig literarischen oder historischen Beschreibungen zu folgen hätte. Der Unterschied in Bezug auf die vorausgesetzte theologische Formulie­ rung in der mystischen Tradition bleibt jedoch, dass Gott aufgrund dogmatischer Glaubensvorgaben zumeist noch doxisch »transzen­ dent« gesetzt erscheint. Aber innerhalb der effektiv mystischen Trans­ parenz ist Gott die unverfügbare Absolutheit des Lebens selbst, an der die Seele identisch als reines Erproben teilhat. Dadurch ist ihre Lebensaffektion im Absoluten – und zwar durch die ihr eigenen Modalitäten und deren Transformation als Bedürfen/Begehren – das Leben dieses Absoluten selbst, das heißt Ruhe wie Aktivität aus demselben sich verlebendigenden Wesen heraus. Selbst die Ruhe beschreibt daher phänomenologisch nie eine Abwesenheit von Bewe­ gung, sondern sie bedeutet vielmehr deren innerste Sammlung als Konzentration der Bewegung. Mithin als Kraft, in der das Leben in sei­ ner pathischen Selbstgebung gleichsam wie auf sich selbst erdrückt ist, um dergestalt originäre Passibilität als Selbstermächtigung zu sein. Wie weit Ruusbroec diese umfassende Phänomenalisierung durch das sich selbst zeugende göttliche Leben konsequent ausführt, nämlich gerade bis in die Identität von Leben und Leiblichkeit als UrAffektivität hinein, zeigt folgendes Zitat aus dem »Reich des Gelieb­ ten«:383 »Die kostende Weisheit wird in der Spitze des eingekehr­ ten Gedächtnisses gegeben und durchdringt den Verstand und den Willen entsprechend der Einkehr in jene Spitze. Dieser Geschmack ist ungemessen und grundlos und fließt von Innen auswärts und durchdringt Leib und Seele [soweit jedwede Kraft dazu empfänglich ist] bis zu dem innersten Sinn, da ist ein leibliches Empfinden [...]. Dieser unbegreifliche Geschmack, oberhalb des Gedächtnisses, in der Weite der Seele, ist ungemessen. Und das ist der Heilige Geist, die unbegreifliche Liebe Gottes. Unterhalb des Gedächtnisses ist 382 Vgl. zum letzten Punkt P. Dinzelbacher, Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1981. 383 Aus dem Altflämischen übersetzt von W. Verkade, Mainz 1923, Kap. 33: »Von der Gabe der kostenden Weisheit« (S. 104; Hervorhebung R.K.). Diese Schrift entstand um 1330, lateinische Übersetzung von Surius nach 1522, erste deutsche Übersetzung 1701.

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dieses Empfinden messbar. Da aber die Kräfte im Wesen ruhen, so fließen sie alle über. Denn der Vater der Ewigkeit hat das eingekehrte Gedächtnis geschmückt mittels Genießen in Vereinigung und mittels Umschlingen und Umschlungensein in Selbstentflossenheit: So ist es ein Thron und eine Ruhestätte Gottes.« Ähnliche Beschreibungen finden sich außer bei Meister Eckhart384 ebenfalls im »Buch der Visionen« Hadewijchs: »Die Seele ist in einem engen Bach eingeschlossen: Schnell reicht des Baches Tiefe nicht mehr aus, und schnell sind die Deiche gebrochen. Schnell hat so die Gottheit die Menschheit gänzlich zu sich hineingezogen.«385 Wenn wir hier bis in die beschreibende mystische Begrifflich­ keit selbst hinein die eidetische Grundidentität der Lebensselbstaf­ fektion als »umschlingendes Umschlungensein« wieder finden,386 dann ist dies kein zufälliges semantisches Zusammentreffen, sondern entspricht einer phänomenologischen Sachhaltigkeit, die genau mys­ tisches Erproben als reines Erfahren sowie als ur-sagendes Sprach­ pathos schlechthin kennzeichnet. Denn die Einheit von Affizieren und Affiziertwerden ist die transzendental materiale Bestimmung des Lebens als Wesen des Erscheinens in dessen Selbsterscheinen anläss­ lich jedes Erfahrens als solchem. Dass diese immanente »Umschlin­ gungswirklichkeit« des Lebens analytisch wie mystisch oder meta­ physisch auch anders benannt werden kann – zum Beispiel als Abgrund, Ungeschaffenheit oder Gottesgeburt in der Seele, belegt dann ihrerseits die deutsche Mystik mit Tauler und Seuse sowie durch die weitere Schule Meister Eckharts.387 Das Verhältnis von Theo­ logie und Mystik zueinander wird hier philosophischer, weil dies­ seits dogmatischer Vorstellungen originär phänomenologische Erfah­ rungsmöglichkeiten als solche genauer herausgearbeitet werden. Sie erblicken das absolut naturierende oder selbstzeugende Leben als einheitliches Denken und Tun unter der Tatsache der abgründigen generatio Dei im Menschen und erkennen damit das Bedürfen in der Lebens-»Selbstentflossenheit« in dessen eigentlichem Status als Vgl. A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Maȉtre Eckhart et Jan van Ruusbroec. Etudes sur la mystique »rhéno-flamande« (XIIIè-XIVè siècle), Brüssel 2004. 385 Elfte Vision (S. 123). 386 Étreinte de soi bei M. Henry, Die Barbarei, 277ff.: Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München 2005, 19ff. 387 Vgl. L. Sturlese, Homo divinus. Philosophische Projekte in Deutschland zwischen Mesiter Eckhart und Heinrich Seuse, Hamburg 2007. 384

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Begehren, Pathos oder conatus. So unterscheidet Meister Eckhart in seiner Predigt 35 neben der »Geburt in der Welt« nicht nur eine weitere »Geburt aus der Welt« hinaus, die mit der Geburt in Gott identisch ist, sondern er formuliert in der Predigt 37 zugleich auch den gegenreduktiven »Sprung«, wie wir ihn genannt haben, als notwendige Voraussetzung dazu:388 Wir müssen »ausbrechen [...] und die Vernunft, die sucht, springt in die Vernunft, die nicht mehr sucht, die vielmehr in sich selbst ein lauteres Licht ist [...]. Siehst du irgend etwas oder fällt irgend etwas in dein Erkennen, so ist das Gott nicht; eben deshalb nicht, weil er weder dies noch das ist.« Im Unterschied zur Weltwahrheit, in der Phänomenalisie­ rung und einzelnes Phänomen in ihrer Manifestation voneinander getrennt sind, gibt es in der Wirklichkeit des absoluten Lebens keine immanente Differenz mehr – es herrscht hier das Eine oder die absolute Ungeschiedenheit. Diese prinzipielle Bedingung der Gottesoffenbarung als einheitliche Lebensselbstzeugung zusammen mit dem Menschen besitzt aber ihrerseits eine spezifische Phänome­ nalität als Offenbarungsmodus, nämlich genau das Pathos als rein affektive Materie innerhalb der Lebenspassibilität, wie wir wiederholt ausführten. In dieser rein phänomenologischen Materialität sind das Offenbarende und das Offenbarte als das absolute Leben notwendi­ gerweise eins Aber diese Einheit ist keine formale Identität, wie sie das Denken nur begrifflich fassen kann, sondern eine pathische Einheit – das heißt das selbstimpressionale »Fleisch« der Affektivität, welches wir im ersten Teil unserer Untersuchung in christologischer Sicht auch als Liebe und Gehorsam bestimmten. Hier ergibt sich daher des weiteren die Gelegenheit zu sagen, dass die Unterscheidung Offenbarendes/Offenbartes nicht eine solche ist, die rational oder kategorial vorausgesetzt wird, um dann in der negativen Theologie überwunden zu werden. Denn das Sicherfahren als ein je vollzogenes Können, welches der phänomenologische Kern mystischen Erlebens ist, bleibt die originäre Einheit des Erlebens, wo das Erfahrende das Leben selbst ist, so wie dieses Leben auch das Erfahrene oder Erprobte ist. Das heißt mystisch gesprochen, die liebende Selbstoffenbarung in der Einheit Gottes als dem absolut vorgängigen Leben in dessen zeitloser »Selbstentflossenheit« ohne jeden retentionalen Gedächtni­ 388 Zit. nach den übersetzten Predigttexten bei A. Dempf, Meister Eckhart, Frei­ burg/Br. 1960, 157 u. 159; vgl. Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Trak­ tate, 320f.

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santeil. Mithin als das immemorial Lebendige schlechthin im Sinne des originären »Mich«, sofern jedes Individuum eine dergestalt im selbstaffektiven Leben gebürtige Subjektivität ist. Die sprachliche Unterscheidung Offenbarendes/Offenbartes oder Erfahrendes/Erfahrenes bzw. Akt/Inhalt gehört als gedank­ liches Schema – wie die Kopula, die diese Differenzierung nur prä­ dikativ überwindet – zur Morphologie unserer Sprache. Diese ist nicht das Sprachpathos als originäres Sich-Selbst-Sagen des Lebens in seinem Sich-Offenbaren als solchem, sondern die Sprache der mundanen und somit diskursiven Differenzierungsnotwendigkeit. Das Sprachpathos im »Ur-Sagen« des Lebens als unsere transzenden­ tale Geburt aus der Selbstzeugung dieses gottheitlichen Lebens als Gott heraus, was von der Mystik als Erlebensmodus im Sinne einer je konkret empfundenen Erprobung in solchem Leben bezeugt wird, ist die Phänomenalität der affektiven Materie der immemorialen Selbstphänomenalisierung als Freude. »Sich Erfahren« heißt daher prinzipiell, sich seiner selbst rein phänomenologisch zu erfreuen, so wie das Leben in seinem ewigen Wesen sich ständig »selbst genießt«. Diese Freude als auto-jouissance setzt keinerlei Differenz voraus, die jener ähnlich wäre, in der die Welt als Lichtung oder Horizont geboren wird, sondern ist mit Gottes Wesen selbst identisch, wie Hadewijch dies als gottmenschlichen Existenzvollendung in ihren »Visionen« immer wieder mitteilt: »Und ich sank gänzlich verloren an die Brust des Genießens seiner Natur der Liebe. Darin verschlungen blieb ich verloren außerhalb jeglicher Verstandestätigkeit: nichts anderes zu wissen, zu sehen oder zu begreifen, als mit Ihm eins zu sein und das zu genießen.«389 Diese Freude als homogene Selbstphänomenalisierung der Affektivität im Sinne des transzendentalen Pathos entspricht dem Sich-Erfreuen, das als Selbstoffenbarung des Lebens das materiale Wesen des Erlebens in jedem Erfahren-Können als Erprobung aus­ macht und als das Sich-Selbst-Geben Gottes dessen Wesen in seinem ipseisiert bestimmten »Ur-Sagen« als Logos (Wort) impliziert – nämlich die Liebe. Die pathisch oder material phänomenologisch ver­ standene Liebe als Selbstoffenbarung ist infolgedessen nichts anderes als Gottes absolutes Sich-Erfreuen im »umschlingenden Umschlun­ gensein«, wie Ruusbroec sagt. Diese Liebe – auch in der originär rela­ tionalen Selbstaffektion des transzendental geborenen Menschen – 389

Sechste Vision (S. 91).

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ist unendlich, weil Gott sich ewig selbst innertrinitarisch liebt, da seine absolute Selbstoffenbarung nichts anderes als diese Selbstliebe sein kann. Die Mystik erscheint uns daher radikal phänomenologisch nicht nur als angemessene Verwirklichung der ewigen Lebensmodali­ täten, sondern zugleich als ein originär praktiziertes Sprachpathos. In ihm kann sich dem Menschen die Wahrheit seines transzendentalen Lebendigseins manifestieren, weil dieses »Sagen« kein anderes als das »U-Sagen« selbst ist, durch das jeder sich unablässig als im Leben absolut gebürtig erprobt und im vernehmbaren äußeren Sprechen als Begehren bezeugt. Allerdings ist bei den mystischen Texten stets darauf zu achten, was der unvorstellbaren Wiedergabe dieser Erpro­ bung zuzusprechen ist und was andererseits darstellende Elemente der mystischen Tradition wiedergibt, um sich dadurch bildhaft auszu­ drücken. Die Unterscheidung des »Unausprechbaren« von Symbolik und Metaphorik bei den MystikerInnen selbst ist ein Indiz für diese Anwesenheit von originärem Sprachpathos und dessen diskursiver wie poetischen Vermittlung. Dies lässt sich – außer exemplarisch an Hadewijch390 – auch an weiteren Mystikbeispielen wie bei Tauler und Seuse (Suso) weiterverfolgen. Als Schüler Meister Eckharts hat Johannes Tauler (ca. 1300– 1361) an der Herausbildung der devotio moderna seinen besonderen Anteil dadurch, dass er seine Mystik auf die Einfachheit des Empfangs Gottes konzentriert und die Welt dezidiert dabei nicht ausschließt. Seine »Predigten« in deutscher Sprache,391 die im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit inmitten der Laienbewegung der »Freunde Got­ tes« in Straßburg entstanden, sprechen von der Möglichkeit eines ganz Gott anvertrauten Lebens, das dem Menschen seinen göttlichen Abgrund anbietet, wenn dieser sich von Gott selbst auf dem innerstem Grund, der jedem Menschen eigen ist, suchen lässt. Tauler kennt also die Wirklichkeit der »Gottesgeburt« im Menschen, die er von Eckhart aufgreift. Aber bei ihm handelt es sich weniger um einen 390 Vgl. P. Mommaers u. F. Willaert, »Mystisches Erleben und sprachliche Ver­ mittlung in den Briefen Hadewijchs«, in: P. Dinzelbacher u. D.R. Bauer (Hgg.), Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter, Köln/Wien 1988, 117–151. 391 In: J. Quint, Textbuch zur deutschen Mystik des Mittelalters, Tübingen 21957; Predigten, 2 Bände (Hg. G. Hofmann), Einsiedeln, 1979; Predigten. Gotteserfahrung und Weg in die Welt, Olten 1983; dazu auch D. Mieth, Im Wirken schauen. Die Einheit von Vita activa und Vita contemplativa bei Meister Eckhart und Johannes Tauler, Darmstadt 2010.

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Erkenntnisakt oder um eine Schau des Wesens Gottes,392 sondern für Tauler ist die echte Mystik die Armut im Geiste, die jedem Menschen zugänglich ist, der sich nach gerechtem Handeln sehnt. Seine chris­ tusmystische Einfachheit will also nicht mit individueller Einsamkeit verwechselt sein, die eine Wahrheit nur für sich behält. Deshalb verleiht er auch der via purgativa den Vorrang vor der via illuminativa und der via unitiva oder der unio. Dies bedeutet, dass die Betonung der praktischen devotio im Handeln letztlich die Nachahmung des Lebens Christi in allem beinhaltet. Auf diese Weise vermag der Mensch in der Tat Gott »von genaden, nich von nature« zu werden, da er sich dann wirklich dem Willen Gottes in allem unterworfen hat, womit er Theologie und Mystik in ein Gleichgewicht bringen kann, die dem Weg der Angleichung an Gott durch die Liebe eignet. Die christologische Konkretion der mystischen Praxis bei Tauler greift dabei die radikal phänomenologische Tatsache auf, dass das sich selbst offenbarende Leben – diesseits eines bestimmten Bildes, außer der »Armut« – zuinnerst Vollzug als Ab-grund ist. Am abso­ lut subjektiv gebündelten Handeln zerschellt jede Vorstellung und zerfällt in Pro-jektionen, sofern solch immanentes Handeln allein aus der Kraft des Lebens heraus zunächst die nie messbare Mobilisie­ rung jener Kräfte von Leib und Seele beinhaltet, deren Können als Modalisierungen von Bedürfen/Begehren genau in den ab-gründigen Tiefen des unmittelbaren Lebens selbst ruht. »Nachahmung Christi« als mystische devotio besagt daher, dass der – dem Willen entzogene – Abgrund des Handelnkönnens originär in Gott selbst ruht, sofern der Logos als das sich sagende Urwort Gottes ganz aus der Liebe des Vaters heraus lebt und diese Liebe folglich als das Ur-Sagen der Selbstoffenbarung Gottes zu seinem einzigen Grund hat. »Nachahmung Christi« bedeutet daher, anders ausgedrückt, dass das sich selbst sagende Ursprungsleben (Gott) je nur das Leben selbst wiederum als liebend selbstaffiziertes (Sohnsein) »wollen« kann, welches zugleich die phänomenologischen Möglichkeiten des menschlichen Lebens als gleichwesenhaftes Pathos impliziert. Daher sind wir radikal phänomenologisch gesehen im Tun allezeit »Söhne 392 Im Sinne einer »personalen Gewissheit des Seins«, worin weisheitlich philosophi­ sche und religiös pastorale Intentionen miteinander verknüpft werden, interpretiert ihn R. Manstetten, Esse est Deus. Meister Eckharts christologische Versöhnung von Philosophie und Religion und ihre Ursprünge in der Tradition des Abendlandes, Freiburg/München 1993.

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Gottes«, weil im Handeln – ontologisch originär und nicht moralisch betrachtet – durch all unsere Vermögen von »Geist« und »Leib« hin­ durch nichts anderes als die Kräfte des sich modalisierenden Lebens zum Einsatz kommen, und zwar als passible Trans-substantiation in ihrer affektiven Materialität. Wenn Heinrich Seuse (ca. 1295–1366) in seinem »Büchlein der Wahrheit«393 die mystische Lehre Eckharts um Akzente der höfischen Liebe (minne) und der göttlichen Liebe (ewigez liep) anreichert, dann liegen hier historisch betrachtet durch­ aus Einflüsse aus dem zeitgenössischen Rittertum und aus der – in asketischer Buße – befolgten Nachahmungsmystik vor. Aber die Vereinheitlichung seiner hohen Spekulationen über das Wesen Gottes und über die unio mit Gott unter dem Gedanken der Liebe führen konsequent in gegenreduktiver Hinsicht zu seinen Analysen des geschaffenen und ungeschaffenen »Grundes« der Seele, der aus Gott hervorgeht, um in den Schoß der Trinität zurückzukehren – mithin die originäre Bewegung der lebendigen Selbstaffektion beschreibt. Dieses erste Werk von Seuse über die Wahrheit verteidigt die Lehre Eckharts gegen illuministische Interpretationen und lässt in sei­ ner dialektischen Dialogform die »ewige Wahrheit« mit einem ihrer Schüler sprechen. Der Illuminismus ist in der Tat eine Übertragung der Weltphänomenalität des Verstandes als »Licht« auf die Mystik und trifft ihr selbstaffektives Wesen nicht, während die Liebe gerade als nicht vorstelliges Wesen des Erscheinens die pathische Natur des abgründigen Lebens als solchem ausspricht. Denn das Leben vermag in seiner absoluten Selbstoffenbarung gar nicht anders, als sich an sich selbst unverbrüchlich zu binden und sich somit ewig selbst zu lieben, was wir als das »Ur-Sagen« im Sinne des originären Sprachpathos selbst auffassen. Denn linguistisch muss Seuse sich mit einer noch ganz jungen deutschen Sprache auseinandersetzen, um die verfeinerte mystische Beschreibung der analytisch schwierigen Benennung Gottes, der Seele und ihrer unio einander anzupassen. Jedoch ist diese kontextuell begriffliche Bedeutungsschwierigkeit nicht der letzte Grund, warum er eine affektiv oder »pathetisch« reiche 393 In: Deutsche mystische Schriften (Hg. G. Hofmann), Zürich-Düsseldorf 1999; Das Buch der Wahrheit. Daz buechli der warheit (Hg. L. Sturlese u. R. Blumrich), Hamburg 1993. Über den Zusammenhang von Mystik und höfischer Liebe, die wir schon bei Bernhard von Clairvaux und Hadewijch festhielten, vgl. auch D. de Rouge­ mont, L'amour et l'occident (1939), Paris 1962, 3. Buch: »Passion et mysticisme« (S. 119ff.).

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Sprache benutzt.394 Vielmehr ist die Affektivität prinzipiell die phäno­ menologische Materialität als das Wesen des Lebens selbst, welches niemals als ein thematischer Gegenstand gesagt werden kann. Das auf diese gegenreduktive Wirklichkeit zugleich hinweisende transparente wie dunkle mystische Sprechen ist deshalb genau das Sprachpathos des mystisch »Unaussprechbaren« dieses sich nur in der Selbstoffen­ barung originär sagenden Lebens. Das Unaussprechbare ist auf der semantischen Ebene der Bedeutungen und bildhaften Zeichen, was das »Dunkle« auf der Ebene der rein passiven Selbstaffektion ist, näm­ lich die reine Wesenhaftigkeit des Pathos eines sich je erprobenden »Sagens«. Letzteres ist als Offenbarungsgrund Ermöglichung allen Sagens (Dire), ohne je mit einzelnen Wörtern oder Sätzen identisch sein zu können, so wie jede Empfindung, Emotion etc. die transzen­ dentale Affektivität als das niemals Sich-Zeigende voraussetzt. »Ur-Sagen« lässt sich in Bezug auf die Mystik dann gleichfalls als die Bewegung der Selbstoffenbarung des Lebens auf ein Sprechen hin verstehen, das im Rahmen der Vorstellung die Re-präsentation dessen versucht, was jedes Wort in seinem affektiv pathischen Grund bewegt, nämlich sich offenbarender Austausch des Lebens selbst zu sein. Sprachpathos meint diese rein immanente Offenbarungsteleolo­ gie als Selbstobjektivierung des Lebens, die niemals in irgendeinen Ausdruck definitiv gerinnen kann, um dort ganz oder teilweise erfüllte Anschauung zu werden. Solches Sprachpathos des »Unaussprech­ baren« – und zwar im Gesprochenen (Dit) selbst noch – ist der Mystik gleichursprünglich. Denn die unio ist in der Selbstoffenbarung Gottes als des sich ewig zeugenden Lebens nie distanzierte Schau, sondern sich erprobende Lebenseinheit, für deren nicht welthafte Differenzierungslosigkeit dann auch keine intuitive De-finition mehr zur Verfügung stehen kann. Dies heißt nicht, dass damit die affectio, die gerade das Wesen unserer Selbstaffektion ausmacht, durch das absolute Leben Gottes selbst aufgehoben sei, da der immemoriale Anfang als unsere radikale Ipseisierung bleibt. Vielmehr wird jede affectio effektiv nur als »Geburt in Gott« sich selbst gegeben, welche die MystikerInnen zugleich als »Geburt Gottes« in sich selber erpro­ ben. Dadurch ist der lebendig ungeschaffene Grund Gottes Liebe zu sich selbst als jenes Leben, in dem jedes originär gezeugte Leben in reiner Passibilität zum vor-intentional bildlosen »Mich« wird. 394 Vgl. auch S. Feuten, Mystik und Körperlichkeit. Eine komplementar-verglei­ chende Lektüre von Heinrich Seuses Schriften, Würzburg 2007.

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Seuse drückt dies auch so aus, dass das Ideal des »vollkommene Mensche« in der unio innerhalb der »Gelassenheit« bestehe,395 wo kein eigener Wille mehr herrscht. Diesem Verzicht auf den teleo­ logisch setzenden Willen entsprechend, müssen in phänomenolo­ gischer Radikalität alle sinnlichen Bilder und begrifflichen Vorstell­ ungen entblößt werden, damit der Mensch auf dem Grund seines Lebens das »Bild Gottes« als seine Ebenbildlichkeit zu erkennen vermag, das in byzantinischer Tradition die »Ikone« ist. Denn solange noch etwas anderes in der Seele gegeben ist, kann Gott keinen Platz darin einnehmen, ohne mit diesem Etwas verwechselt zu werden. Das heißt, er ist dann nicht wirklich Gott in seiner Gottheit. Auch hier wird durch die Verbindung solcher Entblößung mit der Liebe als reinem »Bild Gottes« auf dem Seelengrund die Nachfolge Christi vor allem zur Mystik seiner Passion, mit anderen Worten des »Ur-Sagens« der Selbstoffenbarung Gottes als Sohnsein im christusmystischen Gehor­ sam. Seuses Affektivitätssprache als Grund ungeschaffenen Lebens offenbart sich daher im letzten als reines Pathos – und legt damit die phänomenologische Natur des Bedürfens als sich unendlich selbstbe­ gehrendes Begehren offen. Dieses hat in seinem reinen Wesen an der Ungeschaffenheit des Lebens unmittelbar teil und erleidet gleichzeitig dieses Leben als Passibilität in seiner immemorialen Vorgängigkeit, weil wir nur in dieser selbstaffizierend gezeugt werden können. Genau davon kündet das Sprachpathos des »Unaussprechbaren«, ohne das Sprechen selbst aufgeben zu müssen, weil gerade dessen innerste Affiziertheit von jenem Pathos als »Ur-Sagen« des selbstoffenbaren­ den Lebens ständig bewegt bleibt. Insofern kann man mit Michel de Certeau396 sagen, dass der mystische Charakter der Sprache wie »eine Musik klingt« und die »Tiefenregion« der Sprache dadurch auslote, worin die wesenhafte Unterscheidung von Sagen/Gesagtem (Dire/Dit) eine zentrale Einsicht darstellt. In dieser Passionsmystik, wie sie sich am Ende des Spätmittelal­ ters auch in den »realistisch« schmerzverzehrten Christusdarstellun­ gen widerspiegelt,397 nur einen Ausdruck der Liebesklage über das menschliche Elend zu sehen, bedeutet die dokumentierte Historie mit 395 Vgl. M. Enders, Gelassenheit und Abgeschiedenheit. Studien zur Deutschen Mystik, Hamburg 2008. 396 Vgl. La Fable mystique II, 161ff. 397 Vgl. M.A. Sorace, Avantgarde nach ihrem Ende, 112–118, zum »toten Christus« des Kölner Gerokreuzes zum Beispiel.

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der affektiv immanenten Meta-Genealogie des Lebens zu verwech­ seln. Geschichtlich ist es in der Tat durchaus so, dass beispielsweise in der Streitschrift über den Tod mit dem Titel »Der Ackermann von Böhmen« die menschliche Klage einen beeindruckenden Akzent fand, der Heidegger zu der Aussage veranlasste, dass die Stunde der welt­ lichen Geburt auch immer schon die mögliche Stunde des Todes sei.398 In meta-genealogischer Hinsicht der radikal individuierten Geburt im Leben ohne originären Tod jedoch ist das Pathos das absolute Selbstausgeliefertsein des Lebens an sich selbst ohne Abstand zu sich selbst in der immerwährenden generatio aus dem phänomenolo­ gischen Leben allein heraus. Folglich das Wesen des ewig liebenden »Umschlungenseins« des Lebens (Ruusbroec) als solchem, welches daher gemäß seinem »Ur-Sagen« in der Mystik als Meta-Geschichte der rein individuierten Erprobung »zur Sprache« kommen musste. Denn allein die Mystik kann das sich selbst begehrende Bedürfen des Lebens wirklich als conatus vitae empfindungsgemäß benen­ nen – gerade weil es das »Unaussprechliche« des gottmenschlichen Ab-grundes ist. Als Loslösung von jedem re-präsentierenden Bild beinhaltet nämlich die Mystik als reines Sprachpathos die affektive Meta-Genealogie der transzendentalen »Ein-Bildung« als solcher, da sich das Leben als Ab-grund im Übergang vom bildlos Absoluten zum naturierten Bedürfen auf dem begehrenden Grund dieses natu­ rierenden Lebens selbst »weiß« und »sagt«. Was sich ab-gründig noch vor jedem feststellenden Bedürfen zu öffnen scheint, ruft gerade – in dieser Bildlosigkeit – die Projektion der Bilder gemäß der Einbil­ dungskraft hervor. Diese sind jedoch letztlich im mystischen Sinne gerade zu verlassen, sofern Gott nur in einer »jungfräulichen Seele« für die MystikerInnen geboren werden kann, das heißt in einer Seele ohne Projektion eines bildlichen Etwas, was schließlich auch für jede gedachte Form »Gottes« deren Aufhebung bedeutet. Dies gilt für Männer wie Frauen, so dass die Unterscheidung von mehr affektiver oder begrifflich orientierer Mystik historische und soziale Differenzen anspricht, aber nicht für die eigentlich immanente Vgl. Sein und Zeit, Tübingen 111967, 245 (§ 49): »Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist.« Hierauf folgt das Zitat aus dem »Acker­ mann« (Hg. K. Burdach 1917) im Kap. 20: »Sobald ein Mensch zum Leben kommt, sogleich ist er alt genug zu sterben.« Vgl. zu dieser Auseinandersetzung mit Heidegger über den radikal phänomenologischen und existenzialen Geburtsbegriff auch in Hin­ sicht auf eine »zweite Geburt M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 67ff. u. 213ff. 398

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Erprobung dieser »Jungfräulichkeit« maßgeblich sein kann und im transzendentalen Sinne der Bildlosigkeit zu verstehen bleibt, wo weder Geschlechtsunterschied in der reinen Passibilität gegeben ist noch ein Gegensatz von Aktivität/Passivität.399 Sich selbst apper­ zeptiv in keinerlei Hinsicht mehr fassen zu können, da das Leben sich immer schon in seiner reinen Ursprünglichkeit all-modalisie­ rend selbstumschlungen hat, beinhaltet mithin genau die eigentli­ che Offenbarung des Sich, welches sich selbst nicht repräsentierend erkennen kann. Denn wo kein Abstand oder Horizont mehr ist, da ist auch kein Raum und kein Licht mehr für irgendein zu schauendes Bild oder für eine zu ex-plizierende Idee gegeben, sondern es herrscht hier nur noch das »Selbstentfließen« ohne Gedächtnis als mögliche Retention, die erst im Zeitfluss das intentionale Erinnern anbahnt. Jedes Bedürfen muss sich daher originär als seine eigene reine Offenbarung phänomenologisch selbstbegehrend ergreifen. Mystisch gesprochen, sind daher Weisheit, unio, imitatio, Gelassenheit etc. ausschließlich passio ihrer selbst als Lebensmodalisierung jeweils – mithin ohne jedes geschichtliches Memorial ihrer »Spur« oder »Ent­ faltung«. Denn Sinne wie Vorstellungen haben dem reinen Erfahren als Selbsterprobung Platz gemacht, nämlich als absolute Identität von Nichts/Fülle. Diese kennt meta-genealogisch in sich nur die Transformation ihres ständigen Sich-Ertragens in Sich-Erfreuen, um darin das Leben als »Geschmack« aller Wirklichkeit zu genießen (jouissance). Die Konsequenzen hieraus für die originäre Einheit von Lebens- und Welthingabe soll im Folgenden mit Rückgriff auf Meister Eckhart untersucht werden, da er für die christliche Tradition die gedankliche Durchdringung dieses Verhältnisses am weitesten vorangetrieben hat.

399 Zur Diskussion hierüber vgl. A. Fella (Hg.), Les Femmes mystiques, 4ff.; siehe auch H. Bremond, Histoire Littéraire du Sentiemnt religieux en France. Depuis la Fin des Guerres de Religion jusqu'à nos jours, Paris 2017 (Nachdruck); J. Maȉtre, Mystique et feminité, Paris 1997.

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3. Mystik als Lebens- und Welthingabe gemäß Meister Eckhart

Welt, Dasein oder Bewusstsein können nach Meister Eckhart keinen eigenen Zugang aus sich selbst heraus zum absolut phänomenolo­ gischen Leben oder zur »Gottheit« gewähren, da letztere weder über Sichtbarkeit noch Differenz erfahrbar werden, welche allein für die Wirklichkeit phänomenaler Horizonterscheinungen bestimmend sind. Indem die ebenso abgründige wie ungeteilte Selbstoffenbarung solch göttlichen Lebens als das Wesen unseres immanenten Empfin­ dens bereits aufgewiesen werden konnte, darf auch die Mystik zur möglichen Beantwortung dieser Frage originären Erscheinens von Welt und Leben in keinem anderen Bereich mehr aufgesucht werden als in eben diesem innersten Wesen menschlichen Erfahrenkönnens von Wirklichkeit überhaupt. Dadurch vermag der hier weiter geführte Bestimmungsversuch der Mystik als des strukturellen Verhältnisses von Liebe/Leere ebenfalls nicht mehr anders zu lauten, als dass sie jene namenlose Praxis des Erlebens ist, innerhalb derer »die Selbster­ probung des Gefühls in seinen grundsätzlichen Möglichkeiten« als unmittelbarer Vollzug stattfindet, wie Michel Henry unterstrich.400 Und Eckhart betont seinerseits, dass der Vollzug jeglichen Sehens als Erkennen und Tun »in einem Sein« geschieht, was für das »unge­ schaffene und unerschaffbare Licht« in der Seele bedeutet, dass es hier ein »entblößtes Aufnehmen (Gottes) im Vollzug der Eingebärung gibt«.401 Mit solchen Bestimmungen sind implizit mehrere phänome­ nologische Hinweise gegeben, welche es in diesem Kapitel besonders hinsichtlich des Weltverhältnisses zu verstehen gilt und bei Eckhart etwa in der Formulierung auftauchen, dass im »Nun der Ewigkeit« die Seele »alle Dinge in Gott neu und frisch und gegenwärtig erkennt«.402

400 401 402

Vgl. Die Barbarei, 319f. Predigt 46, in: Werke I (Hg. N. Largier), Frankfurt/M. 1993, 507. Predigt 38: Ebd., 409.

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3. Mystik als Lebens- und Welthingabe gemäß Meister Eckhart

Das Verständnis der Mystik unterliegt daher keiner religions­ historischen oder theologischen Vorentscheidung entsprechender Grunderfahrung unseres Lebens in »natürliche und übernatürliche Mystik«, wie es oft versucht wurde,403 sondern einer rein gegenre­ duktiven Bestimmung des inneren Wesens unseres Tuns als Praxis im bisher schon verfolgten Sinne. Es handelt sich zudem um keinen »Mystizismus der Gefühle«, insofern dabei das transzendental affek­ tive Selbstempfinden in den Mittelpunkt trat, so dass Irrationalität und Verkennen der Ethik keine Folgen der Mystik sind, wie dies mit Meister Eckhart gezeigt werden kann,404 denn »geistig gebären« heißt, dass »die Seele, die Gott besitzt, allezeit gebärend ist«.405 Dadurch »empfängt das Geschöpf ständig sein Sein von Gott«, so dass jeder Akt von solcher Empfänglichkeit begründet bleibt und »auch sein Sein in ständigem Fließen und Werden ist«.406 Dem entspricht, dass »in einem gottgefälligen Werk die zwei, innerer Antrieb und äußere Tat, zusammengehören«,407 was in der Lehre Eckharts von der (bildlosen) »Jungfrau-“ und (an Tun fruchtbarem) »Weibsein« – wie bei Martha und Maria – seinen klaren Ausdruck fand.408 Dies korreliert mit seinem theologischen Grundverständnis, dass »das Zeugungsvermögen in Gott Vater eher die Wesenheit als die Vaterschaft« ist. Demnach »zeugt Gott Vater den Sohn als Gott, aber nicht als einen Vater. Er gibt dem Sohn das Sein Gottes, das Sein des Vaters, Weisheit und Macht des Vaters, nicht jedoch, dass er Vater ist«.409 Damit »empfängt nicht nur das Höchste und das Niedrigste von Gott selbst gleichermaßen unmittelbar das Sein«, wie es weiter im »Kommentar zum Buch der Weisheit« heißt, sondern wir Vgl. E. Jain u. R. Margreiter (Hgg.), Probleme philosophischer Mystik, 9f. Zur älteren Diskussion vgl. ebenfalls F. Brunner, »Maître Eckhart et le mysticisme spéculatif«, in: Revue de Théologie et Philosophie 103 (1970) 1–11; B. Welte, »Der mystische Weg des Meister Eckhart und sein spekulativer Hintergrund«, in: U. Kern (Hg.), Freiheit und Gelassenheit. Meister Eckhart heute, München-Mainz 1980, 97–102. 405 Predigt 43: Werke I, 459f. 406 Kommentar zum Buch der Weisheit (eingeleitet, übersetzt und erläutert von K. Albert), Sankt Augustin 1988, n.292 (S. 143f.). 407 Expositio Libri Exodi / Exodusauslegung), in: Lateinische Werke, Band 2 (heraus­ gegeben und übersetzt von K. Weiß, H. Fischer, J. Koch u. L. Sturlese), Stuttgart 1992, n.4; vgl. ebd., n.126 (abgekürzt LW II). 408 Die deutschen Werke, Band 4,2: Predigten 106–109, 1.-2. Lieferung (herausgege­ ben und übersetzt von G. Steer), Stuttgart 2003, 680f. (abgekürzt DW IV,2). 409 Exodusauslegung (LW II), 28. 403

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können an dieser Formulierung festhalten, dass das Sein selbst zum inneren genannten Werden wird und umgekehrt, das heißt wirklich »lebendiges Sein« ist, womit die Begriffe Sein und Leben in gewisser Weise austauschbar werden. Die Bestimmung der Mystik als affektive Selbsterprobung beinhaltet demzufolge die Selbstverwirklichung des absoluten Lebens in unserem passiblen Erproben als radikaler Subjektivität, und zwar nicht auf der Ebene irgendeines thematischen Wissens, und sei es auch als nach innen gerichtete »Schau«, sondern ebenfalls streng phänomenologisch im Könnensvollzug als Weltbezug. Denn Eckhart bemerkt in seiner Predigt 39 ganz eindeutig, dass das Geboren-Sein »aller Bilder und Formen ledig ist«, und nur das Geboren-Werden in gewisser Weise einen vernunfthaften Rückbezug kennt, worin er seiner dominikanischen Tradition folgt: »(Der Geist) schöpft (die Seligkeit) weder aus der Liebe noch aus dem Erkennen noch aus dem Anschauen. […] Sofern (der Geist) geboren ist, hat er kein Anschauen und kein Hinschauen (mehr) auf Gott. Insofern er aber (noch) geboren wird, hat er ein Hinschauen auf Gott. Darum liegt des Geistes Seligkeit da, wo er geboren ist, und nicht, wo er (noch) geboren wird, denn er lebt, wo der Vater lebt, das heißt: in der Einfaltigkeit und in der Bloßheit des Seins. Darum kehre dich von allem und nimm dich rein im Sein; denn, was außerhalb des Seins ist, das ist ›Akzidens‹, und alle Akzidentien stiften ein Warum.«410 Auf diese Weise kann Eckhart Seligkeit, Leben und Geburt vereinen und grundsätzlich festhalten: »Den Seligen ist immer ein neues Leben, immer wird in ihnen Gott geboren, immer ist er (in ihnen) geboren.«411 Es geht also weder um eine »Epoptik«.412 noch um »Theosophie«,413 bzw. nur um »sittlich-religiöses Leben« in den deutschen Predig­ ten und um »Transzendentalien-Metaphysik« in den lateinischen Bibelkommentaren, wie Karl Albert in seinen »Erläuterungen« des »Kommentars zum Buch der Weisheit« formuliert,414 ohne jedoch an einem – von der Forschung seit längerem revidierten Gegensatz – von »Mystiker« und »Scholastiker« Eckhart festzuhalten. Denn Werke I, 425 u. 427, mit Kommentar von N. Largier S. 1009. Kommentar zum Buch der Weisheit, n.290 (S. 142). 412 Vgl. Th. Kobusch, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006, 138ff. 413 Vgl. K. Flasch, »Die Theosophie des Liber bei Meister Eckhart«, in: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen (Hg. K. Flasch), München 2011, 77–88. 414 Vgl. 148f. 410 411

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bei einer solchen Sichtweise bliebe ungeklärt, wie Eckhart gerade in den deutschen Predigten durch seine Selbstrevisionen hinsichtlich Sein/Leben, Gottheit/Trinität, Seele/Hervorbringung etc. zu seinem eigentlichen transzendenzfreien Einheitsdenken durchstoßen konnte. Durch die Bindung der Mystik an die originäre Selbsterprobung jeglichen Könnens als Immanenzvollzug affektiven Erlebens ist eine solch mystische Praxis zu allen Zeiten sowie in allen Bereichen gegeben und gehört damit zur Kultur schlechthin, welche ihrerseits im absolut phänomenologischen Leben wurzelt.415 Dass die Mys­ tik zur Kultur und damit zur individuellen wie gemeinschaftlichen Wesensentfaltung des Mit-Pathos als originärer Wirklichkeit gehört, schließt auf der prinzipiellen Ebene solcher Gefühlsphänomenalität ein, dass jedes Empfinden der inneren Erlebenswirklichkeit originär dem Schmerz und der Freude zugeordnet ist. Erprobe ich nämlich die Ur-Gegebenheit unserer fleischlichen Passibilität in der letzten gegenreduktiven Konsequenz als reines Sich-Geben/ Entgegenneh­ men des Lebens selbst, dann ist jedes Gefühl historial in seiner selbstaffektiven Materialität durch die Freude des Lebens über sein eigenes Wesen bestimmt. Denn dieses absolut phänomenologische Wesen ist sein Selbsterscheinen als Leben schlechthin, welches nicht anders kann, als dass es sich fortzeugt, um sich in dieser unzerstörba­ ren Geburt dank der Erprobung solcher »Mächtigkeit« seiner selbst zu erfreuen. Dies wird bei Eckhart unter anderem anhand der Gnade deutlich, die selbst kein Werk wirkt und nicht mit Gott vereinigt, sondern die Seele »nur« zu Gott zurückbringt, um in der bereits abgründig mit ihm bestehenden Einheit die Seligkeit der Gottesgeburt zu unterstreichen.416 Oder mit der Predigt 33 ausgedrückt, macht die Gnade die Seele »gefügig für alle göttlichen Werke«.417 Wenn die Gnade somit die Seele Gott in gewisser Weise »ähnlich« macht, so kann dies nur gelingen, weil die ontologische Einheit mit der Gottheit in principio bereits voraus liegt: »Alles, was Gott im Geschöpf wirkt, ist Gnade (gratia) und wird umsonst (gratis) gegeben. Der Grund dafür

415 Vgl. R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie der politischen Aktualität, Freiburg/München 2008, 392–413: »Globale Wissenschaft als Kultur­ krise«. 416 Vgl. Predigt 22: Werke I, 251. 417 Ebd., 367. Vgl. auch Predigt 38 (ebd., 417), denn insofern Gott sich gebiert, ist die Gnade kein »Werk«; aber weil sie in der ewigen Inkarnation entspringt, ist sie auch kein nachträgliches Werk Gottes; ähnlich Predigt 43 (ebd., 463f.).

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ist, dass das Erste niemals unter das Verdienst fällt. In jedem Ding aber ist das Erste das, was von Gott als dem Ersten gegeben wird.«418 Mystik ist so bis in diese Gnadenlehre hinein der konkret transzendentale Vollzug der ursprünglichen Erprobung in der reinen Freude des Lebens (Gottes), welches sich auf nichts Äußeres mehr stützen muss, um seine ihm eigene innere Mächtigkeit in allem Empfinden im Sinne dieses reinen Könnens zu verwirklichen, was dem strukturell mystischen Verhältnis von Leere/Fülle entspricht. Die kriteriologische Zuordnung der Mystik zur Kultur besagt daher, dass diese prinzipielle »Erfahrung« in allen Bereichen selbstaffektiver Lebenserprobung möglich ist, weil im jeweiligen Empfinden nicht nur die »Steigerung«, sondern auch die »Trunkenheit« des Lebens als Begehren selbst erfahren wird, um einen Begriff von Nietzsche hier zu verwenden. Deshalb ist Mystik sowohl möglich im Bereich der Religion, Kunst und Ethik wie aber auch im Denken und in der alltäglichsten Praxis. Denn letztlich bildet die Mystik keine spezifi­ sche Form dieses oder jenes Tuns, sondern die grundsätzlich innere Wirkmächtigkeit des Handelns als solchem. Das heißt, durch die lebendige Ur-Ermächtigung der subjektiven Lebensphänomenalisie­ rung handeln zu können und darin der Fülle des Lebens selbst im Erproben affektiv als jouissance gewiss zu werden. Der Bezug zum eigenen Sein geschieht mithin nicht in intentionaler Weise, sondern in der inneren »Einfaltigkeit«, wo keine Dualität im »Erkenntnis­ akt« mehr aufkommt, weil der »Akt der Einigung« nicht reflexive Selbsterkenntnis ist, sondern dieser konstitutiv vorausgeht, weshalb wir auch für eine Einheit von Affekt/Vernunft bei Meister Eckhart letztlich plädieren. Auch deshalb, weil Eckhart vom Begehren nach dem Guten oder Gott bzw. der »Weisheit« stringent sagen kann, dass sie »mit Leidenschaft und Sehnsucht« gesucht und gefunden werden, das heißt im »Herzen«; welches als Einheit von Erkennen/Affekt angesehen werden kann.419 Dem widerspricht nicht, dass in einem letzten Schweigen »die Seele vom Aufruhr der Leidenschaften und von der Beschäftigung mit weltlichen Dingen« ruhen kann, das heißt, »wenn alles schweigt und sie selber für alles schweigt«, weil solches Ruhen und Schweigen alles umfasst, »damit Gott, das Wort, durch die 418 Kommentar zum Buch der Weisheit, n.272 (S. 132); im Weiteren wird dann der Zusammenhang zwischen Gnade und Vernunft ausgeführt, »sofern er die göttliche Natur vernimmt (sapit)«. 419 Vgl. Kommentar zum Buch der Weisheit, n.275 (S. 133f.).

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Gnade für den Geist (des Menschen) kommt und der Sohn in der Seele geboren wird«.420 Aus solcher Ungeteiltheit erschließt Eckhart eine Gleichzeitig­ keit von ewiger Gerechtigkeit und Freude, die in der abgründigen Gottheit selbst gegeben ist: »Durch jegliches Werk des Gerechten, wie gering es auch sein mag, […] wird Gott erfreut, ja durchfreut; denn nichts bleibt in seinem Grunde, das nicht von Freude durchkit­ zelt würde. Und grobsinnige Leute müssen dies (einfach) glauben, die erleuchteten aber müssen es wissen.«421 Dabei muss solches »Wissen« als »Genießen« mit dem entsprechenden Selbstempfinden solchen Wissens identisch sein, und sei es nur im Sinne der rein inne­ ren Apodiktizität solcher Gewissheit. Wir sind uns dabei bewusst, dass diese Fragen letztlich an die Grundformen eines jüdisch-christ­ lichen Gottesverständnisses im rein ontologischen Sinne stoßen, welcher auch bei Eckhart den Hintergrund für sein Leibverständnis abgibt: »Das erste (was nach Maimonides Gott in keiner Weise zukommt), ist Körperlichkeit und alles, was die Eigentümlichkeit der Körperlichkeit einschließt. Körper und Geist schließen sich nämlich als solche gegenseitig völlig aus.«422 Die lebensphänomenologische Immanenz als materiales oder fleischliches Selbsterscheinen, welches eine Inkarnation in principio einschließt, hinterfragt genau diese metaphysische Trennung, weil es letztlich eine ursprüngliche Einheit allen Erscheinens gibt. Daher ist die Gerechtigkeit mit dem gottheit­ lichen Leben selbst identisch, wie es in uns lebt: »(Ganz) in der (selben) Weise, wie Gott wirkt, so auch wirkt der Gerechte ohne Warum; und so, wie das Leben um seiner selbst willen lebt und kein Warum sucht, um dessentwillen es lebe, so auch kennt der Gerechte kein Warum, um dessentwillen er etwas tun würde.«423 Dies schließt praktisch ein, »dass die Gerechtigkeit Leben und Lebensvollzug für den Gerechten ist und die Gerechtigkeit für ihn, insofern er gerecht ist, das Sein ist.«.424 Um dennoch Einwände gegenüber einem hierbei irgendwie noch gegebenen gnostischen Synkretismus bzw. Mystizismus, Vitalismus Vgl. ebd., n.280f. (S. 137f.). Predigt 39: Werke I, 421. 422 Vgl. Exodusauslegung, n.46; zur Diskussion dieser Tradition vgl. K. Flasch, Meister Eckhart, Die Geburt der »Deutschen Mystik« aus dem Geist der arabischen Philosophie, München 2008, 112ff. 423 Predigt 41 (Werke I, 439). 424 Kommentar zum Buch der Weisheit, n.265 (S. 128). 420

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und Pantheismus aufzuheben, ist es notwendig, auf die genauere Bestimmung der mystischen Freude, Seligkeit oder Trunkenheit selbst einzugehen. Letztere sind mit Meister Eckhart als Wesensbe­ stimmungen des Gefühls in seinem phänomenologisch a priori vor­ gezeichneten Selbstfühlen vor jedem existentiellen Erlebnis gegeben, wodurch das rein passible »Mich« die absolute Historialität solcher Lebenspassibilität in der Einheit ihres Sich-Selbst-Erfreuens verwirk­ lichen kann. Somit ist gerade die mögliche Verknüpfung mystischen Erlebens mit besonderen Formen von »Entrückung« nicht maßgeb­ lich, wie sie bei Meister Eckhart fehlen, und auch ausdrücklich von ihm kritisiert werden: »Wenn daher jemand ein Vermittelndes liebt oder ein Mittel auch nur sieht, so liebt er Gott nicht und sieht auch nicht Gott. Deswegen werden auch sehr recht gemeinsam die zurückgewie­ sen, die Gotteserscheinungen annehmen. Zurückgewiesen werden von tiefsinnigen Theologen auch die, die annehmen, Gott werde irgendwie durch das Mittel symbolischer Gestalten geschaut.«425 Vielmehr ist die Artikulierung des subjektiven Mich als »Nichts« in Bezug auf das absolut phänomenologische oder gottheitliche Leben entscheidend. Als intentionales Ego vollzieht jedes Ich die ihm verlie­ henen Lebenspotentialitäten bewusstseinsmäßig als sein »eigenes« Können, weil es sich in seiner Selbstillusion für die Quelle all seiner Akte und letztlich oftmals des Lebens selbst hält. Die Mystik kann daher kriteriologisch auf dem Hintergrund dieser fast unausweichli­ chen Selbsttäuschung als die Umkehr des Ich in das rein gebürtige Mich betrachtet werden, mithin als die ausschließliche Rückverset­ zung in die absolute Selbstaffektion des rein phänomenologischen Lebens in seiner selbstreferentiellen Hervorbringung als Abgrund vor aller »Kreatur«. Dieser Vorgang der Umkehr vollzieht sich jedoch gerade nicht im Raum des Erkennens, sondern durch die autonome Selbstverwirkli­ chung des. gottheitlichen Lebens im Mich der »ewigen Gottesgeburt«, so dass sich dieses Mich in der Ermächtigung seines jeweiligen Vollzugs nur noch aus dem reinen Können des Lebens als diesem »Werk des Einen« selbst heraus erprobt. Wenn Eckhart daher her­ vorhebt, man solle darauf achten, »wo man am schwächsten« ist«, so gilt dies keinem asketischen Ressentiment, sondern der Überant­ wortung an den ungeteilten Grund, der diese »Schwäche« immer 425

Ebd., n.284 (S. 139).

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schon »überwunden« hat.426 An anderen Stellen – wie etwa Predigt 44427– thematisiert Eckhart dies als grundlegende Tugend der Demut, denn die Tugend ist letztlich nicht im klassisch scholastischen Sinne als unser Habitus vom Willen her bestimmt, sondern als »Gottes reines Sein und seine eigene Natur«. Dahinter steht eine ontologische Übereinstimmung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit: »Jede Möglichkeit enthält das, was sie ist, ganz und wesenhaft von der Wirklichkeit, auf die sie bezogen ist; ja sie flieht sogar ganz und wesenhaft sich selbst und von sich selbst zur Wirklichkeit hin, und zwar in dem Maße, dass nicht allein in den von der Materie getrenn­ ten (Substanzen) die Möglichkeit des Denkens und des Gedachten dasselbe sind, sondern auch, dass (gemäß Aristoteles) die Sinne und das sinnlich Wahrnehmbare in der Verwirklichung dasselbe sind.«428 Lebensphänomenologisch gesehen, ist die Potentialität als immanent affiziertes »Können des Lebens« bereits ganz im Sinne dieser originär praktischen Wirklichkeit gegeben.429 Wir wohnen daher hier genau dem Gegenteil eines »Entzugs des Seins« in seinem Erscheinen bei, wie es paradigmatisch die heideggersche Phänomenologie als Fundamentalhermeneutik oder »anderes Denken« postuliert. Vielmehr wird in der eckhartschen Mystik das Sichgeben des Lebens als die unmittelbarste Selbstgebung erprobt, welche keinerlei Differenz zwischen Mich und Leben mehr zulässt. Aufgehoben wird das »Vergessen« des Ich hin-sichtlich sol­ chen Lebens, aber das Ego hat diese Aufhebung nicht durch seine Änderung der Sichtweise oder Blickrichtung selbst geleistet, denn solange es »Ich« sagt, denkt und erfährt es sich phänomenologisch in der Illusion des intentionalen »Ich kann«: »Dieses Unwissen [des Grundes] lockt und zieht dich fort von allen Wissensdingen und über­ dies von dir selbst. […] Wer nicht alle Äußerlichkeit der Kreaturen lässt, der kann in dieser göttlichen Geburt weder empfangen noch geboren werden. Dass du vielmehr dich deiner selbst beraubst und alles dessen, was äußerlich ist, das (nur) verleiht dir’s wahrhaft.«430 Eine Umkehr im Sinne der kriteriologisch in Anspruch genom­ menen Mystik Meister Eckharts vermag mithin nur praktisch im Voll­ 426 427 428 429 430

Vgl. Predigt 33: Werke I, 69; u. 199ff. Ebd., 475; vgl. Predigt 49: Ebd., 528. Kommentar zum Buch der Weisheit, n.266 (S. 128). Vgl. M. Henry, Die Barbarei, 199ff. Deutsche Predigten und Traktate, 423f. (Predigt 57).

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zug des Tuns als solchem zu erfolgen – und deshalb auch ohne irgend­ eine methodische Regel sowie ebenfalls zeitliche Vorhersagbarkeit, dass die Gewissheit solch inneren Vollzugs sich tatsächlich einstelle. Mit anderen Worten gibt es in der Leere solcher »Abgeschiedenheit« oder »Armut« der Seele keine irgendwie geartete Antizipation des Wissens letztlich, dass meine wahre oder gottheitliche Lebendigkeit die mich je affizierende Selbstverlebendigung des Lebens schlecht­ hin ist. Es gibt nach solcher »Einkehr« dann nicht mehr »meine« Wahrheit« und die »Wahrheit des Lebens«, sondern nur noch eine Wahrheit in der unmittelbaren Einfachheit sowie abgründigen Kraft des Tuns. Dabei sind Schwachheit und Schuld gerade auch bei Meis­ ter Eckhart nicht ausgeklammert, da die »Mächtigkeit des Lebens« keinerlei Triumphalismus bei ihm besagt. Irgendwelche Horizontan­ gaben im Sinne eines gegenständlichen oder situativen »Als« für solches Tun sind hierbei nicht mehr möglich, weil das reine »Wie« des Lebens alle Weisen von Weltsein praktisch im vorhinein immanent in sich einschließt, um in deren jeweilig subjektivem Können die Grundaffektion des letzteren effektiv sein zu lassen und nur noch aus ihrer Kraft zu leben. Damit berühren wir die deutlich von Eck­ hart unterstrichene Tatsache, dass im Sinne seiner »philosophischen Mystik« als historialer Praxis dank der unmittelbaren Gewissheit des Lebens Ontologie und Ethik in ein und derselben originären Phäno­ menalisierung zusammenfallen. Das Leben »ist«, was »zu tun ist«, und zwar nicht im Sinne eines transzendenten Imperativs, sondern im Sinne des Zusammenklangs von Subjektivität/Leben aus dem augenblicklichen Erproben der sich unzurückweisbar vollziehenden Selbstverlebendigung im Mich aus dem ungeteilt »Eigenen« heraus: »Gott sollte enthöht werden. […] Was oben war, das wurde inne. Du sollst geinnigt werden, und zwar von dir selber in dich selber, so dass er in dir sei, nicht, dass wir etwas nehmen, von dem, was über uns sei, wir sollen es vielmehr in uns nehmen, und sollen es nehmen von uns (selbst) in uns selbst.«431 Um an dieser Stelle dem möglichen Einwand der Beliebigkeit solchen Tuns zu begegnen, ist zu antworten, dass Beliebigkeit Wahl – und damit ein distanziertes Abwägen – voraussetzt. In der unmittel­ baren Ontologie des Lebens als kriteriologischer Ethik, das heißt im je unüberhörbaren Selbstanspruch des Lebens an sich selbst, welcher sich im Mich affektiv manifestiert, gibt es zwischen diesem Mich 431

Predigt 14: Werke I, 169.

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und dem Leben keinerlei Distanz mehr, so dass Leben und Mich das Selbe bewirken. In der eckhartschen Mystik als originärer Einheit von Freiheit und Wollen aus dem Ab-Grund ein und demselben gottheit­ lichen Gebären als »Sein« heraus ist daher nicht nur das Vergessen des Lebens seitens des Ich aufgehoben, sondern das Mich verwirklicht sich selbst ausschließlich im Modus reiner Lebensabkünftigkeit des »Grundes«, welcher mit der zeitenthobenen Lebensübereignung als solcher identisch ist. Natürlich ist jeder »Mensch« als transzendental Lebendiger stets ein im Leben Gezeugter, und zwar selbst dann, wenn er nicht darum weiß und der zuvor genannten Illusion seines intentionalen Ich folgt. Er wird im strengen Sinne durch das Erproben der ausschließlichen Mächtigkeit des Lebens in ihm als »Enthöhung Gottes« kein »anderer« Lebendiger, sondern die mystische Leere realisiert nur in letzter Klarheit die unzerstörbaren Usprungsverhält­ nisse, welche dem Wesen des Erscheinens und seiner immanenten Offenbarung zukommen. Weil diese reine Rekurrenz im Tun als prak­ tische Umwandlung der Erprobung des Tuns selbst geschieht, nämlich sich nur noch als Kraft aus der Selbstvergessenheit des Lebens als solchem heraus zu erproben, ist diese Ursprungsphänomenalität theoretisch nicht einholbar. Sie bildet daher in der Identität von Ontologie/Ethik eine absolut praktische Phänomenologie, wie sie sich außer an Meister Eckhart auch bei Spinoza und Fichte etwa ablesen lässt, worauf wir bereits verwiesen. So heißt es in der Predigt 38: »In Gott aber ist volle Kraft; darum bringt er in seiner Geburt sein Ebenbild hervor. Alles, was Gott ist an Gewalt und an Wahrheit und an Weisheit, das gebiert er vollends in die Seele.«432 Oder auch im »Kommentar zum Buch der Weisheit«, wo die Themen Geburt, Bild und Schweigen miteinander verbunden werden: »Soll Gott in uns geboren werden, indem er in unseren Geist eintritt, ist es notwendig, dass ›ruhevolles Schweigen alles umfängt‹. Der Sohn ist nämlich das Bild des Vaters, und die Seele ist nach dem Bilde Gottes (hervorgebracht). Das Bild aber ist aufgrund seines Wesens und seiner Wesenseigentümlichkeit eine formbestimmte Hervorbringung beim Schweigen der Wirkursa­ che und der Zielursache, die im eigentlichen Sinne das Geschöpf von außen betrachten und ein Ausquellen darstellen. Das Bild als

432

Werke I, 413.

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ein formbestimmtes Ausfließen, bedeutet im eigentlichen Sinne ein Quellen (in sich).«433 Lässt sich Eckharts Denken von der eigenwesentlichen Selbstof­ fenbarung des Lebens als solchem im Sinne der »Gottheit« nicht lösen, dann beinhaltet eine solche Mystik als Erproben der inneren Praxis der Lebensabsolutheit ein unverzichtbares Korrektiv gegen­ über jeglicher Verkürzung sowie Überschätzung der Subjektivität, sofern darunter die originäre Passibilität des Mich in der Lebens­ selbstgebung verstanden wird und kein »imperiales Subjekt« zur Dingbeherrschung. Deshalb heißt es in der Predigt 40: »Das erste ist, dass der (Mensch) von sich selbst und von allen Dingen abgelassen habe und an keinen Dingen mehr hänge, die die Sinne von innen berühren, noch auch, dass er nicht in irgendwelchen Kreaturen ver­ weile, die da in Zeit oder in Ewigkeit sind.«434 Letztlich ist sogar die Individualität jedes Menschen in der incarnatio continua fundiert, denn der unzerstörbare Sachverhalt, »in diesem bestimmten Sein (das ›ich‹ bin), dieser Mensch zu sein«, impliziert den uranfänglichen »Ausfluss« aus der reinen Gottheit Gottes heraus, welche sich präka­ tegorial in sein Wort als »Sohn« ergießt, um auch »uns« als jeweiliges »Ich« in solch abgründiger Einheit sein zu lassen.435 Insofern ist es missverständlich, wenn Niklas Largier davon spricht, der Mensch müsse seine kreatürliche »Individualität« aufgeben.436 Denn was ich als »kreaturhafte Natur« aufgeben kann, setzt voraus, dass im Akt der Ablösung von dieser Natur die seinshafte Originarität der Einheit mit der Gottheit als reines »Ist« gewahrt bleibt. Damit ist nicht nur »die Menschheit im ärmsten und verachtesten Menschen ebenso vollkommen wie im Papst«,437 sondern die »Menschheit«, die ich in mir trage, verwirklicht eine effektive Ur-Ipseität als meine absolute Individuierung. Diese stellt keine abstrakte Allgemeinheit »aller Menschen« dar, sondern eine je unmittelbare Zeugungswirk­ lichkeit wie die einmalige Inkarnation des Wortes in Gott. Meister Eckhart kann daher präzisieren: »Ihr sollt wohl unterschieden sein nach der leiblichen Geburt; in der ewigen Geburt aber sollt ihr eins sein, denn in Gott ist nichts als ein naturhafter Ursprung; und darum 433 434 435 436 437

N.283f. (S. 138). Werke I, 429. Vgl. Predigt 30: Werke I, 341. Vgl. N. Largiers Kommentar in Werke I, 762f., 900, 946 u. 1031. Predigt 25: Ebd., 291.

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ist da nur ein naturhafter Ausfluss des Sohnes, nicht zwei, sondern einer.«438 Mit anderen Worten ist die »Idee« der Individualität nicht von der Gattung »Mensch« her gedacht, das heißt bloß numerisch als materielle Vereinzelung menschlichen »Seins«, sondern als eine nicht begrifflich auflösbare »Geburtswirklichkeit« in Gott, die für Eckhart mit dem Einzigen Sohn als dem Gott innewohnenden Wort identisch ist. Insofern stimmt es natürlich, dass für den Menschen – wie »bei allem Erschaffenen« – »Sein und Wesenheit verschieden« sind, während Gottes Sein zugleich seine einmalige Washeit bildet,439 bzw. in der gottheitlichen Aussage »Ich bin, der ich bin« das Subjekt mit dem Prädikat eins ist, das »Benennende selbst das Benannte selbst« darstellt. Aber dieses gattungsunabhängige »Selbstgenügen« Gottes in allem, welches den »Unterschied zwischen Substanz und Vermögen, Sein und Wirken« aufhebt, stellt sich auch für die radikal lebendige »Individualität« des transzendentalen Menschen anders dar, das heißt diesseits der metaphysisch begrifflichen Prinzipien eines christlichen Hylemorphismus wie Neuplatonismus. Es wird dann zwischen Vermögen und Substanz keine zeitlich ontologische Differenz mehr gesehen, sondern ihre Identität von uranfänglich gezeugtem Leben als Ipseität in der selbstaffektiven Passibilität dieses Lebens selbst. Damit wird der Mensch nicht zu einem gottimmanent »notwendigen Sein«, weil er seine Wesenheit »immer während« in sich selbst durch sich selbst einschlösse, was Eckhart mit Recht im selben »Exoduskommentar« abwehren will. Vielmehr ist er durch die Identität von Ipseität (Substanz) und Lebendigkeit (Vermögen) eine ewige Ipseisierung des absoluten Lebens, die nichts anderes in sich trägt als das selbstaffektive Wesen dieses Lebens selbst – dessen je einmalige Bestimmheit als Gebären oder isticheit im Sinne Eckharts. Dies würde dann seiner Aussage im selben Kontext entsprechen: »Jede Vollkommenheit bedarf Gottes, der das Sein selbst ist, weil jedes Einzelne davon in sich und aus sich seinem Wesen nach nur eine Weise des Seins selbst ist, auf ihm ruht, an ihm hängt.«440 Dadurch verschränken sich die beiden kritischen Zentralfragen in unserer ganzen Untersuchung in Bezug auf Eckhart, nämlich nach dem Status des Affektiven und Individuierten, die als »Weise« im Sinne einer 438 439 440

Predigt 46: Ebd., 491. Exodusauslegung, n.18 – 21. Ebd., n.21 (Hervorhebung R.K.).

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je konkret verwirklichten Modalität des absoluten Lebens ein und dieselbe phänomenologische Wirklichkeit bilden: »Jedes Wirkende hat naturgemäß von sich aus über all das und nur das Macht, was im Bereich seiner Form liegt, die der innere Ursprung seines Wirkens ist. Das Sein aber ist der Ursprung alles göttlichen Wirkens«,441 so dass jedes transzendentale Leben an dieser »Über-Mächtigkeit« des Lebens im Sinne Michel Henrys teilhat. Dem entspricht folgender Satz Eckharts: »Mittels des reinen Vernunftvermögens, ›in dem keine Vielheit ist‹, wirkt der Mensch sehr Verschiedenes.«442 Damit ist die prinzipiell praktische Weiterbestimmung der eck­ hartschen Mystik angedeutet, und zwar als reine Erscheinensphä­ nomenalität einer religions- und kulturphilosophisch wie ethisch relevanten Lebensmystik. Eine längere Aussage Meister Eckharts hierzu kann im Zusammenhang mit dem bisher Gesagten besonders deutlich machen, dass sich eine solche radikal phänomenologische Betrachtung und das mystisch philosophische »Erkennen« gerade auf der zuletzt von uns herausgestellten Ebene der je individuierten Praxis treffen. In seiner Predigt 39 nämlich gibt Meister Eckhart des Weiteren zu verstehen: »Darum, willst du leben und willst du, dass deine Werke leben, so musst du für alle Dinge tot und zunichte geworden sein. Es ist der Kreatur eigen, dass sie aus etwas etwas mache; Gott aber ist es eigen, dass er aus nichts etwas macht. Soll daher Gott etwas in dir oder mit dir machen, so musst du vorher zu nichts geworden sein. Und darum geh in deinen eigenen Grund und wirke dort; die Werke aber, die du dort wirkst, die sind alle lebendig. […]. Denn, dafern dich irgend etwas von außen zum Wirken anstößt, wahrlich, so sind alle solche Werke tot [...]. Sollen aber deine Werke leben, so muss Gott dich inwendig im Innersten der Seele anstoßen, wenn sie (wirklich) leben sollen; da ist dein Leben, und da allein lebst du.«443 Narzisstischer Nutzen, Lust oder Seligkeit als Suche nach »meinem Werk« sind dann gerade im tiefsten »Eigenen« nicht mehr möglich, denn die Gottesgeburt bindet den »eigenen Willen« so an Gottes eigenes Wollen, dass nur ein »Enzig Eines« gegeben sein kann. Und insofern die Gottesgeburt der Seele dem ungeteilten innertrinitarischen Geschehen entspricht, kann Eckhart sogar sagen:

441 442 443

Ebd., n.28. Ebd., n.43. Werke I, 423f.

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»Dann empfängt der Heilige Geist sein Sein und sein Wirken und sein Werden von mir ebenso wie von Gott, weil ich in Gott bin.«444 Folgt man daher dieser rein innerpraktischen Wahrheit des lebendig gottheitlichen »Wirkens« im Sinne Meister Eckharts, dann ist nicht nur der bloß gedachte »Gott« als fremde Ursache solchen Handelns aus der absoluten »Lebensinwendigkeit« heraus zu tilgen, sondern die Mystik darf sich dann nicht einmal selbst mehr als »Mystik« wissen. Sie wäre sonst die Inanspruchnahme eines partiku­ lären Gefühls, anstatt im ab-gründigen Lebensgefühl die Kraft des Handelns für das Mich ankünftig werden zu lassen. Gleiches gilt für das Wirken nach außen in Bezug auf Welt und Andere. Sie werden nicht situativ in ihrer besonderen Anfrage oder Not »Anlass« für ein Tun, sondern das Tun fließt je aus sich selbst heraus, sofern es als Tun des Lebens nichts anderes als die stete Verlebendigung allen Seins »wollen« kann. In diesem Sinne lässt sich dann zusätzlich sagen, dass die »Geburt Gottes«, von der Meister Eckhart in seinem Sprechen stets ausgeht, mit der »Geburt der Welt« identisch ist. Die eckhartsche Mystik erweist sich hierdurch kriteriologisch zugleich als ebenso universal wie singulär. Im absoluten »Voraus« des Lebens hat sie alles Lebendige immer schon berührt und ist in ihm gegeben, aber sie bleibt singulär, sofern sie nur praktische Gewissheit in der je subjektiven Erprobung des Einzelnen zu werden vermag. Dass damit zugleich eine »Brüderlichkeit« aller begründet ist, dürfte sich von selbst verstehen, da wir uns letztlich nur in der Wahrheit dieser ipseisierten »Menschlichkeit« aller untereinander begegnen und als inkarnierte Lebendige wirklich relational wieder erkennen: »Solange du mit deinen Werken (noch) irgendwie mehr auf dich selbst hingewendet bist oder auf einen Menschen mehr als auf einen anderen, so lange ist Gottes Willen noch nicht recht dein Wille geworden.« Daher kennt Eckhart schließlich die Klage der Leute: »Es ist (doch wohl) ein gar schweres Wort, dass wir nach keinerlei Lohn (für unsere Tugend) begehren sollten!« Worauf er antwortet: »(Gott) ist viel nötiger uns zu geben, als uns, zu empfangen; wir dürfen es aber nicht darauf absehen, denn, je weniger wir danach streben und begehren, um so mehr gibt Gott.«445. Ebenso unterstreicht die »Exo­ dusauslegung«: »Man muss also wissen, dass Gott keinem Seienden fremd ist. […] Wem nämlich das Sein fremd ist, das ist nichts. […] 444 445

Predigt 25: Ebd., 285–289. Predigt 41: Ebd., 447.

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Nichts ist weniger fremd als das, was den Dingen zuinnerst ist und sie ganz durchdringt. Das aber ist das Sein, das Gott ist, die Fülle des Seins.«446 Wenn man deshalb von der Gabe sprechen will, welche mit dem Weltsein ohne Illusion verbindet, dann sollte zugleich Klärung darüber erzielt werden, was der reine Gabencharaker aus der Gottheit heraus phänomenologisch beinhaltet. Jede Art von Gabe im Horizont feststellbaren Gebens scheint einen Geber sowie die eigentliche Gabe selbst als Übereignung als auch einen Anlass und ein Ziel bzw. einen Zweck der Gabe einzuschließen. So kann ein Geschenk zu Festen und Gedenktagen erfolgen, ein Testament an einen Erben verfügt oder einfach Zeit gewährt werden. In all diesen und ähnlichen Fällen ist es noch relativ einfach, jeweils einen Gebenden sowie einen oder mehrere Empfänger zu benennen und auch die gewünschte Wirkung eines weitergereichten Gegenstandes oder Mittels als Zielursache auszumachen. Beim »Zeit geben« kann dies schon schwieriger wer­ den, denn falls die gewährte Zeit nicht an einen unmittelbaren Anlass gebunden ist, bedeutet sie vielleicht nur eine allgemeine Disposition, welche ich dem Anderen einräume, damit er seine eigenen Entschei­ dungen in Ruhe und Freiheit treffen kann. Die Gabe ist hierbei schon weniger eindeutig identifizierbar, und auch das Verhältnis zwischen Gebendem und Empfangendem gestaltet sich weniger einseitig wie bei einem einfach überreichten Geschenk. Denn derjenige, dem »Zeit gegeben wird«, tritt aktiver in ein solches Gabengeschehen ein als im Fall des Geschenks. Jedenfalls findet jedoch in allen zuletzt genannten Möglichkeiten ein mehr oder weniger passiv/aktiver »Austausch« statt, und wir können deshalb hier allgemein sagen, dass überall dort, wo ein solcher Austausch gegeben ist, die Struktur der ökonomischen Zirkulation überhaupt herrscht. Es wird etwas gegeben, damit ein Effekt eintritt, sei es die Freude, der Dank, die Bewahrung des Erbes oder ein größerer Freiheitsraum.447 Meister Eckhart diskutiert genau dieses Verhältnis als »Kauf­ mannsmentalität« in seiner Predigt 1: »Seht, alle die sind Kaufleute, die sich hüten vor groben Sünden und wären gern gute Leute und tun N.104f.; vgl. ebd., 106f. Vgl. J.-L. Marion, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 1997, 103ff. (dt. Gegeben sein. Entwurf ekner Phänomenologie der Gegebenheit, Freiburg/München 2015), als Replik auf J. Derridas Gabenkritik: Falschgeld. Zeit geben I, München 1993. 446

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ihre guten Werke Gott zu Ehren, wie Fasten, Wachen, Beten und was es dergleichen gibt, allerhand gute Werke, und tun sie doch darum, dass ihnen unser Herr etwas dafür gebe oder dass ihnen Gott etwas dafür tue, was ihnen lieb wäre: dies sind alles Kaufleute. […] Denn, was sie sind, das sind sie durch Gott, und was sie haben, das haben sie von Gott und nicht von sich selbst.«448 In der »Exodusauslegung« the­ matisiert Eckhart die reine Gabe auch am Beispiel des Manna: »Das Manna, das heißt jede Art himmlischen und göttlichen Geschenkes, hat diese Eigenschaft: wenn es göttlich ist und sofern es göttlich ist, ist das kleinste ebenso wohlschmeckend, ebenso süß, stillt ebenso den Hunger des gerechten und vollkommenen Mannes, wie das größte, (also) dieses nicht mehr und jenes nicht weniger. [Denn] im Einen gibt es nichts Größeres oder Geringeres.«449 Im privaten wie öffentlichen Bereich dieser Zirkulation sind alle denkbaren »Gabenverhältnisse« möglich, denn die Weisen, wie Menschen miteinander direkt oder durch Tauschmittel wie Güter, Waren, Dienstleistungen usw. Beziehungen eingehen, sind so vielfäl­ tig wie die Situationen, Absichten und Ziele menschlichen Handelns selbst. Auch der göttliche Bereich wurde in frühen Religionsformen unmittelbar mit in eine solche Gabenrealität der Gegenseitigkeit einbeschlossen, indem man etwa den Göttern opferte, damit sie Regen oder andere Wohltaten spendeten. Diese Haltung des Do ut des ist nicht nur deshalb einem »magischen Denken« allein zuzuschreiben, insoweit sie auch in heutigen Glaubensformen noch vielfach das Verhältnis zu Gott bestimmen, sondern dieses Gesetz, dass »man gibt, damit gegeben werde«, lässt sich säkularisiert als die gelebte Alltäglichkeit des »freien Marktes« selbst ansehen.450 Wenn aber all unsere Handlungen, Vorstellungen und Motivationen einem solch ökonomischen Gabenverhältnis unterliegen, dann dürfte es schwie­ rig sein, in diesem Horizontraum »gegenseitiger Zirkulation« eine wirkliche »Gabe« auszumachen, welche nicht schon im Voraus mit ihrem Effekt verrechnet wird, das heißt, die Erwartung einer Rückgabe beinhaltet. Um diese begriffliche Zweideutigkeit zu vermeiden und Werke I, 13. N.90. 450 Vgl. R. Kaufmann, »Einführung zum Gabe-Phänomen und -Diskurs«; »Gabe und die Dativ-Struktur menschlicher Existenz«, in: S. Gottlöber u. R. Kaufmann (Hgg.), Gabe, Schuld, Vergebung. Festschrift für Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Dresden 2011, 21–68 u. 167–200. 448

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von der Gabe ohne Effektkalkül als reinem »Sich-Geben« sprechen zu können, soll diese Verbalform darauf hinweisen, dass es ein immanent praktisches Geben ohne benennbaren Geber (Gott), Anlass und Effekt (Bild) aufzuweisen gilt. So entgeht man im Sinne einer mystischen Kriteriologie jeder problematischen Tauschökonomie, wie es für ein radikal phänomenologisches Verhältnis von Leere/Fülle ebenfalls angezeigt ist. Hierzu verfolgt Meister Eckhart seine Begründung bis in die ontologisch letzte Sphäre der Gottheit selbst hinein: »Der dritte Punkt des Reichtums (Gottes) ist der, dass man ohne Gegenerwartung (Erwartung einer Gegengabe) gebe; denn wenn einer irgendetwas um irgendetwas gibt, der ist nicht vollends reich. Darum ist das Reichsein Gottes daran erwiesen, dass er alle seine Gaben umsonst gibt.«451 Damit bewegen wir uns hier auf die rein phänomenologische Fra­ gestellung zu, ob es tatsächlich eine Möglichkeit der Welt-Hin-Gabe gibt, in der sich die Lebens-Gabe so vollzieht, dass sie nichts mehr für sich erwartet, sondern als reines Leben in dessen Geben an die Welt aufgeht? Dass es sich um keinen moralischen Standpunkt dabei handelt, sondern um das vielleicht tiefste Lebensgefühl selbst, wie sich Leben und Weltsein miteinander verknüpfen können, zeigen ansatzweise einige sprachliche Wendungen wie »die Natur gibt alles« „ es gibt …«, jemand »hat alles gegeben«, »sich den Tod geben«. Es dürfte hier noch schwieriger sein, einen jeweils unmittelbaren Geber auszumachen, denn nicht nur das »Es« im »Es gibt« scheint unbestimmt und anonym, sondern auch der Gabenursprung in der Natur oder des Todes erschließt sich uns in der Wahrnehmung nicht unmittelbar. Für die Griechen war es die physis, welche allem Seienden »Anwesenheit« gewährte, weshalb der eigentliche Ursprungsakt der Natur als »Hervorbringung« die Bewegung der genesis war, worin für Aristoteles das Wesen alles Lebendigen beruhte, wie er in seinem Werk »Über die Seele« sagt.452 Diesen Gedanken greift Heidegger in seiner Bestimmung des »Es gibt« unter anderem auf, indem er im »Ereignis« des Seins jene Offenheit des »Es« erblickte, welche sich uns als Zeitlichkeit »zu-schickt«.453 Und wir können weiterfragen, Predigt 47: Werke I, 499f.; vgl. ebd., 503. 408bff.: Werke, Band 13 (Hg. W. Theiler), Berlin 1994, 17; vgl. A. Hilt, Ousia – Psyche – Nous. Aristoteles’ Philosophie der Lebendigkeit, Freiburg/München 2005, 177ff. 453 Vgl. Zur Sache des Denkens, Tübingen 31988, 18ff.; R. Kühn, Radikalisierte Phä­ nomenologie, Frankfurt/M. 2003, 50–74: »Ereignis als zeitliches Geben und Bedür­ fen«. 451

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ob sich das Individuum, welches »sich den Tod gibt«, indem »es sich das Leben nimmt«, nicht gerade so am deutlichsten bekundet, dass alle Gaben der Natur oder des Seins, welche scheinbar hierfür verneint werden, dadurch noch keineswegs auch eine letzte Aussage über ein frag-würdiges – und doch noch erstrebenswertes – »Leben« beinhalten.454 In anderer Hinsicht ist auch keineswegs eindeutig, was überhaupt gegeben wird, wenn jemand »alles gibt« – sind es bloß seine Kräfte, wie etwa beim Sportler, oder ist es er »selbst« in der Gänze seiner Person, wie im Fall der Liebe? Meister Eckhart erinnert uns prinzipiell an diese Problematik allen Liebens: »Es besteht ein großer Unterschied zwischen Gottes Liebe und unserm Lieben: Wir lieben nur, soweit wir Gott in dem finden, was wir lieben. Selbst, wenn ich es (anders) geschworen hätte, ich könnte doch nichts anderes lieben als (göttliche) Gutheit. Gott aber liebt (nur), soweit er gut ist, – nicht (also), das er irgend etwas im Menschen finden könnte, das er liebte, als seine eigene Gutheit – und (uns), soweit wir in ihm sind und in seiner Liebe.«455 Von unserer eigenen selbstempfindenden Lebensunmittelbar­ keit her lässt sich sicher ein Hervorbringungscharakter des Lebens als Bewegung der genesis spontan anerkennen, insofern sich das Leben in seiner inneren Selbstbewegtheit so gibt, dass Ursprung wie Vollzug seiner Bewegung stets in ihm selbst verbleiben. Mithin ohne aus diesem Leben als transzendentaler Lebendigkeit herauszutreten und etwas Anderes als sich selbst in diesem Vollzug zu dessen unterschiedlichster Verwirklichung in Anspruch zu nehmen. Dass wir dabei keineswegs das Gefühl einer Monotonie im Sinne einer linear physikalischen Bewegung in uns verspüren, macht deutlich, dass solches Sich-Geben des Lebens ständig historiale Veränderung bleibt, ohne diesem Sich-Geben etwas nehmen oder rückerstatten zu können. Denn selbst Ruhen und Essen sind Vollzüge, in denen das Leben ganz es selbst bleibt, obwohl wir dabei etwas »für« das Leben tun. Ich kann also mit dem originären Leben niemals in irgendein Tauschverhältnis eintreten, so dass es von vornherein alle ökonomische Zirkulation im Sinne einer berechnenden Vorstellung sprengt, um reiner »Austausch« in sich selbst zu sein, nämlich sich selbstempfangend/selbstgebend fortzuzeugen: »Manche Leuten wol­ 454 Vgl. J. Schlimme, »Suizidalität und Verzweiflung«, in: Psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur 2 (2007) 184–198. 455 Predigt 41: Werke I, 457; vgl. auch Predigt 45: Ebd., 487.

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len Gott mit den Augen sehen, mit denen sie eine Kuh ansehen und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Du liebst sie wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten’s alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtum oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.«456 Und genau diese selbstaffektive Identität der Gabe Gottes als der Gabe des Lebens ist keine anonyme Ermöglichung von »Sein«, indem »es« sich er-eignet, wie bei Heidegger,457 sondern dieses »Sich« des Sich-Ereignens des gottheitlichen Lebens ist eine je einmalige inkarnatorische Lebendigkeit zu jedem Augenblick als prinzipielle Individuierung der rein passiblen Selbstheit des »Mich«. Wo »ich« im Leben »bin«, vollzieht sich die absolute Geburt des Lebens als meine unauslöschbare generatio, die mehr ist als zeitliche genesis, so dass ich in dieser generativen Bewegung des göttlichen Lebens, welche ich ständig als mein Sein empfinde und nicht denke, mein reines »Mich« zugleich mitempfinde, welches die absolut phänome­ nologische Konkretion des Sich-Gebens des Lebens in der reinen Immanenz seines Sich-Empfangens ist: »Alles, was je erdacht werden könnte an Lust und an Freude, an Wonne und an Liebenswertem, hält man das gegen die Wonne, die in dieser Geburt liegt, so ist es keine Freude mehr.«458 Im »Mir-Gegebensein« des Lebens empfange nicht ich ursprünglich das Leben, sondern »das Leben« empfängt zunächst sohnhaft »ausfließend« sich selbst. Und in diesem Selbstpathos der lebendigen Ur-Passibilität werde »ich« geboren, ohne irgendeine »Gabe« im Sinne eines Etwas zu haben. Deshalb ist auch die »Gabe des Lebens« grundsätzlich die einzig reine Gabe, welche niemals zurückgewiesen werden kann,459 da sie reine Vollzugsweise des SichGebens des Lebens ist. Darin wird alles aktualisierende Annehmen, Weitergeben und Verneinen erst möglich, und zwar einschließlich der »Todesgabe«. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass der »mystische Tod« als Leere oder Nichts selbst zur Weise der »Gottgleichheit« wird: »Dies ist das erste: dass man tot sei, wenn man Gott schauen will.

Predigt 16B: Ebd., 195. Vgl. ebenfalls L. Dümpelmann, »Meister Eckhart via Martin Heidegger fürs Leben heute«, in: Meister Eckhart-Jahrbuch 15 (2021) 287–308. 458 Predigt 38: Ebd., 415. 459 Vgl. R. Bernet, »Vorwort«, in: M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 6f. 456

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[Das heißt], dass man tot sei für alle Ungleichheit.«460 Eckhart selber problematisiert das biologische Sterben in seinem »Kommentar zum Buch der Weisheit« mit Rückgriff auf Bernhard von Clairvaux wie folgt: »Wer aber vom Tod genährt wird, stirbt immer, und ihm ist immer ›sein neuer Tod‹ (Weish 19,5).«461. Ist mein lebendiges Sein folglich in der ständigen Gebungsrea­ lität des Lebens an sich selbst effektiv gegeben, so wie das Leben sich an sich selbst gibt, ohne etwas Anderes als sich selbst dazu in Anspruch nehmen zu müssen, dann leben wir keinen Augenblick ohne diese reine Vollzugswirklichkeit als praktische Anwesenheit des Sich-Gebens des Lebens Gottes im Sinne der ab-gründig ungeteilten Gottheit. Ob uns dies verborgen ist, oder wir in unserem Verhalten bzw. in unseren Verhältnissen untereinander diese Wirklichkeit ver­ stellen, ja uns sogar »gegen das Leben entscheiden«, hebt dennoch zu keinem Augenblick die Aktualität des reinen Gabencharakters des Lebens auf, wie Meister Eckhart selbst in seinem Sprechen über Sünde und Todsünde noch unterstrich: »Darum gehen Werk und Zeit eins mit dem anderen verloren, ob böse oder gut: sie sind doch gleichermaßen verloren; denn sie haben im Geiste kein Bleiben noch in sich selbst Sein oder Statt, und Gott bedarf ihrer auch in nichts. Darum gehen sie an sich selbst verloren und zunichte. Geschieht ein gutes Werk durch einen Menschen, so entledigt sich der Mensch mit diesem Werke, und durch diese Ledigkeit ist er seinem Beginne gleicher und näher (gekommen), als er es vorher war, ehe die Ent­ ledigung geschah, und soviel ist er seliger und besser (geworden), als er vorher war, ehe die Entledigung erfolgte.«462 Diese Tendenz auf eine Einheit hin zeigt auch die lateinische Predigt XII,145: »(Der Überschwang der Seligkeit) strömt nämlich von den höheren Kräften in die niederen so reichlich ein, dass die sinnliche Empfindung sich in die Natur der Vernunft und die Vernunft in die Natur des Intellekts zu verwandeln scheint […]. Ja, sie strömt sogar in den Leib selbst so reichlich über, dass er als Leib der Seele unterworfen wird, wie die Luft dem Licht, ohne dass sich dabei ein Widerstand erhebt, wie an den Gaben erhellt, welche sind: Durchsichtigkeit, Leidenslosigkeit, Fein­ heit, Beweglichkeit. Dann wird das Leben vollkommen und die Unter­ Predigt 45: Werke I, 483 u. 485. N.289f. (S. 142). 462 Predigt 44: Deutsche Predigten und Traktate, 362; siehe ebenfalls für die folgende Zeit Th.N. Tentler, Sin and Confession on the Ere of the Reformation, New Jersey 1975.

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werfung des Stoffes vollständig sein.«463 Solche »Unterwerfung« wäre dann letztlich als Unmittelbarkeit von Form/Stoff (Materie) oder Vernunft/Empfindung die Aufhebung des Form/Inhalt-Schemas in einem Leben, von dem eine radikalisierte Reduktion ausgeht. Dadurch wird uns nicht seinsgeschichtlich dieses oder jenes »Seinsgeschick« als Geschichtlichkeit letztlich zu-geschickt, um unter solch hermeneutischen Umständen Sein je zu »verstehen«, sondern im Kern eines jeden so scheinbar gewährten »Ge-schicks« berühren wir das Leben als solches, indem es uns zuallererst selbst berührt. Die Frage nach einer möglichen »Welthingabe« des Lebens auf dem Grund der Lebensgabe kann daher nicht länger bedeuten, der Welt etwas Besonderes als »Leistung« geben zu wollen, sondern die Welt mit ihren vielfältigen Bezügen selbst in dieses Leben, welches je mich wie alle anderen affiziert, ohne Einschränkung hinein zu nehmen. Damit erfährt die fundamentalontologische Hermeneutik im Sinne Heideggers eine prinzipielle Umkehrung. Nicht die Offenheit des Seins lässt das Leben »weltlich gesäumt« sein,464 sondern die Welt als mein/unser In-der-Welt-Sein ek-sistiert nur dank der durch nichts zerstörbaren Lebensgabe, insofern ihre Mächtigkeit die »Ohnmacht« ist, sich nicht verweigern zu können, wie Meister Eckhart vom Wesen Gottes sagt: »Gott kann nicht (nur) weniges geben; entweder muss er alles oder gar nichts geben. Seine Gabe ist völlig einfach und vollkommen ohne Teilung und nicht in der Zeit, immerzu (nur) in der Ewigkeit; und seid dessen so gewiss, wie ich lebe.«465 In lebensphänomenologischen Formulierungen wie »Bündnis mit dem Leben« oder »sein Fleisch dem Leben leihen« ließe sich dieses Verhältnis von Lebensgabe/Welthingabe zusammenfassend ausdrücken: »Wahr ist folglich in erster Linie nicht, wovor man sich auszulöschen hat, um es so sein zu lassen, wie es an sich ist [das heißt wie in der wissenschaftlichen Objektivität], sondern dem man Beistand zu leisten hat: seine eigenes Fleisch hinzugeben hat. Denn jede wesenhafte Wahrheit wird nur als dieses Fleisch des Individu­ ums und als dessen eigenes Leben [im absolut phänomenologischen 463 Vierter Sonntag nach dem Fest der heiligen Dreifaltigkeit (Predigten über das Kirchenjahr), in: Lateinische Werke, Band 4, Stuttgart 1956, 136. 464 Vgl. Phänomenologie des religiösen Lebens, 52ff.; siehe außerdem A. Noveanu, Vernehmen – Wahrnehmen – Sinngeschehen. Heideggers Hermeneutik der Gelas­ senheit, Tübingen 2021. 465 Predigt 5A: Werke I, 59.

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Leben] ankünftig.« Daraus ergibt sich die Kritik an den »Ideologien« und »Praktiken der Barbarei« wie Soziologismus, Politisierung und Medialisierung aller Lebensbereiche.466 Die hermeneutisch beschwo­ renen »Selbstdifferenzierungen« des Lebens sind keine »Ent-Faltun­ gen«, welche nur die Ek-stasis der Welt widerspiegeln und konkre­ tisieren. Vielmehr ist die je rein »affektive Differenz« von Freude/ Leid des immanenten Lebens als ununterbrochene Historialität der Individuierung jenes originäre Geschehen oder »Werk Gottes«, um in der Kraft solcher Ur-Affektion die transzendenten oder zeitlichen Weltstrukturen als Horizontbestimmungen sowie Existenzauslegun­ gen zu vollziehen. Denn die Sinngegebenheiten in der Welt, die Farben und Formen ihrer vor-handenen Gegenstände sowie auch alle Situationen eines umweltlichen Mitseins der Zu-Handenheiten als »Zeug«, »gibt es« nur, weil sich sämtliche Weltweisen auf eine innerste Bewegtheit oder Affektion des lebendigen Vollzugs zurück­ führen. In diesem Sinne bedarf die Welt keiner besonderen intentio­ nalen Gabe wie Reichtum, Fortschritt usw. sondern im Grunde allein das Sich-Vollziehen-Lassen des reinen Sich-Gebens des Lebens mit all seinen immanenten Modalisierungen. Denn in der inneren Praxis dieses Vollzugs »weiß« das Leben immer schon als leiblich konkretes Lebenswissen, wessen es bedarf, und zwar um das Leben zu sein und es bleiben zu können, ohne Abstriche durch die Welt zu erfahren. Oder mit Eckhart gesprochen: »Gott liebt nichts außer sich selbst und ihm Gleiches, soweit er es in mir und mich in sich findet. […] Seine Natur und sein Sein: das ist seine Liebe. Wer Gott dessen beraubte, dass er uns liebt, der raubte ihm sein Sein und seine Gottheit, denn sein Sein hängt daran, dass er mich liebt.«467 Nehme ich diese originärste Verknüpfung von Leben/Welt in der Selbstbewegtheit des göttlichen Lebens ernst, dann »bin« ich an keinem anderen »Ort« als an dieser ständigen Entstehung und Bereicherung der Welt als genesis durch die generatio des Lebens. Das Weltsein tritt dann nicht mit Forderungen wie Vernunfttelos, Effizienz, Eigentlichkeit oder Geschichtsoffenheit an uns heran, wel­ che letztlich alle ihr idealistisches Erbe verraten, sondern im reinen 466 Vgl. M. Henry, Die Barbarei, 217; zur Diskussion dieser Analyse im Zusam­ menhang mit dem originären »Lebenswissen« vgl. auch F. Seyler, Eine Ethik der Affektivität. Die Lebensphänomenologie Michel Henrys, Freiburg/München 2010, 40ff. u. 116ff. 467 Predigt 41: Werke I, 437–439.

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Empfinden als Weise des Ankünftigwerdens des Lebens entscheidet sich selbstaffektiv unmittelbar »Welt«. Ich kann die jeweilige Selbst­ impressionalität als Abgründigkeit wie Offenheit auf das Absolute des Lebens hin für meine – eng besorgten – eigenen oder fremden Zwecke »benutzen« oder mich in das hineingestellt sein lassen, was das Sosein des Lebens in seinem Mich-Empfinden von diesem her als Weise des »Grundes« jeweils ankündigt. Die Impression als ältester Weltboden im Selbstwollen des ur-passiblen Lebens ist dann sowohl reinste Originarität der Lebensgabe wie der darin sich abzeichnenden Weltgabe.468 Insofern durchzieht das Gebären Gottes nach Eckhart auch die gesamte Natur: »In dieser Geburt wirkt Gott kraftvoll oder bewirkt er Kraft. Worauf zielt alle Kraft der Natur? – darauf, dass sie sich selbst zeugen will. […] In Gott ist volle Kraft; darum bringt er in seiner Geburt sein Ebenbild hervor. Alles, was Gott ist an Gewalt und an Wahrheit und an Weisheit, das gebiert er vollends in die Seele.«469 Untersucht man das Natur- und Schöpfungsverständnis vor allem im »Weishheits-Kommentar« genauer, und zwar entgegen der Lesart eines »theologischen Absolutismus«, so ist damit das Ergreifen des je eigenen Ziels im Zusammenhang mit dem Ganzen als Rückkehr zum Ursprung unterstrichen.470 Es bedarf mithin keiner weiteren vermittelnden Instanzen zwi­ schen ihnen, etwa des oben erwähnten geschichtlichen Verstehens meiner scheinbar vorgegebenen Seinsbezüge aus deren epochalem Vorverständnis heraus, um als Idee, Wille oder Cogito »authentisch« zu wissen, was zu tun ist. In der Unmittelbarkeit der reinen Lebens­ gabe spricht ohne jeden Horizontverweis das selbstaffektive »Wort des Lebens«, welches keine Interpretation benötigt, um Gewissheit des Tuns zu sein. Und erstellt sich Welt nur in der Ersten Praxis solchen Tuns, wie wir grundlegend für den mystischen Weltbezug aufzeigen wollten, dann ist mit dieser passiv/aktiven Gewissheit die Vgl. zur Analyse der Impressionalität R. Kühn, Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche, Freiburg/München 2009, 104–135: »Weltsein und Empfinden«. 469 Predigt 38: Werke I, 413. 470 Vgl. auch den Kommentar von N. Largier über die Relation von Anfang und Ziel aller Natur (als »Ausfluss«, »Gebären« oder »Begehren«) in der Gottheit ebd., 1034–1037, mit besonderem Bezug auf Predigt 47. Zum Naturverständnis Eckharts siehe ebenfalls E. Waldschütz, »Probleme philosophischer Mystik am Beispiel Meister Eckharts«, in: E. Jain u. R. Margreiter (Hgg.), Probleme philosophischer Mystik, 71–92. 468

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Gabe des Lebens auch zugleich Gabe für die Welt. Nämlich als unver­ zichtbares »Weltgefühl« aller »Kreatur in Gott«, worauf alles weitere Wirken nach Meister Eckhart aufbauen kann: »[Gott] ist weder dies noch das, und so lässt sich der Vater nicht daran genügen, vielmehr zieht er sich wieder in den Ursprung, in das Innerste, in den Grund und in den Kern des Vaterseins, wo es ewiglich innen gewesen ist in sich selber in der Vaterschaft, und wo er sich selbst genießt, der Vater als Vater sich selbst im einigen Einen. Hier sind Grasblättlein und Holz und Stein und alle Dinge Eines. Dies ist das Allerbeste, und ich habe mich darein vernarrt.«471 Die beispielhaften Vergleiche, welche Eckhart an anderer Stelle für solches Welt- und Lebensverständnis gebraucht, sprechen daher für sich, indem etwa Zweig und Baum als »Aussprießen« das Selbe beinhalten, das Sein der Blume – in der Gottheit gesehen – edler als die ganze Welt sein kann, bzw. auch die Raupen, die vom Baum fallen, das Sein weiter begehren.472 In diesen konkret ästhetischen Naturvergleichen scheint nicht nur Eckharts prinzipielle Berücksichtung der Kosmologie als identisch mit seiner metaphysischen Prinzipienlehre auf, die besonders im »Opus triparti­ tum« sowie dem »Weisheits-" und »Johannes-Kommentar« genannt wird, sondern darin gelangt auch ein ganz individuelles Empfinden zu seinem Ausdruckt. Dadurch erweist sich seine »Scholastik« zugleich immer auch als »Mystik« im Sinne einer »Lebenslehre«,473 aber vor allem bewegt sich sein gesamtes Denken in einer prinzipiellen Intuition, welche als im selbsterprobten Affekt gegründet auftritt. Dieser ließe sich die Freude Eckharts an Sein und Leben nennen, die er überall in seinem Denken kommuniziert – begleitet von einer davon nicht getrennten höchsten Reflexion, die zustimmend wie kritisch zugleich ist, weil sie in einem solch einheitlichen Lebens-, Gottes- und Weltgefühl verwurzelt ist. So wird verständlich, dass mit der einen Geburt Gottes – als dem »Werk« schlechthin – alle Dinge ausfließen, bzw. in der mit der Gottheit vereinten Seele eine Macht und Kraft wirkt, in der »sie sich selbst ohne Unterlass gebiert 471 Predigt 51: Werke I, 543; vgl. auch die Beispiele zu Fuchs, Hund und Ameise in der »Exodusauslegung«, n.44, welche die »Vollkommenheit« in den natürlichen Äußerun­ gen dieser Tiere betonen. Zum Verhältnis von Einheit/Trinität siehe ebenfalls M.-A. Vannier, »L'čtre, l'Un et la Trinité chez Eckhart«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryken (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un, 133–140. 472 Vgl. Predigt 16A u. 8: Ebd., 185 u. 101. 473 Vgl. G. Visser, »Lebensphilosophie und Religion. Zur Aktualität Meister Eck­ harts«, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 15 (2021) 29–54.

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und alle Dinge in einem gegenwärtigen Nun«.474 Daraus ergibt sich im »Kommentar zum Buch der Weisheit« über eine eindeutige Reduktion aller Vermittlung: »Bei der Ankunft des Sohnes in den Geist muss alles schweigen, was in der Mitte dazwischen steht. Die Natur des Mittleren widerspricht der Einigung, die die Seele mit Gott und in Gott erstrebt. Der Grund dafür ist erstens, dass das Sein aufgrund seiner Natur das Erste und das Letzte ist, Anfang und Ende, keineswegs gibt es (dazwischen ein anderes) Mittleres, da es ja selbst das Mittel ist, durch dessen Vermittlung allein alles ist, alles darin ist und geliebt oder gesucht wird, Gott aber ist das Sein selbst.« Außerdem wird dann auf das Beispiel der transzendentalen Gerechtigkeit verwiesen, um zur schon genannten Notwendigkeit des radikal reduktiven Schweigens zu gelangen: »Man muss also den Gedanken des Mittels ablegen, übergehen, verschweigen und beruhigen, damit die Seele in Gott ruhe.«475 Demzufolge ist die Mystik der vollkommen apperzeptiven Leere die innere Freude allen Tuns, welches alle Dinge aus solcher Einheit heraus ergreift, nämlich als jene ursprüngliche religio, welche eben­ falls die Welt unmittelbar auf »Gott« bezieht. Denn insofern die radikal phänomenologische Analyse das Wesen des Religiösen in dessen ungeteiltem Erscheinensgrund aufsucht, kann sie gar nicht anders, als auf diese Weise auch das Weltsein mit zu denken, wie es vom Leben hervorgebracht wird, das heißt in Rückbindung an alle geeinten Individuen sowie auch Naturen und ihre subjektiven Kräfte. Dieses dergestalt aufgewiesene Weltsein ist dann nicht eine aspekthafte Beschreibung isolierter Weltphänomene, sondern die Weltwirklichkeit selbst in ihrem Entstehen aus den transzendentalen Leistungen der lebendig ab-gründigen Subjektivität heraus. Der phä­ nomenologische Grundcharakter der ersten mundanen Weltmanifes­ tation ist dabei jenes originäre Widerstandsgefühl, welches sich uns ausschließlich im Selbstempfinden der Anstrengung darbietet, mit­ hin allein im Verhältnis zu immanent leiblichen Bewegungsformen. Wenn ein solch erstes Welterscheinen so primordial an unsere Leib­ lichkeit gebunden ist, wie gerade die Analysen zu Maine de Biran und Merleau-Ponty zeigen, dann wäre mystisch wie phänomenologisch die Welt nie abgetrennt vom subjektiven Vollzug solcher Leiblichkeit

474 475

Predigt 49: Werke I, 529; vgl. auch Predigt 43: Ebd., 459f. N.284f. (S. 139).

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zu sehen.476 Die Bedeutung des Einheitsdenkens Eckharts für eine heute erneuerte Weltsicht kann also nicht geleugnet werden: »Nun sagt ein heidnischer Meister: ›Die Seele hat diese Kraft (das heißt in der ›möglichen Vernunft‹), das Vermögen, geistig alles zu werden. In der wirkenden Kraft gleicht sie dem Vater und wirkt alles zu einem neuen Sein..[…] Mit der ›wirkenden‹ Kraft (aber) trägt sie alle Dinge hinauf zu Gott, und sie ist alle Dinge in diesem Morgenlicht.«477 Gerade die Ablösung der Weltobjektivität von ihrer subjektiv leiblichen Praxis in der Modernität, um sie rein abstrakten oder technischen Prozessen auszuliefern, impliziert eine Ideologie – oder sogar Idolatrie – des Welthaften, deren einseitige Vorherrschaft im Denken von heute eine kriteriologische Mystik grundsätzlich mit zu berücksichtigen hat. Denn die Idolatrie des Welthaften führt nicht nur zu einem Marginalisieren der religiösen, ethischen wie ästhetischen Traditionen, sondern zu einer Angleichung der Individuen an ein rein objektivistisches Weltsein. Dass die Mystik gegenwärtig einen epistemologisch problematischen Stellenwert im Kanon der philoso­ phischen, theologischen, geschichtlichen oder post-strukturalistisch orientierten Humanwissenschaften einnimmt, liegt nicht nur daran, weil Psychologie, Linguistik und Soziologie sich ihres Gegenstands rein kulturethnologisch bemächtigen, wie sich schon seit Lucien Levy-Bruhl und Émile Durkheim beobachten lässt.478 Vielmehr ist die grundsätzliche Rezeptionsproblematik für eine radikal transzen­ Vgl. M. Henry, Inkarnation., 216ff., wo sich diese Analysen in Verbindung mit dem originären »Ich kann« und der »Passibilität des Fleisches« vollziehen; zu Maine de Biran und Merleau-Ponty ebd., 181ff. u. 216ff. Zum Vergleich siehe ebenfalls M. de Certeau, La fable mystique I, 225–242: »Un préalable: le ›volo‹ (de Maître Eckhart à Madame Guyon)«. 477 Predigt 37: Werke I, 403f., wobei Eckhart sich hier auf Aristoteles und Avicenna bezieht. Dies entspricht dem ersten Ausbruch, wo die Seele in der reinen Vernunft lebt, ohne »Zeit zu berühren«; vgl. Predigt 43: Ebd., 459. Zu dieser »entblößenden Intellekttheorie« vgl. auch K. Flasch, Meister Eckhart, 60ff., 91, 114 u. 120f., der sie zusätzlich in der Linie von Johannesevangelium – Proklos – Augustinus – Dietrich von Freiberg verortet. 478 Vgl. C. Levy-Bruhl. L’expérience mystique, Paris 1938, im Anschluss an seine vorhergehenden Werke über »primitive Mentalität« und Mythologie; É. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912), Wiesbaden 2007. Siehe dazu bereits die Kritik von Henri Bergson, wie wir sie in unserer Hinführung und Grundlegung, Kapitel 1 schon aisführten. Es folgten die strukturalistischen Arbeiten von Claude Lévy-Strauss, um von den cultural studies heute abgelöst zu werden, die mittlerweile weitgehend den einzigen Referenzrahmen auch für die Religionswissen­ schaft(en) darstellen. 476

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dentale Fragestellung immer mehr aus dem Blickfeld gerückt, weil die Individuen als solche sich selbst schon nicht mehr in der Sphäre einer originär rezeptiven Transzendentalität verankert erleben. In dieser Hinsicht teilt also eine in sich konsequente kriteriologische Mystik jenes Geschick, welches heute der reinen Subjektivität droht, nämlich gar nicht mehr als eine Wirklichkei originärer Rekurrenz wahrgenom­ men zu werden, wenn auch eine allgemein vermehrte Zustimmung in »Spiritualität« stattzufinden scheint. Das heißt, unsere Endlichkeit bewegt sich nicht nur im Rahmen zeitlicher Existenzialität oder sogar nur empirischer Historie, Kulturwissenschaft oder Tiefenpsychologie, sondern im Bereich der durchgehend angeführten Passibilität inner­ halb der reinen Lebensempfängnis. Die Zeitlosigkeit der Geburt bei Eckhart als »Nun der Ewigkeit« entspricht genau dieser verborgenen Fülle des Begehrens der Seele: »Wo Gott in der Seele geboren werden soll, da muss alle Zeit abgefallen oder sie muss der Zeit entfallen sein mit Willen oder mit Begehren. […] Das ist das Nun der Ewigkeit, in dem die Seele alle Dinge in Gott neu und frisch und gegenwärtig erkennt und in der (gleichen) Lust wie (ich diejenigen Dinge erkenne), die ich im Augenblick jetzt gegenwärtig vor mir habe. Ich las neulich in einem Buche – wer’s doch ergründen könnte! –, dass Gott die Welt jetzt macht wie am ersten Tage, da er die Welt erschuf. Hierin ist Gott reich, und das ist Gottes Reich.«479 Wie sich eine transzendentale Phänomenologie ihren eigent­ lichen Gegenstand erst gegen eine ganze Tradition monistischer Transzendenzontologie zu erarbeiten hat, so ergibt sich auch für die gegenwärtige Mystikuntersuchung im Wissen um diese Redukti­ onsbemühungen die Notwendigkeit eines gegenreduktiven Eindrin­ gens in ihren Gegenstand. Es geht letztlich weder um eine allein komparative noch hermeneutische Erforschung der geschichtlichen Gestalten des Mystischen, Heiligen oder der alltäglichen Transzen­ denzerfahrungen, sondern um jene lebendig eine Quelle, aus der heraus solche Gefühle und Repräsentationen des unbedingt »Sakra­ len« als »Mystik« überhaupt empor tauchen können. Wenn die kon­ kret phänomenologische Möglichkeit dazu in der subjektiven Praxis als Empfinden der Passibilität und des Leiblichen in ihrer Immemoria­ bilität liegt, dann muss diese immanente Selbstgebung des Wesens des »Mystischen« gerade die Hypostasen des Außen, der Macht wie der Vorstellung (Gottes) durchbrechen, um die phänomenologische 479

Predigt 38: Werke I, 409.

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Gleichursprünglichkeit vom Wesen der reinen Individuierung sowie Gemeinschaftlichkeit und des gottheitlichen Ab-Grundes aufzuwei­ sen: »Das Begehren reicht weiter als alles, was man mit der Erkenntnis zu begreifen vermag. Es ist weiter als alle Himmel […]. Das Begehren ist weit, unermesslich weit. Aber alles, was das Erkennen zu begreifen, und alles, was das Begehren zu begehren vermag, das ist nicht Gott. Wo das Erkennen und das Begehren [intentional] endet, da ist es finster, da (aber) leuchtet Gott.«480 Ebenso heißt es in Predigt 44 über das Verhältnis von Verlangen und Gottes Willen: »Das Wirken gehört Gott, das Verlangen der Seele. Gott gehört das Werk und der Seele das Verlangen und das Vermögen, dass Gott in sie geboren werde und sie in Gott.«481 Dies dürfte ein zusätzlicher Hinweis darauf sein, dass Seins- und Lebenskonzeption Eckharts letztlich in einer »Metaphysik des Begehrens« begründet sind, die ihre Analogie in dem Glückseligkeitsverlangen nach Gott wie unter anderem bei Thomas von Aquin besitzt.482 Denn wäre diese subjektive wie gemeinschaftliche Ko-Faktizität als Begehren nicht gegeben, dann ließe sich kaum verstehen, wie so etwas wie »mystische Religion« als geschichtliches Phänomen aufträte. Eine »entleerende Mystik« hat demzufolge alle Bilder zu hinterschreiten, um diesseits der Vorstellungen und ihrer mundanen Kategorien als Gesetzen der sichtbar sich zeigenden Erscheinungen jenes Immemoriale einsichtig zu machen, aus dem heraus wir uns allein selbst zu ergreifen vermögen. Bleibt die Mystik auf der Ebene der Ideen, so unterliegt sie nicht nur der Gefahr, die vorgegebenen Meinungen traditioneller Ideologiebildungen zu teilen, sondern nie­ mals jenen Hiatus zu schließen, wie er zwischen Diskurs, Deskription oder Episteme und der rein subjektiven Erprobung im absoluten Leben besteht. Unser Versuch hier, die kriteriologische Mystik über den Zusammenhang von Lebensphänomenologie und eckhartscher Mystik zu bestimmen, schöpft mithin aus der radikalen Rekurrenz nicht nur einen kritischen Anspruch gegenüber allem vermeintlich »Religiösen« als Gefahr ständiger geschichtlicher wie gesellschaft­ Predigt 42: Werke I, 451. Ebd., 471f. 482 Zur Diskussion in Bezug auf Averroes, Dietrich von Freiberg und Thomas vgl. K. Flasch, Meister Eckhart, 105ff., wobei es um die unmittelbare Glückseligkeit des reinen Intellekts oder ein zusätzlich akzidentelles Gnadengeschenk des lumen gloriae geht, was einer immanent tätigen Geistseele nicht adäquat wäre. 480 481

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licher Idolatrie, sondern auch eine meta-genealogische Dynamik. Nämlich religio und individualitas in ihrem Wesen als Lebensmystik miteinander so zu verbinden, wie sie seit dem biblischen Bericht der Genesis und seiner Vertiefung durch den Johannesprolog als Ungeteiltheit von Gott/Individuum in ein und demselben Leben zusammen gehören.483 Phänomenologie wie Mystik hätten demnach die wichtige Aufgabe zu verdeutlichen, dass kein Mensch »im Leben« wahrgenommen werden kann, ohne nicht gleichzeitig damit seine absolute Geburt in diesem Leben selbst mit wahrzunehmen, wozu die unmittelbare Gleichursprünglichkeit von Leib und Affekt als Ori­ ginarität gehört. Die Korrelation von Mystik/und Phänomenologie ist somit keine künstlich herbeigeführte. Sie gehorcht vielmehr dem originären Eigenwesen radikal phänomenologischer Analyse, sofern diese nicht vorrangig distanzierte noematische Gehalte beschreibt, sondern die rein praktische Hervorbringungskraft unserer Vermögen als solchen, mit anderen Worten als lebendige Affizierung aus einem gottheitlich lebendigen Ur-Grund heraus. Fassen wir diese Fragekonstellation zusammen, so bliebe mit Eckhart festzuhalten »Wenn man mich fragte: Warum beten wir, warum fasten wir, warum tun wir all unsere Werke, warum sind wir getauft, warum ist Gott Mensch geworden, was das Höchste war? – Ich würde sagen: darum, auf dass Gott in der Seele geboren werde und die Seele (wiederum) in Gott geboren werde. Darum ist die ganze Schrift geschrieben, darum hat Gott die Welt und alle Engelsnatur geschaffen, auf dass Gott in der Seele geboren werde und die Seele (wiederum) in Gott geboren werde.«484 In diesem Sinne lässt sich ohne Zweifel zusammen mit der »Einheitsmystik« als eines »ungeteilten Gebärens« von einem »Eckhartschen System« des religiös-mystischen Denkens sprechen,485 falls man dies im Sinne der oben genannten Grundintuition als »Affekt« der ungeteilt lebendigen Einheit im Begehren bei Eckhart mit Bezug auf Leben/Welt versteht.

Vgl. M. Henry, Inkarnation, 356ff.; sowie bereits unseren vorherigen Teil I. Predigt 38: Werke I, 407. 485 Vgl. J. A. Aertsen, »Der ›Systematiker‹ Eckhart«, in: A. Speer u. L. Wegener (Hgg.), Meister Eckhart in Erfurt, Berlin u. New York 2005, 189–230. 483

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Teil III: Begehren und nicht-religiöse Mystik

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1. Simone Weil und die »dekreative Weltlektüre« als Universalmystik

Es erscheint zunächst ungewöhnlich, Simone Weil in diesem dritten Teil unserer Untersuchung unter die Repräsentanten einer areligiö­ sen Mystik einzureihen, da sie zumeist als christliche Denkerin vorgestellt wird.486 Aber abgesehen davon, dass sie Georges Bataille durch die Teilnahme an damaligen anarchistisch kommunistischen Diskussionsgruppen gekannt hat, liegen die Wurzeln ihrer späteren mystischen Orientierung in den agnostischen Anfängen ihres Den­ kens, das sie weitgehend mit ihrem philosophischen Lehrer Alain (Emile Chartier) teilt.487 Noch entscheidender ist jedoch, dass sie eine metaphysische Grunderfahrung aufweisen möchte, die allen religiösen Religionsformen innewohnt und als eine universale Mys­ tikdisposition gesehen werden kann, die sich der Begegnung mit dem Wirklichen ohne ideologische Voraussetzungen stellt. Diese Begegnung als reiner »Kontakt« mit dem Wirklichen umfasst eine Zugehörigkeit zum Gesamtuniversum, in dem das »Gute« (le Bien) zugleich in der unmittelbaren Erfahrung mit der »Notwendigkeit« statthaben soll, die dieses Gute im Sinne Platons nicht zu kennen scheint. Sich dieses Guten ethisch bewusst zu werden, um eine Dimension des »Sakralen« (sacré) zu leben, die jeden Menschen in solcher Welt betrifft, ist zugleich die Erfahrung einer Transzendenz, die als Begehren (désir) die inkarnatorische Immanenz des Menschen selbst ausmacht. Da diese ontologische Erfahrungsstruktur jedem Menschen innewohnt, lässt sich diese Sichtweise als eine »proto-reli­ giöse Mystik« bezeichnen, die in ihrer Universalität sowohl die affek­ tive wie geistige Dimension des Menschen umfasst. Denn es handelt 486 Vgl. G. Kempfner, La philosophie mystique de Simone Weil, Paris 1960; A. Büchel-Sladkovic, Warten auf Gott – Simone Weil zwischen Rationalismus, Politik und Mystik, Münster 2004; D. Seelhöfer, »Les expériences mystiques relatées dans l'autobiographie spirituelle de Simone Weil«, in: Cahiers Simone Weil 44/1 (2021) 35–46. 487 Vgl. Alain, Minerve ou la Sagesse, Paris 1932.

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1. Simone Weil und die »dekreative Weltlektüre« als Universalmystik

sich dabei um eine Ausrichtung der »Aufmerksamkeit« (attention) ohne Objekt,488 welche ein ständiges Offensein für das Wirkliche impliziert, das sich in allen Situationen mitteilen kann, um unsere Wahrnehmungsprojektionen auf die Dinge hinter uns zu lassen. Ohne besondere religiöse Tradition kennt Simone Weil daher von Anfang an in ihrem Denken und Handeln über die »Erwartung des Guten« eine Form der Entleerung als »De-kreation«,489 welche die Freude wie Schönheit über die wahre Begegnung mit dem Wirklichen einschließt, was als »mystische Annäherung von unten her« für jedes Individuum bezeichnet werden kann.490 Diese Elementarform wollen wir in der ständigen Weltbegegnung als »dekreative Lektüre« herausarbeiten, um nachfolgende Vergleiche mit den nicht religiösen Mystikformen bei Bataille und Lacan zu ermöglichen. Im Rahmen einer solch phänomenologienahen Reflexionsphilo­ sophie zur Bestimmung der Heilsituation des Individuums angesichts der Welt und des höchsten Gutes als »übernatürlicher Wahrheit« nimmt Simone Weil letztlich eine christologisch fundierte Stellung ein. Sie bewegt sich nämlich in ihrem Spätwerk sowohl bezüglich der universalen Materiestruktur wie hinsichtlich der dazu erforderlichen Subjektveränderung eindeutig auf die diesen Gegebenheiten »einge­ schriebene« Kreuzesgestalt zu.491 Dabei spielen Elemente der antik stoischen Kosmoslehre eine Rolle, aber auch das neuzeitliche Erbe eines lückenlosen Kausalitätszusammenhangs wie bei Galilei, Des­ cartes, Spinoza, Newton, Leibniz und Marx.492 Und zwar mit der Ten­ denz, die christlichen Glaubensmysterien für eine »dekreativ« frei­ heitsbezogene Seinstransparenz in Anspruch zu nehmen oder diese Geheimnisse sogar transzendental in letztere aufgehen zu lassen. Für unsere Untersuchung einer illusionsfreien Wirklichkeitsbegegnung als Kern mystischen Denkens zeichnet sich so grundlegend eine Kon­ Vgl. M. Schülert, Die Neue Aufmerksamkeit – Simone Weil. Religiös-ästhetische Dimensionen auf dem Weg zur Transzendenz, Berlin 2012.N. Heinsohn, Simone Weil's Konzept der Attention. Religionsphilosophische und systematisch theologi­ sche Studien, Tübingen 2018. 489 Vgl. D. Beyer, Sinn und Genese des Begriffs der »Dekreation« bei Simone Weil, Münster 1991. 490 Vgl. M. Hulin, La Mytique sauvage. Aux antipodes de l'esprit, Paris 1993, 17 u. 206ff., im Ausgang von der Affektivität; siehe auch C. Millot, Abȉmes ordinaires, Paris 2001. 491 Vgl. R. Chenavier, Simone Weil, une philosophie du travail, Paris 2001, hier 57ff. 492 Vgl. E. Gabellieri, Le phénomène et l'entre-deux. Pour une métaxologie, Paris 2019, 149ff. 488

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vergenz von göttlicher Offenbarung und menschlichen Sinneskräften in einer originär religiösen Sicht von ethisch phänomenologischer Relevanz ab. Denn mit der Anordnung dieser Kräfte »gab Gott uns ein vollkommenes Modell der Liebe, die wir ihm schulden. In unsere Sinnlichkeit selbst hat er eine Offenbarung eingeschlossen«.493 Die praktische Bewusstseinsbestimmung im Verlauf der lebens­ weltlichen Wahrnehmung, wie besonders der von ihr analysierte Arbeitsbezug seit ihrer Studienzeit nahe legt, impliziert prinzipiell eine »Übertragungsleistung« in Hinsicht auf das graduell zuneh­ mende »Wirklichkeitsgefühl« (transfert du sentiment de la réalité), welches für das Subjekt der aufmerksamen Erkenntnis darin gipfelt, mit Gewissheit eine direkte Entsprechung zwischen seinem Denken und der Materie in ihrer jeweilig kinästhetischen Apperzeptions­ form zu besitzen. Schon aus der Perzeptionsanalyse des von Jules Lagneau494 dazu immer wieder herangezogenen Beispiels einer wür­ felförmigen Schachtel ergibt sich in der Tat, dass sich die Notwendig­ keit des kubischen Erscheinungsbildes phänomenologisch reflektiv als »ein Ganzes (ensemble) der Veränderungsgesetze darstellt, die von festen und unveränderlichen Beziehungen bestimmt sind«.495 Mit jedem Wechsel unserer standortgebundenen Betrachterperspektive verschieben sich daher auch die Winkel und Seitenansichten der kubischen Form, so dass eigentlich nicht behauptet werden kann, man sähe eine solche Schachtelform oder berühre sie wirklich, wie im Fall der taktilen Wahrnehmung. Die Gesamtheit der sinnlich unbegrenzt möglichen Erscheinungsreihen ist in keinem Augenblick mit der Kubusform selbst identisch, und noch weniger gilt dies a fortiori für einen einzelnen Aspekt derselben. Trotzdem lautet unser Wahrnehmungsurteil unfehlbar auf eine evidente Erkenntnis des Schachtelkörpers. Hier liegt sicher eine der größten Übereinstimmun­ gen mit Husserl vor, der nicht nur selbst immer wieder ähnliche Beispiele wie Haus oder Tisch analysierte, sondern gerade in der wechselnden Aspekthaftigkeit eines Wahrnehmungsgegenstandes dessen voll bestimmte Identität als idealen Grenzfall sah, ohne die

493 Intuitions pré-chrétiennes, Paris 1951, 146 (dt. Vorchristliche Schau, München 1959, 126). 494 Vgl. Célèbres leçons et fragments, Paris 21966, 204ff. 495 Intuitions pré-chrétiennes,146 (dt. 126).

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intentionale Gewissheit von dessen Transzendenz in Frage zu stel­ len.496 Die Lösung, dass die »wahre« Würfelform all ihren einzel­ nen darstellenden Erscheinungsbildern »äußerlich« sei, mithin sich »deren Bereich gegenüber transzendent« verhält, wird von S. Weil auch metaphysisch als »Schlüssel zu jeder menschlichen Erkennt­ nis« gewertet sowie gleichzeitig als Abgrenzung hinsichtlich der »Gefahr eines pantheistischen Irrtums« genutzt. Insoweit nämlich die sinnlich urteilende Symbolkorrespondenz zwischen Gott und dem Universum den Eindruck vermitteln könnte, die Wirklichkeit des letzteren löse sich zugunsten eines göttlichen »All‑Seins« auf. Der Grundwiderspruch unserer interpretierenden Lektüreverfasstheit als einem subjektiven Dasein, »von außen« ständig von dem ergriffen zu werden, was das reflexionsphilosophisch verstandene »Ich kann« jeweils an Bedeutungen selbst hervorgebracht hat, kehrt im vorlie­ genden Fall darin wieder, dass eine insgesamt nie berührbare Form – eben die Vorstellung des Kubus als einer intelligiblen Invariante – einen sichtbar begrenzten Raumkörper vermittelt. Die Realität der Wahrnehmungswelt besteht so allgemein in der Berührung (contact) mit der Notwendigkeit, deren Wesen eine »bedingte Funktion oder Proportion« ist, wobei der Materie ausschließlich die Rolle einer »Grundlage« (support) zukommt, von der kein Begriff gebildet wer­ den könne, wie die ontologische Tradition seit der Antike lautet. Als das schlechthin Unbegrenzte (ápeiron) sei die Materie für den Menschen dennoch, »was der Notwendigkeit unterworfen ist«. Dies aber bedeutet nach S. Weils Worten, dass Materie wie Notwendigkeit selbst in ihrem Erscheinungswesen »gehorsam« sind und deshalb ein nicht hintergehbares Modell für die Erkenntnisfinalität jedes Individuums bilden, das sich gleichfalls mittels der Aufmerksamkeit dem Universum gegenüber als Gehorsam zu verstehen habe. Aller­ dings nicht aufgrund blinder Unterwerfung, sondern aus freier Liebe, womit sich bei ihr die mystische Verschränkung von Liebe/Leere schon andeutet.497 Der Gegensatz zwischen dem beständig vorhandenen Fluss des sinnlich Gegebenen in den manifesten Erscheinungen und ihrer tran­ szendent zeichenhaften Realität als einem unveränderlichen Verhält­ Vgl. Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg 1985, 54ff., 66ff. u. ö. 497 Vgl. Intuitions pré-chrétiennes, 143f. (dt. 127f). 496

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nis der darin begrenzten wie relationalen Veränderungen zueinander bildet dann nicht nur einen Weg, um »das natürliche Sein zu berüh­ ren«, sondern über »die wahrhaft als Einheit gedachten Widersprü­ che« hinaus ergibt sich für S. Weil analog die Möglichkeit, auf diese Weise auch »Gott zu berühren«. Etwas vom Sein zu ergreifen, es zu berühren, und zwar mit den »Zangen« des Verhältnisses (rapport) wie beim unendlich identifizierbaren Kubus, deutet sie als immer mehr »Wirkliches« (le réel) bis hin zu Gott. Allein durch diese prä-phäno­ menologisch beschriebene Erfahrung ließe sich festhalten, dass Gott der Wirklichste ist, denn ohne diese Erprobung (épreuve) bliebe er ein leeres Wort. Auf diese Weise birgt letztlich die Wahrnehmungspraxis als solche in jedem leibhaften Vollzug eine mögliche »vollkommene Metapher«, wie S. Weil das modellhafte Würfelbeispiel auch nennt. Denn so wie im Einzelnen nicht die spitzen oder stumpfen Winkel und ungleichen Seitenlinien gesehen werden, sondern immer der selbe Raumkörper phänomenal erscheint, ebenso seien auch die Ereignisse in der Welt und die subjektiv inneren Verfassungen des Ich »kaum zu bemerken«. Vielmehr könne durch all dies hindurch »allein eine feste und immer die gleiche Ordnung der Welt gesehen werden, die keine mathematische Form, sondern eine Person ist – und diese Person ist Gott«.498 Imperativisch an das Subjekt als Individuum heranzutreten, um sein sinnliches wie praktisches Können mittels der Epoché einer anderen Finalität zuzuführen, als sie das fraglos Hingenommene und augenscheinlich Gewisseste im »Dahinleben« (Husserl) bieten, ist dem reflexiven Selbstverständnis der philosophischen Erkenntniskri­ tik von jeher eigen – und insofern ist die Philosophie in gewisser Weise immer phänomenologisch gewesen. In der gesamten Tradition, die für S. Weil in der pythagoreisch wie platonisch bestimmten Antike zählt, sodann bei Descartes, Spinoza, Malebranche, Kant oder Maine de Biran, besaß die geometrisch physikalische Denkmethode für diese Aufgabe einen modellhaften Wert. Denn sie wollte den anfänglich naiven Sinnesrealismus der Illusion überführen und dem Bewusstsein anstelle eines pragmatisch orientierten Relativismus ein zu erstrebendes Ideal ungetrübter Relationen vor Augen stellen, die zugleich als apriorische Weltkonstitution eine kosmische »Einwurze­

498 Ebd., 169f. (dt. 150f.); dazu R. Chenavier, Simone Weil, l'attention au réel, Paris 2009.

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lung« erlauben würden.499 Von daher war neben der Moral auch die Wissenschaft für diese Denktradition eine Vorstufe für die in der Religion bezeugte Übereinstimmung des subjektiv reduktiven Erkenntnisaktes mit dem absoluten Geist bzw. Gott. Angesichts der technischen Rationalisierungsmethoden mit ihren negativ sozialen Konsequenzen ist S. Weil allerdings von ihren frühsten Schriften an nicht geneigt gewesen, »die Führung [ihres] Lebens der Autorität der Gelehrten zu unterwerfen«, wohl aber war sie bereit zu erkunden, »ob die Wissenschaft die Freiheit bringt oder legitime Fesseln«.500 Die in den 1930er Jahren zu vertretende Entscheidung zwischen einem epistemologischen Reduktionismus der Philosophie (etwa bei Léon Brunschvicg oder Henri Poincaré) und dem Nachweis einer Konti­ nuität von Alltagswahrnehmung und Wissenschaft (so bei Lagneau und Alain wie Husserl) enthält deshalb für S. Weil eine doppelte Stoßrichtung im phänomenologischen wie religiös metaphysischen Sinne, um sich schließlich einer universalen Mystik gegenüber öffnen zu können.501 Die Annahme der res extensa als gemeinsam definitorischem Nenner von Physik, Geometrie und Sinnesvermögen seit ihrer Diplomarbeit über die Frage der Wahrnehmung und Wissenschaft bei Descartes erlaubt es ihr in der Tat,502 die Idee der Notwendigkeitsrela­ tionalität für alle innerweltlichen Bereiche als zwingenden Grundsatz zu betrachten. Dies bedeutete einerseits eine Begrenzung des sich unendlich progressiv gebenden Szientismus mit seinen Reduktionis­ men für weite menschliche Bereiche, und zum anderen verschrieb sie sich mittels eines transzendentalen Notwendigkeitsbegriffs der innerphilosophischen Epoché als einer läuternden »Dekreation« (décréation), um die individuelle »Lektürekorrektur« gleichfalls als ein Problem praktisch spiritueller Philosophie herauszustellen. Das 499 Vgl. S. Weil, L'Enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l'ȇtre humain, Paris 1950 (dt. Die Einwurzelung. Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber, München 1956; neue Übersetzung Zürich 2011). 500 Premiers écrits philosophiques (Œuvres complètes I), Paris 1988, 162. 501 Vgl. R. Kühn, Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie der Gegenwart. Metaphysische und post-metaphysische Positionen zur Erfah­ rungs(un)möglichkeit Gottes, Freiburg/Br. 2013, 21ff. 502 Vgl. Science et perception dans Descartes (1930), in: Premiers écrits philo­ sophiques, 161–224; dazu gleichfalls F.M. Enyegue Abanda, »De l'Ecole européenne de la perception à l'Ecole française de l'action«, in: Cahiers Simone Weil 44/1 (2021) 15–35.

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heißt als eine Anforderung an die menschliche Freiheit im Sinne der Liebe, um sich analog zum genannten Gehorsam der Materie eben­ falls einer subjektiv zu erstrebenden reinen Relationalität zu unter­ werfen. Auf diesem eingangs angedeuteten Hintergrund erscheint dann die Gottesfrage als eine realitätssteigernde, symbolkorrelative Integration von Wissenschaft und Glauben, deren kulturell wieder­ zugewinnende Einheit als die moderne Überlebensfrage schlechthin entworfen wurde: »Um wie vieles würde sich unser Leben ändern, wenn man sähe, dass die griechische Geometrie und der christliche Glaube derselben Quelle entsprungen sind.«503 Auch in dieser letztlich allgemein mystisch verorteten Tradition über die Antike hinaus ist die Ähnlichkeit mit Husserls Gedanken der »Urstiftung« von Philosophie und Wissenschaft bei den Griechen nicht zu übersehen, von der seine »Krisis«-Schrift ausgeht.504 Aber es gibt auch einen wesentlichen Unterschied in der dadurch europäisch grundgelegten »transzendentalen Frage« als solcher. Bei S. Weil handelt es sich nicht nur um die teleologische Weiterverfolgung eines restlos aufzuklärenden Evidenzanspruchs der Vernunft, sondern gerade um die Verwandlung dieser Vernunft selbst in eine höhere Erkenntnisweise, welche für sie jene der »liebenden Aufmerksam­ keit« ist – womit sich bereits deutlich der mystisch akzentuierte Unterschied zwischen klassischer Epoché und Dekreation bekundet. Denn selbst die Herausstellung bei Husserl in der 29. Vorlesung der »Ersten Philosophie«505 von der schöpferisch hingebenden Liebe an die Wahrheit als höchstem Gut intendiert eine endgültige Erkenntnis ohne jede Preisgabe der individuellen Ego-Konsistenz. Das heißt, gerade wenn die Zweckidee unendlich evidenten Erkennens auch dem ethischen Willen wie bei Fichte untergeordnet wird, so gerät doch der Vernunftbesitz als solcher bei Husserl nie in den Blick radikaler Fraglichkeit, die als Liebe die Loslösung vom Vernunftbesitz fordern kann, wie S. Weil unterstreicht. Lettre à un religieux, Paris 1951, 92 (dt. Entscheidung zur Distanz. Fragen an die Kirche, München 1988, 70); dazu auch R. Bell, Simone Weil's Philosophy of Culture. Readings toward Divine Humanity, Cambridge 1993; W. Müller (Hg.), Simone Weil und die religiöse Frage, Zürich 2007. 504 Vgl. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä­ nomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (Husserliana VI), Den Haag 1976, § 3. 505 Vgl. Erste Philosophie (1923/24), II. Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion (Husserliana VIII), Den Haag 1959. 503

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Nicht zu verkennen ist jedenfalls, dass die Ansätze zu S. Weils umfassendem kulturellen Versöhnungsversuch in ihren frühesten Voraussetzungen zur reflexiven Wahrnehmungsbeschreibung als »Lektüre« liegen, die über den Zusammenhang von Aufmerksam­ keit/Liebe unmittelbar mystische Elemente impliziert. Das identische Festhalten an einer transzendenten Objektgestalt innerhalb des sinn­ lich bedingten Erkenntnisvollzuges verweist noetisch symbolhaft über die Objektform auf die gesamte Weltgestalt als solche, wobei dieser phänomenologische Umstand rückgebunden bleibt an die wil­ lentlich konkrete Geste, mit welcher der »Übertragungsprozess des Realitätsgefühls« bis hin zu einer in Gott umfassend geliebten Not­ wendigkeitsstruktur anhebt. In genetisch kinästhetischer Hinsicht ist es offenkundig, dass ein Kind mit Hilfe einfachster Gegenstände aus regelmäßigen Formen durch deren Betasten lernt, wie es die es umgebenden Dinge wahrnehmen kann, um dann allmählich »analoge Übertragungsmechanismen zu erwerben, die an die Lektüre oder an das neue Empfindungsvermögen gebunden sind, das den Gebrauch der Werkzeuge begleitet«. Dem entspricht in der diskriminierenden Vorstellungsanalyse des Imaginären, wie zum Beispiel beim Traum, dass die phänomenologische Objektidentität nicht vom noematisch Gesehenen selbst abhängig ist, sondern vom »Verhältnis (rapport) zwischen uns und den Empfindungen«, wobei dieser Bezug wiederum konstituiert wird durch »eine gewisse Handlungsdisposition, welche die Empfindungen in uns hervorrufen«. Ein bloß gedanklich vergegenwärtigter Würfel wird demnach nicht durch die Analogie mit einem real existierenden Würfel wahrge­ nommen, weil dieser nie ganz in mein Blickfeld rücken kann, sondern »der kubische Raum besteht wesentlich in der Geste, das Objekt zu ergreifen«. Und dieser effektive Handlungsbezug als originäres »Ich kann« im Sinne eines zugleich begehrenden Cogito kehrt im vorgestellten, gezeichneten oder tatsächlich selbstgegebenen Würfel wieder. Dabei variieren nur die individuellen Empfindungsdaten der qualitätsspezifischen Realitätsgrundlage, wie etwa die Farben. Alle Konturen, welche als Linien die Objekte begrenzen und aus denen sich Formen im Seh- oder Tastfeld bilden, sind durch die dem Subjekt inhärenten Bewegungen gegeben, wie gerade auch Maine de Biran und Lagneau lehrten. Als Reaktion ergeben diese energieabhängigen Bewegungen das konstitutive Wahrnehmungsverhältnis zwischen dem einzelnen Ich und der äußeren Welt, woraus von S. Weil gefolgert

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wird, dass »die Gesamtheit der Reaktionen, die ich einem Objekt gegenüber habe, die Objektidentität erschafft (crée)«.506 Dieser Schöpfungsbegriff als Ausdruck der individuellen Bedeu­ tungslektüre vom Sinngehalt empfundener Formen und Qualitäten bei der subjektiven Objektkonstitution vereint eindeutig jene bis­ her schon genannten perzeptiven Elemente, auf denen der einzige weilsche Neologismus der Dé-création aufbauen konnte. Und zwar als die letztendlich übernatürlich verankerte »Nicht‑Lektüre« (nonlecture)507 von immer schon sinnbesetzten Geltungsansprüchen in Gegenüberstellung zu dem, was wir im Anschluss an zahlreiche weilsche Texte die »christologische Figuration« im Sinne einer uni­ versal mystischen Kreuzesgestalt nennen möchten.508 Die Geste – sei es die reale Leibbewegung oder die sie affektiv vorskizzierende verlangende Disposition des Begehrens – ist nämlich nur denkbar als die inkarnierte Identität jener Haltung, die wir bezüglich des jeweiligen Gegenstandes oder lebendigen Wesens einnehmen, wor­ aus dann dessen ontische Individualität als ein einzeln bestimmtes Wahrnehmungsobjekt folgt. Dieses passiv sedimentierte Bewusst­ sein einer stets gleichen Haltung mag sich unter dem Einfluss der äußeren Naturkräfte sowie der energieabhängigen Vorstellungskraft der »Selbsterhaltung« wandeln, was jedoch für S. Weil nicht über die Grenzen jener Geometrie hinaus möglich ist, welche der Wahrneh­ mung innewohnt. Nie kann nämlich ein gegebener Punkt dem Denken anders ansichtig werden als durch die Gerade, welche es sehend mit diesem Punkt vereint. So scheint es fast, als ob unser Leib geometrische Theoreme kenne, die unser Geist zunächst noch ignoriert. Dieses hab­ itualisierte Wissen der Sinnlichkeit, das durch die Bewegung in Zeit und Raum als die zugleich transzendentalen wie praktisch subjektiven 506 Vgl. Intuitions pré-chrétiennes, 169f. (dt. 150f.); Œuvres complètes I, 71f u. 177ff. Dazu auch S. Pétrement, »Remarques sur Lagneau, Alain, et la philosophie allemande contemporaine«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 3 (1970) 292– 300; R. Kühn, Leben als Präsenz und Immanenz. Hinführung zu Grundfragen der Phänomenologie, Dresden 2021, 61–76: »Das praktische Cogito bei Husserl und Maine de Biran«. 507 Vgl. S. Weil, »Essai sur la notion de lecture« 1 (1946), in: Les Etudes philoso­ phiques 13–19 (Œuvres complètes IV, 73–79). 508 Vgl. bes. S. Weil, Pensées sans ordre concernant l'amour de Dieu, Paris 1962, 85–131: »L'amour de Dieu et le malheur« (dt. Zeugnis für das Gute, Olten/Freiburg 1976, 3–44: »Die Gottesliebe und das Unglück«); für die weitere Diskussion auch J. Hofbauer, Unglück. Bewusstsein und Leid, Würzburg 2022.

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Bedingungen von Welt und Existenz eingeübt ist, macht es möglich, die imaginäre Überinterpretation der Dinge als reaktiv individuelle Lektüre ständig zu überprüfen. Die Rückführung unserer Leibgesten auf geometrisch grundgelegte Formung von Raumkörpern garantiert deren prinzipielles Eigensein als objektiv transzendente Gestalten in freiheitlich liebender Aufmerksamkeit, so dass diese ständig neu vorgenommene Gestaltung durch das Subjekt einer letzten Figur oder einem Modell der Zustimmung in allem gehorcht. Denn wenn es dieselbe gestenhaft projektive, das heißt intentional begehrende Einbildungskraft ist, die uns das einfachste Objekt wahrnehmen sowie Geometrie und Wissenschaft treiben lässt, so ist es auch kein anderes Vermögen, welches uns durch die Schönheit einer Kathedrale oder einer Symphonie innerlich bewegt. Genau damit aber erfolgt der Übergang zur transzendent per­ sonalen Figuration, die S. Weil zwischen der Weltgestalt und Gott gewahrt. Die Schönheit ist sinnliches Zustimmungserleben in eine harmonisch geordnet sich darbietende Welt ohne irgendeine vorstell­ bare Veränderung für das Denken. Keine Note kann in einer als vollendet empfundenen Musikkomposition anders gedacht werden. Als Geste der Gestaltgebung sind Zeichen- und Symbolebene somit in der durch die Schönheit gegebenen Wahrnehmungseinheit versöhnt, weil hierbei die bejahten geometrischen Weltverhältnisse der ästhe­ tisch vollzogenen Sinnesempfindung stellvertretend die Liebe zum Weltganzen als Notwendigkeit zu tragen vermögen.509 Dies ist das mystische Symbolkriterium bei S. Weil, welches sich als geschärf­ tes Bewusstsein in der ethischen Geste wiederfinden lässt, sofern deren Bestimmung über eine abstrakte Regel darin gründet, etwa im kantischen Imperativ, dass sie den Begriff des Guten als Bewegung dynamisiert. Schon ein Objekt – und noch weniger ein lebendiges Wesen – kann solange nicht als für sich existierend betrachtet werden, wie seine perzeptiven Verformungen durch das Subjekt einen eigenen Erscheinungsraum des ontologisch wie symbolhaft in sich ruhenden Objektiven als »Gegenstand« nicht zulassen. Etwas als vollkommen oder schön zu erfahren heißt, es für sich selbst außerhalb des energe­ tisch verzehrenden Begehrens gelten zu lassen: »Das Objekt ist tot; Tod – Symbol des Lebens.«510 Denn gestorben ist das begehrende Ich 509 Vgl. F. Negri, »La clef des vérités surnaturelles et esthétiques«, in: Scenari. Rivista semestrale di filosofia contemporanea 13 (2020) 179–200. 510 Œuvres complètes I, 72, zu Lagneau.

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am Objekt, um demselben dessen Eigenwesen durch die verzichtende Freiheit zu gewähren. In einer gewissen Weise »ist« damit das Objekt nie ohne eine vorausgehende Entleerung unserer Wahrnehmungs­ dispositionen. Es entzieht sich nämlich am Erscheinungshorizont dem apperzeptiven Zugriff der Vorstellungskraft, solange diese nicht rein liebende Aufmerksamkeit, das heißt originäre Rezeptivität ohne individuell verfälschendes Begehren geworden ist. Gerade jenes wahrnehmungsmetaphysisch hier anklingende Motiv des »dekreativen Todes« erlaubt es, und zwar zusammen mit der sich hier abzeichnenden passionshaften »Leere« (vide) im Sinne der Mystik, grundlegend zu erkennen, dass die seinstransparente oder gehorsame Christuswirklichkeit als modellhafte Praxis der gesuch­ ten Wahrnehmungssynthese die Grundstruktur für einen radikal phänomenologischen Offenbarungsbezug der Sinnlichkeit überhaupt abgibt. Dabei wird außerdem sichtbar, dass in der weilschen Epoché als Dekreation auch die Welt mehr als nur den All‑Horizont all unserer Aktionen und Affektion wie bei Husserl bedeutet. Sie ist als reine Notwendigkeit bzw. als »Gehorsam« letztlich Offenbarungs­ medium Gottes, da S. Weil wieder das theíon der Griechen in die originäre Weltanalyse integrierte, welches in den zeitgenössischen Phänomenologien fehlt. Dies ist besonders auffällig in Heideggers Frühwerk »Sein und Zeit«, bevor er es über Hölderlins Dichtung später wieder berücksichtigt und einen »kommenden« oder »letzten Gott« für eine neue Seinsgeschichte einführt.511 Allerdings muss auf der anderen Seite auch gesehen werden, dass ein Symbol keine unmit­ telbare »Selbstgegebenheit« im husserlschen Sinne zulässt, weshalb S. Weil manchmal dahin tendiert, die Einschreibung des Symbols des Guten oder des Kreuzes in die Realitätsstruktur zur Originarität des Wirklichen selber werden zu lassen.512 Damit wird dann allerdings der Bezug zwischen Realem und Symbolhaftem problematisch, was auf die Schwierigkeit einer universal unmittelbaren Mystik hinweist, sofern sie nicht unter einem Naturalismus subsumiert werden soll,

Vgl. M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis (GA 65), Frankfurt/M. 1994, 399ff. 512 Vgl. J.P. Little, »The Symbolism of the Cross in the Wiritngs of S. Weil«, in: Religious Studies 6 (1970) 175–183. 511

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der sich etwa als »mystische Selbstwahrnehmung des Reichs des Unbewussten über das Ich hinaus« im Sinne Freuds gibt.513 Mit der individuierten Leibgeste konstituieren sich nichtsdesto­ weniger kinästhetisch oder generativ Raum und Zeit als Bedingung wahrgenommener Objektidentität, und zugleich sind diese beiden subjektiv gebundenen Erscheinungsdeterminanten allgemeinster Art mittels der erlebten Schönheit als bejahte apriorische Voraussetzun­ gen der intelligibel einsehbaren Notwendigkeitsrelationen anzuneh­ men. Jeglicher Wille zur individuellen Handlung setzt nämlich eidetisch die ganze Welt mit, in welcher dieser Wille sich dann selbstausübend darzustellen hat, wie gerade auch Jules Lagneau vor Husserl immer wieder diesen Sachverhalt analysierte.514 Aber diese inchoative Bejahung des Seins insgesamt als gewollter Totalität über Muskelanstrengung, Geste und Aktion wird erst mit der zeichenre­ duziert reflexiven Lektüre eine auch verstandesmäßig anerkannte Notwendigkeit. Und zwar in dem Maße, wie ich in meinen sinnlichen und emotionalen Reaktionen die Handlungsregel erkenne, um das Objekt vor mir in seinen Linien und Flächen zu errichten. Diese kate­ gorialen Handlungsregeln der Ich-Wahrnehmungsgestik implizieren über Kant hinaus das universale Organisationsprinzip der subjektiven Vorstellung als apriorisch praktischer Anschauung: Verstehen ist somit ein effektiv relationales Be‑Greifen (com-prendre) auf dem Boden eines originär leiblichen »Ich kann«. Der ontologische Wert dieser reflexiv phänomenalen Relatio­ nalität vollendet sich in der »unpersönlichen« Versöhnung mittels allgemeingültig konkreter Wahrnehmungsurteile als einer objektiven Welt des Sein‑Sollens, welche von der individuellen Freiheit im Sinne einer notwendigen Transsubjektivität anerkannt wird.515 Diese ver­ mag letztlich allein aus der Liebe geboren zu werden, sofern die Welt – als eine wirklich für alle gewollte – die Perspektivenreduktion der ausschließlich ich-eigenen Weltreferenz einschließt. Dies kann nicht mehr nur von der Welt allein als »Universalhorizont« her geboten sein, sofern die Welt-für-den-Anderen mir perspektivisch erkennt­ 513 Vgl. M. Hulin, La Mystique sauvage, 75ff. u. 80ff.; sowie unser folgendes Kapitel III,3. 514 Vgl. Célèbres leçons et fragments, 194ff.; Jules Lagneau, Alain et l'Ecole française de la perception, Paris (Institut Alain) 1995. 515 Vgl. J. Danese, »Personnel et Impersonnel chez S. Weil«, in: Cahiers Simone Weil 34/3 (2011) 299–317.

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nismäßig an seinem »Dort« nicht originär selbstgegeben zugänglich ist, sondern eine Welt-für-Alle kann nur personal bejaht werden. Damit verknüpft auch S. Weil – wie Husserl in der »V. Cartesianischen Meditation« – die Fremdwahrnehmung mit der gemeinsamen Welt­ wahrnehmung. Aber da sie die eigentliche Anerkennung des Anderen an Liebe und Aufmerksamkeit bindet, ist dessen Wahrnehmung keineswegs »naturalisiert«, wie es oft Husserls Appräsentationthese vorgeworfen wurde: »Danach gehört zur Konstitution der objektiven Welt wesensmäßig eine Harmonie der Monaden, eben diese harmoni­ sche Einzelkonstitution in den einzelnen Monaden, und demgemäß auch eine harmonisch in den einzelnen verlaufende Genesis.«516 Kant wies mit dem wohlbekannten spekulativen Modell, »welche Welt wohl [ein Mensch], durch die praktische Vernunft geleitet, erschaffen würde«, auf diese ethischen und metaphysischen Konse­ quenzen einer umfassend aufgeklärten Weltlektüre hin. Nicht nur wäre gefordert, dass ein solches Subjekt gedachter Schöpfung sich als phänomenales »Glied« in die Kausalität selbst »hineinsetzte« und seine individuelle Schöpfung nach der »moralischen Idee vom höchsten Gut« wählte, sondern »er würde auch wollen, dass eine Welt überhaupt existiere«. Und diese tatsächlich gewollte Wirklichkeit würde nicht einmal in Frage gestellt durch »die Gefahr, für seine Person an Glückseligkeit sehr einzubüßen«. Nämlich aufgrund des Umstandes, dass die allgemeinen Existenzbedingungen der Welt ohne besondere Absichten in Bezug auf meine subjektive Selbstver­ wirklichung erscheinen. Aber gerade der hier als modellhaft von Kant vorgestellte Weg von der Weltexistenz zur Schöpfungsfinalität, welche diese Einheit als Freiheit in Gott postuliert, ist der »unum­ gänglich« notwendige Weg, der »von der Moral zur Religion führt«,517 das heißt, Natur und Gnade ohne Quietismus518 zur Übereinstim­ mung bringt. Die Religion wäre so in der Tat die konkrete Praxis Vgl. Cartesianische Meditationen (Husserliana I), Den Haag 1963, 148 (§ 49). Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Kants Werke Akademie Textausgabe VI), Berlin 1968, 5f. (Vorrede zur 1. Aufl. 1793); vgl. R. Kühn, Anfang und Vergessen. Phänomenologische Lektüre des deutschen Idealismus – Fichte, Schelling, Hegel, Stuttgart 2004, 225–242: »Religiöse Freiheitsvorstellung bei Kant«. 518 Vgl. zur Mystikdiskussion um die »reine Liebe« im 17. Jahrhundert und gegen­ wärtig E. Millot, La vie parfaite. J. Guyon, S. Weil, E. Hillesum, Paris 2006; zur damaligen Auseinandersetzung zwischen Bossuet und Fénelon auch M. ce Certeau, La Fable mystique I (XVIè-XVIIè siècles) I, Paris 1982, 150ff. (dt. Mystische Fabel, Berlin 2010), bei der es um die ungewöhnliche Sprache der Mystik ohne Übereinstimmung mit der »positiven« theologischen und kirchlichen Tradition ging. 516

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der Verwirklichung dessen, was jede angemessen gegenständliche Vorstellung zeichenhaft wie symbolisch an relationaler Theorie ent­ hält. Je dichter die im Symbolisierungsprozess von wahrnehmender Erkenntnis berücksichtigte Realität ist, umso höher ist auch der Wert ihrer Vorstellung. Oder mit S. Weils Worten ausgedrückt, je mehr sich ein bestimmtes Objekt symbolisch mit dem gesamten Schöpfungsgefüge identifizieren lässt, um dieses in dessen objektivem Sein zu re-prä­ sentieren, umso mehr gewinnt auch jede Wahrnehmungslektüre an universal mystischer Dimensionalität. Ohne dabei ihre konkrete, das heißt leiblich situative Einwurzelung aufgeben zu müssen, weil nach S. Weil mit der Perzeption sinnlicher Gegenstände »einfache Bezie­ hungsbündel bezeichnet werden, die sich dem Denken mittels der Sinne aufdrängen«. Gefühle, Ideen, ja der »gesamte psychologische Gehalt des menschlichen Bewusstseins« sind, wie schon erwähnt, nichts anderes als solche Beziehungen (rapports), aus denen die Realität um uns herum besteht, während »im Licht der Wirklichkeit alles an sich göttliche Vermittlung ist«. Was der Verstand in seiner ihm transparenten Notwendigkeit als relationale Klarheit kategorial anschaulich begreift, ist entsprechend dieser intelligibel und ästhe­ tisch fundierten Symbolkorrelation »ein abgestuftes Bild« mediativer Grundbestimmung des Seins: »Gott ist Vermittlung, und alle Mittler­ schaft (médiation) ist Gott. Gott ist Vermittlung zwischen Gott und Gott, zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch und Mensch, zwi­ schen Gott und den Dingen, zwischen Dingen und Dingen, ja sogar zwischen jeder Seele und ihr selbst.« Zwar vermag der Mensch »dieses göttliche Wirken (opération) der Mittlerschaft« nicht direkt an sich zu begreifen, aber er kann es zum höchsten Gegenstand seiner Liebe machen und in jeder erfahrenen Relation ergreifen: »Diese Identität drückte der heilige Johannes aus, wenn er Christus den Namen der Beziehung (rapport) gab, logos; und dies meinten die Pythagoreer, wenn sie sagten: ›Alles ist Zahl.‹ [...] Und die Mittlerschaft ist genau dasselbe wie die Liebe.«519 Wenn S. Weil daher in ihrem Essay über »Die Gottesliebe und das Unglück« festhält, dass »Christus die Welt allein dadurch bezwungen hat, weil er – als die Wahrheit – bis auf den Grund selbst S. Weil, Intuitions pré-chrétiennes, 165f. (dt. 14f.); vgl.dazu E.O. Springsted, Christus Mediator. The Platonic Doctrine of Mediation in the Religion and Philosophy of Simone Weil, Chico/California 1983.

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des äußersten Unglücks in der Wahrheit verblieb«,520 so verdeutlicht sie damit in Kontinuität mit ihren reduktiven Lektüreanalysen die Kreuzessituation als jenes Ausharren im rein liebenden Gehorsam als Abweis von je innerweltlichen Finalitätsbezügen im Sinne begrenzt individueller Sinnschöpfungen. Das Ausweichen in deren imaginäre Lügenhaftigkeit als Ersatzvorstellungen für verloren gegangenen »Lebenssinn« ist unter anderem jedem größeren Leid nur zutiefst eigen, weshalb es zumeist als Anlass zur Errichtung einer ideologisch perzeptiven Weltsymbolik dient. Gerade damit jedoch wird der allein angemessene Gegenstand der »übernatürlichen Liebe« vernichtet, dass nämlich die Notwendigkeit die »Substanz des Universums« sei, und zwar als Gehorsam gegenüber der untrüglichen Liebe Gottes im platonischen Sinne des »gewaltfreien Überzeugens«.521 Ein solch christusmystisches Passionsverständnis über Spinoza und andere Rationalismen hinaus qualifiziert dann die Realität insgesamt neu. Konsequent wird nämlich die unaufhebbare Herrschaft einer »mathe­ matischen, absolut tauben und blinden Notwendigkeit durch das ganze Universum hindurch« nach der intelligiblen Seite hin dergestalt verstanden, dass gerade jenes »ganze Universum in der Gesamtheit von Raum und Zeit als das Kreuz Christi erschaffen worden ist«.522 Hierdurch hat nun explizit jede individuiert konstituierte Bewegungs­ geste, durch die ein Wahrnehmungsgegenstand Gestalt gewinnen kann, Anteil an dieser universal christologischen Wirklichkeitsform der Sinnlichkeit. Denn je reiner diese transzendental raumzeitlichen Bedingungen einer jeden Erscheinungsrelation phänomenal bewusst werden, umso mehr wächst auch die Liebe zu ihrem Eigensein, welches sich mit der Schönheit als – nur in der rezeptiven Aufmerk­ samkeit – geschenkter Gegenwart vollendet. Ist diese Epoché als Dekreation auf diese Weise eindeutig religiös konnotiert, so kann man ihr dennoch nicht absprechen, dass es S. Weil dadurch gelingt, phänomenologisch alle affektiven wie noetischen Könnens-Vermögen in den Ich-Vollzug dieser Epoché einzubeziehen und der Reduktion eine letzte Wesensgegenständlichkeit zuzuwei­ Pensées sans ordre, 114 (dt. 33). Vgl. J. Disse, »...wie sehr sich das Wesen des Notwendigen von jenem des Guten unterscheidet. Zur Frage der Platonrezeption bei S. Weil«, in: V.S. Dietzsch u. G.F. Frigo (Hgg.), Vernunft und Glauben. Ein philosophischer Dialog der Moderne mit dem Christentum. Festschrift für Xavier Tillliette, Berlin 2006, 373–392. 522 Intuitions pré-chrétiennes, 167 (dt. 149); dazu ebenfalls B. Casper, »Zeit und Glauben im Denken S. Weils«, in: Archivio di Filosofia 2 (1980) 393–404. 520 521

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sen, welche der Motivation zur freien Epoché selbst entspricht – nämlich eine universal mystische Wahrheitspräsenz zu ermöglichen, die nichts Wirkliches außerhalb von sich belässt. Insofern kann man unter anderem Jan Patočka Recht geben, dass »die Konstitution die durchgeführte Reduktion« selbst darstelle, auch wenn er selbst nicht nur eine letzte religiöse Verwirklichung gerade solcher Weltkonstitu­ tion ausschließen würde, sondern ebenfalls die immanente Seinsart der reduzierten Bewusstseinssphäre von der Welt als »Bedingung der Möglichkeit des Erscheinens des Selbst« abhängig macht: »Nicht zum unendlichen Seienden führt die konsequent zu Ende geführte epoché, sondern zum Apriori, welches in keiner Weise als seiend angespro­ chen werden kann, sondern seine Funktion darin entfaltet, dass es ein Selbstverhältnis ermöglicht, eine Seinsstruktur, ohne welche kein Erscheinen möglich ist.«523 Dementsprechend lässt sich in solchen Aussagen auch erkennen, dass S. Weil die innerphänomenologische Diskussion bereichert, um die Mystik als eine unverzichtbare Krite­ riologie für das Reduktionsverständnis selbst aufzugreifen.524 Dass im Gegensatz zu jeglicher Anonymisierung der phänome­ nologischen Originarität von S. Weil der Versuch unternommen wurde, die ästhetisch ontologische »Übereinstimmung« (convenance) gerade als eine »Gnade« einzuführen, die zugleich unabhängig von uns gegeben ist, wie aber auch leibhaft sakramental verwurzelt bleibt,525 liegt insofern auf der Hand, als die beiden bestimmenden Anschauungsformen a priori unserer Sinnlichkeit, nämlich Raum und Zeit, mit gleichem Recht in ihrer universalen wie subjektiven Natur auftreten. Auf der einen Seite bilden der je individuell situative Ort und Augenblick ja den Vorwand, und zwar entgegen Kants erwähntem allgemeinen Schöpfungswillen, befriedigte Existenz allein für sich selbst unter Hinweis auf den raum‑zeitlich singulären Standpunkt eines begrenzten Ich zu beanspruchen. Aber auf der anderen Seite umschließen die Anschauungsbedingungen der Verstandessynthesis »Epoché und Reduktion. Einige Bemerkungen«, in: A. J. Bucher u.a. (Hg.), bewusst sein. Gerhard Funke zu eigen, Bonn 1975, 76–85, hier 76 u. 83. 524 Vgl. M. Calle u. E. Gruber (Hgg.), Simone Weil – la Passion de la raison, Paris 2003. 525 Vgl. Pensées sans ordre, 135–148; siehe auch S. Weil, »Theorie der Sakra­ mente« (1943), in: R. Kühn, Leere und Aufmerksamkeit. Studien zum Offenba­ rungsbegriff Simone Weils, Dresden 2019, 273–282; C. Herrando, »Théorie des Sacrements – la foi libre de Simone Weil«, in: Cahiers Simone Weil 44/4 (2021) 397–415. 523

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die Gegebenheit einer kosmischen Ordnung, wodurch Geist und Sinnlichkeit dank der Schönheit miteinander verbunden sind und in einer Art »Trans-Perspektivisismus« theoretische und praktische Vernunft vereinen.526 Folglich erweist sich jedes dekreativ reduzierte Objektbegehren grundsätzlich als die oben erwähnte inchoative Zustimmung in das Wirklichkeitsganze – und dadurch ist auch die Gnade als virtuelle Vollendung der Welt in ihrer impliziten Anerkennung nach S. Weil mitgesetzt. Dies bedeutet natürlich nicht, dass sich eine subjektive Vorstellung irgendwie ein solches Bild der Welt aus der Sicht des Übernatürlichen ausmalen kann, da dieses nur in der Liebe als christologischer Inkarnation gegeben ist, wobei unter Liebe kein Zustand, sondern die »Orientierung des Blickes« verstanden wird: »Wir sind nichts anderes als ein Ort, durch den die göttliche Liebe Gottes zu sich selbst geht.«527 Und dieser »Ort« als eigentliche Individuierung wäre dann die Intentionalität im Sinne der Liebe, das heißt als radikale Epoché jedes begehrenden Blickes, der seine Intentionalität an seine affektive Wurzel zurückgenommen hat, wodurch die weilsche Auffassung in die traditionelle Mystikvorstel­ lung von Liebe-Gnade-Blick als reine Ausrichtung auf das Gute oder Gott eintritt. Diese Einschreibung des Bewusstseinsbestandes in die christus­ mystische Figuration als praktisches Anschauungsprinzip gehorcht damit einer Bedeutungsschöpfung, die realitätsgerechter von S. Weil eine »Ent-Schöpfung« (dé-création) in Bezug auf die bis dahin rein egohaft erfolgten individuellen Sinnfixierungen genannt wird und schließlich die gesamte durchlebte Wahrnehmungstätigkeit zu einem »Symbol Gottes« werden lässt.528 Wo dieses Symbol als das reine Begehren des Guten selber identifiziert wird, musste dessen Entstehungsort im Ich-Subjekt genau mit jenem »Schnittpunkt« gleichbedeutend werden, durch den die Liebe Gottes zu sich selbst hindurchgeht. Diese Liebe wird in einem kreatürlich individuellen »Ja« vermittelt, das – angenagelt auf dem Kreuz von Raum und Zeit – darauf ausharrt, und zwar zur Ausformung der dekreativ chris­ tologischen Passionsrealität als einer übereigneten neuen SubjektÜber eine entsprechende Kantlektüre in der französischen Reflexionsphilosophie vgl. zum Beispiel J. Nabert, L'expérience intérieure de la liberté, et autres essais de philosophie morale. Préface de P. Ricoeur, Paris 1994. 527 Intuitions pré-chrétiennes, 66f. (dt. 148). 528 Œuvres complètes I, 72. 526

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wie Weltidentität. Diese Ich‑Leerstelle als ent-wordene Individuali­ tät bildet zugleich die transzendentale Ermöglichung der weltlichen Textfülle, bzw. mit S. Weils eigenen Worten die »transzendente Vollendung der Schöpfung«. Die Bestimmung der Schöpfung lautet also keineswegs auf Vernichtung, sondern es handelt sich um eine göttliche Gewährung der Seinsteilhabe als eines »mit‑kreativen« Aktes: »Alles von den natürlichen Vermögen Begriffene ist hypothe­ tisch. Allein die übernatürliche Liebe setzt [Wirkliches]. Auf diese Weise sind wir Mit‑Schöpfer (co-créateurs). Wir nehmen an der Erschaffung (création) der Welt teil, indem wir uns selbst ent-schaffen (en nous dé-créant).«529 Will man demzufolge einen Begriff wählen, der ebenso eindeutig die phänomenologisch erkenntniskritische wie religiös mystische Seite betont, dann ließe sich Dé-création auch mit »Entwerden« im Anschluss an Meister Eckhart übersetzen.530 In der dekreativen Praxis erscheint somit rein die auf chris­ tuskonforme Weise entzifferte »Geste« des göttlich schöpferischen Gründungsaktes der Welt, so dass die Philosophie als Diskursivität zu einem »liebend eröffnenden Blick« auf eben jene absolute Bedeu­ tung des Universums hin eingeladen wird, wie sie im Moment der Kreuzesverlassenheit des Sohnes durch den Vater zeitdurchdringend offenliegt. Darin vollendet sich die weilsche Epoché als Dekreation im Sinne eines alles Sein resymbolisierenden Entwurfs konkreter Phänomenologie, Metaphysik und Mystik, nämlich als die für jedes Individuum zu ergreifende Gestalt christusmystischen Wirklichkeit, welche die realitätsbegründende Wahrheitsoffenbarung im Sinne der Schöpfungsinitiative Gottes schlechthin darstellt. Im Maße ihrer Versöhnung von Erscheinen und Sein, von welthafter Abwesenheit und tatsächlicher Wirklichkeitsfülle Gottes, wird diese verlangend wie übernatürlich sich anzueignende Lektüre als »Nicht‑Lektüre« Cahiers II, Paris 1972, 254 (dt. Cahiers/Aufzeichnungen, 4 Bände, München 1993–1998); dazu L. Federmair, »Vom Abdanken des Denkens. Die ›Cahiers‹ der Simone Weil«, in: Merkur 53 (1999). Sonderheft Nach Gott fragen. Über das Religiöse, 999–1003. 530 Vgl. Deutsche Predigten und Traktate, München 1979, 272 (Predigt 26); siehe auch R. Kühn, »La dé-création. Annotations sur un néologisme philosophique, religieux et littéraire«, in: Revue d'Histoire et de Philosophie Religieuse 1 (1985) 45–52; »Ungeteiltheit« – oder Mystik als Ab-Grund der Erfahrung. Ein radikal phänomeno­ logisches Gespräch mit Meister Eckhart, Leiden-Boston 2012, 108f. Siehe ebenfalls das Kapitel »Entwerdung« bei Madame J.M. de la Motte Guyon, Die geistlichen Ströme (Die Heimkehr des Menschen zu Gott), Marburg 1978, 102–108. 529

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zudem unmittelbar zur wirkkräftigen Triebfeder praktisch dekreativen Handelns, das alle subjektiv projektive Intentionalität als individu­ ell begrenzte Interpretation von dieser veränderten Erkenntnis her durchbricht, um Wirklichkeit in einer »zweiten Geburt« des Subjekts neu aufscheinen zu lassen.531 Die weilsche dekreative Epoché erweist sich in solch umfassender Beschreibung als die restituierte Dignität des impressional Flüchtigs­ ten im Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgang, so wie auch Husserl immer wieder herausstellt, dass durch die Epoché als Reduktion der Welt in ihrer Glaubensgeltung diese nicht ontologisch verringert wird, sondern gerade erst dadurch ihre allseitig konstitutiven Bezüge dem reduktiv transzendentalen Blick sichtbar werden. Nur gewinnt die Welt bei S. Weil durch ihre Reduktion auf die Offenbarung über­ natürlicher Liebe hin eine zusätzlich transzendente Dimension, die Husserl ausschließlich dem religiösen Glauben zuordnet. Aber auch dieser muss phänomenologisch in seiner originären Sinnstruktur aufweisbar sein. Erschien nämlich bei S. Weil das sinnliche Empfin­ dungsvermögen zunächst als unser trügerischster Besitz in Ansehung des ungetrübten Wahrheitszuganges, so muss es jetzt rückblickend als jener individuierte Einwurzelungsgrund bewertet werden, auf dem nicht nur jede echte Erkenntnis wächst, sondern auch jeder religiöse Glaube im mystischen Sinne: »Die Ehrfurcht vor dem Menschen­ wesen [...] beruht auf einer Verknüpfung, die in der menschlichen Natur zwischen der Forderung nach dem Guten, welche das Wesen des Menschen ausmacht, und dem Empfindungsvermögen besteht [...]. Sie bewirkt, dass – wenn das Leben eines Menschen infolge der Handlungen oder Unterlassungen anderer Menschen, durch eine Verletzung oder Beraubung der Seele oder des Leibes zerstört oder verstümmelt wird – in ihm nicht allein das Empfindungsvermögen diesen Schlag empfängt, sondern ebenso das Verlangen (désir) nach dem Guten. Es ist dann an dem ein Sakrileg begangen worden, was der Mensch an Heiligem (sacré) in sich schließt.«532

531 Zum »Übernatürlichen« ebenfalls E. Gabellieri, »Simone Weil – raison philoso­ phique et amour surnaturel«, in: Ph. Capelle (Hg.), Expérience philosophique et expérience mystique, Paris 2005, 207–220; sowie »Engendrement et nouvelle nais­ sance chez Simone Weil et Michel Henry«, in: J. Leclercq (Hg.), Michel Henry. La Vie et les Vivants, Louvain 2013, 89–102. 532 Ecrits de Londres et dernières lettres, Paris 1957, 77 (dt. Zeugnis für das Gute, 63f.).

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Damit nähert sich S. Weil, wenn auch auf ganz eigenen Wegen, einer radikal phänomenologischen Gegen‑Reduktion in dem Sinne an, dass die Sinnlichkeit als immanente Selbstaffektion ein absolut phänomenologisch Gutes ist, welches eine mystische Selbstoffenba­ rung Gottes in sich birgt. Da S. Weil jedoch, anders als Spinoza, Fichte oder Maine de Biran, den intentional transzendenten Bezug zu diesem Guten als sinnlich verborgenem Begehren nicht einklammert, wirkt bei ihr – meta-genealogisch unbefragt – das ek-statische Erbe Platons, Descartes’ und Kants weiter. Aber der von ihr prinzipiell gesehene Zusammenhang zwischen der sinnenhaften Konstitution des Menschen mit seiner originär nach dem Guten begehrenden Liebe als einer lektürereduzierenden Vermittlung von Erkennen und Praxis lässt alle Sinnverleihungen im Rahmen der lebensweltlichen Bedeutungen als eine onto-phänomenologische Vorzeichnung auf eine darin grundgelegte metaphysisch religiöse Gestalt erscheinen: »Sobald man das gesamte menschliche Leben, das gewöhnlichste Leben, das natürlichste Leben untersucht, besteht es aus einem der Intelligenz völlig undurchdringlichen Gewebe von Geheimnissen, welche die Bilder der übernatürlichen Geheimnisse sind und über die man nur durch diese Ähnlichkeit Rechenschaft ablegen kann. – Das menschliche Denken und das Universum bilden so die recht eigentlich offenbarten Bücher, wenn die durch Liebe und Glaube erhellte Auf­ merksamkeit sie zu entziffern weiß.«533 Die weilsche Universalmystik enthält demzufolge eine originäre Einheit von Denken/Universum mittels übernatürlicher Liebe in Gott, von der kein Mensch durch die Möglichkeit seiner Zustimmung ausgenommen ist und alle Kultur prägen sollte. Dass die einfachste Vorstellung mit ihren zeichenhaft reduzier­ ten Formen in Eindrücken wie Gefühlen über die jeweilige Wertin­ tentionalität – kraft deren Horizonte ein Netz von perzeptiv axiolo­ gischen Beziehungen entsteht – daher Gott mit einschließt, dürfte in dieser allgemeinsten Feststellung kaum einen wesentlichen Unter­ schied zur damalig zeitgenössischen, spirituell phänomenologischen Geistesphilosophie, wie etwa bei Gaston Berger, ausmachen,534. Die sich verdichtende Differenz S. Weils gegenüber allen bisherigen Phänomenologien tritt erst dort prägnant hervor, wo am offenba­ Intuitions pré-chrétiennes, 170f. (dt. 152). Vgl. zuvor schon unsere Hinführung und Grundlegung, Kapitel 2; sowie E. Gabellieri, Le phénomène et l'entre-deux, 152f.

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rungsbezogenen Inkarnationsgeheimnis in Gegenüberstellung mit der geometrisch relationalen Gestik die passionshaft bezeugte Not­ wendigkeit übernatürlicher Liebe als trans-hypothetisches Realitäts­ kriterium abgelesen wird.535 Da das Unglück zum Prüfstein aller Philosophie bei S. Weil wird, also weder nachempfindende Worte noch rational zur Behebung bereitgestellte Mittel über dessen Zerstö­ rung und Leere hinweghelfen, ist solches Malheur die unversöhnlich erscheinende Verweigerung von Existenz seitens der Welt, bzw. letzte Abwesenheit von Schönheit, Freude und Gnade für das Bewusstsein, obwohl gerade letztere die an sich reinen Besitzformen ohne Gier am Wirklichen darstellen. Unglück ist Entzug des weder kalkulier- noch deduzierbaren Geheimnisses der Zuneigung von Welt für Sinne wie Geist, und daher ist es für das Subjekt reine »Berührung« als Konfron­ tation mit der Wirklichkeit im Sinne abgründiger Erprobung. Es ist Erleben »roher Kraft« (force) schlechthin536 und damit »Gegenwart« in einem heterogen akzentuierteren Sinne, als es die Reduktion auf »leibhafte Selbstgebung« bei Husserl zum Ausdruck bringt. Die Versöhnung zwischen dem Wirklichen und dem Notwendi­ gen darf gewiss nicht zu einem apologetischen Vorwand für nicht zu rechtfertigende »Objektivitäten« gesellschaftlicher Art beispielsweise werden, aber nichtsdestoweniger bleibt die Freiheit bei S. Weil im Sinne der gehorsamen Liebe aufgerufen, jede Realität des Grauens mit dem Guten zusammenzudenken. Dies ist sogar die der Freiheit als Liebe zufallende synthetische Leistung originärster Natur im Augen­ blick aller sich auflösenden individuellen Sinnbeziehungen und ihrer daran noch phänomenal geknüpften Bedeutungen. Damit ändert sich der Begriff der »Synthesis« sowohl im kantischen wie husserlschen Sinne radikal, wo er gerade objektive »Sinnstiftung« bedeutet.537 Im Verweis auf Shakespeare und Velasquez, die Narren seien bei ihnen die einzigen Figuren, welche der Wahrheit Wert verliehen, fährt S. Weil in einem Brief kurz vor ihrem Tode mit vierunddreißig Jahren fort: »In dieser Welt haben tatsächlich diejenigen allein die Möglich­ keit, die Wahrheit zu sagen, die dem tiefsten Grad der Demütigung Hier würde sich ein Vergleich mit Edith Stein als Husserlschülerin anbieten; vgl. E. Przywara, »Edith Stein et Simone Weil. Essentialisme, existentialisme, analogie«, in: Les Études Philosophiques 3 (1956) 458–472; R. di Monticelli, »De l'attentuon: E. Stein et S. Weil en dialogue«, in: Cahiers Simone Weil 27 (2001) 182–191. 536 Vgl. E. Balibar, »Simone Weil et le tragique de la force«, in: Cahiers Simone Weil 38/2 (2010) 215–236. 537 Vgl. M. Vetö, La Métaphysique religieuse de Simone Weil, Paris 2000, 65ff. 535

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verfallen sind, weit unterhalb des Bettlertums, nicht nur ohne jede soziale Achtung, sondern vor allem so angesehen, als wären sie der wichtigsten menschlichen Würde entblößt – der Vernunft. Sie allein sagen die Wahrheit, alle anderen lügen.«538 Nicht übergehbar ist hier die zuvor schon angesprochene äußerste Epoché, welche der Vernunft des Individuums zugemutet wird, wenn sie bei ihrer Frage nach dem Wahren an Narrheit und Wahnsinn (folie) verwiesen wird. Eine Epoché, welche die Vernunft nicht mehr als Vernunft leisten kann, sondern nur noch aus einer Motivation heraus, die kein besonderes Motiv mehr einschließt. Ohne partikuläres Motiv zu handeln, entspricht aber genau der mystischen Ich-Leere, wenn nichts Äußeres mehr dem Inneren gleicht. Anders gesagt, wenn die Epoché selbst zur Aufhebung jeder noch unter Einzelaspekten gesehenen Weltgestalt geworden ist, um »Welt« als solche in ihrer rein transzendentalen Welthaftigkeit zu erkennen, die dem implodierenden Leben keine inhaltliche Erfüllung mehr bieten kann. Diese Reduktion der Welt durch die radikale Aufhebung ihres Finalitätsscheins tritt in der christusmystischen Epoché bei S. Weil als der Anruf einer anderen Möglichkeit phänomenologischer Selbstge­ bung auf, nämlich als das Sein, welches nicht mehr ich-konstituiert auftritt, sondern sich nur noch gibt. Die Narrheit hat keinen Grund mehr aufgrund ihrer Ver-rücktheit, Existenz noch mit irgendwelchen begrenzten Motiven zu rechtfertigen, wie alle MystikerInnen dies unterstreichen. Sie besitzt nämlich keinen vorweisbaren Rechtstitel der Vernunft mehr, was diese Vernunft als reine Aufmerksamkeit aber nicht daran hindert, ein freies Fiat gegenüber der Welt zu sein, wie es Husserl als »personale Wandlung« in Augenschein genommen hatte, ohne alle Folgen daraus weiterzuverfolgen: »Modalisierung [der Bejahung und Verneinung] ist nicht bloß ein Phänomen, das die Gegenstände und die gegenständliche und praktische Welt in ihrem Seinscharakter betrifft, sondern der Urteilende ist persönlich betrof­

538 Ecrits de Londres, 255f.; vgl. auch E. Benz, »Heilige Narrheit«, in: Kyrios 3 (1938) 1–55; Th. Spindlik, »Fous pour le Christ«, in: Dictionnaire de spiritualité V, Paris 1964, 752–761; M. Foucault, Histoire de la folie à l'åge classique, Paris 1961, 633ff. (dt. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1969).

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fen, wenn er genötigt ist, eine Urteilsgewissheit (und so überhaupt eine Glaubensgewissheit) preiszugeben.«539 Die Hinwendung S. Weils zu Dichtung und Malerei, wie zum Beispiel zu Shakespeare, Velasquez und Giotto wie auch zum Tao­ ismus, ist daher für die dekreative Epoché in ihrer absolut persona­ len Umgestaltung als die Möglichkeit der Wahrheitsoffenbarung im extremen Widerspruch zu deren doxischer Erscheinung zu werten.540 Der synthetische Zwang zur Erkenntnislösung in der identifizieren­ den Vernunft schlägt hier um in die stumme, sinnentleerte Geste von Narrheit und Wahnsinn als Bedeutungsentzug von an sich zu erfüllender Weltinhaltlichkeit. Wahrheit soll sein, aber sie wird ver­ borgen zuteil, als das Andere dessen, was »ist« oder imaginär erwartet wurde – und je in teleologischer Typik erwartet werden konnte. Das nicht länger durch sich selbst setzbare Ziel der weilschen Epoché bildet die Selbsterkenntnis der reinen Negativität des Individuums als Rea­ litätsinstanz der projektiv wirklichkeitsverfehlenden Teilintentionali­ täten. Demzufolge nicht bloß eine relative Erkenntniskontingenz der Welt, da der »Weltglaube« durch einen möglichen Abbruch der Wahr­ nehmungserfüllung, bzw. durch ein »Erscheinungsgewühl« (Kant) wie bei der »Verrücktheit«, verloren gehen kann. Dieser Verlust des »harmonischen Approximationsideals« bezieht sich bei Husserl nur auf die Erkenntnisfrage der Welt und ihre zunächst notwendige Einklammerung »kommunikativer Evidenz« immer mitgegebener Anderer, ohne dass der Wahrheitsstatus durch ein entsprechendes »Unglück« des Wahnsinns als solcher radikalisiert würde, um Liebe und Aufmerksamkeit an die Stelle des Erkennens treten zu lassen. Am Rande jeder Mystikform tritt daher scheinbar Wahnsinn auf, insofern die Realitätsgrenzen der konventionellen Wirklichkeitskriterien ins Wanken geraten.541 Denn erst der energetische und perspektivische Nullpunkt des positionalen Ego der Geltungen offenbart die eigentlich originäre Bestimmung dieses individuellen Ego, die mit einer Neuschöpfung von Welt aus »Gott« als dem absolut Anderen auf dem Hintergrund 539 Erfahrung und Urteil, 351 (§ 71); vgl. auch M. Roesner, »Abgeschiedenheit und Reduktion. Der Weg zum reinen Ich bei Meister Eckhart und Edmund Husserl,", in: W. Erb u. N. Fischer (Hgg.), Meister Eckhart als Denker, Stuttgart 2018, 407–428. 540 Vgl. auch E. Gabellieri, Le phénomène et l'entre-deux, 179f., über den Taoismus. 541 Vgl. M. de Certeau, La fable mystique I, 245ff.; M. Hulin, La Mystique sauvage, 171ff. u. 298ff.

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des Wahnsinns zusammenfällt. »Ich‑Kontinuität« oder »Können« wird gemäß S. Weil auf diese Weise ein christologisch zu motivieren­ des Leben, was nur heißen kann: durch den Ab-Grund des Kreuzes als mystischer Seinsleere hindurch. Problematisch erscheinen danach bei ihr alle Versuche einer Seins-, Wert-, Bewusstseins- oder Geistmeta­ physik, die jene im subjektiv täuschenden Zielverlangen gegebene Negativität zu vorschnell integrieren oder aufheben, ohne den – alle perspektivischen Festschreibungen verändernden – Gehalt von Schöpfung und Inkarnation als Modell radikaler Epoché wirklich ermessen zu wollen: »Die Passion kann von der Schöpfung nicht getrennt werden. Die Schöpfung selbst ist eine Art Passion. Meine Existenz selber ist wie ein Zerreißen Gottes, ein Zerrissenwerden aus Liebe. Je armseliger ich bin, desto sichtbarer wird die ungeheure Weite der Liebe, die mich in der Existenz erhält.«542 Sofern Klassifizierungen hier weiterhelfen können, führt diese passionshafte Distanz wie Nähe in ihrer reduktiv verantworteten Darstellung zu einer absoluten Epoché, welche die Einheit der Gegen­ sätze auf existenzialer Ebene zugleich als christusmystische Grund­ verfasstheit durchscheinen lässt. Das heißt, die Reduktion welthaften Seins kehrt sich in die Wahrheit unseres passiv originären Lebens um, welches S. Weil selber in ihrem eigenen Mystikerlebnis als ein »Ergriffenwerden« durch Christus erfuhr, wo die Erprobung des Wirklichen sich zu einer Berührung von »Person zu Person« steigert. Diese Berührung beinhaltet dann für sie die mystische Wirklichkeit als solche, so wie schon der Übertragungsprozess der perzeptiven Schachtel-Notwendigkeit in der strukturellen Liebe zu Gott als »Per­ son« endete: »Einmal, während ich [das Gedicht »Love« von Georges Herbert] sprach, ist [...] Christus selbst herniedergestiegen und hat mich ergriffen [...]. Ich empfand durch das Leiden hindurch die Gegen­ wart einer Liebe gleich jener, die man in dem Lächeln eines geliebten Antlitzes liest. [...] Mitunter auch ist er während dieses Sprechens [des Vaterunsers) oder zu anderen Augenblicken in Person anwesend, jedoch mit einer unendlich viel wirklicheren, durchdringenderen, klareren und liebevolleren Gegenwart als jenes erste Mal, da er mich ergriffen hat.«543

Pensées sans ordre, 36. Attente de Dieu, Paris 1950, 54–56 (dt. Zeugnis für das Gute, 93–96); Georges Herbert lebte 1593–1632; eine englische wie deutsche Version von »Love« ebd., 234f. 542

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Hierbei bleibt auch die zuvor gewonnene Wahrheitsverwurze­ lung der individuierten Sinnlichkeit gültig, obwohl sie – rein projek­ tiv gesehen – ohne Ausflucht an die Auslieferung von Irrtum und Illusion gekettet ist. Da unsere Originarität zugleich das unverfüg­ bare »Selbst« unserer christologischen Neuschöpfung ist, vollzieht sich die reduktive Logik der zu treffenden Scheidung zwischen Rea­ lität/Schein im »Ergreifenlassen« durch das Real-Symbol der Wirk­ lichkeit »Desjenigen«, bei dem dieser Widerspruch und dessen Ein­ heit das inkarniert offenbare Sein als solches ausmachen: »Das Kreuz ist unsere Heimat. Die Erkenntnis des Unglücks ist der Schlüssel des Christentums. Aber diese Erkenntnis ist unmöglich. Es ist unmöglich, das Unglück zu kennen, ohne hindurchgegangen zu sein.«544 Gerade mit solchen Sätzen einer todkranken Emigrantin im Kriegs-England, die Erkenntnisprobleme »ausschließlich als Handlung und praktisch bestimmt« ansah, wird keineswegs eilfertig aus bloßer Hoffnung oder Schwäche heraus, eine metábasis eis állo génos postuliert, auf der zu gewichtig das Verdikt jeder transzendentalen Methodenlehre seit Kant lastet. Wenn jedoch für S. Weil die Wahrheitsteilhabe in dem privilegiertesten Augenblick des mystischen oder physischen Todes als Narrheit gesehen wird, dann hat sie damit wahrnehmungs­ analytisch nur vertiefend ihre Auseinandersetzung mit der reflexiven Lektürereduktion seit ihren Frühschriften weiterverfolgt: »Das Han­ deln lässt sich nicht vom Denken unterscheiden. Denn sobald Freiheit gegeben ist, liegt auch vollkommene Erkenntnis vor [...]. In der Erkenntnis wie im Handeln hebt Subjektivität mit dem Augenblick der Knechtschaft an; wäre der Geist stets und gänzlich frei, so wüsste er demnach alles.«545 Die äußerste Epoché ist daher jener Augenblick, wo Denken und Handeln eins sind. Die Motivation mit anderen Worten nicht mehr vorgestellt wird, sondern nur als Vollzug ganz gegeben sein kann, sofern die Epoché jede Vorstellungsvoraussetzung aufhebt. Es ist nicht möglich, die Epoché zu vollziehen und dabei zugleich den Blick »auf sich selbst« beizubehalten. Denn es gibt nicht nur keinen »Blick des Blicks«, sondern jedem individuellen Selbstsein als einer solch reflexiven Seinsversicherung ist durch die Aufhebung des doxischen Welthorizontes einschließlich der naturalen Selbstapperzeption der Pensées sans ordre, 113. »Action et pensée« (1926), zit. S. Pétrement, La vie de Simone Weil I, Paris 1973 86 (dt. Teilübersetzung Leipzig 2008).

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Boden entzogen. Im Unglück als Wahnsinn sowie Tod wird genau diese Reduktion vollzogen, so dass die Epoché auch mit dem platoni­ schen »Sterbenlernen« von S. Weil verglichen wird: »Man kann dem Unglück nicht von ganz nahe mit beständiger Aufmerksamkeit ins Gesicht blicken, wenn man nicht den Tod der Seele aus Liebe zur Wahrheit angenommen hat. Von diesem Tod der Seele sprach Platon, als er sagte: ›Philosophieren heißt sterben lernen.‹“ Wenn Husserl die Universalität der Epoché begrenzt, wie er in »Ideen I« sagt,546 dann geschieht dies genau aus dem Motiv einer gesuchten Wissenschafts­ begründung heraus. Narrheit und Tod sind jedoch keine Themen der Wissenschaft mehr, was ihren ab-gründig affektiven Vollzug betrifft. Weshalb die Epoché, will man die methodische Begrenzung Husserls angesichts ihrer vollen Möglichkeiten aufheben, wieder in ihre ganze Universalität einzusetzen ist, welche das Mystische als Kriteriologie mitumfasst. Simone Weils Dekreation ist ein Beitrag dazu, der für die Phänomenologie wie Mystik in deren Bestimmung der originären Individuierung als Begehren nicht übersehen werden kann.547 Dies heißt, dass die finale Epoché als »Nicht-Lektüre« nicht erst dort statt­ hat, wo Husserl mit einer radikalen Reduktion beginnt. Dann wäre nämlich nicht gesehen, dass S. Weil von vornherein die perzeptive Lektüre in eine eidetische Intuition als Erkenntnisnotwendigkeit des transzendent unsichtbaren Objekts verwandelt, um daraufhin zur letzten Stufe form- und inhaltloser Epoché als Wirklichkeitssetzung aus Liebe vorzustoßen. Es erstaunt dann nicht mehr, dass in der Beschreibung ihres eigenen mystischen Erlebens die Begegnung mit der Wirklichkeit als »Unendlichkeit« und »Schweigen« über Zeit und Raum hinweg erfolgt: »Mitunter reißen schon die ersten Worte [des Vaterunsers} meinen Geist aus meinem Leib und versetzen ihn an einen Ort außerhalb des Raumes, wo es weder eine Perspektive noch einen Blickpunkt gibt. [...] Die Unendlichkeit des gewöhnlichen Raumes unserer Wahrnehmung weicht einer Unendlichkeit zweiten und manchmal auch dritten Grades. Gleichzeitig erfüllt diese Unend­ lichkeit der Unendlichkeit sich allenthalben mit Schweigen, das nicht 546 Vgl. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso­ phie, Band I (Husserliana III), Den Haag 1976, § 32. 547 Darauf verweist auch B.C. Farron-Landry, »Lecture et non-lecture chez S. Weil«, in: Cahiers Simone Weil III/4 (1980) 225–244, hier 234; Chr. Vogel, »La lecture comme réception et production du sens. Les enjeux de la pensée weilienne«, in: Cahiers Simone Weil 38/2 (2010) 201–213.

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die Abwesenheit des Klanges ist, sondern das der Gegenstand einer positiven Empfindung ist, sehr viel positiver als die eines Klanges.«548 Die Entblößung im physischen Tod korreliert bei S. Weil daher mit einem »von außen« sich mitteilenden offenbarungsspezifischen Gewissheitscharakter, der keine intentionale Evidenz mehr sein kann, da die Welt als Inhaltlichkeit der Vorstellung aufgehoben ist, sondern immanente Gewissheit des entleerten Epochévollzuges als solchem sein muss. Dabei zeigt sich jede Synthesisleistung, unabhängig von ihren passiven Vorleistungen, als ein problematisch zeitliches Bestimmungsverhältnis. Denn in der genannten Epoché stellen sich Freiheit wie Wahrheit als Liebe und Gehorsam ebenso momenthaft wie umfassend ein und ergeben sich nicht erst sukzessiv im Sinne eines Werdens möglicher Bestimmungsanreicherung. Was Kant dies­ bezüglich noch über das praktische Unendlichkeitspostulat zu lösen vermeinte, nämlich die in der Zeit nie endgültig bewerkstelligte Selbstbestimmung allein aus dem frei gewollten kategorischen Impe­ rativ heraus, wird bei S. Weil zur je aktuellen Grundentscheidung der konstitutiven wie regulativen Rolle der Freiheit als einer Liebe, welche die Realität übernatürlich durch aufmerkende Zustimmung »im Schweigen« bejaht. Als dekreative Ermöglichung einer in ihrer ontologischen Gültigkeit nicht mehr zu überbietenden Gestalt von Welt und Subjekt lässt das jeweilig vitalenergetische wie perspektivi­ sche »Sterben am Objekt« als gleichzeitiges »Symbol des Lebens« keine andere Wahl als jene zwischen tatsächlich gewolltem Sein und illusionärem Chaos als dem »Nichts« der Wahrnehmung: »Die moralische Handlung ist Bestätigung des Menschen an sich; dadurch finden wir Kants kategorischen Imperativ wieder, der zweifelsohne alles über diese Frage gesagt hat, obwohl es leicht zu verkennen ist. [...] Wenn wir schlafen, sind wir mit dem Ding vermengt, und jeder unserer Wünsche verändert das Ding. [...] Aufwachen aus der Knechtschaft, das heißt gerade, dem toten Ding verwehren, ihm Leben zu verleihen. [...] Das Ding allein also, das Chaos, ist nicht tot, sondern nichts. [...] ›Sein oder Nichtsein, sich selbst und alle Dinge, man muss wählen.‹“549 Zur Epoché als originärem Wahrheitszugang gibt es folglich keine phänomenologische Alternative, denn letztere würde Attente de Dieu, 57f. (dt. Zeugnis für das Gute, 95f.). Œuvres complètes I, 71–73. Der letzte, von S. Weil zitierte Satz findet sich bei J. Lagneau, Célèbres leçons et fragments, 153; für die Zusammenhänge von Ener­ gie/Begehren hierbei vgl. auch P. Matheu Ribera, »Sur une ambiguité de l'enérgétique de l'åme weilienne«, in: Cahiers Simone Weil 44/1 (2021) 57–178, hier 161ff. 548

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einen Vergleich von Weltvorstellungen voraussetzen, die noch nicht selbst der Epoché unterzogen wurden. Mithin ergreift erst eine solche Epoché die Dinge wirklich, indem sie sich selbst rein praktisch als unendlich mystische Dimension der dekreativen Praxis ergreift. Wo unter dieser Voraussetzung sich transzendental auszuwei­ sender Seinsberechtigung kein Raum mehr für irgendwelche Art andersgestalteter Existenz nach S. Weil verbleibt – keinerlei Ich‑Welt in all deren denkbaren Schattierungen und individuellen Rechtfer­ tigungen, da gilt folglich von jedem dekreativ freien Akt, dass er in seiner sinnlichen Gebundenheit als solcher jenes Moment des Apodiktischen verwirklicht, welches alle noumenale Gesetzesüber­ nahme überhaupt charakterisiert. Der Tod ist daher keine nicht weiter zu relativierende Möglichkeit des sich allein entwerfenden Ich als »Dasein« mehr, so wenig wie er das Objekt irgendeiner weltbegrenz­ ten Wahrnehmung sein kann. Die für die nicht dekreative Analyse nur sehr schwer durchschaubaren Selbsttäuschungen über die Natur der bei solch phänomenologischer Grenzbestimmung vorausgesetzten Entscheidungsradikalität verstärken die von vornherein verspürbare Tendenz weilschen Denkens, die Bedingungen des faktisch letzten Augenblicks zeitlicher Existenz zu antizipieren, um sie als diejenigen des je effektiven Wahrheitszugangs zu erweisen. Dem Sterben wird damit seine letzte, notwendige »Bitterkeit« nicht genommen, wie sie sagt,550 noch aber auch der Tod zum Ideal der »Eigentlichkeit« erho­ ben, als ob sich in ihm eigenmächtig das Wesen des Daseins ereignete, wie dies Heidegger nahelegt.551 Simone Weils Forderung, »tot sein zu müssen, um die Dinge nackt zu sehen«, stellt nämlich ebenso radikal die Kategorie des »Subjekts« im Sinne der individuellen Selbst- und Seinssetzung in Frage, wie es die existenziale Metaphysikdestruktion tut. Denn »die Einbildung ist immer mit Begehren verbunden, das heißt mit dem Wert. Allein das Begehren ohne Objekt ist leer an Einbildung. Das Schöne ist nackt, nicht von Einbildung verhüllt. Gottes wirkliche Gegenwart ist in allen nicht von der Einbildung ver­ hüllten Dingen gegeben«.552 Deshalb überrascht es nicht, dass die oft dargestellten und zuvor zitierten mystischen Begegnungen S. Weils Vgl. Cahiers III, Paris 1974, 94 (dt. Aufzeichnungen III, 147). Vgl. M. Sourisse, »Simone Weil et Heidegger«, in: Cahiers Simone Weil XII/3 (1989) 226–239; E. Gabellieri, Être et don. Simone Weil et la philosophie, LouvainParis 2003, 70ff., 394f. u. 490f. 552 Cahiers III, 192 (dt. Aufzeichnungen III, 258). 550 551

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mit Christus und dem Christentum an Momente der Schönheit wie äußerster Schmerzen gebunden sind, da hier die mystische Entleerung des »Nacktseins« im Sinne der »Dunklen Nacht« gemäß Johannes vom Kreuz erfahren wird.553 Genau betrachtet, gibt es hier keinerlei Verwirklichungsdimen­ sion des »Da-seins« mehr auf der Ebene des naturalen oder seinsim­ manenten Faktums. Denn solches bliebe letztlich die reine Möglich­ keit eines von mir erwirkten Todessinnes als meiner Daseinsleistung. Das Gute und das Schöne offenbaren in der Abhängigkeit ihrer Zugänglichkeit von einer Todeserfahrung in der Zeit für das ich­ hafte Individuum die Notwendigkeit eines Aktes selbstabrückender Zustimmung, die für S. Weil nur im Verbund mit Gottes »Weltrück­ zug« als erschaffender Liebe zu denken ist.554 Zugleich jedoch birgt bei ihr jeder objektkonstituierende Akt mittels der dekreativen Epoché diese Möglichkeit, um die »Loslösung« von der egohaften Selbstre­ ferenz in der originären Gebung als Gnade zu vollziehen. Deshalb entzieht sich die weilsche Epoché in ihrem offenbarenden Stellenwert gerade auch nicht – wie die husserlsche eidetische Reduktion – der Alltäglichkeit, deren bedeutungsreichster Ort für jedes Individuum die Arbeit darstellt: »Was auch im Himmel die geheimnisvolle Bedeu­ tung des Todes sein mag, auf Erden ist er die Verwandlung eines Wesens aus zuckendem Fleisch und denkendem Geist, eines Wesens, das begehrt und hasst, hofft und fürchtet, will und nicht will, in einen kleinen Haufen regloser Materie. – Die Zustimmung in diese Verwandlung ist für den Menschen der höchste Akt vollkommenen Gehorsams. [...] Die körperliche Arbeit ist ein täglicher Tod. Arbeiten heißt, sein eigenes Sein, mit Leib und Seele, in den Kreislauf der reglosen Materie einbringen, es zu einem Verbindungsglied (inter­ médiaire) zu machen zwischen einem Zustand eines Materieteils und einem darauf folgenden, heißt, sich zu einem Werkzeug (instru­ ment) zu machen. [...] Die Zustimmung in den Tod, wenn der Tod 553 Vgl. außer unser vorherigen Anm. 1 ebenfalls A. Devaux, »Passion de la vérité et expérience mystique chez Simone Weil«, in: Cahiers Simone Weil 8/1 (1985) 67–85; S. Sandherr, »... eine Treue ins Leere hinein. Eine Annäherung an Simone Weil«, in: A. Middelbeck-Varwick u. M. Thurau (Hgg.), Mystikerinnen der Neuzeit und Gegen­ wart, Frankfurt/M. 2009, 139–152; C. Herrando, »Simone Weil, lectrice de saint Jean de la Croix«, in: Cahiers Simone Weil 42/4 (2019) 293–322. 554 Für die S. Weil selbst nicht bewusste Übereinstimmung mit dem göttlichen Rückzugs-Motiv in der jüdischen Mystik der Kabbala hierbei vgl. R. Kühn, Leere und Aufmerksamkeit, 208ff.

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gegenwärtig ist und in seiner Nacktheit erscheint, ist ein äußerstes augenblickhaftes Sich-Losreißen von dem, was jeder sein Ich (moi) nennt. Die Einwilligung in die Arbeit ist weniger gewaltsam, [aber] unmittelbar nach der Einwilligung in den Tod [...] der vollkommenste Akt des Gehorsams, den der Mensch zu leisten vermag.«555 Diese strukturell mystische Verschränkung von Arbeit/Tod in der Alltäg­ lichkeit macht einsichtig, dass die Möglichkeit der Mystik in solch universale Notwendigkeit alltäglichsten Tuns selbst eingeschrieben ist. Simone Weils Denken wie Erfahrung enthält deshalb einen durch­ gehend möglichen Übergang von einer areligiösen zu einer religiösen Mystik. Diese ist weder vorrangig affektiv noch spekulativ konnotiert, wie die Tradition diese Unterscheidung vorgab,556 sondern an den Grundgegebenheiten des Wahrnehmungsvollzugs orientiert. Dieser lässt eine äußerste inkarnatorische Zustimmung in die Notwendigkeit und das Gute für jedes Individuum stets und überall zu, so dass die Mystik ein ubiquitäres Phänomen darstellt.557 Husserl wie S. Weil kritisierten in solchem Kontext die Abs­ traktion der Wissenschaften von jener urdoxisch lebensweltlichen Einwurzelung. Aber wenn man Husserl vorwerfen kann, dass er durch seine Wissenschaftsreduktion die Epoché der Wissenschaftlich­ keit selber als teleologischer Geschichtsvernunft im Letzten nicht vornimmt, um wirklich phänomenologisch das reine »Wie« der originär individuierten Selbstverlebendigung zu befragen, so kann man andererseits bei S. Weil erkennen, dass ihre dekreative Reduk­ tion von einem vorausgesetzten axiologischen Ideal getragen ist. Damit blieb die Epoché prinzipiell einem Motivationshorizont von »Vernunft« oder »Wert« verhaftet, so dass zu fragen ist, ob damit ihrer eigenwesentlichen Radikalität Rechnung getragen wird, die Husserl wie S. Weil bis hin zur gegenwärtigen Phänomenologie für die Bestimmung der realitätsoffenbarenden Individuierung beanspru­ chen. Denn Ziel ist jeweils die von allen Vor‑Urteilen geläuterte Möglichkeit, das rein phänomenologische Selbsterscheinen in allen 555 Enracinement, 325 (dt. 438f.); für die gesellschaftlichen Konsequenzen siehe auch M. Narcy, »Simone Weil, mystique ou politique?«, in: Cahiers Simone Weil 7/2 (1984) 104–122; E. Gabellieri, Penser le travail avec Simone Weil, Paris 2016. 556 Vgl. S. Wendel, Christliche Mystik. Eine Einführung, Kevelar 2011, 25f. 557 Vgl. Für die Unterscheidung von »christlicher und »nicht-christlicher Mystik« vgl. beispielsweise L. Gardet u. O. Lacombe, L'expérience du Soi – étude de mystique comparée, Paris 1981; zur Diskussion einer mysztischen Einheit auch W. Achtner, Mystik als Kern der Weltreligion? Eine protestantische Perspektive, Stuttgart 2017.

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Erscheinungen der Realität deskriptiv zu gewährleisten. Bei S. Weil blieb die dekreative Vorentscheidung für den »Wert des Guten« gegeben, aber dieses Gute ist schwierig auf der passiven Ebene reiner Affektion zu fassen, weil das Sinnliche hier wie ein adiaphoron auftritt. Deshalb muss sie methodenimmanent zu einer Hermeneutik der religiösen Traditionen greifen, um die Ausweisung des Übergangs von der phänomenalen Zeichenlektüre zur kulturell anwesenden Symbol-Entzifferung des Guten hin durch die liebend ich-entleerte Aufmerksamkeit vornehmen zu können. Damit ergibt sich zugleich eine phänomenologisch hermeneutische Aktualität S. Weils, insofern gegenwärtige Forschung gerade an diesem inhärenten Bezug von Phä­ nomenologie/Hermeneutik arbeitet, welcher eine rein historische Rationalität von Ich und Lebenswelt hinterschreitet.558 Für die Mys­ tikdiskussion bedeutet dies, dass S. Weil nicht nur die Dekreation im Sinne von Metaphysik/Axiologie miteinander verbindet, sondern aufgrund deren struktureller Universalität ebenfalls in allen mysti­ schen Traditionen aufleuchten lässt, was mit einer entsprechenden Kritik an den machtbesessenen Idolatrien von Israel, Rom und der Kirche verbunden ist.559 Die Spannung zwischen Religion, Mystik und reinem »Vernunft­ menschentum«, wobei allerdings sowohl S. Weil wie E. Husserl eine ethische Verantwortung der transzendentalen Epoché im Auge haben, scheint uns daher schließlich die Problematik der wirklich »voraus­ setzungslosen« Selbstexplikation des phänomenologisch individu­ ierten und kollektiven Lebens aufzuwerfen. Da S. Weil trotz der von ihr anerkannten Grundkategorie des praktischen »Ich kann« keinen reinen Lebensbegriff erarbeitet hat, sondern Leben – wie das Dasein – allein von der energetischen Kraftgesetzlichkeit (force) her bestimmt sieht,560 war es ihr nahezu unmöglich, eine gesell­ schaftliche, politische wie kulturelle Zukunft zu denken, die sich allein aus einem originär transzendentalen Leben ergibt, welches den 558 Für einen Vergleich mit H. Arendt in diesem Zusammenhang etwa vgl. M. Cedroni (Hg.), Les Catégories de l'universel. Simone Weil, Hannah Arendt, Paris 1997. 559 Vgl. E. Gabellieri, Le phénomène et l'entre-deux, 219ff.; R. Chenavier, Simone Weil, une Juive antisémite. Eteindre les polémiques, Paris 2021, 165ff. 560 Den Nachweis dazu führt mit allen notwendigen Quellenangaben aus dem 19. und 20. Jahrhundert E. Gabellieri, Être et don, 412ff.; vgl. ergänzend Th. Billmeier, »Reines Verlangen. Zu Simone Weil und Gilles Deleuze«, in: Chr. Kupke, Chr. Kurth u. S. Rosenmüller (Hgg.), Leute zuRechtmachen. Praktiken der Formierung des Menschen in der politischen Gegenwart, Berlin 2019, 50–63.

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Grund aller Werteinschätzung darstellt. Genau diese Schwierigkeit wird am Zusammenhang von Ich‑Leere‑Gott als Knotenpunkt ihrer dekreativen Lektüre sichtbar, denn sie fordert nicht nur von Gott, dass er sich von seinem All‑Sein »zurückziehe«, damit Nicht‑Abso­ lutes »außerhalb von ihm« als creatio existieren könne. Vielmehr verlangt sie parallel dazu vom »Ich« des Individuums, in sich eine »Leere des Begehrens« zu schaffen, um dann Gott oder die Gnade darin zu empfangen. Übergehen wir das radikal phänomenologische Problem hierbei, dass S. Weil Gott eine Art Bedingung für dessen Selbstoffenbarung auferlegt sowie eine auffallend gleiche räumliche Schematisierung bei solchem Ent-Werden als »Rückzug« und »Ent­ leeren« vornimmt, so bleibt das christusmystische Hauptproblem, dass selbst jede Ent-Leerung als äußerste Epoché von Wert- und Sinngeltungen der Welt gerade einer »Kraft« noch bedarf, um solche Passivität geschehen zu lassen. Da wir hier auf der Ebene radikaler Ursprünglichkeit operie­ ren, wo sowohl jede psychologische Selbstreflexion wie aber auch die transzendentale Egohaftigkeit als überdeterminierte Selbstver­ gewisserung im Sinne eines »uninteressierten Zuschauers« (Fink) aufgehoben ist, besteht nur die Möglichkeit, dass diese energetische wie inhaltliche Leere des Begehrens genau das noch in Anspruch nimmt, was als »Kraft« desavouiert wurde – nämlich ein bis auf die Gegen‑Reduktion reduziertes Leben. In einem ursprünglichen Sinne kann man sich gerade von diesem als reinem »Ich kann« nicht lösen, weil es die Selbstbindung des Erscheinens selbst bedeutet – und daher auch die radikal individuierte Offenbarung des Absoluten birgt. Zur Beschreibung ihres eigenen Christuserlebnisses bleibt daher die notwendigerweise originäre Passivität des Lebens als »Ergriffensein« wie in der traditionellen Brautmystik gegeben, auch wenn die Katego­ rien von Transzendenz und Schau weiterhin die mitgeteilte Schilde­ rung beherrschen. Denn in ihrer »plötzlichen Übermächtigung durch Christus waren weder Sinne noch Einbildungskraft im geringsten beteiligt«, aber sie »liest« dennoch die »Gegenwart einer Liebe« wie »durch das Lächeln eines geliebten Antlitzes« im Leiden hindurch.561 Das heißt, der methodische Lektürebegriff der dekreativen Epoché bildet das zentrale mystische Beschreibungsmodell als einer »völlig

561

Attente de Dieu 54 (dt. Zeugnis für das Gute, 93).

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unerwarteten Berührung«, die dann von den ihr bis dahin vertrauten Wahrnehmungskategorien ausgelegt wird,562 In der dekreativen Leere verzichten individuelles Ich wie Ego darauf, noch irgendwie das Bewusstsein einer »Gabe« jedweder Art zum Verständnis göttlicher Gegenwart zu besitzen, wobei S. Weil hier nicht den Anspruch auf eine unio mit Gott stellt. Und in sol­ chem Verzicht auf eine »Gabe« besteht prinzipiell die strukturell mystische Selbstoffenbarung Gottes, da sie als solche zugleich ihre eigene Erscheinensbedingung ist, mit anderen Worten an keinerlei kategoriale Schematisierung mehr gebunden werden kann, sondern sich im reinen Wesen des passiv originären Begehrens als dessen Selbstgebung im Sinne des absolut phänomenologischen Lebens gibt. Besäße jedoch das reine Begehren nach S. Weil keinerlei phänomenologische Materialität mehr, dann würde nicht sichtbar, wie sich »Gott« als das schlechthin »Gute« dem »Individuum« als Ich/Ego (Moi/Je) substituieren könnte. Das »ent-schaffene« bzw. »ent-wordene« Begehren hinsichtlich aller partikulär transzendenten Objekterfüllung muss in seine selbstaffektive Originarität eingesetzt bleiben, damit es überhaupt »Begehren« (désir) als eine Modalität des individuierten Lebens bleiben kann, wie dies vom reinen Begehren des übernatürlich Guten gefordert ist. Anders gesagt, ist das reine Begehren als absolute Passibilität im Sinne der Rezeptivität gegen­ über Gottes Selbstgebung jenes apodiktisch transzendentale Leben, in dem sich so etwas wie »Verzicht« und »Erfüllung« überhaupt noch ereignen können, weil das individuiert subjektive Leben immer schon durch seine absolute Lebensabkünftigkeit jene phänomenologisch bestimmte Weise bildet, in der sich die Selbstoffenbarung Gottes als dessen Selbstgebung vollzogen hat. Die radikale Epoché auf das Begehren ohne Form und Inhalt hin, das heißt ohne intuitive Katego­ rialität im Sinne Kants bzw. ohne Horizontstruktur in husserlscher Terminologie, impliziert also geradezu die Gegen‑Reduktion vom Leben aus, die nichts anderes mehr in Anspruch nimmt als nur dessen eigene immanente Selbstbewegung. Nämlich keinen partikulären Wert mehr für ihren Vollzug zu fixieren, sondern das reine »Wie« der individuierenden Phänomenalisierung allen Erscheinens zu sein, wobei dies als mystische Passivität zugleich die höchste Selbstgebung des absolut Wirklichen darstellt. 562

Ebd., 54 (dt. 93).

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Da diese absolute Phänomenalisierung jegliches Wissen um eine »Gabe« im transzendenten Sinne ausschließt, berührt S. Weil damit ebenfalls die Frage des Immemorialen. Bevor das »Ich« nämlich in irgendeiner Weise ein intentionales Ego ergibt, ist es ein passibles »Mich« im Akkusativ, was wir schon öfters betonten, das jede um sich selbst wissende Konstitution ausschließt und somit auch nicht das Sich-Geben des absoluten Lebens oder Gottes in die Form einer wahrnehmenden Schau bzw. »Lektüre« erheben kann. Das passible Sich-Selbst-Gegeben-Sein als reine Individuierung ist daher ebenso »verborgen«, wie die absolute Lebensgabe im intentionalen Sinne »vergessen« ist, da sie nicht retentional erinnert werden kann. Wenn S. Weil die Kreuzesverlassenheit Christi, ja Christus selbst, als das »Schweigen Gottes« versteht,563 dann kann dies nicht nur als die äußerste Form der religiösen Dekreation verstanden werden, sondern auch als der maßgeblich mystische Sachverhalt, dass Vergessenheit wie Schweigen als Modi der absoluten Lebensgabe dennoch eine konkrete Ipseität bergen, die – christologisch ausgedrückt – den Gehorsam des Sohnes Gottes als universale Wahrheit darstellt. Diese christusmystische Wahrheit, so erfuhr S. Weil sie selber, ist ohne jede innerweltliche Finalität, weil sie die Wahrheit der reinen Lebens­ passibilität als lebendiges Wort der Selbstoffenbarung Gottes ist. In dieser Hinsicht bleibt die weilsche Epoché einer der wenigen gegenwärtigen Versuche, die christologischen Theologoumena für die reine Erscheinensrealität einer radikalen Phänomenologie fruchtbar zu machen, wo Reflexion des Universalen und mystisches Erleben in eins fallen. Schließt nämlich unsere Sinnlichkeit nach den funda­ mentalen Einsichten S. Weils eine wirklich göttliche Offenbarung ein, dann umfasst gerade unsere rein passive Affektivität als phä­ nomenologische Materialität jenen genannten Gehorsam, mit dem der Sohn Gottes in seinem Tod selbst »Materie« wurde. Mithin das Grundpathos der innertrinitarischen Selbstgebung als Selbstemp­ fängnis im inkarnierten Gehorsam vollzogen hat, der sein Wesen als Logos verlebendigender Wahrheit selbst ist. In dieser rein passiblen Sinnlichkeit als der dekreativen Entleerung jeglicher Objekt- und Wertgestalt bedeutet dann Christus den »Zugang« zum absoluten Leben, der keines bestätigenden Blickes mehr bedarf. Insoweit die phänomenologische Materialität dieser rein individuierten Sinnlich­ keit qua christologischer Ipseisierung bereits das Leben schlechthin 563

Pensées sand ordre, 129.

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1. Simone Weil und die »dekreative Weltlektüre« als Universalmystik

ist, mit anderen Worten »Leben« mit all seinen sich immanent ent­ faltenden »Könnens«-Möglichkeiten einschließlich des mystischen »Ergriffenwerdens« in reiner Passivität. Simone Weil schrieb in ihren hermeneutisch umfassend ange­ legten »Vorchristlichen Intuitionen«, dass »man zu nichts überge­ hen kann, ohne durch Gott hindurchzugehen«, was genau diese nicht‑ekstatische Phänomenalisierung als Lebendigsein in Gott zusammenfasst. Als eine alltäglich universale Mystik lässt sich dann auch im Sinne dieser weilschen Dekreation sagen, die ebenfalls Platon und die ihm folgende Tradition vorrangig als »Mystik« ver­ steht,564 dass unsere passiv transzendentale Sinnlichkeit als absolute Individuiertheit bereits das »übernatürliche Leben« in seiner ganzen Selbstgebung umfasst. Simone Weils Beitrag zur radikalisiert mysti­ schen Epoché bedeutet daher im Rahmen eines solch originären prin­ cipium individuationis, dass die unmittelbar beim reinen Leben selbst anzusetzende Gegen‑Reduktion jede traditionelle Vormeinung, sei sie naiv, metaphysisch oder mystisch, über das »Leben« und seine »Stufungen« aufzugeben hat, wie sie seit Aristoteles überliefert wer­ den,565 um mit dem »übernatürlichen Leben« die Originarität dieses Lebens in seiner phänomenologischen Unmittelbarkeit selbst in den Blick zu bekommen. Damit dürfte S. Weil auf ihre Weise durch den Dekreationsgedanken jenes entscheidende phänomenologische Prinzip bezeugen, welches nach Jean-Luc Marion heute besagt,566 dass die Gebung um so größer ist, je radikaler die Reduktion ausfällt. Zugleich würde sie über die originäre Verbindung von Mystik und Phänomenologie deren reichste Möglichkeiten eröffnen, wie sie sich an der radikalen Frage des rein subjektiven Begehrens als Kriterio­ logie zu bewähren haben. Letzteres sollte daher nicht länger einer Macht-Illusion als irrtümlicher Kompensation verfallen sein, wie es

564 Vgl. Attente de Dieu, 55 (dt. Zeugnis für das Gute, 94): »[Nach diesem Christu­ sereignis] habe ich empfunden, das Plato ein Mystiker ist, dass die ganze Ilias von christlichem Licht durchflutet ist, und dass Dionysos und Osiris in gewisser Weise Christus selber sind, und meine Liebe wurde hierdurch verdoppelt.« 565 Vgl. S. Föllinger (Hg.), Was ist Leben? Aristoteles' Anschauung zu Entstehung und Funktionen des Lebens, Stuttgart 2010; Ch. Pasqualin, A.K. Ronhede u. S. Wu (Hgg.), Leben in lebendigen Fragen. Zwischen Kontinuität und Pluralität, Frei­ burg/München 2021. 566 Vgl. H.-B. Gerl-Falkovitz (Hg.), Jean-Luc Marion. Studien zum Werk, Dres­ den 2013.

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1. Simone Weil und die »dekreative Weltlektüre« als Universalmystik

im Folgenden in kritischer Auseinandersetzung mit den areligiösen Mystikformen bei Bataille und Lacan zu erörtern bleibt.

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2. Erotik und Gewalt als »Mystik« bei Georges Bataille

Der dekreative Zusammenhang von Energie/Leere gemäß Simone Weil zuletzt ist für Georges Bataille (1897–1962) in diesem Kapitel als Verhältnis von Energie/Verausgabung mit geänderter Perspektive aufzugreifen, wobei dem Trieb als »Intimität« in Erotik und Gewalt eine besondere Bedeutung zukommt. Allgemein erscheint der Trieb als »triebhafte Intentionalität« unbegrenzt und unreflektiert, was die subjektive Bewegung in ihrer sichtbaren Kontingenz betrifft. Von Autoren wie Husserl, Freud und Scheler etwa wird zwischen dem unbewussten Trieb und der bewusst werdenden Tendenz des Triebes eine Zwischenzone angesetzt, die aus dem scheinbar »blinden Begeh­ ren« ein Moment der Verbindung von Instinkt und Wollen ergebe, um schließlich in ein ethisch orientiertes Handeln überzugehen. Diese »Reifung« des Triebes kann in leiblicher Hinsicht als eine dreiteilige Dynamik von animalischem, libidinösem und symbolischem Leib angesehen werden, wie beispielsweise bei Merleau-Ponty, der diese Dynamik zudem mit der motorischen, erotischen und existentiellen Intentionalität korrelieren lässt.567 Die Unterscheidung zwischen Instinkt und Trieb entspräche dabei allerdings nicht genau der Unter­ scheidung zwischen Tier/Mensch, denn der libidinöse Trieb findet sich bei den höheren Tierlebewesen wie bei den Menschen, während die symbolisierte Leiblichkeit nur bei den letzteren auftrete, was in der bisherigen Mystikanalyse als Metaphorik der »Gotteserotik« im Sinne des »Hohenlieds« auftrat. Was die gegenwärtige phänomenologische Diskussion betrifft, so wird weitgehend Trieb und Wahrnehmung zusammen gesehen, und zwar in dem Sinne, dass die Wahrnehmung vom Trieb durch­ zogen sei, um eine »innere Spannung« zu signalisieren, die den Organismus antreibe, sofern dieser von einem Bedürfen bestimmt ist, 567 Vgl. M. Merleau-Ponty, Die Natur (Vorlesungen am Collège de France, 1956– 1958), München 2000.

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2. Erotik und Gewalt als »Mystik« bei Georges Bataille

welches ein entsprechendes Objekt der Befriedigung vorzeichne.568 Von diesen Voraussetzungen her erscheint das Leben zumeist als ein Widerspruch oder als eine wesentliche Spannung zwischen physischchemischen Gegebenheiten und einem psychologischem Verhalten, welches das Innere mit dem Äußeren zu verbinden habe. Aber es ist offensichtlich, dass der Trieb (bzw. die »Triebhaftigkeit«, um Tier und Mensch bereits auf der Instinktebene zu unterscheiden) mehr darstellt als die bloß animalische Spannung, um ein Bedürfen zu befriedigen. Denn gerade unser Begehren zeigt, dass bei letzterem stets ein subjektives Verlangen in Bezug auf das Selbst oder Ich mitgegeben ist, während das Bedürfen als nur gegenständlich angesehen wird. Dies tritt ganz klar im erotischen Begehren zu Tage, denn letzteres erfüllt sich nicht allein in einem sexuellen Verlangen, sondern sucht eine Koinzidenz der Subjektivität auf beiden Seiten der Liebenden, so dass hier eine rein phänomenologische Immanenz des Lebens ins Spiel kommt, die hinsichtlich des Begehrens und des Triebes genauer zu untersuchen bleibt. Ein erstes Zitat aus Bataille zeigt uns, dass wir hierbei von der Subjektivität als »Intimität« auszugehen haben, die sich in einem besonderen Verhältnis zur Welt befindet, wovon all seine weiteren Analysen bestimmt bleiben: »Wenn wir uns nun Menschen vorstellen, die die Welt im Licht kontinuierlicher Existenz (also in Bezug auf ihre Intimität, ihre tiefe Subjektivität) denken wollen, so gewahren wir zugleich, dass sie dieser Welt notwendig die Eigenschaften eines Dings zuschreiben müssen, das ›fähig ist zu handeln, zu denken und zu sprechen‹ (gerade so, wie die Menschen es zu tun pflegen).«569 Alle Erscheinungen laufen also darauf hinaus, wie Kontinuität und Diskontinuität in Bezug auf das »Verausgaben« zu bestimmen sind und wie dabei der innere Selbstvollzug des Menschen zu beurteilen bleibt. Auch wenn es schwierig sein dürfte, für Batailles Gesamtwerk zu entscheiden, ob im Mittelpunkt solch »souveräner Erfahrung« 568 Vgl. H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frank­ furt/M. 2011, 581–603, zu Renaud Barbaras und dessen Werken: Le désir et la distance. Introduction à une phénoménologie de la perception, Paris 1999; Introduc­ tion à une phénoménologie de la vie, Paris 2008; außerdem C. Maier u. H. van Laak, Die Entdeckung des Begehrens, München 2007; A. Löwe, R. Lesmeister u. D. Krochmalnik (Hgg.), Gesetz und Begehren. Theologische, philosophische und psychoanalytische Perspektiven, Freiburg/München 2017. 569 Théorie de la religion, in: Œuvres complètes VII, Paris 1976, 281–318 (dt. Theorie der Religion, München 1997, 31).

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2. Erotik und Gewalt als »Mystik« bei Georges Bataille

des subjektiv intimen Menschseins die Religion oder die Erotik letztlich steht, weil sie beide zum Kern seines »Mystizismus« des Sakralen gehören, so ist auf jeden Fall angesichts der Werkgenese offensichtlich, dass sie – zusammen mit der Ökonomie und dem Krieg – den Mittelpunkt seiner Untersuchung über die unvermeidli­ che »Verausgabung« (dépense) bilden.570 Insofern lässt sich schon festhalten, dass Bataille gleichfalls eine radikale Bestimmung des Lebens als Begehren (désir) erarbeitet hat, die sich jedoch als gänzlich a-theistisch oder a-theologisch verstand571 – und dennoch darin gerade als mystisch. Bataille 572 sah sehr früh die »innere Erfahrung« des Begehrens als lebendige Grenzerfahrungen der Subjektivität und verband sie daher mit dem Erotischen und dem Heiligen (sacré) in dem Sinne, als er von einer Lebensauffassung ausging, die einen je zerstörerischen »Überschuss« (excès) für die Selbstwerdung oder Individuation einschließt. Das »Opfer« in entsprechenden religiösen Ritualen erhält dadurch eine Art »lebensmystischer« Zwischenrolle als sakrifizielle Schwingung zwischen animalischer Immanenz des Lebens und bewusstseinsgegebener Transzendenz des Subjekts.573 Dabei soll sich das »Verschwinden« bzw. die »Auflösung« der Indivi­ duation als Paradox des Exzesses im Rahmen entfesselter Sexualität

570 Vgl. G. Bataille, »La notion de dépense«, in: La Critique Sociale 7 (1933) 7–15 (dt. »Der Begriff der Verausgabung«, in: G. Bataille, Das theoretische Werk I: Die Aufhebung der Ökonomie. Der Begriff der Verausgabung – Der verfemte Teil – Kommunismus und Stalinismus, München 1975, 7–31); »La souveranité«, in: Monde Nouveau-Paru 101–103 (1956) 12–53 (dt. »Die Souveränität«, in: G. Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, München 1978, 45–86). 571 Vgl. G. Bataille, La Somme athéologique I (Œuvres complètes V), Paris 1973; dort in »L'expérience intérieure« (1943), 7–190, die Schilderung eines mystischen Zustandes »leerer Gegenwart, die sich nicht mehr von einer Abwesenheit unterschei­ det«; vgl. ebd., 130–149 u. 264–275 über die Ekstase. Solche wird später ebenfalls für die Beschreibung der Erotik in Anspruch genommen, nämlich als der »höchste Augenblick« im »Schweigen der Erotik« (L'érotisme, Paris 1957. 305; dt. Die Erotik, München 1994). Siehe dazu R. Reschika, Das Versprechen der Ekstase. Eine philo­ sophische Reise durch das erotische Werk von Georges Bataille und Julius Evola, Bochum/Freiburg 2011. 572 Vgl. Die innere Erfahrung nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953. Atheologische Summe 1, Berlin 2017; dazu J. Bruno, »Les techniques d'illumination chez Georges Bataille«, in: Critique 195–196 (1963) 698–719; M. Hulin, La Mystique sauvage. Aux antipodes de l'esprit, Paris 1993, 51f. 573 Vgl. Theorie der Religion, 39ff.

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oder ökonomischer Verausgabung574 mit dem Erleben einer mysti­ schen Unendlichkeit paaren, die für den Menschen keine äußere Begrenzung seiner inneren Erfahrungsbewegung zulässt. Bataille hat dadurch als philosophischer wie literarischer Autor bis in die Gegenwart hinein vor allem großen Einfluss im Sinne kulturkritischer Erneuerung ausgeübt, da er die geschichtliche Ursprungsfrage von Animalität/Humanität neu aufrollt: »Das animalische Leben, auf halbem Weg zu unserem Bewusstsein stehend, gibt uns ein schwer lastendes Rätsel auf. Wollten wir uns das Universum ohne den Menschen vorstellen, ein Universum, wo einzig der Blick des Tieres sich vor den Dingen öffnete, könnten wir, weil das Tier weder ein Mensch noch ein Ding ist, nur ein Sehen in uns hervorrufen, in dem wir nichts sehen, da der Gegenstand dieses Sehens ein Gleiten ist, das von den Dingen, die keinen Sinn haben, solange sie allein sind, übergeht zu einer von Sinn erfüllten Welt, eingebracht durch den Menschen, der jedem Ding erst seinen Sinn verleiht. Deshalb können wir einen solchen Gegenstand nicht präzise beschreiben. Oder vielmehr lässt sich angemessen, nämlich offenherzig, nur poetisch von ihm reden, denn nie beschreibt die Poesie etwas, das nicht ins Unerforschliche entglitte.«575 Somit stehen die Ambivalenz des Exzesses als Todeserfahrung im Leben und die Figur der Überschreitung (transgression) als unent­ scheidbares Phänomen von individueller Kontinuität/Diskontinuität im Vordergrund, wobei gerade die Subjekt-»Selbstentmachtung« wie »Subjektivität des Seins« als »Genuss des Ich« (jouissance) zwei komplementäre Seiten der menschlichen Grundposition darstellen. Mit anderen Worten ist das Leben unaufhebbare »Verausgabung« oder »Verschwendung«, was nie von der Objektivierung des ökono­ mischen Nutzenkalküls der Dingwelt eingeholt werden kann, so dass die »Souveränität« des Menschen sich letztlich nicht nur im Opfer, im Lachen und in der Erotik sowie im Fest zeigt, sondern insge­ samt in einem Angst wie Gewalt überspannenden »Mystizismus«.576 Vgl. G. Bataille, La part maudite, essai d’économie générale I: La consumation (1949), Paris 1980 (Œuvres complètes VII, 17–180) (dt. Der verfemte Teil, in: Die Aufhebung der Ökonomie, München 1985, 33–234); dazu G. Bergfleth, Theorie der Verschwendung. Einführung in Georges Batailles Antiökonomie, München 1985. 575 Theorie der Religion, 23. 576 Vgl. La Somme athéologiques I, 15–18: »Critique de la servitude dogmatique (et du mysticisme)«; 120–123 u. 185–190: »Dieu« sowie »Gloria in exelsis mihi«. die zum IV. Teil von L'expérience intérieure mit dem Untertitel »Post-Scriptum au supplice 574

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Hierdurch wird die Vernunft in ihrem eigenen Verlust zur reins­ ten Selbstbejahung ohne weitere Finalität geführt, was schließlich als »Nicht-Wissen« (non-savoir) ebenfalls entsprechende Lektüren von Johannes vom Kreuz wie von Nietzsche und Hegel impliziert. Durch eine solche Sicht des »atheologisch Heiligen« hat Bataille eine Selbstaufklärung der Aufklärung initiiert, die dann nicht nur für den Poststrukturalismus maßgeblich war, sondern überhaupt die Frage nach der Einheit von Vernunft und Leidenschaft beim Einzelnen wie in der Gesellschaft innerhalb diesbezüglicher Diskussionen bis heute – einschließlich der Mystikerforschung – stellt.577 Denn ein reiner Ver­ weisungszusammenhang (Sinn) der Nützlichkeit durch Werkzeuge als »wahrhaftem Zweck« (Produktion) wäre eine »Absurdität«, die keine wirkliche Erfüllung für den Menschen mehr wäre, insofern dieser mit keinerlei Ding zusammen fallen kann. So heißt es zur Dialektik von Kontinuität/Diskontinuität als »erwachter Intimität« im Sinne einer künstlerisch »subversiven Sou­ veränität« gegenüber allen Mächten auf dem Boden einer instrumen­ tellen Welt durch Werkzeuge: »Die Position des Gegenstandes, die in der Animalität nicht vorkommt, ergibt sich aus der menschlichen Verwendung von Werkzeugen. Zumindest wenn die Werkzeuge als Mittel dem beabsichtigten Resultat angepasst werden – wenn die, die sie verwenden, sie fortschreitend verbessern. Soweit die Werkzeuge im Hinblick auf einen Zweck hergestellt werden, setzt das Bewusstsein sie als Gegenstände, als Unterbrechungen in der unterschiedslosen Kontinuität. Das hergestellte Werkzeug ist die Entstehung des Nicht-Ich.« Dafür wird in geschichtlicher Hinsicht sowohl mit Bezug auf die archaische Souveränität der Priester wie der absolutistischen Souveränität späterer Herrscher folgende Begrün­ dung angeführt: »Der Zweck der Erstellung eines Werkzeugs hat stets den Sinn, den auch die Verwendung des Werkzeugs hat: auch ihm wird wieder eine Nützlichkeit zugewiesen – und so fort. [...] Ein ›wahrhafter Zweck‹ würde zurückführen zum kontinuierlichen (ou la nouvelle théologie mystique«, 117–190, gehören. Zum Lachen ebd., 331–367; außerdem »La religion surréaliste«, in: Œuvres complètes VII, 381–405, sowie ebd., 453–458: »Le problème du surréalisme«. 577 Vgl. Critique 195–196 (1991): Hommage à Georges Bataille; H. Schmidt, »Bataille, Georges«, in: Th Bedorf u. K. Röttgers (Hgg.), Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch, Darmstadt 2009 38–43; A.R. Boelderl, Georges Bataille. Über Gottes Verschwendung und andere Kopflosigkeiten, Berlin 2005; A.R. Boelderl (Hg.), Welt der Abgründe. Zu Georges Bataille, Wien 2015.

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Wesen, das sich wie Wasser im Wasser in der Welt verliert. Wenn es sich jedoch um ein ebenso deutlich unterschiedenes Sein handeln sollte wie beim Werkzeug, müsste man seinen Sinn auf der Ebene der Nützlichkeit suchen, auf der Ebene der Werkzeuge, und es wäre nicht mehr ›wahrhafter Zweck‹. Einzig eine Welt, in der die Wesen sich unterschiedslos verlieren, ist überflüssig, dient zu nichts, hat mit nichts etwas zu schaffen und will nichts besagen: einen Wert hat sie nur in sich, nicht im Hinblick auf etwas anderes, dies andere wiederum für etwas anderes und so fort.«578 In diesem kurz skizzierten Gesamtrahmen seines fragmentari­ schen und oft aphoristischen Denkens von Welt/Subjekt als Imma­ nenz/Transzendenz oder Kontinuität/Diskontinuität ist die »eroti­ sche Verschwendung«579 der fundamentale Ausdruck der maßlosen »Verausgabung« menschlicher Energie schlechthin im Unterschied zum erwähnten ökonomischen Nutzenkalkül und dessen Machtaus­ übung mittels Instrumente. Die Erotik gehört durch die historische wie prinzipielle Verschränkung von Verbot/Übertretung, wie es Inzest und Vergewaltigung dokumentieren, zu einem letztendlich solaren Energieüberschuss, in den Gewalt, Fortpflanzung und Tod zusammen mit dem Sakralen eingebettet sind.580 Die Erotik sei auf diese Weise das wesentliche Problem menschlicher Existenz, denn sie geht als phantasmatische Aktivität581 über das bloß Sexuelle bzw. Libidinöse wie bei Freud hinaus, so dass sie bis zum Tod des Individuums und des Anderen bei ihrer Ausübung reichen kann. Da sich hierin ein unbegrenztes Begehren ausdrückt, wie es auch die Mystik kennt, kann die Erotik über das erotische Objekt (für Bataille die Frau) zur Fülle der Vereinigung mit dem Sein selbst werden, 578 Theorie der Religion, 26f.; dazu auch H.-J. Heinrichs, Der Wunsch nach einer sou­ veränen Existenz. Georges Bataille, Graz 1999; M. Dick, Die Dialektik der Souverä­ nität. Philosophische Untersuchungen zu Georges Bataille, Hildesheim-Zürich-New York 2010. 579 Vgl. ebenfalls G. Bataille, L'Histoire de l'érotisme, in: Œuvres Complètes VIII, Paris 1976. 580 Der Inzest ist für Bataille nicht das erste Verbot der Gesellschaften wie für Lévi-Strauss etwa, sondern ihm geht das Verbot durch den Tod voraus, der als Gewalt der Transzendenz hereinbricht; vgl. L'érotisme, 3–52: »L'interdit lié à la mort« u. 53–58: »L'interdit lié à la reprooduction« sowie 207–229: »L'énigme de l'incest«. La Somme athéologique I, 83–92: »La mort est en un sens une imposture«. Dazu B. Mattheus, Georges Bataille. Eine Thanatographie, 3 Bände, München 1984. 581 Worin er sich mit Lacan trifft; vgl. J.-F. de Sauverzac, Le désir sans foi ni loi. Lecture de Lacan, Paris 2000, 2ff.; S. Lippi, Transgressions. Bataille, Lacan, Paris 2008.

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was gleichzeitig jedoch die Selbstauslöschung in eben demselben impliziert. Aus diesem Grund vermag die Erotik letztlich auch durch Askese oder sexuelle Enthaltsamkeit niemals reduziert zu werden und gewinnt von daher eine unmittelbare Nähe zum zuvor genannten Sakralen und Mystischen, wie Theresa von Avila als Beispiel zeigen soll.582 Diese ohne jede Moral gedachte Unbedingtheit beinhaltet den erwähnten »souveränen Menschen«, der keinerlei äußere Macht besitzt, aber gegenüber jeglicher Angst vor Verboten frei ist, wie sicher Sade und Blanchot hierbei Bataille inspiriert haben,583 so dass die philosophische Frage mit der »Überfülle« (la pléthore) der Erotik selbst zusammenfalle. Neben dieser Einwirkung Sades lassen sich ebenfalls weitere Einflüsse von Nietzsche, Kierkegaard und Heidegger neben Hegel heraushören, wie sie über Alexandre Kojève584 in den 1940er Jahren in Frankreich vermittelt wurden. Denn es korrelieren nicht nur Begehren und Tod miteinander wie im Hegelianismus, sondern die »Seinserfahrung« innerhalb der Ero­ tik besitzt zusammen mit der Todesbestimmung fundamentalontolo­ gische Züge wie beim heideggerschen »Dasein«. So schreibt Bataille im Zusammenhang mit dem Töten beim Opfern: »Das opfernde Töten löst durch eine Art Verkehrung die schwierige Antinomie von Leben und Tod auf. Denn tatsächlich ist der Tod nichts in der Immanenz, aber eben weil er nichts ist, ist kein Wesen je wahrhaft von ihm geschieden. Weil der Tod keinen Sinn hat, weil es keinen Unterschied gibt zwischen ihm und dem Leben, weil es ihm gegenüber weder Furcht noch Gegenwehr gibt, dringt er in alles ein, ohne dass sich Vgl. L'érotisme, 232–235, die kommentierte Darstellung aus Carrara-Marmor ihrer Ekstase als Transverberation durch Lorenzo Bernini in der römischen Kirche Santa Maria della Vittoria (1647–1652): »Le caractère sacré de la sexualité et la spiritualité sexuelle prétendue de la vie mystique«. 583 Vgl. M. Blanchot, Lautréamont et Sade, Paris 1949. – Maurice Blanchot (1907– 2003) ist besonders für seine literaturkritischen Essays und die philosophisch-poli­ tische Zusammenarbeit mit Levinas, Bataille und Derrida bekannt; vgl. L’Entretien infini, Paris 1969 (teilw. dt. Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Spra­ che, Literatur und Existenz, München 1991. J.-L.Nancy widmete ihm unter anderem zwei Beiträge, die auch für unseren Mystikzusammenhang aufschlussreich sind: »Der Name Gottes bei Blanchot« und »Auferstehung Blanchots«, in: Dekonstruktion des Christentums, Berlin 2008, 147–152 u. 153–158. 584 Vgl. Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phäno­ menologie des Geistes (1947), Frankfurt/M. 22005; zu Hegel siehe G. Bataille,, La Somme athéologique I, 127–130 u. 151–192; Hegel; Der Mensch und seine Geschichte, Berlin 2017. 582

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Widerstand regte. Die Dauer [durch die Dinge] hat keine Geltung mehr, oder ist nur noch dazu da, die krankhaften Freuden der Angst zu erzeugen. [...] Die reale Ordnung verwirft nicht so sehr die im Tod liegende Negation der Realität als vielmehr die Affirmation des intimen, immanenten Lebens, dessen maßlose Gewalt eine Gefahr für die Stabilität der Dinge darstellt und das völlig offenbar erst im Tod wird.«585 Woraus sich auf der emotionalen Ebene ergibt: »Nur eine naive Auffassung bringt den Tod in enge Verbindung mit der Traurigkeit. Die Tränen der Lebenden, die auf sein Kommen antworten, sind selber weit davon entfernt, einen der Freude entge­ gengesetzten Sinn zu haben. Weit davon entfernt, schmerzlich zu sein, sind die Tränen Ausdruck eines geschärften Bewusstseins für das in seiner Intimität erfasste gemeinsame Leben. Wahr ist, dass dieses Bewusstsein nie schärfer ist als in dem Moment, in dem die Abwesenheit schlagartig auf die Anwesenheit folgt. wie beim Tod oder auch bei der einfachen Trennung.«586 Diesseits sowie gegen jede religiöse Moralität scheint Bataille damit eine Annäherungsweise an das »Heilige« eröffnen zu wol­ len, wo auf der Ebene des Begehrens oder des lebendigen Leibes (chair) nicht mehr zwischen Grausamkeit und Erlösung deutlich unterschieden werden kann. Im Opfervollzug des Kannibalismus übernimmt daher beispielsweise die »Überschreitung« (transgression) eine Begegnung mit dem »Heterogenen« des Heiligen als dem Ver­ botenen und Tabuisierten (interdit), das heißt als einer »mystischen Erfahrung« in der unbedingten Entfesselung der Gewalt,587 während das »Homogene« die moralische und gesellschaftliche Integration bedeutet. Dass die Dialektik von Tabu und Überschreitung nicht nur als religiöses Phänomen zu sehen ist, sondern gleichfalls als ein Spiel mit den Grenzen der gesellschaftlichen Ordnung und der ihr entsprechenden subjektiven »Identität« liegt auf der Hand. Diese Identität ist nicht mit der rein begehrenden Individuation des fleisch­ lichen Leibes zu verwechseln und erklärt, warum in der postmodernen Rezeption Batailles häufig auch Parallelen zu Antonin Artaud und Jacques Lacan gezogen wurden, um die »stillgestellten Leidenschaf­ ten« eines »verfemten Teils« (la part maudite) in Ökonomie und Theorie der Religion, 41f.; vgl. L'érotisme, 58–67: »L'affinité de la reproduction et de la mort« sowie 102–116: »La pléthore sexuelle et la mort«. 586 Theorie der Religion, 43. 587 Vgl. L'érotisme, 229–258: »Mystique et sensualité«. 585

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Genuss (jouissance) wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.588 Simone Weil, die in den 1930er Jahren wie Bataille dieselben dissidenten kom­ munistischen Zirkel besuchte, wie bereits im Kapitel zuvor erwähnt wurde, kritisierte schon sehr früh jene Konsequenzen, die sich aus Batailles libidinös passionierter Sichtweise für eine freudo-marxis­ tische Revolutionstheorie ergaben.589 Daraus kann man ebenfalls entnehmen, dass sie seinen Begriff der »inneren Erfahrung« als Versuch der Rückversetzung in die »animalische Immanenz« oder das ambivalent »Heilige« als absolute »Überschreitung« ethischer Ord­ nungen mittels der Erotik nicht geteilt hat.590 Zum Verständnis der letzteren muss man sich indes stets das unauflösbare Verhältnis von Subjekt/Objekt bzw. von Fürsich/Ansich im Sinne einer verlustig gegangenen universalen wie animalischen Immanenz vergegenwärti­ gen: »[Die] Versetzung von dem Subjekt wesensgleichen Elementen oder des Subjekts selber auf die Gegenstandsebene ist unbeständig [....] und unvollkommen. Durch sie können jedoch die immanenten Elemente von außen als Gegenstände wahrgenommen werden [...]. Schließlich kommt es so weit, dass wir jede Erscheinung – Subjekt (uns selbst), Tier, Geist, Welt – gleichzeitig von innen und von außen wahrnehmen, zugleich als Kontinuität in Bezug auf uns selbst und als Gegenstand, Objekt. [Fußnote: Das Subjekt, das die Existenzphiloso­ phie im Anschluss an Hegel Fürsich nennt; das Objekt, das im selben Vokabular als Ansich bezeichnet wird.] Für beide Ebenen zusammen definiert die Sprache die Kategorie des Subjekt-Objekts, des objektiv betrachteten Subjekts, das soweit wie möglich klar und deutlich von außen erkannt wird.«591 588 Vgl. auch R. Ochs, Verschwendung: die Theologie im Gespräch mit Georges Bataille, Frankfurt/M. 1995; A. Hetzel (Hg.), Georges Bataille: Vorreden zur Über­ schreitung, Würzburg 1999; T. Iwano, L’expérience et la divinité chez Georges Bataille, Lille 2008, sowie im Vergleich mit der Lebensphänomenologie J. Rogozinski, »Sans je ni lieu. La vie sans Être chez Antonin Artaud«, in: A. David u. J. Greisch (Hgg.), Michel Henry, l’Épreuve de la vie, Paris 2001, 333–358. 589 Vgl. S. Pétrement, La vie de Simone Weil I, Paris 1976, 422ff., unter anderem mit Bezug auf G. Bataille, »La structure psychologique du Fascisme«, in: La Critique Sociale 10 (1933) u. 11 (1934) 159–165 u. 205–211. Dazu P. Killian, Georges Bataille, André Breton und die Gruppe Contre-Attque. Über das »wilde Denken« revolutio­ närer Intellektueller in der Zwischenkriegszeit, St. Ingbert 2013. Auch J.-P. Sartre kritisierte die »Mystik« Batailles, die der Sprache nicht genug Gewicht einräume; vgl. »Un nouveau mystique«, in: Situations I, Paris 1947, 143–188. 590 Vgl. J. Bataille, L'érotisme, 33–43: »L'érotisme dans l'expérience intérieure«. 591 Theorie der Religion, 30.

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Wegen dieses auch gesellschafts- wie kulturkritischen Verhält­ nisses von Welt/Selbst wirft jene Begegnung zwischen Simone Weil und Bataille ein Licht auf das breite Spektrum des Begriffs des lebendigen Begehrens (désir), welches zu berücksichtigen bleibt, um der »lebensmystischen« Gesamtrezeption jener 1930er und 1940er Jahre in Frankreich wie bei Bergson und Deleuze, die auf Maine de Biran zurückgeht, gerecht zu werden, denn auch für S. Weil bildet das Begehren das Wesen des Menschen.592 In der Frage des unbegrenzten Begehrens geht es ebenfalls um die Gottesfrage als dem »Höchsten Wesen« über jeden Signifikanten hinaus, wie er auch von der religiö­ sen Mystik aufgelöst wurde: »Bei [der] Reduktion auf ein Ding nimmt die Welt die Gestalt der isolierten Individualität zugleich die der schöpferischen Macht an. Aber diese als Person unterschiedene Macht besitzt zur selben Zeit den göttlichen Charakter der unpersönlichen, unterschiedslosen und immanenten Existenz. [...] Die im Inneren der Welt angesetzte Position eines ›höchsten Wesens‹, das unterschieden und begrenzt wie ein Ding ist, stellt vor allem eine Verarmung dar. Zweifellos liegt im Ersinnen des ›höchsten Wesens‹ der Wille, einen Wert zu definieren, der alle anderen übertrifft. Doch dies Verlangen nach Steigerung hat eine Herabsetzung zur Folge. Die objektive Personalität des ›höchsten Wesens‹ siedelt es in der Welt neben anderen, ihm gleichgearteten persönlichen Wesen an. [...] Gewiss gibt es zwischen ihnen keine völlige Gleichheit. Per definitionem hat das ›höchste Wesen‹ die würdigste, die dominierende Stelle inne. Aber alle gehören zur gleichen Art, in der Immanenz und Personalität sich zu vermengen, alle können göttlich und mit einer operativen Macht begabt sein.«593 Diese kulturanthropologische wie atheologische Denkkonstel­ lation Batailles will das »Phänomen des Religiösen« nicht mehr ausschließlich von konfessionellen oder axiologischen Vorgaben der traditionellen Gläubigkeit, Metaphysik oder Mystik einschließlich dogmatischem Atheismus abhängig machen. Die »verschwenderi­ sche Bewegung des Lebens«594 bildet als das archaisch Sakrale einen Gegensatz insbesondere zum christlich Heiligen, insofern sie in kein 592 Vgl. Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, München 1990, 45ff.; R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »philosophischer Mystik«, Dresden 2018, 123ff. u. 193ff. 593 Theorie der Religion, 31. 594 G. Bataille, L'érotisme, 62.

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dualistisches Schema von Gut/Böse bzw. Rein/Unrein mehr einzu­ ordnen ist und deshalb die Ambivalenz des Sakralen (Heiligen) ohne Trennungsmöglichkeit von Erotik und Gewalt zum Ausdruck bringt. Solches »Aufbrausen des Lebens« (bouillonnement prodigue de la vie) unterstreicht die Stellung des Menschen zwischen »Fesselung und Entfesselung«, wie sie durch Riten, exzessive Sexualität und Gewalt gekennzeichnet ist, womit ohne Zweifel der Rahmen jeder sozial ertragbaren Religion gesprengt wird, wie es auch schon die Beargwöhnungen seitens der Orden und Kirche schon gegenüber der »wilden Mystik« im Verlauf des 17. Jahrhunderts zeigten.595 Für die Riten führt Bataille dazu des Näheren aus: »Die Möglichkeit, etwas zu erzeugen, die Felder und Herden fruchtbar zu machen, wird Riten beigelegt, deren auch noch so wenig servile Verfahren letztlich operativ bezwecken, den furchtbaren Gewalten der göttlichen Welt Zugeständnisse zu machen, ihnen das ihre zu geben, um nicht alles zu verlieren.«596 Denn bei Bataille herrscht letztlich eine »trunkene Leere« der Erfahrung als jenes schon genannte »Nicht-Wissen« vor, wo sich »Schrecken, Leid und Tod« dergestalt verdichten, dass die macht­ entblößte »Souveränität des Menschen« von einer »faszinierenden Aureole« umgeben wird. Diese kann insofern göttlich oder mystisch genannt werden, als ein vorgestelltes »höchstes Wesen« nur ein Wesen neben anderen wäre und zugunsten des nicht teleologischen Selbstaktes in seiner »operativen Souveränität« aufzugeben ist. Der Mensch allein vermag durch den Exzess seiner eigenen Verausgabung die »kostspieligen Neuerungen am Leben erhalten«, um nicht in den »animalische Schlaf« zurückzufallen, den er durch Bewusstsein und Sprache schmerzhaft hat aufgeben müssen, aber dennoch weiterhin begehrt. Allerdings bleibt gerade aus originär lebensmystischer Sicht zu fragen, ob eine solch ambivalente kulturanthropologische oder naturalistische Methode wie bei Bataille jene rein immanente oder radikale Gegebenheit verwirklicht, welche das originär phänomeno­ logische Wesen des »Mystischen« aus der vermeintlichen »Selbstver­ wirklichung« (souveranité) des Menschen befreit, wie uns dies im Sinne einer Kritik transzendentaler Selbstillusion bzw. mystischer Kriteriologie als unabdingbar erscheint. Aus der Sicht Batailles steht dem eine distanzierende Infragestellung des Christentums als Origi­ 595 596

Vgl. M. de Certeau, La Fable mystique I (XVIè-XVIIè siècle), Paris 1982, 345ff. Theorie der Religion, 48.

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naritätsfrage überhaupt gegenüber: »Ich muss diesen Charakter einer unfreiwilligen Verarmung und Begrenzung unterstreichen: Die Chris­ ten stehen heute an, ein erstes Bewusstsein des Gottes, an den sie glauben, in den verschiedenen ›höchsten Wesen‹ wieder zu erkennen, deren Gedächtnis uns die ›Primitiven‹ aufbewahrt haben; aber dies werdende Bewusstsein ist kein Aufbrechen einer Knospe, es ist das durch nichts kompensierte Verkümmern einer animalischen Empfin­ dung.«597 Mit spezifischem Bezug auf die Erotik bleibt hier für die weitere Diskussion eines absoluten Anfangs des Erscheinens festzuhalten, dass ebenfalls dem erotischen Erleben eine material phänomenologi­ sche Ermöglichung vorausgehen muss, die wir bisher für das Mystik­ verständnis in der passiblen Affektabilität verankert sahen598 und wohl kaum auf bloß kosmische oder naturale Energieeinflüsse zurück­ geführt werden kann.599 Wird diese radikal phänomenologische Not­ wendigkeit eingesehen, dann kann man mit Bataille durchaus hervor­ heben, dass die mystisch »innere Erfahrung« jedes Individuums stets vom erotischen Erleben durchwirkt ist, wie Freud mit der Libido und Henry durch den Begriff des »erotisch Sensuellen« dies ihrerseits unterstrichen. Hierbei kann dann jedoch die Unbegrenztheit des Begehrens nicht nur bedeuten, dass sie bis zur Todeserfahrung zu gehen vermag, sondern gerade jedes Objekt in seiner Unerfüllbarkeit als Köder umfassende oder verschmelzender jouissance die welthafte wie immanente Grenzerfahrung des Erotischen beinhaltet. Die Wie­ derholungen des Sexualaktes und die Differenz der Ipseitäten als Geschlechtspartner bleiben zwei phänomenologische wie faktische Gegebenheiten, die auch Bataille in der mystischen Kontinuität von Tod und Gewalt nicht aufzuheben vermag. Dies macht seine Sicht­ weise des Festes deutlich: »Als Rausch, Chaos oder sexuelle Orgie, wie das Fest sich im Grenzfall darstellt, taucht es in gewissem Sinne ein in die Immanenz, alsdann überschreitet es sogar die Grenzen der hybriden Geisterwelt, aber nur die Vermittlung der Geister lässt seinen rituellen Ablauf in die Welt der Immanenz gleiten. Den durch Ebd., 32; vgl. L'érotisme, 125–138: »Le christianisme«. Zum Begriff solcher »phänomenologischen Materialität« vgl. ebenfalls D. Popa, »La matérialité d'expérience. Husserl, Henry et Bachelard«, in: D. Popa, B. Kanabus u. F. Bruschi (Hgg.), La portée pratique de la phénoménologie. Normativité, critique sociale et psychopathologie, Brüssel 2014, 103–120. 599 Vgl. G. Bataille, La limite de l'utile, in: Œuvres complètes VII, 183–195: »La galaxie, le soleil et l'homme«. 597

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das Fest herbeigerufenen Geistern, denen das Opfer dargebracht wird und deren Intimität das Opfertier zurückgegeben wird, wird wie den Dingen eine operative Macht zugeschrieben. [...] Wie auch immer, ob positiv in der Fruchtbarmachung oder negativ im sühnenden Gnädigstimmen, im Fest zeigt sich die Gemeinschaft vor allem als dingliches Verhältnis – als entschiedene Individualisierung und als gemeinsames Werk um willen der Dauer. Das Fest ist keine echte Rückkehr zur Immanenz, sondern eine freundliche und angsterfüllte Versöhnung unvereinbarer Erfordernisse. [...] Soweit es auf eine reale Gemeinschaft, ein als Ding gegebenes soziales Verhältnis abzieht – auf eine gemeinsame Operation im Hinblick auf die künftige Zeit -, ist das Fest begrenzt und bildet selbst ein Glied in der Kette nützlicher Werke. [...] Natürlich wird die Gemeinschaft im Fest nicht bloß als Gegenstand gesetzt, sondern allgemeiner als Geist (als ein Subjekt-Objekt), aber da ihre Position für die Immanenz des Festes die Bedeutung einer Grenze hat, liegt der Schwerpunkt auf der dinglichen Seite.«600 Wenn Bataille zudem zusammen mit Blanchot die Einsamkeit (solitude, isolement) zur ontologischen Grundlage des freien oder souveränen Menschen erklärt, die beim Libertin im Sinne Sades jede perverse Transgression als Zeichen der Freiheit erlaube, um »zur stärksten jouissance vorzudringen«,601 dann wird der eigentliche Abgrund der Einsamkeit verkannt. Dieser ruht in der originären Ipsei­ tät der absolut phänomenologischen Individuierung, die einerseits durch nichts substituiert werden kann und andererseits gleichfalls eine prinzipielle Beziehung zum selbstaffektiven Leben als generatio impliziert, wie wir es für die Mystik bisher herausgestellt haben. Dadurch ist gleichursprünglich eine ko-pathische Gemeinschaftlich­ keit gestiftet, welche in eins mit der Erotik auch »personale Liebe« der Zuwendung zum Anderen hin erlaubt.602 Das heißt, das Begehren Theorie der Religion, 48 u. 49f.; vgl. L'érotisme, 116–125: »La transgression dans le mariage et dans l'origie«; G. A. Duarte, »La chose maudite«. The concept of reification in George Bataille's The Accursed Share«, in: Human and Social Studies 5/1 (2016) 113–134. 601 L'érotisme, 194, vgl. ebd., 176–207: »L'homme souverain de Sade« u. 188– 207: »Sade et l'homme normal; sowie »Sade et la morale«, in: Œuvres complètes VII, 445–453. Ebd., 176–207: »La solitude«; vgl. auch allgemein E. Möde, Die neue Einsamkeit der Postmoderne, München 1991. 602 Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Phänomenologie des Fleisches, Freiburg/Mün­ chen 2002, 337ff., ohne dies allerdings im Sinne einer »Metaphysik der Liebe« zu 600

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ist zwar »souverän« im Sinne seiner immanenten Unbegrenztheit, aber dies hebt die Ursprungsfaktizität nicht auf, dass es selbst gegen­ reduktiv im Leben fundiert ist, um lebendig relationales Begehren zu sein. Dadurch ist jedes Sich selbst nur als Bezug zu sich selbst wie zum Absoluten im Leben gegeben, wie bereits Kierkegaard dies in existenzieller Hinsicht beschrieben hatte. Älter als die von Heidegger inspirierte »Auflösung ins Sein« der inneren Erfahrung des Menschen nach Bataille ist daher gerade die radikale Individuierung im Leben als solchem, die nicht nur jeglicher Verschmelzung im Sinne eines totalen Geschehens entgegensteht, sondern gleichfalls jeglicher individuellen Auflösung, wie sie schon die Romantik und Schopenhauer propagiert hatten.603 Allerdings muss man Bataille eine mystische Erfahrung im Sinne einer »wilden« oder »atheologischen« Mystik keineswegs absprechen, wenn das Grunderleben von ummittelbarer Sakralität des Menschen in den abyssalen Gegebenheiten von Erotik, Gewalt und Tod zurückbehalten wird: »Nach der Position [...] einer Gegenstands­ ebene (auf der die verschiedenen Ebenbilder des Subjekts sowie das Subjekt selber eine objektive Geltung erlangen), ist die Welt, in der das menschliche Leben spielt, immer noch auf fundamentale Weise die vom Subjekt geteilten Kontinuität. Aber nun setzt die irreale Welt der souveränen Geister oder Götter die Realität, die sie nicht ist, als ihr Gegenteil. Erst gegenüber einer heiligen und mythischen Welt wird die Realität einer profanen Welt gesetzt, einer Welt von Dingen und Körpern [die der vom Subjekt ausgehenden Kontinuität als Diskontinuität entgegenstehen]. Im Bereich der Kontinuität ist alles geistig, es gibt keinen Gegensatz von Geist und Körper. Aber die Position einer Welt mythischer Geister und der souveräne Wert, den sie empfängt, ist von Natur aus verknüpft mit der Definition des sterblichen Körpers als ein dem Geist Entgegengesetztes.«604 Auf diese Weise ist das radikale Begehren weder als intentionale Sorge noch als Todessehnsucht zu deuten, sondern es eröffnet die Frage nach dem rein immanenten Selbstbegehren des Lebens in unse­ rem subjektiven Begehren als solchem. Dadurch wird auch die Seins­ verstehen wie etwa bei F. Fénelon, Lettres et opuscules spirituelles, in: Œuvres I (Hg. L. Le Brun), Paris 1983, 55–776; Abhandlung über die reine Liebe (Hg. A. Kreuzer), Freiburg/München 2017, oder auch D. von Hildebrand, Das Wesen der Liebe (Gesammelte Werke Bd. 3), Stuttgart 1971. 603 Vgl. M. Henry, Inkarnation, 286f. 604 Theorie der Religion, 35f.

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frage des Daseins als bloßes Interesse für seinen eigenen »Sinn« als »Sein« überschritten und die Erotik enthält auf diese Weise ein radikal phänomenologisches Offenbarungsmoment auf den Abgrund des Lebens hin, den die Liebenden als prinzipielle Gegebenheit miteinan­ der teilen können, ohne dabei in eins zu fallen.605 Bataille geht seiner­ seits über den heideggerschen Atheismus in der Seinsfrage hinaus, falls man vom späteren zweideutigen Verhältnis des »kommenden Gottes« zum »Ereignis« absieht.606 Aber die mystisch erotische Teil­ habe (participation) am Sakralen dürfte letzteres dennoch naturalisie­ ren, so dass die Hinweise auf die Brautmystik bei Johannes vom Kreuz und Theresa von Avila607 auch die spezifisch apophatischen Hintergründe der via negationis angesichts aller imaginären oder phantasmatischen Vorstellungen von »souveräner Verwirklichung« mit berücksichtigen müssten – einschließlich eines bloß naturhaft sinnlichen Leibverständnisses als Einheit mit dem Universum, wie sie Bataille fordert. Zur anderen Seite hin, das heißt hinsichtlich der psychoanalytischen Subjekt-Dezentrierung durch die triebhafte oder sprachlich unbewusste Genese des Begehrens bei Freud und Lacan,608 bleibt Bataille beim tragischen bzw. aktiven »Riss« (coupure) der Subjekttrennung zwischen Animalität/Bewusstsein stehen und ver­ sucht daraus einen existentiellen wie kulturellen Lebensentwurf der Transgression zu machen. Dieser kann ohne Zweifel im Anschluss an die Postmoderne auch heute noch auf die Überschusspotentiale des Lebens als »Exzess« oder »Überfülle« mit Recht aufmerksam machen. Aber dadurch wird gerade die prinzipielle Frage nach der radikal phänomenologischen Analyse eines solch permanenten »Mehr« des Lebens herausgefordert, welches auf keinem Weg seitens des Selbst eingeholt zu werden vermag. Und dies nicht nur in Bezug auf die 605 Zur Diskussion siehe außerdem J.-L. Marion, Das Erotische. Ein Phänomen, Freiburg/München 2010; M. Henry, »Notes sur le phénomène érotique« (ca. 1950), in: Revue Internationale Michel Henry 4 (2013) 27–44; »Le problème du toucher«, in: M: Henry, De la phénoménologie I: Phénoménologie de la vie, Paris 2003, 157–164. Zur Kritik einer möglichen »Theologisierung« des Eros bei Marion und Henry siehe auch N. Depraz, »Eros et intersubjectivité«, in: J: Hatem (Hg.), Michel Henry, la Parole de la Vie, Paris 2003, 167–180; außerdem B. Mallinger, »Angst und Begehren im erotischen Verhältnis«, in: G. Funke u.a (Hgg.), Existenzanalyse und Lebensphänomenologie. Berichte aus der Praxis, Freiburg/München 2006, 162–173. 606 Vgl. Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis (GA 65), Frankfurt/M. 1994, 399ff. 607 Vgl. L'érotisme, 233f. 608 Vgl. dazu auch E. Roudinesco, »G. Bataille entre Freud et Lacan. Une expérience cachée«, in: D. Hollier (Hg.), Georges Bataille après tout, Paris/Berlin 1995, 191–212.

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Erotik, sondern ebenfalls mit Blick auf die Ökonomie als Produktion und Konsum, wie bereits Marx dies aufgewiesen hat, wobei Bataille besonders den Entfremdungsaspekt als Diskontinuität unterstreicht: »Auf unbestimmte Weise wird die Welt der Dinge als ein Verfall empfunden. Sie bewirkt in dem, was sie sich erschaffen hat, eine Entfremdung. Es ist ein grundlegendes Prinzip. Wer unterordnet, verändert nicht nur das untergeordnete Element, auch er selbst wird verändert. Das Werkzeug verändert gleichzeitig die Natur des Men­ schen.«609 In bester französischer Tradition vereinigen sich bei all diesen Ursprungsfragen des Erscheinens in Batailles Stil seiner Untersu­ chungen Literatur und Philosophie.610 Aber dies kann gerade beim grundlegenden Problem wie Trieb und Erotik nicht davon abhal­ ten, seine Intuitionen, die auch von seiner eigenen Krankheit als tiefem Leiden an Tuberkulose gekennzeichnet waren,611 auf ihre Triftigkeit hinsichtlich des Verhältnisses von passion und désir zu befragen. Denn gegenwärtig wird die post-postmoderne Frage nach dem Zusammenhang von Leidenschaft und Leiblichkeit als »Selbst­ verwirklichung« innerhalb gesellschaftlicher Zwänge immer noch virulenter werden.612 Man kann die Erotik wie bei Bataille auf ihren fleischlichen und mystischen Aspekt hin konzentrieren, der mit dem Tod als Tragik des Begehrens im hegelschen Sinne zusammenfalle,613 oder wie Freud und Lacan den Todestrieb innerhalb des Begehrens genetisch aufrollen. Entscheidend wird jedoch in all diesen Fällen bleiben, welche Bedeutung die phänomenologische Absolutheit des Begehrens innerhalb der transzendentalen Verlebendigung als sol­ Theorie der Religion, 37f. Allerdings kennt Bataille gerade auch die Unmöglichkeit der Sprache, die »schwei­ gende Übertretung« in der Erotik fassen zu können; vgl. L'érotisme, 304f.; E. Lange, An den Grenzen der Sprache. Studien zu Bataille, Frankfurt/M. 1982. 611 Bataille war der Sohn eines durch Syphilis völlig gelähmten und erblindeten Vaters, auf den er sich in Histoire de l'oeil (1922) schmerzvoll, aber auch bewundernd bezieht; in: Premiers écrits 1922–1940 (Œuvres Complètes I), Paris 1970, 75f. (dt. Das obszöne Werk: Die Geschichte des Auges. Madame Edwarda. Meine Mutter. Der Kleine. Der Tote, Reinbek 1972); vgl. auch Notice autobiographique, in: Œuvres complètes VII, 459–462, sowie P. Wiechens, Bataille zur Einführung, Hamburg 1995. 612 Vgl. G. Marramao, »Demokratie und Postdemokratie. Eine Diagnose der globali­ sierten Welten«, in: Chr. Riedweg (Hg.), Nach der Postmoderne. Aktuelle Debatten zu Kunst, Philosophie und Gesellschaft, Basel 2014, 125–136. 613 Vgl. dazu auch M. Surya, Georges Bataille, la mort à l'œuvre, Paris 1992 (Neaufl. 2012). 609

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cher besitzt – nämlich als ständige Selbstwiederholung und Selbstbe­ jahung des Lebens. Und dies sogar im existentiellen oder ontischen »Verlust« (perte). Denn im lebensphänomenologischen Sinne gibt es eine noch ältere Unbedingtheit als diesen Verlust, welche Henry als das immanente »Wort des Lebens« oder als ununterbrochenes »Geräusch meiner Geburt« im transzendentalen Sinne qualifizierte. Dadurch ist ein »Geschmack des Seins« noch diesseits von Verlust und Mangel gegeben,614 von dem gerade auch die Mystiktradition durchgehend zeugt. Für Bataille ist die »Souveränität« des Menschen keine Affirmation, die nicht der Grenzenlosigkeit der Erfahrung entsprechen würde, so dass auch er an sich beim Verlust nicht stehen bleiben kann: »In einer Welt [der Immanenz], in der die Augen, die sich öffneten, nicht erfassten, was sie erblickten, in der, an unseren Maßstäben gemessen, die Augen nicht wirklich sahen, gab es keine Landschaft. Und wenn ich mich nun, in der Verwirrtheit meines Geistes, gedankenlos wie ein Tier in die Betrachtung dieser Abwesenheit von Sehen versunken, bei den Worten ertappe: ›Es gab weder Sehen noch nichts – nichts außer einer trunkenen Leere, die dem Schrecken, dem Leiden und dem Tod, sie begrenzend, eine Art von Dichte verliehen ...‹, so missbrauche ich bloß ein dichterisches Vermögen, indem ich das Nichts der Unwissenheit ersetze durch ein undeutliches Funkeln. Ich weiß: Der Geist kann das Funkeln der Worte nicht entbehren, das ihn mit einer faszinierenden Aureole umgibt; es ist sein Reichtum, seine Glorie, und es ist ein Zeichen von Souveränität.«615 Daher bleibt die Formel Batailles von der »Erotik als Bestäti­ gung des Lebens bis in den Tod hinein« noch genauer in ihrer Dreiteilung als Erotik des Körpers, der Herzen sowie der sakralen Erotik zu verstehen. In Abgrenzung von gängigen Vorstellungen der sexuellen oder pornographischen Erotik führt er sie, wie wir bereits bisher unterstrichen, auf Gewalt (violence) und Exzess des Begehrens zurück: »Der Bereich der Erotik ist wesentlich der Bereich der Gewalt, der Vergewaltigung (violation).«616 Das heißt, im Unterschied zur platonischen Dialektik des éros, die schließlich zur Schönheit der Seele und des Wissens hin führen soll, intendiert Bataille gerade

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Vgl. J.-L. Chrétien, »La vie sauve«, in: Les Etudes philosophiques 1 (1987) 37–49. Theorie der Religion, 23f. Vgl. L'érotisme, 67–74: »La transgression«.

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keine Objektveränderung durch das Begehren.617 Vielmehr bleibt das Zentrum der »inneren Erfahrung« die Intensität der jouissance als Transgression des Verbotenen, womit die traditionell metaphysische wie mystische Korrelation von Begehren/Gutem im abendländischen Denken – gemäß postmoderner Auffassung allgemein – aufgehoben werden soll. Denn die Erotik unterscheidet den Menschen nicht nur von der »tierischen Sexualität«, sondern sie stellt in ihm das »Sein« als solches in Frage.618 Selbst Freud kennt noch eine Bindung des Triebs an ein Objekt,619 auch wenn dies als Partialobjekt äußerst variabel ist, während Bataille die Erotik eher als Auflösung des Lustobjekts sieht, mithin dessen Reduktion auf eine Erfahrung von Verunreinigung und Abfall (souillure, déchet) durchführt. Letztere schließen ein, dass der Körper nicht länger auf etwas Höheres hin transzendiert wird wie die Seele bei Platon und im Christentum, sondern nichts ist. Dadurch wird die Frau konsequent auf eine bloße Objektposition reduziert, auf ein Objekt des Opfers, um so vielleicht dann doch wieder den Charakter der Frau als das Ganze (tout) schlechthin zu bewahren. In Beispielen der Antike sieht Bataille eine mögliche Annäherung von Liebesakt und Menschenopfern,620 und daher gibt es eine Ver­ nichtungstendenz innerhalb seiner Erotikkonzeption. Diese kündigt sich in der Entkleidung bis zur Nacktheit (Opfer) hin an,621 wobei es aber weniger diesbezüglich um sexuelle Lust geht als vielmehr darum, der fundamentalen Einsamkeit zu entfliehen, wie wir schon für das Verständnis des Individuums bei Bataille und Blanchot hervorhoben. Und gerade deshalb handelt es sich demzufolge nicht allein darum, die animalische Sexualität von der Fortpflanzung zu lösen, um in der Ero­ tik die jouissance als solche zu suchen, sondern um die Problematik, welch prinzipielle Beziehungsform des Lebens in der Erotik überhaupt gegeben ist. Die Theorie des Obszönen und der Verunreinigung bleibt auf diese Weise bei Bataille an eine metaphysische Sichtweise gebunden, dass wir nämlich in unserem Körper im Exil sind, anstatt in der 617 Vgl. »Le mal dans le platonisme et dans le sadisme« (1947), in: Œuvres complètes VII, 365–380; L'érotisme, 151–158: »La beauté«. 618 Vgl. L'érotisme, 35. 619 Vgl. »Triebe und Triebschicksale« (1915), in: S. Freud, Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt/M. 1949, 209ff. 620 Vgl. L'érotisme, 94–102: »Du sacrifice religieux à l'érotisme«; La limite de l'utile, in: Œuvres complètes VII, 261–289: »Le sacrifice«; Henker und Opfer, Berlin 2008. 621 Vgl. auch La Somme athéologique I, 225–229: »La nudité«.

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Grundgegebenheit von Leib/Leben als Passibilität im radikal phäno­ menologischen Sinne eine originäre Einheit zu erproben. Insofern ist die Tragik der Erotik nach Bataille nicht nur eine existentielle Tragik, sondern – wie stets in der Postmoderne – Ausdruck einer Grundposition der Diskontinuität oder Differe(ä)nz. Auch hier gibt es einen Unterschied zu Platon und der klassisch philosophischen Tradition, denn éros verbindet nicht länger mit der Ewigkeit und Unsterblichkeit, sondern ist das Zeichen der zuvor genannten »dis­ kontinuierlichen Individualität«, deren Hauptleiden die Einsamkeit bleibt.622 Man darf folglich bemerken, dass Bataille sich zusammen mit Nietzsche gegen die christliche Seinslehre im Anschluss an Platon kehrt, die letzten Endes keinen Tod kennt, um stattdessen seinerseits in diesem Tod selbst das eigentliche Sein – wie bei Heidegger oder Lacan und anderen post-strukturalistischen Autoren – zu finden. Dass dies dann insgeheim über die Betonung des Opfers eine gewisse Apologie des erotischen Sadismus impliziert, liegt auf der Hand, so wenn Bataille etwa sagt: »Willst du das Sein, opfere den Anderen.« Und hierin offenbart sich auch die nicht zu übersehende Problematik solcher Opfermystik, denn die Tötung im Opfer ist »die Antithese der Produktion« als Nutzenkalkül, weil der »tiefere Sinn« im Verzehr (consumation) liegt, der nur im Augenblick je selbst von Bedeutung ist.623 Mit anderen Worten vollendet sich die Objektauflösung im ontologischen Privileg des Augenblicks, dessen Ewigkeit das Ephe­ mere der jouissance selbst als reiner Vollzug bildet. Die »Welt des Heiligen« (monde sacré) ist mithin keine Welt von sich wiederholen­ den stabilen Signifikanten wie die »profane Welt«, sondern sie ist »Ungleichgewicht« (déséquilibre) als »Identifikation mit dem Objekt, das verlustig geht«. Daher kann Bataille für seine Logik der Heterogenität festhalten: »In der Erotik verliert das ICH sich.«624 Opfer, Tod, Erotik und Gewalt sind daher in ihrem Zerstörungs- oder Verausgabungsaspekt als Vgl. L'érotisme, 18f. u. 27. Vgl. »L'économie à la mesure de l'univers«, in: Œuvres complètes VII, 7–16, sowie L'érotisme, 29 u. 157, den entsprechenden Bezug der Erotik auf den Tod bzw. auf die »Transfiguration der Prostituierten«. Siehe auch L'érotisme, 86–94: »Le meurtre et le sacrifice«, sowie ebd., 74–85, zum Zusammenhang von Mord und Krieg. Außerdem G. Bataille, Gilles de Rais. Leben und Prozess eines Kindermörders, Hamburg 1967. 624 L'érotisme, 37. Hierin unterscheidet sich die Sichtweise Batailles von der des zeitgenössischen Religionshistorikers Mircea Eliade; siehe die Diskussion zwischen beiden in: Œuvres complètes VII, 438f; dazu ebenfalls. S. Eichner, »Die Idee der Hiero­ 622

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eine ontologische Einheit zu betrachten: »Prinzip des Opfers ist die Zerstörung, doch obgleich diese bisweilen sogar vollständig sein kann (wie beim Brandopfer), ist die Zerstörung, die das Opfer bewirken will, nicht die Vernichtung. Das Ding – und nur das Ding – soll im geopferten Tier zerstört werden. Das Opfer zerstört die in der Realität existierenden Bande der Unterordnung eines Gegenstandes, es entreißt das Opfertier der Welt der Nützlichkeit und gibt es einer Welt kapriziöser Unbegreiflichkeit zurück. [...] Es ist dem Opfer gar nicht möglich, das Tier in seiner Eigenschaft als Ding zu zerstören, ohne zugleich seine objektive Realität zu negieren. Eben dies verleiht der Welt des Opfers einen Aspekt kindlichen Mutwillens. Aber man kann nicht die Werte, die die Realität begründen, zerstören und gleichzeitig die Grenzen dieser Realität akzeptieren. Die Rückkehr zur immanenten Intimität impliziert eine Trübung des Bewusstseins.«625 Aus den zuletzt genannten Hinweisen vor allem lässt sich leicht nachvollziehen, dass Batailles Konzeption der Erotik eigentlich keine »Verdrängung« kennt, denn das Verbot schließt bloß aus, hinterlässt jedoch wie bei Freud kein unbewusstes Begehren im Subjekt, was auch in der Aussage Michel Henrys zu Tage tritt, dass »der Affekt niemals unbewusst« sei, wie Freud selbst für den Affekt – diesseits von dessen Verbindung mit der Vorstellung – zugestand.626 Die Erotik bleibt daher für Bataille im Wesentlichen eine subjektive Erfahrung der individuellen Selbsterkundung, die nur unausgesprochen zu dem Anspruch führt, eine Philosophie oder ethische Anschauung auf solcher Auffassung begründen zu wollen. Aber insoweit sich das »atheologisch Sakrale« als kontinuierlich mystische jouissance auf ein Subjekt gründet, welches selbst in seinem Objekt verschwindet, das es begehrt (die Frau), negiert auch die Erotik eigentlich jeden Akt im spezifischen Sinne – es sei denn, den Anderen seiner Intimität und Schönheit zu berauben.627 Dadurch wird der Andere zur Animalität, ebenso fremd für uns wie diese selbst, und nur das Opfer gleicht beide an, wie wir schon für die Frau als reines Objekt sahen. Auch wenn Bataille den Imperativ Kants anführt, dass der Mensch die phanie bei Mircea Eliade«, in: M. Enders, (Hg.), Selbstgebung und Selbstgegebenheit. Zur Bedeutung eines universalen Phänomens, Freiburg/München 2018, 151–160. 625 Theorie der Religion, 39. 626 Vgl. K. Wondracek, Psychoanalyse und Lebensphänomenologie. Eine Beitrag zur Klinischen Psychologie, Freiburg/München, 2013, 93ff. 627 Vgl. L'érotisme, 24.

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»souveräne Bedeutung« eines Zwecks beibehielte, so schließt dies dennoch nicht aus, dass sich die Frau dem Begehren des Mannes als Objekt insgesamt darbietet – und »Gott selbst eine Prostituierte« ist. Diese Einschätzung wirkt sich nicht nur auf die Sichtweise der weiblichen Genitalien aus, die »Abscheu« und »Verunreinigung« für Bataille bedeuten und dadurch einen tierischen Aspekt erhalten.628 Vielmehr signalisiert die Gleichstellung von Sexualität und Animali­ tät letztlich ein Phantasma, insofern die Vorstellung des Anderen und seiner selbst als »Tiere« hierbei – tiefenpsychologisch betrachtet – eine infantile Regression auf eine mythische Animalität im Menschen darstellt, um die imaginäre Gewalt eines Begehrens auszudrücken, die von jeder Symbolik im Sinne von begrenzender Lebenswelt oder Kultur befreit wäre.629 Die Moral ist in der Tat für Bataille im Widerspruch zu »meinen Interessen«, woraus folgt, dass der Mensch im Geschlechtsakt, der »verunreinigt«, die Grenze der menschlichen Wesen übersteigt. Der Gegenstand des souveränen Begehrens ist damit über das Sein hinaus, wie wir sahen, wovon insbesondere die Angst zeuge, welche das ent­ sprechende Gefühl dieser unausschöpfbaren Erwartung darstelle.630 Insofern ist das Begehren in seiner erotischen Wirklichkeit bei Bataille nicht nur eine Metaphysik, sondern auch jene erwähnte implizite Ethik, die sich als rein individuelle Ethik jenseits von Gut und Böse befindet. Das Sexualleben ist der »wilde Hervorbruch auf einen Höhe­ punkt hin«, indem es sich um die Zukunft mitnichten sorge.631 Ersetzt somit die Intensität jedes zeitliche Vorhaben, dann bedeutet dieser verewigte Augenblick ephemerer Lust die Aufhebung der Trennung zwischen den Körpern, wodurch der Andere auf mich reduziert wird. Auf diese Weise wirkt die Einsamkeit der Individuen als Motiv einer jouissance, die nur sich selbst als »souveränes Individuum« kennt. das über jede Moral hinaus ist und dies in seinem erotischen Verhal­ ten bekundet: »Das Verbot ist gegeben, um verletzt zu werden.«632 Vgl. ebd., 159f. Vgl. zur Diskussion hierüber schon R. Kühn, Innere Gewissheit und lebendiges Selbst. Grundzüge der Lebensphänomenologie, Würzburg 2005, 49–59: »Geburt, Animalität und Sexualität«. 630 Vgl. »Sur Nietzsche, Volonté de chance« (1945), in: La Somme athéologique II (Œuvres complètes VI), Paris 1973, 32f. u. 50 (dt. Wiedergutmachung an Nietzsche. Das Nietzsche-Memorandum und andere Texte, München 1999). 631 Vgl. La Somme athéologique I, 140. 632 L'érotisme, 72. 628

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Dadurch wird allerdings das Verbot strukturell zur Ursache für das Begehren als solches, und methodisch gesehen benötigt Bataille demzufolge die Moral und das Christentum als negierten Gegenpol, um eine Ethik der erotischen Übertretung formulieren zu können. Psychoanalytisch betrachtet, wäre dies die Frage nach dem »Namendes-Vaters« bei Lacan633 oder der Rolle des Ödipus bei Freud, wobei dann die Abscheu vor dem geschlechtlich Anderen (Frau) das pri­ mär narzisstische Phantasma der eigenen Macht aufrecht erhielte. Dies mag durch die extremen körperlichen Verfallserscheinungen des eigenen Vaters von Georges Bataille motiviert sein, worauf wir kurz hinwiesen. Aber grundsätzlicher stellt sich die Frage für unsere Gesamtuntersuchung, ob das Mystikverständnis einer »trunkenen Leere« den Menschen in seiner »unmöglichen Wirklichkeit« durch die »immanente Intimität« definieren kann, was wir am Schluss noch genauer aufgreifen werden. Im angesprochenen Verhältnis zum Anderen als der Frau hat das Obszöne damit einen Spiegelcharakter, denn als Störung signalisiert es im Geschlechtsakt, dass das Verhältnis zum eigenen Körper als »Selbstbesitz« die »dauerhafte und bejahte Individualität in Frage stellt«. Der Blick auf die spasmischen Verzerrungen der Körper in diesem Akt ist ein Blick auf »die Auflösung der konstituierten For­ men«.634 In diesem Sinne ist die Erotik die Zerstörung der Schönheit und das Zerrissenwerden des Anderen und meiner selbst, wenn nur die Genitalien außerhalb der erotischen Bewegungen und des Glanzes des Gesichtes betrachtet werden. Dahinter verbirgt sich offensichtlich ein Motiv von Sade, dass die »Zerstückelung« des Körpers des Anderen die Angst als Zeichen des Lebens hervorbrechen lassen soll, um demselben über alle Bildhaftigkeit hinaus wirklich begegnen zu können, was nach Henry635 im absoluten Sinne gerade nicht möglich ist, da keine Ipseität die andere jemals in der ihr eigenen immanenten Selhstaffektion zu erreichen vermag. Die Wiederholung der sexuellen Akte wird daher in Batailles Sicht zusätzlich durch die Pluralität der Anderen verdoppelt, denn sie stellen das abwechselnde Mittel dar, um die eigene Kontinuität zu verwirklichen, so dass hier die erotische Intersubjektivität rein negativ konnotiert bleibt. Denn Batailles Negation führt zu keiner wirklichen Anerkennung 633 634 635

Vgl. Des Noms-du-Père, Paris 2005. L'érotisme, 24f. Vgl. Inkarnation, 329ff.

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wie in Hegels Dialektik der Arbeit und Sprache, sondern der Andere bleibt Objekt, wodurch »die fleischliche Bewegung dem menschlichen Leben erstaunlich fremd ist«, um der »blinden Gewalt« der Tiere zu gleichen: »Ich betrachte die Animalität unter einem engen Blickwinkel [...]. Unter diesem Blickwinkel ist die Animalität die Unmittelbarkeit, oder die Immanenz. Die Immanenz des Tieres in Bezug auf seine Umwelt liegt in einer scharf umrissenen Situation vor, die von grund­ legender Bedeutung ist. [...] Diese Situation liegt immer dann vor, wenn ein Tier ein anderes frisst. Sooft ein Tier ein anderes frisst, frisst es seinesgleichen, sein Ebenbild: in diesem Sinne spreche ich von Immanenz. Nicht als ob es sich um ein als solches erkanntes Ebenbild handelte, es fehlt vielmehr jegliche Transzendenz des fressenden Tieres gegenüber dem gefressenen. Im animalischen Leben findet sich daher nichts, was ein Verhältnis von Herr und Untergebenem einführte, nichts, was auf der einen Seite Autonomie und auf der anderen Seite Abhängigkeit begründen könnte.«636 Daher verlangen die rhythmischen Verkrampfungen des Flei­ sches im immanent gesehenen sexuellen Akt »jenseits der Zustim­ mung des Schweigens die Abwesenheit des Geistes«.637 Diese apha­ nisis des Subjekts (Lacan) als Geist ist mithin eine Bedingung der jouissance für Bataille, und in deren Regression auf die Animalität hin erscheint deutlich die gewollte Umkehr platonisch-christlicher Positionen. In der Transgression liegt somit der äußerste Versuch vor, jenes Böse aufzudecken, welches im Heiligen (sacré) selbst verdeckt ist, so dass sich hier am ehesten zeigt, wie sich die menschliche »innere Erfahrung« für Bataille sowohl unter erotischem wie religiö­ sem Gesichtspunkt mit gleichem Recht deklinieren lässt. Mit anderen Worten muss er sich auf die paulinische Lehre aus dem Römerbrief 7,7ff. berufen, das Fleisch sei Sünde, um seine eigene Perspektive der Sexualität davon abheben zu können. Seine Soziologie des Hei­ ligen/Sakralen kann daher nicht nur als eine ebenfalls implizite individuelle Ethikbegründung gelesen werden, sondern methodisch ist besonders festzustellen, dass sich sein Denken nur gegen das Verbot der Religion – und speziell des Christentums – entfalten konnte, um das unbegrenzte Begehren als transgressive Herausforderung kon­ zeptualisieren zu können, worin ihm dann Lacan teilweise nachfolgen

636 637

Theorie der Religion, 19f. L'érotisme, 116.

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wird.638 Lacan kennt nämlich ebenfalls eine fundamentale Unter­ scheidung zwischen jouissance und »Mehr-Lust« (plus de jouir), wobei letztere fixierte Wiederholung des Lustgewinns über ein bestimmtes Objekt ist, während die jouissance über jeden Signifikanten als Objekt hinaus geht. Für Bataille ist diese sakrale wie mystische jouissance nur als ein »verschwenderisches Aufbrausen des Lebens« denkbar: »Das Heilige ist das verschwenderische Aufbrausen des Lebens, dem, um zu dauern, die Ordnung der Dinge Fesseln anlegt und das die Fesselung in Entfesselung, mit anderen Worten in Gewalt verwandelt. Ununterbrochen droht es die Dämme zu brechen und der produzie­ renden Tätigkeit die unaufhaltsame und ansteckende, die verzehrende Bewegung einer reinen Glorifizierung entgegenzusetzen. So ist das Heilige präzise der Flamme vergleichbar, die das Holz zerstört, indem sie es verzehrt. Wie der Brand, der keine Grenzen kennt, ist es das genaue Gegenteil eines Dinges, es breitet sich aus, strahlt Hitze und Licht aus, es entflammt und blendet.«639 Versteht man die Korrelation von Heilig/Unrein andererseits als eine Analogie zum ebenfalls doppelsinnigen lateinischen sacer,640 so bedeutet dies bei Bataille, dass der Andere letztlich als der fremde Körper verstanden werden muss, dessen Exkremente und Erbrochene beispielsweise als »Abfall« (déchet) gerade zur »Kommunion« werden können.641 Anders als Freud sieht Bataille hierin keinen unbewussten oralen Primärvorgang, sondern die Möglichkeit einer Teilhabe (parti­ cipation) oder Identifikation wie im Opferritual, um sich »das ganz Andere« einverleiben zu können.642 Alle perversen Sexualformen, die 638 Vgl. J.-F. de Sauverzac, Le désir sans foi ni loi, 50f., sowie unser folgendes Kapitel III,3. 639 Theorie der Religion, 46. 640 Vgl. hierzu ebenfalls G. Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002; Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologi­ schen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo sacer, Band 2.2), Berlin 2010; Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform (Homo sacer, Band 4.1), Frankfurt/M. 2012. 641 Vgl. G. Bataille, »La valeur d'usage de D.A.E. de Sade«, in: Ecrits posthumes 1922–1940 (Œuvres Complètes II), Paris 1987, 56, mit Rückgriff auf die Gestalt Verneuils bei Sade, die Exkremente etc. des sexuellen Opfers verzehrt (dt. Die Literatur und das Böse. Emily Brontȇ – Baudelaire – Michelet – Blake – Sade – Proust – Kafka, München 1987). 642 Für vergleichbare Handlungen bei MystikerInnen wie Katharina von Siena, Marguerite-Marie Alacoque oder Franz Xaver, zum Beispiel eiternde Wunden aus­ zusaugen oder Wasser zu trinken, mit denen Leprakranke zuvor gereinigt wurden,

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Bataille besonders in seinen Romanen beschrieb,643 wie ebenfalls die rituellen Exzesse beim Opfern stellen also eine extreme Alterologie dar, die mit einer negativen Theologie vergleichbar wird, sofern die Einheit der Natur oder Gottes und der »verunreinigten Teile« des Körpers dadurch gefeiert werden soll.644 Dieser alterologische Aspekt von Verlust, Rest und Abfall modifiziert aber nicht nur das psychoanalytische »Partialobjekt« wie etwa die Brust der Mutter, sondern stellt die Frage nach jenem konstitutiv unauslöschbaren »Rest«, der als »Differänz« gemäß Derrida die gesamte postmoderne Dekonstruktion einschließlich ihrer Mystikrezeption beschäftigen wird, wie wir gesehen haben. Dieses »Andere« oder »Heterogene« ist in keine metaphysische Gesamtheit oder Sinneinheit mehr inte­ grierbar und damit für immer vom Subjekt, Geist etc. getrennt. Für Bataille sind Abfall und Rest folglich das, was in Anlehnung an Sade als göttlich, sakral (heilig) oder begehrenswert betrachtet werden kann. Eine solche Alterologie als »Heterologie« kann deshalb konsequent zu jener »Hetärologie«645 werden, wo die Prostituierte zum sakrifiziellen Objekt wird. Und in dieser Hinsicht, die sicherlich auch das ganz persönliche Ausmaß seiner Ausführungen zur Erotik aufgrund von Bordellbesuchen verdeutlicht, schreibt Bataille von sich selbst: »Ich bin kein Philosoph, sondern ein Heiliger (saint), vielleicht ein Verrückter.«646 Damit berührt Bataille dennoch eine Frage, wie sie auch in der Mystik sich stellt. Ob es nämlich im rein phänomenologischen Leben eine Erscheinung geben kann, die nicht an die Absolutheit vgl. M. Hulin, La Mystique sauvage, 283ff. Zur Rolle des »heiligen Verrückten« auf öffentlichen Plätzen bereits im 4. Jahrhundert siehe auch M. de Certeau, La Fable mystique I, 48ff. Weitere Berichte ebenfalls in J.H. Leuba, Psychologie du mysticisme religieux, Paris 1922, der auch von G. Bataille, L'érotisme, 232, angeführt wird. 643 Vgl. vorherige Anmerkung 25. 644 In Indien gab es Sekten, die ebenfalls Exkremente, Fleisch von Toten etc. in ihre Rituale in diesem Sinne mit einbezogen; vgl. A. Daniélou, Shiva und Dionysos. Die Religion der Natur und des Eros, Dresden 2020, 285ff.; A. Navigante, »Das Problem der Selbst-Affektion in nicht-christlichen Religionen am Beispiel des Hinduismus«, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 16 (2017) 86–122. 645 Von griechisch hetaira, Gefährtin; vgl. F. M. Müller u. V. Sossau (Hgg.), Gefährtin­ nen. Vom Umgang mit Prostitution in der griechischen Antike und heute, Innsbruck 2012; vgl. G. Bataille, L'érotisme, 138–151: »L'objet du désir: la prostitution«. Siehe auch K.J. Pazzini (Hg.), Geld und Liebe (RISS Materialien), Baden 2017. 646 Méthode de médiation, in: La Somme athéologique I, 208; vgl. dazu B. Sichère, »Saint Bataille«, in: Le Dieu des écrivains, Paris 1999.

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dieses Lebens als originäres Selbsterscheinen zurückgebunden bliebe. Diesseits der naturalistischen Vorentscheidungen Batailles ergibt sich nämlich auch bei ihm der Versuch, alles thematische oder morali­ sche Wissen zugunsten einer rein praktischen Wahrheit aufzugeben, die weder als Sprache (langue) noch als Repräsentation erscheinen kann. Die Erotik ist daher letztlich der radikale Versuch eines »frei gelegten Nicht-Wissens«,647 dessen »Nacktheit« (non-savoir dénudé) insbesondere in der erotischen Perversion von Angst und Abfall aufgesucht werden soll, um »mystisch« mit dem »Anderen« des Göttlichen oder Heiligen zu verbinden. Das Begehren ist in seiner unbegrenzten Herausforderung die Potentialität einer solchen Nega­ tivität, die Angst und Tod wie Einsamkeit und Rest (Abfall) zur apophatischen Annäherung von einem Wirklichen werden lässt, das sich jedem Bild wie in der negativen Theologie entzieht. Wir haben die Grenze einer solch atheologischen »Lebensmystik« bereits ange­ deutet – ob sie nämlich auch positiv diese Bild- und Namenlosigkeit als phänomenologisch notwendige innere Struktur einer Immanenz des Erscheinens aufweisen kann, um zugleich dabei ein originäres wie ko-pathisches éthos zu implizieren. Die Erotik nach Bataille entzieht sich nämlich letzten Endes jeder symbolischen Grenze, um diese Erotik nur in jener individuellen Mächtigkeit bestehen zu lassen, mit der sie sich vollzieht, um jedes geschlossene System zu desavouieren. Mit anderen Worten gegen Hegel folglich eine »Negativität ohne Verzauberung« darzustellen,648 eine ernüchterte Überschreitung im Sinne »entzauberter Transzendenz« in der ökonomisierten Moderne, die durch die Objektanhäufung ohne Verausgabung gekennzeichnet ist: »Nachdem sie [...] einfache stabile Dinge, die sich anfertigen ließen, festgelegt hatten, legten die Menschen auf der Ebene, auf der diese Dinge erschienen, und als ob sie dem Stock und dem zugehauenen Stein vergleichbar wären, auch solche Elemente fest, die [...] weiterhin in der Welt der Kontinuität existieren, wie die Tiere, die Pflanzen, andere Menschen und schließlich das festlegende Subjekt selber.«649 647 Vgl. L'expérience intérieure, 66; dazu auch R. Gasché, System und Metaphorik in der Philosophie von Bataille, Frankfurt/M. 1978. 648 G. Bataille, Choix de lettres 1917–1962 (Hg. M. Surya), Paris 1997, 132, in einem Brieffragment an A. Kojève von 1937. 649 Theorie der Religion, 29; vgl. dazu J. Derrida, »Von der beschränkten zur allgemei­ nen Ökonomie. Ein rückhaltloser Hegelianismus«, in: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1972, 380–421.

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Vergleicht man die Position von Henry und Bataille betreffs Trieb und Erotik hier mit der postmodern sehr einflussreich gewordenen Ansicht Foucaults hinsichtlich des freien Umgangs mit den eigenen »Lüsten« (plaisirs), so ist offenkundig, dass die Verwandtschaft zwi­ schen Bataille und Foucault größer ausfällt als jene zwischen Henry und Foucault. Zum einen liegt dies an der epistemischen Verschrän­ kung von Macht- und Sprachstrukturen mit dem Trieb, welche die beiden postmodernen Autoren im engeren Sinne herausstellen, zum anderen an dem schillernden Begriff von »Lust« und »Leben« bei Bataille und Foucault wie auch Deleuze, während die jouissance bei Henry eindeutig in der auto-jouissance des originären Lebens als dessen unsichtbarer oder originär mystischer Selbstoffenbarung verankert ist. Dennoch muss man sehen, dass die Leiblichkeit des Menschen für Bataille, welcher diese als bloßes »Fleisch« (chair) ganz in die Endlichkeit von Leiden und Tod aufgehen lässt, nicht nur die Öffnung »auf die Welt zu« im Sinne Merleau-Pontys650 darstellt, sondern gleichzeitig jede welthafte wie geschichtliche Syn­ these des Cogito unmöglich werden lässt. Dies wird für den ekstati­ schen Bereich der Welttranszendenz auch von der Lebensphänome­ nologie unterstrichen, so dass die »Transgression« bei Bataille wie Foucault in den Mittelpunkt einer »Individuation« entweder über Angst/Gewalt bzw. über die »Entsubjektivierung« als nacktem Trieb in Bezug auf den endlos Anderen ins Zentrum rückt. Sexualität wird damit strukturell auf der einen Seite zu einer nicht reflexiven Identität von Begehren/Ich-bin, während sie auf der anderen Seite als ständige Transgression die Differe(ä)nz in Bezug auf jede Grenze bedeutet, so dass in dieser Überschreitung gerade die »Subversion« von jeder Reflexion und Fiktion stattfindet. Wird dabei die allpräsente menschliche Sexualität zur »Erbin der Allmacht Gottes«, so heißt dies in einem oberflächlichen Sinne nicht nur: »Le sexe, raison de tout«,651 sondern sie bedeutet einen postulierten Weg der Fülle als Steigerung oder Übermaß eines Lebens der »wilden Mystik« mit Hilfe des je Differenten als dem endlos Anderen. Sollen diese Momente allerdings nicht völlig in rein fragmentiertes Erleben zersplittern, was der Psychose wie dem Wahn nahe käme, 652 dann bildet ebenfalls die Vgl. Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 402f. Histoire de la sexualité I. La volonté de savoir, Paris 1976, 103 (dt. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1983). 652 Vgl. M. Hulin, La Mystique sauvage, 171ff. 650

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projizierte »Fülle« als auto-erotische »Selbstsorge« nach Foucault ein Minimum des Übergangs zwischen den einzelnen »Lust«-Momenten von »Subjektivierung« und »Entsubjektivierung«: »Nicht Reflexion, sondern Vergessen; nicht Widerspruch, sondern Wiederholung; kein Geist auf der rastlosen Suche nach seiner Einheit, sondern endlose Erosion des Außen; keine endlich aufscheinende Wahrheit, sondern das endlose Geriesel und die Verlorenheit eines Sprechens, das immer schon begonnen hat.«653 Dass diese Genealogie als Funktion des »Lebens« bei Foucault wie Bataille von Nietzsches »Willen zur Macht« beeinflusst ist,654 ver­ hindert keineswegs, dass die geschichtlich nicht mögliche Synthese für den Menschen dennoch über die Lebensrealität ein gewisses Gefühl der »Endlosigkeit« von Kontinuität in der Diskontinuität verschafft. Für die Mystik wäre dies im Sinne Henrys die originäre Selbstaffektion als Ermöglichung jeder Differe(ä)nz im transzenden­ talen Sinne, so dass auch die rein körperlichen Schmerzen und die Leidenschaften nicht jeder »Einheit« entbehren, welche nicht nur durch fragmentierte Transversalität und Transgression gekennzeich­ net bleibt, sondern durchaus auch eine Art »Trans-passibilität« dar­ stellt.655 Henri Maldiney (geb. 1912) kennt in seinen ästhetischen wie psychopathologischen Studien zu Melancholie, Manie und Schizo­ phrenie eine solche »Durchlässigkeit« (transpassibilité) des Leidens, welches sich für ihn aus der ursprünglichen »Angst vor dem Nichts« ergibt und wie in der Mystik eine durchgehend innere »Empfänglich­ keit« impliziert, die in ihrer grundlegenden »Bedeutsamkeit nicht bedeutet werden kann« (signifiance insignifiable). Diese Empfänglichkeit manifestiert sich im Ereignis wie im Ausdruck eines Bildes oder eines Anderen etwa wie von selbst und ist daher nicht in die »Jemeinigkeit« integrierbar. Außerdem unter­ 653 M. Foucault, »Das Denken des Außen«, in: Dits et écrits (Schriften I), Frank­ furt/M. 2001, 670–697, hier 677; siehe auch seine »Vorrede zur Überschreitung«, ebd., 320–342. 654 Vgl. K. Ruhstorfer, Konversionen. Eine theologische Archäologie der Bestimmung des Menschen bei Foucault, Nietzsche, Augustinus und Paulus, Paderborn 2004, 101f.; zur Durchlässigkeit von Grenze/Transgression in der Überschreitung ebenfalls C.A. Scheier, »Aporien oder die poröse Moderne«, in: V. Borso u. B. Goldammer (Hgg.), Moderne(n) der Jahrhundertwenden, Baden-Baden 1999, 57–69. 655 Vgl. H. Maldiney, Penser l’homme et la folie, Grenoble 32007; dazu ebenfalls R. Kühn, Primärerfahrungen, Ursprung und Nachträglichkeit. Grenzgänge zwischen Psychoanalyse und Phänomenologie, Gießen 2020, 190ff.

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scheidet Maldiney die Empfänglichkeit als irreduzible persönliche Krise der Existenz von der Krise des Lebendigen im Sinne des Orga­ nischen, womit er mehr Heidegger und Binswanger nahe steht als einer radikalen Empfänglichkeit der rein phänomenologischen Passi­ bilität nach Meister Eckhart und Henry. Dennoch könnte der Begriff der »Transpassibilität« auch für die Mystikdiskussion bereichernd aufgegriffen werden, um ihr Pathos als mitzugehörig zum grundle­ genden Wesen jeglicher Impressionabilität oder Affektabilität von Leiden/Lust zu kennzeichnen, welche ebenso für Bataille irreduzibel für die Spaltung des Menschen als Kontinuität/Diskontinuität bzw. Immanenz/Transzendenz im Sinne von Animalität/Geist bleiben: »Die göttliche Welt steckt an, und ihre Ansteckung ist gefährlich. Was in der Opferhandlung wirksam wird, gleicht im Prinzip dem Einschlag eines Blitzes: für die einmal entfachte Glut gibt es prinzipiell keine Grenzen. Dafür günstig ist das menschliche Leben, nicht die Anima­ lität, denn gerade der der Immanenz entgegengebrachte Widerstand erzwingt den heftigen Ausbruch, in den Tränen so zerreißend wie übermächtig in der uneingestandenen Lust der Angst. Doch wenn der Mensch sich rückhaltlos der Immanenz überließe, würde er seine Menschlichkeit verlieren, er vollendete sie nur, um sie zu verlieren, und das Leben kehrte mit der Zeit zur unerwachten Intimität der Tiere zurück. Das sich unaufhörlich stellende Problem: nämlich die Unmöglichkeit, ein menschliches Wesen zu sein, ohne ein Ding zu sein, und den Grenzen der Dingwelt zu entfliehen, ohne in den animalischen Schlaf zurückzufallen – findet seine begrenzte Lösung im Fest,"656 wie dieses schon zuvor angeführt wurde. Erkenntnis als »Kompromiss zwischen den Trieben« nach Nietz­ sche657 gibt dann ohne Zweifel keine Identität für die Vorstellung mehr ab, aber die »(Ent-)Subjektivierung« bleibt dennoch an die Grundge­ gebenheit des Leibes gebunden, die damit durch alles Anders-Werden des Subjekts hindurch diese Differe(ä)nz trägt und ermöglicht – auch wenn sie überdeterminiert bleibt, falls man nicht nach ihrer originären Ermöglichung im radikal phänomenologischen Leben fragt. Dies aber würde bedeuten, dass sowohl bei Bataille wie Foucault und Maldiney Trieb, Erotik, Transpassibilität wie Angst und Lust zurückgeführt werden können auf eine sie affizierende Einheit, sofern auch der Theorie der Religion, 47. Vgl. M. Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt/M. 2004, 18f. 656

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Differe(ä)nzprimat als Transzendenz bildlos – und damit unerkannt – von der Immanenz getragen wird. Die nicht religiöse Mystik der Moderne als Durchleben des objektlosen Begehrens präsentiert sich damit ebenfalls als ein Pathos, das seine innerste Passibilität als »Dunkle Nacht« gemäß Johannes vom Kreuz jedem Menschen dies­ seits von allen Repräsentationsversuchen anbietet. Dadurch enthalten Erotik, Trieb, Lust etc als Affekt eine ursprüngliche »Offenbarungs­ wahrheit«, welche nostalgisch auch die modernen Dekonstruktivis­ men durchzieht, wenn es zur wortlosen Erprobung dieses Erlebens kommt. Schon Simone Weil658 bemerkte in den 1930er Jahren, dass in einer Zeit, »wo alles verloren scheint«, Körper wie Geist, eine »kollektive dunkle Nacht« zu durchmessen bliebe, die nicht ohne Verheißung neuer »Entdeckungen« (inventions) wäre. Denn »Transgression« bedeutet stets einen strukturellen Zusam­ menhang von jouissance/Verbot,659 so dass weder traditionelle Ver­ sagenskultur noch enttabuisierende Permissivität in der Gegenwart deren komplexen Weg lösen können, der jenseits der Täuschungen der Vergangheit wie des Fortschritts verlaufen wird. Jedes »Genieße!« als Imperativ verbirgt ein Phantasma, das zur Zeit vom kapitalistischen Markt vorgegeben wird, sofern jedes Begehren dabei nur einem Scheinobjekt jeweils folgt, wenn dieses nicht gemäß mystischer Krite­ riologie durchschaut wird. Daher steht auch unsere Zeit noch vor einer weiteren Selbstaufklärung, welche sich unablässig in der hartnäckigen Bekundung des Lebens als Bedürfen/Begehren manifestiert, wie sich mit Bataille unterstreichen lässt: »Man kann im Verlangen, die vitale Substanz zu verzehren, nicht weitergehen [als bei der Tötung eines Sklaven]. Allerdings kann man auch nicht fahrlässig vorgehen. Eine so intensive Bewegung des Verzehrens antwortet auf ein Gefühl des Unbehagens, indem sie ein noch größeres erzeugt. Es ist nicht der Kulminationspunkt eines religiösen Systems, eher der Augenblick, wo es sich selbst das Urteil spricht: In dem Augenblick, wo die alten Formen einen Teil ihrer Kraft eingebüßt haben, kann es sich nur noch durch Exzesse, durch allzu kostspielige Neuerungen am Leben

Vgl. Cahiers I, Paris 1967, 35f. (dt. Cahiers/Aufzeichnungen, 4 Bände, München 1993–1998). 659 Vgl. S. Lippi, Transgressions, 54ff.; G. Häflinger, Autonomie und Souveränität. Zur Gegenwartskritik von Georges Bataille, Mittenwald 1981; N. Land, The Thirst for Annihilation. Georges Bataille and Virulent Nihilism, London 1992. 658

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erhalten.«660 Denn »die Opfer von Sklaven veranschaulichen das Prinzip, dem zufolge das, was zu etwas dient, dem Opfer geweiht ist. Das Opfer gibt den Sklaven, dessen Dienstbarkeit die Entwür­ digung der menschlichen Ordnung besonders deutlich hervorhebt, der unheilvollen Intimität der Entfesselung zurück. [...] Wer die Kräfte der Zerstörung im Außen entfesselt, darf nicht mit seinen Ressourcen geizen. Wenn er den Feind versklavt, muss er von dieser neuen Quelle des Reichtums auf glorreiche und spektakuläre Weise Gebrauch machen. Er muss diese ihm dienenden Dinge teilweise zerstören, denn nichts Nützliches darf es in seiner Nähe geben, das nicht zunächst der Forderung der Verzehrung zu entsprechen hätte, die die mythische Ordnung geltend macht. [...] Aber diese Forderung der Verzehrung zielt insofern auf den Sklaven, als er bereits Eigentum [der Gruppe] ist, ihr als Ding gehört. Sie darf nicht mit der Bewegung an Gewalt vermengt werden, die das Außen, den Feind zum Gegenstand hat. Die Opferung eines Sklaven ist in dieser Hinsicht weit davon entfernt, rein zu sein. In gewisser Hinsicht ist sie nur ein Nachspiel der kriegerischen Auseinandersetzung.«661 Wenn Bataille demzufolge jeden Trost durch ein religiöses Sys­ tem ablehnt, aber ebenso alle metaphysischen Illusionen, die sich durch einen entsprechenden Dualismus von Materie/Geist oder Lei­ denschaft/Vernunft ergeben, dann kann auch die Mystik davon nicht ausgenommen werden. Denn auch sie darf in keinerlei Weise der Dauer angehören, welche von den »neutralen Bedürfnissen«, das heißt vom Nützlichkeitskalkül der Dinge bis hin zur Versklavung anderer Menschen und deren Tötung diktiert wird. Die Mystik muss daher kriteriologisch eine Unmöglichkeit der Dauer als Kalkül des Lebens beinhalten. Insofern der Tod die Lüge einer Gesellschaft offen­ bart, die eine solche Dauer der Dinge und Individuen vorgaukelt, ist der Gedanke der Nützlichkeit der letzteren als gesellschaftliches Glied eine Weise des Scheins. Was für Bataille zählt, ist nur der augenblickli­ che »Verzehr« (consumation) als individuelle »Verausgabung«, wovon das Opfer für ein Göttliches insoweit nur ein Ausdruck ist, als damit ein Wesen gesetzt ist, welches das Individuelle aufzehrt. Dadurch wird gleichzeitig jedes Objekt der Nützlichkeit entrissen und der Theorie der Religion, 52. Ebd., 51f. – Zum Krieg des weiteren: La limite de l'utile, in: Œuvres complètes VII, 249–260: »La guerre«, wo Bataille unter anderem das Suchen nach militärischer Ehre durch Gewalt kritisiert. Siehe ebd., 321–324: »L'ordre militaire«. 660

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Immanenz zurückgegeben.662 Auch die Mystik muss demzufolge ein Nicht-Trost sein, die Immanentisierung des Todes als Diskontinuität oder Dualismus, was sich in den Zeugnissen der MystikerInnen als die Einheit von Freude/Schmerz ausdrückt. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist die bereits erwähnte Transverberation, wie sie Theresa von Avila bei sich geschildert hat: »Es wollte der Herr, das ich den Engel in leiblicher Gestalt sehen sollte. [...] In den Händen des mir erschienenen Engels sah ich einen langen goldenen Pfeil, an der Spitze seines Eisens schien mir Feuer zu sein; es kam mir vor, als durchbohrte der mit dem Pfeil einige Male mein Herz bis ins Innerste, und wenn er den Pfeil wieder herauszog, war mir, als zöge er den innersten Teil meines Herzens mit heraus. Als er mich dann verließ, war ich ganz entzündet von feuriger Gottesliebe. Der Schmerz war so scharf, dass er mich zu vielen Seufzern trieb, und so groß war die Süßigkeit dieser Qual, dass ich niemals wünschen kann, sie zu verlieren, noch dass meine Seele mit weniger als Gott zufrieden sei. Es ist kein körperlicher Schmerz, sondern ein geistiger, obwohl der Körper Anteil daran hat, großen Anteil. Der Liebesverkehr, der seither zwischen meiner Seele und Gott stattfindet, ist so beglückend, dass ich den gütigen Herrn anflehe, er wolle ihn dem zu kosten geben, der etwa meint, ich würde hier lügen.«663 Auch wenn hier der Dualismus Geist/Körper nicht ganz aufge­ hoben ist und der Anteil der Leiblichkeit am inneren Geschehen unbestimmt bleibt, so ist der »Liebesverkehr« mit Gott dennoch eine Antwort auf die »totale Frage«, die das Menschsein nach Bataille ausmacht und nicht anders denn durch eine Verschmelzung (fusion) mit dem Überschuss des Lebens beantwortet werden kann. Als Erle­ ben der machtlosen Souveränität des Menschen handelt es sich nicht länger um irgendeine »Synthese« mit den Dingen, sondern um eine äußerste Gewalt, die als nicht selbst herbeigeführte das »Unmögliche« (l'impossible) des Lebens in seiner äußersten Entfernung von allem »Möglichen« (le possible) bekundet, welche als Erprobung »souverä­ ner Operativität« gerade nicht vom »Selbst« (soi) in seiner Immanenz Vgl. Theorie der Religion, 309ff. Die geistlichen Erfahrungsberichte, in: Werke und Briefe Gesamtausgabe I (Hgg. U. Dobhan u. E. Peeters), Freiburg-Basel-Wien 2015, 1410. Eine ähnliche Schilderung findet sich in J. Guennou (Hg.), La couturière mystique de Paris [Claudine Moine], Paris 1981, 233f. Allerdings in der Weise, dass der feurige Pfeil mehrmals zwischen Claudine Moine und dem Engel hin und her geschleudert wird, um jedes Mal zugleich Schmerz wie Entzückung zu empfinden. 662

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entfernt.664 Gott ist daher für Bataille im mystischen Sinne der »inne­ ren Erfahrung« eine Gewalt als Teilhabe am Heiligen/Sakralen, wobei die Transzendenz Gottes von ihm in die Welt als universales Sein aufgelöst wird, so wie schon das Christentum eher die »Vermittlung« (médiation) gesetzt habe, als bei der abstrakten Transzendenz des Judentums stehen zu bleiben. Damit favorisiert er in seiner Mystik des »souveränen Menschen« eine »anfängliche Teilhabe am Milieu«, mit anderen Worten an der Welt als Objekt schlechthin, welches als Universum zugleich Subjekt der Kontinuität ist.665 In solchem Rahmen gewinnt die mystische »Theopathie« als Identität von unio und Immanenz im »mystischen Christentum« eine Vollendung der Religion, die Bataille vom Transzendenzdenken der Kirche abhebt, um durch die Mystik eine »Überzerbrechlichkeit« (hyper-fragilité) des Subjekts zu unterstreichen, die nur als Gewalt des Zerrissenwerdens der Person zu erfahren werden vermag. Die mystische Verneinung der Welt als Nicht-Finalität für das Begehren entspricht daraufhin der Immanenz des Heiligen/Sakralen, welches angesichts von »Sternen und Sonne« als Teilhabe am Universum die »operative Souveränität« des Subjekts in seiner Fragwürdigkeit durch Gewalt und Zerstörung zur unvermeidlichen »Verausgabung« werden lässt, die nichts zurück­ behält. Solch aufgezehrte Intimität des Subjekts der Mystik ist gemäß Bataille von keinem Diskurs mehr aussagbar, wie wir dies ebenfalls schon in unserem Kapitel über das rein affektive »Ur-Sagen« als grundsätzliche Sprachproblematik der Mystik festgehalten haben. Dies korreliert für das fragmentierte Subjekt als Unmöglichkeit des Sagens zugleich mit der »Unmöglichkeit zu sein«, wobei die damit verbundene Angst als »Zittern des Individuums« bezeugt, dass das Menschliche jede Bestimmung als Ding ausschließt. Heben Gewalt, Zerstörung wie Erotik das Getrenntsein des Subjekts vom Universum als Kontinuität aller Dinge auf,666 dann kann für Bataille auch die Religion nur eine »Suche nach der verlorenen Intimität« bedeuten. Mystik in seinem Sinne ist daher die Unmöglichkeit eines Selbstbe­ wusstseins, das jemals um sich wüsste, was es ist, da ein Bewusstsein Theorie der Religion, 342f. vgl. Das Unmögliche, München 2007. Vgl. »Schéma d'une histoire des religions«, in: Œuvres complètes VII, 406–442, hier 426f. 666 Vgl. Theorie der Religion, 312f.; dazu ebenfalls R. Bischof, Souveränität und Subversion. Batailles Theorie der Moderne, München 1984. 664

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stets an die Dauer gekettet bleibt. Jede Mystik, die daher im Chris­ tentum wie im Buddhismus die Welt aufhebt oder für nicht weiter relevant hält, um »göttliches Leben« oder »Erlösung vom Leiden« als erstrebenswert für das Bewusstseins-Sich zu begehren, hat noch nicht die letzte Grenze jeder Sinnvorgabe als Leere erreicht, die solche oder andere Finalitäten nicht kennt: »Der Christ kann nicht in sich das nackte Schweigen erreichen.«667 Wenn die rein innere Erfahrung mithin ihre eigene ausschließliche »Autorität« bildet, insofern sie bis an die Grenze des Möglichen als Unmögliches geht, dann lässt sich von Bataille lernen, dass die mystische Kriteriologie nicht vor den äußersten Erfüllungsverstellungen eines Begehrens »in Gott« oder durch das »Nirvana« Halt machen darf, um der Wahrheit der Gewalt und Zerstörung durch das Leben als »Dramatisierung der Existenz« ins Auge zu sehen. Gekoppelt mit dem Verständnis einer Erotik als jouissance über jede partielle Objekt- wie Libidoverwirklichung hinaus wurde diese Position von Jacques Lacan weiterverfolgt, um Mystik als ontolo­ gische wie analytisch therapeutische Seinsleere miteinander zu ver­ knüpfen, wie wir es hierauf folgend darstellen wollen. Aber festge­ halten werden kann hier ebenfalls, dass jede Form »atheologischer Mystik« dennoch an die reine Lebensempfängnis zurückgebunden bleibt, die jede gedachte wie erprobte Grenze von Möglich/Unmög­ lich trägt. Die Reduktion darauf enthält dann kein distanziertes Urteil mehr über Projekte oder andere Intentionalitäten, die den Worten verbunden bleiben, sondern birgt die originäre Erwartungslosigkeit in Bezug auf jedes diskursive Symbol. Dadurch ist »Gott« nicht mehr Teil der eigenen Suche, und trotzdem bleibt eine »Mystik« des absoluten Lebens ohne Bild, Metapher und Vorstellung gegeben, die auch den Tod als letzte existentielle Erprobung nicht imaginär ausklammern muss. Das heißt, nicht länger phantasmatisch annimmt, »alles zu sein« oder »alles zu werden«, wie es Bataille als Ziel jeder Heilssuche anstelle einer rein »inneren Gegenwart« (présence intérieure) kriti­ sierte.668 Damit war für ihn auch jede Aszese aufgehoben, da diese »Gegenwart« die äußerte Möglichkeit, das Göttliche (divin) wie die 667 Vgl. L'expérience intérieure, 19f. u. 27ff.; siehe auch A. Hussey, Inner Scar: The Mysticim of Georges Bataille, Amsterdam 2000. 668 Vgl. Teil II-IV von L'expérience intérieure: »Le supplice« (43–76), »Antécédents du supplice (ou la comédie)« (77–116) sowie »Post-scriptum au supplice (ou la nouvelle théologie mystique« (117–182).

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2. Erotik und Gewalt als »Mystik« bei Georges Bataille

»Marter« (supplice) zugleich zu leben, aufgibt, um das Menschsein nicht zu verraten oder ihm zu entfliehen.

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Schon für Bataille sind wir als ipse in ein Begehren eingeschlossen, dass alles (tout) sein will, so dass es uns als Singularität immer an Sein fehle. Dies bewirkt gleichzeitig unsere Einsamkeit, wie wir sahen, und einen Kampf darum, alles zu werden. Dabei können aller­ dings auch entsprechende Versuche hinsichtlich mystischer Demut oder »Tod des Ich« nur Ausflüchte darstellen. Es besteht damit eine Nicht-Übereinstimmung von Subjekt/Sein, wodurch der Leib anstelle der Worte zum Austragungsort dieser extrem angstbesetzten Auseinandersetzung um das fehlende Ganze des Seins wird.669 Diese Sichtweise wurde von Lacan aufgegriffen und verstärkt. Vergleichen wir daher einleitend zwei Aussagen Lacans über den Zustand des Subjekts im frühen Spiegelstadium und zu psychopathologischen Ele­ menten bei einigen Mystikerinnen wie Angela de Foligno und Marie Allacoque, so wird sofort deutlich, dass der gemeinsame Nenner in der angenommenen Zerstückelung oder im »Extimen« (extime)670 des dabei subjektiv erlebten Leibes beruht. Im Seminar II heißt es: »Das Subjekt ist niemand, es ist zerlegt, zerstückelt. Und es blockiert sich, es wird angezogen von dem zugleich täuschenden und realisierten Bild des anderen oder überhaupt von seinem Spiegelbild. Da findet es seine Einheit.«671 Und im Seminar XX lesen wir über das Begehren (désir), welches in der mystischen Erfahrung ein Übermaß hervorbringe, zugleich eine Aussage Lacans über den ständigen Platz eines Mangels, welcher sich im Leib der MystikerInnen ausdrücke: »Ich bitte Dich Vgl. La Somme athéologique I (Œuvres complètes V), Paris 1973, 107ff. Dieser Begriff erscheint etwa in diesem Sinne als »Verbot im Zentrum«; vgl. J. Lacan, Le Séminaire XVI: D’un Autre à l’autre (1968–1969), Paris 2006, 224; siehe auch R. Aron, Les mystiques dans l'œuvre de Jacques Lacan, Paris 2003. 671 J. Lacan, Le moi dans la théorie de Freud et dans la technique de la psychanalyse (1954–1955), Paris 1980, 72f. (dt. Das Seminar. Buch II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Olten/Freiburg 1980). – Über den »zerstückelten Körper«, der außer durch subjektiv leidvolle Symbolik auch politisch oder kulturell besetzt wird, vgl. M. Staudigl, Phänomenologie der Gewalt, Cham (CH) 2015, 231ff. 669

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[Gott], mir zu verwehren, was ich dir darbiete, weil es das nicht sein kann (ce n’est pas ça).«672 Die Zerrissenheit im Körper vor der wahrgenommenen Einheit im Spiegel sowie der Abstand zwischen dem mystisch Verlangten und jeweils Erhaltenen korrelieren offen­ sichtlich miteinander, so dass zu verstehen bleibt, ob die Mystik qua Leiblichkeit nicht einen spezifischen Diskurs im Unterschied zu den bekannten von ihm herausgearbeiteten vier Diskursen darzustellen vermag. Ohne Zweifel nähert sich der »mystische Diskurs«, wie wir ihn hier nennen wollen, dem »hysterischen Diskurs« an, wie auch in der sonstigen Mystik- und Neuroseforschung entsprechende Ver­ gleiche gezogen wurden.673 Aber möglicherweise ergibt sich darüber hinaus auch die Besonderheit einer gewissen Lebensmystik bei Lacan, um sie vom Herrendiskurs, dem universitär wissenschaftlichen sowie psychoanalytischen und hysterischen Diskurs abzugrenzen.674 Gehen wir von der Feststellung aus, dass jedes Begehren, wel­ ches den Leib als jouissance durchqueren kann, für Lacan weder sprachlich noch bildlich unmittelbar fassbar bleibt, da es einerseits unbewusst stets »Begehren des Anderen« (A) sei und andererseits sich in Substitutionsobjekten (»Objekt klein a«) darbiete, welche ein Mehr an psychischer Energie im freudschen Sinne freisetzen und daher jeweils beim schwächsten Glied der Signifikantenkette anheben. Demzufolge geht ein »Riss« durch Je/Moi, da Reales (Triebe, Symptom), Sprache, Phantasie und Andere nicht zusammenfallen. Die unmittelbare Präsenz des Realen in der kindlich primordialen Erfahrung über die Mutter vermittelt gleichzeitig Allmachtsphanta­ sien, die mit der imaginären Ordnung der symbolisierten Normen und Konventionen in Kollision geraten. Und zwar bis das von außen auferlegte Gesetz der Sprache als »Namen-des-Vaters« Bedeutungen entstehen lässt, welche die fragmentarisch subjektive Durchdringung der symbolischen Lebensweltordnung stützen und etwa in der Psy­ chose gerade nicht gegeben sind.675 Begehren ist dann einerseits wie ein Sterben, aber wenn ich hingegen nicht mehr begehre, bin ich Séminaire XX: Encore, Paris 1975, 101 (dt. Encore, Berlin/Weinheim 1986). Vgl. M. de Certeau, La Fable mystique 1 (XVIè et XVIIè siècles), Paris 1982, 17f.; außerdem M. de Certeau u. M. Cifali, »Entretien: Mystique et psychanalyse«, in: Bloc-notes de la psychanalyse 4 (1984) 135–161. 674 Vgl. dazu R. Kühn, Diskurs und Religion. Der psychoanalytische Wahrheitszu­ gang nach Jacques Lacan als religionsphilosophische Problematik, Dresden 2016, 32ff. 675 Vgl. J.-C. Maleval, La forclusion du Nom-du-Pére. Un concept et sa clinique, Paris 2000, 73ff. 672

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bereits tot, so dass Bedürfen, Anfrage an den Anderen (Mutter) und semantisch existentielle Entfremdung mit der Gefahr narzisstischer Täuschung über den ursprünglichen Seinsmangel als »Riss« ständig in einer Dialektik des Begehrens zur Anerkennung durch den Anderen (A) in eine Einheit gebracht werden müssen. Letztere kann ihrerseits nur illusorisch sein, falls diese kurz erwähnten strukturellen Verflech­ tungen nicht durchschaut werden – aber letztlich »ohne Glauben und Gesetz« zusammen mit einem angestrebten Akt der Freisetzung zu leben sind.676 Für die Religion ergibt sich hieraus, dass diese weder als bloße Sinnantwort noch als phallisches Gesetz auftreten darf, um »wahre Religion« sein zu können. Da letztlich der Ausgang der Spannung heute zwischen Psychoanalyse und Religion im Zusammenhang mit der unaufhaltbaren Wissenschaftsentwicklung für Lacan noch offen ist, kann daher mit Recht gefragt werden, ob gerade die Mystik nicht immer schon auf ihre eigene Weise auf die Dialektik des Begeh­ rens geantwortet hat, welche sowohl die traditionelle Religion wie den psychoanalytischen Diskurs kritisch durchzieht.677 Und solche Durchquerung von spezifischer jouissance betrifft eben auch vor allem den Körper als subjektiven Leib, denn ursprüngliche Präsenz des Realen (etwa im Mutterleib), umfassendes Erleben von Bedürfnis­ stillung nach der Geburt, wie aber auch der Schmerz-im-Genuss als plus-de-jouir (Mehr-Genuss), sind tragende Elemente der mys­ tischen Erfahrung. Diese beansprucht einerseits reine Innerlichkeit und scheint andererseits ekstatischer Bezug zum Ganz-Anderen in dieser Immanenz selbst zu sein. Das leibliche Erfahren wird auf jeden Fall die Erfahrung des Anderen (Gottes oder der Gottheit) im Eigenen, wobei nicht auszuschließen ist, dass das »Eigene« zum schlechthin »Anderen« wird – eben zum Extimen, wie Lacan es nennt, um von vornherein jede vorgestellte »Intimität« der Exzentrizität des Subjekts dem Außen zu überantworten. Das Interesse Lacans für Begehren/Genuss in der Mystik ist daher prinzipiell durch die 676 Vgl. J.-F. Sauverzac, Le désir sans foi ni loi. Lecture de Jacques Lacan, Paris 2000, sowie J. Lacan, Le Triomphe de la religion précédé de Discours aux Catholiques, Paris 2005, 95f. (dt. Der Triumph der Religion, welchem vorausgeht: Der Diskurs an die Katholiken, Wien 2009), wo bemerkt wird, dass sich »der Glaube in alle Ecken einnisten kann«. 677 Vgl. hierzu auch U. Schneider-Harppecht, Mit Symptomen leben: eine andere Perspektive der Psychoanalyse Jacques Lacans mit Blick auf Theologie und Kirche, Münster 2000; H. Ricard, De Spinoza à Lacan. Autre Chose et la Mystique, Paris 2015.

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Struktur der Sprache bedingt, so dass die schon unterstrichene »Zer­ rissenheit« im leiblichen Erfahren als Begehrensdialektik sich mit der Feststellung bei ihm paart, der Mystiker selbst setze seinen Leib als einen »mystischen Leib« in Szene. Dies hat insofern unmittelbare Bezüge zur analytisch therapeutischen Beziehung,678 als in beiden, das heißt in der Mystik wie in der Kur, von etwas gesprochen wird, dessen Sagen prinzipiell unmöglich ist, so wie schon bei Bataille die »innere Erfahrung« das Unmögliche auslotete. Es geht also um eine jeweilig subjektive oder göttliche Wahrheit, die in kein vorausgesetz­ tes Wissen (sujet supposé savoir: SSS) mehr aufgeht, mithin um das, was der Sprache als langue grundsätzlich fehlt. In Lacans Terminologie ist dieses Fehlende das »Reale«, und wenn Lacan am Ende seines Seminars XX häufiger einige MystikerInnen erwähnt, dann in der Absicht, ihren mystischen Diskurs einer genaueren strukturellen Konzeptualisierung zu unterziehen.679 Als Analytiker fällt ihm dabei zunächst die Nähe zwischen bestimmten Formen des Deliriums und anderer psychopathologi­ schen Erscheinungen auf. Aber anders als Freud, der dem »ozeani­ schen Gefühl« des mystisch Religiösen nichts Positives abgewinnen konnte, wie seine Diskussion mit Romain Rolland hierüber zeigt und auch der Anfang seiner Schrift »Unbehagen in der Kultur« noch erkennen lässt,680 versucht Lacan ein angemesseneres Verständnis. »Ich lehre etwas, dessen Ausdruck dunkel ist«, sagte Lacan in seinem »Diskurs an die Katholiken« in Brüssel 1960 und meinte damit jenen schon angesprochenen »Riss« als »Wunde« im Herzen unserer Exis­ tenz, welche Begehren und Objekt (a) der Erfüllung nicht zu vereinen vermag, sondern »das Ding« (la Chose) wie ein Nichts (rien) umkreist. Deshalb flöße die Religion die Furcht vor dem »Ding« ein, um »es in rechter Entfernung zu halten«, was Lacan auch mit Freuds »Todes­ 678 Vgl. ausführlicher R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomeno­ logisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision – zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan, Freiburg/München 2015, 9ff. 679 Vgl. J.-D. Causse, »Le corps et l’expérience mystique. Analyse à la lumière de Jacques Lacan et de Michel de Certeau«, in: Cahiers d’études du religieux. Recherches interdisciplinaires 13 (2014) 1–8, hier 3ff. 680 Vgl. J.-M. Masson, The ocean Feeling. The Origins of Religious Sentiment in Ancient India, Dordrecht 1980; H. u. M. Vermorel, Sigmund Freud und Romain Rolland. Correspondance 1923–1936. De la sensation océanique au Trouble du souvenir sur l'Acropole, Paris 1993, 518ff., M. Hulin, La Mystique sauvage. Aux antipodes de l'esprit, Paris 1993, 63–85 u. 86–108.

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trieb« korrelieren lässt.681 Diese Dunkelheit des »Dings« als »Nichts« bezüglich eines unmöglich absoluten Genusses (jouissance) nähert sich der mystischen Erfahrung an, in der Freud nur eine Psychose wie etwa im Fall der Paranoia des preußischen Senatspräsidenten Schreber erkennen wollte, aus dessen Körper Gott sich ein Objekt der Lust macht, indem dieser Patient selbst für Gott dessen Frau sein wollte.682 In einem solchen »Körper des Wahnsinns« findet sich das Subjekt einem allmächtigen Anruf gegenüber, der ohne Grenzen und Regeln erscheint, wodurch ebenfalls die Identifikation mit dem gekreuzigten Christus in anderen Fällen Platz gewinnt, der sich im Leib eines solch mystischen Subjekts selbst inkarniert, wie etwa beim mittelalterlichen Mystiker Tauler.683 Lacan folgt hierbei den theologischen Dogmenauslegungen über die Fleischwerdung Christi bzw. hinsichtlich dessen geistiger Einwohnung in den Gläubigen nicht weiter. Aber er ironisiert dennoch andere szientistische Versuche, wie etwa eine »Psychologie Christi« untersuchen zu wollen, insofern es wohl unmöglich sein dürfte, das »Begehren Christi von irgendeiner Seite her aufzudecken«.684 Diesseits der theologischen Spekulationen folgt Lacan daher einer anderen Erklärung von mystischen Phänomenen in seinem Seminar VII, indem er auf die in der Mystik gegebene Verbindung von Lust und asketischen Praktiken achtet, die in ihrem sakrifiziellen Aspekt eine Hingabe an Gott einschließen, welche in ihrer Grenzen­ losigkeit durchaus auch Züge tragen können, die Gott eher dem Teuflischen annähern. So zum Beispiel Wasser mit großer Wonne zu trinken, wie wir schon erwähnten, in dem zuvor die Füße von Leprakranken gewaschen wurden, oder Exkremente eines Kranken zu essen.685 Diese selbstdemütigenden Handlungen bei den eingangs genannten Mystikerinnen lassen einen »Anderen« in ihrem Körper vermuten, was bis zur Verneinung ihres eigenen Leibes schlechthin Le Triomphe de la religion, 63f. Vgl. J. Lacan, Ecrits II, Paris 1966, 50ff., zur Analyse dieses Falls des preußischen Senatspräsidenten Schreber in Teilen der psychoanalytischen Literatur seit Freud; dazu ebenfalls M. Kleiner, »Die Psychose bei Freud und Lacan«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse Freud – Lacan 85/1 (2017) 80–97. 683 Vgl. schon unser vorheriges Kapitel II,2. 684 Vgl. Le Triomphe de la religion, 64, sowie weiterhin zur Christusgestalt und den Evangelien J. Lacan, Encore, 95–106; »Du baroque«, hier bes. 97f. 685 Vgl. Le Séminaire VII: L´éthique de la psychanalyse (1959–1960), Paris 1986, 221 (dt. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin 1995). 681

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führen könne, wodurch auf paradoxe Weise gerade das Leibliche zum Ort eines Begehrens werde, sich von solcher Leiblichkeit selbst lösen zu wollen. Aber dies führe nicht bloß zu einem möglichen Verhalten der Indifferenz gegenüber dem eigenen Körper, sondern vielmehr entstünden entsprechende mystisch-asketische Praktiken als immer neues Mittel, um denselben abzutöten. Dadurch ergeben sich ohne Zweifel Parallelen zur Hysterie, weil die jouissance des eigenen Leibes hierbei stets aufgeschoben wird, um letzteren andererseits immer wieder neu in Szene zu setzen. Auch wenn vor zu raschen Verall­ gemeinerungen zwischen Mystik, Psychose und Hysterie Vorsicht geboten bleibt,686 so besitzen die Symptome dennoch eine eigene Sprache nach Lacan. Will man diese nicht prinzipiell psychologisi­ sieren, wovon sich das analytische Denken Lacans687 sehr kritisch abhebt, weil die Psychologie epistemologisch letztlich den Weg des vereinheitlichenden wissenschaftlichen Diskurses gehe, muss auf die Besonderheit des mystischen Diskurses als solchem geachtet werden. Dessen subjektive wie strukturelle Wahrheit komme durch den Leib der MystikerInnen selbst zum Ausdruck, ohne dafür nur nosologischen Klassifizierungen zu folgen, bzw. zu einem gewissen psychologisch akademischen »Subjekt der Erkenntnis« zurückzukeh­ ren, wo sich Organismus und Denken in einem problematischen Parallelismus verdoppelten.688 Man kann daher festhalten, dass für Lacan »Mystik« mehr beinhaltet als die jouissance eines »Lust-Ich« im Sinne Freuds, das narzisstisch nur die Neurose seines eigenen Macht­ gefühls in Szene setzt. Ebenso gibt es diesseits aller Selbstdemütigung als Ausdruck des Melancholischen anstelle unmittelbarer Freude ein »ursprünglich Rätselhaftes«, welches als »mystischer Funke« angese­

686 Vgl. die schon ältere, aber immer noch wertvolle Untersuchung von P. Janet, De l’angoisse à l’exstase. Études sur les croyances et les sentiments I: Un délire religieux. La croyance, Paris 1926 (Nachdruck 2008). Er geht von einem »psychasthenischen Delirum« aus, wo die unio mit Gott der Notwendigkeit einer fehlenden Leitung bei der Patientin Madeleine entspreche, insofern Wille und Handeln sich kaum am Äußeren bei ihr bewähren können. Dazu E. Fischer-Homberger, Pierre Janet und die Psychotherapie an der Schwelle zur Moderne, Gießen 2021. Außerdem B. Škodlar u. J. Ciglenečki, »Psychose als missglücktes Abenteuer. Mystische Erfahrungen und ihr psychotherapeutisches Potenzial«, in: Psycho-logik. Jahrbuch für Psychotherapie, Philosophie und Kultur 10 (2015) 154–169. 687 Vgl. etwa Ecrits II, 153ff.; Autres écrits, Paris 2001, 142f. 688 Vgl. J. Bossinade, Psyche zwischen Kausalität und Kontingenz. Tunnheim – David Ménard – Lacan, Würzburg 2021.

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hen werden kann und nach Michel Hulin die Grundstruktur aller Mystik zu bilden scheint.689 Allgemein kann zum bisherigen lacanschen Mystikverständnis noch näherhin angemerkt werden, dass von der Mystik in ontischontologischer Hinsicht sowohl die sinnlich leiblichen Prädikate wie die Eigenschaften der vorgegebenen Sprache für unangemessen gehalten werden, um das Ganz-Andere (Gott, Gottheit) auszudrü­ cken, welches die einzelnen MystikerInnen erleben. Die extreme Loslösung bei ihnen von allen mundanen Attributen des Seins nähert sich – wie in der Negativen Theologie und im Dekonstruktivismus – dem Zusammenhang von Ding/Nichts im Begehrensverständnis Lacans insofern an, als auch der Mystiker in den Figuren der Sprache und Vorstellungen nur imaginär narzisstische Selbstidentifikationen entdeckt. Diese Spannung zwischen Konformität und eigenem Erle­ ben drücke er durch seinen eigenen Leib in dessen Verzicht aus, wodurch die damit gegebene subjektive Bewegung der Mystik auch für die Analyse/Therapie wichtig ist. Denn die weitgehende bis totale Ablehnung des eigenen Selbst einschließlich des Leibes bietet normalerweise für den gesellschaftlichen Raum eine Herausforde­ rung, welche von diesem abgelehnt wird – etwa im Namen eines bürgerlichen Humanismus oder wissenschaftlicher Objektivität. Der Mystiker verleiht jedoch dem Verlust- dem, »was nicht sein kann«, wie Lacan sagt – einen anderen Stellenwert, wodurch Sein/Haben insgesamt (wie sie gerade den Phallus im Imaginären auszeichnen)690 einen anderen Bezug zu Begehren und Genuss gewinnen. Dies wäre daher der zweite wichtige Punkt im strukturalistisch sprachlichen Mystikverständnis mit Parallelen zum »psychoanalytischen Diskurs« und dessen ihm eigener Wahrheit als reiner Singularität – dass nämlich der Leib von dem aus verständlich werde, was dem Sein fehlt. Dadurch entstehe ein rein begehrender und hervorbringender Leib, der wie der Auferstehungsleib Christi nicht länger mit dem »leeren Grab« identisch ist, so wie letzteres auch von doktrinär institutionellen Körpern in ihrer Starrheit gebildet werden kann. Wenn daher der mystische Leib mit dem mystischen Diskurs eine Verbindung eingeht, dessen Begehren sich als Verzicht und Leere im eigenen Körper ausdrückt, dann ist diesbezüglich jedes äußere Objekt (a) im psychoanalytischen Sinne grundsätzlich schon ein verlorenes 689 690

Vgl. La Mystique sauvage, 89 u. 103. Vgl. J.-C. Maleval, La forclusion du Nom-du-Pére, 216ff.

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oder abwesendes Objekt. Dies wäre durchaus mit der Melancholie beispielsweise vergleichbar, worin ebenfalls diese Erfahrung gemacht wird.691 Aber der Mystiker scheint sich dabei nicht bloß auf sein Ich wie auf ein Objekt inhibierend zurückzuziehen, sondern er eröffnet seinem Begehren eine Bewegung, in der jede Vereinheitlichung als »einziger Zug« (trait unique) des Seins oder des Diskurses – das heißt als zwanghafte Totalisierungsanstrengung im Sinne Batailles und Lacans – hinfällig wird. Der mystische Leib wäre in solcher Sichtweise daher ein fehlender, zerrissener oder durchlöcherter Leib, wo die Inszenierung von Loslösung und Spiegelung ineinander fallen können, um durch das Übermaß von Verzicht/Anfrage (demande) mit Blick auf Gott jene Distanz offen zu halten, die nichts Gegebenes zu einer Anwesenheit werden lässt, welche Zufriedenheit verhieße. Dass dies sich nicht ohne spezifische jouissance vollzieht, die von den MystikerInnen dann mit dem Göttlichen selbst als »Nichts der Kreatur« (Meister Eckhart) oder als »Dunkle Nacht« (Johannes vom Kreuz) etwa gedeutet wird, erstaunt dann nicht mehr. Eröffnet wird dadurch nämlich das Verständnis für eine lebensmystische Dialektik von Abwesenheit/Anwesenheit oder auch von Leere/Fülle, die nicht allein hysterisch oder psychotisch im pathologischen Sinne sein muss. Das heißt, es wäre nicht länger mehr die neurotische oder melancho­ lische Festschreibung des Unbefriedigtseins als solchem, sondern eher die befreiende Bewegung von Begehren/Objektoffenheit, um dem »Ding« (la Chose) seinen ganzen Raum in der Begegnung mit dem Realen zu lassen: »Dieses Ding ist keineswegs das Objekt und kann es nicht sein, da sein Ausdruck nicht als Korrelat eines hypothetischen Subjekts hervorgeht, welches als solches unter der Signifikantenstruktur – als fading, aber nicht als Größe (terme) – verschwindet, sich auflöst.«692 Können folglich Mystik und Signifikantenkette nicht zusammen­ fallen, dann bleibt als dritter Gesichtspunkt die Frage, worin die Mystik ein leiblicher Diskurs des »Risses« ist. Nach dem dargestellten lacanschen Verständnis spricht dieser mystische Diskurs von dem, was über den Leib hinausgeht, und die zuvor genannte Abwesenheit 691 Vgl. V.E. Frankl, Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psycho­ therapie, Bern 1984, 116ff.; U. Bardt, »Die Ambivalenz der Melancholie. Interdiszipli­ näre Zugänge zu einem rätselhaften Phänomen«, in: Philosophischer Literaturanzei­ ger 74/4 (2021) 369–399. 692 Le Triomphe de la religion, 55.

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des Ganz-Anderen, der dennoch angerufen wird, wäre damit die Unmöglichkeit dessen, was niemals gesagt werden kann, doch zu sagen bleibt. Hier ergibt sich auch ein Zusammenhang zwischen mystischer Erfahrung und »weiblicher Lust«, die für Freud wie die Psychoanalyse allgemein trotz allen Bemühens stets ein Geheimnis geblieben ist. Nach Lacan693 drückt die Statue Theresas von Avila von Bernini in Rom, die wir schon in unserem Kapitel zu Bataille nannten, ohne Zweifel in ihrer Verzückung einen orgastischen Genuss aus, der erfahren wird, aber nach dem »wesentlichen Zeugnis der Mystiker wissen sie nichts davon«. Vision und Sprache sind suspendiert bei dieser Erfahrung, was gerade als Abwesenheit auch von Wissen und Vorstellung den mystischen Diskurs als solchen hervorbringt, der nahe beim dichterischen Sprechen liegt, wie wir schon festhielten.694 Wie beim Leib nach Lacan ist in diesem Diskurs auch die Sprache oft wie durchlöchert, denn sie trägt das in sich, was fehlt, wodurch sie zu unerwarteten Bildern und Bedeutungen hin findet, deren häufige stilistische Form das Oxymoron bildet: »Dunkle Nacht« oder »Grausame Ruhe«, um nochmals Johannes vom Kreuz anzuführen. In dessen Schriften fand Lacan695 schon früh ein Entweichen aus der Symbolik mit Hilfe der Symbolik, aber auch das Auslöschen von jeder Selbstliebe, um in der unio mit Gott eine »Ordnung des Seins«, ein »letztes Wesen der Gottheit« zu finden, worin die »Ordnung der Sprache« überstiegen wird. So heißt es etwa bei diesem spanischen Mystiker: »In seinem unermesslichen Mitgefühl macht Gott die Erfahrungen von Finsternis und Leere in der Seele auch zum Maß für seine Tröstungen und Geschenke, denn sicut tenebrae eius, ita et lumen eius (Ps 139,12).«696 Die mystische Sprache verweist folglich auf ein Nicht-Sprechen, woraus die Lust des Mehr-Sagens entsteht, nämlich ein Außerhalb der Worte und Dinge anzusprechen, für das die Worte an sich fehlen, weshalb die MystikerInnen dieses Sprechen als Übermaß (excès) in ihrem zerrissenen Leib trügen. Der Bezug zum »weiblichen Genuss« ergibt sich hierbei daraus, dass nach Lacan die Frau sich in ihrem Encore, 70. Vgl. unser vorheriges Kapitel II,1 über das affektiv mystische Ur-Sagen«. 695 Vgl. »Du symbole et de sa fonction religieuse« (1954), in: Le mythe individuel du névrosé ou poésie et vérité dans la névrose, Paris 2007, 51–98, hier 78ff. 696 All mein Tun ist nur noch Lieben. Geistlicher Gesang B, Strophe 12,9, FreiburgBasel-Wien 2019, 199. 693

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Innersten mit sich selbst leichter zufrieden gebe, während der Mann phallisch sein Bedürfen als Mangel über sich hinaus trage und es dem Hang nach Vermehrfachung der Sexualpartner oder dem Fetischismus unterliege. Das heißt nicht, die Schwierigkeiten der sexuellen jouis­ sance der Frau seien geringer, aber das Objektverhältnis – und damit auch zum eigenen Leib – sei ein anderes, wie etwa die Anorexie offenbaren kann, die vornehmlich bei jüngeren Frauen auftritt, die das Bedürfen an Nahrung durch das reine Bedürfen ersetzten und damit ihren eigenen Leib als Begehren selbst leben.697 Auf jeden Fall besitzt der mystische Leib und Diskurs transgressive Züge hinsichtlich gesellschaftlichem Konformismus und sprachlichen Identifikations­ prozessen.698 Daraus ergibt sich ein Loslösen von festgefahrenen Weltverhalten, kodifizierten Selbstbildern und beengten Lebensfor­ men. Die Hysterie versucht diese befreiende Loslösung ebenfalls zu verwirklichen, verfängt sich aber in der eigenen Inszenierung als Wiederholung, die das »erlösende Erlebnis« als bloße Antizipation imaginär immer wieder aufschiebt und dabei oftmals in den Dienst der »Rettung« des Anderen (Vaters, Mannes) gerät. Für etablierte Ordnungen bleiben beide Diskurse eine Herausforderung, da ihnen an einer je eigenen Wahrheit gelegen ist, wobei der mystische Dis­ kurs am meisten vom singulär Eigenen spricht,699 ohne daraus ein Wissen des »Dings« (Gottes) machen zu können. So wie in der Analyse/Therapie eine subjektive Wahrheit zu Tage treten soll, die sich selbst bisher unbekannt war und auch nicht mehr ein fremdes »Herrenwissen« werden kann,700 sondern ähnlich wie in der Mystik im singulären Leib und dessen Sprache den »Riss« der Ex-sistenz ohne Kompensation durch weitere Phantasmen oder Objektsubstitutionen (a) lebt. Wenn wir nun diese Untersuchung über den mystischen Diskurs als leiblichen Diskurs nach Lacan auf sein kritisches Religionsver­ ständnis übertragen, dann ergeben sich zusätzliche Konturen für die Bestimmung einer originären Mystik als Kriteriologie einer jeden Vgl. Le Triomphe de la religion, 59f. Vgl. auch S. Lippi, Transgressions. Bataille, Lacan, Paris 2008, 189ff., in Bezug auf Mystik, Opfer und Gottesverständnis. 699 Vgl. V. Ciomos, »Der Genuss und seine Mehrdeutigkeit«, in: International Journal of Humanistic Ideology X/2 (2020) 9–26, hier 23f. 700 Vgl. im Einzelnen R. Kühn, Der therapeutische Akt. Seine Singularität in Bezug auf Wissen und Wahrheit in lebensphänomenologischer und lacanscher Perspektive, Freiburg/München 2018. 697

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Erkenntnis und Praxis schlechthin. Was die mystische Erfahrung im Sinne Lacans als »Sagen des Unmöglichen« unterstreichen kann, ist die Ex-sistenz Gottes außerhalb des Symbolischen im Dire (Sagen, Rede) als solchem. Mithin als Bewegung des Unbewussten, welches uns als das »Reale« bestürzt oder mit ihm konfrontiert, sofern wir davon im »Riss« oder »Intervall« der Signifikantenkette betroffen sind, ohne in einem binären Sinne an Gott glauben zu müssen. Insofern der A-Theismus als sinthome701 jede Gläubigkeit an einen phallischen Vaternamen aufhebt, ist Gott im Rahmen der triadischen Topologie von Symbolik, Realem und Unbewusstem dennoch nicht in dem Sinne abwesend, wie der Ort des Sagens außerhalb jedes Gesag­ ten ihn voraussetzt und gerade im exzentrisch leiblichen Sprechen der MystikerInnen zum Ausdruck kommen kann.702 So wie Lacan die Unterscheidung von Religion und Kirche innerhalb der »wahren (römischen) Religion« kaum ausführt, so spricht er auch nicht zu Gott, wie es die MystikerInnen tun. Allerdings spricht er von Gott und lässt diesen in gewisser Weise in der Dialektik von Begehren/Objekt a als die Erfahrung jener jouissance sprechen, wo das Nichts objekthafter Erfüllung eine Möglichkeit der Anwesenheit nicht ausschließen muss, wie die Lehre über »das Ding« zeigt, welches nie greifbar ist, aber von uns Menschen ständig begehrend umkreist wird. Für eine solch exis­ tentielle wie analytisch therapeutische Konstellation, die sich jeder letzten philosophischen, theologischen oder sonstigen disziplinären Festschreibung entzieht und daher eine eigenständige Lebensmystik zulässt, bleibt die Gottesfrage mithin für jeden offen. Für die Pro­ blematik kirchlicher Institutionen hierbei unterstreicht Lacan703 bei­ spielsweise die Gefahr der organisierten psychoanalytischen Bewe­ gung selbst, wenn sie die interne Kommunikation dogmatisch wie in der katholischen Kirche nachahme. Dies tritt als Gefahr immer dann auf, sobald der Bezug zur Wahrheit als Ursache gesellschaftlich statt singulär gefasst würde – was für die Psychoanalyse an sich »grotesk« 701 Vgl. zu diesem aus dem Altfranzösischen stammenden Begriff und seiner Klinik anstelle von Symptom J. Lacan, Le séminaire XXIII: Le sinthome, Paris 2005. 702 Dies entspricht im Wesentlichen auch dem Ergebnis der Analyse von Hadwig Müller schon zur Gottesfrage bei Lacan; vgl. Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott. Ein Gespräch zwischen Psychoanalyse und Glauben – Jacques Lacan und Simone Weil, Düsseldorf 1983, 324ff.; D. Finkelde, Exzessive Subjektivität. Eine Theorie tathafter Neubegründung des Ethischen nach Kant, Hegel und Lacan, Freiburg/München 2016. 703 Vgl. Ecrits II, 243f.

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sei.704 Die Institution einer »gesellschaftlichen Hierarchie«, worin der Bezug zur Wahrheit als Ursache durch eine Tradition bewahrt wird, bilde daher ein Modell innerhalb der Religion, dem keine Gefolgschaft zu schenken ist, wodurch sich auch die geschichtlichen Konflikte zwischen Mystik/Institutionen erklären. »An Gott glauben« heißt dann ebenfalls nicht mehr, ihn beweisen zu wollen; »nicht an Gott zu glauben«, impliziert andererseits keine Verneinung Gottes. Denn wenn ich glauben kann, ohne Gott beweisen zu müssen, und dies in gewisser Weise in jedem Sagen (Dire) voll­ ziehe, dann lebe ich die Unterscheidung von Gläubigkeit (croyance) und Glaube (foi), die auch die jüdisch-christliche Tradition immer gekannt hat. Nimmt man Paulus, Meister Eckhart oder Johannes vom Kreuz als Beispiel, dann gibt es eine Art A-Theismus oder Dekonstruktion in diesem Glauben selbst. Die Begegnung mit Gott – wie schon bei Moses – ist nämlich zunächst Verfinsterung und dann Erwachen in einer Existenz,705 welche sich transgressiv – wie die MystikerInnen – von der phallischen Funktion des Gesetzes oder des Vaters gelöst hat, um eine Gelassenheit und vielleicht Seligkeit zu erproben, welche nicht ohne Grund den Bezug zur »weiblichen jouissance« als möglichen analytisch therapeutischen bzw. akthaften Horizont zulässt. Der Analytiker im freudschen Sinne glaubt zumin­ dest seinerseits an das Unbewusste, welches er ebenfalls niemals sieht, auch wenn er alle andere religiöse Gläubigkeit ablehnen sollte, was für die Therapie die minimale Voraussetzung bleibt, insofern der subjektive Sinn eines Symptoms zu entziffern ist. Hier tut sich eben­ falls der Unterschied zwischen Glauben (croire) und Daran-Glauben (croire à) auf, denn das Minimum des vorausgesetzten Unbewussten heißt keineswegs an das Symptom selbst zu glauben. Wird mithin prinzipiell das – ein Wissen voraussetzendes – Subjekt (SSS) episte­ mologisch aufgegeben, dann ist das Subjekt nicht länger nach dem zu bemessen, was es ist oder zu sein scheint.706 Vielmehr nach Maßgabe dessen, was es sagt, insofern sich im singulären Sagen sein Bezug zum Unbewussten und Realen – und damit auch verborgen zu Gott – offenbart. Ohne Gläubigkeit oder »Glauben an…« lässt dies gleich­ falls eine Form der Liebe zu, die sich nicht mehr unbedingt als »Liebe Vgl. Autres écrits, 165ff. Vgl. J. Lacan, Des Noms-du-Père, Paris 2005, 100f. 706 Zum Begriff des Scheins (semblant) in jedem Diskurs vgl. J. Lacan, Le Séminaire XVIII: D'un discours qui ne serait pas du semblant, Paris 2007. 704

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zu Gott« im Sinne der Religion gibt, aber die »Nächstenliebe« und die »Heiligkeit« in der Analyse/Therapie sowie entsymbolisierten Alltagswelt als ethische oder mystische Haltung nicht ausschließt.707 Diese »Liebe zum Symptom«, um damit effektiv therapeutisch umzu­ gehen, ist zugleich eine jouissance, die den Leib mit umfasst, und zwar mit all seinen affektiv libidinösen Rätseln, wie die MystikerInnen es zeigen können. »Mein Platz«, sagt daher Lacan, »ist am Kopfende der Liege, wo der Patient zu mir spricht«708 – und für die hier mögliche singuläre Wahrheit gibt es kaum einen anderen diskursiven Platz. Will man folglich Freuds Atheismus als historisch bedingten Szi­ entismus hinter sich lassen, da er sich gemäß der jüdischen Tradition auf die Reduktion Gottes in Text oder Buchstabe beschränkt,709 wie die klassische Psychoanalyse als Entzifferungsversuch nahe legt, so ist nicht nur der Vater und sein Name als Gesetz (Phallus) aufzuge­ ben. Denn Freud selbst suchte letztere noch ödipal wie persönlich, während mit Lacans A-Theismus jeder Versuch obsolet ist, den Anderen (A), die Frau, den Sinn etc. zur Würde »des Dings« (la Chose) an sich zu erheben. All diese Totalisierungsversuche wie bei Bataille aufzugeben heißt mit anderen Worten: Der Andere, die Frau etc. existiert nicht, und auch nicht die Wahrheit als Sinn oder Wissen – und daher ebenso wenig Gott. Die zuletzt erwähnte Religion bedeutet dementsprechend, wie im Johannesevangelium, dass die Wahrheit »Weg und Leben« ist (Joh 14,6). Mithin keine bloße Vorstellung, sondern lebensmystische Ereignishaftigkeit des Realen, welches sich erprobt,710 wobei für Lacan Religion, Wissenschaft und Psychoanalyse zum Sagen (Dire) ebenso gehören wie Reales, Imaginäres und Unbewusstes einschließlich des Symbolischen, ohne dass dieses Sagen – als Ereignis oder Widerfahrnis – darin aufginge. Die Religion realisiert, was symbolisch von Gott als existent gesagt werden kann, aber der Sinn der symbolischen Ordnung schreibt sich dabei als Vorstellungen in den Körper der Subjekte so imaginär ein, dass dies zu entsprechenden Symptomen als Ereignis des Leibes für das Subjekt führt, wie gerade die Mystik zeigt. In dieser Hinsicht könnte man weiter fragen, ob die Christuswirklichkeit nicht auch zu Vgl. dazu im Einzelnen R. Kühn, Der therapeutische Akt, 141ff. Le Triomphe de la religion, 65. 709 Vgl. H. Hirblinger, Paulus und Freud. Ein Diskurs über Religion. Gewalt und Unbewusstes in der Kultur, Gießen 2021. 710 Vgl. Des Noms-du-Père, 92. 707

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diesem Leibereignis selbst gehört, das heißt als eine lebensmystische Fleischwerdung des Wortes nach Joh 1,14. Diese wurde von der Religion im Sinne einer psychischen Wirklichkeit für den Menschen nicht wirklich erklärt, insofern der Mensch als »SprachSein« (parlêtre) durch den Logos (Verbe) »heimgesucht« wie »entstellt« wird (ravagé) – aber durch denselben Logos auch einen Genuss (jouissance) erfährt, ohne den die Kur nicht denkbar wäre.711 Die Analyse/Therapie entdeckt jedenfalls, was vom Realen des Symptoms ohne Entfremdung vom jeweiligen Subjekt symbolisiert zu werden vermag und somit eine gewisse Inkarnation der subjek­ tiven Wahrheit zulässt. Was in der Signifikantenkette als Reales bisher ausgeschlossen war, findet auf dem therapeutischen Weg über den »Einfall« in der »Übertragung« zu einer Wahrheit, die dann ein ahnendes Berühren des Realen auf der Ebene der Menschen als leben­ digen Wesen darstellt, ohne dieses Reale auszuschöpfen oder erneut illusionshaft zu totalisieren. Indem in dieser Hinsicht das Unbewusste geliebt wird, ist das Irren im doppelten Wortsinne nach Lacan nicht ausgeschlossen, aber die »Liebe zum Unbewussten« ist eigentlich die »Liebe zum Leben«. Denn dieses liebt sich radikal phänomenologisch als Immanenz selbst, so dass in dieser Selbstliebe des Lebens »Gott« (Gottheit) als das Absolute dieses Lebens (Ungrund) mit einbeschlos­ sen ist – sogar in der existentiellen Irrnis noch sowie ohne seine notwendige Benennung durch eine Vorstellung, wie auch Kierkegaard wusste.712 Dadurch zeichnet sich eine mögliche Lebensmystik mit Lacan und über ihn hinaus ab, die in unserer Untersuchung zur Mystik nicht ausgeblendet werden konnte. Was als Ergänzung zu Lacans Mystikverständnis daher noch aussteht, ist eine genauere Fassung des Verhältnisses von Ethik, Religion und Mystik mit Bezug auf die Psychoanalyse, wobei wir wissen, dass der Narzissmus und seine oft unerkannte Rivalität durch eine Nächstenliebe des wirklich Anderen (und nicht nur des uns »Gleichen« oder des »Nebenmenschen« bei Freud) überwunden werden soll. Dabei gilt es zu berücksichtigen,713 dass die Psychoanalyse einerseits kaum eine lange Tradition für sich in Anspruch nehmen kann, insofern sie erst seit hundert Jahren Vgl. Triomphe de la religion, 90f. Vgl. J. Hodel, »Lust zur ästhetischen Selbst- oder Ideenliebe und religiösem Leidenwollen beim frühen Kierkegaard«, in: International Journal on Humanistic Ideology X/2 (2020) 65–82. 713 Vgl..Triomphe de la religion, 80f. u. 101f. 711

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existiert, und ihre Selbstauflösung in Religion andererseits insofern nicht möglich ist, wie sie nur dem »Eindringen des Realen« über das Symptom ethisch verpflichtet ist. Mithin weder in Sinn noch Moral im herkömmlichen Sinne aufgehen kann und deshalb als spezifische Wahrheit eine nahezu »unmögliche Stellung« impliziert. Aber auch diese singuläre epistemologische Position enthält für Lacan keinerlei Garantie, dass die Psychoanalyse einen Schlüssel für unsere Zukunft in Händen hielte. In kultureller wie philosophischer und mystischer Hinsicht haben wir es also mit einer Disziplin zu tun, die nicht unter rein reflexive Zugänge subsumiert werden kann, was auch für jene Praxis gilt, die sich individuell wie gesellschaftlich aus der Lebensmystik erheben lässt.714 Hierzu lässt sich kurz überleiten durch den grundlegenden Zusammenhang von »Ding« (la Chose) und »Vorstellung« (repré­ sentation) bei Lacan, der schon zuvor angesprochen wurde. Inso­ fern die »Sache« die menschliche Handlung impliziert, welche der »Not des Lebens« (Freud) geschuldet ist, bezeichnet das »Ding« ein »Anderswo« als jenes primordiale Außen, welches jedes Objekt als Antwort auf die »Kontoführung« des Begehrens erwarten lässt – aber selbst verloren ist. Dieses »Ding« als »verlorenes Objekt« ist daher als »absolut Anderes« jenes anfängliche Objekt, welches das Subjekt in Lust, Anstrengung und Leid wieder finden möchte und daher die Grundlage der Halluzination schlechthin bildet, weil gerade dies durch die »Bahnungen« von Unbewusstem und Wahrnehmungsvor­ stellungen hindurch nicht möglich ist.715 Daher bleibt die menschliche Handlung stets der Weg einer Wiederholung in den Augen der Psychoanalyse, um gerade in der »Neurosenwahl« ein Verhältnis zum »ursprünglichen Ding« einzugehen, das sich für Hysterie, Zwang und Paranoia je anders gestaltet, aber zutiefst deutlich macht, dass es sich um eine ethische Frage dabei handelt. Nämlich um ein Versagen oder Gelingen des Glaubens in dieses »Ding«, welches Kant zur universellen Maxime hinsichtlich der Erreichung des Guten erhob. Die notwendige Vorstellungsanpassung hierbei kann den grundsätz­ lichen Charakter dieser Vorstellung selbst aufklären, denn wenn wir das »Ding« als nie verlorenes »verlorenens Objekt« berücksichtigen, dann klärt sich in diesem Paradox jenes ständige Wiederfinden-Wol­ Vgl. R. Kühn, Psychoanalyse, Philosophie und Religion – wer leitet die Kultur?, Göttingen 2020. 715 L’éthique de la psychanalyse, 56ff. 714

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len auf, in dem als Prinzip der Vorstellung eine Befriedigung der »Not des Lebens« durch eine im Außen wieder erkannte Realität stattfinden soll.716 Dabei folgt die »Vorstellungsrepräsentanz« im Sinne Freuds der Signifikantenkette als metaphorischer Verdichtung und Verschie­ bung. Mit anderen Worten der unbewussten Sprachstruktur des Lustprinzips, während das »Ding« auf dieser Ebene der Vorstellung völlig abwesend ist und als das »Andere des Anderen« (welches es symbolisch nicht geben kann) nur jene »Stelle« anzeigt, welche im Realen auf ein Abwesendes hinweist, das weder vom Imaginären noch Symbolischen je erfüllt zu werden vermag.717 Dieser Abwesenheit in der Topologie von Realem, Imaginärem, Symbolischem (RIS) zuzustimmen, macht im Wesentlichen die Ethik des Begehrens aus, welche der Psychoanalyse eingeschrieben sei und erneut die mögli­ chen Bezüge zur Mystik als Verhältnis von Leere/Fülle unterstreicht, wie Lacan selbst anerkennt, wenn er Meister Eckharts Aussage von der »Seele« als dem »Großen Ding« anführt.718 Religion, psychoanalytische Ethik wie Mystik können daher zusammen darüber aufklären, dass die Mutter als das »Ding« ursprünglichen Begehrens kein »Höchstes Gut« darstellt, sondern das Objekt des Begehrens (a) stets in einer »intimen Distanz« bleibt. Auch der Schmerz im Exzess der Lust weist wie das Inzestverbot darauf hin, dass der Zugang zu dem »Ding« nicht erzwingbar ist, und die Lehre von Sade bedeutet für Lacan hinsichtlich des ethischen Verhältnisses von Selbst- und Nächstenliebe, in Bezug auf das eigene Begehren sich selber zu seinem Nächsten zu machen, das heißt die jouissance nicht pervers zu fixieren.719 Denn sofern das »Höchste Gut« der Mutter ein verbotenes Gut darstellt und auch die Wiederholung der begehrenden Objektwahl als Lust nicht zum Ziel der Aneignung des »Dings« führe, bleibt das unerträgliche ethische Verhältnis von Begehren/Gesetz immer vom Tod umspielt, wie ebenfalls Paulus schon im Römerbrief 7,7ff. unterstrich. In der Menschheitsgeschichte war daher die Erotik der Versuch, ein erfüllenderes Verhältnis zum »Ding« wieder zu finden, wie es besonders auch Bataille untersuchte. Aber für Lacan

Vgl. S. Freud, Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt/M. 2014, 319–326: »Die Verneinung«, hier 323f. 717 Vgl. L’éthique de la psychanalyse, 73ff. 718 Vgl. ebd., 80. 719 Vgl. J. Lacan, »Kant avec Sade«, in: Ecrits II, 119–150. 716

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unterliegt die imaginäre Geschlechtervereinigung720 ebenso seiner Kritik wie alle imaginären »Mystizismen« in Bezug auf eine Gottes­ liebe, die mit Kant zu den »Religionsschwärmereien« zählt. Was ethisch therapeutisch wie mystisch dann bleibt, ist demzufolge für ihn nur die mögliche eigene Freisetzung innerhalb der Topologie von RIS, die im psychoanalytischen Sinne weder eine »natürliche Melioration« des Menschen noch eine »Pastoral« bedeutet, da seitens des Individuums auf die »paradoxe Grausamkeit« des Moralgesetzes zu antworten sei, dass es nämlich um so strenger auftritt, je mehr wir es im Sinne einer »Triebsublimierung« verfolgten.721 Foucault setzte deshalb der zentralen Rolle des Begehrens die Priorität der Lust entgegen, um der Tradition der Begehrenskonkupiszenz eine durch die griechische Antike inspirierte »ästhetische Existenz« der »Lüste« entgegenzuhalten. Diese werde nicht mehr der äußeren Moral unter­ worfen, sondern gehorche einer »Meisterung« im eigenen Selbst, die einem gewissen »Kampf« mit sich selbst nicht entgehe, ohne sich allerdings mit »asketischem Wollen« zu verbinden, um nicht von außen beherrscht zu werden. Dadurch entgehe die angezielte »Subjektivierung« (subjectivation) der »Unterwerfung« (subjection) etwa durch die »Biopolitik« als Bildung einer Singularität im Sinne eines ethos, das die Idee der »Verausgabung« gemäß Bataille nicht ausschließen muss.722 Die Differenz zwischen dem »Objekt a« mit seinen spiegelim­ manenten Täuschungen und der deus obscurus als Vaterschaft im Sinne des Mysteriums des Seins, welche auf diese Phallus-Weise ohne Aussicht auf eine Vereinigung sind, starren sich mithin auf der symptomalen Ebene einander an. Die Psychoanalyse kann diese Kluft nicht als eine eigene Zone der Seinsmacht betrachten. Gerade deshalb thematisiert Lacan diesen Unterschied zwischen Mystik und Psycho­ analyse, insofern jeder wissenschaftliche oder diskursive Umgang mit den Dingen notwendigerweise nicht den Unterschied von Sich-Selbst und gleichzeitigem Anderem aufzuheben vermag. Die Mystik kann deshalb auch nicht darin bestehen, der Seins-Zerrissenheit nur durch Vgl. M.S. Aumercier, »Das Nicht-Geschlechtsverhältnis: ein Axiom?«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse Freud – Lacan 85/1 (2017) 53–65. 721 Vgl. L'éthique de la psychanalyse, 90ff., 97f. u. 111ff. 722 Vgl. G. Gregoriao, »Die Lust beim späteren Foucault«, in: International Journal on Humanistic Ideology X/2 (2020) 43–64; dazu auch F. Rambeau, Les secondes vies du sujet. Deleuze, Foucault, Lacan, Paris 2016. 720

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die Imagination zu entgehen, denn dann bleibt immer noch die reale Zerreißung, auf welche die Psychoanalyse als »Konflikt« von Trieb und Ideal in der Neurose hinweist. Aus diesem Grund kann die Mystik als eine gewisse Überwindung des »Seinsverfehlens« (manquer à ȇtre) ebenfalls nicht darin bestehen, dass die ersehnte Begegnung von Selbst und Einheit mit dem Anderen (A) unter der Hand sozusagen zu einem psychologischen »Unterwegs zu Gott« wird. Denn nach Lacan kann zwar eine akthafte Beziehung zur Negation des eigenen Seins aufgenommen werden. aber diese Überwindung der Kluft zwischen Sein und Bedeutung (Signifikant) ist der Sprung in den Tod als akzeptierter »Existenz zwischen zwei Toden«, wie Antigones Tragödie ihn maßgeblich symbolisierte.723 Der Entzug von Entwicklung im psychologischen Sinne oder als aristotelische Entelechie bzw. husserlsche rationale Teleologie überlässt daher nur die Möglichkeit für die Mystik, den Einbruch des »Realen« (le réel) so zu erfahren, dass das Begehren des Anderen (Gottes) ohne jede Objektivierung oder Verkörperungsvorstellung Gottes ist. Das heißt ein außerbiblischer deus absconditus, der die Aporie des Monotheismus aufweist, nämlich trotz der Tradition der Negativen Theologie keinerlei »kopulative« Wirklichkeitsvergewis­ serung in sich zu garantieren. Diese letzte Unbezüglichkeit von Sinn/Sein führt daher eine Inkommensurabilität ein, die allerdings im radikal phänomenologischen Sinne dadurch bereits aufgehoben scheint, insofern jegliche Ontologie und Substantialisierung durch die originäre Gegen-Reduktion des selbstaffektiven Lebens eingeklam­ mert wird, so dass die lacanschen Ausführungen zur Mystik aus psychoanalytischer Sicht in eine solche »Lebensmystik« integriert werden können. Denn weder auf der Ebene der Sprache noch der Vorstellung oder Imagination gibt es eine symbolhafte Annäherung an das »Reale«, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass es nur erprobt werden kann. Nämlich als Erprobung dessen, was unsere reine Passibilität ausmacht, welche das Unverfügbare schlechthin ist und auch keinen Namen oder irgendein Bild von »Gott« vorweist. Die Dezentrierung des psychoanalytischen »Subjekts« seit Freud, »nicht Herr im eigenen Hause« zu sein, muss mithin nicht nur eine ewige Wiederholung des toten Vaters als Phallus in Szene setzen, um ein Jenseits des ödipalen Konflikts mit Sinn und Gesetz Vgl. P. Guyomard, La jouissance du tragique. Antigone, Lacan et le désir de l'analyste, Paris 1992; J. Vion-Dury (Hg.), Entre-deux-morts, Limoges 2000.

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zu halluzinieren. In der Erprobung der lebensmystischen Wirklich­ keit des Passiblen, welches den Un-Grund aller impressionalen wie geistigen Wirklichkeitsbegegnung bildet, indem es diese affektiv ermöglicht, haben Symbolik wie Signifikanz ihr repräsentatives Ende gefunden, um in der reinen Relation von Leben/Leib ein Reales ohne Vorstellung zur Geltung kommen zu lassen, das dennoch die Fülle des rein phänomenologischen Lebens diesseits aller lebensweltlichen Kluft als »Riss« einschließt. Aus diesem Grund müssen sich Kur und Mystik nicht widersprechen, denn auch letztere lebt nicht von einer vorgestellten Versöhnung der Gegensätze und Unterschiede, sondern von der unmittelbaren Gegebenheit des Realen im jeweiligen Augenblick, der von der immanenten Kraft des Vollzugs als »Akt« nicht getrennt ist. Der deshalb kein »Tod« sein kann, auch wenn jede Vorstellung des »Ich denke« stirbt, um einem sum Platz zu machen, welches vom (Sich-Selbst-)Denken befreit ist.724 Der Schmerz selbst im Leid ist noch nicht die Kluft, sondern nur wenn er als Wollen einer Erleichterung zum intentionalen Gegenstand des Denkens wird, das heißt zu einem »Etwas« der Vorstellung, das in der reinen Erprobung des Schmerzhaften als solchem noch nicht gegeben ist.725 Mit Lacan ließe sich daher auch sagen, dass das Begehren in letzterem Fall dann noch nicht zu einem Objekt im Sinne eines Verlangens »verführt« wurde, weshalb die Mystik zur Dimension der objektlosen »Leere« des Absoluten werden kann, ohne das Begehren leugnen zu müssen – aber auch ohne die Notwendigkeit, »Gott« den Schmerz und das Leid als »Gabe« darreichen zu müssen.726 Es ist eher eine Weise, mit Ohnmacht und Fülle als ein und derselben Wirklichkeit im Sinne des Lebens umzugehen, wenn letzteres als das einzig »Reale« erprobt wird, das heißt als nicht selbst-verfügt. Die angesprochene Ambivalenz der Mystik zwischen prinzipiell Unaus­ sprechlichem, innerer Todessehnsucht und erotischer Brautmystik 724 Vgl. zur Entsprechung zwischen dem Ende singulärer Therapie/Kur und dem korrespondierenden Nicht-Wissen über »Ich denke« und »Ich bin« N. Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer, Frankfurt/M. 2005, 252ff.; P. Valas, »Passe et mystique, un étrange voisinage«, in: Revue de la Psychanalyse du Champ lacanien 4 (November 2006) 22–33; C.-N. Pickmann, Direction de la cure, Toulouse 2011. 725 Vgl. dazu die ausführlichen Untersuchungen in R. Kühn (Hg.), Pathos und Schmerz. Beiträge zur phänomenologisch-therapeutischen Relevanz immanenter Lebensaffektion, Freiburg/München 2017. 726 Vgl. auch G. Möde, Das Begehren. Das Identitätsproblem in der Ethik der analytischen Psychotherapie, München 21995.

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bei Hadewijch, Meister Eckhart, Ruusbroec, Bernhard von Clairvaux, Mechthild von Magdeburg etc. könnte auf diese Weise eine gewisse Stringenz gewinnen, insofern der Ab-grund der Passibilität innerhalb der Lebensmystik vorrangig weder die philosophische Reduktion von Vorstellungen und Affekten zum Gegenstand hat, noch deren Abtöten als »mystischen Tod«. Vielmehr eine nicht zurückweisbare Unmittelbarkeit der lebendigen Selbstgebung vollzieht, die immer schon von dem lebt, was jede reduktiv asketische Anstrengung erst intentional erreichen möchte, ohne in den Quietismus abzugleiten. In diesem Sinne verhilft die lacansche Annäherung an die Mystik über »Riss« und »Tod« als notwendige Vollzüge innerhalb lebens­ weltlich orientieren Begehrens zu einer Klarstellung des Grund­ verhältnisses von Leben/Ursprung als dem rein phänomenologi­ schen »Ungrund«, dem keinerlei Spiegelfunktion im »Mich« mehr zukommt. Deshalb muss sich ein solch originäres Verhältnis auch nicht als »Mystik« wissen, um von deren Wirklichkeit als reiner Selbstgebung des Lebens her zu leben, nämlich in der Affekt-Imma­ nenz nichts Äußeres mehr in Anspruch nehmen zu müssen, um zu leben. An diesem Punkt ist auch das besondere Interesse Lacans für die Mystik insofern aufgehoben, als er die Berührungen mit der Psychopathologie aufsuchte, ohne die Mystik – im Unterschied zu Freud – darauf zu reduzieren. Es handelt sich vielmehr um eine Ent­ zifferung des Symptoms im Sinne von sinthome als Grenzerfahrung von Imaginärem und Symbolik bzw. von Wissen und Wahrheit als Nicht-Wissen, um die Psychoanalyse selbst vor einem Irrtum irgend­ eines okkulten Einweihungswissens zu bewahren. Solche Inkommen­ surabilität von Sinn/Sein oder Sein/Einem impliziert die äußerste Armut der therapeutischen Mittel in der Psychoanalyse und schützt vor jeglichen Verschmelzungsillusionen, wie sie etwa in C.G. Jungs Denken auftreten können. Insofern lässt sich auch sagen, dass Lacans Interesse an der Mystik dem analytischen Übertragungsaspekt darin gilt,727 der sich den verschiedenen Mystikformen abgewinnen lässt, sofern er neben den bekannten MystikerInnen wie Angelus Silesius oder Johannes Vgl. auch schon J. Lacan, Le Séminaire VIII: Le transfert, Paris 2001 (dt. Die Übertragung. Das Seminar VIII, Wien 2007), wo die Übertragungsliebe zwischen Alkibiades und Sokrates in Platons Dialog »Das Gastmahl« untersucht wird, worin auch eine gewisse Nähe zwischen Eros und Mystik etwa in der Rede von Diotima anklingt. Dazu ebenfalls J. Le Brun, Le Pur Amour de Platon à Lacan, Paris 2002. 727

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von Kreuz und Theresa von Avila auch die »Mystik der Katharer« und die »Mystik der höfischen Liebe« untersuchte, die beide an eine Idealisierung entweder der moralischen Reinheit oder der Weiblich­ keit (la Dame) gebunden waren.728 Die wahren MystikerInnen wissen eigentlich nicht, was sie erfahren, weshalb Lacan ihre jouissance als exemplarisch für das ansieht, was er die ex-sistence nennt, nämlich eine nie zu vereinheitlichende Begegnung mit dem Realen über jegliche Identifikation hinaus. Denn für die Psychoanalyse geht es im Unterschied zu anderen Wissenschaften nicht darum, im »Subjekt« ein Allgemeines ausfindig zu machen, das als dessen »Natur« oder »Wesen« fungieren würde. Folglich zählt nur die singuläre Wahrheit eines Individuums als Patient oder Analysand, welche ihr Begehren letztlich nicht mit einer begrenzten Lust identifizieren können. Denn die jouissance – wie die Liebe zu Gott bei den MystikerInnen – ist unsagbar, weshalb dann auch die »weibliche jouissance« das »Gesicht Gottes« als das Gesicht des schlechthin Anderen (Autre) darzustel­ len vermag.729 Lacan lehnt mithin wie Freud die narzisstische Verschmelzung in einem »ozeanischen Gefühl« der Allheit ab, denn dies bliebe ein Phantasma des Ich gemäß einem bloßen Lustprinzip als »MehrGenuss«. Aber Freud hatte nicht ganz die Möglichkeit verkannt, dass die Mystik vom Unbewussten selbst etwas offenbaren könnte, nämlich eine Erschütterung der Grenzen zwischen den verschiedenen Bereichen des Seelenlebens. Diese wäre »topische Überschreitung« in Richtung auf eine »Selbstwahrnehmung des Es« oberhalb des Ich hin, was der Psychoanalyse insofern entspräche, als die Erfahrung des Unbewussten die Domäne der Kur bildet. Was Freud dabei nur weiterhin ablehnte, ist ein ummittelbarer Zusammenfall von Subjekt und Es bzw. von Vorstellung und Sprache, so als könne die Wort­ vorstellung übersprungen werden.730 Psychisches und Somatisches sollen nach ihm getrennt bleiben, aber auf der anderen Seite sucht die Psychoanalyse nach Integrationsmöglichkeiten von vergessenen oder verdrängten Elementen des Es, während die Mystik eine unmittelbar Vgl. J. Lacan, Encore, 135ff.; L´éthique de la psychanalyse, 143f. Vgl. Encore, 71f. 730 Vgl. P.-L. Assoun, »Freud et la mystique«, in: Nouvelle Revue de Psychanalyse 22 (1980) 53–75, hier 60f.; dazu auch K.-H. Witte, Zwischen Psychoanalyse und Mystik. Psychologisch-phänomenologische Analysen, Freiburg/München 2010; K. Wondracek, Psychoanalyse und Lebensphänomenologie. Ein Beitrag zur Klinischen Psychologie, Freiburg/München 2013, 82ff.; M. Hulin, La Mystique sauvage, 197ff.

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unsagbare Lust anstrebe. Diese Pathologisierung der Mystik teilt Lacan nicht, um in letzterer eben die Möglichkeit einer jouissance oberhalb des Phantasmas selbst auszumachen. Dabei wäre die Kas­ tration nicht länger eine Abweisung der jouissance, sondern eine Umkehrung des Gesetzes des Begehrens als solchem. Das Gesicht Gottes als des Anderen ist bei dieser Sichtweise von Begehren/Kastration nicht länger das Verbot der jouissance durch den Anderen schlechthin, wie es strukturell durch die Phallusgesetzlich­ keit vorherrscht, sondern eine Frage des Signifikanten. Der »Namedes-Vaters« steht mit anderen Worten nicht mehr für die Untersagung der jouissance durch das Verbot, wodurch das Vatersymbol selbst ein Symptom unter vielen anderen ist. Vielmehr sind das »Gesicht Gottes« oder die »weibliche jouissance« Weisen der Aufhebung der bloß »phallischen Lust« als eines objektabhängigen Begehrens. Der Phallus regelt über die Kastration die sexuelle Lust für alle Menschen, aber die Möglichkeit einer jouissance jenseits dieser Abhängigkeit eröffnet den prinzipiellen Spielraum einer Mystik, sofern die phalli­ sche Funktion als »Mehr-Lust« ausgeschlossen wird – der ex-sistente »Gott« kein Objekt mehr darstellt. Dadurch wird innerhalb der phal­ lischen oder erotischen Objektlust im weitesten Sinne eine andere Dimension frei, welche die mystische Begegnung nicht länger im klassisch psychologischen Sinne auf das Andere als das (psychotisch) halluzinierte Eine reduziert. Denn der/das Andere als Signifikant einer solchen Verschmelzungsillusion wird durchgestrichen, so dass Gott kein Anderer des Anderen (Signifikanten) mehr ist, so wie die Frau nicht nur das Lustobjekt des Mannes darstellt.731 Die Ent-Phallisierung der jouissance ist mithin nicht länger von einem toten symbolischen Vater abhängig, das heißt von einem Vater, der sich jenseits des Menschen als einem immanent Lebendigen befände, wie die Lebensmystik sagen würde. Hiervon zeugt nach Lacan etwa die öfters erwähnte Mystikerin Theresa von Avila, da sie die Freude des Anderen (Gottes) als die Gegenwart einer Gewissheit kenne, die nicht mehr das bedrohende Ideal des ödipalen oder toten Vaters darstellt. Diese supplementäre (und nicht komplementäre) jouissance, die Theresa von Avila als weibliches Subjekt erprobt, ist 731 Vgl. schon J: Lacan, »Subversion du sujet et dialectique du désir«, in: Ecrits, 821f.; Encore, 69f.; dazu auch J.-F. Sauverzac, Le désir sans foi ni loi, 232ff.; J. Sumiċ Riha, »L'écriture mystique ou la ›jouissance d'ȇtre‹", in: Filozofski vestnik 31/2 (2010) 95–119, hier 100f.

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eine wirkliche jouissance, die im Leib erfahren wird, aber von der sie jedoch als Subjekt nicht mehr weiß, als dass sie erfahren wird – ohne etwas für sich davon in der Vorstellung zu wissen.732 Die jouissance in diesem Sinne können nach Lacan die Mystiker als Männer wie Frauen erproben, insofern sie sich über die phallische Lustbestim­ mung hinaus ereigne. Aus diesem Grund lehnt Lacan die zuvor genannte Pathologisierung der Mystik durch eine psychologisierende Vermischung mit der Erotik oder dem Geschlechtsverkehr ab, da das mystische Begehren nach Gott gerade die Überschreitung jeglicher »masturbatorischen« Verschließung solchen Begehrens bilde. Die mystische Liebe ist eine besondere jouissance, welche den »Anderen« (A) als »Namen« (Gott) hinter sich gelassen habe, wodurch eine Anti­ nomie von Wissen und jouissance als Gewissheit und Nicht-Wissen zugleich gegeben ist. Anders gesagt, ist Gott hier die jouissance selbst, ohne dass Gottes »Sein« im Realen des Leibes als Vorstellungsobjekt gewusst würde.733 Denn die psychoanalytische Frage der singulären Wahrheit, wie sie im analytisch therapeutischen Prozess erprobt wird, besteht im nicht-wissbaren Bezug des Realen zum Sein, für den es weder angemessene Worte noch Vorstellungen gibt, sondern nur Leibeffekte im Bereich des Affektiven. In dessen Schweigen, wofür in der Kur eine singuläre oder individuelle Sprache gesucht wird, operieren Trieb und jouissance, weshalb für Lacan die mystischen Texte bezeugen, dass etwas im Leib stattgefunden hat, was über jeglichen Diskurs hinaus ist – und von uns in dieser Untersuchung als »Lebensmystik« bezeichnet wird. Diese ist eine selbst-affektive Erprobung im Schweigen der leiblich impressionalen Immanenz des Lebens, die jeder Teilung vorausliegt. Deshalb wollen wir die originäre Manifestationsweise von religio und ethos hier nicht nur als unmittelbaren Ausdruck der abgründigen Lebenspassibilität verstehen, sondern als fundiert in der gleichursprünglichen wort- wie begrifflosen Einheit von Passibilität und Mystik erblicken. Das heißt nicht nur als eine vorsprachliche exsistence ohne Attribute wie bei Lacan, da das Heraus-stehen in solcher Ex-sistenz als Transzendenz oder Differenz aufgehoben ist zugunsten einer Erprobung transzendental abgründiger Lebendigkeit. Deren Unmittelbarkeit unterliegt nicht mehr nur keinem Beweis, sondern Vgl. das Zitat in der vorherigen Anm. 178. Vgl. Encore, 70f., dazu ebenfalls A. Badiou u. B. Cassin, Es gibt keinen Geschlechtsverkehr. Zwei Lacanlektüren, Zürich 2012, 93ff.

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auch keiner logischen Kategorialität mehr. Denn deren formalster Begriff für unser intentionales Bewusstsein ist gerade die Differenz oder Transzendenz als zeitlicher Sichtbarkeitsraum jeglicher mögli­ chen Erscheinung. »Lebensmystik« wäre dann in solchem Zusammenhang iden­ tisch mit der mystisch-philosophischen Tradition des »Ungrundes«, der kriteriologisch nach allen vorherigen Kapiteln besagen will, dass insbesondere Gott keinem Begriff oder Sprechen mehr zugänglich ist. Damit ist über solche »Abgeschiedenheit« nach Meister Eckhart734 aber gerade auch jeder »Name-des-Vaters« aufgehoben, den die freudsche Analyse noch unter therapeutisch praktischen Begriffen wie Ödipuskomplex und Kastration als Phallusgesetzlichkeit trans­ portiert. Für Lacan sind nämlich Gott wie Subjekt dasselbe Nichts – oder »Wüste« und »Finsternis« im Schweigen, von denen im Grunde alle wahren MystikerInnen sprechen, um eine Abwesenheit als Anwe­ senheit zu bezeugen. Dass damit eine Leere jeglicher Bestimmung vorherrscht, bedeutet demzufolge im Sinne der klassischen Negativen Theologie und Mystik, dass alle Dinge »in Gott« ontologisch gege­ ben sind, denn als »Geschöpf« fügt kein Seiendes – auch nicht der »Mensch« – Gott in seinem Wesen irgendetwas hinzu. Diese Apopha­ tik kann dann naturgemäß, wie bei Lacan, auch als »Tod des Subjekts« im Sinne eines prinzipiellen Verzichts für jede eigene Selbstbestim­ mung über einen letzten »Herrensignifikanten« gesehen werden, der für das cogito/sum irgendein »Sein« garantieren würde.735 Aber lebensmystisch betrachtet, ist solch signitiver Tod mit der Fülle des Lebens als passibler Selbstaffektion selbst identisch, insofern solche Erprobung eines inneren »Seinstodes« als ex-sistence für jeden »Sinn« nicht losgelöst von der unmittelbaren Lebensaffektion als schweigen­ der Grundgegebenheit praktiziert zu werden vermag. Im Sinne solch signitiver Entleerung, um das Subjekt aus dem Phantasma und eventuell sogar Wahn einer eigenverfügten Seins­ gründung zu lösen, können Psychoanalyse und Mystik für Lacan positiv zueinander in Beziehung gesetzt werden. Lebensmystisch bleibt daraufhin die Frage, ob damit Gott nur jener »Andere« ist, in den der Mystiker als »namenloses Nichts« aufgeht, um den Übergang (passe) von einem letzten Signifikanten zu einem »Realen« hin zu 734 Vgl. Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, 140ff. (»Vom edlen Men­ schen«). 735 Vgl. R. Kühn, Begehren und Sinn, 269ff.

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vollziehen, das nicht mehr der lebensweltlichen Symbolik innerhalb der Topologie von RIS unterliegt. Das »Verschwinden des Subjekts« als unausweichliche Begegnung mit dem »Mangel an Sein« innerhalb jedes denkbar Symbolischen ist sicher identisch mit der analytisch therapeutischen Forderung Lacans, die Metonymie der Signifikanten­ kette zu verlassen, um eine singuläre jouissance über die »Mehr-Lust« der Wiederholung als »Todestrieb« hinaus zu erfahren.736 Denn jede Mystik lässt sich als Durchstreichen jener linearen Logik verstehen, die durch die Hinzufügung des »Einen zum Anderen« zum »Höchsten Gut« aufsteigen möchte. Die strukturelle Unvollständigkeit erfordert dabei eine Umwendung solcher Logik selbst, um die Suche nach dem »wahren Namen Gottes« in der diskursiven Linearität oder auch apophatischen Dialektik solchen Bemühens zu verlassen. Die Unvollständigkeit aller »göttlichen Namen« schon nach Dionysos Areopagita – wie beispielsweise das Absolute, Gute oder die Weisheit, Einheit usw. – führt dazu, allein den Namen »Gott« oder »Gottheit« zu belassen, um ihn im lacanschen Sinne als »Loch« im Symboli­ schen selbst zu behandeln, was dem »Nullpunkt« aller Bedeutung (Sinn) in Psychoanalyse wie Mystik selbst entspricht. Dieser Name, ohne weiterhin die Benennungsfunktion eines Namens zu besitzen, ist dann nicht der philosophisch oder theologisch »wahre Name Gottes«, sondern die Ent-Finalisierung oder Deontologisierung der Signifikantenkette, bzw. ein Hinweis auf die Unbestimmbarkeit Got­ tes durch einen Namen schlechthin. Die jouissance des »Anderen« über den Signifikanten »Gott« oder »absolut Anderen« hinaus ist dementsprechend die singuläre Erprobung der MystikerInnen ohne eine psychotische »Verwerfung« des Namens-des-Vaters, welche strukturell die jouissance vom Anderen (A) getrennt hat, um sich zum ausgelieferten Opfer der jouissance des Anderen im Wahn zu machen, sei es Gottes oder der Mitmenschen.737 »Lebensmystik« ist daher weder Psychose noch »Existenz zwi­ schen zwei Toden«, sondern die Erprobung der transzendentalen Lebendigkeit, die niemals irgendwie verworfen oder verdrängt wer­ den kann, da sie die Selbstgebung der Erprobung als solcher ist und sonst keinerlei Erprobung als Erscheinen mehr möglich wäre. Die Vgl. ebenfalls N. Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse, 167ff. Vgl. J.-C. Maleval, La forclusion du Nom-du-Pére., 374ff.; B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik. Eine Lacanische Annäherung für klinische Berufe, Wien-Berlin 2013, 327ff. 736 737

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gegenreduktive Aufgabe des »Namens-des-Vaters« hierbei, insofern Gott als »Nichts« kein Name mehr in einer entleerten Symbolkette ist, gleicht sicher der »Dunklen Nacht« wie bei Johannes vom Kreuz. Aber lebensmystisch erprobt, ist der Verzicht auf eine Seinstotalisierung über Begriff oder Vorstellung zugunsten des nicht subsumierbaren »Realen« gemäß Meister Eckhart zugleich eine ständig originäre Geburt. Diese hat als »Seelengeburt« in der Identität mit einer namenlosen »Gottesgeburt« die Metonymie des Begehrens als Wie­ derholung der psychoanalytischen »Mehr-Lust« hinter sich gelassen, um über eine singuläre jouissance die unmittelbare »Fülle« des Lebens in dessen reiner Selbstfreude als auto-jouissance in allem impressio­ nalen Erscheinen zu ermöglichen. Für die klassische Mystik findet ein Ergreifen des Seins Gottes unter der Bedingung der Entleerung von ichbezogenen Sinnen und Benennungen des Absoluten statt, die in eine »Einheit mit Gott« als dem, was er selbst ist, einmünden können. So etwa bei Marguerite Porete,738 die für ihre öffentlich vertretene Lehre als Häretikerin verbrannt wurde, aber wohl Meister Eckhart in seinem Denken der Seelengeburt als Gottesgeburt beeinflusste. Im freudschen Sinne ist die Psychose der libidinöse Rückzug aus allem Welthaften, um sich nur auf das eigene Ich zu konzentrieren, weshalb in einer nicht psychotischen Mystik nicht nur die Welt im Sinne einer Erfüllung durch Sinn/Sein reduziert wird, sondern zusätzlich auch eine Entleerung des »Ich« erfolgt. Nach den vorhe­ rigen Ausführungen kann diese »Entleerung« als eine Entleerung des Begehrens im Sinne der Ablösung von der Phalluslust gesehen werden, wodurch jene andere jouissance ermöglicht wird, die weder nur dem eigenen Ich unterliegt noch dem Anderen, um das Opfer seiner Lust zu werden, wie im erwähnten Fall des Senatspräsidenten Schreber. Lebensmystisch kann man dem zustimmen, aber ob die Entleerung von der Welt wie vom Ich auch eine phänomenologische »De-subjektivierung« darstellt, welche das Korrelat des signitiven Todes des Subjekts bilde, ist fraglich. Denn die Selbstaffektion als transzendentale Geburt des originären »Mich« der Empfänglichkeit des Lebens in der reinen Passibilität beinhaltet gerade die höchste denkbare Selbstgebung der »Subjektivität« als Empfinden-Können durch das absolut phänomenologische Leben selbst. Im Bereich einer Vgl. Le miroir des simples åmes anéanties et qui seulement demeurent en vouloir et désir d'amour, Paris 1984, hier bes. 137f. (dt. Der Spiegel der einfachen Seelen, München 2020). 738

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gegenreduktiven Lebensmystik sind daher die Vorentscheidungen der strukturalen oder differe(ä)ntiellen Subjektivitätsverneinung in der Postmoderne nicht notwendigerweise mit zu vollziehen, auch wenn die These von deren Nicht-Symbolisierbarkeit als »Subjekt« akzeptiert werden kann. Denn es gibt nicht nur ein Verhältnis von Realem/Symbolischem über das »Loch« im Symbolischen als Anzeige des Realen, welches sich dann in einer anderen jouissance als der Phalluslust manifestiert, wie es bei den MystikerInnen der Fall ist. Vielmehr gibt es zusätzlich eine andere Phänomenalisierung des Realen selbst. Letztere muss nicht von der rein lebendigen »Subjekti­ vität« als Passibilität abgezogen werden (welche kein »Subjekt« ist), wenn das »Realste« die Wirklichkeit des sich ohne Entzug gebenden Lebens selbst ist – mithin die rein phänomenologische Subjektivität eine effektive »Onto-do-logie« im Sinne von Claude Bruaire bildet.739 Dadurch kann man auch den Zusammenhang von »weiblicher jouissance« und »mystischer jouissance« nach Lacan bestehen lassen, insofern die MystikerInnen vor allem eine Erprobung Gottes machen, die keine passive Unterwerfung unter die Phallusgesetzlichkeit der Lust darstellt, sondern die Andersheit Gottes so in sich erfahren lässt, dass diese zur poetischen Kreativität übergeht. Anders gesagt, wird die Entleerung zu einem Sprechen, welches von der Erprobung der jouissance des Realen im Leib zugleich eine neue Symbolisierung her­ beiführt, die auch das Weltsein ästhetisch erfasst, deren Kennzeichen die Freude an der Schöpfung ist.740 Damit ist nochmals hervorgeho­ ben, dass sich die lacansche Sichtweise der Mystik eher im Sprechen als in der Subjektivität als solcher festmacht, um dieses Sprechen oder die écriture selbst zur jouissance werden zu lassen. Auch wenn der »Geschlechtsakt« als solcher »nie geschrieben werden kann«, das heißt die Mystik ihre »Einheitserfahrung« letztlich nicht aussagen, sondern nur poetisch umschreiben kann.741 Die Lebensmystik muss indessen nicht mit derselben Stärke auf dieses metaphorische Spre­ chen und Schreiben insistieren, denn das performativ affizierende wie schweigende »Wort des Lebens«, welches den Gegenstand der »religiösen Erfahrung schlechthin« als einer immanent mystischen Erprobung des Empfinden-Könnens bildet, kann sich ohne Gesagtes Vgl. L'ȇtre et l'esprit, Paris 1987, 51ff.; sowie R. Kühn, Lebensmystik, 233–266, über »Dekonstruktion und Mystik« seit Heidegger. 740 Vgl. J. Lacan, Encore, 69f. 741 Vgl. auch J. Lacan, D'un discours qui ne serait pas du semblant, 129f. 739

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vollziehen. Denn die Unmittelbarkeit der Lebensempfängnis ist hier das unmittelbar Reale der auto-jouissance von Subjektivität wie Leben als transzendentaler Lebendigkeit selbst.742 Dass nach Lacan Gott selbst als Name einem Erfassen durch den Signifikanten »Gott« entgeht, spiegelt seine zentrale Unterscheidung von Sagen/Gesagtem (Dire/Dit) wider, die auch bei anderen Autoren wie etwa Levinas eine wichtige Rolle spielt743 und von Michel de Certeau für die Interpretation der mystischen Praxis genutzt wurde. Für das mystische Sprechen heißt dies, dass das Subjekt, welches sich auf nichts anderes mehr stützen kann als auf sein eigenes geschöpfliches Nichts (das mit dem begrifflichen Nichts Gottes korre­ liert), keinerlei außengestützte Sicherheit mehr in seiner originären Erprobung besitzt. Psychoanalytisch gesehen, sind dadurch die mys­ tischen Schriften jenseits des Phantasmas, denn letzteres entsteht als Fixierung des Begehrens, wenn der Andere (A) zur Abwesenheit wird, indem er die Überwindung des »Mangels an Sein« für das Subjekt nicht mehr auffangen kann, sondern selbst als illusionäre Phallusfigur durchzustreichen ist. Der Zusammenbruch des Anderen als symbolische Garantie ist daher der signitive Tod oder die ödipale Kastration, welche als Akt des Übergangs (passe) zu einer nicht länger fremdgestützten jouissance gerade von der Mystik kriteriologisch beleuchtet wird, insofern sie Gott nicht mehr auf der Ebene des Namens oder der Prädikate erreichen will. Mit der Lebensmystik lässt sich diesbezüglich sagen, dass »Gott« als identisch mit der trans­ zendentalen Lebendigkeit der immanenten Subjektivität zu jenem »Realen« der absoluten Selbstaffektion wird, die der ursprünglich phänomenologischen Materialität gleichkommt, die wir mit Meister Eckhart »Geburt« oder mit Michel Henry auch »Inkarnation« nennen können. Insofern die Lebensmystik keinen begrifflich distanzierten Gott mehr kennt, ist dessen ebenso unmittelbare wie unsichtbare Selbstgegebenheit die »Nacht des Fleisches« selbst: »In der Tiefe seiner Nacht ist unser Fleisch Gott.«744 Diese fleischliche Materialisierung Gottes im Sinne der vor­ sprachlichen Lebensmystik entspricht daher als leiblich affektive 742 Vgl. M. Henry, Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenba­ rung, Freiburg/München 2010, 149f. 743 Vgl. H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott, 129ff. 744 M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München 2002, 412.

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Erprobung einer auto-jouissance, die des »Anderen« im Sinne von Gegenüber, Transzendenz, Begehrensobjekt etc. nicht mehr bedarf, ohne der Illusion einer Selbstermächtigung – wie etwa der »sub­ jektiven Souveränität« bei Bataille – zu verfallen. Denn die Passi­ bilität ist als phänomenologisch materiale Fülle des subjektiv wie gottheitlich inkarnatorischen Lebens zugleich die größte Ohmacht, nämlich von sich aus zu solcher Selbstgebung gerade nicht in der Lage zu sein. Insofern kann der Begriff der originären religio als radikale »Transzendenz in der Immanenz« gesehen werden, bedeu­ tet aber wie bei Husserl745 kein Bewusstseinsgegenüber mehr als noetisch-noematische Intentionalität, sondern die Subjektivität als reines Begehren, welches sich in keinem Außen von Imagination oder Gütern erfüllen kann. Vielmehr erprobt das Begehren im Begehren seiner selbst die ständige Ermöglichung durch das Leben, welches die Vollzugseinheit mit dem absoluten Leben selbst ist, um sich in der historialen Bewegung von Affekt, Trieb, Impression und Gefühl immer wieder als rein phänomenologisch inkarnierte Lebendigkeit im Sinne des »Fleisches« als »Mehr« solchen Lebens zu erweisen. Dieses »Mehr« als die vorgegebene Wirklichkeit der Potentialität ist ohne Horizont,746 weshalb die »Transzendenz in der Immanenz« als religio keinerlei Distanz zwischen Transzendenz und Immanenz bezeichnet, sondern das abyssale Überflutetwerden durch das Leben, ohne die Subjektivität in ihrer Ipseität dabei zu zerstören, sondern als »Geburt« hervorbringt. Entleerung und Nichts beinhalten demzufolge einen singulär lebendigen Aktvollzug, der keines Signifikanten mehr bedarf, um das Handeln durch die Vorstellung zu motivieren oder abzusichern. Mit Lacan ausgedrückt, entspricht die lebensmystische Materialisie­ rung des Fleisches als »Nacht Gottes« daher der signitiven Leere jedes Namens, durch den das Sein des Subjekts sich über einen symbolischen Sinn (Phallus) noch abstützen wollte. Das »göttliche Sein« ist in dieser Hinsicht Leere des Nichts als Unabschließbarkeit der Namen Gottes im Sinne einer letzten Sinnbedeutung, weshalb auch die Einheit von »Seelen- und Gottesgeburt« (Meister Eckhart) oder als »geistige Hochzeit« (Ruusbroec) kein pantheistisches AllesWerden des Subjekts beinhaltet. Vielmehr handelt es sich um das Vgl. für eine der frühesten Formulierungen in dieser Hinsicht: Die Idee der Phänomenologie, Hamburg 1986, 43ff. 746 Vgl. R. Kühn, »Ich kann« als Grundvollzug des Lebens, 358ff.

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fortschreitende Durchstreichen aller Objekte als imaginären Finalitä­ ten, so dass das Subjekt »Gott« nur als jene Leere in sich kennt, die zugleich lebendige Fülle ist. Das mystische Subjekt ist dann nicht mehr trennbar von »Gott«, aber es wird auch nicht zum Objekt Gottes, so dass die subjektive Sinn-Destituierung und die Nicht-Antwort Gottes im Nicht-Wissen miteinander korrelieren.747 Lebensmystisch wird aber deutlich, dass die Identität von Objektleere und Lebensfülle nicht dem »Subjekt« die Ermöglichung des »Platzes Gottes« in der Subjektivität selbst zuschreibt, sondern letztere ist nichts anderes als die selbstaffektive Durchdringung von unendlichem und endlichem Leben, da die »Selbstumschlingung« (Henry) des absoluten Lebens auch die absolute Individuierung als solche hervorbringt. Insofern hat Lebensmystik nichts Asketisches im Sinne einer gewollten Entleerung, weshalb auch die klassisch mystischen Begriffe von Armut, Abgeschiedenheit, Wüste, Finsternis etc. als Ausdruck der Gegen-Reduktion verstanden werden können, welche mit der Unmittelbarkeit der Selbstgegebenheit des Lebens identisch sind.748 Die Fülle der auto-jouissance des Lebens ist folglich kein Ort im »Inne­ ren«; es handelt sich vielmehr um die gebürtig inkarnatorische Weise, in der das originäre Leben nicht anders kann, als ständig im Sinne von Selbstaffektion oder »Wort des Lebens« ankünftig zu werden. In solcher Perspektive gibt es kriteriologisch in dieser ur-anfänglichen Weise transzendentaler Verlebendigung als »Lebensmystik« weder Sein noch unendlich Absolutes. Denn die begrifflichen Vergleichs­ möglichkeiten solcher unsagbaren »Präsenz« als Sinn/Unendlichem selbst sind kategorial aufgehoben, insofern das Denken hier nicht mehr das Werk seiner Analogien verrichten kann. Und wäre es »nach­ träglich« im Sinne des analytisch oder postmodernen Supplements der »Unentscheidbarkeit« von identischem Sinn wie etwa bei Freud und Derrida.749 Die Schriften der MystikerInnen implizieren so einen perma­ nent schweigenden Akt, der als Empfinden wie Handeln mit ihrer jouissance identisch ist. Dies lässt sich lebensmystisch gegenüber Lacans Sichtweise des engen »poetischen« Zusammenhangs von Vgl.. J. Lacan, Encore, 71f. Vgl. M. Henry, Radikale Religionsphänomenologie. Beiträge 1943–2001, Frei­ burg/München 2015, 97ff., mit Bezug auf Meister Eckhart. 749 Vgl. R. Kühn, Primärerfahrungen, Ursprung und Nachträglichkeit. Grenzgänge zwischen Psychoanalyse und Phänomenologie, Gießen 2020, 109ff. 747

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Mystik/Wort dahingehend ausweiten, dass der lebensmystische Akt jeweils aus der Fülle des Lebens selbst heraus erfolgt und insofern kein besonderes sichtbares Handeln mehr als typisch für die Mystik herauszustellen ist, auch wenn der Barmherzigkeit750 als Aufgabe der »transzendentalen Illusion« des Ego eine besondere Bedeutsamkeit im intersubjektiven Bereich zukommt. Damit entfällt gleichfalls die Notwendigkeit, die immanente Wahrheit von Begehren/jouissance irgendwo im Sichtbaren einschreiben zu müssen – die Mystik gerade nicht wissen muss, dass sie »Mystik« ist. Denn keinerlei äußeres Zeugnis liefert uns solche Mystik selbst, da die sich selbst bezeu­ gende Ununterbrochenheit des selbstaffektiven Lebens der subjektiv praktische Einheitsmodus selbst ist, aus dem in seiner Einfachheit wie Unmittelbarkeit »alles Tun fließt«, wie es Fichte ausführte,751 sei es groß oder gering in den Augen der Welt. Lebensmystik ist dann letztlich je ein »Akt« als das in sich selbst nicht mehr zu repräsentierende Reale, welches erprobend zu vollziehen ist, weil das Ankünftigwerden oder die immanente Materialisierung des Lebens sich nicht zurückhalten lässt und in dieser Hinsicht nach Meister Eckhart »ohne Warum« ist: »Was ist mein Leben? Was von innen her aus sich selbst bewegt wird. Das (aber) lebt nicht, was von außen bewegt wird. [...] Wir sollen vielmehr daraus bewegt werden, woraus wir leben, [...] aus unserm Eigenen von innen her wirken. [...] Alle Dinge sind mir gleich eigen in ihm [Gott]; und wenn wir zu diesem Eigenen kommen sollen, dass alle Dinge unser Eigen seien, so müssen wir ihn gleicherweise in allen Dingen nehmen, in einem nicht mehr als in dem andern, denn er ist in allen Dingen gleich.«752 Im Zentrum des subjektiv singulären Aktes gibt es folglich keinen Namen mehr, weder den Namen Gottes oder Vaters noch des Ich, sondern nur das Eine der Handlung als Vollzug, der allein mit dem Leben als Potentialität identisch ist, weil es ohne originäre Lebensaffektion keinerlei Tun gäbe. Mystik und Akt bilden daher eine notwendige Grundkorrelation, sofern die immanente Bewegung des Aktes in der Unsichtbarkeit von Gott wie des Ich geschieht. Beide sind aber präsent, insoweit das phänomenologisch Absolute der Lebensermöglichung und die radikale Individuierung des Aktes Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/München 1997, 233ff. 751 Vgl. R. Kühn, Lebensmystik, 157ff. 752 Deutsche Predigten und Traktate, 176 (Predigt 5); vgl. Meister-Eckhart-Jahrbuch 15 (2021): Meister Eckhart und das Leben. 750

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als rein singuläres Können in ihrer gleichursprünglichen Wahrheit zusammenfallen. Daher ist die Mystik eine rein praktische Wirklich­ keit für alle Bereiche, in denen sich unser Tun zu entfalten vermag, um auf diese Weise ebenfalls nicht von der intentionalen Weltausrichtung getrennt zu sein, selbst wenn die »Güter der Welt« (Kant) nicht mehr als Ziele an sich verfolgt werden. Es gibt MystikerInnen in allen Berufen und Ständen (Schuster, Brillenschleifer, Schneiderin­ nen, Philosophen, Theologen, Gelehrte, Ordensleute etc.), so dass das innerlebendige Wesen der Mystik nicht in den soziokulturellen Differenzen letztlich liegen kann, sondern nur in der spezifischen Weise, wie das Reale erfahren wird – nämlich als Ab-grund im Un-grund des Lebens, das heißt des Erfahrenkönnens als solchem. In lacanscher Sicht, so wie sie eine strukturelle Begegnung von Psychoanalyse und Mystik ergibt, ist die letzte Freisetzung durch den analytisch therapeutischen Akt das Verschwinden von SSS. Denn der Name Gottes als begehrte Begegnung mit dem unbenennbaren Objekt (la Chose, das Ding) verläuft über das Unmögliche des Realen, welches über jede Andersheit (A) im symbolischen Sinne hinaus ist. Ein solcher Akt des »Übergangs« (passe) ist die ex-sistence schlecht­ hin im Lacanismus, welcher die entsprechenden Effekte in der Kur nur zu einer »Nachträglichkeit« dessen macht, was in solchem Akt vollzogen wurde. Insofern erfolgt hier eine Begegnung, die möglich, aber nicht vorhersagbar ist, und mithin für den psychoanalytischen Prozess ein Unsagbares beinhaltet, welches als bleibende Spannung innerhalb der Analyse verstanden werden kann.753 Dies ist mit der »weiblichen jouissance« insofern vergleichbar, als diese apophatisch über die Phallusfixierung transgressiv hinausreicht, was man dann als Präsenz radikal phänomenologischen Lebens und dessen unsichtbarer Immanenz verstehen kann. Dadurch vermag das »Weibliche« (le féminin) ebenfalls zur Metapher »mystischen Lebens« zu werden, wie dies bei Johannes vom Kreuz etwa in dessen dichterischen Texten zur Einheit mit Gott geschieht: »Dabei bewirkt die Liebe in der

753 Vgl. Th. Sause, »Lacan et le processus de deuil dans la cure« sowie F. Rengifo, »Destins de l'amour du transfert«, in: C.-N. Pickmann, Direction de la cure, 35–50 u. 81–97.

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Gleichgestaltung der Geliebten eine solche Verähnlichung, dass man sagen kann, dass jeder der andere ist und beide eins sind.«754 Da jedoch in der Lebensmystik auf der Grundlage radikaler Phänomenologie keine Metaphorisierung von singulärer Wahrheit der einheitlich immanenten Erprobung mehr stattfindet, muss diese Verbindung von Weiblichkeit/Mystik755 zwar nicht geleugnet wer­ den, ohne aber eine »Brautmystik« favorisieren zu müssen. Freud polemisierte gegen jeden »Mystizismus« als »Okkultismus«, wie wir in Bezug auf das »ozeanische Gefühl« bei Romain Rolland schon sahen, aber berechtigt bleibt an solcher Kritik, dass jede Ver­ schmelzungs(ab)sicht in der Geschlechtlichkeit wie Mystik an der radikalen Ipseisierung der Subjektivität scheitert. Freud thematisierte dies als primären Zusammenhang von Narzissmus/Allem, um den entsprechenden Strebungen des Trieblebens die ethische Aufgabe der Konfrontation mit der äußeren Realität entgegen zu halten. Dies führte Lacan durch den ek-zentrischen Bezug von Akt/Realem im Sinne der ex-sistence seinerseits weiter und lebensmystisch ist solche Kriteriologie im Aktsein als gleichursprünglichem Ort von Selbst- wie Welterscheinen mitgegeben. Die reine Passibilität als innere Vollzugsmächtigkeit eines solchen Aktes ohne Namen und Gesicht (Vater als Phallus) ist dann keine originäre Traumatisierung mehr. Denn ein solcher »Ungrund« als Einheit mit dem »Ursprung des Lebens« in der Selbstaffektion liegt diesseits jedes regressiven Wunsches im Sinne Freuds oder Otto Ranks, in die »Mutter Erde« des fötalen Zustands zurückkehren zu wollen.756 Weiblichkeit wie Mütterlichkeit als Ursprungsbilder imaginärer Totalität sind daher psychologisierende Beschreibungen für eine Phänomenalisierung, die als das Wirklichste oder »Reale« in jener »Geburt« geschieht, aus deren prinzipieller Potentialisierung heraus jeder singulär subjektive Akt überhaupt erst erfolgen kann Für Lacan757 bleibt die Primordialität des Sagens (Dire) gegeben, da das Wort »machtvolle Veränderungen« in der Kur herbeiruft, die 754 All mein Tun ist nur noch Liebe, Strophe 12,7 (S. 195); siehe auch B. Sesé, »Jean de la Croix et l'invention du ›féminin‹", in: Invention du féminin, Paris 2006, 215– 222. 755 Vgl. auch M. Zafiropoulos, La question féminine de Freud à Lacan. La femme contre la mère, Paris 2010. 756 Vgl. H. u. M. Vermorel, Sigmund Freud et Romain Rolland, 518f. 757 Vgl. Le Séminaire III: Les psychoses (1955–1956), Paris 1981, 51ff. (dt. Das Seminar III: Die Psychosen, Olten/Freiburg 1980); »Du symbole et de sa fonction

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in Bezug auf die Mystik – wie beispielsweise die Metaphorisierung durch Nacht/Tag – ein Verhältnis zum Höchsten Sein (Gott) anzeigen kann, und zwar unter Ablassen von jeder narzisstischen Selbstliebe. Damit geht er über Hermeneutiken der mystischen Erfahrung wie bei Jean Baruzi758 hinaus, der als einer der älteren Interpreten der »Dunklen Nacht« in derselben nur das »psychologische Symbol« eines »inneren Übergangs« (tránsito) erkennen wollte. Ähnliche Positionen finden sich bei C.G. Jung und Mircea Eliade betreffs einer postulierten »kosmischen« oder »archetypischen« Subjektivität, wogegen Lacan festhält, dass Johannes vom Kreuz sich etwa aus der Welt der Symbole letztlich entferne, um »eine Liebe über das Symbol hinaus« zu erproben.759 Wir haben diese Sichtweise im Unterschied von Psychose/Mystik schon erwähnt, denn in der echten Mystik kehrt die »Verwerfung« des »Namens-des-Vaters« nicht in Form eines Wahns im Realen zurück wie im Fall Schreber unter anderem. Vielmehr bezeugt das mystische Subjekt durch seine nicht morbide poetische Schöpfung eine »neue Ordnung von symbolischem Weltbe­ zug« aufgrund der wirklichen Gegenwart des »Seins des Anderen« (Gottes) über jede Signifikantenkette hinaus.760 Was hier bei Lacan als Psychoanalytiker im Sinne einer diagnostischen Differenzierung von Wahn/Mystik auftritt, hat lebensmystisch zur Folge, die Psycho­ tiker aufgrund eines Wahnsystems dennoch nicht von der – auch für sie unmittelbaren – Lebensselbstaffektion ausschließen zu müssen, so dass es bei Michel Henry eine radikal phänomenologische Selbstge­ bung der »Wahrheit unter der Form des Wahnsinns« gibt. Auch wenn er diesen Sachverhalt literarisch nur in Romangestalt ausgearbeitet hat,761 bezieht sich dieser Hinweis dennoch auf die Integrität des rein phänomenologischen Lebens ebenfalls in jeder Psychose bzw. religieuse« (1954), in: Le mythe individuel du névrosé ou poésie et vérité dans la névrose, 60 u. 81. 758 Vgl. Saint Jean de la Croix et le problème de l'expérience mystique. Edition revue et corrigée avec les deux préfaces de Jean Baruzi (1924–1931), Paris 1999, 363ff. – Baruzi lehrte an dem Collège, wo Lacan 1917/18 sein Abitur absolvierte, so wie er später auch auf dessen Hauptschrift verweist. 759 Vgl. Les psychoses, 95. 760 Vgl. ebd., 91f. 761 Vgl. Le Fils du roi. Roman, Paris 1981; dazu S. Brunfaut, »Le Fils du roi comme source de l'imaginaire. Michel Henry lecteur de Pierre Janet«, in: A. Jdey u. R. Kühn (Hgg.), Michel Henry et l'affect de l'art. Recherches sur l'esthéthique de la phénoménologie matérielle, Leiden-Boston 2012, 199–220; R. Kühn, Wie das Leben spricht: Narrativität als radikale Lebensphänomenologie. Neuere Studien zu Michel

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Schizophrenie als Paranoia oder Halluzination beispielsweise. Das lebensmystisch gesehene Leben kann unter keiner Form erkranken, insofern die äußere Erscheinungsweise davon in der Existenz die ursprüngliche Immanenz nicht aufhebt. Neben dem gegenwärtigen Versuch, Mystik nur als soziokulturelles Phänomen zu differenzieren, muss daher auch die psychopathologische Diagnostik, so notwendig sie im Interesse der Patienten selbst ist, ein letztes Werturteil über die »Person« vermeiden.762 Damit rührt die Lebensmystik an eine ethische Frage, die alles Erscheinen betrifft. Denn wenn die mystische Entleerung das Nichts aller welthaften Benennungen aufzeigt, dann ist damit die Frage des Zusammenhangs von Begehren/Diskurs schlechthin gestellt, nämlich als die letztlich unmögliche Narration der Begegnung von Realem/Ganz Anderem. Wo die Vorstellung den Anspruch auf ihre intentionalen Ordnungsversuche aufgeben muss, ergibt sich diese Leere ohne weitere Vorstellungsmöglichkeit von Sinn einschließlich »Glauben«, wo – psychoanalytisch gesehen – das Symptom als feh­ lende Symbolisierung des »Namens-des-Vaters« entspringt.763 Aber wenn lebensmystisch Vater/Mutter oder Mann/Frau über die reine Erprobung der passiblen Lebensimmanenz als Metaphorisierung dahinschwinden,764 das heißt keine transzendentale Lebensempfäng­ nis zu bestimmen erlauben, dann ist auch das Symptom letztlich ein Hinweis darauf, keinerlei Welt (Sinn, Begriff, Definition, Kategorie etc.) mit dem Leben als ursprünglicher Meta-Genealogie verwech­ seln zu können. Lebensmystik erweist sich dann in ihrer originären Wirklichkeit als reiner »Geschmack des Seins«765 in Analogie zu Meister Eckarts »Schmecken Gottes«. Ohne darüber hinaus noch Henry, Cham (CH) 2015, 294–305: »Wahrheit unter der Form des Wahnsinns und die sprachphilosophische Tragweite des Imaginären«. 762 Vgl. zu einem entsprechenden »psychiatrischen Credo« etwa V.E. Frankl, Der leidende Mensch, 202ff. 763 Vgl. J. Hassoun, Les passions intraitables, Paris 21992, 71–107: »De quelques passions religieuses«; J. Godebski, Le tout dernier enseignement de Lacan. Un renouvellement de la clinique?, Paris 2009, 39ff. 764 Inwieweit auch die Unterscheidung Mensch/Tier davon betroffen ist, wäre ent­ sprechend zu diskutieren; vgl. A.R. Boelderl, »Hand_reichungen und Fuß_noten. Zwischen Mensch und Tier«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse 85/1 (2017) 21–35. 765 Diesen Ausdruck verwandte J.-L. Chrétien bereits in Bezug auf Henrys Lebens­ phänomenologie; vgl. »La vie sauve«, in: Les Etudes philosophiques 1 (1988) 37–49, um ihm hier eine letzte lebensmystische Berechtigung zu verleihen.

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eine Bewertung solchen »Seins« als Leben anschließen zu müssen, um die Selbstfreude (auto-jouissance) dieses Lebens dessen einziger Maßstab sein zu lassen – und dies noch unthematisch vor jedem ethos und jeder religio, die als gleichursprünglich im Leben aufgewiesen werden können.766 Der material phänomenologische Gehalt dieses »Geschmacks des Seins« erweist sich dergestalt als das immer wieder neue »Geräusch meiner Geburt« (Henry), wie es durch die impressio­ nale Verlebendigung des Erscheinens in jeglicher leiblich-geistigen Erfahrung als eine nie unterbrochene Melodie des Lebens anklingt. Aus analytisch therapeutischer Sicht entspräche dies dem Weg­ fall der Ödipus- oder Vaterfigur, wodurch es keine äußere Autorität mehr gibt, welche als »Herrensignifikant« nach Lacan die phallischen Idealisierungen bestimmt. Denn der Patient oder Analysand will zu einer Individuierung hinfinden, die als seine singuläre Wahrheit keinem neu etablierten Wissen als Spekulation mehr folgt, sondern sich vom suggestiven Modell der Theorie oder sonstigen Vaters gerade löst. Die Individuierung, welche durch das Symptom als Gefühl der »Hilflosigkeit« (Freud) aufgrund von traumatisierenden Umständen bis dahin verhindert wurde. Insofern solche Ohmacht bei ähnlichen Gegebenheiten stets beeinträchtigend wiederkehrt, kann die damit gegebene symbolische Abhängigkeit vom Anderen (A) überwinden, um eine rein singuläre Identität im Leben zu finden, die einer inneren Offenbarung eigener subjektiver Wahrheit entspricht. Auf diese Weise lässt ebenfalls die Lebensmystik jedes Individuum seinen je eigenen »Geschmack des Seins« finden, wenn das reine »Wort des Lebens« als die letztlich ausschließliche Gründung der selbstaffektiven Ipseität im Sinne des passiblen Mich immanent hat vernommen werden können. So wie die MystikerInnen sich ganz dem inneren Wort Gottes überlassen, der kein »fremder Anderer« mehr ist, sondern der »überwesentliche Gott« als das »Leben des Lebens« nach Augustinus wie Meister Eckhart,767 so ist auch die Psychoanalyse keine Belehrung von außen. Sie begleitet durch Wort wie Schweigen die Subjektivierung einer radikalen Individuierung, damit letztere zur

Wir dürfen dafür nochmals auf unsere beiden Bände über Lebensreligion und Lebensethos von 2017 verweisen. 767 Vgl. hierzu auch R. Kühn, Lebensmystik 123–156, zur »inneren Offenbarung des geistigen Ich« bei Maine de Biran. 766

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empfundenen Gegenwärtigkeit der eigenen Selbstgegenwart als jeder Analogie entbundenem sum wird.768 Dass dieser Prozess gleichfalls auf andere lebensweltliche Weise stattfinden kann, ist eine ständige Möglichkeit des absolut phänome­ nologischen Lebens selbst, welche diesem wesenhaft eingeschrieben ist, insofern es sich in allen subjektiv gemeinschaftlichen Modi zu offenbaren vermag, auch wenn wir weder die Zeit noch die Umstände dazu im Voraus angeben können.769 Begegnungen, Arbeit, Lektüren, Natur, Ästhetik ebenso wie Angst, Freude, Leid etc. bergen diese Möglichkeit transzendentaler Natur aufgrund der stets gegenwärti­ gen Abgründigkeit der Verlebendigung durch das Leben in jeglicher singulären Erfahrung, weshalb wir die Gegebenheit und Effektivität der Lebensmystik für alle existentiellen und kulturellen Bereiche unterstreichen können.770 Wir haben in diesem Kapitel zu Psychoana­ lyse und Mystik bei Lacan exemplarisch beide Praxisbereiche mitein­ ander ins Gespräch gebracht, weil sie sich reduktiv auf eine jeweilige Entleerung von Wissen (SSS) hinbewegen, damit sich ein Übergang (passe) des Individuums im Zusammenhang mit Begehren/Realem als subjektive jouissance über äußere Vorgaben hinaus vollziehen kann. Dass die Religionen und Philosophien schon immer vor allen historisch sich etablierenden Therapieformen um diese Möglichkeit gewusst haben, muss hier nicht eigens hervorgehoben werden.771 Was Mystik wie Psychoanalyse jedoch weitgehend eigen ist, besteht in der Abstinenz von rituellen und doktrinären Vermittlungen, um die symptomalen Verkettungen des Begehrens mit imaginären Introjek­ tionen und Projektionen wie Idealisierungen zu lösen und nicht länger »neben dem Leben« nach einem Ausdruck Alfred Adlers zu leben.772 Durch die Trennung vom symbolischen und damit im weites­ ten Sinne halluzinatorischen Objekt (a) fällt hier jede aristotelische Kausalität fort, um das Begehren selbst als unbewusste Ursache 768 Vgl. J, Sédat, »Le déclin de l'interprétation: de l'analyste interprète à l'émergence de la perlaboration (Durcharbeitung)«, in: C.-N. Pickmann, Direction de la cure, 51ff. 769 Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«., 213ff., zur »zweiten Geburt« als existen­ tieller Aktualisierung der originär transzendentalen Geburt in jedem Individuum. 770 Vgl. in dieser Hinsicht R. Kühn, »Ich kann« als Grundvollzug des Lebens, zu Arbeit (S. 187–227) und Kunst (S. 228–269). 771 Vgl. beispielsweise R. Kühn u H. Petzold (Hgg.), Psychotherapie und Philosophie – Philosophie als Psychotherapie?, Paderborn 1992. 772 Vgl. U. Bondzio-Müller, »Die psychoanalytische Kur – eine Behandlung?«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse 85/1 (2017) 95–121.

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kreativ oder ästhetisch wirken zu lassen, die sich dann in der Mystik auch von »Gott« als »Höchstem Objekt« löst, um im »Begehren des Begehrens« das »Wirken Gottes« als ständiges »Sich-Gebären« sein Werk verrichten zu lassen: »Das Fünklein [der Seele] steht immerfort im Sein Gottes. Gott gibt sich der Seele immerfort neu in fortwähren­ dem Werden. Er sagt nicht: ›Es ist geworden oder Es wird werden‹, sondern: es ist immerfort neu und frisch wie in einem Werden ohne Unterlass.«773 Insofern der entsprechende Akt in seinem unsichtbar immanenten Vollzugswesen keine leitende Vorstellung mehr von Objekt und Ich kennt, wird er demzufolge zum Realen des Begehrens als Leben in ständiger transzendentaler Verlebendigung, die sowohl in ihrer abgründigen Tiefe (Ungrund) wie in ihrer ganzen weltlichen Breite (Existenz) keine prinzipielle Beschränkung voraussetzt. Wir können diese Ergebnisse in unserem nächsten Teil als Zukunftsfrage von Religion und Gesellschaft zum Schluss zusammenführen, wenn zuvor auch noch andere mystische Traditionen wie Buddhismus und Sufismus entsprechend gewürdigt wurden.

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Vgl. Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, 249 (Predigt 21).

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Teil IV: Mystische Leere und Fülle interkulturell

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1. Illusion des Ich und Leid im Buddhismus

Ein Blick auf Buddhas Lehre vom Leben als »Leiden« (dukkha) ist für unseren Zusammenhang insofern besonders instruktiv, als dieses Leiden ausschließlich an die Vorstellungen und die Gefühle des »Ich« gebunden sein soll, welches über das Begehren als den »Durst nach Dasein« das »Anhaften« an die illusorischen Daseinsformen oder -aggregate bewirke. Davon wäre der Einzelne zu befreien, um eine erlösende »Erleuchtung« als sein »Erwachen« (bodhi) zu erlangen: »Das aber ist das Höchste, das ist das Erhabenste: die Aufhebung aller Bildungen (sankara), die Loslösung von allen Daseinssubstraten, die Versiegung des Begehrens, die Gierabwendung, die Aufhebung, das Nirwahn.«774 Die Verdeutschung »Nirwahn« stammt hier von Nyanatiloka; nibbana und nirvana sind allerdings nicht nur sprachli­ che Unterschiede von Pali und Sanskrit, sondern auch verschiedene ontologische Definitionen, wobei der größte Teil des heutigen Welt­ buddhismus dem Verständnis von nirvana als Zustand vollkommener Ruhe und Freiheit folgt.775 Die Geburt Gautamas als dem Begrün­ der dieses Erkenntnisweges wird in der neueren Forschung ca. 420 und 368 v. Chr. angesetzt, und die ersten buddhistischen Schriften entstanden erst um 100 v. Chr., so dass eine Zeit langer mündlicher 774 Anguttara-Nikaya III,53 (Nyanatiloka, 26). – Die angegebenen Seitenzahlen bei den Buddha-Zitaten beziehen sich auf folgende Ausgaben: Das Wort des Buddha. Eine Übersicht über das ethisch-philosophische System des Buddha, in den Worten des Sutta-Pitaka (zusammengestellt, übersetzt und erläutert von Nyanatiloka), Dehi­ wala/Sri Lanka – München/Neubiberg 22004; H. Schmidt-Glintzer, Die Reden des Buddha, München 2005; K.E. Neumann (Hg.), Buddha Reden, Frankfurt/M. 2008; B. Bodhi (Hg.), In den Worten des Buddha. Eine Lehrreden-Anthologie aus dem Pali-Kanon, Stammbach 2018. – Siehe auch K.E. Neumann (Hg.), Die Reden Gotama Buddhos, 3 Bde., (Majjhimanikayo und Dighanikayo des Pali-Kanons / Sammlungen in Versen), Zürich u. Wien 1956; P. Dahlke (Hg.), Buddha – Die Lehre des Erhabenen. Aus dem Pali-Kanon ausgewählt, München 1986. 775 Vgl. Nyanatiloka, Buddhistisches Wörterbuch. Kurzgefasstes Handbuch der bud­ dhistischen Lehre und Begriffe in alphabetischer Reihenfolge, Stammbach 1999; B. Bodhi (Hg.), In den Worten des Buddha, 296f. u. 339f., schließt ein »transzendentes Element« als »Weisheit jenseits des Leidens« dabei ein.

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Überlieferung dazwischen liegt. Dadurch ist ein direkter Zugang zu Buddhas Worten kaum möglich, zumal auch die Textüberliefernng und -zuammenstellung eine teilweise unterschiedliche Überarbei­ tung in Indien, China und Tibet aufweist.776 Neben diesen allgemein bekannten Tatsachen des frühen wie späteren Buddhismus darf aber nicht vergessen werden, dass es einen erlösenden »Ausweg aus dem Geborenen, Gewordenen, Erschaffe­ nen, Gestalteten« als umfassendem Wahrheitsgesetz (dhamma) nur gibt, weil ihm »ein Ungeborenes, Ungewordenes, Unerschaffenes, Ungestaltetes« vorgelagert ist.777 Daher soll in unserer Darstellung entsprechend darauf geachtet werden, ob der Bezug des menschlichen Lebens zu solchem »Ungeborenen« phänomenologisch ausreichend vom buddhistischen Denken berücksichtigt wird und nicht einer bloß naturalistischen bzw. kosmologischen Bestimmung unterliegt, welche zu leicht – im Rahmen einer hochstehenden Ethik der Güte gegenüber allen Wesen auf der Grundlage eines praktischen Weges der Selbst-Ablösung – die »Unmittelbarkeit« dieses absolut »Unge­ borenen« als Kern der eigenen buddhistischen Selbstaffektion aus­ blendet. Allerdings soll damit keineswegs verkannt sein, dass eine Lebenshaltung, welche sich aus solchem »Mitgefühl« ergibt, sehr viel bedeutet und selbst schon eine Berührung mit der Unmittelbarkeit des originären Lebens darstellt, auch wenn das »Mitgefühl« aus der reinen »Erleuchtung« heraus davon nochmals unterschieden wird und sich dadurch verschiedene Wege und Stufen zur Erfüllung der Buddhaschaft ergeben.778 In radikal phänomenologischer wie mystischer Hinsicht muss somit überlegt werden, ob das »Leiden des Lebens« über die exis­ tentielle Ebene hinaus wirklich vom Buddhismus bis in die ontolo­ gische Sphäre der Ipseisierung hinein offen gelegt wird, die selbst nicht der universalen Kausalität von Begehren und »Wiedergeburt« Vgl. W.W. Schumann, Der historische Buddha. Leben und Lehre des Gotama, München 1997; H. Oldenberg, Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde, Leipzig 1998; H. Bechert u. R. Gombrich (Hgg.), Die Welt des Buddhismus. Geschichte und Gegenwart, München 2002; O. Freiberger u. Chr. Kleine (Hgg.), Buddhismus, Göttingen 2015. Zur Entstehung der Textsammlungen siehe etwa B. Bodhi (Hg.), In den Worten des Buddha, 8–13; H. Bechert u. O. von Hinüber, »Das Tipitaka [Dreikorb] der Theravadin oder der Pali-Kanon«, in: K.E. Neumann (Hg.), Buddha Reden, 275–279. 777 Udana VIII,3 (Nyanatiloka, 28). 778 Vgl. B. Bodhi (Hg.), In den Worten des Buddha, 391–396. 776

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(punabbhava) im negativen Sinne unterliegt: »Die durch den Sehein­ druck, Höreindruck, Riecheindruck, Schmeckeindruck, Tasteindruck und geistigen Eindruck entstandenen Gefühle sind etwas Erwünsch­ tes, Angenehmes in der Welt; dort nimmt dieses Begehren seinen Ursprung, dort fasset es Wurzel.«779 Diese objekthafte Bindung des Gefühls ausschließlich an Welt und mundanes Begehren erscheint problematisch, da das originäre Fühlen und Empfinden zunächst Sich-Empfinden vor aller Weltwerdung ist und folglich nicht ohne weiteres bloß empirisch der Entstehens-Kausalität als »Konditionie­ rung« zugerechnet werden kann. Das absolut phänomenologische Leben bildet diesseits jeglicher beobachtbaren Verkettung von projek­ tiv fixierten Bindungen, wie unsere Gegen-Reduktion bisher schon zeigte, ein originäres Sich-Erleiden, weil es sich selbst gegenüber zunächst »passiv« ist, um sich in solcher Passibilität selbst entge­ genzunehmen – nämlich als Sich-Erfreuen über sich selbst rein in sich selbst. Eine Ablösung von diesem »Sich« als Ur-Erleiden im phänome­ nologisch ontologischen Sinne ist zu keinem Augenblick möglich, so dass der praktische Weg der Abtötung des Begehrens auch nur eine ethisch asketische Bedeutung implizieren kann, welche sich einer ursprünglichen »Wiedergeburt« keineswegs zu substituieren vermag, da diese bereits alle bloße Wiederholung als negativ betrachtete »Wiedergeburt« (kharma) der Daseinsverhaftungen aufgehoben hat: »Die Wesen sind Eigentümer ihrer Taten, Erbe ihrer Taten; sie sind aus ihren Taten entstanden, haben ihre Taten zur Zuflucht. Es sind ihre Taten, die die Wesen in niedere und höhere unterscheiden.«780 Der auch von uns benutzte Begriff der »Wiedergeburt« im rein phänomenologischen Sinne dürfte also nicht – vorbelastet durch ein relatives Geburtsdenken als »Leiden des Lebens« – in seiner Selbst­ generierung an die Zeitlichkeit als »Werden« von Entstehen/Verge­ hen gebunden sein. Vielmehr bleibt das absolute Ungeborensein (Gottheit, Ungrund, Nirvana) als eine immanente Selbstgenerierung dieses Lebens ohne Außenheit im Sinne von Welt und Dasein zu fas­ sen.781 Das absolute Sich-Erleiden als rein inneres Wesen des Lebens Anguttara-Nikaya IV,146 (Nyanatiloka, 9). Vgl. Majjhima-Nikaya 135 (Bodhi, 151); zum Kharma-Gesetz im Sinne einer negativen und glücklichen Wiedergeburt siehe die weiteren Textbelege ebd., 145–170. 781 Vgl. R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätsbezug, Dresden 2017, 139–143: »Religiöse Wiedergeburt«; siehe auch M. von Brück, Ewiges 779

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ist daher keiner »Auslöschung« zugänglich, so dass deren theoreti­ sche Fassung im Buddhismus die Unterscheidung von distanziert gedachtem Leben und ursprünglich selbstaffektivem Leben als unauf­ hebbarer Wirklichkeit zu berücksichtigen hätte, um nicht in einen möglichen Voluntarismus bei aller implizierten Askese zu fallen, welche »mit männlicher Ausdauer, Willensstärke und Anstrengung« als »Kampf zur Überwindung« durchgeführt werden soll.782 So sagte Buddha selber kurz vor seinem Sterben bei einer Krankheit mit hef­ tigen Schmerzen: »Ich will diese Krankheit mit Macht unterdrücken und im Festhalten am Lebenswillen verharren.«783 Mit anderen Wor­ ten ist der Grundverdacht aufzuheben, das ursprüngliche Leben wäre in sich selbst nicht gut und müsste daher durch bestimmte Methoden einer Verbesserung bzw. Auflösung entgegen geführt werden, die von einer stark klassifizierenden Erkenntnistheorie und Übungspraxis mittels Aufmerksamkeit und Wachsamkeit zur Überwindung eines fundamentalen »Unwissens« abhängen. Denn selbst wenn sich eine gereinigte Willensintentionalität letztlich mit der äußersten Gelassenheit als »Gleichmut« paaren sollte, welche das Ausgelöschtsein aller Strebungen einzuschließen scheint, so wird ja bis zu diesem Augenblick – und auch noch in solcher Abgekehrtheit von der Leidens/Begehrens-Kausalität selber – eine »Kraft« des Lebens in Anspruch genommen, welche älter sein muss als jede Existenzverflochtenheit und die Anstrengung, sich daraus zu befreien: »Jene unerschütterliche Gemütserlösung aber wahrlich, ihr Jünger, das ist der Zweck des heiligen Lebens, das ist der Kern, das ist das Ziel.«784 Dieser »Kern des heiligen Mönch-Lebens« ruht mithin in jenem Leben, von dem sich der Buddhist als Leid abwenden will. Aber als »Ziel« kann dieser »Kern« nichts anderes sein als die absolute »Ungeborenheit«, mit der sich das Leben selbst anfanglos affiziert, um diesseits von sankhara der »ent­ standenen Dinge« einen noch umfassenderen dhamma auszumachen, welcher auch die »unentstandenen Dinge« wie das Nirvana selbst

Leben oder Wiedergeburt?, Freiburg/Br. 2007; W. Thiede, Unsterblichkeit der Seele? Interdisziplinäre Annäherungen an eine Menschheitsfrage, Berlin 2021. 782 Vgl. Majjhima-Nikaya 70 (Nyanatiloka, 59 u. 61). 783 Digha-Nikaya V (Schmidt-Glintzer, 34). 784 Majjhima-Nikaya 29 (Nyanatiloka, 95). Für den detaillierten »Weg der Befrei­ ung« durch »Meisterung des Geistes« in deren »Stufen der Verwirklichung« vgl. B. Bodhi (Hg.), In den Worten des Buddha, 207–396.

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einschließt.785 Nicht jegliches »Gesetz« ist also vergänglich und leid­ voll, sondern es gibt einen unvergänglichen und leidlosen dhamma, welcher nicht nur Existenzleid ist, so dass hierin die eigentlich intui­ tive Selbstaffektion des Buddhismus erblickt werden kann, welche als »Lebensmystik« in unserem bisherigen Sinne zu qualifizieren wäre. Für letztere zählt letztlich nicht die begriffliche Trennung zwi­ schen existentieller und ontologischer Ebene, da es in der meta-genea­ logischen Betrachtung allein auf die ipseisierende Ankünftigkeit des absoluten Lebens als unsere originäre Geburt in seiner Selbstgene­ rierung ankommt. Diese stellt zugleich die Identität von Geburt/ Empfängnis dieses unvergänglichen Lebens selbst als Sich-Erfreuen/ Sich-Erleiden in jeglicher Affektabilität all unserer Lebensvollzüge dar. Es gibt daher kein »Wesen« des Lebens, das sich jemals getrennt oder abstrakt außerhalb eines bestimmten Gefühls halten würde. Dies ließe sich durchaus mit der buddhistischen Auffassung paralleli­ sieren, es gebe kein »Wesen« von Ich und Empfindungen im Sinne eines repräsentativen Substrats. Somit kann die »rechte Einsicht«: »Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Ich«,786 strukturell mit der gegenreduktiven Ipseität übereinstimmen, welche eine reine »Relation« im und durch das Absolute selbst ist, ohne ein ontisches »Anhaften« an Existenz zu implizieren.787 In diesem Sinne gälte dann auch die allgemeine Aussage Buddhas über jegliche »Vergänglichkeits«-Feststellung hinaus: »So haben wir denn kein bleibendes Sein«,788 so dass das Leben unter keinen »Seins«-Begriff subsumiert zu werden vermag. 785 Vgl. H.-M. Haußig, Der Religionsbegriff der Religionen. Studien zum Selbstund Religionsverständnis in Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Islam, Ber­ lin/Bodenheitm 1999, 131ff.; E. Bock, Die Mystik in den Religionen der Welt. Hinduismus, Buddhismus, Judaismus, Islam, Christentum, Berlin 1993; T. Freke u. P. Gandy, Die Welt der Mystik. Die mystischen Traditionen von Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam, Judentum, Schamanismus, München 2001. 786 Majjhima-Nikaya 28 (Nyanatiloka, 6). 787 Für mögliche Vergleiche mit der abendländisch mystischen Tradition und Nega­ tiven Theologie vgl. M. Nambara, »Die Idee des absoluten Nichts in der deutschen Mystik und seine Entsprechung im Buddhismus«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960) 143–277; M S. Torini, »Apophatische Theologie und göttliches Nichts. Über Traditionen negativer Begrifflichkeit in der abendländischen und buddhistischen Mystik«, in: Chr. Elsas (Hgg.), Tradition und Translation (Zum Problem der interkul­ turellen Übersetzbarkeit religiöser Phänomene. Festschrift für Carsten Colpe), Berlin 1994, 493–520. 788 Samyutta-Nikaya III (Schmidt-Glintzer, 31).

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Diese mögliche Affinität gilt aber nicht in Bezug auf die bud­ dhistische Praxis, sofern diese als Reaktion auf den Zusammenhang von Leben/Leid auch den logischen Schluss implizieren sollte, die Aufhebung des Leids würde dadurch die Wirklichkeit des Lebens aufheben. Dieser scheinbare buddhistische »Rationalismus« ohne »Ressentiment«, den Schopenhauer und Nietzsche anstelle des Chris­ tentums in Europa eingeführt sehen wollten,789 vergisst ohne Zweifel zu schnell, dass die Bindung (religio) von Leiden/Ich als Ur-Affektabi­ lität oder Passibilität prinzipiell unaufhebbar ist. Denn um überhaupt existentiell leiden zu können, bedarf es zuvor nicht nur eines sich origi­ när gebenden Lebens, sondern auch eines immanenent in-karnierten Verhältnisses desselben, wie wir durchgehend in Bezug auf unsere Leiblichkeit als nicht intentionales »Memorial« zeigten. Diesem Ver­ hältnis zwischen Leiden/Leben einerseits und Leben/Leiblichkeit andererseits entspricht genau das ipseisierte »Mich« als »Ur-Leib­ lichkeit« (Fleisch) vor aller Ich-Auffassung. Dadurch erscheinen die überlieferten Analysen Buddhas nicht nur zu Empfinden und Gefühl, sondern zum Körper überhaupt als zu empirisch begrenzt. Denn die absolut subjektive Ur-Leiblichkeit, welche so etwas wie sichtbare »Körperlichkeit« erst empfinden und denken lässt, bleibt ausgeblen­ det: »Alles Körperliche (rapa), ihr Jünger, ob eigen oder fremd, grob oder verfeinert, gemein oder edel, fern oder nah, das gehört dem durch Anhaften bedingten Daseinsaggregat der Körperlichkeit.«790 Oder noch thetischer ausgedrückt: »Alle Körperlichkeit ist nicht mein, bin nicht ich, ist nicht mein Selbst.«791 Dies führt außer zu einer ständigen Selbstbetrachtung körperlicher Vorgänge unter Vorrang des Atemvorgangs792 auch dazu, dass die grundlegende Frage, »ob Leib und Leben identisch oder etwas Verschiedenes sind«,793 zu den »zwecklosen Fragen« gerechnet wird, weil die alles entscheidende Dringlichkeit der Praxis der Ablösung vom einen wie anderen im Mittelpunkt des Interesses steht. Aber es ist offensichtlich, dass durch diese phänomenologische Nicht-Klärung das »Leben« stets nur

789 Vgl. R. Kühn, »Ich kann« als Grundvollzug des Lebens. Analysen zur materialphänomenologischen Handlungsstruktur, Dresden 2022, 40–67 u. 104–142. 790 Samyutta-Nikaya 21 (Nyanatiloka, 7). 791 Mahavagga I (Schmidt-Glintzer, 22). 792 Vgl. »Bedachtsame Ein- und Ausatmung« (Neumann, 7–16); W.K. Essler u. U. Mamat, Die Philosophie des Buddhismus, Darmstadt 2006, 177ff. 793 Majjhima-Nikaya 63 (Nyanatiloka, 35).

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aus der Distanz der Sichtbarkeit wahrgenommen wird.794 Das heißt in einem Blick »auf« dieses Leben, ohne seine Absolutheit in der Unmittelbarkeit der Affektabilität selbst rein immanent zu erproben. Im frühen orthodoxen Buddhismus der theravadin bzw. thera­ vada bedingt dieser Blick auf das Leben einen phänomenologischen Dualismus im Sinne von Sein und Dasein. Im reformierenden Prozess des Mahayana ab dem 1.-2. Jahrhundert v. Chr. wurde vor allem durch Nagarjunas Philosophie (ca. 2.-3. Jahrhundert n. Chr.) der zwei Wahrheiten, die in der Philosophie des sunyata gipfelt, diese Sicht des theravada widerlegt. Nagarjunas logische Kritik erfasst die Interdependenz aller Begriffe und Phänomene (pratityasamutpada), die im ontologischen Sinne in zeitlicher und kausaler Strukturiert­ heit bestehen. Da die »Leerheit« von einer inhärenten Leerheit leer ist, bilde sie die wahre Natur, das reine esse aller Phänomene. Jeg­ licher Dualismus löst sich aus der Sicht Nagarjunas demzufolge auf.795 Somit erweisen sich die verschiedenen Lehren des Buddha als nicht deskriptiv zutreffend, da sie letztlich leere Worte seien, die durch das erfassende Bewusstsein zu aporetischen Problemen führten. Damit scheint der Dualismus gebannt, aber eine logische Operation über die »Nicht-Leere der Leere« dürfte noch die Frage nach der radikal phänomenologischen Materialität als Gegebenheitsweise solcher begriffslosen Ursprünglichkeit offen lassen, insofern letztere nie einer Raum-Zeit-Strukturierung als »Außenheit« unterliegt und also auch jeder Logizität vorausgeht. Immerhin ergibt sich aus solcher »Nicht-Sicht« des sunyata, dass es nichts zu erreichen oder zu üben gibt, während in den mehr äußerlichen Formen des Buddhismus der Weg als »Übung« die Grundlage für das Ziel bildet.796 Wir werden später noch im Zusammenhang mit der Mystik genauer auf diese Problematik eingehen, die sich uns unreflektiert auch in den aktuel­ len Kommentaren zeigt, wo das »rechte Wissen«, welches sich im »Achtfachen Pfad« verkörpere als ein »unmittelbares Sehen« darge­ 794 Vgl. R. Vaschalde, »Materiale Phänomenologie und Buddhismus. Leiden und originäre Subjektivität«, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 16 (2017) 123–140; siehe ebenfalls »De la vacuité du soi. Y a-t-il une voie du milieu philosophique?«, in: Iris. Annales de philosophie 26 (2005) 95–102 (auch in: A l'Orient de Michel Henry, Paris 2014). 795 Vgl. entsprechende Textübersetzungen bei E. Frauwallner, Die Philosophie des Buddhismus, Berlin 2010, 107–140. 796 Vgl. ebenfalls für die innerbuddhistische Diskussion A.K. Tsultrim, DharmaMystik. Vertiefung des spirituellen Weges, Berlin 2020.

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stellt wird,797 was hinsichtlich des »Lebens« eine phänomenologische Unmöglichkeit beinhaltet. Wenn mithin unsere Ipseisierung durch das absolut phänomeno­ logische Leben nur die reine Affektabilität als ihren eigenen Inhalt und ihre eigene Form zugleich kennt, wodurch das originäre Was und Wie ohne jede Kluft zusammenfallen, dann entfällt letztlich auch jede Referenz an irgendein Interpretationssystem, welches diese affektive Originarität wie im Buddhismus an das Mentale und dessen illusorische Schöpfungen bindet: »Durch Geist (mano) und Geistes­ objekt bedingt entsteht Bewusstsein; das nennt man das ›geistige Bewusstsein‹. Was es nun in dem jedes Mal entstandenen Bewusst­ sein an Formen gibt, das gehört zu dem durch Anhaften bedingten Daseinsaggregat der Körperlichkeit.«798 Das Pathos als ursprünglich passibles »Bewusstsein« (cogito/passio) »entsteht« jedoch nicht erst durch intentionale Objektbindung, sondern ist die ursprüngliche Weise, wie unser Leben als absolute Individuierung des EmpfindenKönnens an sich selbst gegeben wird. Dies schließt eine »Geburt« des »Ich« als »Mich« erst durch die Unkenntnis der phänomenalen Wesensgesetze von Welt und Individuum aus, da die Subjekti(vi)tät kein Begriff ist, sondern vielmehr die originäre Bedingung selbst, unter der sich jedes »Sein« als Leben im Sinne seiner immanenten Selbstzeugung gibt. Das sich »Nichts« als »Etwas« denken könnte, etwa als Ich oder Person, ist ontologisch wie phänomenologisch nicht möglich, weil jede Illusion stets eine Wirklichkeit voraussetzt, von der sie dann eine Täuschung darstellt. Man kann also die wahre Ich­ werdung keinem zeitlichen Prozess anheim geben, falls solches »Ich« als Ursprungs-Mich »im Akkusativ« nicht schon in der ursprünglich passiblen Empfängnis durch das rein phänomenologische Leben einen unzerstörbaren Status inne hätte. Dieser ist zwar der Reflexion nicht zugänglich, aber als permanente Affektabilität im originären Sinne nicht weniger wirklich. Dadurch kann gleichfalls die Antwort auf Vgl. W.K. Essler u. U. Mamat, Die Philosophie des Buddhismus, 183. Historisch bleibt allerdings auf den Zusammenhang von Bewusstsein, Sammlung und Erkennen als »erlösender Schau« im indischen Denken und Yoga allgemein zu verweisen; siehe E. Frauwallner, Die Philosophie des Buddhismus, 9 u. 16. Der »Achtfache Pfad« umfasst: rechte Erkenntnis, rechte Absicht, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenserwerb, rechte Übung, rechte Achtsamkeit, rechte Meditation, wobei »recht« die Übereinstimmung mit den »Vier Edlen Wahrheiten« meint. Siehe auch B. Bodhi (Hg.), In den Worten des Buddha, 221f. 798 Samyutta-Nikaya 21 (Nyanatiloka, 12). 797

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die Frage nach dem anfänglichen Begehren, welches mit dem SichBegehren des Lebens identisch ist, nicht in der »Durstvernichtung« bestehen, das heißt in der »Aufhebung dieses Durstes durch restlose Vernichtung des Begehrens«.799 Denn das Begehren nicht mehr zu begehren, erfüllt sich nur im Tod, der im Buddhismus insofern nicht als endgültig auftritt, indem er mögliche »Wiederverkörperungen« einschließt, die ihrerseits erneut vom Begehren abhängen, so dass dieses implizit weiterhin vorausgesetzt bleibt. Im Übrigen scheint ein solch begehrendes Ursprungs-Ich in den Buddha-Reden selber vorausgesetzt, denn insofern er seine Lehre jeweils mit einem als Autorität sich äußernden »Ich sage« an seine Jünger unterstreicht, muss er notwendigerweise ein »Ich« in Anspruch nehmen, um von sich als geläutertem »Ich« sprechen zu können: »Und in die Fessel der Ansichten verstrickt, ihr Jünger, wird der unwissende Weltling nicht frei von Geborenwerden, Altern und Sterben, von Sorgen, Klagen, Schmerzen, Trübsal und Verzweiflung; er wird nicht frei vom Leiden: das sage ich.«800 Vergleicht man diese Aussagen mit den »Ich-Reden« Jesu im Johannes-Evangelium (14,12 u.ö.), dann wird deutlich, dass letztlich Ich und Wahrheit eins sein müssen, um überhaupt als »Offenbarung des Lebens« sprechen zu können, wobei der Bezug auf Exodus 3,14 »Ich bin, der ich bin« (Jahwe) dann nur ein innerbiblischer Verweis bleibt, da er seiner­ seits nochmals auf eine Originarität der absoluten Selbstbejahung begründet sein muss, wie Meister Eckhart und Michel Henry unter­ streichen.801 In mahayanistischer Sichtweise ist diese Einheit von »Ich« (Mich) und »Wahrheit« ebenfalls gegeben, denn wenn es sich wieder mit seiner unbegrenzten Potentialität vereint, von der es im Grunde nie getrennt war, so war es nur vorübergehend illusorisch als »Ich« isoliert. Insofern es uns also prinzipiell gewährt ist, im Sein zu sein, braucht es auch auf dieser Ebene keine Übung und keinen Weg mehr. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, der sehr verzweigten Entwick­ lung des Ich- und Persongedankens im geschichtlichen Buddhismus 799 Mahavagga I,6 (Schmidt-Glintzer, 15. u. 19); zur weiteren Schul-Entwicklung des Durstbegriffs als Begierdedurst, Werdedurst und Vernichtungsdurst vgl. E. Frauwall­ ner, Die Philosophie des Buddhismus, 17. 800 Majjhima-Nikaya 2 (Nyanatiloka, 39; vgl. ebd., 77f.). 801 Vgl. R. Kühn, Der Erst-Lebendige. Christologie leiblicher Ursprungswahrheit, Freiburg/München 2021, 177ff.

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nachzugehen, etwa im unterschiedlichen Hinayana- und MahayanaBuddhismus.802 Was für ein universal lebensmystisches Verständnis unserer Ipsetität zu unterstreichen bleibt, ist der unaufhebbar protorelationale Charakter von Ipseität/Leben, insofern die Ipseität keine nur besonders herausragende Qualität des Lebens bildet, sondern den immanenten Vollzugsmodus desselben als solchen ausmacht. Jeder Lebendige als im Leben Geborener ist mithin ein »Sich« (Selbst), welches sich nur dank der Selbstaffektion des Lebens selbst affizieren kann. Und in diesem Sinne der ursprünglichen »Gabe« des Lebens als Passibilität ohne Aufhebung teilhaftig wird, was die Fülle des Lebens zu jedem Augenblick selbst bedeutet, die auch indirekt im grundle­ genden ego-auflösenden Imperativ des »Gebens« durch Buddha zum Ausdruck kommt.803 Sollten sich daher beispielsweise (Zen-)Bud­ dhismus und radikale Phänomenologie wirklich begegnen,804 dann bleibt auf die natura naturans dieses »Sich« zu achten, ohne sofort in ein Denken der Verdächtigung von »Illusion« zu verfallen, auch wenn letztere auf psychologischer Ebene zumeist gegeben sein dürfte. Das lebendige »Sich« als originärer Kern des »Ich« ist weder eine bloß begriffliche Gegebenheit noch irgendein abstrakt mentaler Inhalt, sondern die Vollzugswirklichkeit einer ständigen Effektuierung unse­ res Könnens, was wir durchgehend für das originäre Mystikverständ­ nis »Ur-Leiblichkeit« oder »Fleisch« nannten. Als ein solches »Kön­ nen«, welches in der gesamten buddhistischen Praxis der Meditation und des ethisch Guten vorausgesetzt bleibt, handelt es sich mithin um kein illusorisches Können als »Tun«, sondern um die unmittelbare Selbstpräsenz lebendiger Bewegung – sei diese Schweigen oder reine Achtsamkeit, denn sonst wäre auch das Nirvana als Freiheit von jeder Form eine Illusion. Die Theoriefreiheit im Buddhismus als »Verwerfung und Ver­ treibung aller Meinungen, aller Triebe«, welche direkt als Ansicht Buddhas selbst ausgegeben wird,805 mag daher als Aussage über die Nicht-Autonomie von Ich und Selbst dem postmodernen Dekon­ Vgl. E. Frauwallner, Die Philosophie des Buddismus, 38–88 u. 90–256; H. von Glasenapp, Die fünf Weltreligionen, Düsseldorft 2005. 803 Vgl. B. Bodhi (Hg.), In den Worten des Buddha, 141f. u. 158ff. 804 Vgl. S. Ueda, Wer und was bin ich? Zur Phänomenologie des Selbst im ZenBuddhismus, Freiburg/München 2000; M. von Brück, Zen. Geschichte und Praxis, München 2007; Th.J. Götz u. Th. Gerold (Hgg.), Die Mystik im Buddhismus und im Christentum und Aspekte des interreligiösen Dialogs, St. Ottilien 2006. 805 Majjhima-Nikaya 72 (Nyanatiloka, 40f.). 802

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struktivismus im Westen entgegenkommen. Aber sie verdeckt die phänomenologische Grundwirklichkeit, dass noch jeder verfäl­ schende Egoismus oder Narzissmus trotz allem von einer älteren Fun­ dierung in denselben zeugt – nämlich von der Autarkie des Lebens, welches überhaupt erst jeden irrtümlichen Ich-Gedanken ermöglicht, wie sich dies an der Subjektkritik bei Descartes, Heidegger und Freud exemplarisch aufweisen lässt.806 Nicht länger kann daher auf solch radikal phänomenologischem Hintergrund ein je thematischer Inhalt mit jener absoluten Gebungsweise verwechselt werden, welche diesen Inhalt zunächst in seiner selbstaffektiven Impressionabilität an sich selbst gibt. Das heißt unter anderem, ein »Ich« als »Mich« diesseits eines jeden Nichts impliziert, da sich-gegeben in der reinen Lebenspräsenz. Die Affektabilität, das Leiden, die Freude etc. bilden nicht bloß eine Art Urform der Affektion, ohne genau zu wissen, woher sie kämen, sondern sie enthalten die Selbstoffenbarung des Lebens als schlechthin individuierendes Prinzip. Daher kann letzteres auch nicht ohne weiteres mit dem Begriff der »Person« gleichgesetzt werden, wie er auch im Buddhismus kritisiert wird, weil sich diesseits der reflexiven Ich-Person die originäre Selbsterprobung derselben als passibles Mich vollzieht, welches in jedem Augenblick neu im absolut phänomenologischen Leben an sich selbst gegeben wird. Auch wenn sich dies mit dem erkenntnistheoretischen Idealismus der früheren philosophischen Schule der Sarvastivada (ca. ab 240 v. Chr.) zu decken scheint,807 können wir nicht einfach bei der buddhistischen Kritik der mentalen Strukturen stehen bleiben. Denn die absolute Immanenz des »Ungeborenen« oder »Unzerstörbaren« ist bis in die schlichteste selbstaffektive Erscheinesweise von Empfinden, Gefühl, Gedanke, Wollen, Bewegung hinein zurückzuverfolgen, um darin die vorzeitli­ che Inkarnation des absoluten Lebens als »Fleisch« aufzuweisen. In gewisser Weise nähert sich der Buddhismus dieser Analyse dort an, wo er Ewigkeitsglauben (Animismus) und Vernichtungs­ 806 Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München 2005, 33–50: »Die Kritik des Subjekts«; siehe ebenfalls U. Dopatka, Phänomenologie der absoluten Sub­ jektivität. Eine Untersuchung zur präreflexiven Bewusstseinsstruktur im Ausgang von Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre, Michel Henry und Jean-Luc Marion, Paderborn 2019, 199ff. 807 Vgl. E. Frauwallner, Die Philosophie des Buddhismus, 69–73; siehe auch E. Steinkeller u. M.Th. Much, Texte der erkenntniskritischen Schule des Buddhismus. Systematische Übersicht über die buddhistische Sanskrit-Literatur 2, Göttingen 1995.

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glauben (Materialismus) in Bezug auf das Ich ablehnt, um dessen »bedingte Entstehung« als »die in der Mitte liegende Wahrheit« auszugeben – nämlich als das schon genannte Werden und Verge­ hen der Daseinsphänomene.808 Die »Abhängigkeit der Entstehung«, welche einen »Mangel an wesentlichem Sein« (annatta) impliziert, umfasst als »bedingtes Entstehen« (pratityasamutpada) insgesamt die folgenden zwölf Elemente (nidanas), die vereinzelt schon genannt wurden: Unwissenheit, mentale Formation (samskara), Bewusst­ sein (vijnana), Name und Form (namarupa), die sechs Sinne, Kon­ takt/Berührung (sparsa), Empfindung (vedana), Verlangen/Durst (trsna, tanha), Verhaftung (upadana), Werden (bhava), Geburt (jati), Alter, Zerfall und Tod (jeramarana). Es sind miteinander verwobene Elemente, welche die Seinsweise aller Phänomene in ihrer dynami­ schen Entwicklung und gegenseitigen Bedingung ausmachen. Aber diese je substanzlose Veränderung gründet phänomenologisch letzt­ lich in einer reinen Proto-Relation, welche nicht nur leidvolle Exis­ tenzverknüpfung darstellt, sondern die Wirklichkeit des Lebens in der Absolutheit seiner ständigen Selbstgenerierung, ohne ein statisches Wesen zu implizieren, sofern das Leben nicht substanzhaft »ist« und ständig in sich selbst durch seine eigene immanente Selbstbewegung »ankünftig« wird. Nicht »Versiegung der [existentiellen] Wiederge­ burt«, insoweit sie ans anhaftende Begehren gebunden ist, vermag also das letzte Wort zu sein,809 sondern die immemoriable »Wieder­ geburt« im absoluten Leben selbst, welche jenes »Unzerstörbare« ist, das Buddha »Nirvana« nannte: »Das ist ja, ihr Jünger, die höchste, heilige Wahrheit, nämlich das Unzerstörbare, das Nirwahn, […] die höchste, heilige Entsagung, nämlich sich loszulösen von allen Daseinssubstraten.«810 Betrachte ich nämlich nur das Leidvolle in den enttäuschten Gefühlen bzw. das Unerfüllte der Bedürfnisse oder die erneute leidvolle Veränderung jeder Erfüllung, dann ergreife ich in solchem Wandel nur eine leere »Fluss«-Formalität, anstatt unmit­ telbar die effektive Gebungswirklichkeit all dieser Verwandlungen zu erproben, welche dann mit der Absolutheit des Lebens selbst zusammenfallen und keiner »Entsagung« unterliegen.

808 Vgl. Majjhima-Nikaya 43 u. Anguttara- Nikaya III,33 (Nyanatiloka, 47f.); B. Bodhi (Hg.), In den Worten des Buddha, 291ff. 809 Vgl. Anguttara-Nikaya IV,198 (Nyanatiloka, 93f.). 810 Majjhima-Nikaya 140 (Nyanatiloka, 94).

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Das Leben als reine Potentialität ist mit anderen Worten nicht begrenzbar durch irgendeine empirische, welthafte oder mentale Kategorie und betrifft auch nicht nur diesen oder jenen isolierten Akt der »Person«, sondern es bildet ein Ur-Vermögen, welches als »Ur-Mächtigkeit« jegliches Können von uns bis in die meditative Loslösung selbst hinein an sich selbst übergibt, damit es sich – dergestalt selbstaffiziert – überhaupt vollziehen kann. Diesseits jedes ontischen Gehalts von Ich-Bewusstsein, Ich-Gefühl oder Ich-Begeh­ ren im buddhistischen Sinne ist mithin eine radikal unsichtbare »Ur-Offenbarung« als Verlebendigung am Werk, welche das notwen­ dige ursprüngliche Selbst-Erscheinen in dessen passibler Erprobung ausmacht, damit ein jeweiliges Erscheinen sich überhaupt zu ereignen vermag, welches aus diesem Grund jedem »Nichts« schon immer entrissen ist. Das Vollzugs-Ego als ein solches »Mich« der Ur-Poten­ tialisierung ist daher keine Illusion, sondern in seiner ursprünglichen Ipseisierung die reine Wirklichkeit des Lebens selbst, so dass eine effektiv ursprüngliche »Wiedergeburt« in einem solchen Leben stets möglich bleibt. Dies ist wohl auch jene Anschauung des Mahayana, die besonders in der Chan-Tradition Chinas vertreten wird, wie zum Beispiel bei Huang po Hsi-yün im 9. Jahrhundert,811 und daher den Standpunkt der theravadischen Ontologie überwindet. Die Güte als »Mitgefühl« mit allen Wesen, welche für den Buddhismus so zentral ist, sollte daher schließlich nicht ein illusorisches »Ich« vor allem im Blick haben, sondern sie erfordert ein wirkliches Mit-Pathos. Letzteres hat nicht das Bedauern vor dem irreführenden Begehren aller Menschen als »Dürsten« zu seinem Gegenstand, sondern ein ori­ ginäres Mitgefühl, das um die ontologische Ur-Gemeinschaftlichkeit im zuvor genannten Leben unmittelbar weiß und danach handelt. Die Achtung des Anderen, unsere gegenseitge »Anerkennung«, basiert also nicht – wie auch bei Hegel und Schopenhauer – auf einem »unglücklichen Bewusstsein«, dass alles bedauerlicher Schein oder zermalmende Dialektik sei, sondern auf dem unmittelbar affektiblen Lebenswissen um eine Wirklichkeit, welche in Jedem nie zum Gegen­ stand von Verdacht oder Bedauern werden kann, weil sie die Fülle selbst ist. Das ursprünglich »brennende Feuer« in uns ist daher nicht »der Begierde Feuer«, wodurch alles »in Flammen« steht, nämlich

811 Vgl. auch Hinan-tsangs »Nachweis, dass (alles) nur Erkenntnis ist«, in: E. Frau­ wallner, Die Philosophie des Buddhismus, 262–266.

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durch Hass, Verblendung, Geburt, Alter, Tod, Schmerz und Klage,812 sondern die »Flamme« des sich selbst verzehrenden Lebens in seinem uneingeschränkten Sich-Selbst-Geben, welches im Neuen Testament daher als die »Liebe Gottes« bezeichnet wird. Was mithin die bislang vorgeschlagene Lebensmystik mit dem Buddhismus – trotz aller Unterschiede – als gemeinsam festhalten kann, besteht sicher darin, dass die Radikalität eines unzerstörbaren Ursprungs alle Analysen von einem moralisierenden Ton befreit. Die Kernfrage bleibt indessen der Status des Ego als einer nicht bloß eingebildeten »Selbstheit«, sondern als einer absoluten Individuie­ rung durch einen wirklich lebendigen Grund im transzendentalen Sinne, der sich in seiner Proto-Relationalität als »ungeborener« Wirk­ lichkeit in der Unmittelbarkeit der reinen Lebensaffektion offenbart. Zwei geschichtlich so weit auseinander liegende Denkformen wie Buddhismus und radikale Phänomenologie im Rahmen einer inter­ kulturellen Mystikdiskussion miteinander vergleichen zu wollen, darf also in keinen oberflächlichen Synkretismus verfallen. Vielmehr enthält dieser Versuch die weitere Einladung, das in der Tat Ursprüng­ liche, Ungeborene oder Unzerstörbare als jene »Wirklichkeit« zu beschreiben, von der her zugleich die lebendige Ipseität von allen vordergründigen Theorien und Kritiken befreit wird. Insofern uns dies gelungen sein sollte, dürfte die durchgehend intendierte Univer­ salität der Lebensmystik diesseits hermeneutischer Engführungen mehr als ein bloßes Postulat sein, um den weiteren Boden für einen solchen Dialog abzugeben. Dann könnte in der Tat gelten: »Freundlich und mitleidig wollen wir sein, von liebevoller Gesinnung, ohne Hass im Herzen; und jede Person wollen wir in liebevoller Gesinnung durchstrahlen: von ihr ausgehend wollen wir dann die ganze Welt in liebevoller Gesinnung durchstrahlen. […] Das, ihr Jünger, sei euer Streben!«813 Denn erst durch das Erkennen der Interdependenz mit allem Seienden (pratityasamutpada) entsteht buddhistisch die Erkenntnis, dass das Ego ein fließender Prozess sei und einer perma­ nent phänomenologischen Veränderung unterliegt, welche gerade der absolut affektiven Grundrelation von Ipseität und Gemeinschaftlich­ lichkeit nicht widerspricht. Denn »von allem, was uns lieb und wert ist, müssen wir uns trennen, müssen uns von ihm verabschieden«,814 was 812 813 814

Mahavagga-Nikaya I,21 (Schmidt-Glintzer, 24). Majjhima-Nikaya 21 (Nyanatiloka, 53). Digha-Nikaya XVI (Schmidt-Glintzer, 46).

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durchaus möglich ist – bis auf die unzerstörbare Verbindung mit dem ur-anfänglichen Leben. Vertiefen wir mithin das Verhältnis von Leiden/Freude als Grundgegebenheit jeglichen Erscheinens, wie es gerade auch für eine originär universale Mystik gilt, dann kann die Frage gestellt werden, in welcher Weise genauer der Buddhismus der »Mystik« zugezählt werden dürfte. Aus dem zuletzt Gesagten ergibt sich, dass er zunächst vorrangig als Erfahrungszugang zu jener Wirklichkeit zu betrachten ist, die eine Geistesschulung beinhaltet, um praktisch das Erleben substanzloser Einheit zu ermöglichen, auch wenn letztere in den verschiedenen buddhistischen Schule kontrovers in Bezug auf »Selbst« (atta) bzw. »Nicht-Selbst« (anatta) und die letzte Realität als subtanszlose Erscheiungsleere gesehen wird.815 Das Ziel dieser Bemühungen bei bleibender theoretischer Skepsis gegenüber ontolo­ gischen wie metaphysischen Letztaussagen gleicht in diesem Sinne strukturell einem »mystischen Durchbruch«, bei dem der »Mensch« eins wird mit der »Wahrheit«, die er zu seinem »Heil« sucht. Alle anderen »Ansichten«, über die »der Erhabene keine Angaben gege­ ben, die er liegen gelassen und abgewiesen hat, [sind]: ›die Welt ist endlich‹, ›die Welt ist nicht endlich‹, ›Seele und Leib sind das­ selbe‹, ›Seele und Leib sind verschieden‹ [...]," werden offen gelassen bzw. mit Schweigen bedacht, da nur das gilt, was »zweckdienlich für die Erlösung« ist.816 So heißt es gleichfalls in der bekannten »Herz-Sutra«: »Alle Phänomene sind nur Erscheinungsformen. Wer auf die vollkommene Weisheit (prajna) vertraut, und frei wird von allen inneren Hindernissen, frei von allen Ängsten und Illusionen, dem wird die Erleuchtung (satori) zuteil.« Für Hugo Enomiya-Lassalle war das Ausschalten der Gedanken, um zur Erfahrung Gottes gemäß der christlichen Mystik zu gelangen, besonders mit dem Zen-Bud­ dhismus in Einklang zu bringen. Denn die Aufgabe eines objekthaften Denkens von Gott sei zugleich die Ablösung von Gott als einem Bild, wie wir es als Struktur mystischer Kriteriologie bislang ebenfalls herausgestellt haben, so dass gerade auch die Parallele zwischen Meister Eckhart und Zen oft als übereinstimmender Mystikzugang festgehalten wurde. Christliche Selbstaufgabe als Hingabe an Gott entspräche dabei dem »erwachten Bewusstsein«, dass das eigene Ich als »Illusion« eigenlich nicht existiere, was allerdings eine »personale 815 816

Vgl. W.K. Essler u. U. Mamat, Die Philosophie des Buddhismus, S. VIf. Majjhima-Nikaya I (Schmidt-Glintzer, 53).

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Hingabe« an die Wahrheit auch im Zen mit ihrem Einheitsaspekt nicht ausschließt. Gleichfalls scheint hier zumindest eine letzte Ein­ fachheit und Gegenwärtigkeit impliziert, die mit dem Absoluten als dem »Einen« westlicher Prägung verglichen werden kann.817 Dass die erkenntniskritische wie soteriologische Buddhalehre nicht nur unterschiedliche Auslegungen innerhalb des Buddhismus selbst hervorgebracht hat, sondern bis heute auch dessen Einstufung als »Religion« oder »Philosophie« auf der Grundlsge seiner »Weis­ heits«-Lehre umstritten ist,818 muss bei einer strukturell kriteriologi­ schen Mystikbetrachtung kein Hindernis sein. Denn das »Nirvana« liegt jenseits aller Kausalität, und in ihm ist auch keine Empfindung oder Wahrnehmung mehr gegeben, was aber die Frage nach der transzendentalen Lebendigkeit und dem originären Empfinden-Kön­ nen diesseits aller Perzeption nicht ausschließt. Denn selbst der Zusammenfall von Leere/Bewusstsein als Einheit von Leere/Form beinhaltet noch eine notwendige Instanz, um diese Aufhebung aller Differenz und Dualitöt zu erproben, die wir mit der Immanenz des Lebens als reiner Erprobungsweise universal möglicher Mystik in eins setzen. Wir können daher die geschichtlich nur bedingt zulässige Gleichsetzung von Mystik/Buddhismus in einem interkulturellen Sinne ohne Schwierigkeit zugestehen, um allein die letzte buddhisti­ sche Versenkungsstufe zu betrachten, die frei von jeder Ekstase oder Emotionalität dem methodischen Selbstanspruch nach ist. Dabei ist der Akzent auf ein klares Bewusstsein gelegt, das ebenso vorurteilsfrei wie leidenschaftlslos die »Beruhigung« von Körper und Geist sucht und nicht das Aufgehen in eine andere Wirklichkeit, die noch Begriffe wie Transzendenz und Vielheit implizieren würde. Zum Tod des Buddha heißt es demzufolge: »Da ging der Erhabene in [die vier] Stufen der Versenkung ein – zur Stufe der Raumunendlichkeit, zur Vgl. M. von Brück, »Christliche Mystik und Zen-Buddhismus. Synkretistische Zugänge«, in: W. Greive u. R. Niemann (Hgg.), Neu glauben? Religionsvielfalt und neue religiöse Strömungen als Herausforderung an das Christentum, Gütersloh 1990, 146–166, hier 155f. 818 Vgl. V. Zotz, Geschichte der buddhistischen Philosophie, Reinbek 1996. E. Frauwallner, Die Philosophie des Buddhismus, 6f., verweist auf die späteren phi­ losophischen Systematisierungen und bringt als eines der frühesten Beispiele für solche Erklärungsliteratur Vasubandhus »Kommentar zum Sutra vom abhängigen Entstehen«, 28–30. B. Bodhi (Hg.), In den Worten des Buddha, 281f., unterstreicht, dass neben Sammlung und direkter Einsicht als »Sehen« sowohl empirische wie konzeptuelle Elemente die Weisheit als »rechte Ansicht« zum Verständnis vom Dhamma bestimmen. 817

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Stufe der Erkenntnisunendlichkeit, zur Stufe der Nichtirgendetwas­ heit, zur Stufe von weder Vorstellen noch Nicht-Vorstellen. [...] Zur Aufhebung von Vorstellen und Empfinden.«819 Ist die Aufhebung partikulärer Körper-, Geist- und Seelenzu­ stände für das buddhistische Anliegen – als mit der »Mystik« vergleichbar – auf diese Weise zugestanden, so reibt sich solche »Vergleichbarkeit« am Kern derselben,820 der im letzten nur die transzendentale Lebendigkeit selbst sein kann, da jegliche Erfahrung als Erprobung rein praktisch allein im originären Leben stattzuhaben vermag. Würde der Buddhist auch dieses aufheben wollen, so könnte er keinerlei Bewusstseinsleere als »Erfahrung des Erwachens« mehr in Anspruch nehmen – und sei es auch als jene »feinstofflichen Energien« (rapakaya), die den Geist als »Funktionsgeflecht« begleiten und unterstützen.821 Die Korrelation des »Leidens« als wesentlicher Charakter des Lebens und des »Ich« als dessen Möglichkeit der Bedingung muss daher mehr beinhalten als ein nur kontingentes Verhältnis, weshalb die programmatischen »Vier Edlen Wahrheiten« in eine prinzipielle Sichtweise rücken.822 Das bedeutet, es existiert für den Buddhismus nicht nur ein »Unwissen« bezüglich des Ver­ hältnisses von Leid/Ich, sondern ein grundlegendes »Fehlwissen (avidya), welches jenes »Dürsten« betrifft, das die Unwissenheit dem Einzelnen als Wunsch und Vorstellung vorgaukelt. Denn erst dadurch wird das »Werden« zu einem permanenten »Geborenwerden«, inso­ weit jeweils in dessen Vorgang eine »Neugeburt« stattfinde. Die »Berührung« einer Gegebenheit durch die Körpersinne und durch Diga-Nikaya XVI (Schmidt-Glintzer, 48). Vgl. J. Lacrosse, »De la commensurabilité des discours mystiques en Orient et en Occident. Une comparaison entre Plotin et Cankara«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un de l'antiquité à nos jours, Brüssel 2005, 215–224, wo darauf hingewiesen wird, dass jeder Vergleich in einem solchen Bereich die Konstruktion eines Vergleichbaren überhaupt voraussetzt, um eine gemeinsame Struktur freizulegen, die sich historisch unterschiedlich anreichern kann. Das »mystische Element«, welches auf Buddha selbst nach E. Frauwallner zurückgeht, konnte sich am besten dann im Mahayana entwickeln. Hier verband sich der Glaube an ein höchstes Sein in völliger Unbestimmbarkeit mit der Nichtigkeit der Alltagswelt und dem Buddha-Werden eines jeden durch Verharren in völliger Losgelöstheit in der Welt, wodurch Vorstellungen über »Erlösung« hinfällig wurden; vgl. Die Philosophie des Buddhismus, 90ff. 821 Vgl. W. K. Essler u. U. Mamat, Die Philosophie des Buddhismus, 71f. u. 113f. 822 Vgl. K. Mylius (Hg.), Buddha: Die vier edlen Wahrheiten des ursprünglichen Buddhismus, München 1997. 819

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die Form/Begriffs-Gestaltung (namarupa), die man mit Kants Bezug von Sinnlichkeit/Verstand parallelisieren kann, vermag nur jeder selbst aufzulösen, da er dadurch seine illusionsgebundene eigene »Welt« bildet. Die Aufforderung Buddhas, zwar seiner Lehre in ihren Grundannahme zu folgen, jedoch »im eigenen Innern« das bisherige »Fehlwissen« einer Substanzhaftigkeit von Welt/Ich zu erkennen und zu erfahren«,823 bleibt daher eine praktische Aufforderung, Gegen­ ständlichkeit als das je eigene Bedingungsgeflecht zu erfassen. Eine sehr bekannte und plastische Illustration dieses Sachverhalts findet sich im Gleichnis von den Blindgeborenen, die das »Wesen« eines Elephanten jeweils nach dem Körperteil beurteilen, das sie isoliert betastet haben.824 Solches Erkennen als nur partielles »Berühren« würde dann radikal phänomenologisch bedeuten, dass das Leiden eben ein ori­ ginäres »Sich-Erleiden« des Lebens selbst impliziert, wodurch die Ipseität eine ältere Form als jedes »Ich« darstellt und folglich auch nicht mit dem Makel der »Illusion« ausgestattet werden kann. Für den mystischen Vergleich ist hierbei besonders wichtig, dass der Bezug Leiden/Ich sich für das Bewusstsein im Buddhismus über die »Begierde« artikuliert, die dem Ego konstitutiv zugehört. Das Verständnis des Begehrens (desiderium) korreliert in der westlichen Mystik stets in einem umfassenden Sinne mit dem Verlangen nach einem »Höchsten Gut«, was Lacan einem Einheitsphantasma zuord­ nete, ohne eine jouissance über jeden Signifikanten für das Absolute hinaus zu leugnen. Diese jouissance als Akt der »Freisetzung« singu­ lärer Wahrheit angesichts des »Realen« ergäbe dann eine Nähe zur buddhistischen Befreiung von allen mentalen und affektiven Verhaf­ tungen wie Vorstellungen, so dass die Befreiung von der Ich-Begierde als »Dürsten« sich einem reinen »Begehren« annähert, das sich aus der Vorgabe eines – über die Einbildungskraft gegebenen oder gläubig angenommenen – »Höchsten Gutes« befreit hat. Damit ergibt sich eine grundsätzliche Zusammengehörigkeit von Leben, Ipseität und Begehren als Grundlage für einen Vergleich von Mystik/Buddhis­ mus, der sich auch jeweils von der Bindung an eigene Traditionen als »Lehre« löst, um so erörtern zu können, ob sich die Struktur von der Ipseität als Leben/Leiden in der Gegebenheit von Begehren/Leere wieder finden lässt. 823 824

Majjhima-Nikaya I (Schmidt-Glintzer, 63). Vgl. Udana VI,4 (Schmidt-Glintzer, 60f.).

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Denn sowohl das »Dürsten« nach »Dauerhaftigkeit« in den Empfindungen und dem Erreichten durch Handeln als Einordnung von Angenehm/Unangenehm mittels »Anhaften« an einem fixierten Erwas unterliegt der Ablösung ebenso wie das Anhaften an der Lehre Buddhas als solcher. Dies unterstreicht das Gleichnis vom Floß, dem Hermann Hesse ein eigenes literarisches Werk gewidmet hat825 und welches ein Übersetzen über den Strom des Lebens erlaubt, am anderen Ufer aber dann losgelassen werden kann. Dies betrifft jedes Erkennen »ohne Kern« und die Veränderung des Geistes wie der »Wechsel von Tag und Nacht«.826 Es bleibt hierbei allerdings ein gewisser Widerspruch bestehen, insofern das »Anhaften an die »richtige Lehre« zugunsten ihrer Prüfung in den je eigenen Gedanken, Worten und Taten aufzugeben sei – nicht aber die Lehre selbst der Aufhebung anheim fallen soll. Mit anderen Worten als einer letzten theoretischen wie praktischen Referenz, welche in der unmittelbaren Selbsterprobung des Lebens gerade nicht mehr gegeben ist. So kann zwar auch im Buddhismus nicht über das Nirvana hinaus noch Anderes befragt werden,827 aber es bleibt die Transzendcnz der Schau innerhalb der »Befreiung« als Loslösung bestehen, insoweit in deren »einzigem Augenblick« alle Gestaltwerdungen von Empfindung und Vorstellung in einem »augenblicklichen Zurückblicken« (pratyavek­ sana) erkannt werden sollen.828 Wie bei den zuvor behandelten Mystikformen unterliegt mithin auch der Buddhismus einer phänomenologischen Reduktion als einer noch blickdistanzierten »Hermeneutik von Existenz und Welt«,829 um zu verstehen, ob die Lehre von der universellen Interaktion zwischen Ursache/Wirkung und das angestrebte Entleeren von der sie ver­ knüpfenden »Begierde« nur ein »Nichts« als Abweseneheit absoluter Wirklichkeit anerkennen kann. Oder vielmehr diese Abwesenheit als Fülle des Erscheinens der Subjektivität dem Selbsterscheinen des Erscheinens entspräche, insofern es das Leben selbstaffektiv als Ursprung »erleidet« und ständig erprobt. Erst dann wären Praxis und Theorie als »buddhistische Mystik« wirklich eins, ohne nur eine Vgl. Siddhartha. Eine indische Dichtung, Berlin 1922. Vgl. Majjhina-Nikaya 22 (zit. Essler/Mamat, 150) u. Samyutta-Nikaya II (Schmidt-Glintzer, 95). 827 Vgl. Majjhima-Nikaya 44 (zit. Essler/Mamat, 147 u. 152f.). 828 Vgl. T. Kyuma, Sein und Wirklichkeit in der Augenblicklichkeitslehre Jnaasrimit­ ras. Sanskrittext und Übersetzung, Wien 2005. 829 Vgl. M. von Brück, »Christliche Mystik und Zen-Buddhismus«, 154f. 825

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Skepsis des Theoretischen zu formulieren und demgegenüber die Praxis ethisch zu bevorzugen. Denn damit gerät letztere selbst in die Gefahr, noch von einem vorgestellten Ziel abhängig zu sein, das an sich unter die eigenen Prämissen der Vorurteilsfreiheit fallen müsste. »Seelenruhe« als »Leidensabwesenheit« anstreben zu wol­ len, ist nämlich ebenso eine Abhängigkeit wie eine Versicherung über theoretische Signifikanten, die ein Phantasma des Beherrschen­ wollens als »Herrendiskurs« implizieren: »Als mein Geist derart konzentriert, geläutert, klar, makellos, der Unvollkommenheit ledig, gefügig, geschmeidig, ausdauernd und unerschütterlich war, richtete ich ihn auf das Wissen von der Vernichtung der Triebe. Ich erkannte unmittelbar, der Wirklichkeit entsprechend: ›Dies ist das Leiden. Dies ist das Entstehen des Leidens. Dies ist das Ende des Leidens. Dies ist der Weg, der zum Ende des Leidens führt.‹ Ich erkannte unmittelbar, der Wirklichkeit entsprechend: ›Dies sind die Triebflüsse. Dies ist das Entstehen der Triebflüsse. Dies ist das Ende der Triebflüsse. Dies ist der Weg, der zum Ende der Triebflüsse führt.‹ Als ich das wusste und sah, war mein Geist vom Sinnestrieb, vom Daseinstrieb und vom Unwissenheitstrieb befreit. Als er befreit war, kam das Wissen: ›Er ist befreit.‹ Ich erkannte unmittelbar: ›Geburt ist vernichtet, das spirituelle Leben gelebt, was getan werden musste, wurde getan, ein erneutes Wiedererscheinen wird es nicht mehr geben.‹"830 Aufgrund solcher Feststellungen machte Georges Bataille831 etwa im Buddhismus die Tendenz aus, dass dieser als Ethik eine »Transzendenz« setze, auch wenn der Gegenstand der buddhistischen Meditation die Leere sei. Und weil der Buddhismus – stärker als das Christentum – die Welt verneine, müsse er deshalb auch das Subjekt verneinen, weil es eine »individuelle Gewalt« darstelle. Eine solche Gewalt beziehe sich auf die einzelnen Objekte in ihrer Außenheit, so dass hier der Übergang vom »Subjekt« zum »Nicht-Subjekt« durch die »Hpertrophie« des Subjekts selbst angezeigt wäre, insofern dessen innere Gewalt der »Begierde« oder des »Dürstens« unbegrenzt sei. Durch diese »Entfesselung« im Sprachgebrauch Batailles wird jede Handlung des Subjekts – wie in der Psychoanalyse – in Frage gestellt, weil seine Energie die Wurzel des Bösen als solchem darstelle. In der alltäglichen Praxis führt dies natürlich nicht zur Abwesenheit Mahasaccaka-Sutta I (Bodhi, 59). Vgl. »Schéma d'une histoire des religions« (1948), in: Œuvres complètes VII, Paris 1976, 406–442, hier 430f. 830

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jeglichen Handelns, aber doch zu dessen Relativierung oder Abwer­ tung, so dass die Negation des Subjekts auch eine Negation der »Profanität« darstellt, um eine »sakrale Welt« zu setzen, welche die genannte Transzendenz der ethischen Position als Verwerfung von Welt und Subjekt bildet und somit zu einer unmittelbaren Immanenz von Subjekt und Universum als Grundzug des Mystischen im Sinne unmittelbarer »Teilhabe« (participation) führt, die sich dem »mysti­ schen Christentum« annähere. Dem widerspricht nicht, dass Buddha bereits ethische wie spirituelle Hinweise für eine »Harmonie« des sozialen und politischen Lebens gab, und zwar nach Maßgabe eines idealen allgemeinen Königtums über die Welt, welches allen den Frieden brächte.832 Mit Bataille ließe sich demzufolge festhalten, dass die Ausdeh­ nung des Leids auf die gesamte Existenz unbewusst auf einem Grun­ daffekt beruht, der sich als verallgemeinerte Empfindung gegenüber dem Sein insgesamt ausdrückt, selbst wenn im letzten mehr die nicht aufzuhaltende Alternanz von Freude/Leid damit gemeint ist als die einzelnen empirischen Leiden. Ob der historische Buddha dies so empfunden hat, ist nicht der Gegenstand unserer Untersuchung, son­ dern nur die Tatsache, dass ein solches Empfinden universalisierten Leids es unmöglich macht, sich als ein originäres »Sich« zu empfin­ den, so dass diese Ohnmacht das eigentliche Leid als »Erleiden« aus­ macht.833 Aber dann liegt ein Sophismus hinsichtlich eines solchen »Sich« vor, denn um meine Ohnmacht empfinden zu können, muss ich gleichzeitig die originäre Ipseität schon kennen, um die Ohmacht des empirischen »Selbst« erproben zu können. Grundsätzlich lässt sich deshalb sagen, dass alle emprischen Aussagen in Bezug auf »Ich« und »Leid« nur möglich sind, weil sie in der vorgängigen Erfahrung transzendentaler Lebendigkeit gründen, so dass auch der empirische Kausalnexus von Ursache/Wirkung keinen Anspruch auf ursprüngli­ che Wahrheit erheben kann, um ein ganzes Lehrgebäude zu tragen: »Ich habe diese Wahrheit zum Erwachen entdeckt, nämlich: mit dem Aufhören von Name-und-Form ist das Aufhören von Bewusstsein; mit dem Aufhören von Bewusstsein ist das Aufhören von Name-undForm; mit dem Aufhören von Name-und-Form ist das Aufhören der sechs Sinnesgebiete, mit dem Aufhören der sechs Sinnesgebiete ist Vgl. B. Bodhi (Hg.), In den Worten des Buddha, 107f. So die Interpretation von M. Hulin, La Mystique sauvage. Aux antipodes de l'esprit, Paris 1993, 255f. 832

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das Aufhören von Kontakt... Auf diese Weise kommt das Aufhören der ganzen Leidensmasse zustande. ›Aufhören, Aufhören‹ – so, ihr Mönche, entstand in mir ein Bezug auf nie zuvor gehörte Dinge, Einsicht, Erkenntnis, Weisheit, Durchdringen und Licht.«834 Das »Erlösen des Durstes« als endgültige »Seinsbefreiung« im Sinne einer Wesensbestimmung von »Sein« oder »Nicht-Sein« ist daher eine höhere Aussage als die Grunderkenntnis des Universums über das existentielle Verhaftetsein in Empfindung und Vorstellung als Leidensursache. Entsprechend tritt auch das Nirvana als eine Gegebenheit auf, die leer von einem Selbst ist, insofern das buddhis­ tische »Erwachen« die Aufgabe eines jeden Strebens nach »Dauerhaf­ tigkeit« von einem »Ich« als »Selbst« impliziert. Und die Aufhebung des beständigen Wandels als je neuer »Geburts-Kreislauf« (samsara) besteht dann in jener »Weisheit«, das Bewusstsein als eine je nur vorübergehende Bildung von Form/Begriff bzw. Namen zu verste­ hen, um aus etwas kein Etwas zu machen. Nimmt man die »Rede« als Sprachproblematik hinzu, dann wird das Schweigen Buddhas in all jenen Situationen verständlich, wo er die Bejahung oder Ver­ neinung einer theoretischen Wirklichkeitsaussage vermeidet, um es bei der schon erwähnten rein praktischen »Zweckdienlichkeit« des sich-befreienden Tuns bewenden zu lassen, welches allein dem Gebot von Achtsamkeit und Wachsamkeit folgt. Gegenüber der Wiederholung des Leidens ohne Ende und der Substanzlosigkeit aller Erscheinung in der Existenz halten wir des­ halb nochmals die radikal phänomenologische Aussage fest, wonach Freude/Schmerz nicht nur eine permanente Oszillation im Leben bilden, sondern letztlich eine originäre Einheit als Leben in des­ sen immanentem Sich-Geben/Sich-Empfangen als ursprünglicher Selbst-Offenbarung seiner selbstaffektiven Materialität.835 In solch onto-do-logischem Rahmen bildet unsere ursprüngliche Passibilität des Lebensempfangs als dessen Empfänglichkeit selbst unsere Ipsei­ tät, die vor jeder empirischen »Begierde« ein Selbst-Begehren des Lebens beinhaltet, das in der Tat nicht »Etwas« will, sondern mit der inneren Selbst-Bewegung des Lebens als dessen originärem SichSelbst-Empfinden identisch ist. Mithin jouissance ohne Signifikant, Transzendenz oder Gewalt in Bezug auf äußere Objekte, so dass auch der Kausalnexus von Welt und Ich im Sinne des Buddhismus inner­ 834 835

Samyutta-Nikaya 12,65 (Bodhi, 61). Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 124–139: »Leid und Leben«.

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halb dieser Originarität des Lebens als seinem immanenten SelbstErscheinen allen Erscheinens nicht zutreffen kann. Übereinstimmung mit Buddha und der mystischen Tradition allgemein bestünde aller­ dings darin, dass gleichfalls die Selbst-Bewegung des Lebens ein »Prozess« ist, in dem unsere Ipseität als »Mich« ständig neu geboren wird, ohne jemals zu einem fixierten oder gespiegelten Bild als »Ich« zu gerinnen, welches erst auf der intentional zeitlichen Ebene auftritt. Damit finden auch Karma und Wiedergeburt eine Antwort, denn wo diese Ipseität originär stets neu geboren wird, liegen auch noch keine Taten vor, deren Folgen sich mit der Weltkausalität und Inter­ subjektivität verknüpfen. Vielmehr herrscht im Bereich der originären Geburt zugleich ein unmittelbares »Ich kann«, in dem sich Macht wie Ohnmacht der Passibilität zu ein und derselben Manifestation jeder leiblich-geistigen Potentialität vereinen.836 Unter dieser transzenden­ talen Bedingung des ur-impressional naturierenden Lebens kann dann Buddhas Hinweis gelten: »Nimm Gesehenes nur als Gesehenes, Gehörtes nur als Gehörtes, Gespürtes nur als Gespürtes, Gedachtes nur als Geachtes. So kannst du dich schulen. [...] dann bist du nicht mehr dort [im Gesehenen-Gehörten-Gespürten-Gedachten]; dann ist das [dort] nicht mehr dein [Besitz]; und dann bist du weder in dieser [Welt] noch in der nächsten Welt noch in der dazwischenliegen­ den Welt.«837 Die Einheit von Freude/Schmerz in der Selbstgebung des Lebens impliziert daher eine rein immanente »Seligkeit« als Grundoffenba­ rung unserer transzendentalen Ipseisierung, nämlich die »Freude zu leben«, antatt nichts zu sein. Da dieses Leben rein ursprünglich allein auf sich selbst »lastet«, das heißt ohne Distanz in sich selbt gegeben ist, ereignet sich ein solches »Ur-Leiden« als Sich-SelbstErleiden des Lebens in jedem Schmerz wie auch in jeder Freude. Als Selbstbindung des Lebens an sich selbst ist solch selbstaffektive »Last« zu keinem Augenblick von uns aufkündbar. Dies heißt in Bezug auf die mystische wie buddhistische Tradition, dass es keinerlei Vgl. M. Henry, »Potentialität«, in: R. Kühn, »Ich kann« als Grundvollzug des Lebens, 11–26, hier 21f., mit Bezug auf die All-Erlösung durch die Bodhisattvas. Dies kann durch die buddhistische Annahme ergänzt werden, dass der Buddha gleichfalls ein kosmisches Prinzip darstellt, das bereits in der Vergangenheit als »Weg der Befreiung« wirkte und dies weiterhin in Zukunft tun wird; vgl. B. Bodhi (Hg.), In den Worten des Buddha, 16f. 837 Udana I,10; zit. F. Schäfer, Verse zum Aufatmen. – Die Sammlung Udana und andere Strophen des Buddha und seiner erlösten Nachfolger, Stammbach 1998, 10f. 836

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meditative, kontemplative oder ekstatische Methode gibt, um aus dieser Ursprungs-Faktizität heraustreten zu können, die niemals Gegenstand irgendeiner »Begierde« von uns gewesen ist, sondern in jeglicher Gegenwart als unverfügbares »Mehr« des Lebens anwest. Grundlegender als alle aufgesuchte Gelassenheit, Befriedung oder Aufhebung im Bereich von Vorstellungen, Wünschen und Ängsten, welche asketische wie buddhistische Methoden anbieten,838 ist daher die Einheit des Sich-Erleidens und Sich-Gebens des Lebens selbst als Ermöglichung jeglicher Erscheinung dank lebendiger Subjektivität als Selbsterprobung. Hier sind Leben und Ipseität eins in der Koin­ zidenz von Freude/Schmerz, welche keine coincidentia oppositorum bildet, sondern die Unmittelbarkeit des Lebens in seiner Einfachheit. Dies schwebte allen apophatischen Annäherungen in Mystik und Buddhismus vor, da hier zugleich auch alle Sprachpriorität bzw. Symbolisierung und Metaphorisiierung aufgehoben ist. Denn Name wie Begriff (nama) beinhalten sowohl – lebensweltlich gesehen – eine Vorgabe allgemeiner Bedeutungen wie eine je eigene Rhetorik, so dass hier im Sinne buddhistischer Sprachphilosophie von »Wort« oder »Rede« ein Anhaften an abstrakte Allgemeinbegriffe wie an nur je subjektive Bedeutungen gegeben sein kann,839 denen allerdings ebenfalls das Leben vorausliegt, Eine nicht empirische wie nicht spekulative Analyse bestätigt mithin die Unaufhebbarkeit des originären Leidens als Sich-Erlei­ den des Lebens, wodurch sie der »Ersten Edlen Wahrheit« Buddhas »Alles ist Leiden« eine zusätzliche Tiefe verleiht, insofern dadurch die historiale Lebensidentität als permanenter Offenbarungsprozess in allem Erscheinen ausgedrückt wird. Letzteres meint radikal phäno­ menologisch, dass wir in uns selbst die letzte Wirklichkeit berühren, die auch nach den methodischen Ansprüchen im Buddhismus kei­ nerlei Vorstellungssystem unterliegt. Wenn dies zutrifft, dann wird meta-genealogisch ebenfalls jede heuristische Unterscheidung von Ontologisch/Existentiell bzw. Transzendental/Empirisch schließlich aufgehoben, insoweit die notwendige anfängliche Selbstphänome­ nalisierung des Erscheinens in jeglicher Erscheinung gegeben ist. Mit anderen Worten fallen Selbstgebung/Gegebenheit als Affizie­ Buddha selbst hat die anfängliche Phase einer »selbstquälenden Askese« hinter sich gelassen, um »Glückseligkeit und Freude« in der Versenkung zu finden, wodurch das »Erwachen« nicht aufgehoben wurde; vgl. Majjhima-Nikaya 36 (Bodhi, 57). Siehe ebenfalls R.R. Gonsar, Essentielle Punkte der Meditation, Le Mont Pélerin 2003. 839 Vgl. W.K. Essler u. U. Mamat, Die Philosophie des Buddhistmus, 139ff. 838

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rendes/Affiziertes zusammen, so dass gleichfalls die permanente Oszillation von Freude/Schmerz stets dieselbe Selbstoffenbarung des Lebens als Einheit in sich birgt. Dieses ursprüngliche »Wie« des Erscheinens ist niemals von irgendeinem Erscheinenden im Sinne einer unaufhebbaren Präsenz getrennt, so dass wir in allem die origi­ näre Wirklichkeit in unseren leiblich-geistigen Vollzügen berühren. Damit sind Stufen und Variation von Schmerz/Leid in deren Inten­ sität als »Empfindung« nicht geleugnet, die mentale und asketische Techniken teilweiser Distanzierung herbeirufen können, ebenso wie Medizin und Therapie. Aber der Wille, jenes Leid, welches mit dem ursprünglichen SichSelbst-Erleiden des Lebens identisch ist, zum »Erlöschen« bringen zu wollen, ist eine phänomenologische Unmöglichkeit, welche an der grundsätzlichen Selbstgebung des Lebens durch sich selbst als dem »Realen« schlechthin scheitert. In diesem Sinne ist ein »Versiegen des Begehrens« als »Dürsten« in ursprünglich naturierender Hinsicht undenkbar, was eine Freiheit des zu erkennenden Zusammenhangs nicht ausschließt, keine Gegebenheit mit dem »Selbst« zu identifi­ zieren. Jeglicher Zustand, der im augenblicklichen Bestehen eine Form der Gegenwärtigkeit zu implizieren scheint, ist in der Tat nicht das unmittelbare »Lebenswissen« meiner Affektabilität als solcher, weshalb jegliche Annahme irgendeiner »Ordnung des Geistes« nur die Abhängigkeit von einer Signifikantenkette mit ihrer allgemei­ nen Gesetzmäßigkeit bedeutet. Wird dies »Durst nach dem Leben« genannt,840 dann betrifft dies allein ein »Gewordenes«, von dem man nicht lassen will, oder ein Zukünftiges, welches für den weiteren »Bestand des Ich« erwartet wird. Im originären Sinne jedoch unter­ liegt das Leben keinerlei »Durst« als »Begierde«, da das Selbst-Begeh­ ren des Lebens als seine immanente Selbst-Bewegung zugleich die Fülle seiner eigenen Wirklichkeit stets schon einschließt. In diesem Sinne konnte selbst Buddha in der tiefsten Versenkungsstufe dieses Leben nicht aufheben, da »nur noch die Spur von Bedrückendem, die in dem mit den sechts Sinnen ausgestatteten Körper besteht, weil er noch lebt.«841 Die Verbindung von Leiden/Ich im Buddhismus beinhaltet mithin phänomenologisch die originäre Gegebenheit von Subjektivi­ Vgl. ebd., 135f. K. Schmidt (Hg.), Buddhas Reden. Majjhimanikaya. Die Sammlung des buddhis­ tischen Pali-Kanons, Reinbek 1992, XIII, S. 121 (Hervorhebung R.K.).

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tät/Ur-Passibilität des Lebens, sofern die Negation des Ich nicht als eine logische Forderung der Aufhebung der egohaften Ursächlichkeit des Leidens gesehen wird, sondern als Hinweis auf die ältere Erschei­ nensrelation von Subjektivität/Leben als reinem »Wie« bezogen wird. Denn jede Affektion als Freude/Schmerz ist selbstreferentiell, da sie als Ipseisierung erprobt werden muss, um überhaupt sein zu können. Leiden impliziert stets ein »Erleiden« in der ersten Person, so dass eine Interpretation vom Mentalen, Geistigen oder Erkennen aus, wie in der buddhistischen Deskription, eine Schwierigkeit, wenn nicht sogar Widersprüchlichkeit enthält – nämlich das Entstehen des Ich durch ein »Nicht-Wissen« hinsichtlich des ursächlichen Werdens der Phänomene. Die Gläubigkeit an die Dauer von Objekten und ihrem mentalen Träger als »Selbst« kann nicht von einem formalen Konzept des »Ich« abhängig gemacht werden, da selbst eine solche Sichtweise eine transzendentale Ermöglichung voraussetzt – die Ipseität als »Mich« der Lebensoffenbarung in jedem Ich und jeder Erscheinung. Das Ich als »Nichts« könnte sich nicht irrtümlicherweise einbilden, »etwas« zu sein, wenn originär keinerlei phänomenologische oder selbstaffektive Materialität als Phänomenalisierung vorläge. Die ontologischen Grundverhältnisse liegen selbst jeglicher Illusion stets voraus und können nicht zeitlich oder intentional hervorgebracht werden, da sie sonst ohne eine konstituierende »Trägerschaft« wären, wobei diese als »Un-Grund« einen immanenten Offenbarungspro­ zess des Lebens und keine seinsmäßige Substanz bildet. Dass Welt und Empfindungen ein »Erleiden« über die Sinne sowie durch begriff­ liche Beziehungen beinhalten, ist daher nicht in Frage zu stellen. Auch nicht das Weltsein als eine je eigene Welt, die keine »Welt an sich« beinhaltet, was eine Abstraktion wäre, wie schon Husserl ausführlich aufgewiesen hat.842 Aber diese Veränderung von Wahrnehmung und Bewusstsein als Prozess des Werdens und Vergehens fußt auf einer vorherigen Ermöglichung desselben als ur-impressionaler Verleben­ digung durch die Immanenz des Lebens. Worin bestand mithin genau der Übergang des Siddharta Gaut­ ama in den Buddha Sakyamuni, das heißt des »vollkommen Erwach­ ten«? Löste sich für ihn nur das begrenzt psychologische Ich auf oder offenbarte sich ihm ein »Selbst« als »Sich«, das jeglicher sekun­ 842 Vgl. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzen­ dentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (Husserliana VI), Den Haag 1976.

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dären Ich-Konzeption vorausliegt? Selbst wenn der »erwachte Budda« ein Schweigen hinsichtlich einer solch älteren Ipseisierung bewahrt haben sollte, so ist im Buddhismus nach ihm ein breiter Traditions­ strom gegeben, der die Wirklichkeit eines jeden »Selbst« als Wurzel der geistigen Unkenntnis anprangert.843 Um Missverständnisse für unseren Vergleich zu vermeiden, der auch das originäre Wesen der Mystik betrifft, so bedeutet die Ipseität keine »Qualität« des Lebens, sondern sie ist das Leben selbst. Denn ein Leben, welches kein ständig proto-relationaler Bezug zu sich selbst wäre, bliebe eine phänomenologische Unmöglichkeit bzw. ein konzeptueller Wider­ spruch. Um diesen absoluten, einfachen und originären Charakter des Lebens auszudrücken, griff Michel Henry zur Kategorie des schon erwähnten »Sich« (le soi).844 Man kann Gautama/Buddha sicher zugestehen, in seiner »edlen Suche«, um die »Geburt« als Ursache allen »Entstehens und Vergehens« über einen nicht mehr »anhaftenden Geist« an dessen Bewusstseinszustände hinter sich zu lassen, alle subjektiven Selbsterprobungen durchquert hat, die sich im Bereich des Empfindens, Wahrnehmens und Wollens in einem Men­ schenleben stellen. Dass er so »Zuversicht und Vereinheitlichung« des Geistes gewann, um »Friede und Glückseligkeit« zu kennen,845 gehört in den Bereich jeder lebendigen Selbsterprobung, sofern sie originär von Begehren/jouissance geprägt ist. Auch der Anspruch, nur »durch eigene Verwirklichung und direkte Einsicht« diese Wahrheit (dhamma) erreicht zu haben, spricht für eine solche Selbsterprobung, die sich allein auf das eigene Erfahren ohne Abhängigkeit von formal analytischen Deduktionen oder traditionellen Lehren stützt, auch wenn er sich mit solch brahmanischen Vorgaben auseinandergesetzt hat. Aber den »Kreislauf der Geburt« aufzuheben, um sich an die »Anfanglosigkeit« vor jeder »Geburt« zu begeben, schließt gerade ein, letztere anders zu konzipieren denn als ein »Entstehen« durch feststellbare »Veränderungen«. Diese Anfanglosigkeit als Originari­ tät des Lebens ist die rein immanente Wirklichkeit von Geburt/Sich im transzendentalen Sinne, die keiner Veränderung mehr unterliegt, sondern die rein phänomenologische Radikalität der Selbsterpro­ Vgl. W.K. Essler u. U. Mamat, Die Philosophie des Buddhismus, 89–118 u. 171–192. 844 Vgl. »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Frei­ burg/München 1997, 186ff. 845 Majjhima-Nikaya 26 u. 36 (Bodhi, 48f. u. 57f.). 843

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bung in deren Unmittelbarkeit wie Einfachheit ausmacht. Dadurch wird jede »Weder-Wahrnehmung-noch-Nicht-Wahrnehmung« hin­ terschritten, wie es Buddha selbst gegenüber ihm vorausgehenden asketischen Lehrern einforderte.846 Denn was im Leben ins Leben gelangt, gewinnt durch diese – durch nichts ersetzbare – originäre Geburt eine transzendentale Affektivität, die von allen Phänomemen in der dritten Person zu unterscheiden ist, da letztere kein Sich in sich trägt und niemals tragen wird. Dieses Sich fundiert sich nicht selbst, was die Grundlage aller Religion und Mystik ausmacht, wie auch der Buddhismus weiß, da er eine andere, »todlose« Wirklichkeit denn die des zeitgebundenen »Ich« als Wahrheit annimmt, selbst wenn er diese rein negativ über die Leere oder das Nichts bestimmt.847 Wir nannten schon des öfteren das »Ich«, welches als transzendentale Affektivität im Leben geboren wird, ein »Mich im Akkusativ«. Dadurch wird zusätzlich deutlicher, dass kein unmittelbarer Übergang zwischen Buddhismus und einer materialen Phänomenologie dieses »Mich« bestehen kann, insoweit letzteres gerade keine »Illusion« darstellt, sondern die ursprüngliche Wirklichkeit als das »Reale« der Subjektivität im Sinne des originären »Wie« als Erscheinen selbst. Jedes Ich oder Ego im phänomenolo­ gischen Sinne ist originär naturiert, aber insoweit es eine absolut subjektive Ipseisierung impliziert, kann es nicht auf einen abstrakten Inhalt reduziert werden, um durch eine solch konzeptuelle Formali­ sierung auf eine bloß nominalistische Wirklichkeit zurückgeführt zu sein. Denn das »Mich« als selbstaffektive Subjektivität umfasst unmittelbar alle lebendigen Potentialitäten, die zu jedem Augenblick innerhalb eines originär praktischen Lebenswissens vollzogen wer­ den, wozu auch alle apophatischen oder mystischen Bemühungen gehören. Gegenüber dem Buddhismus bleibt deshalb festzuhalten, dass das ursprüngliche »Ich« auf solchem Hintergrund weder eine Frucht des Unwissens über die perzeptiven und willentlichen Kau­ salverkettungen darstellt noch durch ein erwachtes Bewusstsein im Sinne eines autonomen Erkenntnisweges aufgelöst zu werden ver­ mag. Es trägt nämlich bereits eine absolute Erkenntnisweise in sich, welche als originäres »Wie« aller subjektiven Wirklichkeit identisch mit dem Sich-Selbst-Erleiden des Leidens als »Sich« der lebendigen Digha-Nikaya 21 u. Majjhima-Nikaya 26 (Bodhi, 30 51). Majjhima-Nikaya 26 (Bodhi, 65f.); dazu auch V. Gunaratna, Buddhistische Betrachtungen über den Tod, Kandy/Sri Lanla 2000.

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Passibilität ist. Ein solches »Mich« auf der Grundlage des »Sich« vermag infolgedessen als Erstgegebenheit aller Formen in der ersten Person durch keinerlei dezentrierende oder reduzierende Kritik aufge­ hoben zu werden, sondern es besitzt in sich selbst den sowohl singulä­ ren wie umfassenden Charakter einer konstitutiven Wirklichkeit, die in der absoluten Unaufhebbarkeit des Lebens als solchem ruht. Buddhismus, Mystik wie radikale Lebensphänomenologie tref­ fen sich, wie andere ethische und spirituelle Traditionen, in der Analyse der Sorge des »Ich« als einer Suche nach ständiger Befrie­ digung seiner selbst, ohne hier näher auf den »Sorge«-Begriff bei Heidegger als Existenzial einzugehen. Aber diese Übereinstimmung kann nicht die angeführten ontologischen Unterschiede überdecken, wie der Ursprung dieses »Ich« wahrgenommen wird – als origi­ näres Sein in der Apriorität des Lebens oder als Ergebnis einer Illusion über sich selbst. Ethische Dekonstruktion und Verständnis der ursprünglichen Wirklichkeit der Ipseität als unumstößlicher »Un-Grund« jedes menschlichen Individuums können also beide zu einer Kritik der »transzendentalen Illusion« eines ausschließlich intentional besorgten Ego führen. Der mögliche »Durchbruch zur Mystik« bei solch übereinstimmender ethischen wie radikal phäno­ menologischen Annäherung birgt für solche Ich-Problematik jedoch noch andere Konsequenzen hinsichtlich eines originären principium individuationis. Nämlich die Aufhebung schlechthin aller kulturellen wie geschichtlichen Unterschiede von Jude/Grieche, Mann/Frau und Herr/Sklave gemäß Gal 3,28, ohne dabei in die Abstraktion eines allgemeinen Bewusstseins zu verfallen, wie es die Konzeption eines universalen Atman-Begriffs oder auch Husserls zeitlich bestimmter Bewusstseinsfluss nahelegen könnte.848 Diesbezüglich muss auch die zusätzliche Frage erlaubt sein, ob die »edle Suche« gemäß Buddha, um »Sicherheiten« über die »Vier edlen Wahrheiten« hinsichtlich Geburt und Leidlosigkeit zu gewinnen,849 nicht noch eine »Sorge« impliziert, auch wenn die Entdeckung der Wahrheit einem je eigenen prüfenden »Berühren« unterworfen wird. Da dieses seinerseits eine »Begeisterung« beinhalte, die den Willen entfache, lässt sich fragen, 848 Vgl. A. Hillebrandt (Hg.), Upanishaden – indische Weisheit aus Brahmanismus und Upanishaden, Düsseldort/Köln 1958; C. Oetke, »Ich« und das Ich. Analyti­ sche Untersuchungen zur buddhistisch-brahmanischen Atmankontroverse, Stuttgart 1988; E. Husserl. Die Idee der Phänomenologie, Hamburg, 1986, 27ff. 849 Samyutta-Nikaya 42,11 (Bohdi, 85f.).

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ob damit nicht eben ein ungeklärtes Verhältnis von Sorge/Begehren um »Sicherheit« bestehen bleibt,850 welches nicht der ursprünglichen Aufhebung aller transzendenten Meinungen im Sinne von Un- und Fehlwissen entspricht. Ohne Zweifel lenkt der Buddhismus die Kon­ zentration auf den jeweiligen Wahrnehmungs- wie Erkentnisvollzug hin, aber das »Hier« und »Nicht-Dort« ist nicht nur eine Reduk­ tion innerhalb der Räumlichkeitsvorstellung, sondern die originäre Ermöglichung aus der absolut subjektiven »Situativität« des Lebens heraus, welche erst jedes »Hier und Jetzt« begründet: »Siehst du, so kann das nur Sehen sein. Hörst du, so kann dies nur Hören sein. Denkst du, so kann dies nur Denken sein. Erkennst Du, so kann das nur Erkennen sein. [...] Dann bist du nicht hier, wenn du nicht hier bist. Dann bist du nicht hienieden, nicht drüben, nicht dazwischen. Dies ist des Leidens Ende.«851 Die Selbstgebung des Lebens entreißt in ihrer Impressionabili­ tät die transzendentale Subjektivität als Ipseität dem ontologischen Nichts. Aber diese Ur-Präsenz als Ermöglichung jeglicher Gegen­ wärtigkeit von Erscheinung entspricht keinem bloßen Konzept oder einer rein spekulativen Voraussetzung, sondern als originäre Phäno­ menalisierung ist dadurch gerade eine effektive Phänomenalisierung impliziert. Sie lässt Individuum/Affektivität als prinzipielles Empfin­ den-Können für immer eins sein, mithin als unmittelbare Selbstoffen­ barung des Leben in jedem leiblich-geistigen Vollzug. Dieses trans­ zendentale Individuum als Ipseität und Subjektivität in originärer Singularität kann daher auch nicht ursprünglich mit einem empiri­ schen »Person«-Begriff korrelieren, dessen Begrenzung hinsichtlich illusionärer »Persönlichkeits«-Vorstellungen im Buddhismus anvi­ siert ist.852 Das »Mich/Ich« als Selbst unter Ausschluss aller Person-, Raum- und Zeitaspekte ist daher ein radikales Individuum, welches in seiner Ur-Faktizität nur durch das je gegebene Empfinden-Können in der Originarität des Lebens gekennzeichnet ist. Deshalb kann die Analyse des »Ich« auch nicht bei den einzelnen Empfindungen und ihrer Verbindung mit kausalen Bewusstseinszuständen stehen bleiben, da der Fluss dieser Zuständlichkeiten als Empfindungs- und Majjhima-Nikaya 95 (Bodhi, 91ff.). Udana I,10 (Schmidt-Glintzer, 122). 852 Vgl. dazu die Kommentare von B. Bodhi (Hg,), In den Worten des Buddha, 35, 286f., 343 u. 400, einschließlich des »Ich-Dünkels« als Einbildlungsphänomen, ebd., 358f. 850

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Denkprozess nicht autonom ist, sondern in einer transzendentalen Verlebendigung als Impressionabilität wurzelt, wie sie Descartes und Maine de Biran schon herausgearbeitet hatten.853 Insoweit daher unsere »Körperlichkeit« in einer subjektiven Ur-Leiblichkeit ruht, ist sie nicht der Vernichtung zu überantworten, wie Buddhas Gleichnis vom Feuer und Holz aufweisen will: »Die Körperlichkeit, durch welche man die Vollendeten kennzeichnen möchte: [...] ihre Wurzeln sind zerstört, sie ist gleich einem Palmbaum ausgerottet, sie ist der Vernichtung überantwortet, so dass sie in Zukunft nicht mehr entstehen kann.«854 Vor jedem Person-, Vorstellungs- oder Bewusstseins-Ich im reflexiven Sinne hat mithin immer schon die originäre generatio eines »Mich« stattgefunden, das als reine Affektabilität ebenfalls die Grundlage aller Mystik bildet. In jedem Augenblick vollzieht sich die Selbstoffenbarung der Präsenz des originären Lebens, weshalb in jeder Ich-Form, die buddhistisch als kausaler Fluss von Bewusstseins­ zuständen gedacht wird, deren scheinbare Autonomie als eine nicht originäre Bewusstseinsstruktur der Gegen-Reduktion zu unterwerfen bleibt. Daher ist die Immanenz des Absoluten, Einen oder Einfachen nicht am Ende irgendeines ethisch oder asketisch methodischen Weges zu erwarten,855 sondern sie ist in jeder impressionalen Indi­ viduierung als Ipseität bereits ebenso unmittelbar wie unzerstörbar gegeben. Die Aufreihung der Person- und Geiststruktur im Buddhis­ mus als Geisteszustände, Körpersinne, energetische Begleitkräfte wil­ lentlicher und gefühlsmäßiger Entfaltungskräfte zur Bewusstseins­ verbindung einschließlich Empfindungs- und Unterscheidungskraft im Erkenntnisakt (skandas) beinhalten in all dem das genannte Ankünftigwerden des Lebens als Potentialität von leiblich-geistiger Selbstimpressionabilität schlechthin. Ohne diese notwendige, mate­ rial phänomenologische Bedingung bliebe der Buddhismus nur eine Kategorisierung von Bewusstseins-, Willens- und Gefühlsaggrega­ ten, was erklären dürfte, warum einige Interpretationen ihn auch vornehmlich heutzutage in der Nähe von Naturwissenschaften und Neurobiologie ansiedeln, da sie in der gegenwärtigen und zukünftigen

Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München 2002, 94ff. u. 216ff. 854 Majjhima-Nikaya I (Schmidt-Glintzer, 126). 855 Vgl. »Lohn der Asketenschaft« (Neumann, 61–89). 853

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Wissenschaftssprache die einzig adäquate Darstellungsform des Bud­ dhismus erblicken.856 Wenn Mystik wie Buddhismus hingegen gerade nicht ohne ein originäres Empfinden-Können verständlich sind, dann bleibt die leiblich affektive »Potentialität« als originäre Individuierung vor allen anthropologischen und kulturellen Differenzierungen die Ver­ stehensvoraussetzung für die Gesamtheit der erhebbaren subjektiven Phänomene einschließlich ihrer meditativen Komponenten, die auf eine »Entleerung« von Ego, Subjekt, Person etc. als konditionierte Wahrnehmungs- oder Körperwesen abzielen. Die »Ur-Leiblichkeit« (Fleisch) als radikal phänomenologsches »Bewusstsein« im Sinne des originären »Mich« schließt all diese Vollzugsmöglichkeiten des Lebens in sich ein, welche in dessen »Über-Mächtigkeit« wurzeln, sich selbst als Leben zeugen zu können, in dem wir geboren werden. Solch originäre Potentialität lässt sich keiner zusätzlichen Reduktion mehr unterwerfen und bildet daher eine nicht weiter dekonstruier­ bare Wirklichkeit, die vor allen empirischen Verknüpfungen von Empfindungen und Vorstellungen am Werk ist. Welthafte Kategorien wie auch ein angenommener Wiederverkörperungsprozess vermögen dieses »Ur-Können« als transzendentale Bedingung unseres subjektiv gegebenen »Ich kann« nicht einzufangen, weil es in seinem »UnGrund« unmittelbar von sich selbst Besitz ergreift und demzufolge jeder buddhistischen oder anderen introspektiven Beobachtung ent­ geht. Zum Verständnis des Buddhismus sei allerdings in Erinnerung gerufen, dass das »Erkennen« gleich einem feinen Körper der Trä­ ger von »Wiedergeburt« ist. Gleich nach dem Tod geht ein solches Erkennen in seiner Körperhaftigkeit in einen neuen Mutterschoß ein, wodurch die Grundlage der Berührung zwischen Willensregungen und Sinnesorganen mit den äußeren Objekten als Bindung eines neuen Daseins gegeben ist.857 Die ur-pathische Einheit jeder Ipseität ist jedoch die ursprüngli­ che Affektivität ohne jeden empirischen Gehalt in der Unsichtbarkeit wie Unbenennbarkeit der rein phänomenologischen Effektivität, die auch ein »Ur-Fleisch« genannt wurde, welches in der christlichen Mystik mit der Inkarnation Christi zusammenfällt und alles Begehren letztlich motiviert. Die Ipseität vermag daher auf keine begrenzte 856 Vgl. W.K. Essler u. U. Mamat, Die Philosophie des Buddhismus, 51f.; G. Rabten, Stufen des Bewusstseins, Le Mont Pélerin 2000. 857 Vgl. E. Frauwallner, Die Philosophie des Buddhismus, 19.

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Erscheinungsweise eines Ego reduziert zu werden, denn letzteres bildet nur eine Manifestationsform des Lebens, welches in einer älteren Selbst-Ermöglichung ruht. Wie wir schon sagten, gilt daher das eigentliche »Mitgefühl«, welches im Buddhismus eine zentrale ethische wie soteriologische Rolle einnimmt, nicht der »Illusion« eines jeden Ich, um sich daraus zu befreien, sondern es bedeutet als ursprüngliches »Ko-Pathos« die unmittelbare Anerkennung und Förderung jeder Ipseität ohne irgendwelche Einschränkung. Das Lei­ den ist dann kein Epiphänomen mehr, sondern als gegründet im Sich-Erleiden des Lebens hat sich darin bereits eine gleichursprüng­ lich ko-pathische Gemeinschaftlichkeit gebildet, in der alle Bezüge zwischen Individuen und Gruppen wurzeln. Damit erwächst das »Mitgefühl« aus keinem Bedauern vor einer »Unkenntnis« bezüglich des »Ich«. Vielmehr ergibt es eine unmittelbare Begegnungsmöglich­ keit diesseits aller mundanen Regelhaftigkeit, die in der christlichen Mystik auch mit der »Barmherzigkeit« in Zusammenhang gebracht wurde, wie sie sich aus dem Leben Gottes und Christi als imitatio unmittelbar ablesen lässt und analog im Buddhismus als lebensschüt­ zender »Einklang mit dem Dhamma« wieder zu finden ist: »Da gibt jemand das Zerstören von Leben auf, enthält sich vom Zerstören von Leben. Nachdem er Knüppel nnd Waffen beiseite gelegt hat, lebt er verantwortungsbewusst, voller Güte und Mitgefühl mit allen lebenden Wesen.«858 Wenn jeder »Andere« daher eine Ipseität ist, die in ihrem imma­ nenten Wesen jedem psychologischen, gesellschaftlichen, ethnischen, geschichtlichen oder religiösen Verdacht entgeht, dann verhilft der Buddhismus aus der Sicht einer lebensfundierten Mystik zu einer Annäherung an die individuelle wie gemeinschaftliche Wirklichkeit des Lebens, welche keinen moralisierenden Betrachtungen mehr unterliegt. Die phänomenologischen Divergenzen, welche hinsicht­ lich der Einschätzungen von Ich/Leiden aufgetreten sind, ergeben mithin den Anlass zu einer prinzipiellen Vertiefung, in welcher der Buddhismus die eigenen Voraussetzungen überprüfen kann, um seine methodischen Vorgaben im originären Sinne einlösen zu können, ohne dabei einem westlichen Modell des »personal Absoluten« oder aufklärerischer »Selbstautonomie« unterworfen werden zu müssen. Zumindest haben wir den Dialog in dieser Perspektive hier geführt, um in der Selbstgegebenheit von Ipseität/Potentialität eine rein 858

Majjhima-Nikaya 41,11 (Bodhi, 148).

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phänomenologische Wirklichkeit auszumachen, welche diesseits der kulturellen und geschichtlichen Unterschiede mit Hilfe der originär subjektiven Modalitäten des Erscheinens zugleich eine »kompara­ tive Mystik« ermöglicht, die abschließend noch genauer erörtert werden soll.859 Mystik, Buddhismus und Lebensphänomenlogie als Denken und Praxis nicht dualer Wirklichkeit als Ursprung, den wir auch als selbstaffektive Immanenz bezeichneten, lässt Idealismus wie Mate­ rialismus als versuchte Integrationsweisen des lebendig »Realen« hinter sich. Der »ontologische Monismus«,860 der mit solcher Imma­ nenz als ursprünglicher Einheit verbunden ist, findet sich bereits im »Maya«-Begriff des hinduistischen Denkens der Veden.861 Dort ist solcher Monimus an den illusorischen Charakter der Welt gebun­ den, insofern diese auf eine Schöpfung durch die menschliche Ein­ bildungskraft verweist. Nur Brahma ist wirklich und wahr, so dass er sich unter dem »Schein« des Universums präsentiert, welches eine subjektive Illusion darstellt. Als Manifestation des Absoluten verstanden, kann jedoch ebenfalls ein solch kosmologischer Begriff der »Illusion« in phänomenologischer Hinsicht nicht ausschließlich negativ sein. Denn genauer betrachtet, bedeutet hier die Illusion nicht den Schein dessen, was sich uns als Welterscheinung zeigt, sondern unseren spontanen Wahrnehmungsglauben in deren äuße­ ren Charakter als einer grundsätzlichen Objektivität. Letztere würde als reine Außenheit jedoch jegliche Erscheinung verunmöglichen, weil die Außenheit eine unüberwindbar phänomenologische Distanz beinhaltet, so dass beispielsweise der Gesang eines Vogels niemals bis zu mir dringen würde, wo er eine affektive Bestimmung meines originär subjektiven Lebens bildet. Wäre der Kosmos insgesamt eine solch reine Außenheit, dann wäre er als prinzipielle Äußerlichkeit, Distanz oder Transzendenz ein ontologisches Nichts für uns. Die Illusion als »Maya« wäre daher bloße Ideologie, wenn es sich dabei nur um einen nicht ontologischen Charakter der Welt handeln sollte. Der vedische »Schleier der Maya« bzw. die »Illusion des Ich« im Buddhismus intendiert daher keine Wirklichkeit, die sich diesseits Vgl. J. Hatem, La rosace: prolégomènes à la mystique comparée, Paris 2008. Vgl. M. Henry, L'essence de la manifestation, Paris 1963 (dt. Das Wesen des InErscheinung-Tretens, Freiburg/München 2019), § 11. 861 Vgl. E. Schmidt, Die Voraussetzung einer verborgenen »Einheit« im vedischen und frühbuddhistischen Wissen. Untersuchung von Berhard Uhdes Religionsbegriff in Anwendung auf die altindische Geistesgeschichte, Freiburg/München 2021.

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oder jenseits des Erscheinens der Erscheinung hielte, sondern die Fundierung aller Wirklichkeit im Sich-Selbst-Erscheinen der leib­ lich affektiven Impressionalität als Selbstgegebenheit. Allein diese ermöglicht eine spontane Wahrnehmungsdoxa in die Existenz der Welt, welche transzendental gesehen die ontologische »Gewohn­ heit« des ur-leiblichen »Gedächtnisses« all unserer Potentialitäten oder Affekte als immanenten Leibbewegungen einschließt. »Leben« bedeutet daher stets wirklich im Sinne des originären Selbsterschei­ nens solchen Lebens, welches jeden Zweifel an einen ebenso unmit­ telbaren wie einfachen Lebensvollzug ausschließt. Der onirische Cha­ rakter der vedischen wie buddhistischen Realitätsauffassung meint daher radikal phänomenologisch letztlich nicht, dass Träume und Traum zusammenfallen, sondern dass wir als absolute Subjektivität mit der Selbstgebung des Lebens als ein und demselben »Realen« zusammenfallen. Das heißt, die phänomenologisch ontologische Effektivität besteht in der radikalen Koinzidenz von Sein/Erscheinen in originärer Selbst-Phänomenalisierung. In der »Herz-Sutra«, die als eine der schwierigsten buddhistischen Texte gilt und oftmals kommentiert wurde, lesen wir entsprechend: »Form ist Leerheit, Leerheit ist Form. Form unterscheidet sich nicht von der Leerheit, Leerheit unterscheidet sich nicht von der Form. Was daher Form ist, das ist Leerheit, was Leerheit ist, das ist Form.«862

Es handelt sich in diesem Text weder um einen absoluten Idealis­ mus noch um einen Nihilismus, sondern dieses höchst theoretische Selbstverständnis des Buddhusmus gibt sich als eine Bestimmung der ursprünglichen Identität allen Erscheinens, mithin als eine ursprüng­ liche »Sammlung« – um einen Ausdruck Heideggers zu gebrauchen -, wie sie als Einheit vor allen abstrakten Aufteilungen des Erschei­ nens in unterschiedliche und entgegengesetzte Elemente gegeben ist. Die Selbstheit des »Selben« von Leben, Welt und Ich ist jene als »Ur-Sammlung« sich gebende Einheit, die als absolutes Apriori in der »Herz-Sutra« durch die Einheit von Form/Leere ausgedrückt wird, um in einem radikalen Denken ohne eigentlich theoretische Herlei­ tung eines Systems die in jeder Wahrnehmung erprobte Einheit des Vgl. G. Rabten, Essenz der Weisheit. Ein Kommentar zum Herzsutra, Hamburg 1990; A. W. Haduch, Das Herz-Sutra, Zürich 2002.

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Wirklichen zu unterstreichen. Die Materialität des Erscheinens ist mit anderen Worten die pathische Einheit einer originären Selbstgebung, die als reine Phänomenalisierung mit einem »Bewusstsein« identisch ist, welches zunächst nicht als intentional, sondern affektiv leiblich erprobt wird und daher jeden Vollzug als subjektiv immanente Praxis gründet. Diese steht im Buddhismus als Ethik der Achtsamkeit und des Mitgefühls im Zusammenhang mit dem »Achtfachen Pfad« im Mittelpunkt,863 da in all diesen Verhaltensweisen zugleich die illusi­ onsfreie, nicht objektivierte »Einheit der Erfahrung« als Dhamma gelebt werden kann. »Die Form ist leer«, weil sie nicht zur Ordnung der Empirizität transzendenter Gegenstände der Welt gehört. Und »die Leere ist Form«, insofern die originäre Phänomenalität keine abstrakte Fähigkeit darstellt, äußere Gegenstände über die Sinne aufzunehmen, um ihnen eine raum-zeitliche Konkretion zu verleihen. Vielmehr ist die lebendige Versinnlichung stets schon in der subjek­ tiv konkreten Selbstimpressionabilität gegeben, die ein pathisches Fleisch bildet. Das Unsichtbare wie Unbenennbare, wie es die mystischen Traditionen immer wieder herausgestellt haben, ist mithin die Ursprungswahrheit als Hervorbrechen aller Phänomenalität, welche identisch mit dem lebendig Realen ist. Als unser »Fleisch« benötigt dieses Wirkliche keine ihm fremde Voraussetzung, um diese originäre Entbergung als Selbstaffektion allen Erscheinens zu sein. Die »HerzSutra« sagt dazu in ihrer Sprache: »Alle Dinge dieser Welt erscheinen als Form und als Substanz. Das ist nichts anderes als ihre Leerheit: sie entstehen nicht und vergehen nicht. Sie sind weder rein noch unrein. Sie nehmen nicht zu und nehmen nicht ab.«

Demzufolge ist rein phänomenologisch immer schon alles gegeben, die »Erleuchtung« als »Erwachen« ist unsere Anfangsbedingung ohne weiteren Erkenntnisweg in Bezug auf diesen unabdingbaren Ursprung als stets gegebene Präsenz. »Geborenwerden« im »Ur-Lei­ den« des Lebens ist deshalb identisch mit der Phänomenalität der Phänomenalisierung selbst, zu der keine Schau, Ekstase oder Erkennt­ 863 Vgl. Nyanaponika, Geistestrainung durch Achtsamkeit. Die buddhistische Sati­ patthana Methode, Konstanz 1989.

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nis hinführt, denn außerhalb von uns können wir nicht finden oder erwarten, was wir sind. Deshalb ist das ursprüngliche Begehren auch nicht »Begierde« im Außen, sondern jouissance seiner selbst als die immanente Freude des transzendentalen Lebendigseins, welches in aller Impressionalität – schmerzvoll wie lustvoll – gegeben ist und nicht negiert zu werden vermag. Dem Buddhismus als Herme­ neutik vom »Sinn des Leidens« mit seiner Skepsis wie Negation gegenüber bloß theoertischer Erkenntnis liegt die Selbst-Freude des »Ur-Einen« (Nietzsche) als reine Selbst-Freude voraus, so wie Buddha selbst unmittelbar nach Erlangung seiner Erleuchtung »die Freude der Erlösung genießt«.864 Da hier nicht mehr »der Geist hemmt«, wie die »Herz-Sutra« ihrerseits sagt, »leben die Bodhisattvas aus dieser Freiheit«, um »ohne Furcht zu sein«. Wird dies als originäre »Wahrheit« gesehen, »in der nichts fehlt«, dann ist diese Wahrheit nicht mehr im Bereich der Vorstellung angesiedelt, sondern identisch mit jener Selbstaffektion, in der sich das Leben ständig selbst expli­ ziert, ohne dazu äußeres Sein zu benötigen, da Vergangenheit, Gegen­ wart und Zukunft in der lebendigen Präsenz aufgehoben sind. Die Selbsterprobung dieser Präsenz ist mit anderen Worten die ständige »Selbstumschlingung« (Henry) des Lebens, wo Innen/Außen aufge­ hoben sind, so dass »nichts mehr entsteht und nichts mehr vergeht«, das nicht die Unmittelbarkeit des Lebens in seiner Selbstbewegung ohne Zeit wäre. Wenn Buddha infolgedessen zum Meinungsstreit zwischen Asketen bemerkt, sie blieben in ihren »Ansichten fixiert«,865 dann muss in letzter Hinsicht auch im Buddhismus selbst jede Fixierung aufgehoben sein. Betrachtet man diese Ablösung als das Wesen universaler Mystik, dann sind ebenfalls alle Ansichten über »Ich« und »Selbst« aufzuheben, da im Vollzug solcher Loslösung keine theore­ tische Thematisierung mehr bestehen kann, die wiederum nur eine Weise der äußeren Selbstversicherung dieses Aktes wäre. Dadurch löst sich ebenfalls jedes »Wissen« über ein »Nicht-Wissen« auf, denn letzteres kann nicht mehr intentional gewusst werden, da der Akt der Loslösung nur noch das reine Ankünftigwerden des Lebens als sub­ jektive Ab-gründigkeit ohne jeden Namen und Begriff bedeutet. Der buddhistische »Gleichmut durch Nichtanhaftung« an die Veränderun­ gen der Bewusstseinszustände mit ihren Folgen von Unruhe und 864 865

Mahavagga I,1 (Schmidt-Glintzer, 7 u. 9). Vgl. Anguttara-Nikaya 2,IV, 6 (Bodhi, 29).

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Angst über Gewinn/Verlust durch Gefühlsschwankungen866 führt mithin nur dann zum letzten »Nicht-Wissen«, wenn die »edle Suche« nach dem richtigen Zustand des Bewusstseins als »Unwissenheit« selbst aufgegeben wird. Ohne dogmatischen Wahrheitsanspruch lässt sich dann festhalten, dass in der Inkarnation Christi als Agonie äußerster Verlassenheit das tiefste Anliegen Buddhas selbst verwirk­ licht ist, da innere wie äußere Leere unter der Form von Schmach, Tod und Verlassenheit durch den »Vater« als »Ursprung« selbst zusammenfällt, während Buddha von einer Schar ihn verehrender Mönche umgeben bleibt. Ließe sich ein solcher Wegfall aller inneren wie äußeren Stützen in Buddhismus wie Christentum als mystischer Anspruch aufrecht erhalten,867 dann gälte dies kriteriologisch für alle Religion und Mystik. Denn ihr rein immanenter Vollzug ist von keinerlei Signifikanten als dem »um sich selbst wissenden Subjekt« (SSS nach Lacan bzw. »Selbst« für Bataille) einschließlich irgendeiner fixierten Gottesvorstellung mehr abhängig.868 Die Frage der »Mystik« im Buddhismus beantwortet sich dann nicht länger über traditonelle Begriffe wie Atman bzw. des Abso­ luten, Ungeborenen oder Todlosen, sondern alle kulturellen Traditi­ onsbildungen sind aufgehoben zugunsten einer subjektiv universa­ len Vollzugswirklichkeit des Lebens. Dies bedeutet dann gleichfalls keine bloße »Kontingenz« im Rahmen kontextueller Pluralität,869 sondern die Ablösung des »mystischen Geschehens« von jeglicher »kognitiven Vergegenwärtigung«, die sich noch im Bereich einer Selbstversicherung anstelle eines rein immanenten Lebensvollzugs in seiner radikalen Bildlosigkeit und Unaufhebbarkeit vollzöge. Wenn somit die »Erfahrung« als eine solche Erprobung nicht nur von allen »Begierden« und »Wünschen« abgelöst werden kann, sondern vom weltanschaulichen Hintergrund und dessen Deutungen selbst, wie

866 Samyutta-Nikaya 36,6 (Bodhi, 25f.); vgl. M. Maithrimurthi, Wohlwollen, Mit­ leid, Freude und Gleichmut. Eine ideengeschichtliche Untersuchung der vier aprama­ nas in der buddhistischen Ethik und Spiritualität von den Anfängen bis hin zum frühen Yogacara, Stuttgart 1999. 867 Vgl. die umfassende Lehrrede Buddhas »Zur Erlöschung« (Neumann, 90–182. 868 Vgl. auch E. Fromm, R. de Martino u. D.T. Suzuki, Zen-Buddhismus und Psycho­ analyse, Frankfurt/M. 1971; R. Zwiebel u. G. Weischede, Buddha und Freud – Präsenz und Einsicht, Göttingen 2015. 869 Vgl. M. von Brück, »Christliche Mystik und Zen-Buddhismus«, 147f.

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der Zenmeister Roshi870 dies für den Zusammenhang von Zen/Bud­ dhismus betonte, dann kann dies ebenfalls auf die Methode – sowie die Meister/Schüler-Abhängigkeit871 – selbst angewandt werden. Der Anspruch der »Gegenstandslosigkeit« als völliger Entleerung des Bewusstseins von Wahrnehmungsrelationen über sinnliche Empfin­ dungen und von gedanklichen Begriffsbildungen entspricht daraufhin nicht nur einer »gegenstandlosen Bewusstheit«,872 sondern als Phä­ nomen jeder Mystik letztlich der Aufhebung aller konstituierenden »Bewusstheit« als Unmittelbarkeit der Fülle der durch nichts zu benennenden Selbstgewissheit des Lebens. Da diese Möglichkeit für jede lebendige Subjektivität originär gegeben ist, wie wir sie zuvor mit Hilfe von Selbstaffektion oder Potentialität als »Ur-Fleischlichkeit« aufzeigten, ist solch »mystische Erfahrung« als Selbsterprobung des Lebens ohne weiteren Begriff in jedem Menschen angelegt. Die Bindung der christlichen Mystik an »Schau des All-einSeins« bzw. die »nicht differenzierte Schau allen geschöpflichen Seins« bei zugleich gegebener »personaler Berührung des Abslu­ ten«873 verbleibt dann ebenso eine sekundäre Bedeutungsstruktur wie die »Kensho-Erfahrung« (Wesensschau) als satori im fernöstli­ chen Buddhismus. Selbst die willentlich gemeinte Integration solcher Erfahrung ins alltägliche Leben als Einwirkung in die Struktur der Gesamtpersönlichkeit bliebe noch interpretationsabhängig, da sie zwischen Wahrnehmung/Akt und Deutung oszilliert. Ob Schau oder Deutung – beides Mal bliebe noch die phänomenologische Kategorie der Transzendenz als Voraussetzung gegeben, anstatt sich in der wesensgemäß unbefragten wie unbefragbaren Unmittelbar­ keit des Lebens als dessen Selbstgebung zu bewegen, von der kei­ nerlei Manifestation des Erscheinens ausgenommen ist. Letzeres kennt als Selbsterscheinen in seiner Immanenz keinerlei »weltliche Bedingung« des Bezugs von Ganzheit/Selbst mehr, wie Buddha sie noch annahm.874 Wir können hier nicht weiterverfolgen, inwieweit Methode, Übung, Ordenszugehörigkeit etc. im buddhistischen wie christlichen 870 Vgl. T.D. Roshi, Hannya-shingyo, Das Sutra der Höchsten Weisheit, HeidelbergLeimen 2002. 871 Vgl. K. Schmidt, Buddha und seine Jünger, Konstanz 1955. 872 Vgl. H. Emoniya-Lassalle, Zen-Meditation für Christen, Weilheim 1968, 30ff. 873 Vgl. H. Enomiya-Lassalle, Zen-Buddhismus, Köln 1972, 398. 874 Anguttara-Nikaya 8,61 (Bodhi 26f.).

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Sinne ein elitäres Bewusstsein implizieren, das stets auch institutio­ nelles Wissen mit seinen Diskurs- und Machtansprüchen der »Diszi­ plinierung« beinhaltet, wie Michel Foucault dies für Wissenschaft, Religion und Psychoanalyse detailliert untersuchte.875 Dabei wird stets vom »Menschen« als einem Mängelwesen im Sinne von »Illu­ sion« oder »Sündhaftigkeit« ausgegangen, was zur Folge hat, dass die absolute Ursprungssituation jeder Subjekviität verkannt wird,876 um sie mit dogmatischen oder moralischen Bevormundungen von ihrer Unmittelbarkeit der lebendigen Wahrheit abzuschneiden. Diese ist mit der in jeder Hinsicht unauslotbaren »Nacht« unseres passiblen Fleisches identisch, dessen abgründig »nackte Wahrheit« (Simone Weil) letztlich im Übergang des Sterbens spätestens wieder aufbricht, nachdem unsere originäre Geburt im Leben damit begann. Schweigt nun diese Abgründigkeit des Fleisches als reine Lebensempfängnis in allem diskursiv institutionellen Wissen jeglicher traditionellen Auffassung, wofür die Agonie Christi als von Gott wie Menschen verlassene Gestalt steht, dann ist »Mystik« der tiefste »Schrei der Wahrheit« solch rein subjektiver Erprobung gegenüber allen Bevor­ mundungen, weil sie diese radikale Subjektivität in ihrer originären Lebensaffektabilität niemals erreichen. Erhoffte »Einung« mit Gott sowie die Übung eines »entleerten Bewusstseins« unterliegen daher noch einer solchen Gegen-Reduk­ tion von jener allein unaufhebbaren Wirklichkeit aus, welche dem selbstaffektiven Leben zukommt. Denn unio wie sunyata beinhalten noch Interpretationen erhoffter Wirklichkeiten, die nur der weiteren Bestätigung harren und als intentionale Ziele die unmittelbar gege­ bene Originarität der Subjektivität als Selbsterscheinen des Erschei­ nens verkennen. Denn sie beinhalten eine Distanz zur Unmittelbar­ keit wie absoluten Einfachheit der nie aufgehobenen und dennoch sich stets immanent wandelnden Selbstgebung des Lebens in seiner Selbstbewegung. Wenn wir dergestalt Buddhismus wie Christentum 875 Vgl. Die Regierung des Selbst und der anderen I-II. Vorlesungen am Collège de France 1983–1984, Frankfurt/M. 2011. Für den Buddhismus siehe die »Beicht­ regel« Mahavagga II,3 (Schmidt-Glintzer, 132–137) sowie die Begrenzungen für buddhistische Nonnen und Laien-Nachfolger, ebd., 143–148 u. 149–153, wie auch B. Bodhi (Hg.), In den Worten des Buddha, 353f., wonach Haushaltsführung und Begierdelosigkeit letztlich nicht vereinbar sind. 876 Vgl. zur absoluten Situativität R. Kühn, Leben als Präsenz und Immanenz. Hinführung zu Grundfragen der Phänomenologie, Dresden 2021, 127ff., in Auseinan­ dersetzung mit Sartre.

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und andere östliche mystische Traditionen877 in ihrer möglichen Zugänglichkeit zur radikalen Apriorität des Lebens ernst nehmen, dann folgt daraus, sowohl das Verhaften in der Dichotomie von Natur/Gnade bzw. von Satori/Entleerung aufzuheben. Denn all dies ist bereits in der reinen Potentialität des Lebens gegeben, sofern dieses in seiner Absolutheit weder von einem »Über-Natürlichen« noch von einer Erreichung des »Gleichmuts« gegenüber Angst und Unruhe oder der »Zerstreuung« abhängig ist.878 Auch der Begriff »wilde« oder »proto-religiöse Mystik« setzt noch eine solche Dichotomie voraus,879 so dass hier unser Ergebnis nur lauten kann, dass jedes Leben bereits »Mystik« ist und in den Weisen der unmittelbaren Einfachheit unzählig alltäglicher Existenzen gelebt wird, ohne einer metaphorisierten Thematisierung zu bedürfen. Jedes Individuum ist in seiner selbstaffektiven Originarität eine Weise des Lebens selbst, durch sich zu leben, eine absolute Offenbarung desselben, die keiner Hinzufügung von außen bedarf. Und dies hinein bis in »Schuld« und »Versagen« oder »Wiedergeburt«, die nur die »Über-Mächtigkeit« des Lebens unterstreichen, uns unabhängig von jeder Bedingung auch dann noch das Leben ohne Rückhalt weiter zu gewähren.880 Ohne selbstaffektives Vertrauen in die Wahrhaftigkeit Christi oder Buddhas sowie in die angemessene Weitergabe ihrer Lehren durch Apostel bzw. Lehrmeister wäre keine Verwirklichung entspre­ chender Religion und Mystik möglich, die zugleich in ihrem Erlö­ sungsaspekt als »Geschenk« oder »Erwachen« empfunden werden. Würde jedoch das absolut phänomenologische Leben keinen unzer­ störbar immanenten Bezug zu sich selbst besitzen, den wir als seine nicht intentionale, unmittelbare »Selbstgewissheit« bezeichneten, welche jede Subjektivität in ihrem Gefühl unverlierbarer Lebendig­ keit verwirklicht, dann wäre auch keinerlei doxisches Vertrauen in irgendeine Tradition denkbar. Die Frage besteht dann darin, ob das Verhältnis des Menschen zu »Gott« oder zum »Nirvana« als vollende­ ter Buddhaschaft durch eine »Bewusstseinsüberformung« bestimmt 877 Vgl. etwa F. Lauwaert, »Manger de l'air, manger des mots. La recherche de l'aliment d'immortalité dans le taoisme«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un de l'antiquité à nos jours, 9–22. 878 Samyutta-Nikaya 36,6 u. 22,7 (Bodhi 25f, u, 27f.). 879 Vgl. M. Hulin, La Mystique sauvage, 293f. 880 Für die Kritik an den »Lüsten« bei der erwerbstätigen Bevölkerung vgl. MajjhimaNikaya I,85 (Schmidt-Glintzer, 97), auch oft als »unwissende Weltmenschen« bezeichnet (Bodhi, 355).

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ist oder durch eine nicht transzendente Relation, die eine unmittelbare Identität mit dem absolut phänomenologischen Leben impliziert, ohne hybrisartigen Phantasmen einer »Vergöttlichung« zu unterlie­ gen. Verwandlung in ein gnadenhaftes Sein wie Verwirklichung eines entleerten Geistes als »Nichts« sind außerhalb des Lebens nicht mög­ lich, so dass dessen Immanenz die transzendentale Bedingung aller existentiellen Umgestaltungen bedeutet – sei es die Erfahrung der Transzendenz Gottes in solcher Immanenz oder die Freiheit von allen Konditionierungen durch Begierde und Schein seitens eines illusions­ haft angenommenen »Ich«. Dass letztlich sowohl in der christlichen wie buddhistischen Weltsicht nichts »verdrängt« werden muss, um »erlöst« zu werden, sondern einer Transformation zugeführt wird, ergäbe zusätzliche Annäherungspunkte, wie sie Enomiya-Lassalle schon herausgearbeitet hat.881 Aber radikal phänomenologisch ist für jede Religion und Mys­ tik entscheidend, dass solche Transformation eine originäre »Kraft« beinhaltet, welche nur aus der absoluten Potentialität des Lebens als dessen je singulärer Selbstaffektion herrühren kann. Letztere in allen Vollzügen und Relationen unbefragt in Anspruch zu neh­ men, begründet deshalb einen Wirklichkeitsbezug, der nicht erst auf einen kommenden »Bewusstseinswandel« der Menschheit warten muss, um die Widersprüche eines meist dualistisch strukturierten Daseins zu überwinden. Vielmehr ist diese absolut lebendige Kraft in jedem Augenblick bereits originär gegeben, wobei auch die plurale Singularität der Individuen nicht aufgehoben wird. Denn letztere ist eine prinzipielle Offenbarungsweise des ipseisierenden Lebens selbst, wodurch sich Kultur als historiale Weitergabe des jeweiligen Begehrens in der immanenten »Nacht« der Subjektivitäten begründet und jeweils im Sinne des zuvor genannten Ko-Pathos aufgegriffen werden kann, um die eigene Selbstaffektion zu verwirklichen. Unter solch kriteriologischem Gesichtspunkt sind Mystiken, Religionen und Traditionen nur Hinweise auf eine ältere Wirklichkeit, die ihnen als transzendentales Leben vorauliegt. Aus diesem allein heraus sind jene Verwirklichungskräfte zu schöpfen, welche die Individuen kon­ kret in Anspruch nehmen können, ohne Zwängen und Projektionen unterworfen zu sein, die in lebensweltlich verankerten Traditionen zumeist unerkannt impliziert sind. Daher soll im nächsten Kapitel Vgl. Wohin geht der Mensch?, Zürich-Einsiedeln 1981, 125f.; Zen-Meditation für Christen, 85f.

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noch eine weitere nicht christliche Mystikform untersucht werden, wie sie im islamischen Sufismus vorliegt, um im Zusammenhang mit der »Erotik Gottes« ebenfalls der Frage nach der Relevanz der »Sublimierung« dabei Raum zu geben.

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2. Mystik des Einen im Sufismus und »Erotik Gottes« als Sublimierung

Im Christentum als »wahrer Religion« nimmt nach Lacan die Liebe den Platz der alles ordnenden Ursache an, das heißt den Platz jenes Begehrens, welches zugleich eine »Entsinnlichung« des Leibes und der Geschlechtlichkeit erfährt, insoweit letztlich die Liebe Gottes auf die Seligkeit hin orientiert sei.882 Im Judentum und Islam wird dieser Platz vornehmlich vom Gesetz eingenommen, welches Begehren wie Geschlechtlichkeit entsprechenden Geboten unterstellt, wobei die Sufimystik eine gewisse Ausnahme davon bildet, da sie weniger dem Text des Korans folgt als der eigenen inneren Erfahrung der Einheit mit Allah, auch wenn dieser absolut transzendent bleibt, mit anderen Worten der schlechthin Andere (A) gemäß dem struktura­ listisch analytischen Denken Lacans. Anstatt »Vater« zu sein, was eine gewisse Wesensverwandtschaft mit Allah einschlösse, die im strengen Islam undenkbar ist, bildet er vor allem das Eine, welches von jeder Kreatur unterschieden bleibt. Nach Hubert Ricard883 in der Nachfolge Lacans erlaubt aber gerade diese Position Allahs, die eine nicht geschlechtliche oder duale darstellt, eine Sublimierung der menschlichen Liebe zu ihm, die bei den Sufi-Mystikern eine alles überbordende Mächtigkeit im poetischen Ausdruck und im praktizierten Glauben des Alltagslebens gewannen, so dass man – wie für das Christentum – von einer »Religion der Liebe« sprechen kann,884 so wie wir dies zuletzt auch analog im Buddhismus unter der Vgl. J. Lacan, Le Triomphe de la religion précédé de Discours aux Catholiques, Paris 2005 (dt. Der Triumph der Religion, welchem vorausgeht: Der Diskurs an die Katholiken, Wien 2009). 883 Vgl. De Spinoza à Lacan. Autre Chose et la mystique, Paris 2015, 206–220: »Mys­ tique musulmane. L'amour de l'Un«. 884 Vgl. E. Tabatabaei, »Sufismus – die wichtigste geschichtliche Erscheinung der inneren Seite der islamischen Offenbarung«, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 16 (2017) 59–79; A. Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam: die Geschichte des Sufismus, München31995; L. Vaughan-Lee, Die Karawane der Derwische. Die Lehren der großen Sufi-Meister, Frankfurt/M. 1997. Außerdem G.L. Anawati u. L. 882

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2. Mystik des Einen im Sufismus und »Erotik Gottes« als Sublimierung

Form des »Mitgefühls« für alle lebenden Wesen sahen. Insofern die Sufis eine unmittelbare Erfahrung Gottes als verborgenem Geheimnis des Lebens machen, nennen sie Gott den »Geliebten«, dem man sich in vollkommener Hingebung nähern kann. Auf diese Weise verleihen sie nicht nur den grundlegenden Erkenntnisquellen wie traditioneller Lehre, Vernunft und mystischer Eingebung eine Einheit, sondern zur furchtlosen Gottesliebe gehören bei ihnen auch Tanzen und Singen, wobei Musik und Poesie gerade im Persischen einen überreichen Ausdruck gefunden haben, der als arabisch persischer Einfluss bis auf den indischen Subkontinent hin auszumachen ist. Nun ist das »Eine« nicht nur von den Religionen thematisiert worden, sondern es findet sich an herausragender Stelle ebenfalls bei Heraklit und Platon wie im Neo-Platonismus. Vor allem bei Platon hat es die Verneinung jeglichen Attributs zur Folge und schließlich des Seins selbst. Lacan885 versetzte dieses Eine ins Zentrum seiner theoretischen Untersuchungen zur analytisch therapeutischen Praxis – allerdings mehr als Henologie denn als Ontologie. Durch den »ein­ zigen Zug« (trait unaire) im Sprechen und Handeln des Subjekts kann er so die »ideal« genannte Identifikation bestimmen, wodurch das ausschließlich »Eine« jedoch zur reinen Differenz wird. Denn insoweit das Eine aus der Signifikantenkette als Signifikant ausgeschlossen ist, berührt dieses Eine das »Reale«, das seinerseits nicht mehr symbolisierbar ist. In der Wiederholung ihrer »Mehr-Lust« (Objekt a) richten sich die einzelnen Individuen als »Sprachwesen« (parlȇtre) durch dieses Eine als »einzigen Zug« ihrer Identifikationen auf die – als Lust (plaisir) – unerreichbare jouissance aus,886 was unmittelbar einen Bezug zur Sufi-Mystik ergibt. Denn die radikale Transzendenz Allahs als Einheit ist gerade im Sufismus Gegenstand des mystischen Begehrens als höchster jouissance. Für Lacan vertritt nun das »Ich denke nicht«, sofern »ich« nur im Vollzug »bin«, den »einzigen Zug« des Subjekts, welches sich gerade in der Bewegung seines Begehrens im Sprechen nicht selbst als Identität kennt – wodurch dieser Ort Gardet, Mystique musulmane, aspects et tendances, expériences et techniques, Paris 1968; M.A. Amir-Moezzi, La preuve de Dieu. La mystique shi'ite à travers l'œuvre de Kulyayni IXè-Xè siècle, Paris 2018; R. Gramlich (Hg.), Islamische Mystik, sufische Texte aus zehn Jahrhunderten, Stuttgart 1992. 885 Vgl. Le Séminaire XIX:... ou pire, Paris 2011, 125–212: »L'Un qu'il n'accède pas au deux«; dazu auch J. Le Brun, Le Pur Amour de Platon à Lacan, Paris 2002. 886 Vgl. N. Braunstein, La jouissance. Un concept lacanien, Paris 1992, sowie schon unser vorheriges Kapitel III,3. 2

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2. Mystik des Einen im Sufismus und »Erotik Gottes« als Sublimierung

des Sich-nicht-Denken-Könnens den Ort seines »Fehlens-an-Sein« (manquer à ȇtre) darstellt.887 Hieraus lässt sich mit einigem Recht folgern, dass die Frage nach der möglichen Bestimmung einer eigenen Identität durch das Subjekt angesichts der genannten radikalen Transzendenz Gottes als absoluter Andersheit ins Zentrum der Mystik des Sufismus gehört. Aber da die unaufhebbare Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf im Islam prinzipiell bestehen bleibt, wird diese Aporie zum Aspekt des »Zunichtewerdens« (fana) des Ich. Hierbei wird das mystische Subjekt nicht nur seines eigenen Seins beraubt, sondern auch jeder Beziehung – und sei sie negativ – hinsichtlich der Einzigkeit des Einen Gottes (Allah): »Entsagung hat keinen Wert. Ich war drei Tage in der Entsagung, am vierten Tag war ich damit fertig. Am ersten Tag entsagte ich dieser Welt, am zweiten Tag entsagte ich dem Jenseits, am dritten Tag entsagte ich allem außer Gott. Als der vierte Tag kam, war mir nichts geblieben als nur Gott. Ich fühlte eine verzweifelte Sehnsucht. Dann hörte ich eine Stimme, die mich anredete: ›O Bayazid [Bastani], du bist nicht stark genug, um es mit Mir allein auszuhalten.‹ Ich sagte: ›Gerade das will ich.‹ Da sagte die Stimme: ›Du hast gefunden, du hast gefunden.‹"888 Mit Lacan gesprochen, gerät folglich jegliche Symbolik in eine Auflösungserscheinung, die in ihrem Bezug zum Einen ebenfalls die Aufhebung jeglicher Rede und allen Denkens zur Folge hat. Dadurch wird das »Ich denke nicht« zum Ort der Konfrontation des Subjekts mit seinem genannten »Fehlen-an-Sein«, das heißt als originärem Mangel an möglicher Fixierung eines Ideals, um sich in einer Identi­ fikation mit einem solchen Ideal selber bestimmen zu können. Im Judentum wird Gott sicher auch als »Vater« gedacht, wie gerade Freud in seiner Religionskritik herausarbeitete, aber selbst dann scheidet ein »erotischer Bezug« im lacanschen Sinne zu Jahwe aus. So ist etwa das »Hohelied " im Alten Testament eher ein Dialog zwischen Jahwe und seinem Volk als mit einer einzelnen Seele, auch wenn die spätere christliche Rezeption teilweise diese Richtung einschlug, etwa bei Origines, bzw. als Dialog zwischen Christus und der Kirche, wie wir bei Bernhard von Claivaux sahen. Denn erst die »Fleisch gewordene« Christusfigur (Joh 1,14) und die vorherrschende Rolle von Frauen 887 Vgl. Zum problematischen »Sein des Subjekts« vgl. H. Ricard, De Spinoza à Lacan, 165–175: »La pluralité des acceptions de l'ȇtre dans Encore«, hier 168ff. 888 Zit. A. Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, 79.

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2. Mystik des Einen im Sufismus und »Erotik Gottes« als Sublimierung

in der christlichen Mystik seit dem frühen Mittelalter scheinen hier einen solch »erotischen Bezug« zum trinitarischen Gott innerhalb der »Brautmystik« möglich gemacht zu haben, wie die Bewegung der Beginen ab dem 12. Jahrhundert in den Niederlanden oder später die mystischen Erfahrungen Theresas von Avila dies unterstreichen.889 Für Lacan ist nun das Verhältnis der Trinität zum Einen inso­ fern eine spezifische Gegebenheit des Christentums als der »wahren Religion«, als letztere unter den monotheistischen Religionen den dualen Bezug zugunsten einer rein relationalen Trias überschreitet, wie er sie selbst in seinen »Borromäischen Knoten« für die Bezüge von Realem-Imaginärem-Symbolischem (RIS) voraussetzt.890 Der »nicht mögliche Geschlechtsverkehr« im Denken Lacans bleibt in diesem Zusammenhang zu sehen, nämlich als eine dual nie stattha­ bende »Verschmelzung«, welche nur dem Imaginären der phallischen Lust gehorchen würde, die allerdings dergestalt den sich Liebenden als Wesen des »Mangels« die jouissance darüber hinaus verböte.891 Strukturell gesehen, zeigt sich indes, dass gerade die MystikerInnen in ihrem nicht phallischen Bezug zur Andersheit Gottes (Gesetz, Name, Vater, Nirvana etc.) eine solch andere, »nicht kopulative« jouissance in ihrer Möglichkeit verkörpern. Dies bedeutet, dass die göttliche Liebe selbst den Platz des Begehrens (désir) einnimmt. Dadurch ist – anders als im Judentum und Islam – nicht nur eine Integration des Eros in die »Liebe Gottes« hinein gegeben, sondern ebenfalls eine »weibliche Position« des Menschen gegenüber Gott.892 Anders gesagt, eine Liebe des Menschen als reine Empfängnis, wie sie sich grundlegend bei Meister Eckhart und Johannes vom Kreuz finden lässt, wie wir schon ausführten. Im orthodoxen Islam ist durch den nicht vermittelten

Vgl. G. Hofmann u. W. Krebber, Die Beginen. Geschichte und Gegenwart, Kevelaer 2008; H. Ricard, De Spinoza à Lacan, 223–246: »Hadewijch d'Anvers«, sowie schon unser Kapitel II,2. 890 Für die Aufwertung des Relationsbegriffs innerhalb der Trinitätslehre vgl. H. Ricard, De Spinoza à Lacan, 141–153: »Le Réel de Dieu selon Thomas d'Aquin«. 891 Vgl. A. Badiou und B. Cassin, Es gibt keinen Geschlechtsverkehr. Zwei Lacanlek­ türen, Zürich 2012. 892 Freud kennt hingegen nur ein »weiblich passives« Verhalten in Bezug auf das masochistische Strafbedürfnis des Ichs innerhalb von Kastrationsdrohung und Vateri­ dentifizierung; vgl. »Dostojewski und die Vatertötung« (1928), in: Gesammelte Werke XIV, Frankfurt/M, 71991, 408f. 889

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Bezug zum »Einen« auch die erotische Symbolik abwesend,893 um eine solche Vermittlung zu übernehmen. Mit anderen Worten bleibt im Islam – und dies trotz einer überschwänglichen Liebeslyrik gerade im Sufismus – nur die Möglichkeit, das Subjekt allein im Realen angesichts des Einen ohne jedes Maß zu verorten: »Der wahre Mys­ tiker kann Gott in jeder Form seiner Erscheinung und jeder Gestalt seiner Offenbarung anerkennen. Der, der kein Mystiker ist, dagegen kann ihn nicht anerkennen außer in seinem eigenen Glauben. Wenn also Gott sich in einer anderen Gestalt vor ihm offenbart, wird er ihn abstreiten.«894 Ibn Arabi aus Andalusien (1165–1240), dessen eines seiner bekanntesten Werke »Ringsteine der göttlichen Weisheit«895 lautet und großen Einfluss auf die Entwicklung des Sufismus ausübte, vertrat daher einen Universalismus der Wahrheit, worin sich Verstand und Intuition ebenso miteinander verbinden konnten wie Erotik und Mystik: »Jede Liebe ist Wunsch nach Vereinigung. Jede Liebe ist bewusst oder unbewusst Liebe zu Gott. Noch in der körperlichen Vereinigung, in der du lustvolle Verzückung suchst, spürst du die Sehnsucht, das Bedürfnis nach dem, was du nicht selbst bist, und liebst du das geliebte Wesen nur um seinetwillen, ist dir seine Freude wich­ tiger als die deine. So lehrt dich diese Liebe das Opferbringen. Gott ist die Einheit, er ist die Einheit von Liebe, Liebendem und Geliebtem. Es gibt eine göttliche Liebe, die höchste: Du liebst in allem den, der es geschaffen hat, und liebst Gott um seiner selbst willen. Ohne Furcht und Strafe und ohne Wunsch nach Belohnung. Gott hat dem Men­ schen seinen Geist eingehaucht zum Zeichen seiner Gegenwart in dir, der ständig neuen Schöpfung.«896 Sein Zentralbegriff »Einheit des Seins« geht mithin von einer körperlichen Einheit zwischen Schöpfer und Schöpfung aus, so dass Sein oder Existenz (wahdat al-wudschud) Vgl. D. Tabaalite, Islamische Mystik bei Barbara Frischmuth. Untersuchungen zum Konzept einer »geistigen Archäologie des Gemeinsamen«, Hamburg 2012, 51ff., zur mystischen Sprache und Symbolik in der Sufilehre. 894 Ibn Arabi, zit. E. Tabatabaei, »Sufismus«, 76; vgl. auch Falsafa. Jahrbuch für islamische Religionsphilosophie 2 (2018): Vernunft und Offenbarung. 895 Vgl. Das Buch der Siegelringsteine der Weisheitssprüche, Graz 1986. Weitere Werke: Die vollkommene Harmonie, München 2002; Urwolke und Welt, mystische Texte des »Größten Meisters«, München 2002; Abhandlungen über die Liebe, Zürich 2009; Und behüte mich auf dem Weg zu Dir, Xanten 2019; Die sieben Tage des Herzens, Xanten 2020. 896 Deuter der Sehnsüchte. 61 mystische Liebesgedichte. Vers für Vers von Ibn Arabi kommentiert, 2 Bde., Berlin 2013, 152. 893

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hier ein allumfassendes Prinzip bedeutet, das alle scheinbaren gegen­ sätzlichen Lehren in sich einschließt, was naturgemäß Angriffspunkte für seine ausschließlich am Koran orientierten Gegner bildete. Dieser Einheitsgedanke lässt sich jedoch auch rein ethisch wie religiös im Sinne der Auflösung des eigenen Willens in Gottes Wil­ len denken, um auf diese Weise die Aufgabe des eigenen Ich zu erreichen, dessen höchste Stufe das »reine Ich« darstellt, welches das »niedere Ego« überwunden hat. Das heißt, die irdische Welt hat an der göttlichen Allmacht teil, wodurch alle Erscheinungen zugleich eine Manifestation Gottes darstellen, die transzendiert werden müssen. Aus diesem Grund ist nichts Irdisches wirklich zu verwerfen, so dass gerade auch die Erotik ein Vorgeschmack des Paradieses bei Allah sein kann. In solcher Liebesmystik können daher die konkreten Liebesgefühle verinnerlicht werden, um dergestalt eine Weise des Gottsuchens als »Sehnsucht« zu bilden. So wird Gott nicht nur in der Außenwelt durch alle Erscheinungen hindurch wahrgenommen, sondern er kann verinnerlicht geschaut und erfahren werden. So wie die Begriffe »Bekehrung« und »Hingabe« im arabischen Wortlaut eins sind (islam), können mithin auch Erotik und Gottesliebe ineinander übergehen Dies konnte Ibn Arabi in seinem – durch gegnerische Rechtsgelehrte und Theologen – eingeforderten Kommentar zu den genannten Gedichten näher ausführen, so dass letztlich auch seine Ankläger vor Gericht »ihre Ansichten über die Derwische und die in Gestalt der Liebesdichtung gemachten Aussagen« widerriefen, da diese Poesie mit »Hilfe von Vergleichen auf die Geheimnisse Gottes abziele«.897 Somit ist Ibn Arabi, der hauptsächlich in Damaskus wirkte, ein Mystiker des ekstatischen Augenblicks, das heißt jenes »Nun«, wie es auch die christliche Mystik als unmittelbare Präsenz Gottes kennt, was nochmals seinen Universalismus als religions­ übergreifende metaphysische Liebesmystik unterstreicht, die nach seinem Tod zahlreiche gegensätzliche Kommentare in der islamischen Welt hervorrief898 Neben Bastani und Ibn Arabi hatte zuvor schon der persisch irakische Sufi und Dichter al-Halladsch (857–922) die Einung mit Vgl. Deuter der Sehnsüchte, 21f. Vgl. auch F. Rahmati, Der Mensch als Spiegelbild Gottes in der Mystik Ibn Arabis, Wiesbaden 2007; A. Ghandour, Die theologische Erkenntnislehre Ibn al-Arabis, Hamburg 2018; W.C. Chittick, Bildhafte Welten. Ibn al-Arabi und die Frage der religiösen Vielfalt, Berlin 2015. 897

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Allah am weitesten getrieben, indem er ausrief: »Ich bin die göttliche Wahrheit«, zumal dieser Ausdruck ana al-haqq eine Bezeichnung für Allah selbst im Koran ist. Aber dieses »Zunichtewerden« in Gott hinein ist keine Verneinung des Subjekts schlechthin, denn es gibt ein Weiterleben (baqå) in Gott. Aber soll man hier von »Identifikation« sprechen, auch wenn diese Auflösung des Ich dem Sufi-Ideal der EinsWerdung mit Gott entspricht? Einerseits muss bei diesem Geschehen etwas vom Subjekt weiterhin gegeben sein, und wäre es nur im Sinne des ontologischen Abgrunds, welcher die göttliche und menschliche Natur voneinander trennt. Andererseits absorbiert das Sein als das Reale Gottes das Subjekt in gewisser Weise. Denn es findet hier nicht sein wirkliches Wesen wie beispielsweise im Atman des Hinduismus und Buddhismus, sondern es löst sich in Gott auf, sofern sich im Realen wesensgemäß alles an vorgegebenen Bestimmungen auflöst. Dies wird durch das bekannte Bild vom Falter verdeutlicht, der sich dem Licht der Kerzenflamme nähert, um darin zu verbrennen.899 Damit wird durch al-Halladsch klar gestellt, dass dem Falter weder das Licht noch die Wärme der Kerze genügt, sondern er stürzt sich in die Flamme, so dass nichts mehr von ihm verbleibt – weder Körper noch Name oder sonstige Attribute. Aber was hier wie eine Vernichtung aussieht, ist ein »Besitzen« anstelle einer bloßen »Vision«, denn das Reale der Wirklichkeit ist die verbrennende Flamme. Diese rein spirituelle Liebe hat jedoch, folgt man Lacan, keine weiteren Konsequenzen für die Interpretation der Geschlechtlichkeit und Seligkeit, sondern die Sufimystik unterstreiche eher ein Privileg der reinen Immanenz. Mithin erweist sich das »Zunichtewerden« des Ich als eine jouissance in der Gegenwärtigkeit des Lebens, das nicht mehr von den Referenzen der »phallischen Lust« geprägt ist, son­ dern eine Sublimierung über alle konventionellen Vorgaben hinaus bedeutet, was den Sufismus ebenfalls der Unmittelbarkeit des radikal phänomenologischen Lebens nahe sein lässt. Denn die Aussage: »Ich bin die göttliche Wahrheit«, für die al-Halladsch in Bagdad 922 ans Kreuz geschlagen wurde, kann im Sinne der Lebensaffektion, welche sich selbst und uns absolut affiziert, in Anlehnung an das Johannes-Evangelium mit den Worten übersetzt werden: »Deine 899 Vgl. L. Massignon, La Passion de Hallåj, martyr mystique de l'Islam, t. III: La doctrine de Hallåj, Paris 1975, 52ff.; A. Schimmel, Al-Halladsch – Märtyrer der Gottesliebe. Leben und Legende, Köln 1968; W.G. Lerch, Tod in Bagdad oder Leben und Sterben des Al-Halladsch, Düsseldorf/Zürich 1997.

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Wahrheit als Leben ist meine Wahrheit, und deine Wahrheit ist meine Wahrheit als Leben«.900 Hinzu kam für seine Verurteilung, dass er bestimmte religiöse Übungen zu Hause für ausreichend hielt, um den Gläubigen von der Pilgerfahrt nach Mekka zu befreien, was Ketzerei bedeutete und zwangsläufig die Todesstrafe nach sich zog. Diese Umstände machen folgende Verse von ihm verständlich, denn sie bezeugen nochmals, dass im Sinne des sufischen Ideals der Einung mit Gott durch all diese Geschehnisse hindurch die Auflösung des Ich in Gott hinein gesucht wurde: »Tötet mich, o meine Freunde, Denn im Tod nur ist mein Leben! Ja, im Leben ist mir Tod nur, Und im Sterben liegt mein Leben. Wahrlich, höchste Gnade ist es, Selbst verlöschend zu entschweben, Und als Schlechtestes erkenn' ich, Fest an diesem Leib zu kleben.«901

Aber wenn der Sufi-Mystiker das Reale als Immanenz des Lebens erreicht, bleibt dann nicht dennoch die Tragik, dass seine Gottesliebe nicht das Verkosten der Seligkeit selbst kennt, die das Wesen des Lebens als solchem ist, wie etwa auch philosophisch bei Spinoza und Fichte?902 Im Christentum bilden Gottesliebe und unio innerhalb der Mystik jene Korrelate, die das Reale (zusammen mit der Symbolik und der Imagination des »Einen« über die Wirklichkeit des Todes) nicht vom Ziel einer Seligkeit in Gott ohne Grenzen trennen. Letztere ist mit der Unsterblichkeit der Seele verbunden, während im Sufitum nur Leid und Freude als eine irreduzibel gelebte Liebe zusammen auftreten, welche über alle sinnlichen Gegebenheiten hinausgeht, so wie al-Halladsch Tortur und Tod als Gott-Liebender durchlebte. Analytisch therapeutisch gesehen, wäre dies keine masochistische Position,903 denn was im Sufismus gesucht wird, ist jenes Reale, das Leiden wie Freude auf ganz unvorhersehbare Weise verteilt sein 900 Vgl. M. Henry, Paroles du Christ, Paris 2000, 137f. (dt. Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg/München 2010). 901 Al-Halladsch, »O Leute, rettet mich vor Gott.« Texte islamischer Mystik (Über­ setzung und Nachdichtung A. Schimmel), Freiburg-Basel-Wien 1985, 105f. 902 Vgl. H. Ricard, De Spinoza à Lacan, 17–38: »Le désir et l'amour chez Spinoza«. 903 Vgl. S. Freud, Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt/M. 2014, 297–310: »Das ökonomische Problem des Masochismus« (1924).

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lässt. Dies erinnert ebenfalls an Nietzsches dionysische Bejahung des Lebens,904 auch wenn der Sufi-Mystiker die Weise der Widerfahrnis von Freude/Leid ausschließlich von der göttlichen Allmacht her denken kann. Aus der Sicht Lacans hat eine Bestimmung durch einen fixierten Signifikanten stets die subjektive Ausrichtung des Begehrens zur Folge, worin sich die Frage der ex-sistence des Subjekts als stän­ diges Verfehlen seines Wesens selbst entscheidet. Der Sufi gelangt so angesichts des schlechthin Anderen (Allah) zu einer spezifischen Erkenntnis Gottes, welche von der rein glaubensmäßigen Anerken­ nung seiner Rolle als Schöpfer verschieden ist905 – unterschieden durch dessen alleinige Hoheit und Transzendenz, die der Koran-Text vornehmlich zum Ausdruck bringt. Daher muss die über die Liebes­ lyrik gewonnene »Identifikation« dem Sufi-Mystiker entgleiten, denn er findet sich einem Ideal (Realen) ohne Vermittlungen (Symbolik und Imaginäres) gegenüber, die seiner Suche einen Namen geben könnten. Innerhalb der jouissance des gänzlich differenten Einen gibt es keine Garantie des »Vaters« (Phallus, Name, Gesetz etc.) mehr, so dass der Sufi-Mystiker sich mit der »Kluft« des abwesenden »Dings« (la Chose) konfrontiert erfährt, wie Lacan das unerreichbare Objekt (a) des Begehrens nennt. Was im Sufismus daraufhin vom Realen als dem Einen erprobt wird, sind daher dessen »Löcher«, und zwar – verglichen mit dem Christentum – ohne die imaginäre Überlagerung durch die Seligkeit als Unsterblichkeit in Gott. Die Größe und Wahrheit des Sufismus wäre es dann im Sinne des lacanschen Mystikverständnisses, diese reine Ordnung des Realen in der liebenden Beziehung zu Allah als dem Einzig-Einen prinzipiell ausgemacht zu haben.906 Auch der persische Sufi-Mystiker, Gelehrte und Dichter Mau­ lana Rumi (1207–1273) kann in diesem Zusammenhang erwähnt 904 Vg. R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreli­ gion, Dresden, 2017, 46–62: '»Wir die Guten – die Glücklichen...' – eine radikalphä­ nomenologische Nietzschelektüre«. 905 Vgl. J.-Ch. Ducène, »Soufisme et cosmographie musulamane aux XIIè et XIIIè siècles. Convergence ou influences à propos d'une conception commune du monde?«, in: A. Dierkens u. B. Beyer de Ryke (Hgg.), Mystique: la passion de l'Un de l'antiquité à nos jours, Brüssel 2005, 205–214. 906 Durch den Zusammenhang von unzerstörbarem Begehren und der Aufhebung jeglicher »Verdinglichung« des Verhältnisses zum absolut Anderen sieht auch M. Thi­ berge, Essai sur la psychanalyse et la postmodernité, Paris, 2018, 66f. u. 151ff., einen möglichen Bezug zwischen Mystik und dem Psychoanalyseverständnis nach Lacan.

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werden,907 da er unter anderem bei Ibn Arabi in Damaskus einen Teil seiner Ausbildung erhielt. Auch Rumi bezeichnete seinen Todestag als »große Hochzeit«, insofern er an diesem Tag mit Gott vereint würde. Dies unterstreicht bereits seine mystische Hauptlehre, dass die Liebe die Grundkraft des Universums darstellt, da letzteres ein harmonisches Ganzes ist. Alle Teile desselben existieren in einer Liebes-Beziehung untereinander. Folglich vermag der Mensch die Harmonie mit diesem Universum und sich selbst dann zu erlangen, wenn er die Liebe zu Gott verwirklicht, denn diese befähigt ihn dazu, nicht nur seine Mitmenschen zu lieben, sondern gleichfalls alles von Gott Geschaffene. Der Grund für Rumis besondere Berühmtheit besteht darin, dass er diese Liebe zu Gott als die eigentliche Erfüllung des Lebens vor allem durch seine Poesie zum Ausdruck bringen konnte und auf diese Weise eine neue Ausformung von Musik und Dichtung im Sufismus schuf, der dadurch in der Form musikalischer Zusammenkünfte auch verstärkt soziale Impulse enthielt. Die Freude, Gott näher zu kommen, und die Trauer, von ihm getrennt zu sein, gehören somit ständig zusammen, denn gerade als mystischer Dichter kann Rumi Gott – wie bei Ibn Arabi – als den »Geliebten« bezeichnen, wodurch die Seele auf ihrer Suche nach Gott die »Liebende« ist. Zusätzlich finden sich bei ihm ebenfalls Einflüsse von Hinduismus, Buddhismus, des Christentums wie der Zoroastrier aus dem Nord­ westen Persiens, wodurch eine offene Sicht auf andere Religionen und Kulturen dokumentiert ist. Zusammenfassen lässt sich sein Grund­ gefühl von Welt und Existenz vielleicht am besten durch folgenden Vierzeiler von ihm: »Glaubst du, ich weiß, was ich tue? Dass ich einen Atemzug lang oder einen halben mir selbst angehöre? Nicht mehr, als eine Feder weiß, was sie schreibt, oder der Ball vermuten kann, wohin er gleich fliegt.«908

Halten wir den schon angesprochenen Vergleich mit einer radikal phänomenologischen Lebensmystik und dem Christentum kurz fest, 907 Vgl. A. Schimmel, Rumi: Ich bin Wind und du bist Feuer. Leben und Werk des großen Mystikers, München 1978 (Neuausgabe Xanten 2017); L. Anvar-Chenderoff, Rumi, Paris 2004. 908 G. Riemann (Hg.), Dschelalladin Rumi. Offenes Geheimnis, München 1994, 42; vgl. auch A. Schimmel, Maulana Dschelaladdin Rumi, Von Allem und vom Einen (aus dem Persischen und Arabischen), München 2008; Liebesmystik. Gedichte aus dem Diwan (ins Deutsche übertragen von R. Maschajechi), Weitra 2004.

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so ergibt sich als Zwischenergebnis, dass es im Sufismus eine Inner­ lichkeit zwischen Allah, dem Sufi-Mystiker und seinen Mitmenschen gibt, die als alltäglich gelebte Praxis im Sinne eines »Ko-Pathos« aus der Einheit mit Gott heraus im unmittelbaren Leben gegründet ist.909 Die immanente Lebensübereignung wird in einem absoluten Grundvollzug erprobt, der seine Referenz nicht mehr aus dem äuße­ ren Weltbezug oder den orthodoxen Textvorgaben des Korans bezieht, sondern aus der Fülle des Realen selbst, welche der Einheit mit Allah entspricht. Leiden wie Freuden sind in ihrer rein immanenten Historialisierung das Originäre des Lebens selbst; das heißt, es ist Allah, der sie in ihrer jeweilig konkreten Affektion schickt. Somit sind Leid und Freude nicht äußeren Ereignissen geschuldet, sondern sie entsprechen einem innerlichen Grundempfinden lebendiger Einheit mit Gott als einer sufischen »Lebensmystik« diesseits einer bloßen Konformität mit den Geboten Mohammeds. Aber solches Leiden als Askese sowie die Freude als untrennbares Ko-Pathos verknüpfen sich miteinander innerhalb einer mystischen Praxis als unmittelbar göttlicher Wahrheit der Offenbarung des Einen und intersubjektiver Beziehungen: »Jeder, der in diesem Haus einkehrt, erhalte Essen und man frage ihn nicht nach seinem Glauben. Denn da er ein Leben an der Seite des erhabenen Gottes verdient – so besteht kein Zweifel, dass er seine Mahlzeit an meinem Tisch verdient.«910 Mit anderen Worten müssen die Gegensätze in den menschlichen Beziehungen nicht erst über moralische Regeln versöhnt werden, sondern sie bilden originärer bereits eine göttliche Einheit. Dadurch überwinden Sufis­ mus und andere Mystikformen einen bloß formalen Monotheismus, auch wenn die absolute Transzendenz Allahs von ersterem nicht in Frage gestellt wird.911 Denn Gott ist keine Wirklichkeit jenseits unseres originären Empfindens, sondern er bildet das Reale der unmittelbaren Lebendig­ keit als Immanenz selbst, in welcher der Sufi-Mystiker Gott erfährt. Wenn es hierbei einen Unterschied zur »Lebensmystik« gibt, dann bestünde er darin, dass im Sufismus die Ontologie der Transzendenz 909 Vgl. M. Lahoud, »Sufismus und Lebensphänomenologie«, in: Jahrbuch für Reli­ gionsphilosophie 16 (2017) 80–85. 910 Ausspruch des Sufi Abul-Hasan-Kharaqani, wie er noch heute als Motto in seinem Mausoleum zu lesen ist; zit. E. Tabatabaei, »Sufismus«, 79. 911 Vgl. zur aktuellen Diskussion F. Bensiama, Psychoanalyse des Islam, Berlin 2017, wo der Leidensdruck im gegenwärtigen Islam durch Verbot von Lust zur Aggression gegenüber Ambivalenzen – bis hin zum Terror – führe.

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Allahs nicht reduziert wird, wie es eine radikale Lebensphänomeno­ logie tut, welche jede Transzendenz – auch jene des Wesens und der Offenbarung Gottes – in der Immanenz der selbstaffektiven »Selbstumschlingung« (étreinte) gegründet sein lässt,912 so dass auch das »Höchste Sein« in der Originarität des Absoluten des sich-selbstgebenden Lebens wurzelt. Es handelt sich in unserer Untersuchung hier jedoch keineswegs darum, den Sufismus in radikale Phänome­ nologie zu übersetzen, sondern nur sichtbar zu machen, dass die Gegebenheit der unmittelbaren Selbstaffektion als zentraler Kern eines mystischen Islams in der lebendigen Erprobung der Einheit Allahs präsent ist, so wie die MystikerInnen sie erproben. Damit zeichnet sich originär die Möglichkeit ab, dass eine Lebensmystik der Einheit als des »Realen« schlechthin auch interreligiös ihre Tragweite besitzt, ohne diese strukturelle Übereinstimmung zu einer hermeneu­ tischen Gleichstellung der dogmatischen Glaubensinhalte von Islam und Christentum zu erheben, die jeweils eine historisch geformte Lesart darstellen.913 Was Lacan als prinzipielle Position des Subjekts gegenüber dem Einen und dem absolut Anderen unterstreicht, hat seine Parallele in dem radikal phänomenologischen Aufweis, wie eine Offenbarung der Einheit in Gott/Allah als dem »Geliebten« überhaupt möglich ist – nämlich in der »Passibilität« eines absolut sich-selbst-gebenden Lebens, in dessen immanenter »Selbstliebe« Leiden und Freuden als Grundoffenbarung der Lebensempfängnis schon immer vereint sind. Und da dies bei allen Lebendigen der Fall ist, die je gelebt haben und leben werden, wird in dieser Einheit des Ko-pathos auch die Liebe oder das »Mitgefühl« unter den Menschen in ihrer originären Wirklichkeit gestiftet. Wenn durch den Logos oder Christus die »Wahrheit« eine bevorzugte Relation im Christentum darstellt, dann muss im Sinne Zur Diskussion um den Seins- und Lebensbegriff in Bezug auf Gott in der christlichen Tradition vgl. M. Henry, C'est Moi la Vérité. Pour une philosophie du christianimsue, Paris 1996, 40ff. (dt. »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/München 1997); auch J.-L Marion, Dieu sans l'ȇtre (1982), Paris 22002 (dt. Gott ohne Sein, Paderborn 2009). Speziell zum radikal phänomeno­ logischen Offenbarungsbegriff M. Henry, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München 2016, 114–122: »Was ist eine Offenbarung?«. 913 Dass bei intellektueller und lebenspraktischer Vertiefung von Religion universale Motive in den Vordergrund rücken, zeigt auch M. Walther, Zeit- und Ewigkeitsvorstel­ lungen zwischen Philosophie, Theologie und Mystik. Eine vergleichende Fallstudie zu Christentum und Islam anhand der Texte von Meister Eckhart und Al-Gazali, Würzburg 2015. 912

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Lacans über Freuds Religionskritik hinaus dieser Aspekt analytisch therapeutisch – wie auch für die interreligiöse Mystik – schließlich als »Wahrheit des Subjekts« verstanden werden. Denn indem das Subjekt spricht oder denkt, drückt es darin – wenn auch unbewusst – die Wahrheit seines Begehrens als »Ich bin« aus, ohne letzteres denken zu können.914 Diese Verschränkung von Wahrheit/Ich im Begehren allein stellt die symbolischen Artikulierungen des Einen (Gottes) im Judentum und Islam in Frage, insofern hier das Gesetz (Thora) oder der Text (Koran) die göttliche Liebe verdecken, die dann der Apostel Paulus als »Gnade« hinter allem Gesetzesanspruch privilegierte.915 So impliziert die Trinität im Christentum kein Imaginäres der dual erotischen Vereinigung, sondern das Reale des sexuellen Nicht-Ver­ hältnisses, wie es über die Position des Phallus als ein Drittes ange­ zeigt ist, da die phallische Lust (plaisir) die effektive jouissance darüber hinaus verhindert. Die Trinität wie die Trias der »Borromäischen Knoten« lässt zum Symbolischen/Imaginären das Reale hinzutreten, welches in der dargestellten mystischen Erfahrung die Wahrheit der jouissance über alle Bestimmungen hinaus – auch des bloß formal oder ontologisch Einen – als Immanenz bzw. unmittelbares Leben erprobt. Dadurch legt der jüngere analytisch therapeutische Diskurs in seiner möglichen Vergleichbarkeit mit der inter-mystischen Erfah­ rung jene strukturell unbewussten Gegebenheiten offen, welche den Theologien des Christentums und Judentums wie auch Islams als Weltreligionen zugrunde liegen. Für den Sufismus heißt dies insbe­ sondere, dass zwischen Schöpfung und Allah die Unmittelbarkeit des gelebten Augenblicks in die Mitte der mystischen Lebensvollzüge rückt.916 Denn es ist allgemein sunnitische wie schiitische Überzeu­ gung, dass »Gott die Dinge nicht ohne Grund sein lässt. Damit begründet er eine Ursache für jegliches Ding, eine Erklärung für jede Ursache, eine Wissenschaft für jede Erklärung, für jede Erklärung eine sprechende Schwelle«, die in der schiitischen Mystik der Imam seit

Vgl. ... ou pire, 149–167: »Le savoir sur la vérité«. Vgl. für gegenwärtig unterschiedliche Pauluslektüren M. Henry, C'est Moi la Vérité, 142–167: »L'homme en tant que ›Fils dans le Fils‹" (dt. »Ich bin die Wahr­ heit«, 157–185); I. Benyamini, Narzisstischer Universalismus. Eine psychoanalytische Untersuchung der Paulusbriefe mit Freud und Lacan, Berlin 2013. 916 Vgl. A. Wilke, »Der Sohn des Augenblicks. Die Erfahrung der Gegenwart Gottes im Sufismus«, in: H. Gindt (Hg.), Zeit und Mystik. Der Augenblick im Denken Europas und Asiens, Sankt Augustin 1992, 85–112. 914 915

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Ali einnimmt.917 Wenn aber Gott/Allah der schöpferische Grund von Allem ist, dann ist seine Präsenz auch überall in jedem Augenblick gegeben, der somit als eine solch absolute Gegenwärtigkeit erprobt werden kann. Zieht man den Kreis noch weiter und versteht jede Mystik auch als kulturelle bzw. ästhetische Praxis, dann erlaubt Lacan wie die radi­ kalisierte Lebensphänomenologie eine allseits kriteriologische Inter­ pretation unserer Beziehung zum idealisierten Anderen (A), welcher zugleich den Ort des Begehrens selbst darstellt. Denn der Mystiker vernichtet sich entweder in den absolut Anderen als den Einzig-Einen hinein (Islam) oder er integriert auch das Symbolische und Imaginäre des Eros in die Liebe Gottes, die selig macht (Christentum). Man kann folglich festhalten, dass die MystikerInnen innerhalb von RIS als dem umfassend lebensweltlichen Knotengewebe unserer ex-sistence kulturell weder das Symbolische, Imaginäre oder Reale je isoliert als Einzelwahrheit festhalten, sondern eine für sie singulär privilegierte Position verwirklichen, welche die jouissance über Symbolik/Imagi­ näres hinaus ist – nicht um das Reale als drittes Element zu ergreifen, sondern um sich selbst vom Realen (Einen, Liebe, Leere, Nirvana) ergriffen zu fühlen. Dies verweist ebenfalls auf den Zusammenhang von Symptom/Mystik,918 insoweit das Symptom jeweils eine spezi­ fische Weise des unbewusst Realen darstellt, welches je singulär als »freisetzender Akt« Leben ist. Die MystikerInnen lassen sich in dieser Singularität nicht durch die konventionellen Diskurse der kulturellen Welt beirren (Herrendiskurs, Tradition und Hysterie oder Perversion wie Zwang). Vielmehr finden sie über die »Liebe Gottes« zusammen mit dem Realen des Todes – sei es Zunichtewerden oder Seligkeit – die alles ordnende Primordialiät wieder, das heißt eine nicht narzisstische Liebe, die nicht mehr die Spiegelung des eigenen Imaginären als »Ich«-Vorstellung ist.919 In diesem Sinne haften die MystikerInnen Vgl. Imam al-Baqui, zit. M.A. Amir-Moezzi, La preuve de Dieu, 169. Vgl. J. Lacan, Le mythe individuel du névrosé ou poésie et vérité dans la névrose, Paris 2007; Le Séminaire XXIII: Le Sinthome (1975–1976), Paris 2005. 919 Für eine neuere Diskussion vgl. H. Beck, Das Prinzip Liebe. Ein philosophischer Entwurf, Berlin 2018, der den Unterschieden von eros, love und caritas im Sinne von ontologischer, menschlicher und göttlicher Liebe nachgeht. Gegenüber solchen theoretisch möglichen Ontologisierungen setzt Lacan seine analytisch therapeutische Lektüre als nicht formalisierbaren Zusammenhang von Unbewusstem/Begehren im Sinne des »singulären Aktes«, dem wir anschließend als Bezug zwischen Sublimierung und Narzissmus detaillierter nachgehen werden. 917

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einschließlich Buddhismus und Sufismus an nichts Äußerem als Andersheit (A) mehr, ohne die Welt neurotisch verlassen zu müssen, da die Immanenz ihrer Erfahrung mit »Gott« zugleich lebendiges Ko-Pathos mit allem Erscheinen (Natur, Schöpfung, Gesellschaft) als »subjektiver Praxis« darstellt.920 Dass sich die Liebe Gottes an die Stelle des Symbolischen set­ zen kann, um dadurch auch die Position des begehrenden Subjekts einzunehmen, ist insofern keine Undenkbarkeit, als die Liebe nicht die »Befriedigung« beabsichtigt, wie Freud921 dies für die Libido noch annahm, sondern das Sein. Die Anfrage (demande), welche wir zur Befriedigung unserer Bedürfnisse an die Anderen (A) richten, sind letztlich Anfragen an die Liebe des Anderen, sich in seinem Wesen selbst über Sprache oder Symbolik zu offenbaren. Insofern will die Liebe über allen Schein (semblant) hinaus,922 und was die Mystike­ rInnen uns individuell wie kulturell verdeutlichen können, besteht gerade in dem grundlegenden Sachverhalt, dass die Liebe Gottes anstelle des Symbolischen, um es zu ordnen, zu einer ständigen Auf­ forderung des jeweiligen Augenblicks wird – Nächstenliebe oder KoPathos, welche beide über das regelnde Gesetz hinausgehen.923 Dies bezeugen Christentum wie Sufismus, wobei dieser »Anruf«, um hier auch eine zentrale Debatte in der gegenwärtigen Phänomenologie mit aufzugreifen,924 für die MystikerInnen mit jenem Subjekt identisch ist, welches als Eins-Sein die vereinende Liebe schlechthin erprobt. Dieses Subjekt als singulär Absolutes verwesentlicht in gewisser Weise das Sein wie die Liebe selbst, um sie in allen Dingen durch das Selbsterscheinen des einen Lebens zusammenzuführen, welches 920 Vgl. R. Kühn, Alles, was leiden kann. Zur Ursprungseinheit von Freude und Leid, Dresden 2019, 37–64: »Natur als Leiden und Ästhetik«. 921 Vgl. S. Freud, Das Ich und das Es, 191–250: »Jenseits des Lustprinzips« (1920), hier 195f. 922 Vgl. J. Lacan, Le Séminaire XVIII: D'un discours qui ne serait pas du semblant, Paris, Seuil 2007. 923 Vgl. R. Kühn, Der therapeutische Akt. Seine Singularität in Bezug auf Wissen und Wahrheit in lebensphänomenologischer und Lacan'scher Perspektive, Freiburg/Mün­ chen 2018, 141ff.; ebenfalls N. Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer, Frankfurt/M. 2005, 252ff. 924 Vgl. beispielsweise J.-L. Marion, Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänome­ nologie und Theologie. Bonn 2000, als auch die Marion-Texte zu Gabe, Opfer und Vergebung in: W. Schweidler u. E. Tardivel (Hgg.), Gabe und Gemeinwohl. Die Unentgeltlichkeit in Ökonomie, Politik und Theologie: Jean-Luc Marion in der Diskussion, Freiburg/München 2015.

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sich in allem nur selbst lieben kann, wie gerade auch Meister Eckhart unterstrich.925 Mit anderen Worten ist diese absolute Liebe ohne äußere Regel in ihrem unendlichen Wesen, das alle Dinge umfasst, nämlich als jeweiliger »Anruf« oder »Aufforderung« in der Existenz. Christi Worte von den »Lilien des Feldes, die weder spinnen noch weben« (Luk 12,27) sind für Lacan926 jenseits der neuzeitlich etablierten Diskurse hinsichtlich der »objektiven« Naturprozesse eine prinzipielle Bestimmung des »Unbewussten«, welches als »Wissen« – ohne jede weitere repräsentierbare Vorgabe – permanent »spinnt und webt«. Dieses vorreflexive Wissen, von den traditionellen Dogmati­ ken meist ausgeblendet, ist genau die Position der zuvor genannten Liebe und der Weg zur möglichen Anerkennung des je subjektiven Begehrens bei jedem Individuum. Im Christentum wie Islam wird der Leib durch sublimierende Desexualisierung und Tod »entsinn­ licht«,927 aber der Bezug zu einem Auferstehungsleib der Seligkeit – über die »leeren Gräber« der Institutionen hinaus – zeigt analytisch therapeutisch den Platz an, welcher das Begehren als Unbewusstes einnehmen kann. Und wenn die MystikerInnen im Judentum, Chris­ tentum und Sufismus einem Einzig-Einen als »Gott« folgen, der nicht nur ideal ist, sondern selbst offenbarend oder liebend, dann wird der Ort angezeigt, sich in ihrer jouissance diesem »göttlichen Begehren« als Liebe oder Einheit zu überlassen. Innerhalb von RIS bedeutet daher solche Liebe, Gott als dem »Realem« zu folgen. Das heißt überall dort hin, wo dieses Reale überraschend anders als jede Konvention und Regel sich ereignet; in religiöser Sprache: reiner »Wille Gottes« ist, der sich mit der göttlichen jouissance als ewig lebendiger »Selbstumschlingung« (Henry) identisch erweist. Indem die christliche Mystik eine unmittelbar liebende Bezie­ hung zu Gott oder Christus kennt, ist sie in der Immanenz des Lebens verankert, auch wenn der Bezug zu einer letzten ausstehenden Seligkeit bestehen bleibt. Diese direkte Beziehung zu einem liebenden Gott, der seinen Willen in allem kundtut, kann demzufolge mit Lacan eine »göttliche Erotik'" genannt werden, wobei dieser Bezug als Verhältnis zum Realen allen Erscheinens nicht nur eine spezifische Vgl. R. Kühn, Lebensmystik, 41ff. Vgl. Le Séminaire XXI: Les non-dupes errent (1973–74). Staferla-Version 2015, Sitzung 18. Dezember 1973. 927 Vgl. unter anderem A. Ghandour, Liebe, Sex und Allah. Das unterdrückte eroti­ sche Erbe der Muslime, München 2019. 925

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Verwurzelung für das Subjekt bedeutet. Letzteres hält in der Tat nicht mehr an einem »phallischen Vater« über Gesetz, Name, Tradition und Symbolik fest, sondern folgt einer jouissance, welche ohne Finalität in einer zunächst vermittelnd gegebenen Symbolik ist. Die christlichen MystikerInnen wie Hadewijch, Meister Eckhart oder Johannes vom Kreuz zusammen mit Theresa von Avila geben sich einer subjektiv liebenden Erfahrung mit Gott hin. Dabei konnten wir innerhalb der Mystikgeschichte des Christentums sehen, wie Bernhard von Clairvaux diesen Begriff der »Erfahrung« für die Beziehung der Seele zu Gott speziell als »Christusmystik« ins Zentrum gerückt hatte, auch wenn er sich selber noch allegorisch stark an Zitate aus der Schrift und den Kirchenvätern bindet. Besonders nachfolgende Mystikerinnen wie etwa Hadewijch und Theresa haben uns dann ihr ganz persönliches Verhältnis gegenseitiger Liebe von Seele/Gott bezeugt, wobei die »göttliche Erotik« im Sinne Lacans ein Verhältnis des reinen Begehrens bedeutet, welches eine Transgression des tra­ ditionell Symbolischen darstellt, ohne es zu verneinen.928 Auch im Sufismus haben wir diese Bewegung jenseits bloßer Gesetzesmoral des Korans feststellen können, aber es ist nicht zu leugnen, dass besonders in der christlichen Mystiktradition gerade die Frauen von ihrer liebenden Begegnung mit Gott als einer subjektiv erfahrenen jouissance gesprochen haben, welche im Mittelalter auch von der höfischen Minne beeinflusst war. Aber der Erfahrungsbegriff bei Bernhard von Clairvaux zeigt auch, dass nicht irgendeine Unerreichbarkeit der Liebe (la Dame) wie in der Minne besungen wird, sondern eine bestimmte Form des Realen angestrebt ist. Die Seligkeit als die Liebe zu Gott über die Endlichkeit des Todes hinaus wird in gewisser Weise bereits eine Wirklichkeit im jetzigen Leben, anstatt nur eine Hoffnung für das Jenseits zu beinhalten. Damit verwandelt sich nach Lacan die Symbo­ lik einer kommenden Seligkeit in ein »Hier und Jetzt« als je aktuelle Ewigkeit Gottes selbst, denn die jouissance des mystischen Gottesver­ hältnisses ist mit der Verheißung der Ewigkeit bereits identisch, was gerade die Integration des Leidens in dieselbe als Freude einschließt. Philosophisch-theologisch wird dies im Mittelalter meist im Sinne eines neu-platonischen Exemplarismus formuliert, wonach alle Dinge 928 Vgl. J. Lacan, Le Séminaire VII: L´éthique de la psychanalyse (1959–1960), Paris 1986, 55f. (dt. Das Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin 1995, sowie unser vorheriger Teil II.

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in der Ewigkeit Gottes unter der Form ewiger Wesensideen gegeben sind.929 Die MystikerInnen leben diese Wesenhaftigkeit Gottes und aller Dinge dann als das, was sie selbst sind, nämlich die Unendlich­ keit des Wesens Gottes als seine Liebe zu allem in ihrer eigenen Erfahrung. Dadurch ist eine ausreichend symbolische Vermittlung gegeben, damit solche Mystik nicht in ein rein Imaginäres oder eine Psychose abgleitet.930 Dies wird durch die oben genannte ständige »Aufforderung« verhindert, nämlich in dieser Liebe zu bleiben und nichts zu akzeptieren, was nicht diese Liebe beinhaltet – also keinen besonderen Werken den Vorzug zu geben, ohne indes vom Handeln zu lassen. Deshalb ist auch die Nächstenliebe oder das intersubjektive Ko-Pathos im authentisch mystischen Sinne nur im lebendigen Rah­ men dieser absoluten Gottesliebe angezeigt, mit anderen Worten sind die anderen Menschen mit jener Liebe Gottes selbst zu lieben, mit der dieser sich selbst liebt, wie es auch der Sufismus unterstreicht. Allerdings besitzt die Substitution des Gesetzes durch die Liebe eine Konsequenz, die man mit den MystikerInnen als die nicht abtragbare ontologische »Schuld der Liebe« (dette) bezeichnen kann, insofern wir von uns selbst aus nichts zurückerstatten können, was nicht schon die absolute Ursprungsgabe der Liebe oder des Lebens Gottes selbst wäre, wie besonders Hadewijch betonte. In diesem Sinne bleibt auch in der mystischen Erfahrung – bis auf wenige Augenblicke – meist eine Sehnsucht, noch nicht genug zu lieben, um damit das Begehren ganz Liebe werden zu lassen, denn Begehren allein ist noch nicht lieben im Sinne des umfassend originären Lebens im Realen oder Einen, wie es besonders Ibn Arabi und Rumi unterstreichen. Diese ontologische, nicht moralische »Schuld« gegenüber der Liebe hält daher eine Differenz innerhalb der Symbolik des Einen offen, damit die MystikerInnen nicht Opfer eines Phantasmas werden, welches die Liebe Gottes nur imaginär lebt, anstatt sie als das Reale effektiv in jedem Augenblick zu erproben. Lebensmystisch gespro­ chen, leben wir zwar stets schon in der originären Unmittelbarkeit unserer selbstaffektiven Lebensempfängnis,931 aber dies schließt die 929 Vgl. W. Beierwaltes, Denken des Einen, Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt/M. 22016. 930 Wir verweisen nochmals auf die schon früher angeführte Untersuchung von P. Janet, De l’angoisse à l’exstase. Études sur les croyances et les sentiments I: Un délire religieux (1926), Paris 2008. 931 Vgl. R. Kühn, Alles, was leiden kann, 11–35: »Das ›originäre Wie‹ als unsagba­ rer Ursprung«.

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Wirklichkeit der existentiellen Leiden nicht aus. Deren immanente Einheit mit der Freude bildet eine immer wieder zu verwirklichende Aufgabe, obwohl die Einheit im »Ungrund« des Lebens gegeben ist. Somit ließe sich sagen, dass die »Schuld« der Liebe das »Er-Leiden« dieser Liebe selbst ist, welche die ex-sistence als Begehren nicht aufhebt, auch wenn die Einheit mit Gott als ständige Immanenz erprobt werden darf. Die erwähnte »Entsinnlichung« des Leibes in Hinsicht auf Geschlechtlichkeit und zukünftige Seligkeit bei Gott gemäß Lacan kann somit – wozu der Buddhismus tendiert – nicht in einem absolut verneinenden Sinne verstanden werden, insofern die Leiden des Lebens in die Freude desselben als seine originäre Selbstaffek­ tion integriert sind. Die jouissance der MystikerInnen innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition kennt mithin in allem die Präsenz eines göttlichen Begehrens, welches einen nicht imaginären »Vater« oberhalb des Gesetzes impliziert. Würde man in der Tat den ana­ lytisch-therapeutischen »Namen-des-Vaters« völlig ausschließen,932 der jedes subjektive Begehren in den Ort des Anderen (A) einschreibt, dann müsste man subjektiv wie kulturell gleichfalls eine vollkom­ mene Trennung zwischen Religion und Mystik postulieren. Aber unter den MystikerInnen gibt es die einfachsten Frauen und Männer, die ihr gewöhnliches religiöses Leben in allem weiterführen. Ohne die Finalität ihres Handelns in die Werke zu verlegen, wie Luther dies dann für den Glauben im Protestantismus reklamierte, leben sie eine ko-pathische Praxis in der Alltäglichkeit selbst, ohne dass diese von der Immanenz des mystischen Lebens getrennt ist. In dieser Hinsicht wird die jouissance der Gottesliebe als Einheit nicht in den Dingen, Werken und Aufgaben als solchen erfahren, sondern als die »andere Seite« dieser jouissance – über den imaginär symbolischen »Vater« als Phallus hinaus. Denn der symbolisch Andere (A) ist als »Loch« dieses Anderen der Ort, wo sich die »Kastration« einschreibt,933 die als »Abgeschiedenheit« (Meister Eckhart), »Dunkle Nacht« (Johannes vom Kreuz) oder »Zunichtewerden« (al-Halladsch) zuvor angespro­ chen wurde. In solcher Perspektive gibt es in der christlichen Mystik eine »innerliche Gegenseitigkeit« in Gott zwischen Vater und Sohn bis in den Tod Christi hinein, während der Sufi-Mystiker sich zwar Gott

932 933

Vgl. J. Lacan, Des Noms-du-Père, Paris 2005, 25f. Vgl. Lacan, ... ou pire, 181ff.

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ganz hingeben kann, ohne jedoch dieselbe Bewegung von Gott selbst her bis in dessen Kenose hinein zu kennen. Wenn aber die Kastration eine fundamentale Gegebenheit für jedes Subjekt in der Existenz darstellt, dann lässt sie sich nicht mehr nur auf den »Ödipuskomplex« wie bei Freud934 begrenzen, sondern impliziert im Zusammenhang mit einer möglichen »anderen jouis­ sance« ein mystisch Reales, das prinzipiell von jedem Menschen in jeder Kultur verwirklicht werden kann. Denn die Kastration bedeutet – tiefer gefasst – eine lebendige Transgression der jeweils begrenzten symbolischen Vermittlungen und Diskurse, um ein radikal Anderes darüber hinaus als »Eines« bzw. Reales erscheinen zu lassen, in die sich die MystikerInnen aller Religionen und Traditionen strukturell eingeschrieben haben, insofern sie die Unmöglichkeit jeglicher Spra­ che erfahren, um dergestalt das Unsagbare als Wesen der jouissance selbst zu erproben. Dies will nicht besagen, dass diese Erfahrung der »Kastration« als Sprachabwesenheit für die »Selbstumschlingung« mit dem Einen und Absoluten des Lebens (Gottes, Gottheit, Nirvana, Paradies) eine Verneinung der poetischen und erotischen Metaphern darstellt.935 Aber letztere sind nicht das Wesen der mystischen Erfah­ rung selbst, sondern nur Hinweise darauf, dass die immanente Einung oder Veränderung als »singulärer Akt« im Sinne der »Kastration« jeglicher imaginären »Ichheit« (Narzissmus) stattgefunden hat. Das Imaginäre, Poetische oder Erotische bildet dann nicht mehr die Posi­ tion einer »komplementären«, sondern »supplementären« jouissance, wie Lacan sie nennt, welche die Andersheit des Anderen (A) als Gegenstand der Imagination durchgestrichen hat, um ausschließlich von der Wirklichkeit der ständigen »Aufforderung« der Liebe Gottes her zu leben, die keine mundane Begrenzung kennt.936 Gesetz, Lust, Name und Wissen sind auf diese Weise als phalli­ sche Ordnungsfaktoren der Diskursivität der Andersheit aufgegeben, um dem singulär lebendigen Akt in seiner immanenten Wahrheit Platz zu machen, die nur der Einzelne zu erproben vermag, was zugleich eine kulturelle Universalität in ihrer Vielfalt einschließt. Vgl. »Fetischismus« (1927), in: GW XIV, 311–317, hier 314f. Vgl. J. Leclercq, »Peut-on vivre sans la métaphore? Réflexions sur l'idéologie et l'utopie: Henry entre Ricœur et Derrida«, in: J.-S. Hardy, J. Leclercq et C. Sauterau (Hgg.), Paul Ricœur et Michel Henry. Entre héritages et destinées phénoménologi­ ques, Louvain 2016, 59–72. 936 Vgl. R. Kühn, Alles, was leiden kann, 169ff., in Bezug auf Symptom, Verbot und Begehren.

934 935

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Dieses Vermögen der MystikerInnen, die ex-sistence als Immanenz zu leben, umschließt daher eine noch unausgeschöpfte Fraternität mit dem modernen Subjekt, der sich weder die Religion noch die Psycho­ analyse versperren müssen. Denn Lacan kann gegen Freud937 zeigen, dass nicht die »Wissenschaftlichkeit« das »Unbehagen in der Kultur« anstelle der Religion zu lösen vermag, sondern nur eine jouissance, die jeder zu erproben vermag, ohne davon ein thematisches »Wissen« zu haben. Dies wäre der ex-sistente Gottesbezug in Lacans Verständnis der Mystik, wie er sicher im Gespräch mit radikaler Phänomenologie und Postmoderne sowie Ethik und Kultur weiterhin zu berücksichti­ gen bleibt, um der Eigenständigkeit eines »mystischen Diskurses« auch heute gerecht zu werden. Zu ihm gehört ebenfalls der Sufismus, welcher zugleich eine mögliche Verwandlung des militanten Islam seit dessen Entstehen in sich birgt, wie es zunehmend diskutiert wird.938 Dass die Mystik nämlich eine sublimierte Form der Religion bietet, steht nach dem bisher Ausgeführten außer Zweifel, aber die Frage ist, ob eine solche »Sublimierung« nur eine spezifische Anwen­ dung der letzteren im freudschen Sinne bildet, sich nämlich unter dem Einfluss eines Ideals oder Verzichts auf unmittelbare Befriedigung zu einer höheren ethischen Ebene zu erheben. Im Zusammenhang mit der klassischen Psychoanalyse würde dies dann individuell und kulturell nur einen Prozess der »Verschiebung« sexueller Aktivität auf andere Bereiche wie den ästhetischen, religiösen und wissen­ schaftlichen bedeuten. Freud korreliert sogar eine gewisse energische Eroberung des Sexualobjekts »mit der ähnlichen Verfolgung anderer Ziele«.939 Aber dann könnte man zu dem irrigen Schluss gelangen, dass sublimierte Ziele umso leichter erreicht würden, falls sexuelle Befriedigung gelingt. Jedoch führt auch die Umkehrung dieser »vul­ gären Vorstellung« keineswegs zu einem direkteren Verständnis der Sublimierung,940 wie zuvor der Bezug von Mystik/jouissance nach Lacan zeigte, der hierbei sowohl eine Trans-gression der »Lust« wie Vgl. Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: GW XIV, 419–507, hier 497ff. Vgl. zur Analyse des Terrorismus P. Ziade, Généalogie de la mondialisation. Analyse de la crise identitaire actuelle, Paris 2015, 161ff.; für die kriegerischen Umstände bei der Herausbildung des Islams siehe M.A. Amir-Moezzi, La preuve de Dieu, 29ff. 939 Vgl. »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität«: GW VII (1906– 1909), Frankfurt/M. 1948, 129. 940 Vgl. M. Turnheim, »Trieb und Werk«, in: Mitteilungen des Instituts für Wissen­ schaft und Kunst 51/1 (1996) Psychoanalyse und Philosophie, 35–40, hier 35f. 937

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eines jeden »Signifikanten« am Werk sieht. Dabei unterliegt die Regelung von Sexualität wie Phallus der Kastration, das heißt in beiden Fällen dem ursprünglichen Verlust im subjektiven Sinne eines abwesenden Signifikanten des »Urverdrängten«, wie Freud diesen Begriff bereits kannte.941 Latent wie dieses Urverdrängte – oder sogar ganz verborgen – ist auch jener Signifikant, der es bezeichnen soll. Dadurch wird die Bezeichnungsfunktion als solche problematisch, dass nämlich etwas bezeichnet werden soll, das gar nicht gesagt werden kann. Kastration und Mystik gehören daher strukturell in dem Sinne zusammen, als es unmöglich ist, irgendwann einmal alles sagen zu können. Damit bekommt allerdings der subjektive Leib als originäre Sexualität bzw. Erotik eine Unmöglichkeit als Erleben oder Ausdruck aufgebürdet, die nur Unzugänglichkeit und Phallus miteinander korrelieren lassen kann, was die jouissance als »Erotik Gottes« eben zu übersteigen versucht. Insofern stößt in der Sexualität eine unvorstellbare Vorstel­ lung mit dem Verlorenen des Urverdrängten zusammen, so dass der Phallus nicht nur eine individuell imaginäre Schöpfung eines jeden Subjekts der »Lust« ist, sondern ebenfalls eine symbolische Konvention, die von vornherein alle lebendigen Subjekte betrifft. Demzufolge ist die Sexualität je singulär wie außergewöhnlich in ihrem Vollzug – zugleich aber auch paradoxerweise ganz alltäglich durch die Wiederholung des Geschlechtsaktes. In seiner intimen Zurückgezogenheit impliziert daher der Geschlechtsvollzug einen Bruch mit dem Alltag, um allerdings in seiner Wiederholung ohne endgültige Befriedigung – selbst durch häufigen Wechsel der Sexual­ partner – eine grundlegende Anfrage an eben diese Wiederholbarkeit hervorzurufen. Dass sich hier neurotische »Reaktionsbildungen« im Sinne Freuds einstellen können, ist offensichtlich, und damit erhebt sich auch umso schärfer die Frage abschließend, ob die Sublimierung in dieser Perspektive eine bloße Leitung der sexuellen Energie in andere »Kanäle« wie beispielsweise des Schönen oder Erhabenen sei. Dafür ließen sich die Perspektiven von Kant und Bataille anführen, nämlich als die »Verschwendung« (dépense) erotischer Mystik als

941 Vgl. J.-C. Maleval, La forclusion du Nom-du-Père. Le concept et sa clinique, Paris 2000, 42ff.

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Bildung einer sakralen Welt in der Immanenz durch die Einbildungs­ kraft.942 Aufgrund der genannten Problematik von Geschlechtsakt und Wiederholung dürfte sich mithin ergeben, dass die Sublimierung eine Dekonstruktion gerade dieser Voraussetzung von Phallusfunktion und Wiederholbarkeit in die Wege zu leiten hat. Regelt nämlich der Phallus die Wiederholbarkeit des Sexualvollzugs als selbstverständ­ licher Suche nach Lust, dann dürfte die Sublimierung eher der Forde­ rung nach der unwiederholbaren Einmaligkeit und dem unsagbaren Signifikanten gehorchen. Kurz gesagt, nähert sich die Sublimierung durch eine solche Analyse der prinzipiellen Überschreitung der phal­ lischen Routine, was etwa bei Michel Foucault943 zur Forderung an die Sexualität als einen Ort der Kreativität bzw. einer ästhetischen Ethik der »Selbstsorge« wurde. Wie unsere Untersuchung zur Mystik in Christentum, Buddhismus und Islam zeigen konnte, ist die mystische jouissance insofern eine Sublimierung, als sie jenseits aller etablierten Vorstellungen etwas von jenem unbekannten Realen, Einen, Gott oder Nirvana zu erproben gibt, das nicht durch den Phallus als gesetz­ mäßige Signifikanten der Wiederholung symbolisiert ist. Insoweit wäre die Mystik in Bezug auf die Geschlechtlichkeit ebenfalls die Weise, in letzterer eine Wirklichkeit zum Vollzug gelangen zu lassen, die gleichfalls ein Unvorhersehbares gelten lässt – eine jouissance jenseits der Lust. Die Sufimystik versucht daher gerade dies als »Erotik Gottes« zu erproben, ohne dabei allerdings dem Problem des transzendenten Bezugs zur Andersheit Allahs ganz gerecht werden zu können. Denn dieser befindet sich außerhalb jeglicher denkbaren Relation eines Sich-Selbst-Gebens, und somit muss letztlich auch alle geschöpfliche Symbolik zugunsten einer »Ich-Vernichtung« verlassen werden, selbt wenn dies als äußerster Akt menschlich-göttlicher Liebeshingabe poetisch metaphorisiert wird. Anders gesagt, muss es einen Übergang von der Existenz des phallischen Objekts in der Sexualität (»Lust«) zu einer Evokation des unvorstellbaren »Dings« (Eine, Reale, Gott, Ko-Pathos, Liebe 942 Vgl. G. Bataille, »Schéma d'une histoire des religions« (1948), in: Œuvres complè­ tes VII, Paris 1976, 406–442, hier 435f.; N. Schlecht, Zur Bestimmung der Funktion der Einbildungskraft in der Analytik des Erhabenen. Eine Studie zur Immanuel Kants »Kritik der Urteilskraft«, Würzburg 2020. 943 Vgl. Histoire de la sexualité III: Le souci de soi, Paris 1984, 315ff. (dt. Sexualität und Wahrheit 3: Die Sorge um Sich, Frankfurt/M. 1986).

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etc.) in der Sublimierung geben. Wenn Lacan944 daher sagt, dass die Sublimierung »ein Objekt zur Würde des Dings (la Chose) erhebt«, dann kann dies nicht länger den konventionellen Phallus betreffen, sondern nur einen Vollzug, der sich jeder Repräsentation entzieht, aber dennoch wie ein Kunstwerk zugleich einem allgemeinen Urteil im Sinne des schon erwähnten »Erhabenen« bei Kant zugänglich bleibt, das heißt Liebe, Schöpfung oder Leben als mögliche wort­ lose Erprobung für jeden strukturell zugänglich macht. Denn im künstlerischen Werk bzw. im Naturschönen gibt es ein Zeigen oder Darstellen, aber das Gezeigte entzieht sich der alltäglich utilitären Wahrnehmung, so dass sich das darin Vorgestellte der Repräsentation als »Dar-stellung« durch ein Verschwinden entzieht. Auch im Phallus gibt es notwendigerweise ein Verschwinden durch die Kastration, um das Scheitern der Konvention (Gesetz, Routine, Tradition, Anhaf­ tungen etc.) anzuzeigen, während die Sublimierung diese Funktion des Verschwindens jedes Mal schöpferisch neu setzt oder zulässt. Das heißt, das künstlerische Werk oder die Mystik als strukturelle Kriteriologie des Sublimen entziehen sich einem definitiven Zeigen und Sehenlassen, so wie »Gott« als das Eine oder die Liebe sich dem identifizierenden Besitz durch irgendeinen »Namen-des-Vaters« entzieht, gerade auch der alles beherrschenden Absolutheit Allahs im Islam, die deshalb als erotische Annäherung in die Dichtung verlegt werden muss. Damit verlassen wir die freudsche Interpretation der Kunst wie Religion als einer bloßen Latenz von verborgen archaischen Gedanken, sei es Mutterkomplex wie angeblich bei Leonardo da Vinci oder Vatertötung seit dem Totemismus und in der Mensch­ heitsentwicklung danach, um das »Urverdrängte« vielmehr als jenen »Signifikanten« aufzufassen, der nie in einem Diskurs gesagt zu werden vermag. Jedes künstlerische Werk widersetzt sich in der Tat einer endgültigen Interpretation, indem es eine unendlich subjektive Rezeption und Symbolisierung erlaubt, so wie nach Lacan in der Analyse/Therapie das »rätselhafte Ding« umkreist wird, welches kein »Objekt« ist, sondern das Begehren als »Ich« in dessen singulärer »Wahrheit« ohne diskursives Wissen.945 Die Sublimierung inner­ halb einer originären Mystik ist dann gleichfalls die Öffnung über alle phallischen Signifikanten hinaus, einschließlich des »Namens 944 945

L´éthique de la psychanalyse, 133. Vgl. M. Turnheim, »Trieb und Werk«, 38f.

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Gottes«, sofern dieser keinerlei phallische Bedeutung mehr besitzt, sondern als »Name« (Gott, Liebe, Eines, Reales, Schöpfer, Andersheit, Transzendenz, Nirvana, ex-sistence etc.) jeweils das Darüber-Hinaus jeglichen Namens andeutet. Dies kann radikal phänomenologisch am besten als Immanenz des Lebens vor jeglicher Sprache selbst bezeichnet werden.946 Die psychoanalytische Theorie der Sublimierung wäre dann nicht länger bloß eine solche der sexuellen Energie, die in andere Bereiche geleitet wird, oder allein Verdrängtes hinter künstlerischen und kulturellen Leistungen aufsucht, sondern Bruch mit dem Primat der Vorstellung und Bewusstwerdung im Sinne mystischer Kriterio­ logie. Jedes Werk kann trotzdem weiterhin dem »Trieb« als Begehren zugeordnet werden, aber letzteres ist als jouissance keine biologische, phallische oder symbolische Faktizität mehr, obwohl das Begehren all diese Bereiche durchquert, auch »Begierde« als »Durst« im Sinne des Buddhismus. Vielmehr ist solches Begehren in seiner sublimieren­ den Selbstbewegung eine lebendige Unmittelbarkeit diesseits seiner phantasmatischen Fixierungen. Wenn in dieser Dimension die Leere der Vorstellung eine Fülle an originärer Lebendigkeit ausmacht, so wie auch die Architektur beispielsweise um die Leere herum errichtet wird, bzw. die Malerei, Poesie und Literatur durch perspektivische Illusion und narrative Fiktion das Vorstellungssfreie umkreisen, so kann die Sublimierung dann als »die Befriedigung an Strebung am Wechsel ihres Objekts« bezeichnet werden,947 so wie auch schon Freud schrieb, dass die Triebanteile »beliebig oft gewechselt wer­ den«.948 Sieht man radikal phänomenologisch die Triebanteile als Momente des Begehrens selbst, dann kann ein solcher »Wechsel« gegenreduktiv bis hin zur genannten Vorstellungsfreiheit gehen, insofern im reinen Begehren als Selbstbewegung des Lebens keinerlei transzendentes Objekt – einschließlich Gott – mehr gegeben ist. Die »Sublimierung« wäre demzufolge ein anderer Name für die »Selbst­ steigerung des Lebens«, welche alle intentionalen Objekte affektiv ermöglicht und poetisiert, ohne darin eigenwesentlich aufzugehen. Mit anderen Worten macht ein solch transzendental verlebendigen­ des Begehren in keinem dieser Objekte sein eigenes Selbsterscheinen fest, ohne dabei jedoch die Freude des ontologischen Reichtums 946 947 948

Vgl. R. Kühn, Diskurs und Religion, 194–209: »Der ›religiöse Diskurs‹". Vgl. J. Lacan, L'éthique de la psychanalyse, 339. Vgl. »Triebe und Triebschicksale«, 85; im Folgenden 93ff.

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aller Dinge als innere Modalisierung zu verkennen, wie es gerade Musikalität und Liebeslyrik im Sufismus unterstreichen. Dies führt ebenfalls zu einer Neubestimmung des Verhältnis­ ses von Sublimierung und Narzissmus, denn wenn die Mystik den Verzicht auf einen primären wie sekundären Narzissmus als Beset­ zungsenergie von Ich und allem Objektalen bedeutet, dann ist damit die »Selbstliebe« des Begehrens nicht verneint, die als »Liebe Gottes« oder »Vernichtetwerden« im Einen ihre »Erotisierung« unmittelbar aus dem immanenten Leben selbst empfängt. Die Sexualität wird damit nicht abgetötet, denn sie ist nicht länger bloß die Quelle einer narzisstischen oder masochistischen Egoität. Das psychoanalytische Konzept des Narzissmus meint seit Freud und Karl Abraham (1877– 1925) eine primäre Objektabwesenheit, um sich ganz auf das eigene Ich libidinös zu beziehen. In »Triebe und Triebschicksale« lässt Freud durchscheinen, dass der Hass älter wäre als die Objektliebe, denn das narzisstische Ich impliziere eine ursprüngliche Verweigerung der Außenwelt, welche Erregung über Empfinden und Wahrnehmung verursache. Damit sind gewisse Vorgaben für Aggressivität, Destruk­ tion, Masochismus und Todestrieb als spätere psychoanalytische Theoriebildung gemacht. Abraham949 sah zudem im Narzissmus vor allem einen neurotischen Widerstand mit negativen Effekten innerhalb der »Übertragung«, da sich durch den narzisstischen Stolz »ein ungewöhnliches Maß von Trotz« herausbilde, wodurch in jeder Bemerkung des Analytikers/Therapeuten eine »Demütigung« erlebt werde. Dazu gesellen sich Neid und die Tendenz, »alles selbst und allein zu machen«, so dass der Andere durchgehend zum Objekt von »Geringschätzung« werde. Dies gilt gleichfalls in den alltäglich lebensweltlichen »Übertragungen«, welche durch die mystische Pra­ xis als Mitgefühl, Nächstenliebe oder Ko-Pathos überwunden wer­ den sollen.950 Auch Wilhelm Reich unterstreicht den »Charakterpanzer« des narzisstischen Menschen mit seiner stolzen und ironischen Haltung, die auf einer verdrängten Aggressivität beruhe und leicht zu Todes­ wünschen führe, auch wenn Reich den Todestrieb Freuds als solchen 949 Vgl. Gesammelte Schriften, Band 1: Psychoanalytische Methodik, Gießen 1999, 279; siehe ebenfalls S. Freud u. K. Abraham, Briefwechsel 1907–1925, 2 Bände (Hgg. E. Falzeder u. L.M. Hermanns), Wien 2000. 950 Vgl. L. Reddemann, Mitgefühl, Trauma und Achtsamkeit in psychodynamischen Therapien, Göttingen 2017.

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ablehnt.951 Mit Melanie Kleins (1882–1960) »Objektbeziehungs­ theorie«952 ergab sich sodann eine ausführliche Analyse von Gier, Neid und Eifersucht, welche die Mechanismen von »Projektion« und »Introjektion« einschließt, was für unseren Zusammenhang insofern von Bedeutung ist, als gerade die Mystik mit diesen »Urkonflikten« narzisstischer Prägung einen Umgang zu ihrer Verwandlung hin findet. So betrifft die Gier nicht nur ein Begehren ohne scheinbare Sättigung, sondern auch einen Objektbezug, der jedes Maß über­ schreitet. Melanie Klein sah darin den Versuch, die »mütterliche Brust« vollständig zu leeren und anschließend mit »bösen Objekten« zu füllen, welche als Introjektion daraufhin die Aggressivität zu legitimieren scheinen. Allgemeiner gesagt, bedeutet der Narzissmus hier eine idealisierende Objektbesetzung, welche als Phantasma einen Teil des eigenen Selbst und der subjektiven Leiblichkeit bildet. Die mystische Antwort hierauf kann nicht nur eine bessere äußere »Realitätsprüfung« im Sinne Freuds sein, vielmehr muss der phantas­ matische Bezug als solcher zwischen dem Objektalen und dem Ich durchschaut werden, um sowohl eine Erfüllung des Narzissmus durch das eigene Ich wie irgendein Objekt ad absurdum zu führen. Lacan sah diese Möglichkeit in der dargestellten Konfrontation mit dem Realen bzw. Einen, welche die Loslösung von idealisierenden Signifikanten erfordern, um dem »Überraschenden« der »Erotik Gottes« Raum zu geben, die weder die eigene noch projizierte Idealität aufsucht, um dem Narzissmus sein innerstes triebhaftes Motiv für Gier, Neid, Eifersucht und Aggressivität zu entziehen. Denn der Neid ist nichts anderes als der Zorn und die Wut gegen­ über einer anderen Person, die etwas besitzt, das ich selbst – allein für mich – genießen möchte. Dies beinhaltet jedoch, die jouissance ebenso in einen symbolisierten Besitz als Phallus einschreiben zu wollen wie über die Eifersucht eine Liebe für sich zu beanspruchen, die nicht dem »Rivalen« gehören darf, sondern ausschließlich mir. Dahinter steht für Melanie Klein anfänglich ebenfalls die »mütterliche Brust« als »gutes Objekt« diesmal, das alles gibt, ohne sich ihm jedoch 951 Vgl. Charakteranalyse. Technik und Grundlagen für studierende und praktizie­ rende Analytiker, Selbstverlag 1933; erweiterte Ausgabe Köln 1970, 200ff. siehe auch M. Sharaf, Wilhelm Reich – Erforscher des Lebendigen. Eine Biografie, Gießen 2022. 952 Vgl. Seelische Urkonflikte. Liebe, Hass und Schuldgefühle, Frankfurt/M. 1992; Die Psychoanalyse des Kindes, München 1973; dazu R. Caper, Seelische Wirklichkeit. Von Freud zu Melanie Klein, Stuttgart 2000.

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jemals angleichen zu können. Anders als bei Freud gibt es mithin einen primär narzisstischen Objektbezug, aber dieser hat sich als Phantasma auf innere Objekte verlagert, die um jeden Preis bewahrt werden sollen und nach außen dann Hass oder Zerstörungsaffekte zeitigen. Dem geht allerdings das Erleben ursprünglicher Ängste voraus, die alle um die Schwäche des Ich und dessen fundamentale Furcht möglichen Zusammenbruchs kreisen. Auch die MystikerIn­ nen kennen diese Angst, so wie etwa Theresa von Avila angesichts der von ihr angenommenen ewigen Höllenpein drei Tage wie im Koma lag. Aber schließlich wird die eigene Ohnmacht von ihr im ontologischen und existentiellen als auch ethischen und religiösen Sinne angenommen, ohne sie als phantasmatischen Neid auf ein Unverfügbares hin zu projizieren, wie es die »Mutter« im Erleben des Kindes nach Melanie Klein in einem paranoid schizoiden Sinne bleibt. Die »Ohn-macht« als Nichts, Nacht, Abgeschiedenheit, Ver­ nichtetwerden, Wiedergeburt etc. führt daher in der Mystik nicht zu einer negativen Übertragung, sondern wird als prinzipielle Leere akzeptiert, in die sich ein Unsagbares und Unvorstellbares (das Reale, Eine, Gott, Nirvana etc.) einzuschreiben vermag. Nämlich im Modus des »Besitzes« als Entzug oder Verschwinden, was als »abwesende Anwesenheit« ohne Signifikant erprobt werden kann, mit anderen Worten als Immanenz des absolut unmittelbaren Lebens in seiner unaufhebbaren Passibilität.953 Was die verschiedenen Psychoanalytiker seit Freud für das Ver­ hältnis zwischen Narzissmus und Übertragung beschreiben, kann daher auf jeden Ich- und Objektbezug einschließlich intersubjektiver Andersheit als »Beziehung« überhaupt angewandt werden, so dass der Bezug zwischen Mystik/Narzissmus etwas Grundlegendes offen­ bart. Ohne die psychopathologischen »Masken« durch einen primär aggressiven wie masochistischen Narzissmus in Abrede stellen zu müssen, bewegt sich unsere mystische Ursprungsanalyse jedoch weiterhin um die rein phänomenologische Frage der passiblen Selbst­ gegebenheit des »Ich« als Mich. Denn was erlaubt es letztlich, dass ein »Ich« überhaupt Ich sagen kann, und zwar nicht nur als sprachlicher Indikator in einer Satzaussage, sondern vielmehr als notwendiges unmittelbares »Selbstwissen« um sich selber im Sinne immanenter Selbsterprobung dieses selbstaffektiven Ich? Letztendlich muss die konkrete Möglichkeit einer lebendigen Ipseisierung apriorisch vor­ 953

Vgl. R. Kühn, Lebensmystik, 292ff.

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ausliegen, damit das Ich solche »Selbstheit« als Identität zwischen dem erprobten »Mich« und präpositional ausgedrückten »Ich« über das Personalpronomen überhaupt vollziehen kann.954 Jeder Narziss­ mus im analytisch therapeutischen Sinne setzt diese originäre Ipseität vor einem primär psychologischen Narzissmus voraus, der bereits ein manifestes Ich sowie den phänomenologischen Selbstbezug darauf in Anspruch nimmt. Die Mystik hinterfragt kriteriologisch diese Inanspruchnahme des Ich für etwas, das nicht das Reale oder Eine bzw. »Gott« wäre, um eben keine Illusion hinsichtlich eines narziss­ tisch besetzen Selbst- oder Objektbezugs bestehen zu lassen. In dieser Hinsicht liegt die Mystik als Abwesenheit von Phallus und Signifikanten der Psychoanalyse als Theorie und Praxis voraus, was Lacan ohne Zweifel durch seine Analyse der jouissance bezeugen kann. Und die Kur ist das Kreisen um diese singuläre Wahrheit eines Vor-Narzisstischen, ohne dabei »Religiöses« oder »Mystisches« in ihrem Verlauf weltanschaulich thematisieren zu müssen.955 Die analytisch therapeutische Rückfrage an den narzisstischen Selbst- und Objektbezug betrifft praktisch vornehmlich jene projek­ tiven und introjektiven Identifikationen, welche sich als »Allmacht« verstehen, wie Freud sie schon als erotisch fundierte »Gedankenall­ macht« im Totemismus als Magie aufgefunden hatte.956 Die Mystik als Konfrontation mit der Kastration im Sinne subjektiver Ohnmacht der ex-sistence nach Lacan kann daher als Rückführung jedes magi­ schen Bezugs als »Aberglaube« auf die zuvor genannte Leere verstan­ den werden, die als phallische Namensabwesenheit die strukturelle Loslösung der Bedeutungsfunktion als Re-präsentation vom Ich wie Realen bzw. Einen beinhaltet. Denn die von Allmachtsphantasien genährte Idealisierung macht in der Tat jeden originären Zugang zu einer seelischen wie göttlichen Wirklichkeit als auch zur Außen­ welt schwierig, und eine entsprechende Analyse/Therapie vermag nur Fortschritte zu erzielen, wenn die Gefühle von Neid hinter der Frustration als Auslöser einer depressiven Disposition einsichtbar werden. Auf dem Weg dahin können Reaktionsbildungen immer Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität, 33ff. Vgl. auch G. Weischede u. R. Zwiebel, Neurose und Erleuchtung, Stuttgart 2009; R. Zwiebel u. G. Weischede, Die Suche nach dem stillen Ort, Göttingen 2017. 956 Vgl. Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (GW IX), Frankfurt/M. 92012, 93ff.; siehe ebenfalls P. Diederichs, J. Frommer u. F. Wellendorf (Hgg.), Äußere und innere Realität. Theorie und Behand­ lungstechnik der Psychoanalyse im Wandel,, Gießen 2022. 954 955

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wieder zu heftigen schizoiden Widerständen führen, so dass die aggressiven Anteile hier nach und nach integriert werden müssen. Die narzisstische Übertragung als Allmachtsphantasma impliziert unzutreffende Anfragen an die introjizierten Objekte, was zugleich die Unterscheidung von »Sich« und »Anderen« im eigenen »Selbst« schwierig macht. Wenn immer wieder diskutiert wird, inwieweit die narzisstischen und psychotischen Anteile gleichfalls bei den Mysti­ kerInnen eine Rolle spielen, dann ist dies genau die Frage, bis zu welchem Grad entsprechende Phantasmen nicht mehr auf »Gott« pro­ jiziert werden, um die eigene Ohnmacht durch »Gottähnlichkeit« zu verschleiern,957 ohne die Gefühle von Affektion, Liebe und Beziehung selbstaggressiv oder masochistisch leugnen zu müssen. Wenn nämlich die Mystik keinerlei Bezug zu Phallus/Signifi­ kanten mehr beibehält, sondern das bedingungslose Geltenlassen einer sublimierten und je neuen schöpferischen Beziehung zum Realen oder Einen, dann geht es nicht nur um »Triebentmischung« zwischen Eros und Thanatos nach freudscher Auffassung. Auch ergibt nicht länger ein Gefühl der Demütigung für eine »narzisstische Kränkung« das Motiv der mystischen unio, sondern die genannte »Ohnmacht« ist ausschließlich jene immanent erprobte »Gewalt des Lebens«, deren »Wunde« auf ein absolut phänomenologisches »Voraus« oder »Mehr« des Lebens verweist, ohne jemals im Begeh­ ren als Liebe zurückerstattet werden zu können, wie es Ibn Arabi, Rumi und al-Halladsch besonders im Islam bezeugen. Wie jede so genannte »Psychopathologie« ist auch der Narzissmus bedingt durch ein »Zuviel des Lebens«, durch ein Übermaß jener Passibilität unserer Geburt in diesem transzendentalen Leben, die in ihrer immanent affektiven Schutzlosigkeit als ein »Auf-Sich-Geworfensein« erprobt wird, ohne die Außenwelt irgendwie noch als Fluchtraum benutzen zu können. Führt man daher die narzisstische Grunderfahrung der objek­ talen oder welthaften Nicht-Bedeutsamkeit noch einen Schritt weiter, nämlich als Kern der Passibilität in deren reiner Selbstaffektion, wo das Leben ausschließlich sich selbst berührt, dann leitet diese radikale Affektabilität durch das Leben allein zu dem, was auch Meister Eckhart unsere radikal phänomenologische Ursprungsgegebenheit als »Gott-Erleidende« nannte: »Der Mensch ist ein Gott-Erleidender

957

Vgl. R. Kühn, Diskurs und Religion, 179ff., zur Frage der »Vergöttlichung«.

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[...], und dein Erleiden ist dein höchstes Wirken {...], wenn Du nämlich diese Geburt in dir erfahren willst.«958 Mit der Mystik können wir mithin auf die tiefste »Wunde« hinweisen, die der Narzissismus radikal phänomenologisch offenbart, nämlich kein Selbst ohne Bezug sein zu können. Denn das narzissti­ sche Beharren auf das »Ich« zeigt gerade das affektive Wissen darum, dass dieses Ich aus sich selbst heraus nicht möglich ist – und mani­ festiert sich aus diesem Grund als Angst vor der Auflösung.959 Die Psychoanalyse lässt weitgehend die Grundängste seit dem späteren Freud aus dem Todestrieb entstehen, auch wenn dessen genaue Kon­ zeptualisierung umstritten ist. Die Angst um die Desintegration als psychisch-physischen Zusammenbruch des Ich nach Winnicott setzt aber voraus, dass dieses Ich sich originär zunächst als Empfängnis im Leben erprobt und mithin eine unsichtbare Bezüglichkeit verwirk­ licht, die noch vor jeder »Projektion« im analytisch therapeutischen Sinne angesichts dieser Angst die Selbstaffektion solch originärer Bezogenheit auf »Anderes« hin – das Leben – schlechthin erfährt. Ein solch ursprünglicher Bezug ist dann im Sinne Kierkegaards960 durch einen »Sprung« gekennzeichnet, das heißt sein »Selbst« als Bezug zu erfassen, ohne diesen selbst gründen zu können: »Indem sich das Selbst zu sich selbst verhält und indem es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzt.« Die Projektion auf die »mütterliche Brust« nach Melanie Klein und Winnicott, der daraus eine Verstärkung des Narzissmus beim Patienten als wohlwollende Zuwendung während der Kur ableitete, ist daher ein sekundärer Vor­ gang, da die »gute Brust« der Mutter nicht der originäre Lebensbezug als solcher ist. Deshalb wird die Primärangst der inneren Auflösung auch gegen eine neue Angst eingetauscht, welche die Angst vor der mütterlichen Brust als dem »bösen Objekt« geworden ist. Schizoider Widerstand wie paranoide Idealisierung bzw. die halluzinatorische Besetzung des »guten Objekts« als eines Phantasmas der Allmacht, welche dann das »böse Objekt« insgesamt verneint und vernichten will, bilden mithin Affekte einer narzisstischen Ur-Angst, solange nicht die rein immanente Ursprünglichkeit des absoluten Lebensbe­ zuges als nicht repräsentierbare Fundierung des Ich im rein passiblen Mich verwirklicht wird. Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München 1979, 431 (Predigt 58). Vgl. D.W. Winnicott, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Aus den »Collected Papers«, Frankfurt/M. 1997, 145ff. 960 Vgl. Die Krankheit zum Tode (Ges. Werke 24–25), Gütersloh 1984, 85.

958

959

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Wenn die »projektive Identifikation« mithin einen Mechanismus ursprünglicher Abwehr bildet, um gute wie schlechte Selbstanteile nach außen zu verlagern, um sie dann als Objekte von Liebe und Hass zu erleben, dann bedeutet die Sublimierung, welche wir hier im Zusammenhang mit Narzissmus und Mystik problematisierten, eine Gegenbewegung derartiger Identifikationen. Durch Reduktion der besetzten Objekte unterscheidet sich die Person von ihren Objekten, wie es besonders der Buddhismus als Ablösung praktiziert. Dadurch wird nicht mehr die Kontrolle auf aggressiv narzisstische Weise über das gehasste oder geliebte Objekt gesucht, sondern dessen Eigenleben respektiert, wie es besonders hier auch das je einmalige Kunstwerk verdeutlichen kann. Die Mystik geht sogar noch einen Schritt weiter und gesteht der »Schöpfung« insgesamt die Möglichkeit eines Ko-Pathos zu, der primäre Besetzungen als ich-interessierte Identifikationen und Verschmelzungen aufhebt, Dadurch vermag die Mystik in einer poetisch mystischen Sprache das Eigenwesen aller Dinge zu bejahen, die insgesamt dem »Einen« entstammen, wie die Liebesmystik im Islam zeigte. Denn das Objekt ist nicht länger ein eingelagerter Teil der narzisstischen Person, da die Sinne nicht mehr an fixierte Wahrnehmungsvorstellungen als »Skotomisation« gebunden sind, sondern sich schöpferisch befreien für die Aufnahme von Neuem. In solcher Perspektive wird innerhalb der Mystik die gesamte Welt nicht länger aus der eigenen narzisstischen Sicht in ein­ geengter »Lektüre« wahrgenommen, sondern dank einer »entleerten Aufmerksamkeit« als das, was sie ohne Bedeutungsverzerrung für sich selbst ist. Simone Weil nannte dies die »De-kreation«, das heißt eine Form philosophisch mystischer Reduktion mit Nähe zur Phäno­ menologie.961 Die Sublimierung aller imaginären »Allmächtigkeit« löst mithin die Illusion eines universalen Wissens zugunsten der Singularität der jeweiligen Patienten auf, so wie ebenfalls die Mystik jedes einzelne Ding »in Gott« erblickt, um sein Eigenwesen dergestalt zu achten. Wir beschreiben hier keinerlei Idealzustand, sondern die strukturelle Möglichkeit, wie Sublimierung und Mystik in der Kulturwirklichkeit heute einen Weg bahnen könnten, die psychologisch narzisstischen wie perversen Elemente in eine Originarität zurückzuführen, wo sie nicht mehr von Ur-Ängsten und deren Abwehr genährt sind, sondern in die Selbstliebe des unmittelbaren Lebens und dessen auto961

Vgl. bereits unser vorheriges Kapitel III,1.

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2. Mystik des Einen im Sufismus und »Erotik Gottes« als Sublimierung

jouissance transformiert werden, die der Narzissmus als seine phäno­ menologische Vorbedingung vergessen hat.962 In der Kur müssen ohne Zweifel weiterhin Angst, Neid, Hass und Zerstörungstendenzen entgegengenommen werden, so wie sich auch die MystikerInnen mit diesen affektiven Grundgegebenheiten zu konfrontieren haben, um sie in die genannte Quelle der Liebe zurückzuverwandeln, die für sie die »Erotik Gottes« ist. Sublimierung wie Mystik setzen sich daher ohne phantasmatisch fixierte Einschränkung dem Realen aus, um jene Vorstellungsfreiheit zu verwirklichen, die jedes Mal am Anfang vom erwähnten schöpferisch Neuen steht, welches dann auch von allen Anderen prinzipiell als kulturelle Möglichkeit ergriffen zu werden vermag.963 Die symbolische Kommunikation ohne Fixierung auf den Phallus als fremdverfügte gesellschaftliche Wiederholung gehört daher zum kulturellen Wesen neuer sublimierter Zugänge zum Wirklichen ebenso wie die mystische Sprache Bedeutungskon­ ventionen aufbricht, um Widerstände und Abwehr von Mechanismen unmöglicher Veränderung zu befreien und das »Ungesagte« des Begehrens frei zu setzen. Wenn der Narzissmus durchgehend eine Über-Idealisierung beinhaltet, die alles Erscheinende der Kontrolle des allmächtig gewähnten narzisstischen Ich unterwirft, dann ist die Mystik die Rückführung einer solch phallischen Begrenzung des Gegebenen auf das originäre Erscheinen-Können aller Manifestation als Selbsterscheinen des leiblich affektiven Lebens. Die Mystik dieser lebendigen, realen oder »göttlichen« Ursprungsbezüglichkeit in allem Erscheinenden befreit den Narziss­ mus daher sowohl von seiner Selbstidealisierung als Selbstschutz vor Demütigungen und Frustrationen wie vor den entsprechenden aggressiven Tendenzen mit Allmachtsphantasien, die keine Abhän­ gigkeit oder Ohnmacht gegenüber Anderen oder in seinem eigenen Inneren zulassen, weil die Ursprungsgegebenheit des passiblen Mich als relatio im Sinne Kierkegaards unter anderem verkannt wird. Die Mystik bei Meister Eckhart und ihre philosophische Interpretation durch Michel Henry ist daher nicht ohne Grund eine »Phänome­ 962 Zum »Vergessen des Lebens« vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 186ff.; Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München 2002, 291ff. 963 Zur Rolle der kulturellen »Aneignung« durch »Nachahmung« vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg/München 1994, 355ff., mit Rückgriff auf den Soziologen Guillaume de Tarde, was natürlich eine weitgehend geteilte gesellschaftliche Symbolik mit einschließt.

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nologie der Geburt« als jenem transzendentalen Ursprungsgesche­ hen, welches kein Phantasma der Übermächtigkeit oder Arroganz zulässt, da die reine Passibilität solcher Gebürtigkeit jede Selbstüber­ schätzung im Sinne der Fundierung des eigenen Ich durch dieses selbst grundsätzlich ausschließt.964 Demütigung, Neid, Hass und aggressive Strebungen sind als affektive Erprobungen im Bereich des Mystischen daher von vornherein kriteriologisch einer Motivationsoder Signifikantenreduktion unterworfen, um im wahrgenommenen Abstand zur ungeschuldeten Geburt im Leben jene »Erotik Gottes« im Sinne von Sufismus und Christentum auszumachen, welche als Ko-Pathos die signitive Offenheit für das ganze Sein als »Schöpfung« oder »Leben« nicht ausschließt: »Gutheit aber ist das, worin Gott ausschmilzt und sich allen Kreaturen mitteilt.«965 Der Narzissmus prätendiert ein Absolutes seiner selbst, anstatt das Absolute als nicht phallische Bezüglichkeit in der jeweiligen jouissance eines ent-ideali­ sierten Aktes zu verstehen. Auch die Todeswünsche im Narzissmus und Masochismus mit ihrem Hang zu Depression oder Melancholie auf der Basis ursprünglicher Traumatisierungen durch die »Urkon­ flikte« nach Melanie Klein bergen noch die absolute Selbstreferenz der Beherrschung, anstatt dem Absoluten oder Realen der objektal unbesetzten Lebensbezüglichkeit ihr immanent effektives Werk zu überlassen. Vergessen wir nicht, dass auch jeder Narzissmus ein subjektives Leiden diesseits aller psychopathologischen Aspekte dar­ stellt, dann bleibt es die Aufgabe von Analyse/Therapie wie der Kultur insgesamt, jenen Weg der Selbstveränderung begehbar zu machen, welcher nicht zu einem neuerlich phantasmatisch besetz­ ten »Ich« führt, sondern an jenen Punkt, wo sich die Mystik als »Kastration« immer schon bewegt – am Ort der transzendentalen Geburt als reiner Bezüglichkeit. Die Psychoanalyse muss denselben als solchen nicht benennen, aber auch sie ist nicht vom »Punkt Null« ausgeschlossen, wie W. R. Bion ihn genannt hat.966 Ob die Mystik eine leitende »Systemrelevanz« für die heutige Kultur innehat, lässt sich naturgemäß nicht so leicht beantworten wie 964 Vgl. J. Reaidy, Une relecture phénoménologique contemporaine de la mystique eckhartienne de la »Naissance de Dieu dans l’âme« par Michel Henry, Paris 2012. 965 Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, 234 (Predigt 18). 966 Vgl. Second Thoughts (1967), London 1993, 105f.; dazu W. Wiedenmann, Wilfred Bion. Biographie, Theorie und klinische Praxis des Mystikers der Psychoanalyse, Gießen 2007, sowie nochmals K.H. Witte, Zwischen Psychoanalyse und Mystik. Psychologisch-phänomenologische Analysen, Freiburg/München 2010, 95ff.

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2. Mystik des Einen im Sufismus und »Erotik Gottes« als Sublimierung

im Falle der Religionen, die in dieser Hinsicht erst von der Moderne zurückgedrängt wurden, weil sie kein sicheres Wissen mehr im Sinne der säkularisierten »Selbstbehauptung« liefern konnten, wenn man der These von Hans Blumenberg folgen will.967 Auf der anderen Seite scheinen die neuen Formen an »Spiritualität« Freuds Religionskritik im Anschluss an Kant und Feuerbach insoweit in Frage zu stellen, als es eben nicht mehr darum vor allem geht, das gesamtgesellschaftliche System durch religiöse Gebote zu stützen. Vielmehr sollen andere bereichernde Selbst- und Weltzugänge gefunden werden, welche nicht unbedingt rein vernunftbasiert auftreten, sondern sich mehr einer »Lebensästhetik« angleichen. Paradoxerweise hat Freud diese Entwicklung durch seine Kultur- wie Religionskritik selbst beflügelt, da auch er letztendlich weder eine Versicherung in der Wissenschaft noch durch die Natur einsichtig machen konnte. Eher favorisierte er in seinem Spätwerk ein »schwebendes Subjekt«, welches sich im inter­ nen Konflikt der topisch energetischen Instanzen von Ich-Es-Überich in gewisser Weise ständig neu erfinden muss, was dann die Postmo­ derne aufgriff.968 Auf dieses Subjekt »ohne Wurzeln« antwortet heute die Spiritualität als eine offensichtliche Sehnsucht nach Kontinuität, während die Mystik weder einem Metaphysischen noch Naturalem im weitesten Sinne verpflichtet ist, sondern gerade jene phallische, symbolische oder welthafte Unsicherheit akzeptiert, die auch Freud kannte, indem er jeder Versuchung für sich widerstand, einen »festen Boden« durch »Wunschphantasien« zu erstellen. Es sei denn, man fasst seine ethische »Resignation« hinsichtlich der Ananké als ein säkular Absolutes auf: »Für die [religiöse Weltanschauung] ist es aber nicht wesentlich, ob sie das Ideal menschlichen Handelns in Christus, Buddha oder Confucius sieht und zur Nachahmung empfiehlt. Ihr Wesen sind die frommen Illusionen von Vorsehung und sittlicher Weltordnung, die der Vernunft widersprechen.«969 967 Vgl. B. Goebel, »Nach der Apokalypse der Vernunft. Hans Blumenbergs Kritik der Apokalyptik im Rahmen seines philosophischen Programms«, in: B. Goebel u. F. Suarez-Müller (Hgg.), Kritik der postmodernen Vernunft. Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Darmstadt 2007, 177–202. 968 Vgl. vor allem hierzu die Beiträge von R. Lesmeister, D. Finkelde und G. Schneider in: E. Frick u. A. Hamburger (Hgg.), Freuds Religionskritik und der »Spiritual Turn«. Ein Dialog zwischen Philosophie und Psychoanalyse, Stuttgart 2005; außerdem M. Parsons, Lebendigkeit in der Psychoanalyse, Gießen 2022. 969 Brief an Oskar Pfister vom 16. Februar 1929, in: S. Freud u. O. Pfister. Briefwech­ sel 1909–1939 (Hg. I. Noth), Frankfurt/M. 1963, 267f.; sowie M. Thiberge, Essai sur

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2. Mystik des Einen im Sufismus und »Erotik Gottes« als Sublimierung

In der neueren Spiritualität geht es jedoch weniger um Vorse­ hung und Sittenordnung als um die individuelle wie kulturelle Proble­ matik einer nicht relationalen Negativität schlechthin. die an sich in Bezug auf Kierkegaard oder die Lebensphänomenalität nicht ohne weiteres haltbar ist. Ob die Spiritualität heute beides miteinander verbinden kann – Verzweiflung bzw. Melancholie der post-modernen Negativität und »Sprung« in eine vorreflexive, unmittelbar lebendige Relation – ist kaum beantwortet, was jedoch für die Mystik als Erprobung des Abgrunds unserer Erfahrung in jeder Bindung und Beziehung außer Frage steht. Sollte sich demnach die gegenwärtige Kultur noch stärker mit solcher »Bodenlosigkeit« oder »Nicht-Konti­ nuität« inter-religiös wie inter-kulturell konfrontiert erleben, dann besitzt die mystische Tradition aller Kulturen ein kriteriologisches Hinweispotential zum Durchschreiten dieser post-metaphysischen Gegebenheit.970 Zumal sie weniger die gesellschaftliche Systemre­ levanz insgesamt in den Blick nimmt als die Wirklichkeit dessen, wozu jede Subjektivität ko-pathisch in der Lage bleibt: Phantasma, Signifikant oder Phallus samt Narzissmus, Masochismus wie Sadis­ mus hinter sich zu lassen, um alle Bezüge zu Dingen und Anderen einer »Sublimierung« zuzuführen, die sowohl poetisch, ästhetisch wie mystisch fundiert sein kann.

la psychanalyse et la postmodernité, 127–148 u. 205–207: »Les processus sans sujet et leur enjeu« sowie »L'inconscient freudien«. 970 Es sei darauf hingewiesen, dass eine entsprechende Einübung solch neuer Erfah­ rungen parallel zur Mystik auch oftmals in der Ästhetik gesucht wird; vgl. zum Beispiel J.-L Lyotard, Des dispositifs pulsionnels, Paris 1994, 71–90 u. 197–214: »Freud selon Cézanne« sowie »Plusieurs silences« in der Musik; R. Kühn, Lebensmystik, 305–321: »Ästhetik und Lebensmystik«.

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3. Lebensmystik und Zukunft von Religion und Gesellschaft

Nach einer Epoche religionskritischer Aufklärung und säkularer Indifferenz gegenüber Religion und Konfessionen scheint es im gegenwärtigen Kontext geopolitischer Umwälzungen so zu sein, dass das »religiöse Phänomen« wieder zu einem wesentlichen Faktor innerhalb interkultureller wie strategischer Auseinandersetzungen geworden ist. Es erstaunt also nicht, dass in solchem Zusammenhang auch die Mystik wieder zunehmend Berücksichtigung findet, wie wir zuletzt für das erwachte Interesse an Spiritualität in unserer Gegenwartskultur feststellen konnten.971 Die religionsphilosophische wie mystische Tradition bleibt dadurch nicht nur an die ererbten Bezüge zu Metaphysik und Theologie gebunden, sondern es knüpfen sich auch ganz neue Verbindungen mit Human-, Sozial-, Kultur- und Religionswissenschaft, um dem religiösen wie mystischen Phänomen in seiner ganzen geschichtlichen wie aktuellen Gegebenheit philoso­ phisch und empirisch gerecht zu werden. In dieser Hinsicht erlegt sich uns daher eine grundsätzliche Verhältnisbestimmung von solch erneuerter Religionsphilosophie und einer ebenso universal wie indi­ viduiert verstandenen Mystik auf. Beides geht noch hinter die Frage von »säkularem Zeitalter« und »postsäkularer Kultur« zurück, wie sie im Anschluss an Charles Taylor,972 Jürgen Habermas973 und Ulrich Oevermann974 mit deren unterschiedlichen Religionsbestimmungen unter anderem gegenwärtig diskutiert wird. Wenn die Mystik unter­ Siehe ebenfalls Th. Möllenbeck u. L. Schulte (Hgg.), Weisheit. Spiritualität der Menschheit, Münster 2021. 972 Vgl. Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/M. 2009. 973 Vgl. Glauben und Wissen, Frankfurt/M. 2001; J.D. Caputo u. G. Vattimo, After the Death of God. The Postmodern Return of Religion, New York 2007; M. Franzmann, Säkularisierter Glaube. Fallrekonstruktion zur fortgeschrittenen Säkula­ risierung des Subjekts, Weinheitm 2017. 974 Vgl. »Strukturelle Religiosität und ihre Ausprägungen unter Bedingungen der vollständigen Säkularisierung des Bewusstseins«, in: Chr. Gärtner, D. Pollack u. M. Wohlrab-Sahr (Hgg.), Atheismus und religiöse Indifferenz, Opladen 2003, 339–382. 971

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schiedlichster religiöser Traditionen und Sprachformen in solcher Perspektive die Selbigkeit einer realen Erfahrung zu belegen scheint, dann ist dies nicht nur ein zusätzlicher – wenn auch noch kontingenter – Hinweis für die Möglichkeit einer phänomenologisch originär aufzuweisenden Mystik, sondern ebenfalls für die Problematisierung des grundsätzlichen Verhältnisses zwischen partikulärer Religions­ form und einer zu Allgemeinaussagen strebenden Religionsphiloso­ phie. Wir können daher nach den bereits festgehaltenen lebenseideti­ schen Einsichten originärer Erfahrungspassibilität als transzendental affektiver Geburt im Fleisch des Lebens unsere methodologische Anfangsfrage nach der Zugänglichkeit der Mystik hier weiterführend aufgreifen und fragen: Wie argumentieren herkömmliche Religions­ philosophien in Bezug auf das Wesen Gottes, des Glaubens oder des Atheismus975sowie in Hinsicht auf die Vielzahl der Religionen, das heißt, welches ist ihr jeweilig erkenntniskritischer Interessenho­ rizont? In methodischer Hinsicht hat angesichts solch aktuell vielfältiger Annäherungen an das Religiöse und Mystische beispielsweise Jean Greisch die Unterscheidung von philosophie de la religion, philosophie religieuse, théologie philosophique und théologie religieuse (confessante) vorgeschlagen.976 Für ihn führt das »Denken der Religion« weder allein zur gläubigen Haltung noch zum ausschließlichen Bemühen um den »Gegenstand Gott« hin, sondern es impliziere eine Öffnung gegenüber theoretischen wie praktischen Manifestationen hinsicht­ lich jener Beziehungen, die mit den grundlegenden Sinnordnungen von »Mensch, Welt und Gott« existieren. Diese vornehmlich seit dem 19. Jahrhundert vorgegebene hermeneutische Sichtweise, wie sie dann Heidegger fundamentalontologisch weiter entscheidend geprägt hat, kann sich ohne Zweifel durch neuere Interessen für religiöse Diskursanalysen sowie für Narrativität und Metaphorologie ergänzen lassen, wie sie unter anderem durch Paul Ricœur und Ivanka B. Raynova977 erarbeitet wurden. Sofern sich die Religionen durch ihre 975 Vgl. zum letzteren Th. Göller (Hg.), Grundlagen der Religionsrkritik, Würz­ burg 2017. 976 Vgl. J. Greisch, Le buisson ardent et les Lumières de la raison. L’invention de la philosophie de la religion, t.1: Héritages et héritiers du XIXe siècle; t.2: Les approches phénoménologiques et analytiques; t.3: Vers un paradigme herméneutique, Paris 2002–2004. 977 Vgl. P. Ricœur, An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, Freiburg/München 2008; P. Ricœur u. Y.B. Raynova, »Der Philo­

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»Erzählungen« (récits) in ihrem positum selbst interpretieren und als »Verkündigung« kerygmatisch mitteilen, kommt dieser Sachver­ halt allen Disziplinen entgegen, welche das »religiöse Phänomen« unter ihrem jeweilig epistemologischen Gesichtspunkt ernst nehmen wollen: Historie, Exegese, Linguistik, Archäologie, Ethnologie, Reli­ gionssoziologie und -psychologie sowie Kunstwissenschaft, die sich gleichfalls der universal mystischen Tradition zugewandt haben, wie wir schon in unserer Hinführung und Grundlegung zu Beginn dieser Untersuchung diskutierten. Ob diese methodische Vielfalt der Disziplinen jedoch den alten und neuen Problemen der Religionsphilosophie und Mystikforschung tatsächlich entgegenkommt, bleibt eine Frage, die vom vorausgesetz­ ten Wesensverständnis der Religion selbst abhängt. Dieses hat nicht nur auf die Vielheit der Religionen und Mystikformen zu achten, sondern vor allem auf die phänomenologische Art und Weise, wie sich deren jeweilige Diskursivität artikuliert. Das heißt als ein Reprä­ sentationsmodell gläubigen Verstehens der oben genannten Trias von Mensch, Welt und Gott, bzw. auch als eine ethisch kulturelle Praxis, die dem individuellen und gesellschaftlichen Heil zugewandt ist. Ein wirkliches »Wesensverständnis« des Religiösen und Mystischen lässt sich aber wohl nur dann gewinnen, wenn die Vorstellungsstruktur unseres Bewusstseins als solche aufgeklärt wird, um in Abgrenzung davon den immanent religiösen wie mystischen Vollzug genauer zu fassen, der sich mit der Wirklichkeit des Absoluten selbst konfron­ tiert, sofern er in dessen inneres Leben selbst eingelassen ist. Die Phänomenologie der Religion und Mystik der letzten Jahrzehnte, wie sie besonders innovativ im französischen Sprachraum von Levinas, Derrida, Marion, Henry und Nancy etwa diskutiert wurde,978 hat für diese Problematik zwei Antworten hinterlassen. Entweder entzieht sich Gott oder das Absolute in eine unzugängliche Alterität bzw. Namenlosigkeit hinein, von der nur eine Spur im Vergessen selbst bleibt, was die virtuelle »Selbstauflösung« (déclosion) des Christen­

soph und sein Glaube«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52/1 (2004) 85–112; siehe ebenfalls H. Ruckenbauer u. S. Moser (Hgg.), Säkularismus, Postsäkularismus und Zukunft der Religionen. Festschrift für Y.B. Raynova, Wien 2022. 978 Vgl. R. Kühn, Französische Religionsphilosophie und -phänomenologie der Gegenwart. Metaphysische und post-metaphysische Positionen zur Erfah­ rungs(un)möglichkeit Gottes, Freiburg i. Br. 2013.

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tums und der anderen Religionen für die Zukunft einschließe.979 Oder das Absolute gibt sich originär dergestalt, dass Vorstellung und Differenz als letzte Gegenstandskategorien nicht mehr maßgeb­ lich sind, um die eigenwesentliche Selbstgebung Gottes als seine »Selbstoffenbarung« zu leben und zu denken. Letztere wäre dann auch an keine besondere geschichtliche Mystik mehr gebunden,980 sondern sie würde im rein kriteriologischen Sinne einlösen, was die mystische Tradition stets apophatisch eingefordert hat. Nämlich »Gott« an keine Begrifflichkeit und Metaphorik mehr zu binden und sich von ihm als Sein, Un-Grund oder Leben selber heimsuchen zu lassen; mit anderen Worten, dass er sich selbst als jene Wirklichkeit offenbare, die er als Ursprung im nicht kausalen Sinne zeitunabhängig immer gewesen ist. Damit bliebe es auch problematisch, in der Bestimmung des Religiösen wie Mystischen eine »trennscharfe« Definitionsaufgabe als hauptsächlich analytisches Anliegen zu sehen.981 Wie die Religion und ihre Gegenstände religionsphilosophisch einschließlich der Mystik zu behandeln wären, stellt mithin die entscheidende methodologische wie inhaltliche Frage dar. Dabei ist ein solches Wie im Sinne klassisch ekstatischer Phänomenologie seit Husserl in seinen Erscheinenskriterien bereits im Vorhinein festgelegt, nämlich durch Welthorizont, Daseinsstrukturen, Bewusst­ seinsimmanenz und Transzendenz, bei denen sich insgesamt die Frage stellt, ob sie für »Gott« letztlich überhaupt maßgeblich sind. Heilige Schriften, Dogmatik, Verkündigung und Riten lassen sich zweifellos auf diese Grundgegebenheiten der »Manifestation Gottes« und seiner menschlichen Rezeption im Dasein hin untersuchen. Aber es gibt auch Traditionen, welche die Unterscheidung von Philosophie/Reli­ gion gar nicht kennen, bzw. auch der Philosophie als Erkenntnistheo­ rie gegenüber ablehnend sind. Deshalb müssen sie nicht weniger genuin religiös sein, so etwa der Buddhismus, wie wir sahen. Denn die Themen der Religionen von ihrem geschichtlichen Beginn an – Vgl. J.-L. Nancy, La Déclosion. Déconstruction du christianisme, t.1, Paris 2005 (dt. Dekonstruktion des Christentums I, Berlin 2008; L’Adoration (Déconstruction du christianisme, 2), Paris 2010 (dt. Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2, Berlin 2012). Dazu auch F. Rass, A.S. Horn u. M.U. Braunschweig (Hgg.), Entzug des Göttlichen. Interdisziplinäre Beiträge zu Jean-Luc Nancys Projekt einer »Dekon­ struktion des Christentums«, Freiburg/München 2017. 980 Vgl. ebenfalls K. Jacobi (Hg.), Mystik, Religion und intellektuelle Redlichkeit. Nachdenken über Thesen Ernst Tugendhats, Freiburg/München 2012. 981 Vgl. T. Müller u. Th.M. Schmidt. (Hgg.), Was ist Religion? Beiträge zur aktuellen Debatte um den Religionsbegriff, Paderborn 2012. 979

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sei es Hoffnung, Heil, Einheit oder Vermittlung von Gott/Mensch – müssen nicht philosophisch oder theologisch formuliert sein, um als »unmittelbare Erprobung« (épreuve) im Sinne ursprünglicher religio wesenhaft gelebt zu werden. Theologie, Philosophie und Mystik sind daher in unserer abendländischen Tradition ebenfalls immer als Dis­ ziplinen des Ursprungs im Sinne eines Un-Grundes zu verstehen, der vor jedem Gedachten liegt, so dass zwar gegenseitige Entlehnungen aus diesen und anderen Disziplinen – mit entsprechender methodi­ scher Vorsicht – nicht auszuschließen sind, aber eine grundsätzlich immemoriable Einheit eben nicht durch eine solch gegenseitige Aner­ kennung in irgendeiner Weise verdunkelt werden darf. Das religionsphilosophische Problem besteht also nicht so sehr in der relativen Zugehörigkeit von philosophischen und theologi­ schen Lektüren, sondern in dem Maß der Differenz, welches darin am Werk bleibt, um jene originäre Einheit als Wirklichkeit dann nicht mehr durchscheinen zu lassen, wie sie gerade die originäre Mystik bezeugt.982 Ideen- und wirkungsgeschichtlich gesehen, ist nämlich spätestens seit Kant die empirisch kategoriale Angleichung von Vorstellung und Objektivität zum einzigen Wahrheitskriterium geworden, was aber prinzipiell zur Folge hatte, dass alles Sein oder Gegebene dem Verdacht anheim fiel, so lange bloße Illusion zu sein, wie keine adäquat wissenschaftliche Vorstellung als Begriff von ihnen gebildet werden konnte. Dadurch wurde nicht nur eine unmit­ telbar ursprüngliche Erscheinensweise wie das rein passible Leben verdunkelt, indem es als bloßes Empfinden desavouiert, bzw. der positivistischen Technik der Behandlung jeglicher Art unterworfen wurde.983 Vielmehr wurde gerade auch die Religion vornehmlich zum Gegenstand einer »Philosophie des Verdachts« unter anderem bei Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud, da sie scheinbar gegenüber der rationalen Vorstellung und der humanistischen Selbstbehauptung keinerlei Eigenwesen an Wahrheit mehr besaß. Umgekehrt kann eine Vgl. F. Dastur, Philosophie de Différence. Un cours, Chatou 2004. Vgl. M. Henry, Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris 1985, 194f.; für heute siehe K. Viertbauer u. R. Kögerler (Hgg.), Neuroenhancement. Die philosophische Debatte, Frankfurt/M. 2019; C. Helmus, Transhumanismus – der neue (Unter-)Gang des Menschen? Das Menschenbild des Transhumanismus und seine Herausforderung für die Theologische Anthropologie, Regensburg 2020; B. Irrgang, »Neure Literatur zu theoretisch-epistemologischen Fragestellungen der Künstlichen Intelligenz«, in: Philosophischer Literaturanzeiger 74/3 (2021) 263–283; J. Hoff, Verteidigung des Heiligen. Anthropologie der digitalaen Transformation, Freiburg i. Br. 2021. 982

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radikale Mystik, die diesen Verdacht kriteriologsch hinterfragt, in der »Welt« keinerlei »Versicherung« mehr finden, welche über die wechselnden Sinn-Vorstellungen eine Antwort auf die daseinsfakti­ sche »Sorge« im Sinne Heideggers oder Foucaults sucht, so dass ein metaphysischer Gott solcher »Versicherung« im Außen nur ein irrtümlicher sein kann. Dagegen protestieren im Grunde alle Religio­ nen in ihrer mystischen oder spirituellen Ausrichtung, sofern der »Bruch mit der Welt« als ihre unverzichtbare Epoché zum Wesen ihres Selbstverständnisses gehören dürfte, in der Welt oder im Menschen allein kein letztes Ziel zu besitzen. Für heute können wir feststellen, dass die gegenwärtige Religi­ onsphänomenologie vor der Alternative von Differenz/Immanenz in Bezug auf das Absolute stehen bleibt, wobei die Frage nach dem Zusammenhang von Hermeneutik und Dekonstruktion eine maß­ gebliche Rolle spielt, so dass auch diese Konstellation gegenüber dem mystischen Erbe insgesamt gegeben ist. Damit soll im Übrigen nicht gesagt sein, dass Immanenz/Differenz eine letzte Dualität bilden müssen, denn eine als originär ausgewiesene phänomenologische wie mystische Immanenz bleibt der effektive Ermöglichungsgrund jeglicher Differe(ä)nz oder Transzendenz. Mit »Alternative« sollen hier nur die beiden Grundorientierungen angezeigt sein, innerhalb derer sich vor allem die französischen Religionsphänomenologien gegenwärtig bewegen.984 Diese Situation kann der eingangs genannte und groß angelegte Versuch einer Übersicht wie Aktualisierung zur Religionsphilosophie bei Jean Greisch unterstreichen. Denn er führt nach seinen eigenen Aussagen über die »Triangulation« von Philoso­ phie, Theologie und Wissenschaften mit Hilfe einer »idealtypischen, spekulativen und kritischen Methode«, welche Wirkungs- und Rezep­ tionsgeschichte integrieren will, beim letztlich favorisierten herme­ neutischen Paradigma selbst nur zur »Dialektik einer aufgeschobenen Synthese«, die wir unsererseits noch zur transzendenten Horizon­ tentfaltung zählen. Dadurch wird die schon in seinem Buchtitel »Le buisson ardent et les Lumières de la raison. L’invention de la philo­ sophie de la religion« angekündigte Spannung zwischen »brennen­ 984 Vgl. M. Staudigl, »Phänomenologie der Religion oder ›theologische Wende‹? Zur Problematik der methodischen ›Integrität‹ radikalisierter Phänomenologie«, in: Focus Pragensis. Jahrbuch für Philosophie und Phänomenologie der Religion 1 (2001) 44– 63; K. Wolf, Philosophie der Gabe. Meditationen über die Liebe in der französischen Gegenwartsphilosophie, Stuttgart 2006.

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dem Dornbusch« und »Licht der Vernunft« keineswegs aufgehoben. Und eine »absolute Religion«, welche die Mystikbestimmung nicht ignorieren kann, bleibt nur mögliche Hypothese, wobei auch die proklamierte Unterscheidung zwischen »Religionsphilosophie« und »religiöser Philosophie« nicht immer eingehalten ist.985 Das heißt, die Religionshermeneutik bei Jean Greisch im Anschluss an Husserl, Heidegger und Ricœur vornehmlich, ohne die analytische Tradition Wittgensteins zu übergehen, ist weniger »Aufhebung« der anderen religionsphilosophischen Paradigmen als vielmehr die »Sondierung ihrer hermeneutischen Möglichkeiten« auf einem Weg, über den seiner Ansicht nach erst die Zukunft entscheiden wird.986 Einige kurze geschichtliche Streiflichter in Bezug auf die Reli­ gionsphilosophie zeigen, dass Descartes etwa die Ontologie nur als allgemeine Wissenschaft der Seienden verstand und die entspre­ chende religiöse Metaphysik aus seiner physikalisch orientierten Ersten Philosophie ausschloss. Damit war auch besiegelt, dass die »Offenbarung« – bis auf die Idee des »Unendlichen«987 – aus dem Bereich philosophischer Reflexion weitgehend verbannt wurde. Spä­ tere Cartesianer hielten sich nicht an diese Trennung, so dass etwa Malebranche den Anspruch der idealen Gewissheit gerade wieder in den geoffenbarten Wahrheiten garantiert sah und in der »christlichen Philosophie« eine Metamorphose der ratio erblickte, welche ihrerseits das Wesen der Philosophie in Frage stellt.988 Hegel akzentuierte diese Problematik, insofern nach ihm nur das Christentum in der Lage sei, den »Tod Gottes« unter der Form der Passion Christi und als philosophischen Atheismus zu integrieren. Mit anderen Worten, um durch eine »Negation der Negation des Absoluten« alle mytho­ logischen und reflexiv aufgeklärten Prozesse der Bewusstseinserfah­ rung zu beenden. Diese kann stets nur den gebrochenen Spiegel ihrer selbst hervorgebrachten Vorstellungen anschauen, von dem der »Riss« des »spekulativen Karfreitags« in der absoluten Religion das

985 Vgl. J. Greisch, Le buisson ardent et les Lumières de la raison. L’invention de la philosophie de la religion, t.1: Héritages et héritiers du XIXe siècle, 33f. 986 Vgl. J. Greisch, Le buisson ardent et les Lumières de la raison. L’invention de la philosophie de la religion, t.3: Vers un paradigme herméneutique, 735f. 987 Vgl. dazu E. Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenolo­ gie und Sozialphilosophie, Freiburg/München 31992, 71ff. 988 Vgl. zu Descartes und Malebranche R. Kühn, Leere und Aufmerksamkeit. Studien zum Offenbarungsdenken Simone Weils, Dresden 2014, 14ff.

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»Ich (denke)« befreien soll, worin auch die mystische Tradition ihre spekulativen Endpunkt findet.989 Allein Heidegger990 hielt nach deutschem Idealismus und Kier­ kegaard an seinem philosophischen Widerstand gegenüber dem »Christlichen« denkerisch fest, was ihn dazu veranlasste, die epochale Geschichtslosigkeit oder Abwesenheit Gottes in dessen »Kommen« als Befreiung von allen Seinsvorherbestimmungen zu verwandeln, welche das Dasein gegenüber einer solch anderen Erwartung noch einschränken könnten. Diese spekulativen Etappen der Religionsphi­ losophie fanden vielleicht bei Maurice Blondel991 um 1900 eine gewisse Korrektur schon, insofern er aufweisen wollte, dass keine theoretische Reflexion vom rein Praktischen der »Aktion« absolvieren kann, wodurch Gott einerseits zur immanenten Wirklichkeit einer in ihrer Möglichkeit je erneuerten Existenz wird und andererseits alle idolatrischen oder transzendenten Handlungssysteme einer Kritik unterworfen werden, sofern sie den inneren Bezug von Natur und Gnade im Sinne einer verborgenen, aber effektiven Gegenwart Gottes nicht zulassen. Ob auf diesem Weg auch der Bruch zwischen mit­ telalterlichem und modernem Denken mit dessen ausschließlichem Wissenschaftsanspruch von Descartes bis Husserl aufgehoben wer­ den kann, ist sicher fraglich. Aber thomistisch orientierte Denker wie Edith Stein992 oder Étienne Gilson993 haben zumindest die Notwen­ digkeit einer solchen Kontinuität unterstrichen, die wieder gefunden werden müsse, falls es zu einer Versöhnung von christlichem Glauben und philosophischer Rationalität kommen solle. Für die protestanti­ sche Seite bleibt hierbei auch Jean Héring zu nennen, der als einer der ersten Schüler Husserls in Straßburg lehrte, mit Levinas die Phä­ nomenologie in Frankreich einführte und folgendes beachtetes religi­ Vgl. C. Bruaire, L’être et l’esprit, Paris 1983, 128ff. Vgl. Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), Frankfurt/M. 21995, 405ff.; dazu Ph. Capelle, Philosophie et théologie dans la pensée de Martin Heidegger, Paris 1998; N. Fischer u. F.-W. von Herrmann (Hgg.), Heidegger und die christliche Tradition. Annäherungen an ein schwieriges Thema, Hamburg 2007. 991 Vgl. L’Action. Essai d’une critique de la vie et d’une science de la pratique, Paris 1893 (Neuaufl. 1950 u. 1993, bzw. in: Œuvres complètes, Bd. 1, Paris 1995 (dt. Die Aktion. Versuch einer Kritik des Lebens und einer Wissenschaft der Praktik, Freiburg/München 1965); dazu E. Gabellieri, Le phénomène et l'entre-deux. Pour une métaxologie, Paris 2019, 133ff. u. 141ff. 992 Vgl. E. Stein, Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins (entstanden 1931–1936), Freiburg i. Br. u. Löwen 1950. 993 Vgl. E. Gilson, Réalisme thomiste et critique de la connaissance, Paris 1939. 989

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onsphilosophisches Werk verfasste: »Phénoménologie et philosophie religieuse. Étude sur la théorie de la connaissance religieuse«.994 Héring will darin die Religionsphilosophie aus der Krise herausfüh­ ren, indem sie nach Schleiermacher zur bloßen Religionspsychologie wurde, denn der Anthropozentrismus verkenne die Wahrheit der Religion als eines »Glaubensaktes«. Durch seine Orientierung an Max Scheler ist nach Héring die Religiosität des Bewusstseins daher auf religiöse Werte bezogen, vor allem auf die Heiligkeit. So ist zwar Gott gegenüber dem empirischen Universum und der Welt der Wesenheiten transzendent, aber die Phänomenologie dürfe solche Transzendenz – wie Husserl es methodisch gefordert hatte – nicht aus der Phänomenologie aussparen. Damit weist Héring gleichzeitig die Auffassung vom ontologischen Primat des Bewusstseins zurück, so dass die Religion jenseits von Psychologie und reduzierter Intentiona­ lität – sowie auch von Soziologismus und Historismus – früh einen eigenen Stellenwert in der phänomenologischen Forschung gewann, auf den sich insbesondere die jüngste Entwicklung in Frankreich erneut besinnt. Unsere bisherigen Hinweise im Bereich des gegenwärtigen Religionsdenkens als einer aktuell zu akzentuierenden Lebensmys­ tik995 haben uns folglich mit einer gewissen Plausibilität erkennen lassen, dass eine Kontinuität zwischen der antik-mittelalterlichen Ontologie und der radikalen Problematisierung des Seins durch die neuere Phänomenologie kaum mehr möglich erscheint, da von »Sein« nur etwas ausgesagt werden kann, sofern es »erscheint« oder »sich gibt«. Diese kriteriologisch vorausliegende Erscheinensoder Gebungswirklichkeit verabschiedet notwendigerweise jegliches Vorstellungsapriori, welches Metaphysik wie moderne Rationalität als Versuche der Objektivierung von Seiendheit auszeichnet, so dass die Ausgangslange für die Erkenntnis oder Erfahrung des Absoluten in Bezug auf uns Menschen heute eine wesentlich andere geworden

994 Paris, Alcan 1926; dazu N. Monseu, Les usages de l'intentionalité. L’introduction de Husserl en France, Louvain 2005, 88ff. 995 Programmatisch grundgelegt im Band III unserer Radikalphänomenologischen Studien zu Religion und Ethik: Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »philosophischer Mystik«, Dressen 2018, wo wir religio und ethos in einer letzten, gegen-reduktiven Epoché als ursprünglichem Erscheinens­ modus zusammenführen;.hier bes. 7ff.

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ist.996 Es geht nicht mehr um die Möglichkeit einer Gewissheit als Evidenz, die dem Denken einsichtig sein könnte, selbst wenn sie den »Tod Gottes« und des »Subjekts« zu integrieren vermag, sondern wie das Absolute im Erscheinensvollzug selber anwesend sein könnte oder nicht – als Ethik des Anderen, als Sättigung des Anrufs bzw. als lebendige Selbstaffektion oder als Unentscheidbarkeit des Sinns, wie die Antworten von Levinas bis Derrida und Nancy hin lauten. Von diesen phänomenologischen Radikalisierungen führen keine Wege mehr zu ontologischen Substanz- oder Prinzipienaussagen zurück, weil die Gebungsweise sich prinzipiell im Vergessenen oder Verbor­ genen vollzieht, ohne aufzuhören, effektiv zu sein, das heißt eben ge-geben. Die »Gottesfrage« und ihr Korrelat einer transzendent aus­ gerichteten Intentionalität des Menschen scheitern hieran, weil jedes »Wo?« oder »Wohin?« Gottes, wie bereits Nietzsche letzteres als neue Frage formulierte, irgendwelche »Orte« noch voraussetzen, die weder kosmologisch noch ideell von Gott besetzt werden können. Denn alle Orte entstehen erst in der Horizontentfaltung von Gegebenheit oder Erscheinen – und somit muss Gott ihnen als nicht kausal voraus liegen.997 Gewiss kann man hierbei »Problem« und »Frage« weiterhin methodisch unterscheiden wie bei Gabriel Marcel, Heidegger und Jean Greisch. Aber maßgeblich bleibt, dass Gott kein »Befragter« ist, wenn wir selbst zunächst die vom Phänomen »Angerufenen« sind (Marion), was in letzter Konsequenz heißt, in einer reinen Passibilität originär affiziert zu sein (Henry). Letztere ist älter als jeder besondere Anruf, und darf daher auch nicht mit einer ontischen Gefühlsanalyse im Sinne Schleiermachers oder Rudolf Ottos verwechselt werden, wie wir schon zu Beginn unserer Untersuchung in der Diskussion zur Methodenfrage innerhalb der Mystikforschung heute festhielten. In Bezug auf das Absolute wäre dann nicht nur jegliche FragePhilosophie zu verabschieden, weil sie sich stets schon in vorent­ worfenen Antwort-Horizonten bewegt, die relativ sind oder ent­ täuscht werden können. Auch der Verzicht auf die Begriffsvergötzung (idolâtrie conceptuelle) im Sinne Jean-Luc Marions998 reicht nicht 996 Vgl. auch D. Lorenz, »Klaus Hemmerles Phänomenologie des Sich-Gebens. Ein Beitrag zur Diskussion über die Gabe«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 68/2 (2021) 513–536. 997 Für eine entsprechende Darstellung der Religionskritik bei Derrida vgl. M. Enders, Postmoderne, Christentum und Neue Religiosität. Studien zum Verhältnis zwischen postmodernem, christlichem und neureligiösem Denken, Hamburg 2010, 85ff. 998 Vgl. Certitudes négatives, Paris 2010, 41f.

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aus, da die »Unbegreiflichkeit Gottes«, die älter als Ontologie und Metaphysik durch die bereits biblische theologia negativa ist, keine theoretische Frage des Denkens und der Philosophie letztlich bedeutet – sondern unsere schweigende wie unsichtbare Passibilität in ihrem Vollzug selbst, welche den Ursprung der Lebensmystik ausmacht. Dadurch wäre »Gott« in jeglichem immanenten Handeln anwesend, sofern er uns »im Anfang« (Joh 1,1) affiziert,999 das heißt schon immer und ohne Unterbrechung in unserer transzendentalen Leben­ digkeit. Diese Problematik ist auch keine »Wer-Frage« mehr, wie sie in der Frage nach dem »Selbst« als impliziter Gottesfrage noch mitschwingen könnte, sofern es sich beim »Gott, der ins Denken einfällt« eben nicht mehr um einen gedachten Gott handelt, sondern um die absolute Rekurrenz solcher Passivität selbst. Das heißt um »Schöpfung«, die nach Emmanuel Levinas1000 fälschlicher Weise von Heidegger nicht berücksichtigt wurde, sofern solche Passivität als Schöpfung »diachron« selbst dem Geworfensein des zeitlichen Daseins noch vorausgeht. Die hermeneutische Situation von religionsphilosophischen Vorfragen in Bezug auf die Problematik, wie richtig nach Gott zu fragen sei – gemäß dem »Wie nun suche ich dich, Herr?« bei Augustinus in seinen »Bekenntnissen«1001 –, reduziert sich mithin selbst als Frage der Antreffbarkeit und Ansprechbarkeit Gottes durch unsere rein lebensmystische Affizierbarkeit durch ihn. Dabei kann dann auch »Vergessen« und »Spur« an sich keine letzte dekonstruk­ tive Relevanz mehr beanspruchen, sofern diese Affektabilität als originäre Lebendigkeit per se im rein phänomenologischen Sinne absolut ist. Denn sie entscheidet über unser Sein oder Nicht-Sein als transzendentale Geburt, von welcher her »Erscheinen« oder »Gege­ benheit« allein möglich sind. Damit ist ebenfalls jede Wertfrage an ihren phänomenologischen Ursprungsort zurückgeführt, denn wenn ohne Affektion nichts Axiologisches erfahren werden kann,1002 dann gehören Affektion, Vollzug als Praxis und Kultur im Absoluten Vgl. M. Enders u. R. Kühn (mit einem Beitrag von Chr. Bruns), »Im Anfang war der Logos…«. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart, Freiburg i. Br. 2011. 1000 Vgl. De Dieu qui vient à l’idée, Paris 1982 (dt. Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg/München 1988). 1001 Vgl. X,20; Die Bekenntnisse (Hg. K. Flasch), Stuttgart 1989. 1002 Vgl. M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Frei­ burg/München 1994, 272ff. 999

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selbst zusammen. Unser lebensmystischer Ansatz beruht daher darin, einerseits die konkrete Faktizität des subjektiv Leiblichen (chair) phänomenologisch so bestimmt wie möglich zu fassen, ohne ande­ rerseits religionsphilosophische Fragen auszublenden. Das heißt, die mystische Gegebenheit des Absoluten nicht nur thematisch der Geschichte, Hermeneutik und Epistemologie anzuvertrauen, sondern diesem »Fleisch« in seiner abgründigen Originarität selbst. Ähnlich ließe sich auch gegenüber Jocelyn Benoist1003 argumen­ tieren, der sich von den bislang erfolgten Durchbrüchen einer radika­ lisierten Phänomenologie, wie wir sie kurz erwähnt haben, im Sinne einer intentional enger verstandenen Phänomenologie mit Rückgriff auch auf Bolzano, Meinong und Schlick wieder abgrenzt. Trotz dieser Einwände vermag jedoch eine radikalisierte Religionsphänomenolo­ gie der Gegenwart verständlich zu machen, dass »über Religion« nicht von außen zu sprechen ist, sondern sich dort nur bewährt, wo sich das Denken in seiner transzendentalen Ermöglichung selbst empfängt, wie es gemäß der universal mystischen Tradition der Fall ist. Alle Aussagen betreffs des Wesens der Religion und der Mystik auf der Ebene von Repräsentation sind damit relativiert, da sie wie die ontologisch metaphysischen Bestimmungen nur eine Hinweisfunktion hinsichtlich dessen besitzen können, was sich in der Affektabilität der inneren Lebensrezeptivität entscheidet. In dieser Hinsicht sind gleichfalls die vielfältigen Publikationen zu werten, wie sie seit der klassischen Religionsphänomenologie zu diesem Fragen­ komplex von Religion und Mystik erschienen sind.1004 Die zuvor genannte Deixis-Funktion1005 ermöglicht es uns daher zugleich, den interdisziplinären Austausch aufrecht zu erhalten, ohne die Religion an eine solche Interdisziplinarität als einen einseitig epistemischen Gegenstand »Religion« verlieren zu müssen, wie wir dies zuletzt mit Rückgriff auf Lacans Psychoanalyse und die Sublimierungsfrage durchgeführt haben. Vgl. J. Benoist, »L’écart plutôt que l’exédent«, in: Philosophie 78 (2003) 77–93; Sens et sensibilite. L’intentionalité en contexte, Paris 2009; dazu ebenfalls H.-D. Gondek u. L. Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M., 2011, 581ff. u. 640ff. 1004 Vgl. unter anderem H.R. Yousefi, H. Waldenfels u. W. Gantke (Hgg.), Wege zur Religion. Aspekte – Grundprobleme – Ergänzende Perspektiven, Nordhausen 2010; sowie die Anmerkungen in unserer einleitenden Hinführung und Grundlegung. 1005 Vgl. dazu R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte. Phänomenologie politi­ scher Aktualität, Freiburg/München 2008, 81ff. 1003

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Damit klären sich letztlich auch noch einmal die Fragen der Traditionsstränge, die für das Verständnis von Religion durch Juden­ tum, griechisch-römische Antike, Christentum sowie Islam in unserer Geschichte maßgeblich geworden sind. Keine Tradition ist nämlich denkbar ohne in den Individuen originär vorgegebene Affektionen, in denen jeweils lebensmystisch das Absolute des Lebens empfangen wird. Hinter Semantik und Begriffsgeschichte als Rezeptionsproble­ matik hermeneutischer und dekonstruktiver Natur1006 ist daher stets auf das transzendentale Moment solch originärer Empfänglichkeit zurückzugehen, um die Relativität der historischen Symbolisierung zu durchbrechen. Damit sind diese letzteren keine bloße Illusion, son­ dern habitualisierte Arten und Weisen, wie das Absolute situativ oder kontextuell entgegengenommen werden konnte, sofern »Affektion« immer auch unmittelbar gegebene Leiblichkeit mit deren individuel­ ler wie gesellschaftlicher Praxis bedeutet. Auf diese Weise reicht die ideologisch wie praxeologisch typisierte Historie in die rein affektive Historialität des Lebens zurück, indem sie präkategorial aus ihr her­ vorgeht, da rein phänomenologisches Leben in seiner inneren Selbst­ bewegung ununterbrochene Hervorbringung oder Tun als Vollzug ist. Und insofern sich dieser Vollzug in seinem subjektiven Ursprung nicht selbst setzen kann, ist seine selbstaffektive Abkünftigkeit immer schon die welthaft schweigende Anwesenheit des absoluten Lebens. Ohne formlos zu sein, weil jeder Vollzug von Leben bereits ein phänomenologisch je bestimmter ist, das heißt affektiv praktische Selbstrealisierung des Lebens in der ganzen Breite und Tiefe seiner konkreten Potentialitäten, einschließlich der Mystik als Urform der Lebensentgegennahme. So sagte etwa Mechthild von Magdeburg, dass die Vernunft überboten würde, »die nur das Grobe begreift und das Subtile beiseite lässt«.1007 Abgesehen von möglichen weiteren Hinweisen auf Bergson, Durkheim und Lévi-Strauss zu Fragen der Religionssoziologie sei hierbei in Bezug auf Habitus und gesellschaftliche Praxeologie auf das einflussreiche Werk von Pierre Bourdieu1008 für diesen Themenbe­ 1006 Vgl. P. Ricœur, Hermeneutik und Strukturalismus, München 1973; P. Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegen­ wart, Leipzig 1990; C. Belsey, Poststrukturalismus, Leipzig 1992. 1007 Das fließende Licht der Gottheit, Kap. 8 (Hg. G. Vollmann-Profe), Frank­ furt/M. 2003. 1008 Vgl. La misère du monde, Paris 1993 (dt. Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997); Das religiöse

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reich verwiesen. Bourdieu nimmt einen gewissen subjektiv spontanen »praktischen Sinn« (sens pratique) der »Akteure« an, welchen er grundlegend durch einen Habitus geprägt sieht, der es schwierig mache, die Rollendeterminierung im gesellschaftlichen »HandlungsFeld« als klassengeprägten Lebenswelten zu durchbrechen. Eine wesentliche Frage ist dabei, auf welche Weise die verschiedenen »Kapital«-Formen wie Bildung, Geld, Fertigkeiten etc. eingesetzt werden können, um den gewünschten sozialen Status zu erhalten oder zu erreichen. Diskussionswürdig bleibt hierbei die Frage gerade, auch in Bezug auf mystische Traditionsströme, wie solcher Objektivismus in der Soziologie prinzipiell überwunden werden kann, falls der Habitus die dem Individuum selber unbekannte Ausstattung durch seine klassenstrukturelle Position im sozialen Feld ist. Immerhin ist festzuhalten, dass mit Bourdieu sowohl der Strukturalismus wie die rationale Kalkulation des rational-choice-Ansatzes in der Soziologie überwunden wird,1009 sofern die Individuen in ihrem Inneren auf das soziale Leben vorbereitet sind. Mit anderen Worten die Sche­ mata der Wahrnehmung und ethischen Bewertungsmuster sowie die Enaktierung von Handlungen der sozialen Welt dienen, ohne wie noch bei Durkheim gänzlich einem transzendental kantischen Funktionalismus zu unterliegen, wo Religion nur eine gemeinsame soziale Erfahrung zum Ausdruckt bringt.1010 Über diesen rein religionssoziologischen Aspekt des religiösen Habitus hinaus hat Didier Franck schon mit Recht darauf hinwei­ sen können, dass Heidegger mit seiner Frage, wie der »Gott der Philosophen« überhaupt in die onto-ego-theologische Metaphysik eintreten konnte, zu kurz greife, weil der Gott Israels immer schon in deren Geschichte eingebrochen sei und sie prinzipiell verändert habe. Noch Nietzsches Dionysos ist ein tanzender Gott und Hegels Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000. Siehe außerdem G. Pickel, Religionssoziologie. Eine Einführung in die zentralen Themenbereiche, Wiesbaden, 2011; G. Rosta u. D. Pollack, Religion in der Moderne. Ein unternationaler Vergleich, Frankfurt/M. 2015; I. Bader-Butschle u. D. Lienau, Funktionalisierte Religion. Soziologische Perspektiven auf Religion und Kirche, Leipzig 2021. 1009 Dessen Vertreter sind etwa Rodney Stark und William Sims Bainbridge, welche von einem »Markt der Religionen« sprechen, der Angebot und Nachfrage unterliege, so dass eine Religion eine gewisse Attraktivität benötigt, um sich gegen andere durch­ zusetzen. 1010 Vgl. E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1981; O. Ducharme, Michel Henry et le problème de la communauté. Pour une communauté d’habitus, Paris 2013, 102ff.

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Logik der Wissenschaft bleibt ohne Trinität nicht denkbar, so dass die Elemente der »Anbetung«, welche Heidegger dem metaphysischen Gott abspricht, in den philosophischen Texten selber immer auch mit präsent seien.1011 Unter radikal reduktiven Voraussetzungen bedeutet dies, dass auch die Philosophie als eine konkrete Weise theoretischen und praktischen Lebens von einem »Vorgegebenen« her lebt, welches etwa als Artikulierung des Zusammenhangs von Sinnlichkeit/Begriff oder Meinung/Idee stets ein – jede Konzeptua­ lisierung übersteigendes – Erstmoment der Rezeptivität im Sinne der Mystik impliziert. Und zwar selbst dann, wenn das Ethos der Philosophie dahin tendiert, dieses Vor-Gegebene in eine umfassend eigene Anschauung zu integrieren. Man darf daher mit einer gewissen historischen Berechtigung davon ausgehen, dass der Einbruch des Gottes Israels in die Metaphysik durch biblische Weisheitsliteratur, Septuaginta-Übersetzung1012 und das Wirken des Apostels Paulus wie der Evangelisten geschah, welche die Mensch- oder Leibwerdung Gottes zusammen mit einer »Auferweckung von den Toten« in den Mittelpunkt stellten und damit zugleich eine kommende »Christus­ mystik« wie im Mittelalter grundlegten. Hieran wird ersichtlich, dass das Unmittelbarste unserer selbst – nämlich die subjektive Leiblich­ keit – dergestalt mit der Offenbarung Gottes als solcher verknüpft ist und mithin die radikalisierte Leiblichkeit als Rezeptivität oder Affektabilität nicht länger von der Selbstmitteilung Gottes getrennt sein kann. Genau diese Perspektive nahm Michel Henry in seinem Spätwerk »Inkarnation« ein,1013 wobei er besonders auch auf die epochale Auseinandersetzung zwischen Gnosis und Kirchenvätern eingeht, um die Veränderungen durch das christlich inkarnatorische Gottesbild für die griechische Metaphysik deutlich zu machen und daraus die heute notwendigen Konsequenzen für eine radikalisierte Offenbarungsphänomenologie zu ziehen.1014

Vgl. D. Franck, Nietzsche et l’ombre de Dieu, Paris 1998, 147ff. Vgl. P. Ricœur, An den Grenzen der Hermeneutik, 41ff. 1013 Vgl. Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg/München 2002, 199ff.; außerdem K.H. Menke, Inkarnation. Das Ende der Wege Gottes, Regens­ burg 2021. 1014 Vgl. A. Navigante »Gnostische Wahrheit und christliche Offenbarung. Anmer­ kungen zu Michel Henrys Hyletik des Lebens«, in: K. Appel, J.B. Metz u. J.-H. Tück (Hgg.), Dem Leiden ein Gedächtnis geben. Thesen zu einer anamnetischen Christologie, Göttingen 2012, 379–401. 1011

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Genau diese Debatte zieht sich heute vor allem durch die Reli­ gionsphänomenologie sowie Mystikdiskussion Und wenn Jean-Luc Nancy gerade einen solchen christologisch inkarnatorischen Zusam­ menhang für das kommende Denken unserer Kultur auflösen will,1015 dann zeigt dies nur, wie stark er trotzdem in seinem Denkansatz einer »Aufschließung« (déclosion) des Christentums noch von dieser Vorgabe abhängig ist. Das heißt auf seine Weise auf den urfaktischen Sachverhalt der Rezeptivität angewiesen bleibt, welche das Wesen der Religion und Mystik ohne weitere Thematisierung oder Repräsenta­ tion zunächst ausmacht. Man könnte des Weiteren hierbei nicht nur auf Schelling und Rahner verweisen, um verständlich zu machen, dass Bewusstseinsrezeptivität und Christologie aufs engste miteinander verbunden sind. Dann wäre nicht nur die Christusfigur der eigentliche Einbruch Gottes in die Metaphysik, sondern jede Weise philosophi­ scher Zustimmung in ein vorgegebenes Erstelement des Denkens oder Daseins erwiese sich so bereits auch christologisch geprägt.1016 Karl Rahner verstand in der Tat auf solch epistemologischem Hinter­ grund den – immer nur als Einzelperson gegebenen – mystischen Akt ebenfalls als »Schau«, das heißt als ein »Geschenk«, das jedoch durch die Aufhebung des Bewusstseins der Zeit und Gegenständlichkeit oftmals der Gefahr des Monismus, Pantheismus oder Theopanismus ausgesetzt bliebe. Grundlegend sei die vorgängige Erfahrung der gött­ lichen Unendlichkeit jedoch schon in der Erfahrung der Transzendenz als solcher impliziert, wodurch die mystische Einigung als Erhöhung wie Befreiung der Transzendenzerfahrung im Sinne der »Gnade« erlebter Selbstmittelung Gottes verstanden werden könne, ohne dabei über eine unvollkommene Andeutung der seligen Gottesschau in der Ewigkeit hinaus zu gelangen. Denn vermittelt bliebe auch die mystische Erfahrung durch das geschichtliche Faktum der Inkarnation, so dass solche Erfahrung stets eine »Christusmystik« darstelle, wie sie seit Paulus bezeugt ist. Dadurch sei christliche Mystik ebenfalls keine Begegnung allein mit dem unendlichen All, worin Rahner Recht zu geben bleibt, 1015 Vgl. B. Goebel u. F. Suarez-Müller (Hgg.), Kritik der postmodernen Vernunft. Über Derrida, Foucault und andere zeitgenössische Denker, Darmstadt 2007; R. Kühn, Lebensphänomenologie und Postmoderne. Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens, Freiburg/München 2019, 353–367: »Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy: Dekonstruktion als Fraktur«. 1016 Vgl. schon R. Kühn, Gottes Selbstoffenbarung als Leben. Religionsphilosophie und Lebensphänomenologie, Würzburg 2009, 79ff.

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sondern »Mitnehmen der Welt in die liebende Begegnung mit dem persönlichen Gott« hinein. Keineswegs werde außerdem das Subjekt im asketisch mystischen Aufstieg »vernichtet«, sondern der endli­ che Mensch werde frei für die Erfahrung der Gnade, was Rahners transzendental anthropologischer Sicht von derselben als universal heilgeschichtlichem Existenzial entspricht. Außerdem bedeute die christusmystische Perspektive dieser Erfahrung zugleich ein Einver­ leibtwerden in den Leib Christi, wodurch die Mystik eine Dienstfunk­ tion für die Kirche gewinne, von der gerade auch die »Brautmystik« in Verlängerung des biblischen »Hohenliedes« zeuge, wie unter ande­ rem der umfangreiche Kommentar Bernhards von Clairvaux immer wieder darlegt. In allgemein kultureller Hinsicht zeigt schließlich der bekannte Satz Rahners, dass »der Fromme von morgen ein ›Mystiker‹ sein wird, einer, der etwas ›erfahren‹ hat, oder er wird es nicht mehr sein«,1017 welche Bedeutung er der Mystik insgesamt für die Zukunft der Religion in einer weltanschaulich und gesellschaftlich stark veränderten Welt zuerkannte. Ist der Augenblick reiner Affektabilität jedoch weder der Welt noch ihrer zeitlich hermeneutischen Geschichte geschuldet, weil die Affektion als unmittelbar passible Präsenz des Absoluten zugleich den radikal vorgegebenen Wert des immanenten Werdens des Absoluten im Sinne eines originären Sich-Gebens darstellt, dann entfällt auch jede Dramatik oder der Konflikt, das »Richtige« jeweils in diesem Erst-Erscheinen zu verfehlen. Denn der affektive Augenblick ist mit dem »Heil« als Ursprung/Ziel selbst schon identisch; nach den synoptischen Evangelien mit dem »Reich Gottes«, welches »weder hier noch da« ist, sondern »mitten unter uns«, das heißt im je indi­ viduellen wie gemeinschaftlichen Zentrum des Lebens. Es ist daher

Schriften zur Theologie, Bd. 7: Zur Theologie des geistlichen Lebens, Einsiedeln 1971, 22; sowie K. Rahner u. H. Vorgrimmler, Kleines Theologisches Lexikon, Frei­ burg/Br. 1976, 63f., 75f. u. 269f.: »Brautmystik, Christusmystik, Mystik«. Siehe auch K. Rahner, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie (neu bearbeitet von J. B. Metz), München 1963, 15ff. u. 185ff.; Visionen und Prophezeiun­ gen. Zur Mystik und Transzendenzerfahrung (Hg. J. Sudbrack), Freiburg/Br. 1989. Für einen Vergleich mit der Lebensphänomenologie D. Remmel, Die Leiblichkeit der Offenbarung. Zur anthropologischen, offenbarungstheologischen und christolo­ gischen Relevanz der Lebensphänomenologie Michel Henrys, Innsbruck-Wien 2021, 455ff., mit der späteren Berücksichtigung des »Herzens« als affektiver Leiblichkeit bei Rahner. Siehe ebenfalls J.H. Wong u. H.D. Egan, The Christology and Mystical Theology of Karl Rahner, New York 2020. 1017

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keine »theologische Wende« vonnöten,1018 um zu verstehen, dass die Lebensmystik in der reinen Entgegennahme – sei es als Anruf, Antlitz, Sättigung, Affekt oder Leib – eine rein phänomenologische Unmittelbarkeit wieder zu finden erlaubt. Diese ist letztlich keiner Transzendenz mehr verpflichtet, wohinein sich das Theologische durchaus weiterhin einschreiben kann – ohne durch diese thematische Notwendigkeit jedoch den rein rezeptiven Kern der originären Reli­ gion als Mystik zu verfehlen, wenn sie ihn selbstaffektiv gelten lässt. Es ließe sich dieser lebensmystische Zusammenhang, welcher auch für die kulturelle Vielgestalt der Religionen zutrifft, dergestalt formulieren, dass die geschichtlich wie anthropologisch kairologische Dramatik – reduziert auf die reine Affektabilität – selbst die Frage nach Schuld/Unschuld oder Macht/Ressentiment im Sinne Nietz­ sches auflöst, um die Affektabilität im »Un-Grund« der Mystikfor­ men selber zusammenfallen zu lassen, ohne zur Selbsterlösung zu werden. Wir empfangen jeden Augenblick die sich ohne Rückhalt oder Verweigerung gebende Selbstgabe des Lebens, mit anderen Worten ohne eine Vorbedingung leisten zu müssen oder zu können. Didier Franck1019 bezog nämlich die genannte »Dramatik« sowohl auf die Entscheidung des Augenblicks wie auch auf das Schuldverhält­ nis von Ich/Wir im Sinne von Levinas. Wir möchten daher hier nochmals unterstreichen, dass das reine Sich-Geben der Problematik von Unschuld/Schuld vorausliegt, welche bereits einen intentionalen Blick auf das Leben impliziert, während die Empfänglichkeit des Lebens keiner Schau unterliegt. Hieraus ergibt sich die radikal phäno­ menologische Möglichkeit, auch einer Religion und Mystik »ohne Gott« wie im Buddhismus gerecht zu werden. Denn auch schon für die traditionelle christliche Theologie fallen die einzelnen Momente der Heilsgeschichte wie Schöpfung, Sündenfall, Erlösung und Gericht nicht auseinander, da Gott keinem zeitlichen Werden unterliegt, so dass von einem »ewigen Christentum« im Sinne des stets präsenti­ schen Heils wie beim Evangelisten Johannes oder auch bei Meister Eckhart und Fichte gesprochen werden kann.1020 An diesen Punkt führen die aktuellen religionsphänomenologischen Analysen zurück, Vgl. D. Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française, Combas 1991 (dt. Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, Wien 2014). 1019 Vgl. Nietzsche et l’ombre de Dieu, 472f. 1020 Vgl. zuletzt R. Kühn, Lebensmystik, 41ff. u. 157ff. 1018

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sofern Technik und Globalisierung uns immer mehr der Welt und des Lebens in deren phänomenaler Erstgegebenheit tendenziell berauben. Durch ein solches »Gestell« im Sinne Heideggers als wachsende Selbst-Automatisierung können wir einer Verfallenheit eingedenk werden, welche die schweigende Präsenz des Absoluten nur zu leicht überdeckt und daher allseits die Wachsamkeit einer mystischen Kri­ teriologie erfordert.1021 Die zuvor erwähnte »Spur« von Heidegger bis Derrida1022 und darüber hinaus wäre damit auf solchem Hintergrund nicht nur eine ebenfalls mögliche Lektüre eines status corruptionis, wie ihn Theo­ logie und Metaphysik von ihrem Beginn an kennen, sondern vor allem die dadurch gegebene Grundproblematik unseres Selbst- oder Lebensvergessens, welches im biblisch christlichen Sinne weiterhin als »Abfall von Gott« gelesen werden könnte. Die abendländische Seinsgeschichte sperrt sich also keineswegs gegen die nicht metaphy­ sische »Spur Gottes«, und sollten die Übersetzungen dieses Gottes in die Metaphysik hinein ihn wortlos gemacht oder sogar getötet haben, so bleibt unser lebendiges »Herz«, um diesseits all solcher geschichtlich hermeneutischen Verschiebungen und Verdrängungen »Gottes« affektive Unmittelbarkeit wieder vernehmen zu können. Schon Kierkegaards ethische Subjektivität als kritische Ausformung des Spätidealismus Schellings wusste darum, und Michel Henry ruft es in radikal phänomenologischer Gegen-Reduktion unter anderem mit Bezug auf die Kainsgeschichte des Jahwisten in Erinnerung: »Weil die Wahrheit [Christi] das Böse entlarvt, richtet sich das Böse gegen sie. Fügen wir jedoch dieser Bemerkung hinzu, dass das Böse nicht die Verbindung zur Wahrheit selber zerstört, obwohl dies im Gegenteil zu ihr seinen Hass motiviert, so bleibt die Verbindung des Herzens zur Wahrheit auch im Abgrund bestehen. […] Dieser Verbindung wird ihre ursprüngliche Reinheit, das Herz in seiner unzeitlichen Geburt im Wort des Lebens [in Christus als dem Erst-Lebendigen], zurückge­ geben. In jedem Fall hängt, ob das Böse dem Herzen den Hass einflößt oder dieses seine geburtliche Reinheit wieder findet, das Verhältnis des Lebendigen zum Leben oder das Verhältnis des Herzens zum Wort, welches es zeugt, von der Natur dieses Wortes ab, in dem alles 1021 Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg/München 1997, 381ff., der vom »Automaten« als »Anti-Christ« spricht. 1022 Vgl. zur Diskussion S. Attila u.a. (Hgg.), Der Spur auf der Spur. Sur les traces de la trace, Heidelberg 2018.

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entstanden ist.«1023 Dieses Herz, wie auch schon Pascal wusste, ist folglich keine ethische oder psychologische Sonderregion, sondern Phänomenologie, Ontologie, Ethik und Mystik in der ursprunghaften Einheit wie Einfachheit unserer passiblen Empfänglichkeit, welche keiner Erkenntnisdisziplin mehr unterliegt, worauf eindeutig eben­ falls die mystischen Begriffe Geburt, Ungrund und Wahrheit in ihrer Proto-Relationalität verweisen. Um diese alltägliche Einheit begrifflich zu fassen, haben wir in dieser Untersuchung dafür den bereits früher von uns eingeführ­ ten Titel »Lebensmystik« aufgegriffen,1024 der kein Ersatz für die historisch gewordenen Religionen und Mystiktraditionen sein will, sondern eine Aufklärung zu deren Selbstverständnis, nämlich hinter Bedeutungen, Zeichen und Symbolen auf die reine oder unvordenk­ liche Erstgegebenheit Gottes, des Absoluten oder Unbenennbaren zurückzugehen. Diese unabdingbare Gegen-Reduktion unterstreicht die Duplizität des Erscheinens als Selbstoffenbarung des rein phäno­ menologischen Lebens einerseits und der intentionalen Weltaußen­ heit andererseits. Allerdings ist dies nicht als ein metaphysischer Dualismus aufzufassen, der das europäische Denken als Manich­ äismus, Gnosis, Nominalismus oder doppelte Wahrheit bis heute durchzieht, sondern als eine urphänomenologische Fundierungsfak­ tizität. Das intentionale Leben Husserls oder das Dasein Heideggers sind in der Tat effektiv ekstatische Vollzüge, aber dies nur, weil die Transzendenz solcher »Ausrichtung auf etwas hin...«, bzw. als »Entbergung von Sein« im Transzendieren der Ek-sistenz, stets bei sich bleiben kann. Der notwendige innere Zusammenhalt eines jeden konsistenten Vollzuges in leiblicher wie geistiger Hinsicht ist zunächst die rezeptive Selbstaffektion des Horizonts transzendentaler Einbildungskraft dank lebendiger Passibilität.1025 Niemals kann sich 1023 M. Henry, Christi Worte. Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Frei­ burg/München 2010, 129; vgl. auch M. Henry, Radikale Religionsphänomenologie, 161–188: »Wort und Religion: das Wort Gottes«; J.-S. Strumia, A l'horizon de la Parole. La théologie au défi de la phénoménologie de la vie, Paris 2021. – Dies lässt sich mit dem Versuch über Sagen und Gesagtem nach Levinas und Lacan bzw. von Gesagtem und Ungesagtem bei Y.B. Raynova; Betwenn the Said and the Unsaid, Frankfurt/M. 2009, parallelisieren. 1024 Vgl. R. Kühn, Lebensmystik, 30ff. 1025 Grundlegend durchgeführt im frühen Hauptwerk von M. Henry, L'essence de la manifestation, Paris 1963 (dt. Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, Freiburg/ München 2019); vgl. bes. § 9–11.

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das Leben selbst verlassen, zu sich selbst in irgendein distanzhaftes Gegen-Über treten, und deshalb wird es auch für immer jeder munda­ nen Vorstellung wesenhaft unzugänglich bleiben, was an die gegen­ wärtigen Grundorientierungen des »Fortschritts« als Globalisierung und digital öffentlicher Darstellung alles Sichtbaren selbst rührt. Die griechische wie die husserlsche Schau mussten daher dieses Leben ebenso verkennen, wie es die transzendentale Objektivität Kants tat, aber auch im Buddhismus als »Weisheit durch Sehen« gegeben ist. Für unsere westliche Kultur entstand dadurch die Trauerarbeit des Denkens und Handelns, entweder nach außen dem exotischen Imperialismus des »Fremden« als »anderer Lebensart« zu folgen oder sich dem blind unbewussten Wollen wie bei Schopenhauer1026 oder sonstigen anachronistischen Vitalismen bzw. »Weltanschauungen« zu überlassen, die mehr als einmal im organisierten Grauen endeten. Was die radikale Lebensmystik also strukturell in jeder geleb­ ten Wirklichkeit aufdeckt, ist ein gegenreduktives Phänomenalisie­ rungsprinzip, welches zumindest ebenso universal wie die ratio­ nale Evidenzerfüllung ist, ohne jedoch die sinnliche oder originär phänomenologisch gegründete Unverzichtbarkeit je individuierten Lebens verkennen zu müssen. Deshalb lässt sich als zentrales kri­ tisches Korrektiv gegenüber allen anders lautenden Anmaßungen festhalten, dass im Leben kein Individuum und kein Augenblick jemals zuviel ist. Denn es gibt »Leben« nur als individuiert affi­ ziertes in seiner Absolutheit, das heißt in keinerlei hypostasierten Form irgendeiner ideologischen oder mythischen Allgemeinheit, was zur Abgründigkeit jeder »mystischen Erfahrung« als Kriteriologie gehört. Im Unterschied zur ousiologischen, synthetisch apriorischen, dialektischen oder differe(ä)ntiellen Deklination des individuierten Erscheinens ist solches je absolute Selbsterscheinen des Erscheinens Pathos, Passibilität, Affektivität oder Intensität. Dabei muss deutlich bleiben, dass diese rein affektive oder intensive Einmaligkeit die jeweilig »transzendentale Geburt« aller individuierten Leben ohne ethnische Grenzen sowie ohne jede Substitutionsmöglichkeit oder Genderdifferenzierung ausmacht.1027 Die Zukunftsfrage wird daher sein, ob weltweit diese apriorische Wirklichkeit des immemoriablen 1026 Vgl. M. Henry, Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, Freiburg/München 2017, 46–75: »Die Frage der Verdrängung nach Schopenhauer und Freud«. 1027 Vgl. O. Ducharme, Michel Henry et le problème de la communauté, 128ff.

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»Voraus« allen Denkens und Tuns als genuine Praxis endgültig neu entdeckt wird. Und zwar um dem systemimmanent deklarierten Tod des individuellen Lebens überall entgegenzutreten und eine andere kulturelle Gesamtästhetik herauszubilden, welche nicht mehr der objektivistischen Einseitigkeit der aufklärerischen ratio allein unter­ liegt. Hierbei kann man durchaus anerkennen, dass sich historisch gesehen die anfängliche »Aufklärung« als »tolerante« Durchdringung von Literatur und Geschichtsdenken selber gegen das herrschende Methodenideal der Mathematik wandte, um dann jedoch ihrerseits in eine universale Naturhypostase des »Faktischen« zu verfallen.1028 Die Mystik kann in diesem Zukunftsprozess ihre kriteriologische Erfah­ rung bereit stellen, die Bestimmung des Wirklichen von Welt, Mensch und Gott von keiner vorgängigen Theorie mehr abhängig zu machen, sondern als je abgründige Erprobung singulär zu vollziehen.1029 Nach dem bisher Ausgeführten dürfte insgesamt einsichtig geworden sein, dass das Sich-Empfinden in seinen Grundstimmun­ gen von Freude/Schmerz im Zusammenhang von Sichgeben/Sicher­ tragen des Lebens mit einer entsprechenden Leiblichkeitsanalyse gleichfalls die alltäglichen Grundakte von Produktion und Konsum­ tion unverzichtbar impliziert. Denn das »Leben als Bedürfen«1030 befindet sich in ständiger Modalisierung der immanenten Wesen­ seinheit von Lebensempfang und Lebensübereignung, welche als die originär mystische Einheit von Akt und Inhalt die phänomeno­ logische Materialität der transzendentalen Affektivität ausmachen. Dabei beinhaltet die unaufhebbare Verknüpfung von Leib/Leben das impressional individuierte »Fleisch« (chair) der absoluten Lebens­ offenbarung in jedem Lebendigen ohne Unterbrechung als eine unverwechselbare Ipseität. Es gibt demzufolge ein »Ereignis« des Erscheinens, welches älter als das Ereignis von Sein/Denken seit der griechischen Urstiftung europäischer Grundüberzeugung ist. Das erste phänomenologische Cogito ist ein fleischliches Cogito, wie mit dem Evangelisten Johannes, Descartes, Maine de Biran und Henry vor allem festzuhalten ist – und kein ousiologischer Logos oder ein reflexives und hermeneutisches Verstehen. Dass die Verbindung von 1028 Vgl. F. Schalk, »Aufklärung«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 1, Darmstadt 1971, 621–633. 1029 Vgl. A. Fella (Hg.), Les femmes mystiques. Histoire et dictionnaire, Paris 2013, 40ff. 1030 Vgl. R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte, 246ff.

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Leib/Leben als ur-mystisches Begehren zugleich auch die praktische Urkorrelation von Leib/Erde impliziert, macht dabei das Wesen der ursprünglichen téchne aus. Diese alltägliche Proto-Technik ist als unmittelbar gegebene »Erdeinverleiblichung« die Ausübung der transzendentalen Leibvermögen, wie sie als Verbindung des funda­ mentalen »Ich kann« in Kraft, Bedürfen und Begehren die innere Konkretisierung des ständigen Lebenswollens des subjektiven Lebens in uns entfalten.1031 Daher vermag letzteres in keinem Bereich von der originär mystischen Erprobung unserer jeweiligen Ab-gründigkeit getrennt zu werden. Genau an diese Absolutheit in jedem wirklich­ keitsbezogenen Akt oder Vollzug möchte die »Lebensmystik« ohne Abstriche erinnern. Diese Entfaltung des leiblichen Lebens als sein Selbstbedürfen in der Steigerung seiner Freude über sich selbst innerhalb der unun­ terbrochen passiblen Rezeptivität seiner selbst bildet also die originär sinnliche Kultur von Produktion und Konsumtion auf dem Boden der genannten ursprünglichen téchne, ohne von der gleichzeitigen Selbstmanifestation solch unmittelbar kulturellen Lebens in Wissen, Religion, Kunst und Ethik abgeschnitten werden zu können. Diese im absoluten Anfang des subjektiven Lebens gegebenen Kulturformen existieren überall, wo es Menschen als prinzipiell vom sinnlichen Leben affizierte Wesen gibt. Und sie haben mit Hilfe dieses immanent leiblichen Lebenswissens als affektiv unmittelbarer Erdbewohnung Leistungen von höchster Effektivität wie Schönheit hervorgebracht, wozu insbesondere auch die Mystik als Praxis des reinen Begehrens gehört.1032 Es bedurfte folglich keiner Wissenschaft und Technik im modernen Sinne, um den Individuen und Gemeinschaften in ihrem subjektiv praktischen Lebenswissen vorzuschreiben, was zu tun sei. Europa und seine Aufklärung stehen folglich, da viel ältere Kulturen wie die chinesische, afrikanische oder südamerikanische länger in ihrer traditionalen Entwicklung verharrten, für eine onto­ logische Subversion. Diese hat das Angesicht der Erde und die indi­ viduellen wie gesellschaftlichen Lebensverhältnisse aller Menschen für immer verändert, und wir stehen heute vor der Frage, ob sich Mystik und Kultur erneut zu einer Gesamtinspiration des kulturellen Vgl. F. Seyler, Eine Ethik der Affektivität : Die Lebensphänomenologie Michel Henrys, Freiburg/München 2010, 35ff. 1032 Vgl. R. Kühn, Ästhetische Existenz heute. Zum Verhältnis von Leben und Kunst, Freiburg/München 2007, 141ff. 1031

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Lebens vereinen können. Indem nämlich durch die industrielle und technische Revolution ab dem 18. Jahrhundert eine Synthese von galileischer Wissenschaft und Technik mit der monetären Kapitali­ sierung eingegangen wurde, entstand eine Wirtschafts- und Gesell­ schaftsform, welche das unmittelbar leibliche Lebenswissen durch ein rein objektives Wissen und dessen ausschließliche Selbstregulie­ rung ersetzte. So geschah es zum ersten Mal in der Menschheits­ geschichte, dass ein einzelner Wissenszweig sich von den übrigen kulturellen Mitformen ablöste, um von nun an allein die Zukunft der Menschen zu bestimmen – und zwar in allen Lebensbereichen, wodurch gleichfalls die mystische Tradition ab dem 18. Jahrhundert zurückgedrängt wurde.1033 Es dürfte aufgrund des Einzugs des pseudo-philosophischen Szientismus mit seinem monolithischen Wahrheitsanspruch auf »Objektivität« und »Effektivität« in Erziehung und Bildung, das heißt in Schule, Universität, Öffentlichkeit und Medien, kein Zweifel darüber mehr bestehen, dass unser eigenes Selbstverständnis fast ausnahmslos ein technisch wissenschaftliches geworden ist. Ange­ mahnte ökologische und soziale Befreiungen aus an sich unhaltbaren Situationen wie Arbeitslosigkeit, Weltarmut, Krieg usw. werden nicht im Namen eines »transzendentalen Lebens« gesucht, sondern allein vom sich globalisierenden Fortschritt und seinen gesellschaftlichen Transformationsprozessen her erwartet. Darin gehen Kapital, Verwis­ senschaftlichung und Technikentwicklung als Ergebnis des westlich »aufgeklärten« Geistes eine immer unauflösbarere Synthese ein, um eine Art neuer abstrakter Transzendenz zu bilden. Gradmesser der Einseitigkeit solch »wissenschaftlicher Kultur« bildet – neben dem wachsenden Ausschluss der Individuen aus Produktion und Konsum­ tion – die unverkennbare Marginalisierung von Ästhetik, Religion, Mystik und Ethik als an sich zusammengehörigen Lebensformen. Diese führten zuvor auf je kompossible Weise die absolut phäno­ menologische Lebenspassibilität zur integralen Gestaltung einer tat­ sächlichen »Welt-für-das-Leben«, der sich die heutige Unwirtlich­ keit und zunehmende Hässlichkeit unserer Metropolen und Städte an ihren Rändern widersetzt. Denn im genuin »medialen« Prinzip der Kunst erfolgt beispielsweise an sich eine Durchgestaltung aller Erscheinungsweisen, um stets den inneren Reichtum des Lebens mit seinen unbegrenzbar subjektiven Nuancen zu leben, wie jede wahre 1033

Vgl. M. Henry, Die Barbarei, 84ff.

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Architektur, Malerei oder Musik es offenbart. Wissenschaft und Technik sind und bleiben hingegen in sich unästhetisch, weil sie die Subjektivität als solche negieren, und somit auch keine unmittelbare Lebensmystik kennen können. Diese Nicht-Ästhetik und Nicht-Mys­ tik der Wissenschaften ist ihnen methodologisch nicht anzulasten, sondern spricht nur für die hier herausgestellte ontologische wie erkenntnistheoretische Dignität der radikal lebensmystischen Wahr­ heitszugänglichkeit als Selbsterprobung des Lebens, die in sich stets sinnlich affektiv auf ab-gründige Weise ist.1034 Wenn wir für diese Analyse der Lebensmystik zum Schluss davon ausgehen dürfen, dass ein transzendentales Leben alle phäno­ menologischen Dimensionen von der reinen Passibilität bis hin zur höchsten schöpferischen Selbststeigerung umfasst, dann bedeutet die individuierte Selbstentsprechung als umgreifende Lebensmystik ein unmittelbares Einstimmen in all diese transzendentalen Vorgege­ benheiten mit ihrem Pathos. Das Bewusstsein ist daraufhin nicht mehr einseitig durch die alleinige Denkleistung als »Aufklärung« definiert,1035 sondern als die Fähigkeit, auf seinem Grund jene trans­ zendentale Geburt geschehen zu lassen, welche es mit dem Absoluten des rein phänomenologischen Lebens verbindet. Dieses lebensmysti­ sche Absolute ist kein theologisches Dogma oder spekulatives Thema, sondern jene konkrete Weise, wie das je individuierte Leben in sei­ ner absolut immanenten Historialität von Sicherfreuen/Sichertragen die Meta-Genealogie der singulären Bestimmung in jeder Ipseität erfüllt. Das Bewusstsein in seinem selbstaffektiven Ursprung ist mit Auf mögliche Bezüge zur Naturwissenschaft können wir hier nur verweisen; vgl. D. Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik, Halle 1937; B. Russell, Mystik und Logik. Philosophische Essays, Wien 1952; K. Vondung u. K.L Pfeiffer (Hgg.), Jenseits der entzauberten Welt. Naturwissenschaft und Mystik in der Moderne, Leiden-Boston 2006; J.H. Nikel, Die Mystik der Physik. Annäherung an das ganz Andere, Frankfurt/M. 2013; Chr. Dorner, Interkulturelle Mystik und neuere Erkenntnisse der Gehirnforschung. Eine religionsphilosophische Untersuchung, Hamburg 2016, bes. Teil III zum Konnex zwischen Mystik und naturwissenschaftlichem Weltbild. Vgl. H.-O. Kvist, »Immanuel Kant über die Mystik und die Deutung von ihm als Mystiker«, in: M. Tameke (Hg.), Mystik – Metapher – Bild, Göttingen 2008, 101–120. 1035 Vgl. P. Kemper (Hg.), Postmoderne oder Der Kampf um die Zukunft, Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1988; Chr. Ried­ weg (Hg.), Nach der Postmoderne. Aktuelle Debatten zu Kunst, Philosophie und Gesellschaft, Basel 2014. 1034

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anderen Worten eine reine Intensität ohne sichtbare Extension,1036 bei der es zu jedem Augenblick allein um diese affektiv fleischliche Lebensrealisierung in seiner Passibilität als »nächtlicher Intrige« geht, um einen Ausdruck von Levinas1037 zu verwenden. Ihr zu entsprechen, will dann besagen, die Individuierung in einer solch ständigen Geburt sich effektiv vollziehen zu lassen, ohne dem Leben dabei abstrakte Vorschriften von außen machen zu wollen, wie es sich zu realisieren habe, was der originär mystischen Empfänglichkeit als solcher entspricht. Diese reine Disponibilität des inneren Lebens als sein eigenes Einstimmen in seine transzendentale Verwirklichung ist durch keine Wissenschaft formulierbar, weshalb auch die Wis­ senschaften in ethischer, gesellschaftlicher, ästhetischer wie religiös mystischer Hinsicht prinzipiell nicht die Zukunft als Potentialitäten der Individuen bestimmen können, auch wenn sie diese Zukunft in deren äußeren Bedingungen formen. Betrachtet man folglich die Zukunft eines solch meta-genealo­ gischen Bewusstseins, welches originär keine Regelhaftigkeit von außen als inneren Maßstab anerkennen kann, dann handelt es sich um ein »Bewusstsein«, welches selbst in der Lage ist, den ständig moda­ len Wandel des Sich-Empfindens des Lebens zu seiner »Maxime« werden zu lassen. Und zwar ohne protentional zu wissen, wohin diese immanente »Teleologie« existentiell jeweils führt, aber dennoch in aller Gewissheit jeweils zu erproben, dass sie nicht außerhalb dieses Lebens führen wird. Die ethische Würde ist hier also mit der unmittel­ baren Intensität des Lebens als solchem verknüpft, und die »Person« als Ipseität wäre dann jene Instanz unseres »Selbst« als Sich, welches sich nicht vorrangig in seiner eigengesetzten Autonomie versteht, sondern in passibler Verbindung mit der Autarkie des Lebens, welche die einzig wirkliche Selbständigkeit ist, durch nichts anderes als durch sich selbst bestimmt zu sein. Denkt man eine nicht utopische Zukunft von transzendental lebendigen Individuen, welche diese Bewusst­ seinsweise für alle Wirklichkeitsvollzüge in ihrer selbstaffektiven Fülle gelten ließen, dann wäre dies die Gemeinschaftlichkeit jenes Lebens, welches sich nicht nur stets mit sich sowie untereinander als »versöhnt« versteht, um mit Hegel zu sprechen. Vielmehr wäre es Dies bietet eine Vergleichsmöglichkeit mit den Analysen von Deleuze; vgl. R. Arsenic-Zamfir, Le corps dans la philosophie française contemporaine – Michel Henry et Gilles Deleuze, philos. Diss. Université de Bourgogne, Dijon 2006, 396 S. 1037 Vgl. Die Spur des Anderen, 247ff. 1036

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ebenfalls jenes Leben, welches auch den ideologischen Vergleich der Individuen untereinander nicht mehr benötigt, weil jede individuelle Äußerung effektiv als eine unmittelbare Äußerung des Lebens und dessen Selbstoffenbarung gälte.1038 Dadurch wäre viel für die Zukunft der Welt gewonnen, wenn mithin anerkannt würde, dass jede individuelle Weise ein direkter Ausdruck des Bezugs des Individuums zum absoluten Leben selbst ist; letztlich sogar dieser lebensmystische Bezug selber als ein sich nur individuell affizierender im rein phänomenologischen Leben. In allen gesellschaftlich, politisch und rechtlich notwendigen Rahmen­ bedingungen dann konkret anzuerkennen, dass jeder sich als das singuläre Leben leben kann, ist dann ein zugleich zu Ende »aufgeklär­ ter« Ethos- wie Religionsbegriff. Dieser gibt auf der Grundlage des darin implizierten unmittelbaren Lebenswissens auch der Demokratie ihre zukünftigen Chancen insofern, als nicht die Regierbarkeit der Individuen vor allem mehr gesucht wird, wie es bislang wohl in allen gesellschaftlichen wie politischen Ansätzen der westlichen Moderne der Fall war, sondern die transzendentale Lebendigkeit das Projekt des Regierens als solchem ist.1039 Die mögliche Antwort auf die westliche Grundillusion einer nur begrenzten »Aufklärung« mit Blick auf ein neues, universal konkretes Ethos muss daher auf eine lebens­ mystische »Phänomenologie des Fleisches« abzielen, welche die je individuierte Selbstgebung von Leben/Leib in allem unbestreitbar aufweisen kann. Daraus ergibt sich die Anerkennung eines zunächst rein passiblen »Mich« als Ego im Akkusativ, das primär nicht mehr einer konstitutionstheoretischen Egologie angehört, sondern einer absoluten Gemeinschaftlichkeit aller Lebendigen im rein phänome­ nologischen Leben.1040 Da diese eidetisch lebensmystische Verbindung von Ich/Lebens­ absolutheit die innere Selbstphänomenalisierung des Lebens als solchem ausmacht, hängt ein solches Ethos ko-pathischer Gemein­ Vgl. R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte, 415ff.; außerdem C. Strenger, Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Das Leben in der globalisierten Welt sinnvoll gestalten, Gießen 2022. 1039 Vgl. M. Maesschalck, »Radikale Phänomenologie und Normentheorie«, in: S. Nowotny u. M. Staudigl (Hgg.), Perspektiven des Lebensbegriffs. Randgänge der Phänomenologie, Hildesheim-Zürich-New York 2005, 277–300: S. Nowotny, »Der lebendige Körper der Macht und die Stimmen des Lebens. Lebensphänomenologie und Biopolitikanalyse«, in: Ebd., 319–344. 1040 Vgl. P. Ziade, Généalogie de la mondialisation. Analyse de la crise identitaire actuelle, Paris 2015, 223ff. 1038

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schaftlichkeit auch nicht mehr bloß von einem interkulturellen oder interreligiösen »Polylog« und seinen darin weiterhin logozentrisch bestimmten rationalen Argumentationstypen in ihrer historischen, religiösen wie ethnischen Relativität ab, sondern von der einzigen Gewissheit, die jeder »ist« – sich unmittelbar als lebendig zu erpro­ ben. Schließt solch originäre Unmittelbarkeit die fraglose »Ko-Nati­ vität« mit allen Anderen in dem einen absoluten Leben ein, so ist die kommende Kultur eine immanent praktische Lebensmystik. Sie dürfte zum ersten Mal eine radikal phänomenologisch ausgewiesene Antwort darauf darstellen, was das abendländische Denken an sich immer gesucht hat, ohne es bisher fassen zu können – nämlich eine Universalität ohne entfremdende Vermittlungskategorie. Mit ande­ ren Worten das rein Hyletische, Affektive, Religiöse, Ästhetische oder Intensive als das inkarnatorisch Individuierte. Das »Individuelle« erscheint daher nur für einen allgemeinen Diskurs als »unaussprech­ lich«, wie seit Aristoteles die lange philosophische Tradition des aufgeklärten Wesens, der Sprache und des formalen principium indi­ viduationis lautet. Im absolut phänomenologischen Leben hingegen »sagt sich« das Individuum in seiner Selbstimpressionabilität auf ursprüngliche Weise je selbst – und zwar nur als Individuum, weil es so die einzige Weise seines affektiven oder praktischen Selbsterschei­ nens ist. Dessen Affinität mit der Selbstoffenbarung eines ab-gründig »gottheitlichen Lebens« bleibt im Sinne Meister Eckharts als bisher kaum genutzte Lebensmystik weiter auszuloten. Es geht daher für die globalisierte Zukunft nicht bloß um ein anderes Paradigma nach dem linguistic turn und den postmodernen Differe(ä)nz-Effekten, sondern um die Aufhebung der bisherigen Grundillusion bezüglich der Phänomenalisierung als solcher. Das heißt um die einzig effektive Ermöglichung von Zukunft, welche sich unabweisbar mit jedem Individuum und seinen Potentialitäten für alle eröffnet. »Wahrheit« ist daher nicht mehr ideal oder allgemein objektiv anzusetzen bzw. zu leugnen, sondern sie ist singulär bedingt, so dass die weltweite Aufklärungsfrage letztendlich keine andere als die lebensmystische Frage selbst ist – und wie sie gesamtkulturell ohne neue globale Allgemeinheitsmythen berücksichtigt werden wird.

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