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German Pages 182 [192] Year 1927
DAS SELBSTOPFER DER ERKENNTNIS E I N E BETRACHTUNG ÜBER DIE KULTURAUFGABE DER P H I L O S O P H I E
VON
ERWIN REISNER
M Ü N C H E N UND BERLIN 1927 DRUCK UND VERLAG VON R.OLDENBOURG
Alle Rechte, einschließlich des Qbersetzungsrechtes, vorbehalten.
VORWORT. Die fachwissenschaftliche Philosophie unserer Zeit hat dem neuerwachten religiösen und metaphysischen Bedürfnis nichts mehr zu bieten. Aus der Unhaltbarkeit jeder Wertmetaphysik nach dem Muster des deutschen Idealismus, insbesondere Hegels, glaubte das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert den Schluß ziehen zu müssen, die Philosophie habe überhaupt von allen ausgesprochen metaphysischen Fragestellungen abzusehen \ind ihre Aufgabe in der Lösimg der dem Verstände und der Beobachtung zugänglichen psychologischen und erkenntnistheoretischen Probleme zu suchen. Sie verlor damit ihre Urbestimmung der Welt- und Lebenssinndeutung aus dem Blickfeld und erschöpfte sich in Haarspaltereien, die wohl das Interesse der engsten Fachkreise erregen honnten, auf die brennenden Grundfragen des menschlichen Geistes aber die Antwort schuldig bleiben mußten. Die Berufung auf Kant sollte die eigene Sterilität verschleiern. Gewiß können wir um Kant nicht herum kommen. Auch heute noch wird jede ernste Philosophie von ihm ihren Ausgang zu nehmen haben, aber das bedeutet weder ein Stehenbleiben bei der „Kritik der reinen Vernunft" und ihrem Fazit noch ein romantisches darüber hinaus Stürmen nach Art der spekulativen Philosophen des absoluten Ich. Wir müssen heute einerseits die von Kant aufgerichteten Schranken respektieren und anderseits doch auch versuchen, den Kontakt herzustellen zwischen folgerichtigem philosophischem Denken und den geistigen Bedürfnissen der Epoche. Das vorliegende Buch will die Grundlagen geben für eine Philosophie, die dieser doppelten Aufgabe gerecht wird. Da es sich hier in erster Linie um die Festlegung des erkenntnistheoretischen Gerüstes handelte, konnten die sich daran anschließenden umfassenderen Problemkomplexe meist nur angedeutet werden. Ich hoffe aber, daß mir ein günstiges Schicksal noch die Möglichkeit geben wird, mich in späteren Arbeiten wenigstens mit den wesentlichsten von ihnen gründlicher auseinanderzusetzen. Für die Durchsicht des Manuskriptes bin ich den Herren Dr. Alfred B a e u m l e r , Dresden, und Dr. Manfred Schröter, München, zu Dank verpflichtet. H e r m a n n s t a d t , im Januar 1927.
Der Verfasser.
Inhaltsverzeichnis. Seite
Einlritung
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Das Interesse
13
Die Sinne
30
Der Intellekt
55
Das Weltbild der Philosophie
73
Die philosophische Gestaltung
93
Die Sprache
122
Die Scholastik der Wissenschaft
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Einleitung. Es ist das für uns schlechthin Unbegreifliche und niemals Nachzuerlebende am Geiste des Griechentums, daß dieser Göttliches und Rationales, Musik und Mathematik, Idee und Begriff als Einheiten zu denken vermochte. In der griechischen Vorstellungswelt h a b e n die Dinge ihr M a ß , sowie sie irgendeine Qualität haben. Das Maß gehört zu ihrem Wesen, es nimmt ihnen nicht nur nichts von ihrer Selbstwertigkeit, sondern gibt ihnen sogar den Charakter der Verwandtschaft mit einem höheren, der sinnlichen Erscheinungswelt übergeordneten Prinzip. Diese überaus bemerkenswerte Einschätzung des Logischen spricht ebenso aus der Philosophie des P 1 a t o n wie aus dem Ebenmaß der hellenischen Skulpturwerke. In unseren Augen hingegen ist das Maß ein von den Einzeldingen, von den Körpern völlig unabhängiges Abstraktum, ein im erkenntnistheoretischen Sinn transzendentes Schema, das den Wirklichkeitsobjekten, an die es angelegt wird, jede Eigenheit und Individualität raubt und sie zu bedeutungslosen Punkten in einem starren System von geometrischen Beziehungen herabdrückt. Die Dinge haben also nicht mehr i h r Maß, sondern das allgemeine abstreikte Maß hat sie. Dasselbe gilt vom Logischen überhaupt, das sich uns nur noch als totes Gerippe darstellt, während es dem antiken Menschen nach allen auf uns gekommenen Äußerungen ein lebendiges Geistiges gewesen sein muß. Auf andere Weise lassen sich jene Ineinssetzungen nicht erklären. Der Logos hat offenbar zwei Seiten, von welchen wir eben nur noch die eine, nämlich die n e g a t i v e , die rein begriffliche zu sehen vermögen. Durch fortgesetztes Messen hat der Mensch das Maß allmählich aus der Wirklichkeit heraus gedacht, dem Logos den konkreten Inhalt und den Dingen ihre innere logische Form genommen. Damit wurden beide entwertet. Und wenn wir von unserem heute gewonnenen Standpunkt auf die Geisteswelt der Antike zurückblicken, so können wir deren Einstellung dem Logischen gegenüber eben darum nicht begreifen, weil uns der Logos selbst nur noch in seiner toten Gestalt gegeben ist und wir uns infolgedessen notgedrungen veranlaßt sehen, u n s e r e Vorstellungsweise auch auf das griechische Denken und Anschauen zu übertragen. Wir sind nicht imstande, Dinge R e i s e er, Selbstopfer.
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und Maß als organisches Ganzes zu fassen, wir sehen sie auch dort, wo sie ein solches Ganzes sind, als analytisches Nebeneinander. Daher der berühmte „ I n t e l l e k t u a l i s m u s " der Antike, den es a n s i c h tatsächlich niemals gegeben hat. Wenn nun Ding und Maß, Wirklichkeit und Logos für uns auseinandergefallen sind, so entsteht die Frage nach dem nunmehrigen Ort des positiv Lebendigen, das früher einmal identisch war mit der harmonischen Einheit des Auseinandergefallenen. Auf der Seite des Logischen kann es nicht zu suchen sein; denn dieses ist ja nur der Nomos, das starre tote Gesetz, der unbarmherzige Bezwinger alles Eigenheitlichen. Aber auch die unlogische gegenständliche Welt kann nicht Trägerin des Wertes sein; denn ihr fehlt wieder die Form, die sie haben müßte, um sich unserer Wahrnehmung als ein Geistiges erschließen zu können. Sie ist, wenn ihr das Maß fremd bleibt, nicht Kosmos, sondern Chaos, und ein Chaotisches als Wert anzuerkennen, dagegen sträubt sich unser Instinkt erst recht. Wir stehen also innerhalb des empirisch Gegebenen vor der wenig erfreulichen Alternative, uns entweder für das lebensfeindliche Rationale oder für das regellose Chaos, für das Negativ-Logische oder für das grundsätzlich Unlogische zu entscheiden. Jede weitere Möglichkeit scheint ausgeschlossen; denn die verlorene Harmonie der griechischen Weltanschauung können wir nicht nach Belieben wieder herstellen. Selbstverständlich berührt das alles nicht bloß das Objekt, das erkannt werden soll, sondern vor allem auch das Subjekt selbst. Wir können auch unser eigenes Ich nur entweder unter dem Gesetze stehend begreifen oder, auf jedwedes Begreifen verzichtend, dem Chaos hinwerfen. Der Mensch ist dem gleichen seelenlosen Maß verfallen, dem er die Dinge außer sich denkend unterworfen hat. Er ist nicht mehr fähig, sein Selbst im PositivLogischen zu finden, weil er sich gegen dieses systematisch blind gemacht hat. Ich sage blind gemacht; denn irgendwo, wenn auch gewiß für uns unsichtbar, existiert die lebendige Synthesis ohne Zweifel. Vergänglichkeit gibt es nur im Bereich des Wertlosen. Der Wert selbst ist unvergänglich. Er besteht in seinem Jenseits, unberührt von allem, was sich hier in der Welt der Zerfallenheit abspielt. Dieses Jenseits des Wertes aber gibt uns, sofern wir diesseitige Wesen sind, nicht die geringste Möglichkeit. Wir haben uns durch die Ablösung des Maßes von den Dingen, das heißt durch deren Rationalisierung, durch das „Erkennen" zwischen Skylla und Charybdis begeben, wir haben nur die Wahl zwischen dem Untergang im logischen Gesetz und der Vernichtung im Wirbel des Chaos. Die Warnung: „Welches
Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben", nähert sich ihrer Erfüllung. Man darf ja nicht glauben, daß die schrittweise Rationalisierung des Weltbildes ein bloß erkenntnispsychologischer Vorgang gewesen sei, der sich durch eine gleichfalls psychologische Umstellung, durch ein „Abreagieren" oder dergleichen, wieder rückgängig machen ließe. Wenn das so wäre, dann hätten wir den Tod, auch den rein individuellen Tod, überhaupt nicht nötig. Gerade die Tatsache des Sterbens ist ein hinreichender Beweis dafür, daß das Erkennen metaphysische Kraft hat und metaphysische Gegenkräfte in Bewegung setzt. Die Welt und das eigene Leben sind nicht uns von Gott in der vorgefundenen Form geschenkte Wirklichkeiten, an denen wir unser Denken erproben können, ohne sie dabei grundsätzlich zu verändern, sondern vielmehr in ihrem Soscin Produkte dieses Denkens selbst. Wir sind als Erkennende die eigentlichen Gestalter unserer Wirklichkeit, und deshalb ist jeder Versuch, das Erkenntnisproblem vom metaphysischen zu trennen, Unsinn. Die Dinge haben nur die Form, die ihnen unsere Wahrnehmung „vorschreibt", und werden, sofern diese vom Intellekt bestimmt ist, einerseits dem negativ-logischen Gesetz unterworfen und andererseits dem unlogischen Chaos überantwortet. Ihr Wesen spaltet sich in eine streng r a t i o n a l e und in eine i r r a t i o n a l e Seite. Der Ausdruck „irrational" hat heute einen unangenehmen Beigeschmack. Wenn man vom „Irrationalen" spricht, denkt man dabei gewöhnlich an jene lebendige Harmonie, die sich von der negativ-logischen Gesetzhaftigkeit unseres geistigen Weltbildes so vorteilhaft unterscheidet. Aber man verwechselt doch gleichzeitig auch diesen klaren Gleichgewichtszustand mit dem in unserer Wirklichkeit tatsächlich Irrationalen, also mit dem bloß Unlogischen; eine Verwechslung, die gefährlich und irreführend ist. Die Harmonie kennt den Gegensatz gar nicht, und wo sie dem Rationalen als das angeblich Positive im Empirischen entgegengesetzt wird, dort meint man, ohne sich dessen bewußt zu sein, immer nur das Sinnlose, das Chaotische. Wehe aber dem, der nach dieser Frucht greift. Ihr Genuß ist uns doppelt verboten; denn er hätte nicht nur den physischen, sondern auch den geistigen Tod im Gefolge. Wenn für uns der Logos auch leer und negativ geworden ist, er bleibt trotzdem der Logos, gegen den wir uns niemals entscheiden dürfen.
Die allgemeine Beachtung, die die Philosophie neuerdings wieder findet, nachdem man sie noch vor wenigen Jahrzehnten am liebsten in den finstersten Winkel eines Antiquitätenkabinetts verbannt hätte, ist nicht unbedingt als erfreuliche Tatsache zu werten. Die Mehrzahl der Interessierten erwartet nämlich von ihr nicht Erkenntnis oder gar Einsicht, sondern ein Rezept gegen die Krisis der Gegenwart, eine geistige Wimdermixtur, durch die das im Lauf einer Jahrtausende langen Kultlirentwicklung Auseinandergebrochene wieder harmonisch zusammengefügt werden soll. Und man muß leider feststellen, daß sehr zahlreiche „Philosophen" diesen unreinen Wünschen bereitwilligst entgegenkommen und ihre Weisheit zur Dirne des Tagesbedürfnisses herabwürdigen. Ein fast unabsehbares Angebot an Synthesen und Syntheschen ist so in den letzten Jahren aus den verschiedenen philosophischen Hexenküchen hervorgegangen und auf den Markt geworfen worden. Was man heute im allgemeinen von einer gangbaren Philosophie verlangt, ist möglichste Abkehr von der Abstraktion und Rückwendimg zur Unmittelbarkeit des irrationalen Lebens. Während man noch vor relativ kurzer Zeit mit den Mitteln des Intellektes die objektiven Grundlagen der Wirklichkeit finden wollte, gilt jetzt das Begriffliche als eine recht harmlose Darstellungsform, von der weder der Mensch selbst noch die Dinge außer ihm tiefer berührt werden. Der Wesenskern des Realen ist — so meint man — das sich selbst ewig gleichbleibende Leben, von dessen greifbaren Werten jede Dogmatisierung der rationalen Form abführt. Nach langen Irrwegen glaubt man nun endlich im Irrationalen den unsterblichen Kern alles Daseienden entdeckt zu haben. Tatsächlich aber handelt es sich hier gar nicht um die Überwindimg, sondern um den letzten Abschluß des Rationalisierungsprozesses. An den Wert des verstandesmäßigen Begreifens konnte nur geglaubt werden, solange dieses sein negativ-logisches Extrem noch nicht erreicht hatte, solange in ihm noch ein gewisser Rest von jener lebendigen Logizität, die das Denken der klassischen Zeit auszeichnete, vorhanden war. Erst die absolute Zurückführung des Logischen überhaupt auf das bloß Rationale hat dann auch die Idee des Irrationalen geschaffen, aber nicht als eines endlich Entdeckten und bisher Übersehenen, sondern als des dem Erfaßbaren schlechthin Entgegengesetzten, mit unseren Wahrnehmungsorganen Unauffindbaren. Wir können von ihm nur ungefähr so sprechen wie der Blindgeborene vom Licht spricht. Die Wissenschaft ist allmählich immer bescheidener geworden. Traute man ursprünglich dem Gedanken die Bewälti-
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gung des metaphysischen Weltgrundes, des Absoluten zu, so beschränkte sich späterhin die abendländische Wissenschaft seit G a l i l e i auf die Erforschung der empirischen Gesetze und verzichtete auf die Erkenntnis der letzten Dinge. Man darf aber in dieser zunehmenden Selbstbescheidung keinen Fortschritt sehen wollen; denn sie stammt durchaus nicht aus einer tieferen Einsicht in das Wesen und die Möglichkeiten der Wissenschaft, sondern eben nur aus der Entleerung, aus der Ermächtigung der logischen Fähigkeiten. Der Preis für die scheinbar höhere Sicherheit der Forschungsmethoden war der werthafte Inhalt des zu Erforschenden. Wenn man das heute einsieht und schuldbewußt an die eigene Brust schlägt, so ist dagegen natürlich nicht das mindeste einzuwenden. Das begriffliche Denken hat der Wirklichkeit, soweit sie erkennbar ist, tatsächlich den ursprünglichen Wert genommen. Hier bleibt jeder Zweifel ausgeschlossen. Aber es hat doch auch gleichzeitig u n s die Möglichkeit genommen, etwas anderes als das Wertlose wahrzunehmen. Wir können nicht einfach zurück zur Unmittelbarkeit des Anfanges, ja, wir können uns nicht einmal gegen das Rationale entscheiden, weil diese Entscheidung selbst auch nur ein Ausfluß der rationalen Reflexion wäre. Daran müssen schließlich alle sogenannten „Bewegungen" unserer Zeit scheitern, die ausnahmslos das eine einzige Ziel im Auge haben, den tödlichen Folgen der Rationalisierung und Mechanisierung des Lebens die Spitze zu bieten. Sie greifen nach einem Irrationalen, das als b e w u ß t e r Gegenpol des Rationalen gleichfalls rational ist und einen unauflöslichen Widerspruch in sich schließt, indem es sowohl als das Erkennbare wie auch als das Unerkennbare gesetzt erscheint. Der Ideologe des Irrationalen macht den negativlogisch urteilenden Intellekt einerseits zum Herrn über das PositivLogische und will andererseits doch eben jenen diesem unterordnen. Hier der Grund für das durchaus Unbefriedigende, ja geradezu Widerliche des ganzen Beweglertums, mag es nun eine neue Religiosität, ein soziales Paradies, eine neue Körperkultur oder irgend sonst etwas, das sich auf den Generalnenner „Zurück zur Natur!" bringen läßt, im Programm führen oder mag es endlich das Irrationale gar zum Prinzip der Philosophie erheben. Der erste Schritt, den das Gebot der Wahrhaftigkeit von uns fordert, ist die bedingungslose Anerkennung der Tatsache, daß alle Versuche, mit rationalen Mitteln Irrationales in der Bedeutung des Positiv-Logischen zu gewinnen, vergeblich bleiben müssen, daß wir mit diesen Mitteln immer nur wieder Rationales wahrnehmen und produzieren können. Die Philosophie vor allem
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ist und bleibt ausschließliche Angelegenheit des Intellektes. Von ihr darf daher am allerwenigsten das Nicht-Intellektuelle, also die Wiedergeburt der verlorenen Synthesis erwartet werden. Rezepte und Wundermixturen hat eine ehrliche Philosophie niemals zu bieten. „Mit Grau in Grau", sagt H e g e l einmal, „läßt sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen"; und „Grau in Grau" muß jede Philosophie malen, die auf diesen Namen überhaupt Anspruch erheben will. Wenn wir die Philosophie auf das rationale Gebiet beschränken, so bedeutet das aber noch keineswegs ihre Gleichsetzung mit der Wissenschaft. Schon allein durch ihren Gegenstand unterscheidet sie sich deutlich von dieser: Sie hat es, wenigstens in erster Linie, nicht mit dem ä u ß e r e n Objekt zu tun, wobei wir zum äußeren Objekt natürlich auch den ganzen Materialbestand der wissenschaftlich betriebenen Psychologie rechnen müssen. Ihre Aufgabe ist weiterhin nicht die, den Prozeß der Wirklichkeitsentwertung, der Rationalisierung also, fortzusetzen, sondern die andere, die schon vollzogene Entwertung aufzuheben. Insofern haben die an sie gestellten antirationalistischen Forderungen zweifellos ihre Berechtigimg. Aber — und das eben ist hier ausschlaggebend — die Philosophie vermag auch ihre grundsätzlich gegen die Analyse gerichtete Aufgabe nur wieder mit den Mitteln der Analyse zu lösen, da ihr andere nicht zur Verfügung stehen. Sie wird zwar nicht r a t i o n a l i s t i s c h sein dürfen im Sinn der optimistischen, erkenntnisgläubigen Wissenschaft, aber sie muß nichtsdestoweniger r a t i o n a l bleiben, sie muß den uns verbliebenen Logos zwar als den ausdrücklich negativen, aber trotzdem als den Logos anerkennen. Sie unterscheidet sich somit von der Wissenschaft durch die e n t g e g e n g e s e t z t e B e w e r t u n g des Rationalen und von der Schwarmgeisterei durchihrunbedingtes F e s t h a l t e n a m L o g i s c h e n . Die Philosophie forscht ohne jede Hoffnung, auf den Wert, auf den Daseinsgrund stoßen und das Lebensproblem im positiven Sinn lösen zu können. Ihr Forschen ist nämlich bloße G e w i s s e n s e r f o r s c h u n g , das will sagen: Das Denken wendet sich hier dem Subjekt selbst zu, um mit seiner Analyse den eigentlichen Brennpunkt aller Zerstörung zu zerstören. Das angestrebte Ziel ist somit nicht die Wahrheit, sondern die W a h r h a f t i g k e i t , die Anerkennung und Aufdeckung der Tatsache, daß das Subjekt der Erkenntnis, indem es die Dinge dem Maß unterworfen oder — was dasselbe ist — das Maß aus den Dingen heraus gedacht hat, selbst gleichfalls diesem Maß verfallen ist. Der ganze Gewinn beschränkt sich letzten Endes auf die Einsicht
in d i e G e r e c h t i g k e i t d e r a u f d e n G e n u ß d e r F r u c h t vom Baum der E r k e n n t n i s g e s e t z t e n T o d e s s t r a f e . Ein Gewinn, der aber nicht zu gering eingeschätzt werden darf; denn er bedeutet die Befreiung aus dem Zwang des Negativ-Logischen, wenn auch freilich i n b l o ß n e g a tiver Form. Die Philosophie ist also wesentlich Erkenntnistheorie. Während die Wissenschaft den Grund für die Problematik der Dinge in diesen selbst sucht, wendet s i e ihre ganze Aufmerksamkeit dem wahrnehmenden Ich zu. Sie ist die von allem Anfang an prinzipiell „ k o p e r n i k a n i s c h e " Geisteshaltung. (Am Ende dieses Buches wird sich zeigen, daß die prinzipiell „ p t o l e m ä i s c h e " Geisteshaltung die historische ist, und daß eben deshalb in der Auflösimg der Historie die Philosophie ihre letzte Aufgabe finden muß.) Die Wissenschaft führt, indem sie im Objektiven nach Lösungen forscht, zu immer weiteren Problemen, weil sie durch die Entwertung der Wirklichkeit die Spannimg zwischen dieser und dem Ich fortschreitend steigert. Die Philosophie hingegen hebt die Spannung auf, indem sie das Subjekt selbst auf die Stufe des Entwerteten herabsetzt. Sie macht damit zwar die Sünde der Wissenschaft nicht ungeschehen, d. h. sie kann das einmal Verlorene nicht wiederbringen, aber sie vollzieht die notwendig gewordene Sühne. Sie ist des „Denkens Denkung" im Sinne einer doppelten Negation, die, obwohl a n s i c h Affirmation, dem bloß Negativitäten wahrnehmenden Intellekt doch nur in ihrer negativen Gestalt gegeben sein kann, geradeso wie jede andere Sühne, Buße und Strafe auch. Wenn gesagt wird, die Philosophie sei im Wesen Erkenntnistheorie, so darf das natürlich nicht so verstanden werden, als ob sie etwa nach Art der akademisch-wissenschaftlichen Erkenntnistheorie, alle übrigen, also vor allem alle metaphysischen und ethischen Gesichtspunkte auszuschalten hätte. Gerade von einer solchen „exakten" Scheidung wollen wir uns fern halten. Unsere Erkenntnistheorie ist vielmehr selbst im denkbar höchsten Grad Metaphysik und Ethik. Daß das Erkennen ein metaphysischer Akt ist, wurde bereits erwähnt, und daß die Philosophie als des „Denkens Denkung" einen ethischen Sinn hat, ergibt sich ganz unzweideutig aus dem Sühnecharakter dieser Wendung. Mit der praktischen Ethik des im Leben stehenden Menschen hat die Erkenntnistheorie unmittelbar freilich nichts zu tun, und gerade darum lehnen wir ja die Forderung nach Rezepten für das Handeln entschieden ab. Die bekannte und oft wiederholte Behauptung, alles Erkennen habe sich in Tat umzusetzen, beruht auf einem
grandiosen Mißverständnis, denn die Philosophie ist selbst bereits eine vollgültige Tat, nämlich d i e s i t t l i c h e Denktat, die vom i n t e l l e k t u e l l e n Menschen gefordert wird. Für sie besteht deshalb auch nicht die geringste Nötigung, sich im Äußeren zu bewähren. Geradeso wie das wissenschaftliche Erkennen als solches, ganz abgesehen von allem mit ihm in engerem und weiterem Zusammenhang stehenden Handlungen, eine r e i n t h e o r e t i s c h e S c h u l d darstellt, so die Philosophie eine r e i n t h e o r e t i s c h e S ü h n e . Sie ist nicht Vorbedingung oder Begründung des Sittlichen überhaupt, sondern das Sittliche selbst, s o f e r n es s i c h i n n e r h a l b d e s t h e o r e t i s c h e n B e z i r k e s m a n i f e s t i e r t . Trotzdem aber hat die Bewährungsforderung zweifellos ihre Berechtigung, wenn sie sich nämlich an die P e r s o n des Philosophen wendet; denn von diesem müssen wir allerdings verlangen, daß er auch im äußeren Leben den ethischen Ansprüchen gerecht werde, da wir sonst an die innere Ehrlichkeit seiner bloß theoretischen Sittlichkeit unmöglich glauben könnten.
Als das Volk der Mitte haben wir auch in philosophischer Hinsicht eine Aufgabe zu erfüllen, die unserer geographischen Stellung angemessen ist. Man darf das heute so sehr aktuelle West-OstProblem nicht als eine bloße Modeerscheinung abtun. Gewiß haben sich seiner auch die Hyänen der Konjunktur bereits bemächtigt, aber das soll uns nicht hindern, der oft genug widerlichen Oberflächenbewegung tiefere Ursachen zuzubilligen. Wir werden uns um die Auffindung des uns vorgezeichneten Weges jedenfalls ernstlich bemühen müssen. Es wurde schon gesagt, daß der Mensch, und das heißt vor allem der deutsche Mensch, scheinbar nur die Wahl hat zwischen der Skylla des Negativ-Logischen, des toten Rationalen und der Charybdis des Unlogischen oder Chaotischen. Eben diese beiden Pole sind durch den Gegensatz West-Ost mit hinreichender Deutlichkeit symbolisiert. Der Westen als die Himmelsrichtung des Sonnenunterganges ist der Repräsentant des Negativ-Logischen. Indem sich das Licht dem Abendhorizont zuneigt, nimmt seine Lebenskraft, also sein positiver Gehalt gleichsam ab, um schließlich überhaupt dem Nichts Platz zu machen. Der Westen selbst aber ist sich dieser Tatsache nicht bewußt. Er meint im Gegenteil mit der allmählichen Entleerung des Logischen zum reinen Verstandesbegriff und zum starren Gesetz einem Wert näher zu
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kommen. Er vertritt den extrem optimistischen Rationalismus der Fortschrittsgläubigkeit. Erkenntnistheoretisch drückt sich das in der Weise aus, daß die verlorene Synthese von Inhalt und Form, jene Harmonie des klassischen Geistes, auf die leere Form projiziert wird. Die faktische Entfernung vom Wert wird als Annäherung an ihn gedeutet, oder bildlich ausgedrückt: die Bewegung der Sonne dem Untergangspunkt entgegen als ihre endliche Herabkunft auf die Erde. Auf dem erkenntnistheoretischen Standpunkt des Westens steht grundsätzlich die gesamte Wissenschaft; denn wenn der Mensch nicht glauben würde, durch die immer schärfere Herausarbeitung des Begriffsmäßigen die Wahrheit erlangen zu können, hätte er das wissenschaftliche Forschen schon längst aufgegeben. Die Philosophie des fortschrittsgläubigen Westlertums findet ihre vorsichtigste Ausprägung im sogenannten Positivismus, der von der Wissenschaft zwar nicht mehr die Erstellung der absoluten Wahrheit erhofft, aber doch in der Formung und Ordnung der gegebenen Wirklichkeit nach dem rationalen Schema mindestens einen praktisch - pragmatischen Lebenswert sieht. Die Verzweiflung an der Ideologie des Westens hingegen führt zum I r r a t i o n a l i s m u s , zur Entscheidung für das Chaos, für den formlosen Inhalt, für das Unlogische oder, wie wir nun auch sagen können, für den O s t e n . Allerdings gibt es hier eine ganze Reihe von Misch- und Zwischenformen, von denen wir nur die beiden charakteristischsten anführen wollen. Die erste Gruppe, die man vielleicht die west-östliche nennen könnte, beurteilt den Osten durchaus optimistisch als die Himmelsrichtung des S o n n e n a u f g a n g e s . Ihre Vertreter trauen dem Menschen, und das heißt, wenn auch freiüch uneingestandenermaßen, der abgelehnten menschlichen Ratio, die Fähigkeit zu, sich im gegebenen Augenblick aus freiem Willensentschluß vom sterbenden Westen ab und dem aus dem Osten neu geborenen Licht zuzuwenden. Hierher gehören nicht nur die verschiedenen Mißdeuter orientalischer Weltanschauungen, sondern überhaupt alle jene, die von einer bewußten Steigerung der angeblich so lange vernachlässigten irrationalen Kräfte die diesseitige Erneuerung der Menschheit erwarten, also alle die zahllosen Utopisten und Ideologen unserer Zeit, die zwar der „Rechenhaftigkeit" den Krieg erklärt haben, aber trotzdem, ohne es zu wissen, die schlimmten Rationalisten sind, weil sie auch noch das Irrationale ihren bewußten Zwecken dienstbar machen wollen. Ihnen ist zu sagen, daß in den Abendstunden, wenn sich die Sonne einmal dem Horizont zugeneigt hat, der Satz „ex O r i e n t e l u x " gar nicht mehr gilt, sondern der andere: „ e x
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o r i e n t e n o x " . Auch die Nacht kommt ja aus dem Osten. Und so bejaht der moderne östling, der optimistische Irrationalist, indem er vorgeblich dem Licht zustrebt, tatsächlich die Finsternis. Die zweite Gruppe ist weniger naiv. Sie gibt sich über die wahre Bedeutung des Ostens keinen Täuschungen hin, sie weiß genau, daß von dort nur die Nacht, der Tod und das Chaos zu erwarten ist. Da sie aber gleichfalls keinen Ausweg aus der Enge findet und dem Westen auf alle Fälle scharf ablehnend gegenübersteht, b e j a h t s i e z y n i s c h d i e F i n s t e r n i s als s o l c h e . Hierher gehören die eigentlichen N u t z n i e ß e r d e s T o d e s , die Mystagogen, die Okkultisten und Nihilisten aller Schattierungen. Ihre Erkenntnistheorie ist der jeder Würde entkleidete Relativismus und Skeptizismus, die höhnisch lachende Wertverneinung. Mit theoretischen Argumenten sind diese Dunkelmänner natürlich niemals zu widerlegen, denn sie w o 11 e n ja nicht bekehrt sein. Ihre Schuld ist die Sünde wider den Heiligen Geist. Sie hoffen lediglich auf die Erfüllung ihres mephistophelischen Wunsches, daß alles, was besteht, zugrunde gehen möge. Während also der Westen auch den Wert im Wertlosen sucht und damit irrigerweise dieses zum Wert erhebt, verschreibt der Osten umgekehrt auch den Wert dem Nichts. Beide werden schließlich restlos von der Finsternis verschlungen, und beide sind genau besehen nur verschiedene Ansichtsseiten derselben Haltung. Die Heraufkunft des Ostens und die Vollendung des Westens fallen in Eines zusammen. Indem die Nacht über die Westkante herabsinkt, „erfüllet sich die Zeit". Schon daraus geht hervor, daß es eine Entscheidung entweder für den Osten oder für den Westen streng genommen gar nicht geben kann; denn mit dem einen ist jedesmal auch der andere mit bejaht und mit verneint Trotzdem werden wir die westliche Einstellung unvergleichlich höher einzuschätzen haben. Sie sucht zwar Wert und Würde an der falschen Stelle, aber sie wirft sie wenigstens nicht fort. Ihr gelten daher die Worte der Engel von den sich strebend Bemühenden, die erlöst werden dürfen. Im Augenblick des Sonnenunterganges verschmelzen Osten und Westen zur Einheit. Das Nichts der entleerten logischen Form und das andere Nichts des formlos gewordenen chaotischen Inhaltes treffen sich in der absoluten Nacht, wir können ebensogut sagen: i m a b s o l u t e n J e t z t als im Gegenpol der absoluten G e g e n w a r t . Im Jetzt wie in der Gegenwart haben Anfang und Ende ihre Synthese, aber die Synthese bedeutet hier das Sein und dort das Nicht-Sein. D a s J e t z t i s t d i e i m
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Objektiven gegensätzlich gespielte Ewigk e i t , d i e r e f l e k t i e r t e E w i g k e i t . Wie die Außendinge, so hat das Subjekt der Erkenntnis auch sich selbst und seine D a u e r zum atomhaften Begriffsfall gemacht. D e r A n f a n g ist nur die P r o j e k t i o n des E n d e s in die V e r g a n g e n h e i t . J e näher dieses heranrückt, um so greifbarer, um so realer wird auch er. Der Mensch erwacht zum Bewußtsein seiner A n f ä n g l i c h k e i t , indem er sich dem Abschluß nähert, und das will sagen, indem er sich von der Gegenwart entfernt, bis er schließlich im Jetzt-Punkt, im West-Punkt, in dem zwischen Anfang und Ende eingeklemmten Zeitatom erlischt.1) Für uns handelt es sich nun darum, den Ausweg zu finden aus der Schein-Alternative West oder Ost, Rational oder Irrational, dogmatische Diesseitsbejahung oder verächtliche Todeslüsternheit. Die Lösung kann offenbar nur die t r a g i s c h e sein. Sie besteht in der bedingungslosen Anerkennimg des starren, negativ-logischen Gesetzes auch für uns selbst und in der gleichzeitigen Heiligsprechung des unerkennbaren Positiv-Logischen als des verjenseitigten Wertes. Dem Tode zu trotzen, ohne dabei doch ängstlich das Leben festzuhalten, ja unter bewußter Verzichtleistung auf das verwirkte Leben, das ist unsere sittliche Aufgabe als Philosophen ebensowohl wie als praktisch Handelnde. Es ist der Standpunkt, zu dem allen voran wir Deutschen uns bekennen müssen. Es ist aber auch der c h r i s t l i c h e Standpunkt. Im Grunde gibt uns ja weder das östliche noch das westliche Ideal eine Möglichkeit; denn beide sind nur o b j e k t i v e Ausprägungen von Seiten unserer eigenen Schicksalsbestimmung. Auf philosophisch-erkenntnistheoretischem Gebiet wird sich die tragische Lösung des Konfliktes so darstellen, daß wir einerseits auf alle mystisch-okkultistischen Phantastereien verzichten und uns streng an die uns allein gegebene rationale Form halten und andererseits doch auch wieder diese nämliche Form als das Nichts, als den Gegenwert, als die Unwahrheit erkennen. Wir haben also unsere Rationalität durch Rationalisierung aufzuheben. Es ist klar, daß eine solche Philosophie negativ oder — wenn man will — pessimistisch ausfallen muß. Aber ihre Negativität folgt doch nur aus ihrem p a t h e t i s c h e n Charakter, dem auf der anderen Seite die Katharsis entspricht. Was objektiv als bloße Verneinung erscheint, ist die einzige positive Entscheidung, deren wir überhaupt fähig sind, die Entscheidung weder für den ') Das Jetzt ist die V e r n i c h t u n g s e i n h e i t , die Gegenwart die E r f ü l l u n g s e i n h e i t von Vergangenheit und Zukunft.
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Sonnenaufgang noch für den Sonnenuntergang, also für keinen Endpunkt des Endlichen, sondern für den Mittag, für die dem Wechsel der Zeit entzogene Gegenwart. Als Denker müssen wir uns mit dem abfinden, was dem Denken gegeben ist: mit dem P r o b l e m . Und es gibt im Grunde nur e i n Problem, nämlich das Problem des Sterbens. Das Leben kennt keine Probleme, weil außer ihm nichts besteht. Der Intellekt, dieses einzige Handwerkzeug auch der Philosophie, ist das Organ des Problematischen und Sterblichen. Wer denkt, hat es darum immer nur mit dem Tod zu tun, und das Denken hat überhaupt keinen anderen Gegenstand als den Tod. Solange das Denken noch glaubt, dem Leben dienen zu können, verkennt es sich selbst. Es begreift seinen Sinn erst in dem Augenblick, da es weiß, daß der Tod sein einziges Thema ist.
Das Interesse. i. Die objektive Außenwelt kann mein Interesse grundsätzlich auf zweierlei Art erregen. Ein Ding interessiert mich entweder, sofern es sich auf mein bewußtes subjektives Ich bezieht, sofern es mir nützt, schadet usw., oder aber als Träger und Repräsentant eines von mir vollkommen unabhängigen Eigenwertes. Das Interesse für den Gegenstand der Anschauung und Beurteilung ist im ersten Fall subjektiv - e g o i s t i s c h , im zweiten objektivk o n t e m p l a t i v . Diese beiden Grundformen bedürfen keiner näheren Definition, weil sie jedem Menschen aus der täglichen Erfahrung hinlänglich vertraut sind und überdies in ihrer reinen Eindeutigkeit auch als phänomenologische Probleme kaum irgendwelche ernste Schwierigkeiten bieten. Die Möglichkeiten des Interesses sind damit aber durchaus noch nicht erschöpft. Sowohl das kontemplative wie auch das egoistische Interesse kann durch Verlegung der A u f m e r k s a m k e i t vom Subjekt auf das Objekt oder umgekehrt eine ganze Reihe von Gestalten annehmen, die sich nicht einfach als Mischprodukte der beiden Extreme darstellen, sondern vielmehr als Ergebnisse eines Spaltungsvorganges innerhalb der ursprünglichen Form zu denken sind. Mit anderen Worten: das kontemplative und das egoistische Interesse sind ebenso wie das Interesse überhaupt einer Orientierung entweder nach dem subjektiven oder nach dem objektiven Pol fähig, wobei aber freilich stets der Wesenscharakter des Ausgangspunktes festgehalten wird, so daß also etwa für die subjektiv gerichtete Kontemplation die objektive Grundeinstellung trotz der nunmehr vollzogenen Rückwendung zum Ich ausschlaggebend bleibt. Ein Gegenstand, der mich nur hinsichtlich seiner Bezogenheit auf ein Subjekt interessiert, ist insofern bloße Funktion, und zwar je nachdem, ob ich mich selbst oder einen Beziehungspunkt überhaupt an die Stelle des Subjektes setze, entweder ausdrücklich m e i n e Funktion oder eben Funktion überhaupt. Im zweiten Fall abstrahiert der Egoismus sozusagen vom Ego, das heißt der Interessierte wendet seine Aufmerksamkeit vom eigenen Selbst
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ab und dem zur Funktion gemachten Objekt zu. Das Ergebnis ist eine Art Kontemplation innerhalb der egoistischen Grundeinstellung. Wir sprechen vom w i s s e n s c h a f t l i c h e n Interesse. Der umgekehrte Fall tritt ein, wenn das der Kontemplation hingegebene Ich seinen Blick dem kontemplierenden Selbst, bzw. dem s u b j e k t i v e n G e n u ß d e r W e r t w a h r n e h m u n g zukehrt. Das kontemplative Interesse verliert durch diesen Reflexionsakt seine ursprüngliche Reinheit, es erhält eine egoistische Färbung und wird zur N e u g i e r 1 ) . In ähnlicher Weise läßt sich das Interesse ad indefinitum differenzieren. Wir verfolgen aber den Spaltungsprozeß nicht weiter, weil die abgeleiteten Formen für unseren Zweck vollkommen ausreichen. An Beispielen unseres persönlichen Verhältnisses zu den Nebenmenschen lassen sich diese vier Hauptformen leicht verständlich machen. Interessiert mich der Andere bloß, sofern er mir nützt oder schadet, sofern er meine Existenz und meine Lebensbedürfnisse fördert oder gefährdet, so ist mein Interesse für ihn rein egoistisch. Beurteile ich ihn lediglich nach seinen Beziehungen zur menschlichen Gesellschaft oder überaupt zu der ihn umgebenden Außenwelt, so interessiert er mich wissenschaftlich. In beiden Fällen beraube ich ihn seines persönlichen Eigenwertes, mache ich ihn zur Funktion, das eine Mal aus selbstsüchtigen Motiven, das andere Mal aber bloß theoretisch. Daß auch hier noch immer der Egoismus, wenn auch freilich nicht der leicht zu erkennende der Oberfläche, letzte Triebkraft ist, wird später noch klar werden. Das kontemplative Interesse für den Nächsten äußert sich vor allem im Gefühl der Liebe. Bleibt die Kontemplation ungetrübt, so ist die Liebe selbstlos, sie gehört ausschließlich dem sich am Geliebten manifestierenden Wert, sie verschenkt sich an den Anderen, ohne selbst ein Gegengeschenk zu erwarten. Die Trübung ergibt sich erst aus der Rückwendung der Aufmerksamkeit auf den subjektiven Liebesgenuß. Die Liebe wird, um bei unserem, hier allerdings nicht gerade sehr zutreffenden Ausdruck zu bleiben, n e u g i e r i g oder, wenn es sich um die Liebe zwischen Mann und Weib handelt, s e x u e l l . Daß die Neugier ihren Gegenstand gleichfalls zur Funktion erniedrigt, wenn auch gewiß dieser Funktionalismus kein toter, kein bloß mechanischer und maschinenmäßiger ist *) Der Ausdruck „Neugier" muß hier in seinem klaren und allgemeinsten Wortsinn, nämlich als Gier nach dem Neuen und Neuartigen oder Außergewöhnlichen Oberhaupt verstanden werden. Wir denken dabei also keineswegs bloß an die t h e o r e t i s c h e Neugier, der es auf ein Wissen ankommt. Diese Neugier des Wissens stellt bereits eine Sonderform dar, deren Herausschalung Aufgabe einer phänomenologischen Spezialuntersuchung wäre.
— 15 — wie beim egoistischen und wissenschaftlichen Interesse, dürfte einleuchten. Wenigstens liegt die Ausbeutung des Gegenstandes zum Zweck des subjektiven Genusses in der Absicht des Neugierigen. Darüber darf aber freilich nicht vergessen werden, daß die Anerkennung des objektiven Eigenwertes gleichzeitig auch ein Sich-Hingeben, ein Sich-Ausliefern des Interessierten an das Objekt in sich schließt; ja, diese Selbstverneinung und Selbsterniedrigung ist geradezu die eigentliche Quelle des Genusses, und so werden wir abschließend sagen dürfen: D e r N e u gierige m a c h t sich s e l b s t zur F u n k t i o n seines Gegenstandes. Die einem Ding oder einer Person entgegengebrachte Interesselosigkeit ist keine besondere Form des Interesses, sondern bloß der negative Niederschlag der egoistischen Einstellung. Indem ich mich um meinetwillen für eine Sache interessiere, sie gleichsam aus dem Komplex der Erscheinungen herausgreife, fällt alles übrige ab. Der Gesamtheit des Objektiven wird damit die ursprüngliche innere Einheit, der organische Zusammenhalt geraubt, aus der Totalität wird ein Konglomerat. Das echte kontemplative Interesse kennt keinen Wertunterschied, welche Tatsache bei Beurteilung von Kunstwerken, die ja immer Abspiegelungen einer rein objektiven Einstellung sind oder doch wenigstens sein sollten, in Betracht zu ziehen ist. Der große Künstler behandelt jedes Detail (seines Werkes natürlich und nicht der Natur) mit der gleichen Liebe; denn für ihn ist alles integrierender Bestandteil, d. h. Mitträger des Wertes. Wo hingegen die Nebenrollen merklich „abfallen", sich fortdenken lassen, ohne daß dadurch das Ganze eine wesentliche Einbuße erleiden würde, spielt bereits der Egoismus des Schaffenden in die Kontemplation hinein. Freilich darf man hier nicht gleich an eine förmliche Jagd nach persönlichen Vorteilen, wie wir sie aus dem Alltagsleben kennen, denken. In gewisser Hinsicht ist eben schon jede T e n d e n z , ja sogar jede bewußte These, die im Gegegensatz zu anderen Tendenzen und Thesen vom Subjekt, also vom schaffenden Künstler theoretisch für richtig gehalten wird, ihrem Grundcharakter nach egoistisch. Nachdrücklichst muß bemerkt werden, daß die Art, der Habitus des interessierenden Gegenstandes nicht mit der Art des Interesses für ihn verwechselt werden darf. Gewiß hängt die Beschaffenheit der Dinge und somit der gesamten uns umgebenden Welt von dem Interesse des Subjektes ab, so daß also dieses etwa ein ursprünglich organisch gefügtes Universum allmählich analysieren und in ein System von mechanischen Beziehungen auf-
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lösen kann, aber dennoch bleibt eine solcherweise zerstörte Wirklichkeit noch immer dem kontemplativen, wie auch umgekehrt eine in sich organisch geschlossene dem egoistischen Interesse bzw. der Neugier zugänglich. Diese Feststellung ist außerordentlich wichtig, weil sie uns erkennen läßt, daß z. B. das von der Wissenschaft entworfene und in seiner typisch analytischen Gestalt erschaute Weltbild auch eine durchaus unwissenschaftliche Auffassung und als Problem eine dementsprechend gleichfalls unwissenschaftliche Lösung gestattet. 2.
Das wissenschaftliche Interesse nimmt, wie gesagt, die Dinge als Funktionen und die Gesamtheit als ein Netz von Beziehungen. Eigentlicher Erzeuger des Funktionsbegriffes ist der klare Egoismus; denn er setzt vorerst die Dinge ihrer Nützlichkeit und Schädlichkeit entsprechend in Relation zum empirischen Subjekt. Abstrahiert nun dieses von sich selbst, ohne dabei auch den Funktionscharakter des Objektiven preiszugeben, d. h. wird an Stelle des bestimmten Subjektes das S u b j e k t s c h l e c h t h i n gesetzt, so erübrigen die Beziehungen und das Bezügüche ohne empirischen Beziehungspunkt. Die Wissenschaft negiert auf diese Weise das „ W e s e n " der Dinge — ein wissenschaftlich betrachteter Gegenstand ist ein entwesentlichter — und muß darum notwendig in schwere Widersprüche geraten, sobald sie versucht, dieses ausgetriebene Wesen mit ihren spezifischen Methoden wiederzufinden. Ein Objekt kann nur entweder Wesen oder Funktion, aber niemals beides zugleich sein. Statt Wesen könnte man hier ebensogut W e r t , S i n n oder «ndlich Z i e l sagen. Das kontemplativ betrachtete Objekt hat, da sich an ihm der Wert direkt manifestiert, sein Ziel in sich, während das egoistische Interesse das Ziel in das Subjekt, also in ein Transzendentes verlegt. Indem nun das wissenschaftliche Interesse vom empirischen Subjekt abstrahiert, ohne aber gleichzeitig den Dingen ihren Wert zurückzugeben, verabsolutiert es gewissermaßen den subjektiven Beziehungspunkt, d. h. es setzt «in überindividuelles allgemeines Subjekt, zu dessen Funktionen