Das übersehene Tier: Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung 9783839438633

A search for traces of the animal in contemporary art.

204 11 4MB

German Pages 370 Year 2018

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Einleitung
1. Auf der Suche nach dem ‚konkreten Tier‘ in der zeitgenössischen Kunst
2. Das Tier als Form
3. Das Tier als Physis
4. Das Tier als Kreatur der Absenz
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Abbildungsverzeichnis
Dank
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Das übersehene Tier: Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung
 9783839438633

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Mona Mönnig Das übersehene Tier

Kunst- und Designwissenschaft  | Band 4

Editorial Die Reihe Kunst- und Designwissenschaft präsentiert exzellente transdisziplinäre Forschungen junger und arrivierter ForscherInnen an den Schnittstellen von bildender Kunst, Design, Medien und Alltagsästhetik. Die einzelnen Bände eint das wissenschaftliche Interesse an Gestaltung als ästhetischem Phänomen. Somit leistet die Reihe einen Beitrag zur Etablierung der jungen Disziplin Designwissenschaft, widmet sich aber ebenso kunstwissenschaftlichen Phänomenen. Die Reihe wird herausgegeben von Cordula Meier, Professorin und Leiterin des Instituts für Kunst- und Designwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste, Essen.

Mona Mönnig (Dr. phil. Dipl.-Des.) studierte künstlerische Fotografie und experimentelle Gestaltung. Sie promovierte an der Folkwang Universität der Künste bei Prof. Dr. Cordula Meier (Institut für Kunst- und Designwissenschaft) und Prof. Dr. Steffen Siegel (Theorie und Geschichte der Fotografie). Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Bildwissenschaft und die Animal Studies, insbesondere das Verhältnis von Mensch und Tier in der zeitgenössischen Kunst.

Mona Mönnig

Das übersehene Tier Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung

Herausgegeben von Cordula Meier mit Unterstützung der Folkwang Universität der Künste.

Vorliegende Publikation wurde 2016 unter dem Titel ‚Auf der Suche nach dem Tier – Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung‘ dem Fachbereich Gestaltung der Folkwang Universität der Künste zu Essen als Dissertation vorgelegt. Der hier publizierte Text ist eine leicht überarbeitete Fassung der Dissertationsschrift. Erstgutachterin: Prof. Dr. Cordula Meier Zweitgutachter: Prof. Dr. Steffen Siegel

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Ralf de Jong Korrektorat: Jan Wenke Satz: Martin Mergen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3863-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3863-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Für meine Eltern und Käthe Wider die Arroganz des Anthropozentrismus

Inhalt

Einleitung

11

Das übersehene Tier

11

Zum Forschungsstand

17

Gegenstand der Untersuchung

30

Aufbau und Struktur

32

Abbildung 1

38

1 Auf der Suche nach dem ‚konkreten Tier‘ in der zeitgenössischen Kunst

41

1.1 Konstitutive Merkmale anthropozentrischer Bild- und

41

Wahrnehmungspraktiken 1.2 Die anthropologische Differenz — Zum Verhältnis und Verständnis von

43

Mensch und Tier 1.2.1 Zoonyme — Das Benennen von Tieren als anthropozentrische Handlung

51

1.2.2

Tiere als Figuren des dritten Raumes

53

1.2.3

Zur Autopoiesis des Tieres

56

1.3 Repräsentationen — Zur Medialität des Tierkörpers

58

als Topos der Absenz 1.4

Trug- und Zerrbilder

70

1.5

Simulakrum, Illusion, Immersion

78

1.6

‚Erkennen‘ — ‚Erkennen‘

82

2

Das Tier als Form

85

2.1 Jo Longhursts ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ —

85

Das Abbild des Zuchttieres als Emblem menschlicher Überpräsenz 2.2

Anthropofakte — Zucht als ästhetische Praxis

2.3 Tierliebe Exkurs: Wim Delvoyes Art Farm

93 98 103

2.4 Jo Longhursts ‚I know what you’re thinking‘ — Über ein

111

trügerisches Glücksversprechen 2.4.1

Physiognomik und Anthropometrie

116

2.4.2

Anthropomorphe Blicke

125

2.5 ‚Windhund-Werden‘

130

Exkurs: Yun-Fei Tous ‚Memento mori‘

135

2.6

140

Das ‚überindividuelle Tier‘

Abbildungen 2—13

152

3

165

Das Tier als Physis

3.1 Sichtbarkeiten als Demarkation — Pierre Huyghes ‚Zoodram 4‘

165

Exkurs: „Der Hund ist anwesend!“

166

3.2

Pierre Huyghes Arbeit an der Aggregation

168

3.2.1

‚Untilled‘ und seine ‚künstlichen Paradiese‘

175

3.2.2 Biomacht

180

3.2.3

Joris-Karl Huysmans’ Gegenentwurf zur Natur

186

3.2.4

‚Locus Solus‘ und die Bedeutung des Gartens

192

3.2.5

Bioy Casares’ Simulation

200

3.2.6

Antithesen anthropozentrischer Bildproduktion

205

3.3

Joseph Beuys’ Bestiarium

206

3.4

‚Untilled‘ als Landschaftsgarten — Die Bedeutung des Pittoresken

230

3.5

‚Human‘ und die Dimension der Begegnung

242

Exkurs: Pierre Huyghes ‚Untitled (Human Mask)‘

264

Abbildungen 14—20

278

4

Das Tier als Kreatur der Absenz

4.1 Candida Höfers ‚Zoologische Gärten‘ — Architekturen

287 287

der Belanglosigkeit 4.2

Wesley Meuris’ Rahmungen der Abwesenheit

297

4.3

Bildzerstörerische Gesten

302

4.4

Topoi der Absenz

304

Abbildungen 21—27

310

Zusammenfassung

317

Literaturverzeichnis

325

Internetquellen

355

Abbildungsverzeichnis

359

Dank

367

Einleitung Das übersehene Tier Was oder wer sich auf der Suche nach dem ‚konkreten Tier‘ in der zeit­ genössischen Kunst zu erkennen gibt und was hinter der ‚anthropozen­ trischen Grenze‘ im Verborgenen verbleibt, zeichnet die vorliegende Arbeit nach. Sobald es den Anschein erweckte, das ‚konkrete Tier‘ in künstlerischen Werken entdeckt zu haben, trübte sich dementgegen die Sicht, so dass sich die Recherche nach und nach in eine Fährten­ suche verwandelte, wobei das Aufspüren der tierlichen Physis und Prä­ senz innerhalb der zeitgenössischen Kunst das Ziel der Nachforschung war. Als Topoi der Absenz sind Tiere in der Kunst hinter der Überprä­ senz menschlicher Vorstellungs- und Idealbilder verborgen geblieben, bis infolge einer geistesgeschichtlichen Wende hin zum Tier als Subjekt die Frage nach seiner Gegenwärtigkeit in den Fokus der Betrachtung sowohl theoretisch wissenschaftlicher wie auch gestalterischer Arbeitsweisen rückte. Die vorliegende Untersuchung widmet sich solchen künstlerischen Arbeiten, die das Verschwinden des Tieres hinter einer Metaphorik behandeln oder aber sich einer Sichtbarmachung des Tieres als Subjekt verschrieben haben. Damit wird ein Konzept der Bildwerdung in Bezug zu einer möglichen Begegnung mit dem individuellen Tier gesetzt. Als der Künstler Cai Guo-Qiang im Jahr 2006 die Installation ‚Head On‘ realisierte, schuf er damit ein Sinnbild der zum Bild gewordenen Tie­ re. (Abb. 1) 99 lebensgroße Nachbildungen von Wölfen – es handelt sich hierbei nicht um per Taxidermie hergestellte Präparate der Tiere, sondern um Attrappen aus Pappmaché, Gips, Fiberglas, Harz und Fell – sind in Form eines Bogens angeordnet. Die einzelnen Wölfe scheinen Anlauf zu nehmen, zum Sprung anzusetzen oder befinden sich, von transparenten Acrylfäden gehalten, bereits im Flug. Wiederum weitere ‚Individuen‘ des vermeintlichen Rudels erwecken den Eindruck, am Ende der aus Dermo­ plastiken geformten Krümmung hinabzustürzen. Auf einer Wand aus Glas scheinen die vom Aufschlag deformierten Körper abzuprallen, ge­ krümmt zu Boden zu fallen oder sich wie benommen wieder aufzurichten, nur um erneut zum Sprung anzusetzen. ‚Head On‘ lässt damit eine Inter­ pretation zu, die über das Verständnis der ‚gläsernen Wand‘ als physische

12

Das übersehene Tier — Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung

Gewalt eines politischen Regimes1 und des Wolfes als Anspielung auf die freudsche ‚Urszene‘2 hinausgeht. Die Glaswand kann gedeutet werden als das, was im Folgenden als anthropozentrische Grenze beschrieben werden wird und jene Demarkationslinie bezeichnet, die menschliche und nicht­ menschliche Tiere voneinander scheidet. Das ‚konkrete Tier‘ prallt damit im übertragenen Sinne an einer Scheidelinie ab, die das Tier zu einem immerwährenden Bildbehafteten macht. Die Tiere stehen in ihrer Ge­ samtheit dem Menschen nur noch als von seiner Hand und Imagination gestaltete Körper gegenüber, das tatsächliche Tier ist absent. Die vorliegende Arbeit knüpft somit an ein neues gesellschaftliches Verhältnis und Verständnis von Mensch und Tier an, das als eine post­ humanistische Reaktion auf das gedeutet werden kann, was nach einem Amüsement mit dem Tier als dem immerwährend Objekthaften virulent geworden ist. Die Aufmerksamkeit richtet sich aktuell auf solche Grenzen, die scheinbar nicht länger aufrechtzuerhalten sind wie beispielsweise jene zwischen Mensch und Menschenaffe, die kraft des ‚Great Ape Project‘ zu einer öffentlichen Debatte geworden sind. 1993 formulierten die Phi­ losophen Paola Cavalieri und Peter Singer die Forderung, Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans und Bonobos nicht zuletzt aufgrund ihrer geneti­ schen Ähnlichkeit und ihrer kognitiven, affektiven und sozialen Fähig­ keiten bestimmte Grundrechte zuzusprechen und damit eine lang tradierte Grenzziehung zu dekonstruieren. Der zentralen Forderung des Projek­ tes wurde 2015 erstmals nachgekommen, als ein argentinisches Gericht Persönlichkeitsgrundrechte für Orang-Utans aussprach, die zuvor nur für Menschen gegolten hatten. Auch das deutsche Tierschutzgesetz hat 2015 eine Novellierung erfahren, die zum ersten Mal neben der Beschreibung der Haltung und Pflege von Tieren Kenntnisse der Tierhalter fordert, welche den genuinen Bedürfnissen der jeweiligen Tierart in besonderer Weise Bedeutung beimessen sollen. Diese Forderung zieht sich wie ein roter Faden durch die Bestimmungen des novellierten Gesetzes und im­ pliziert letztlich das Kennen bzw. das Erkennen des Tieres, das von der

1 | Vgl. Nicholas Mirzoeff: Mauern und Wölfe, in: Ausst. Kat. Cai Guo-Qiang. Head On. Sammlung Deutsche Bank, herausgegeben von Deutsche Bank AG, Deutsche Guggenheim, 26. August bis 15. Oktober 2006, Deutsche Guggenheim, Berlin/Frankfurt am Main 2006, S. 57–65. Dort S., hier S. 63f. 2 | Vgl. Christian Maier: Urszene, in: Wolfgang Mertens/Bruno Waldvogel (Hrsg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 775ff.

Einleitung

vorliegenden Untersuchung in besonderer Weise gewürdigt wird. Insge­ samt baut diese auf der Hypothese auf, dass das ‚konkrete Tier‘ hinter einer Vielzahl von Bedeutungsebenen verschwindet, die das nichtmenschliche Tier zu einem Surrogat menschlicher Zuschreibung macht. Arbeitshypo­ these ist ebenso, dass es künstlerische Werke gibt, die entweder die Über­ präsenz des Menschen visualisieren, die entstehende Abwesenheit des Tieres in den Vordergrund rücken, oder aber eine mögliche Begegnung mit dem ‚konkret Tierlichen‘ innerhalb der ästhetischen Erfahrung evozieren. In der Wahrnehmung ist das ‚konkrete Tier‘3 bislang vor allem von

3 |  Das ‚konkrete Tier‘ bezeichnet das Wesentliche des Tieres, Entitäten, reale Individualpräsenzen in einer gemeinsamen Welt von menschlichen und nichtmenschlichen Subjekten. ‚Konkret‘‚konkrete steht im Gegensatz zu Repräsentation, Objekt Anthropomorphisierung. In der 3 | Das Tier‘ bezeichnet das Wesentliche des und Tieres, Entitäten, reale Individualvorliegenden wird der BegriffWelt des von ‚konkreten‘ bzw. tatsächlichen Tieres immerSubjekten. dann verpräsenzen in Arbeit einer gemeinsamen menschlichen und nichtmenschlichen wendet, wenn ein tierliches Individuum geht. Sich und auf die Suche nach dem konkreten ‚Konkret‘ stehtesimum Gegensatz zu Repräsentation, Objekt Anthropomorphisierung. In der Tier zu machenArbeit kann wird bedeuten, hinterdes den‚konkreten‘ Tieren im Sinne Mannigfaltigkeit einzelne, vorliegenden der Begriff bzw.einer ‚tatsächlichen‘ Tieresdas immer dann sich von denwenn anderen eine Einzelpersönlichkeit Tier dem auszumachen. verwendet, es umunterscheidende, ein tierliches Individuum geht. Sich auf diehabende Suche nach konkreten Des zu Weiteren diebedeuten, Bezeichnung derden Tierlichkeit des Tierischendas vorgezogen. Tier machenwird kann hinter Tieren im dem SinneAusdruck einer Mannigfaltigkeit einzelne, Während tierlich, die dem Tier zugehörigen beschreibt, ist tierisch nach wie vor sich von den anderen unterscheidende, eineEigenschaften Einzelpersönlichkeit habende Tier auszumachen. pejorativ konnotiert, triebhaft,der roh, grausam dem und beschreibt abwertend denvorgezogen. Menschen Des Weiteren wird diemeint Bezeichnung Tierlichkeit Ausdruck des Tierischen betreffende Eigenschaften. Vonzugehörigen der Unterscheidung menschlicher und nichtmenschlicher Während tierlich, die dem Tier Eigenschaften beschreibt, ist tierisch nach wieTiere vor wird nur dann Gebrauch gemacht, wenn das jeweiligeund Themenfeld einfordert. Mensch pejorativ konnotiert, meint triebhaft, roh, grausam beschreibtdies abwertend denDer Menschen wird generellEigenschaften. als Tier verstanden, er als ein menschlicher sich abgrenzendes Tier entlarvt wird.Tiere Die betreffende Von derwobei Unterscheidung und nichtmenschlicher Aufhebung desGebrauch Mensch-Tier-Dualismus der Untersuchung, weshalbDer dieMensch verallwird nur dann gemacht, wenn ist dasGegenstand jeweilige Themenfeld dies einfordert. gemeinernden Singulare Mensch bzw. Tiererimmer dann finden, auf wird. Subjekte wird generell als Tier verstanden, wobei als ein sichVerwendung abgrenzendes Tierwenn entlarvt Die innerhalb der hingewiesen werden soll. Ist die Rede von Menschenweshalb und Tieren, so ist Aufhebung desSpezies Mensch-Tier-Dualismus ist Gegenstand der Untersuchung, die veralldavon auszugehen, dass tatsächlich Masse vieler Individuen damit gemeint ist.auf Obwohl das gemeinernden Singulare Mensch bzw.dieTier immer dann Verwendung finden, wenn Subjekte Mensch-Tier-Verhältnis und -Verständnis auch Licht zu finden innerhalb der Spezies hingewiesen werden soll.imIst die des RedeGenderdiskurses von Menschen und Tieren,ist, sosoll ist indessen nicht zuletzt, diese Arbeit verkomplizieren und aus Gründen der bessedavon auszugehen, dassum tatsächlich die nicht Massezuvieler Individuen damit gemeint ist. Obwohl das ren Lesbarkeit, das generische Maskulinum angebracht werden, wenngleich die feministische Mensch-Tier-Verhältnis und -Verständnis auch im Licht des Genderdiskurses zu finden ist, soll Linguistik nicht davonzuletzt, ausgeht, diese Verwendung weibliche Personen weniger vorstellbar oder indessen umdass diese Arbeit nicht zu verkomplizieren und aus Gründen der bessesichtbar macht.das Da generische es in dieserMaskulinum Arbeit freilich nicht um eine Geschlechterdivergenz von Menren Lesbarkeit, angebracht werden, wenngleich die feministische schen geht, vielmehr um die Tatsache, dass Menschen TierePersonen weniger vorstellbar und sichtbar Linguistik davon ausgeht, dass diese Verwendung weibliche weniger vorstellbar oder werden lassen, an dieser machen, dass mir der sichtbar macht. möchte Da es inich dieser ArbeitStelle freilichdarauf nicht aufmerksam um eine Geschlechterdivergenz von MissMenstand der Verallgemeinerung Menschlichem, menschlichen Gruppen und Personen unspeschen geht, vielmehr um die von Tatsache, dass Menschen Tiere weniger vorstellbar und sichtbar zifizierten Geschlechts bewusst ist,darauf ich dennoch an dieser Stelle auf einemir Unterscheiwerden lassen, möchtedurchaus ich an dieser Stelle aufmerksam machen, dass der Missdung verzichten möchte, da sie für diemenschlichen Themenstellung irrelevant stand der Verallgemeinerung vontatsächlich Menschlichem, Gruppen undist. Personen unspezifizierten Geschlechts durchaus bewusst ist, ich dennoch an dieser Stelle auf eine Unterscheidung verzichten möchte, da sie tatsächlich für die Themenstellung irrelevant ist.

13

14

Das übersehene Tier — Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung

literatur4- und kulturwissenschaftlicher5 Seite betrachtet worden, so dass eine eingehende Untersuchung aus kunstwissenschaftlicher Sicht wünschenswert erscheint. Wenn im Folgenden, auf der Suche nach dem ‚konkreten Tier‘ in der zeitgenössischen Kunst, solche Werke Betrachtung finden, welche die Sichtbarmachung des individuellen Tieres zum Ausgangspunkt haben, ist vor allem eines augenscheinlich: Der Mensch macht sich ein Bild. Eben dieses Bildermachen evoziert seinen Abstand zur Welt.6 Das Abbilden, Darstellen und Bildermachen von Tieren ist für die Wahrnehmung des konkreten Tieres von existenzieller Bedeutung für den Menschen. Diese Praxis wird in den Kapiteln zwei, drei und vier der vorliegenden Arbeit thematisiert. Betrachtet werden deshalb solche zeitgenössischen Kunst­ werke, die das Tier herausstellen, ausstellen, es darstellen, zu einem Dargestellten machen oder die Darstellung des Tieres dekonstruieren, d. h., den Akt des Zurschaustellens selbst hinterfragen.7 Ausgehend von der These, dass sich das tatsächliche, also ‚konkrete Tier‘ nur noch durch seine Absenz auszeichnet, erübrigt sich eine katego­ riale Bearbeitung des Themenfeldes Tier innerhalb der visuellen Kultur.

4 | Vgl. Gabriele Kompatscher: Literaturwissenschaft. Die Befreiung ästhetischer Tiere, in: Reingard Spannring/Karin Schachinger/dies./Alejandro Boucabeille (Hrsg.): Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen, Bielefeld 2015, S. 137–159. Julia Bodenberg: Tier und Mensch. Zur Disposition des Humanen und Animalischen in Literatur, Philosophie und Kultur um 2000, Berlin/Wien 2012. Roland Borgards/Esther Köhring/Alexander Kling (Hrsg.): Texte zur Tiertheorie, Stuttgart 2015. 5 | Annette Bühler-Dietrich/Michael Weingarten (Hrsg.): Topos Tier. Neue Gestaltungen des Mensch-Tier-Verhältnisses, Bielefeld 2015. 6 | Dieses Bildermachen steht auch für das Handhaben und Schaffen von Zeichen, das eine genuin menschliche Fähigkeit bezeichnet: „Für viele Philosophen, antike wie moderne, ist das repräsentierende Tier, der homo symbolicus, ein Wesen, das sich von anderen Geschöpfen durch seine Fähigkeit zur Schaffung und Handhabung von Zeichen — von Dingen, die für etwas anderes oder anstelle von etwas anderem stehen — unterscheidet.“ William J. Thomas Mitchell: Bildtheorie, Frankfurt am Main 2008, S. 78. Hervorhebungen aus den Originaltexten werden in der vorliegenden Arbeit stillschweigend übernommen. Eigene Hervorhebungen sind mit M.M. kenntlich gemacht. 7 | Das Zurschaustellen meint künstlerische Werke, die Zuchttiere behandeln, welche auf Tierschauen und Tierausstellungen einem Publikum gezeigt und vorgeführt werden, und solche Werke, die das Ausstellungsprinzip zoologischer Einrichtungen zum Thema haben.

Einleitung

Vielmehr geht es darum, solche künstlerischen Positionen zusammenzu­ führen, welche Tierdarstellungen in einem neuen Licht zeigen und das Bildwerden des eigentlichen Tieres evozieren oder aber das ‚konkrete Tier‘ zu bannen versuchen. Von besonderem Interesse ist dabei ein medienrefle­ xiver Umgang mit den Werken, der das vermittelnde Element in direkten Zusammenhang mit der jeweiligen Art der Bildwerdung setzt. Fokussiert werden damit neben der medialen Kontextualisierung auch die konstituti­ ven Merkmale der jeweiligen Bildwerdung. Dieses Buch hat es nicht zum Ziel, kategorial die Tierkunst in all ihren Facetten zusammenzutragen.8 Die entsprechende Bildhistorie würde ent­ weder unscharf – käme es auf Vollständigkeit an – oder die Frage nach dem ‚konkreten Tier‘ würde durch Belege und Hinweise erstickt werden. Auch geht es nicht um das Verständnis des Tieres als Material in der Kunst. Die vorliegende Arbeit behandelt solche Werke, die das lebendig in den Ausstellungsraum überführte Tier der Kunst der 1960er Jahre zum Aus­ gangspunkt haben. Fundament und Arbeitshypothese ist die Reflexion und Implementierung der Wahrnehmungsmodi des Tierkonstruktes in der Kunst; das Tier aus der Metaphorik herauszulösen, ist dabei Heraus­ forderung und wesentlicher Aspekt der vorliegenden Arbeit. Deshalb geht diese Studie nicht ausschließlich vom Bild selbst aus, sondern beachtet auch die Beziehung zwischen Bild und Betrachter 9 und folgt somit dem rezeptionsästhetischen Ansatz. Dabei erweisen sich insbesondere solche künstlerischen Werke für das Herausarbeiten der Wahrnehmungsmodi als besonders geeignet, in denen die Bildpraktiken des Aus- und Darstel­ lens im Kunstwerk angelegt sind. Um die Bedeutung von Bildern zu ver­ stehen, sollen nicht nur die Bilder selbst, sondern ebenso das Sehen und das Zu-Sehen-Geben untersucht werden. Damit kommt der Bildpraxis in den folgenden Kapiteln die Bedeutung des Bildinhaltes wie auch der Bild­ wahrnehmung zu. Entweder gibt der Künstler dabei den Entstehungspro­ zess des Werkes zu erkennen, das Werk ist mithin als offenes Kunstwerk konzipiert, bei welchem der Betrachter als Bildproduzent mit im Werk

8 | Siehe hierzu beispielsweise: Claudia List: Tiere. Gestalt und Bedeutung in der Kunst, Stuttgart/Zürich 1993. Kai Artinger: Von der Tierbude zum Turm der blauen Pferde. Die künstlerische Wahrnehmung der wilden Tiere im Zeitalter der zoologischen Gärten, Berlin 1995. 9 | Vgl. Wolfgang Kemp (Hrsg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Ostfildern 1991. Ders.: Der explizite Betrachter. Zur Rezeption zeitgenössischer Kunst, Konstanz 2015.

15

16

Das übersehene Tier — Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung

angelegt ist, oder aber der Künstler lässt den Gegenstand des Werkes, das Tier selbst, verschwinden und manifestiert damit die Anwesenheit des Menschen, der so zum Bildinhalt selbst wird. Während Menschenbilder immer vom Menschen handeln, fällt es schwer, Tierbilder auf das Tier zu beziehen. Das Tier steht selten, vielleicht sogar niemals für sich selbst. Hauptanliegen ist es – und damit knüpft die vorliegende Arbeit thematisch an die Fragestellungen der HumanAnimal Studies an –, herauszuarbeiten was sich den Menschen damit entzieht und welche Mechanismen greifen, um die Wahrnehmung und das Wahrgenommene diesbezüglich zu schärfen. Die nachfolgenden Überlegungen beschäftigen sich mit der Frage, wie das Auflösen von Vor­ bildern des Tieres das ‚konkrete Tier‘ zu vergegenwärtigen vermag und in­ wieweit die künstlerische Bildproduktion imstande ist, das Begehren10 des eigentlichen Tieres heraufzubeschwören, nämlich dann, wenn ein Werk nicht mehr Gegenstand, sondern Mittel der Betrachtung ist. Diese Aus­ einandersetzung ist also auch eine Suche nach dem Ursprünglichen, dem Konkreten, Tatsächlichen und letztlich auch dem, was Tier- und Mensch­ sein bedeuten kann. Das Phänomen der anthropologischen Grenze zieht sich deshalb durch die Gesamtstruktur der vorliegenden Arbeit, da in ihrer Behauptung und Suggestion erkennbar wird, wie unser kollektives Bild­ verständnis vom Tier zustande kommen konnte. Dabei wird ein Einblick in den bildwissenschaftlichen Diskurs der Untersuchung der Bilder vor­ angestellt.

10  |  Das Begehren des konkreten Tieres und das Begehren des Bildes, wie William J. Thomas Mitchell es in ‚Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur‘ 2008 betitelte, zeugt nicht zuletzt deshalb von einer Ähnlichkeit, als dass das Tier in der folgenden Betrachtung zunächst als Medium verstanden wird. Begehren meint in diesem Kontext, das Beheben eines subjektgebundenen Mangels und geht von dem jeweiligen Objekt oder Subjekt selbst aus. Teil des Begehrens scheint das Herauslösen aus einem vorbestimmten Kontext zum Zwecke der Konkretisierung.

Einleitung

Zum Forschungsstand Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist in Deutschland ein neues Forschungs­ interesse zu verzeichnen, welches in der Tradition des englischsprachigen Wissenschaftsdiskurses der 1980er Jahre steht und sich unter der Bezeich­ nung Human-Animal Studies zusammenfassen lässt. Die Anthrozoolo­ gie ist aus dem posthumanistischen Denken entstanden. Die Inhalte der Forschung sind interdisziplinär angelegt und reichen von philosophie­ geschichtlichen Sinndimensionen der Mensch-Tier-Verhältnisse11 bis hin zu kultursymbolischen Deutungen in Kunst, Literatur und Medien und sind darüber hinaus unter Berücksichtigung der Tierrechts- und Tierbe­ freiungsfragen in den Rechtswissenschaften vertreten. Neben den HumanAnimal Studies können gegenwärtig Abspaltungen bzw. Spezifizierungen verzeichnet werden, so zum Beispiel die Critical-Animal Studies, die eine mögliche tierliche Perspektive fokussieren und zum Teil den deskriptiven Studien insofern kritisch gegenüberstehen, als dass dort der Mensch immer noch im Fokus der Betrachtung liegt. Seit 2009 etablieren sich verschiede­ ne Organisationen und Gruppierungen, wie das ‚Bündnis Mensch Tier‘12, 2009 gegründet, und die ‚Group for Society and Animals Studies (GSA)‘13,

11 | Mensch-Tier-Verhältnis beschreibt die Gesamtheit an Mensch-Tier-Beziehungen, wohingegen Mensch-Tier-Beziehung die konkrete Beziehung zwischen einem menschlichen und einem tierlichen Individuum meint. Vgl. Chimaira — Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.): Eine Einführung in Gesellschaftliche Mensch-Tier-Verhältnisse und Human-Animal Studies, in: ders. (Hrsg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011, S. 7–19. 12  |  „Die Stiftung Bündnis Mensch & Tier wurde 2009 […] gegründet und ist eine operativ arbei­ tende Stiftung. Sie unterstützt die nachhaltige Förderung der Mensch-Tier-Beziehung auf der Grundlage der artgemäßen Tierhaltung und des tiergerechten und respektvollen Umgangs mit dem Individuum Tier. Das Ziel des Stiftungsengagements ist eine nachhaltige Entwicklungsförderung der verbesserten Beziehung zwischen Mensch und Tier im Sinne einer zukunftsweisenden Veränderung in der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt. Die Stiftung erreicht ihre Ziele unter anderem durch die Förderung des interdisziplinären wissenschaftlichen Dialogs“. Bündnis Mensch Tier (Hrsg.), http://buendnis-mensch-und-tier.de/home/ (letzter Zugriff: 30.10.2017). 13 | „Die GSA ist die erste soziologische Forschungsgruppe in Deutschland, die zum Mensch-Tier-Verhältnis arbeitet, und versteht sich als Teil des Forschungsfeldes der HumanAnimal-Studies.“ GSA (Hrsg.), https://www3.wiso.uni-hamburg.de/de/projekte/animalsand-society/die-gsa/ (letzter Zugriff: 30.10.2017).

17

18

Das übersehene Tier — Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung

die als erste Forschungsgruppe im Jahr 2010 am Institut für Soziologie der Universität Hamburg institutionell verankert wurde. Das Netzwerk ‚Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies‘14 entstand im Jahr 2010. Am ‚Messerli Forschungsinstitut‘15 an der Veterinärmedizinischen Universität Wien, ebenfalls 2010 etabliert, wird u. a. ein interdisziplinäres Masterstudium Mensch-Tier-Beziehung angeboten. Hinzugekommen sind in den Jahren 2011 und 2012 weitere organisierte Netzwerke wie das ‚Nachwuchsforschernetzwerk Cultural and Literary Animal Studies (CLAS)‘ am Lehrstuhl für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Würzburg und das geschichtswissenschaftliche Forum ‚Animals and History/Tiere und Geschichte‘. Als Ländergruppe des ‚Minding-Animals‘-Netzwerks fungiert ‚Minding Animals Germany‘. Seit Januar 2014 ist an der Universität Kassel der interdisziplinäre Forschungs­ schwerpunkt ‚Tier – Mensch – Gesellschaft‘ eingerichtet. Symposien16, Tagungen und zum Beispiel die ‚Würzburg Summer School for Cultural and Literary Animal Studies‘17 an der Julius-Maximilians-Universität,

14 | Der ‚Chimaira — Arbeitskreis für Human-Animal Studies‘ betreibt nachfolgend angeführte Homepage zu den Human-Animal Studies und stellt damit ein umfassendes Webportal zum Themenfeld: http://www.human-animal-studies.de. 15 | „2012 wurde das Messerli-Institut eröffnet, welches sich u.a. der Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung verschrieben hat. Die Besonderheit dieses Instituts liegt in der Interdisziplinarität, es vereint die Disziplinen Biologie, Humanmedizin, Veterinärmedizin, Philosophie, Psychologie und Rechtswissenschaft. Laut des Sprechers des Instituts sollen Grundlagen und Kriterien für einen ethisch vertretbaren Umgang mit Tieren entwickelt werden.“ Chimaira — Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.), http://www.human-animal-studies.de/ forschung-der-mensch-tier-beziehung-am-messerli-institut/ (letzter Zugriff: 30.10.2017). 16 | So fand am 13. und 14. November 2014 in Kassel das Symposium ‚Tier im Bild — die menschliche Perspektive‘ statt, das gemeinsam mit dem Kasseler Naturkundemuseum von der Museumslandschaft Hessen Kassel und dem Arbeitskreis Niederländischer Kunst- und Kulturgeschickte e.V. veranstaltet wurde. Vom 6. bis 8. Februar 2014 richtete die Universität Innsbruck die Konferenz ‚Im Spannungsfeld zwischen ethischen Werten und wissenschaftlicher Objektivität‘ aus. 17 | „Die ‚Würzburg Summer School for Cultural and Literary Animal Studies‘ versammelte […] interdisziplinär gestellt[e] Fragen und ging der historischen und systematischen Position der Tiere in unserer Kultur in drei aufeinander aufbauenden, dabei aber jeweils eigene und eigenständige Schwerpunkte setzenden Jahresthemen nach. Mit der ersten Summer School 2012 unter dem Thema ‚Nature, Culture, Agency‘ standen generelle Fragen nach einer

Einleitung

Würzburg sind zu vermerken. Zudem sind einige Überblickspublika­ tionen und Reihen zum Thema erschienen: In der englischsprachigen Literatur sind Steve Baker 18, und Donna Haraway 19 hervorzuheben.20 Baker und Haraway sind gleichsam als die Pioniere des englischsprachigen Wissenschaftsdiskurses zum Thema zu benennen. Im deutschsprachigen Raum sind zwei Publikationsreihen innerhalb der Human-Animal Studies entstanden, die auf der Arbeit von Donna Haraway und Steve Baker gründen. Die ‚Tierstudien‘21, herausgegeben von

Epistemologie und Methodologie der CLAS im Vordergrund. Die zweite Summer School widmete sich dem Jahresthema der ‚Politischen Zoologie‘ […], 2014 […] [schloss die Summer School — M.M.] mit dem Jahresthema ‚Zoologische Ästhetik‘.“ Würzburg Summer School for Cultural and Literary Animal Studies (Hrsg.), http://www.ndl1.germanistik. uni-wuerzburg.de/forschung/nachwuchsnetzwerk_cultural_and_literary_animal_studies/ summer_school_clas/ (letzter Zugriff: 20.3.2015). 18 | Baker ist Professor Emeritus der Kunstgeschichte an der University of Central Lancashire. 19 | Haraway ist Naturwissenschaftshistorikerin und Biologin, Professorin Emeritus am Department für History of Consciousness an der University of California, Santa Cruz. 20 | Besondere Bedeutung haben Steve Bakers Auseinandersetzung mit dem postmodernen Tier und seine Forschung zu dem Themenfeld westlich kultureller Bildprozesse, da seine Untersuchungen zu Tierbildern erstmals mit Fragen ethisch und moralischer Herkunft kontextualisiert werden können: vgl. Steve Baker: The Postmodern Animal, London 2000; ders.: Picturing the Beast: Animals, Identity, and Representation, Illinois 2001. Donna Haraways posthumanitäre Schriften gelten als richtungsweisend und behandeln auch solche Themenfelder, die den Genderstudies zugerechnet werden können: vgl. Donna J. Haraway: When Species Meet, Minneapolis 2008. Vgl. außerdem die Aufsatzsammlung dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, herausgegeben von Carmen Hammer/Immanuel Stieß, Frankfurt am Main/New York 1995. 21 | Bislang sind erschienen: Jessica Ullrich (Hrsg.): Tierstudien. Animalität und Ästhetik, Berlin 2012; dies. (Hrsg.): Tierstudien. Tiere auf Reisen, Berlin 2012; dies./Friedrich Weltzien (Hrsg.): Tierstudien. Tierliebe, Berlin 2013; dies./Antonia Ulrich (Hrsg.): Tierstudien. Metamorphosen, Berlin 2013; dies. (Hrsg.): Tierstudien. Tiere und Tod, Berlin 2014; dies. (Hrsg.): Tierstudien. Tiere und Raum, Berlin 2014; dies. (Hrsg.): Tierstudien. Zoo, Berlin 2015; dies. (Hrsg.): Tierstudien. Wild, Berlin 2015. dies./Aline Steinbrecher (Hrsg.): Tierstudien. Tier und Unterhaltung, Berlin 2016.

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Jessica Ullrich, widmen sich vor allem aus kunst- und kulturwissenschaft­ licher Perspektive „unter dem Motto Animalität und Ästhetik im Kontext der neu entstan­ denen Animal Studies dem Verhältnis von Mensch und Tier, indem sie vor allem aus kunst- und kulturwissenschaftlicher Perspektive sowohl die künstlerische Darstellung von Tieren wie auch deren eigene ästheti­ sche Gestaltungsfähigkeit untersucht.“22

Der ‚Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies‘ ist transdiszi­ plinär angelegt. Nach der ersten Überblicksdarstellung ‚Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen‘23 erschien der zweite Sammelband ‚Tiere/Bilder/Ökonomien. Aktuelle For­ schungsfragen der Human-Animal Studies‘24 in der Kategorie HumanAnimal Studies. Des Weiteren gibt es grundlegende Literatur, die, wenn­ gleich nicht den Human-Animal Studies zugewiesen, maßgeblich für diese Arbeit ist: Peter Singers bereits im Jahr 1979 in erster Auflage erschienene ‚Prak­ tische Ethik‘25 führt ein in den Begriff des ‚Speziesismus‘, den MenschTier-Dualismus, der dem Menschen alle anderen Tiere als ungleiche Entität gegenüberstellt. Singer fundiert eine Argumentation für die Erwei­ terung des Prinzips der Gleichheit über die menschliche Spezies hinaus.26 Seine moralphilosophische Abhandlung zu Rassismus und Speziesismus findet sich ebenfalls in dem Band ‚Texte zur Tierethik‘27, welcher einen repräsentativen Überblick über die Tierethikdebatte von ihren Anfängen in den 1970er Jahren bis heute gibt. 2006 erschien unter dem französischen Originaltitel ‚L’animal que donc je suis‘ (Das Tier, das ich also bin) posthum eine Zusammenstellung von Tex­ ten und Überlegungen Jacques Derridas zur Dichotomie von Mensch und

22  |  Ullrich (Hrsg.): Tierstudien. Animalität. 23  |  Vgl. Chimaira — Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011. 24 | Vgl. ders. (Hrsg.): Tiere/Bilder/Ökonomien. Aktuelle Forschungsfragen der HumanAnimal Studies, Bielefeld 2013. 25 | Vgl. Peter Singer: Praktische Ethik, 3. Auflage, Stuttgart 2013. 26 | Vgl. ebd., S. 99. 27 | Vgl. Ursula Wolf (Hrsg.): Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008.

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Tier. Sie fußt auf einem Vortrag, den Derrida mit ‚L’animal autobiographique‘ (Das autobiografische Tier) betitelte.28 Derrida prägt den Neologismus ‚L’animot‘29, der für den wissenschaftlichen Diskurs bedeutungsträch­ tig ist und vereint darin „drei heterogene Teile in ein und demselben Verbalkörper.“30 Derrida konstatiert, dass es „nicht das Tier (l’animal) im allgemeinen Singular [gibt], das vom Menschen durch eine einzige unteilbare Grenze getrennt wäre. Wir müssen in Betracht ziehen, daß es Lebende gibt, deren Pluralität sich nicht in einer einzigen Figur der Tierheit (animalité) versammeln läßt, die der Menschheit schlicht entgegengesetzt wäre. […] Unter den NichtMenschen, und getrennt von den Nicht-Menschen, gibt es eine immense Vielfalt anderer Lebender, die sich in keinem Fall – außer durch Gewalt und interessiertes Verkennen – in der Kategorie dessen homogenisie­ ren lassen, was man das Tier (l’animal) oder die Tierheit (l’animalité) im Allgemeinen nennt. Es gibt sofort Tiere (des animaux) und, sagen wir, l’animot. […] Das Suffix -mot im animot soll an das Wort, ja an das Wort namens Namen (mot nommé nom) erinnern. Es würde nicht darum gehen, den Tieren ‚das Wort zurückzugeben (rendre la parole)‘, sondern

28  |  Aus dem Vorwort von Marie-Louise Mallet: „Wie Derrida selbst im Laufe des Vortrags in Erinnerung ruft, ist die Frage ‚des Tiers‘ in zahlreichen seiner Texte überaus präsent. Diese insistierende Präsenz über die Gesamtheit seines Werkes hinweg entspringt mindestens zwei Quellen. Die erste ist zweifellos eine besonders lebendige Sensibilität, eine gewisse Fähigkeit, für eben jene Aspekte des animalischen Lebens ‚Sympathie‘ zu empfinden, die von der Philosophie am meisten mißachtet oder vergessen wurden. Daher die große Bedeutung, die er jener Frage beimaß, die Jeremy Bentham in Bezug auf die Tiere gestellt hatte: ‚Can they suffer?‘ ‚Die Frage‘, so Bentham, ‚ist nicht: Können sie denken? Können sie sprechen? Sondern: Können sie leiden?‘“ Marie-Louise Mallet: Vorwort, in: Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, S. 11–16, hier S. 11f. 29 | „Die Gewalt, die dem Tier angetan wird, beginne im Übrigen mit dem Pseudobegriff ‚das Tier‘, diesem im Singular gebrauchten Wort, so als ob alle Tiere, vom Regenwurm bis zum Schimpansen, ein homogenes Ganzes bildeten, dem ‚der Mensch‘ radikal entgegengesetzt wäre. Wie als Antwort auf diese erste Gewalt erfindet Derrida ein anderes Wort (mot), ‚l’animot‘, das, wenn es laut ausgesprochen wird, im Singular den Plural animaux (‚Tiere‘) vernehmen läßt und die extreme Vielfalt der Tiere in Erinnerung ruft, die ‚l’animal‘ (‚das Tier‘) auslöscht; ‚animot‘, das wenn geschrieben wird, vor Augen führt, dass dieses Wort, ‚l’animal‘, eben nur ein ‚Wort (mot)‘ ist.“ Ebd., S. 12f. 30 | Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, S. 79f.

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vielleicht darum, zu einem Denken zu gelangen, das, so chimärisch oder fabulös es auch sein mag, die Abwesenheit des Namens oder des Wortes anders denkt, und anders denn als ein Entbehren/eine Beraubung (privation).“31

Derridas Kritik an der Negierung der Individualpräsenz des Tieres ist einer der Ausgangspunkte dieser Arbeit. Derrida konstatiert, dass nie­ mand dem Tier das Vermögen abgesprochen hat, „seine eigene Spur zu ziehen (se tracer), einen Weg seiner selbst zu spu­ ren (tracer) oder neu zu spuren (retracer). Daß man ihm das Vermögen abgesprochen hat, diese Spuren in eine verbale Sprache zu transformie­ ren, sich in diskursiven Fragen und Antworten zu rufen/benennen, daß man ihm die Fähigkeit abgesprochen hat, diese Spuren zu löschen […], eben dies ist in Wahrheit der Ort des schwierigsten Problems.“32

Die von Markus Wild 2006 veröffentlichte Dissertationsschrift ‚Die anthropologische Differenz‘ befasst sich mit der Rolle des Geistes der Tiere in der frühneuzeitlichen Philosophie bei Michel Montaigne, René Descartes und David Hume sowie der damit verbundenen Frage nach anthropologischer Differenz.33 Unter dem Titel ‚Tierphilosophie. Zur Einführung‘ stellt Wild eine komprimierte Darstellung philosophischer Betrachtungsweisen zur Verfügung, welche sich erneut mit seinem Dis­ sertationsgegenstand befasst, nämlich dem Anliegen, dass: „sich eine nicht anthropozentrisch bornierte Philosophie des Geistes mit dem Geist der Tiere befassen muss“34. Wer sich auf die Suche nach kunstwissenschaftlicher Betrachtung des Phänomens Mensch-Tier-Verständnis und -Verhältnis im Anschluss an eine aktuelle gesamtgesellschaftliche Diskussion begibt, wird feststellen, dass hierzu bisher nur wenige Schriften zu finden sind. Tierdarstellungen

31 | Ebd., S. 80f. 32 | Ebd., S. 82ff. 33  |  Vgl. Markus Wild: Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume, Berlin/New York 2006. 34 | Ders.: Tierphilosophie. Zur Einführung, Hamburg 2008.

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gibt es, seit es den Menschen gibt35, das reale Tier und mit ihm das Verhält­ nis von Mensch und Tier ist hingegen nicht Bestandteil der ästhetischen Betrachtung. In dem historischen Wörterbuch ‚Ästhetische Grundbegriffe‘ fehlt die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung des Tieres und damit die lexikalische Repräsentation eines Mensch-Tier-Verhältnisses innerhalb ästhetischer Disziplinen. Termini des ‚Seins‘ und des ‚Seienden‘ enzyklo­ pädisch philosophischer Systematik zeigen die Differenzierung zwischen natürlichen Dingen und Individuen und einem übernatürlich göttlichen Niveau36, wobei das Tier keine Erwähnung findet. In der Auseinanderset­ zung mit dem Material Tier in der Kunst, wird diesem nur Aufmerksam­ keit zuteil, wenn es bereits auf Segmente wie Federn, Horn und Knochen37 reduziert wurde. Das ‚konkrete Tier‘ scheint einmal mehr das letzte zu sein, das in der Kunst thematisiert wird. Mit Steve Bakers ‚Picturing the beast‘38 wurde 1993 erstmals die Frage nach dem ästhetischen Wert und der visuellen Identität von Tieren in Politik und Unterhaltung und der mit ihrer Ikonizität verbundenen Herabwürdigung des realitären Tieres benannt. Konstanze Thümmel widmet sich in ihrer Dissertation ‚Shark Wanted‘ von 1998 dem Umgang zeitgenössischer Künstler mit lebenden und toten Tieren am Beispiel der Arbeiten von Damien Hirst39. Sie gibt

35  |  „Bereits in der Höhlenmalerei der prähistorischen Urzeit bilden Tiere und überraschenderweise weniger Menschen die ersten Motive der Darstellungen, die uns von Jagd und Zauber, Lebenswelt und Magie berichten. Immer schon waren Tiere ein Vergleichsmaßstab für das Menschsein, vergewisserten sich Menschen ihrer selbst durch Konfrontation mit dem Animalischen, dem Fremden, dem Anderen. Die sich verändernden Auffassungen über die Tiere spiegeln das Selbstverständnis der Menschen nicht weniger als ihre religiösen Gottesvorstellungen. Tiere verkörpern immer wieder neue Bedeutungen, symbolische Verweise und im wörtlichen Sinne Charakterisierungen.“ Thomas Zaunschirm: Im Zoo der Kunst I, in: Kunstforum International 174 (2005), S. 36–103, hier S. 39. 36 | Vgl. Detlev Pätzold: ‚Sein/Seiendes‘, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 1999, S. 1418. 37 | Vgl. Monika Wagner/Dietmar Rübel/Sebastian Hackenschmidt (Hrsg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, 2. Auflage, München 2010, S. 224. 38  |  Vgl. Steve Baker: Picturing the Beast: Animals, Identity, and Representation, Manchester 1993. 39 | Vgl. Konstanze Thümmel: Shark Wanted. Untersuchungen zum Umgang zeitgenössischer Künstler mit lebenden und toten Tieren am Beispiel der Arbeiten von Damien Hirst, Marburg 1998.

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Aufschluss über ikonografische und ideengeschichtliche Aspekte der Tier­ kunst und berücksichtigt auch solche kategorischen Untersuchungen, wie die des Tieres als Material in der Kunst, der Metaphorik des Tieres und mythologische und sakrale Untersuchungen im Hinblick auf das Tier. Diese sich auf das Tier konzentrierende Überblicksdarstellung ist bei­ spiellos, nicht zuletzt, weil sie zeitgenössische Tierdarstellungen in kunsthistorischen Bezug setzt. Während sie Beurteilungskriterien und Frage­ stellungen ausarbeitet, die das Töten verschiedener Tierarten und die damit verbundenen kontroversen Sanktionen betreffen, wird der Frage nach anthropologischer Differenzierung in ihrer Arbeit nicht nachgegangen. Steve Baker betrachtet 2000 mit ‚The Postmodern Animal‘40 die Um­ gangsweise zeitgenössischer Künstler mit der Relation von Tieren und deren Bedeutung. Für Baker spitzt sich die Bedeutungslosigkeit des indi­ viduellen Tieres in dessen postmoderner Sinnüberfrachtung zu. Er sieht in dem künstlerischen Umgang mit Tieren vor allem das Emblem anth­ ropozentrischer Wahrnehmung, bemerkt aber darüber hinaus, dass das Nichtmanipulative als ein mögliches Ideal postmoderner Ideen hervorge­ hen kann: „In the case of Kounellis’s horses, Rauschenberg’s goat and even Dion’s polar bear, the postmodern animal is there in the gallery not as a meaning or a symbol but in all its pressing thingness.“41 Zwei Titel des Kunstforums International wurden im Jahr 2005 von dem Kunsthistoriker Thomas Zaunschirm verantwortet. 42 ‚Im Zoo der Kunst‘ handelt von lebenden Tieren als Material in der Kunst und lässt den Einzug des lebenden Tieres in die Kunst der 1960er Jahre Revue passie­ ren. Zaunschirm erinnert an die soziale Plastik in den 1970er Jahren und das Tier als ‚Objet trouvé‘ in der Tradition des Readymades. Er berücksich­ tigt Kunst als Forschung und den Umgang zeitgenössischer Künstler mit dem Tier als Forschungsobjekt, wie exemplarisch die Arbeiten von Mark Dion und Eduardo Kac zeigen. Die den Texten zugehörigen Bildanhänge können als Kompendium der lebenden Tiere in der zeitgenössischen Kunst bezeichnet werden. Jessica Ullrich, Friedrich Weltzien und Heike Fuhlbrügge versammel­ ten im Jahr 2008 Beiträge zum Tier als Persönlichkeit in der Kulturge­

40 | Vgl. Baker: The Postmodern Animal. 41 | Ebd., S. 82. 42 | Zaunschirm: Im Zoo der Kunst I; ders.: Im Zoo der Kunst II, in: Kunstforum International 175 (2005), S. 36–125.

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schichte. 43 Betrachtet werden neben Laika, dem ersten Lebewesen, das vom Menschen gezielt in die Umlauf bahn um die Erde befördert wurde und dabei nach kürzester Zeit an einer Überhitzung und Stress verstarb, zum Beispiel auch Protagonisten der Literatur wie Thomas Manns Hund Bauschan 44. Mit zunehmender wissenschaftlicher Auseinandersetzung innerhalb der Human-Animal Studies45 steigt das Interesse an einer Wahrnehmung des Tieres als Individuum. Jüngst sind drei Publikationen erschienen, die sich dem Tier auch in der Gegenwartskunst anzunähern versuchen: Jessica Ullrich gibt im ‚Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen‘46 einen

43 | Vgl. Jessica Ullrich/Friedrich Weltzien/Heike Fuhlbrügge (Hrsg.): Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte, Berlin 2008. 44  |  Die erste Ausgabe von ‚Herr und Hund‘ war ein Privatdruck und erschien im Jahr 1919 in München. Es folgte die offizielle Veröffentlichung im selben Jahr zusammen mit dem ‚Gesang vom Kindchen‘: Thomas Mann: Herr und Hund/Gesang vom Kindchen. Zwei Idyllen, Berlin 1919. 45 | „Die Human-Animal Studies (HAS), die seltener auch unter der Bezeichnung Animal Studies firmieren, stellen ein internationales, interdisziplinäres und multiparadigmatisches Forschungsfeld dar. In den Human-Animal Studies werden die kulturelle, soziale und gesellschaftliche Bedeutung nichtmenschlicher Tiere, ihre Beziehungen zu Menschen sowie Gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse untersucht. Diese Untersuchungen werden, je nach Positionierung, aus einer kritischen oder einer sich selbst als rein deskriptiv verstehenden Perspektive vorgenommen. Im deutschsprachigen Raum ist dieses Forschungsfeld bislang jedoch nur marginal vertreten. Die Human-Animal Studies entstanden aus der Kritik an der mangelnden Beschäftigung mit Mensch-Tier-Verhältnissen in der hegemonialen Wissenschaft. Sie kritisieren den dort vorherrschenden Anthropozentrismus moralischer Ausprägung, der den Menschen als im Mittelpunkt stehend, bzw. als einzige moralisch zu berücksichtigende Entität betrachtet, als auch den erkenntnistheoretischen Anthropozen­ trismus […] An den Human-Animal Studies beteiligen sich diverse wissenschaftliche Disziplinen und innerhalb dieser verschiedenen Traditionslinien bzw. Paradigmen. Forschungs­ fragestellungen werden in nahezu allen Geistes- und Sozialwissenschaften behandelt, u.a. in der Philosophie, in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, in der Soziologie, in den Politik- und Rechtswissenschaften, in den Literatur-, Kunst-, Film- und Medienwissenschaften sowie in den Erziehungswissenschaften, in der Geografie und in der Psychologie.“ Chimaira: Human-Animal Studies, S. 20. 46 | Vgl. Jessica Ullrich: ‚Kunst‘, in: Arianna Ferrari/Klaus Petrus (Hrsg.): Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen, Bielefeld 2015, S. 206–211.

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Überblick über das Tier in frühgeschichtlichen Darstellungen bis hin zum animal turn in der Kunst des 21. Jahrhunderts. Sie weist dabei das lebende Tier als ‚Ko-Performer‘ in der Kunst seit Mitte des 20. Jahrhunderts aus47. Damit schließt sie sich Thomas Zaunschirm 48 an, welcher in den Werken Jannis Kounellis’, Rosemarie Trockels sowie Carsten Höllers und auch in denen Joseph Beuys’ die Frage nach der Realität des Tieres in der Kunst beantwortet sieht. Die Kunst des 21. Jahrhunderts schafft, so Ullrich, „ein neues Bild vom Tier in der globalisierten Kunstwelt. Vermehrt plädieren KünstlerInnen dafür, dass an die Stelle einer Fokussierung auf die instru­ mentale oder symbolische Rolle von Tieren ein Einlassen auf die lebendige Realität des Tieres treten soll.“49 Dieses „Einlassen auf die lebendige Realität des Tieres“ zeigt sich für Ullrich in dem Konzept des Tier-Werdens von Gilles Deleuze und Félix Guattari50, welches „zahlreiche Künstler inspiriert, ein experimentelles Tier-Werden im Rahmen von performativen Kunstwerken zu erproben und damit alternative, post-humane und nicht-anthropozentrische Per­ spektiven einzunehmen.“51 Ebenso stellt Ullrich eine Kunst als signifikant heraus, in der das Tier zum Akteur selbst wird52 und „in der sich KünstlerInnen auf die gestalterischen oder performativen Äußerungen von Tieren einlassen und diese in ihre Kunstwerke integrieren oder zum Ausgangspunkt ihrer Werke machen.“53

47 | „Einen wichtigen kunsthistorischen Moment markiert Kounellis, der 1969 12 Pferde in einer römischen Galerie ausstellte und damit erstmals das ästhetische Prinzip verfolgt, Tiere einfach als sie selbst zur Schau zu stellen. Er ist der erste, der die Realität des Tieres als Kunstwerk postuliert, eine ästhetische Strategie, die u.a. von Trockel und Höller in Ein Haus für Schweine und Menschen 1997 aufgegriffen wird. Beuys’ Aktion I like America and America likes me von 1974 bildet einen wichtigen Ausgangspunkt des Einsatzes von lebenden Tieren als Ko-Performern“. Ebd., S. 208f. 48 | Zaunschirm: Im Zoo der Kunst I. Und: ders.: Im Zoo der Kunst II. 49 | Ullrich: ‚Kunst‘, S. 210. 50 | Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, deutsche Ausgabe, Berlin 1992. 51 | Ullrich: ‚Kunst‘, S. 210. 52 | Vgl. Chimaira — Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.): Handeln Tiere? Zur Theorie und Praxis tierlicher Agency, Bielefeld 2015. 53 | Ullrich: ‚Kunst‘, S. 210.

Einleitung

So oszilliert das Tier in der gegenwärtigen ästhetischen Wahrnehmung zwischen ‚Ko-Performer‘ und Kunstschaffendem, die Frage nach seiner Individualpräsenz bleibt weiterhin unbeantwortet. In einem weiteren, im Jahr 2015 erschienenen Sammelband diskutiert Jessica Ullrich gemeinsam mit Friedrich Weltzien die Relevanz der Human-Animal Studies für die Kunstgeschichte. „[D]en Status der dargestellten Tiere zu hinterfragen oder die porträtierten Tiere zu identifizieren“54 wird als Forschungsdeside­ rat herausgestellt. Die Forschungsdiskussion spiegelt sich seit einigen Jahren auch wider in musealen Präsentationen. So scheinen diese zuletzt vermehrt auf das Interesse an der Mensch-Tier-Beziehung reagiert zu haben. Bereits im Jahr 1987 verschrieb sich das Kunstfestival ‚steirischer herbst‘ der ‚Animal Art‘ und publizierte ein bebildertes Nachschlagewerk55. Die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden initiierte zwischen 2001 und 2002 die Ausstellungstrilogie ‚Du sollst Dir ein Bild machen – Die fremden Ebenbilder des Menschen in der Kunst‘. Das Gesamtprojekt bestand aus drei Symposien und drei Aus­ stellungen. ‚Das Tier in mir. Die animalischen Ebenbilder des Menschen‘ und die begleitend erschienene, gleichnamige Publikation56 waren Teil davon. Johannes Bilstein und Matthias Winzen beschreiben darin „ein komplexes Spiegel-Verhältnis, das zwischen den Menschen und den Tieren herrscht“57 und welches die Tiere zu Medien der menschlichen Selbst­ thematisierung degradiert. Das Deutsche Hygiene-Museum (Dresden) zeigte 2003 die Ausstellung ‚Mensch und Tier. Eine paradoxe Beziehung‘58 und stellte damit Themen wie Ersatzschönheit, Haustierhaltung und

54 | Jessica Ullrich/Friedrich Weltzien: Kunstgeschichte. Disziplinäre Wachstumsprognosen einer marginalisierten Themenstellung, in: Spannring et al.: Disziplinierte Tiere? (2015), S. 101–121, hier S. 114. 55 | Vgl. Ausst. Kat. Animal Art, herausgegeben von steirischer herbst/der Galerie Hanns Christian Hoschek/dem Palais Attems, Graz, 19. September bis 11. Oktober 1987, Graz 1987. 56 | Vgl. Ausst. Kat. Das Tier in mir. Die animalischen Ebenbilder des Menschen, herausgegeben von Johannes Bilstein/Matthias Winzen, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 26. Januar bis 1. April 2002, Köln 2002. 57 | Ebd., S. 10. 58 | Vgl. Ausst. Kat. Mensch und Tier. Eine paradoxe Beziehung, herausgegeben von der Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Deutsches Hygiene-Museum, Dresden, 22. November 2002 bis 10. August 2003, Ostfildern 2002.

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Tiere in der Manege zur Diskussion. Jasdan Joerges begreift die vier großen thematischen Abschnitte der Ausstellung zu dem geliebten Tier, dem Tier als Produkt, der menschlichen Herkunft und der Selbstreflexion des Menschen in seinem tierlichen Gegenüber als „Versuch einer Neube­ stimmung – der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, aber auch der Grenzen für das, was wir mit Tieren tun und was wir ihnen anzutun bereit sind.“59 Das Museum Folkwang (Essen) widmete unter Leitung von Ute Eskildsen zwischen 2005 und 2006 unter dem Titel ‚nützlich, süß und museal/das fotografierte Tier‘60 eine Ausstellung der fotografischen Darstellung von Tieren. Die Bandbreite der gezeigten Fotografien ist groß. Das Spektrum reicht von fotografischen Bildern, die in den 1850er Jahren entstanden sind, bis hin zu zeitgenössischer künstlerischer Auseinander­ setzung und Werbung. Die Ausstellung zeichnet fotografiehistorisch den Verlauf nach, in dem die Natur zu einem Phänomen der Kultur geworden ist. „Die Fotografien dokumentieren sowohl die individuellen und gesell­ schaftlichen Verbindungen tierischer Existenz als auch die verschiedenen, häufig ambivalenten Beziehungen zwischen Mensch und Tier“61, so Ute Eskildsen und Hans-Jürgen Lechtreck in ihrer Einführung zur Ausstel­ lung. Der nach Funktionen und Sujets gegliederte Ausstellungskatalog wird von einem Textband62 begleitet, der maßgebliche Aufsätze zur Tier­ fotografie enthält. Das Wallraf-Richartz-Museum (Köln) zeigte im Jahr 2007 die Ausstellung ‚Tierschau. Wie unser Bild vom Tier entstand‘63 und knüpft damit an eine Ausstellung an, die zuvor unter dem Titel ‚Beestachtig mooi‘ (Tierisch schön) am Van Gogh Museum (Amsterdam) und in Pitts­ burgh unter dem Titel ‚Fierce Friends: Artists and Animals, 1750–1900‘ (Wilde Freunde: Künstler und Tiere, 1750–1900) am Carnegie Museum of

59 | Jasdan Joerges: Mensch und Tier. Eine paradoxe Beziehung. Zur Ausstellung, in: ebd., S. 8ff., hier S. 8. 60 | Ausst. Kat. nützlich, süß und museal/das fotografierte Tier, herausgegeben von Ute Eskildsen, Museum Folkwang Essen, 22. Oktober 2005 bis 15. Januar 2006, Göttingen 2005. 61  |  Ute Eskildsen/Hans-Jürgen Lechtreck: Einführung: Ausst. Kat. nützlich, süß und museal/ das fotografierte Tier, herausgegeben von Ute Eskildsen, Museum Folkwang Essen, 22. Oktober 2005 bis 15. Januar 2006, Göttingen 2005, S. 7–10, hier S.7. 62 | Vgl. Ute Eskildsen/Hans-Jürgen Lechtreck (Hrsg.): nützlich, süß und museal/das fotografierte Tier, Essays, Göttingen 2005. 63 | ‚Tierschau. Wie unser Bild vom Tier entstand‘, Wallraf-Richartz-Museum Köln, 16. März bis 5. August 2007.

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Art veranstaltet wurde. 2009 fand in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin die Ausstellung ‚Tier-Werden, Mensch-Werden‘64 statt. Die begleitende Publikation enthält neben weiteren Texten Essays von Steve Baker und Donna Haraway65 und knüpft thematisch an das Konzept des Tier-Werdens von Gilles Deleuze und Félix Guattari an. Jessica Ullrich und Friedrich Weltzien kuratierten unter Mitkonzeption von Antonia Ulrich die Ausstellung ‚Tierperspektiven‘66, welche 2009 im Georg-KolbeMuseum und in den Projekträumen Souterrain in Berlin zu sehen war. Der Titel konterkariert das vermeintliche Fehlen einer Tierperspektive: „Eine Perspektive zu haben, bedeutet einen Standpunkt eingenommen zu haben, eine Wahl unter verschiedenen möglichen Blickwinkeln ge­ troffen zu haben. In der Anthropologie, der Wissenschaft vom Menschen, die sich um eine Definition des Menschlichen in Abgrenzung unter anderen gegen das Tier bemüht, gehört das eine-Wahl-haben zu den basalen humanen Bedingungen. Die Menschenwürde ist eklatant ver­ letzt, wenn jemand dieser Möglichkeit beraubt wird. In der abendlän­ dischen Philosophie wird den Tieren eine solche Wahl des eigenen Standpunktes zumeist abgesprochen.“67

Anlässlich der Ausstellung erschien ein Katalog. Die DZ Bank Kunst­ sammlung (Frankfurt am Main) betitelte die 2011 initiierte Ausstellung tierlicher Darstellungen ‚Für Hund und Katz ist auch noch Platz‘68 und zeigte auf, wie intensiv das Tiermotiv in der zeitgenössischen Fotografie

64 | ‚Tier-Werden, Mensch-Werden‘, Neue Gesellschaft für bildende Kunst Berlin, 16. Juni bis 14. September 2009. 65 | Vgl. Neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V. (Hrsg.): Tier-Werden, Mensch-Werden, Berlin 2009. 66 | Vgl. Ausst. Kat. Tierperspektiven, herausgegeben von Friedrich Weltzien/Jessica Ullrich, Georg-Kolbe-Museum, Berlin, 26. April 2009 bis 21. Juni 2009/Projekträume Souterrain Berlin, 29. Mai bis 28. Juni 2009, Berlin 2009. 67  |  Friedrich Weltzien/Jessica Ullrich (Hrsg.): Blick und Standpunkt: Vorwort der Kuratoren, in: ebd., S. 7–13, hier S. 7. 68 | ‚Für Hund und Katz ist auch noch Platz‘, Kunstsammlung der DZ Bank, Frankfurt am Main, 22. Juni bis 24. September 2011.

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verhaftet ist. ‚Arche Noah. Über Tier und Mensch in der Kunst‘69 lautet der Titel der Ausstellung des Museums Ostwall in Dortmund, welche ne­ ben Werken aus eigener Sammlung wie ‚Großer Zoologischer Garten‘ von August Macke von 1912 auch Installationen zeigte, die eigens und temporär für diese Ausstellungssituation konzipiert wurden. Exemplarisch hierfür ist die Installation Mark Dions70, die mit einer Leihgabe von Objekten des Museums für Naturkunde Dortmund umgesetzt werden konnte und die tierlichen Präparate in ihrer Oberflächenwirkung vorführte.

Gegenstand der Untersuchung Nachdem das Tier entweder Motiv zweidimensionaler Bilder war oder es als Trophäe und Anschauungsobjekt in präparierter Form Einzug in die Kunst hielt, ist seit den 1960er Jahren eine erste Tendenz künstlerischer Annäherung an das lebende Tier zu beobachten. Nach dem Auftreten des lebenden Tieres in Kunstwerken, so beispielsweise in Werken wie Carolee Schneemanns fotografischem Akt ‚Eye Body: Transformative Actions‘ aus dem Jahr 1963, Jannis Kounellis’ ‚Dodici Cavalli vivi‘ von 1969, einer Installation von zwölf schwarzen und weißen Pferden in der Mailänder Galleria L’Attico, und Joseph Beuys’ performativem Akt mit dem Titel ‚Coyote. I like America and America likes me‘ aus dem Jahr 197471, schien

69 | Vgl. Ausst. Kat. Arche Noah. Über Tier und Mensch in der Kunst, herausgegeben von Katja Knicker/Kurt Wettengl, Museum Ostwall im Dortmunder U, 15. November 2014 bis 12. April 2015, Bramsche 2014. 70  |  Mark Dions ‚The Dark Museum‘ ist ein Projekt des Künstlers mit dem Museum für Natur­ kunde Dortmund. „In der Rauminstallation […] können die Besucherinnen und Besucher ihre eigenen Entdeckungen machen. Im Schein ihrer Taschenlampe [der Ausstellungsraum ist dunkel, die Atmosphäre unheimlich — M.M.] stoßen sie auf das beeindruckende Skelett eines Tintenfisches in einer Vitrine und auf eine große Zahl an Schädelpräparaten unterschiedlicher Wildtiere verschiedener Kontinente an den Wänden. Kleinen Tiermodellen — von diver­ sen Saurierarten bis zum Riesenhirsch — in Museumsvitrinen unterschiedlicher Bauweise stehen lebensgroße Präparate wie eine Deutsche Dogge oder ein Löwe gegenüber. Dessen Nase ist durch viele Berührungen in früheren Zeiten so abgegriffen wie die Skulpturen mancher Heiliger in italienischen Kirchen.“ Ebd., S. 76. 71 | Eine ausführliche chronologische Überblicksdarstellung findet sich in: Zaunschirm: Im Zoo der Kunst I, S. 49ff.

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das Tier erstmals in seiner Leibhaftigkeit gegenwärtig. Thomas Zaun­ schirm formulierte eine regelrechte Emanzipation des Tieres, denn für ihn erscheint „das Tier [ebenso wie der menschliche Körper als Gestaltungs­ mittel – M.M.] in der Kunst […] nicht mehr als Motiv der Bilder, sondern in seiner Leibhaftigkeit als lebendes Wesen.“72 Diese Emanzipation ist aber lediglich eine Befreiung aus der Fläche. Letztlich wurde das lebende Tier in den Kanon des Materials eingebracht. Es wird zu einem Surrogat und er­ setzt den fehlenden menschlichen Körper im Werk. Das lebende Tier wirft die Frage nach dem individuellen Tier zwar auf, vermag aber nicht an seine Stelle zu treten.73 Gegenstand dieser Untersuchung sollen demzufolge solche zeitgenössischen Werke sein, in denen der Missstand des abwesen­ den konkreten Tieres bereits thematisch angelegt ist. Bisher haben sich nur einige wenige Künstler einer Tierkunst verschrie­ ben, die das gezüchtete Tier kritisch in den Fokus der Betrachtung setzt 74. Zentrales Anliegen vorliegender Arbeit ist die Bildwerdung des Tieres als Resultat anthropomorpher Praktiken und das Hervorbringen eines wahr­ nehmbar konkreten Tieres durch zeitgenössische, aktuelle künstlerische Werke. Ausschlaggebend sind hier Positionen, die das individuelle Tier hinter den gezüchteten Tierkörpern suchen oder den Menschen als Züch­ ter und somit Schöpfer in den Mittelpunkt der Anschauung stellen. Ein anderer zu beleuchtender Aspekt ist die Idee, lebenden Tieren zu begeg­ nen, die thematisch an die Performancekunst der 1960er Jahre anknüpft. Weiter ist es die Analyse solcher Werke, die den Bildgegenstand in seiner Wirkungsmacht aufheben und die metaphorische Aufladung des Tieres konterkarieren. Im Mittelpunkt vorliegender Betrachtung stehen damit auch Werke, die mentale Tierbilder erzeugen und die Abwesenheit des konkreten Tieres präzisieren. Allen betrachteten Werken ist dabei die

72 | Ebd., S. 40. 73 | So werden die Schlangen auf Carolee Schneemanns Körper interpretiert als Stellvertreter archaischer Erotik, die Pferde in Jannis Kounellis’ Installation zu Repräsentanten von potentieller Energie erhoben und der Koyote ‚Little John‘ in Joseph Beuys’ Performance zu einem domestizierten Statisten degradiert und als personifizierte Begegnung mit Amerika gedeutet. 74 | Sowohl in den Werken Jo Longhursts, so zum Beispiel in ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ und ‚I know what you’re thinking‘, als auch in Pierre Huyghes ‚Untilled‘ und darin explizit für ‚Human‘ steht der Zuchtaspekt des Tieres im Vordergrund der künstlerischen Auseinandersetzung.

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Konzentration auf das genuine Merkmal des darstellenden Momen­ tes gemein, also der Visualisierung von Anschauung, oder besser: Alle einbezogenen Werke zeigen entweder die konstitutiven Charakteristika der Bildwerdung des Tieres oder aber bereiten eine Begegnung mit dem ‚konkreten Tier‘ vor.

Aufbau und Struktur In der Kunstrezeption ist die Darstellung von Tieren immer auch mit einer Metaphorik und ihrer Dechiffrierung verknüpft, was die Suche nach dem ‚konkreten Tier‘ erschwert oder, wie es Thomas Zaunschirm formuliert hat: „Der Kunsthistoriker reagiert in dieser Hinsicht regelmäßig ratlos, weil er die Bedeutung früherer Tierdarstellungen mit ihrer Symbolik auf die Erscheinung der lebenden Tiere projiziert. Dabei schiebt sich die ikono­ grafische Tradition wie ein Filter vor die Wahrnehmung der Wirklich­ keit, womit die lebenden Tiere missbraucht werden, weil sie nicht ‚in ihrer eigenen Lebenswelt‘ belassen werden.“ 75

Das darin enthaltene Desiderat ist nicht nur in Bezug auf das lebende Tier in der Kunstrezeption auszumachen. Auch weitere Tierbilder, also solche, die nicht augenfällig an die körperliche Erscheinung gebunden scheinen, werden bislang kaum losgelöst von den Konstituenten der Kunsthistorie gelesen. Die vorliegende Arbeit fordert neue Ansätze der Interpretation, welche das ‚konkrete Tier‘ als einen möglichen Ausgangspunkt stets mit einbezieht. Dabei werden im Folgenden solche Bilder von Tieren herange­ zogen die nicht unter Steve Bakers Bezeichnung des ‚Postmodern Animal‘ zusammenzufassen sind und auch deshalb eine andere Betrachtungs­ weise fordern. Baker untersucht mithilfe postmoderner Kriterien ‚The Unmeaning of Animals‘ und beschreibt dabei, dass in postmodernen Bild­ erwelten keine offensichtliche Zuschreibung von Bedeutung erfolgt bzw. erfolgen kann:

75 | Zaunschirm: Im Zoo der Kunst I, S. 40.

Einleitung

„This is not to say that meaning is absent, but that is a problem, and this problem is one which the animal frequenttly exacerbates. If little has been written about some of the most extraordinary and compelling post­ modern imagery – Nauman’s suspended taxidermic moulds, for example – it is perhaps because it is by no means clear what can usefuly be said about these baff ling subjects.“ 76

Das vorliegende Problem ist also nicht, dass es überhaupt keine Sinn­ dimension gäbe, sondern dass es zu viele Sinndimensionen sind, in deren Kontext das Werk steht. Das ‚konkrete Tier‘ wird von dieser Vielschich­ tigkeit verdeckt. Es wird übersehen. In Werken wie Damien Hirsts ‚The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living‘77 , Jordan Basemans ‚The Cat and the Dog‘78 und beispielsweise Mark Dions ‚Tar and Feathers‘79 tritt das Tier hinter einer Vielzahl von Bedeutungs­ ebenen in den Hintergrund. Während Hirst letztlich an einer vorder­ gründig menschlichen Vanitas zu arbeiten scheint – seine präparierten Tiere sind Ausdruck der Unmöglichkeit, den Tod dingbar zu machen –, erinnern Dions geteerte und gefederte Präparate an den Menschen als Herrscher über das Tier und lassen an solche wilden Katzen und streunen­ den Hunde denken, die als störend empfunden und deshalb aufgeknüpft werden. Arbeitshypothese der vorliegenden Arbeit ist, dass die Frage nach dem ‚konkreten Tier‘ und damit die Frage nach dessen Physis einen zentralen Ausgangspunkt in künstlerischen Werken darstellen kann. Auch haben sich die möglichen Herangehensweisen an die Bilder vom Tier verändert und machen es möglich, diese unter anderen Gesichtspunkten zu betrach­ ten. Der von William J. Thomas Mitchell und Gottfried Boehm durch ihren

76 | Baker: The Postmodern Animal, S. 80. 77  |  Damien Hirst: ‚The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living‘, 1991, Tigerhai, Glas, Stahl, Silikon, fünfprozentige Formaldehydlösung, 213,4 cm × 640 cm × 213,4 cm, Steven & Alexandra Cohen Collection. 78 | Jordan Baseman: ‚The Cat and the Dog‘, 1995, Katzen- und Hundefell mit modelliertem Kopf, Maße variabel, Saatchi Collection. 79 | Mark Dion: ‚Tar and Feathers‘, 1996, Baum, Holz, Teer, Federn, diverse Taxidermien, 258 cm × 152 cm × 101 cm, im Besitz des Künstlers.

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Briefwechsel gefestigte ‚pictorial turn‘80 bzw. ‚iconic turn‘81 der Kunst- und Kulturwissenschaften gab Ausschlag, die ausgewählten Werke im Zu­ sammenhang mit Theorien des Bildes zu untersuchen. Jacques Derrida konstatiert, die Probleme des Mensch-Tier-Verständnisses beginnen da, „wo man dem Wesen des Lebenden, dem Tier (animal) im Allgemeinen, [die] Fähigkeit zuschreibt, daß es es selbst ist, diese Fähigkeit […] in der Lage zu sein, sich selbst mit seiner eigenen Bewegung zu affizieren, sich selbst mit lebendigen Spuren seiner selbst zu affizieren, und sich also in gewisser Weise zu autobiograparaphieren“ 82 ,

da das Tier nicht in der Lage ist, dieses Affizieren in verbale Sprache zu transformieren. Die Selbstaffektion des Tieres wird von dem Selbstbezug des Menschen verdeckt, wenn dieser das Tier gewissermaßen paraphiert oder markiert und damit zu einem Abbild menschlicher Vorstellung macht. Die vorliegende Untersuchung fragt nach solchen ästhetischen Praktiken, die jenes Paraphieren in der gegenwärtigen Kunst verdeut­ lichen, und anderen Werken, die eine Autobiografie des Tieres schreiben, indem sie Praktiken des Bildes nutzen, um das Affizieren des Tieres statt in verbale Sprache in Bilder zu transformieren. Im Folgenden werden mit­ tels der rezeptionsästhetischen Analyse dreier ausschlaggebender Werke künstlerische Positionen herausgearbeitet, die sich von einer langen Tradi­ tion einer künstlerischen Produktion emanzipiert haben, die das Tier als rein metaphorisches Medium gebraucht.

80 | Vgl. William J. Thomas Mitchell: The Pictorial Turn, in: ArtForum (1992), S. 89–94. Dt.: Der Pictorial Turn, in: Christian Kravagna (Hrsg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 15–40. Vgl. dazu Stephan Günzel/Dieter Mersch: Grundlagen. Die Wende zum Bild: Diskurs und Kritik, in: dies. (Hrsg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/ Weimar 2014, S. 7–15, hier S. 10f. 81  |  Vgl. Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hrsg.): Was ist ein Bild, München 2006, S. 11–38. Vgl. dazu Christiane Kruse: Nach den Bildern. Das Phantasma des ‚Lebendigen‘ Bildes in Zeiten des Iconic Turn, in: Hans Belting (Hrsg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 165–180. — Elementarer Bestandteil der Wissenschaften des Bildes ist die Frage: „Was ist das Bild?“ Gottfried Boehm vereint hierzu in seinem Sammelband Schriften, die das Bild grundlegend hinterfragen und die Bedeutung eines ikonografischen Zeitalters untersuchen. Vgl. Boehm: Was ist ein Bild? 82 | Derrida: Das Tier, S. 82.

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Das erste Kapitel ist dem Theorem des Vorbildes gewidmet.83 Anhand Jo Longhursts Arbeit ‚I know what you’re thinking‘ wird das fotografische Porträt des Tieres diskutiert. Die Annahme, das Vorbilder die vorherigen Bilder sind, also solche Bilder, auf die weitere Bilder folgen und auf wieder andere Bezug nehmen, wird erläutert. Fokussiert wird die Bedeutung des Mediums Fotografie für das Merkmal des Nachbildes. Der zentrale Aspekt der Rassezucht und ihre Visualisierung in der zeitgenössischen Kunst stellen einen weiteren Schwerpunkt der Untersuchung der Bildwerdung des Tieres dar. In den Fotografien Jo Longhursts wird die Tierzucht als ästhe­ tische Praxis herausgestellt und mit dieser die Überpräsenz des Menschen in das Zentrum der Betrachtung gestellt. Die Grenzen zwischen Natur und Kultur, Vorbild und Abbild werden in ihren Werken permanent neu verhandelt, weshalb Longhursts Porträts von Whippets als den Abbildern der Rassezucht par excellence für die Diskussion der anthropozentrischen Grenze als sinnstiftend erscheint. Neben dem fotografiegeschichtlichen Diskurs werden hierzu auch solche Positionen berücksichtigt, die sich ex­ plizit mit der menschlichen Bildproduktion als einen schöpferischen Akt und der Beherrschung des Lebens beschäftigen.84 Um eine neue Methodik für das Dekodieren des tierlichen Abbildes und/oder Bildes herauszuar­ beiten, werden mehrfach Bezüge zu Theorien hergestellt, die im Kontext menschlicher Bildnisse stehen.85 Diese werden sich entweder als geeignet für die kunstwissenschaftliche Betrachtung von Tierbildern herausstellen oder aber aufgrund ihrer Andersartigkeit und Diskrepanz auf solche kon­ stitutiven Merkmale des Tierbildes verweisen, die zu einer neuen Heran­ gehensweise aufrufen. Der Untersuchung aller angeführten Arbeiten ist

83 | Vgl. Thomas Macho: Vorbilder, München 2011. 84 | Dies trifft zum Beispiel auf Mitchells Betrachtung des Kunstwerkes im Zeitalter der biokybernetischen Reproduzierbarkeit und seine Ausführungen zu dem Klonen des Terrors zu. Vgl. William J. Thomas Mitchell: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008; Hans Jonas: Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens, in: Gottfried Boehm (Hrsg.): Was ist ein Bild?, 4. Auflage, München 2006, S. 105–124. 85  |  Vgl. Hans Belting: Faces: Eine Geschichte des Gesichts, München 2014. Belting befasst sich mit der Gesichtlichkeit menschlicher Abbilder und ihrem Rückbezug und erkundet dabei die Versuche, sich des Gesichtes zu bemächtigen. Dass alle Abbildungsversuche des Gesichts an ihrem Anspruch gescheitert sind, den Menschen wirklich ins Bild zu bringen, lässt sich deuten als Komplement der Hypothese, dass Tiere immer schon an ihre Bildhaftigkeit gebunden waren.

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dabei gemein, dass die Bildwerdung in einem mehrdeutigen Sinne aufge­ fasst wird. Die These ist, dass das tatsächliche Tier derart von menschli­ chen Wahrnehmungs- und Sinndimensionen, letztlich Bildern, überlagert wird, dass es schwerfällt, das Tier nicht per se als ein konstruiertes Bild zu verstehen. Das Phänomen der Grenzverschiebung anthropologischer Differenz bildet einen weiteren zentralen Anschauungspunkt, der in allen Kapiteln Teil der Untersuchung ist und in welchem sich schlussendlich die Rezeptionsmechanismen übergreifend zusammenfassen lassen. Neben einer kurzen Überblicksdarstellung der Arbeitsweise von Jo Longhurst werden anhand mehrerer Arbeiten die zentralen Punkte dieser speziellen Bildwerdung herausgearbeitet und im Hinblick auf die Einwirkung von Ebenbildnerei, Zucht und kultischen Handlungen diskutiert. Darüber hinaus wird in Bezug auf das Zuchttier die Frage nach der Autopoiesis des Tieres gestellt. Überlegungen des zweiten Kapitels fußen auf der Möglichkeit einer Begegnung mit dem ‚konkreten Tier‘ innerhalb der ästhetischen Erfah­ rung. Den Tieren in Pierre Huyghes Œuvre kann der Status des Anderen und damit Präsenz konzediert werden.86 Anhand der Arbeit ‚Human‘, der Titel entspricht zugleich dem Namen der Hündin, die von Huyghe bereits mehrfach in seine Projekte integriert wurde, wird kritisch hinterfragt, ob für eine Begegnung zwischen Mensch und Tier im Kunstwerk die situative Begebenheit des Ausstellens hinreicht, um das Tier in seiner Konkretheit wahrnehmen zu können. Bildwissenschaftliche Bezüge zu Körperbildern, Bildkörpern und der Idee des Leibes sind in Huyghes Arbeiten bereits ange­ legt und helfen, wissenschaftlich zu einer neuen Betrachtung lebender Tiere in der Kunst zu kommen. Den Werken Pierre Huyghes, dies sei vorwegge­ nommen, gilt besondere Aufmerksamkeit, da seine Abkehr von technischer Perfektibilität die Menschen aktivistisch zurückführt an einen utopischen Ort der Sehnsucht, den sie als Paradies bezeichnen. Der ästhetische Aspekt des Erhabenen in seiner Arbeit dient als katalytische Erfahrung, die einen neuartigen Wahrnehmungsraum der Selbst- und Fremdpräsenz für den Re­ zipienten aufmacht. Die Hinwendung des Künstlers zu einer vormodernen Weltsicht eröffnet die Möglichkeit der Begegnung mit dem ‚konkreten Tier‘, wie es keine zweite künstlerische Arbeit bislang vermochte.

86 | Dieser Aspekt in Huyghes Œuvre hat bislang noch keine Betrachtung gefunden.

Einleitung

In den Werken von Wesley Meuris ist die Absenz selbst zum Sujet gewor­ den. Anhand der zoologischen Utopien wird eine Ästhetik des Abwesenden untersucht. Die Hypothese der Bild-Betrachter-Beziehung als Tier-MenschBeziehung wird in Meuris’ Installationen in besonderer Weise visualisiert. Seine Arbeiten hinterfragen das Zurschaustellen von Tieren, welches in der vorliegenden Arbeit als eine Schauanordnung stereotyper Repräsentationen des Menschen vor der Folie tierlicher Darstellung und damit als eine gestal­ terische Praxis des Exponierens und des Zur-Ansicht-Freigebens anstelle des Sichtbarmachens aufgefasst wird. Ästhetische Prozesse des Zurschaustel­ lens in Menagerien und zoologischen Gärten sollen für die Interpretation deshalb einbezogen werden. In den Werken Wesley Meuris’ wird die Absenz eines ‚konkret Tierlichen‘ in den Vordergrund der Betrachtung gestellt und mit dieser eine Lehrstelle aufgezeigt, in welcher die Scheidelinie zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Individuen ins Wanken gerät, da es nur noch innerhalb der Imagination des Betrachters, nicht mehr hingegen in der Betrachtung ein Anderes gibt.

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Abbildung 1 Cai Guo-Qiang: Head On, 2006 99 leb en s g r o ß e Repliken von Wöl f en, Gla s wand; Wöl f e: Ga z e, Har z , F e ll Dimensionen variabel

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1 A uf der Suche nach dem ‚konkreten Tier‘ in der zeitgenössischen Kunst 1.1 K  onstitutive Merkmale anthropozentrischer Bild- und Wahrnehmungspraktiken Zum Verständnis einer Betrachtung des Tieres wird die anthropologische Differenz und die damit einhergehende ‚anthropozentrische Grenze‘ erläutert. Auf der einen Seite gibt es den Menschen, der auf das Tier blickt, es betrachtet, auf der anderen Seite gibt es das Tier, welches der Betrachtung des Menschen ausgeliefert ist. Soweit könnte eine klare Grenzziehung die anthropologische Differenz im Hinblick auf das Abbilden und das Abgebildete beschrieben werden. Der Untersuchungsgegenstand ist hingegen komplexer, die Grenzen zwischen Mensch und Tier weitaus dynamischer als bislang angenommen. Die Untersuchung der Verschiebung der ‚anthropozentrischen Grenze‘ zeigt auf, dass das Tier nicht länger einfach als das Andere gedacht werden kann. Dahingegen wird im nächsten Schritt der Begriff des Dritten die Annahme bestätigen, das Tier als anthropomorphes Konstrukt zu denken, welches nicht länger den Status des Anderen, des Zweiten hat. Das Simulakrum und die Repräsentation werden thematisiert, um darzulegen, mit welchem Terminus umgegangen werden muss, wenn es um das abwesende Tier geht. Für die Betrachtung des Tieres kann seine Absenz nicht bloß vorausgesetzt werden, ohne differenziert zu hinterfragen, welche Theorien von Abwesenheit, Präsenz und Repräsentation sinnstiftend sind. Die Begriffe werden beschrieben, kontextualisiert und für die weitere Untersuchung bestimmt. Des Weiteren sollen Werke besehen werden, die das Bildwerden des Tieres implizieren, um eine grundlegende ästhetische Praxis zu hinterfragen, die das ‚konkrete Tier‘ hinter einer Vielschichtigkeit anthropozentrischer Bilder zu verstecken sucht. Eine Definition des Abbildes ist hierfür unabdingbar. Die Definitionen bauen in einer Weise aufeinander auf, welche einen allerersten Eindruck des Terminus der Bildwerdung beschreiben. Abschließen wird die Begriffseinführung in der Beschreibung der Perturbation87, welche das Eindringen und Verändern

87 | Vgl. Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, 5. Auflage, Frankfurt am Main 2012.

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eines autopoietischen Systems, hier der Entität des tierlichen Individuums, erklärt und die anthropomorphen und anthropomorphe wie weitere anthropozentrische Techniken, beispielsweise die Zucht, als ästhetische Praxis denotiert. In der Skizzierung des Untersuchungsgegenstandes wurde bereits dargelegt, dass ein Rückgriff auf den bildwissenschaftlichen Diskurs88 methodisch sinnvoll ist. Das Bild, eine Gruppe von Bildern und die Gesamtheit aller Bilder können das Thema einer bildwissenschaftlichen Untersuchung sein. Jedem konstitutiven Merkmal der tierlichen Bildwerdung ist in der vorliegenden Arbeit ein Kapitel gewidmet. Anhand eines oder mehrerer Kunstwerke wird das Bildwerden des Tieres in einem doppelten Sinne analysiert. Steve Baker erkennt, dass das ‚Tier-Werden‘, wie es bei Deleuze und Guattari beschrieben ist, und die Kunst sehr nahe beieinander liegen:

88 | Zu den oben angeführten Titeln sei als Grundlagenliteratur noch hinzugefügt: Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990; Oliver R. Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildhafter Darstellung, München 1991; Mitchell: The Pictorial Turn; ders.: Der Pictorial Turn; Gottfried Boehm: Vom Medium zum Bild, in: Yvonne Spielmann/Gundolf Winter (Hrsg.): Bild — Medium — Kunst, München 1999, S. 165–177; Reinhard Brandt: Die Wirklichkeit des Bildes. Sehen und Erkennen — Vom Spiegel zum Kunstbild, München 1999; Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, 4. Auflage, München 2011; Christa Maar/Hubert Burda (Hrsg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004; Boehm: Was ist ein Bild?, 2006; Belting: Bilderfragen; Mitchell: Bildtheorie; ders.: Das Leben; Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, 2. Auflage, Berlin 2008. Zudem ziehe ich folgende Schriften und Texte hinzu, die eine Schnittstelle von Bildlichkeit und Evolutionsbiologie bilden: Julia Voss: Augenflecken und Argusaugen: Zur Bildlichkeit der Evolutionstheorie, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 1.2 (2003), S. 75–85; Horst Bredekamp: Darwins Evolutionsbiogramm: Oder brauchen Bilder Gedanken?, in: Wolfram Hogrebe (Hrsg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen: XIX. Deutscher Kongreß für Philosophie, München 2004, S. 863–878. Besondere Bedeutung hatte: Hans Belting/Dietmar Kamper/Martin Schulz (Hrsg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002. Ferner ist zu nennen: Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz: Studien zur Philosophie des Bildes, 3. Auflage, Berlin 2005; Jörg Probst/Jost Philipp Klenner (Hrsg.): Ideengeschichte der Bildwissenschaft. Siebzehn Porträts, Berlin 2009.

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„Diese Erfahrung, im Innersten gepackt zu werden, ergriffen zu werden, plötzlich und unerwartet, was aber dennoch zum Menschen gehört, findet sich wohl nicht ganz zufällig auch in Äußerungen von Deleuze und Guattari zur Kunst wieder. […] Die Wirkung von Kunst – den Menschen von anthropozentrischer Bedeutungsstiftung und subjektiver Identität wegzubewegen – wird von ihnen ähnlich der einer Begegnung mit Tieren dargestellt.“ 89

Und „[f]ür jedes Werden gilt: ‚Was uns in ein Werden hineintreibt, kann irgendetwas sein, etwas ganz Unerwartetes oder Unbedeutendes‘ – ‚ein kleines Detail […], das immer wichtiger wird und von dem man mitgerissen wird.“90

1.2 D  ie anthropologische Differenz — Zum Verhältnis und Verständnis von Mensch und Tier Lange Zeit war die von René Descartes gezogene Grenze zwischen Mensch und Tier in allen ihren Konsequenzen für das moderne, rationale Abendland verbindlich. Charles Darwin hingegen stellte vor 150 Jahren in ‚On the Origin of Species‘, seinem evolutionsbiologischen Werk, die gezogene Demarkationslinie in Frage.91 Der Homo sapiens ist innerhalb der biologischen Systematik ein höheres Säugetier. Dieser, und das zeigt eine lange Tradition, geht darüber hinaus davon aus, ein besonderes Tier zu sein, mehr noch, „die Idee des Menschen in der europäischen Gesellschaft drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus.“92 Generell lässt sich feststellen, dass je „resistenter eine Grenze gegenüber Problematisierung und Veränderung ist, desto „natür-

89 | Steve Baker: Wie sieht ‚Tier-Werden‘ tatsächlich aus?, in: Neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V.: Tier-Werden (2009), S. 44-62, hier S. 47. 90 | Deleuze/Guattari: Kapitalismus, zitiert nach: Baker: Wie sieht, S. 47. 91 | Vgl. Jasdan Joerges: Mensch und Tier. Die Frage nach der Grenze und ihrer Überschreitung, in: Kunsttexte.de. E-Journal für Kunst- und Bildgeschichte 2 (2004), http://edoc.huberlin.de/kunsttexte/download/kume/joerges.pdf (letzter Zugriff: 8.2.2016). 92 |   T heodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung: Philosophische 92 | Theodor W. Adorno/MaxFrankfurt Horkheimer: Dialektik Aufklärung: Philosophische FragFragmente, Sonderausgabe, am Main 1988, der S. 262. mente, Sonderausgabe, Frankfurt am Main 1988, S. 262.

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licher“ erscheint sie.“93 Denn „[d]ie Durchlässigkeit und Veränderbarkeit sozialer Grenzen hängt dabei u. a. von den jeweiligen Kriterien der Zugehörigkeit ab, wobei sich biologische Merkmale als besonders stabilisierend erwiesen haben. Je stärker eine Grenze sich auf solche, vermeintlich natürlichen Kriterien bezieht, desto perfekter verhüllt sie ihren KonstruktCharakter – und umgekehrt.“94 Thomas Macho formuliert das „angebliche Prinzip des Humanen“95 als fundamentalen Unterschied zwischen Menschen und Tieren, welcher in seiner begrifflichen Grenze „ebensoviel Skepsis wie ehemals der ‚Mythos des Zivilisationsprozesses‘“96 verdiene. Die generalisierende Gattungsdifferenz stellt für Macho eine Fehlannahme dar, deren Grundlage auf einem Zirkelbeweis fußt, welchen er wie folgt beschreibt: „[D]ie meisten Definitionsversuche setzen sich […] notgedrungen dem Risiko einer Art von petitio principii aus. Wesensbegriffe sind nicht selbstverständlich, und die vielzitierte Beobachtung der Ethologie, dass Angehörige zahlreicher Kulturen nur sich selbst als ‚Menschen‘ bezeichnen, beruht womöglich auf einem simplen Übersetzungsfehler. Ein Wort für ‚Mensch‘ kann auch als Eigenname fungieren, ohne irgendeine Qualität – Sprache, Wissen, Recht, Religion – zu markieren. ‚Mensch‘ heißt dann einfach die Sorte von Lebewesen, deren Zeichen ich verstehe oder denen ich mich zugehörig fühle, ohne darum jedem anderen Lebewesen die Sprach- und Symbolisierungskompetenz absprechen zu müssen.“97

93 | Michael Fischer: Differenz, Indifferenz, Gewalt: Die Kategorie ‚Tier‘ als Prototyp sozialer Ausschließung, in: Renate Brucker/Melanie Bujok/Birgit Mütherich/Martin Seeliger/ Frank Thieme (Hrsg.): Das Mensch-Tier-Verhältnis. Eine sozialwissenschaftliche Einführung, Wiesbaden 2015, S. 189–210, hier S. 189. 94 | Ebd. 95 | Thomas Macho: Einführung: Ordnung, Wissen, Lernen. Wie hängt das Weltbild der Menschen von den Tieren ab?, in: Hartmut Böhme/Franz-Theo Gottwald/Christian Holtorf (Hrsg.): Tiere. Eine andere Anthropologie, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 73–78, hier S. 73. 96 | Ebd. 97 | Ebd.

Auf der Suche nach dem ‚konkreten Tier‘ in der zeitgenössischen Kunst

Macho knüpft damit an eine philosophische Fragestellung an, der aus der Sicht von Markus Wild immer ein anthropologisches Interesse „humaner Selbstverständigung“98 zugrunde liegt: „[J]edes Tier [ist] anders als alle anderen Tiere: So weit wir wissen, können einzig Fledermäuse mit Ultraschall stecknadelkopfgroße Insekten loten, können allein Wüstenameisen mithilfe polarisierenden Sonnenlichts kognitive Landkarten erstellen, unter Säugetieren nur Biber Holz verdauen, ausschließlich Menschen in kurzer Zeit eine komplexe Lautsprache erlernen oder Chamäleons die Farbpigmente ihrer Haut der Umgebung anpassen. Das philosophische Interesse besteht freilich nicht darin, Besonderheiten einzelner Tierarten hervorzuheben. Es ist nichts Besonders daran, besonders zu sein. Arten müssen sich absondern, um Bestand zu haben. […] Das philosophische Interesse besteht deshalb darin, herauszufinden, was den Menschen von allen anderen Tieren unterscheidet und ihn vielleicht sogar so besonders macht, dass er allein unter allen Tieren – wie Rationalisten denken – überhaupt wissen kann, hoffen darf und tun soll oder dass er allein unter allen Tieren – wie Existentialisten meinen – sich Sorgen darum macht, was er ist. Die Mensch-Tier-Unterscheidung dient also der Beantwortung der (nicht nur kantischen) Frage, was der Mensch sei. Das Tier nimmt dabei eine eigentümliche Grenze ein.“99

Für Wild gibt es zwei unterschiedliche Wege, die Selbstverständigung des Menschen anzustreben und zu verstehen, „nämlich entweder über den Höhenweg der anthropologischen Differenz, d.  h. einer strikten MenschTier-Unterscheidung, oder gleichsam im Aufstieg von der Talsohle, ausgehend von der Tatsache, dass der Mensch ein Tier unter Tieren ist.“100 Das Prinzip des Humanen wird über zwei Werte definiert. Zum einen über das Selbstbewusstsein des Menschen und der Kenntnis seiner eigenen Historie und zum anderen über die Fähigkeit komplexer Sprachbildung. Eben diese sprachliche Kompetenz konstruiert den Mensch/Tier-Dualismus, den Jacques Derrida als die unteilbare Grenze in dem philosophischen Denken verortet:

98 | Wild: Die anthropologische Differenz, S. 1. 99 | Ebd., S. 3. 100 | Ebd., S. 1.

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„Nicht, daß alle Philosophen die Grenze, die den Menschen im Allgemeinen vom Tier im Allgemeinen trennen würde, übereinstimmend definierten (obgleich gerade sie ein Ort ist, der für den Konsens überaus empfänglich wäre, und vermutlich die dominierende Form des Konsenses). Aber trotz, durch und jenseits all ihre/r Nichtübereinstimmungen waren die Philosophen, waren alle Philosophen der Ansicht, daß diese Grenze einzig und unteilbar sei; und daß es auf der anderen Seite dieser Grenze eine riesige Gruppe gebe, eine einzige, in grundlegender Weise homogene Ganzheit, der gegenüber man das Recht, das theoretische oder philosophische Recht auf Unterscheidung oder Entgegensetzung hätte, nämlich die des Tiers im Allgemeinen, des Tiers im allgemeinen Singular. Das ganze Tierreich mit Ausnahme des Menschen.“ 101

Derrida spricht dem Tier individuellen Status zu, er erhebt den Anspruch, das Tier nicht länger durch Ausschluss, sondern durch Einbezug als das Andere des Menschen zu denken und nicht als Antithese. In diesem Sinne versucht Derrida „diese Linie [die anthropozentrische Grenze – M.M.] ausfransen zu lassen, sie zu verfalten und zu vervielfachen, sie also in die Fläche auszudehnen und solcherart einen Interferenzbezirk zwischen Tier- und Menschenwelt zu eröffnen.“102 Das Interesse des Menschen am Tier ist in der Differenzierung begründet und stets ein Interesse des Selbstbewusstseins und der Selbstverständigung, die Differenz selbst definiert die Auffassung des menschlichen Selbst. Die anthropologische Differenz, d.  h. die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, ist in der Abgrenzung konstituiert, denn, „[d]ie anthropologische Frage lautet, inwiefern der Mensch nicht Tier ist.“103 Der Mensch ist also ein Tier unter Tieren, welches seine Mitkreaturen durch Abgrenzung zu einem Mängelwesen104 macht. Der Mensch ist ein Tier

101 | Derrida: Das Tier, S. 70. 102  |  Felix Philipp Ingold: Der Denker und das Biest. Jacques Derrida philosophiert über seine Tierwerdung, in: Recherche — Zeitung für Wissenschaft, 8. Dezember 2010, http://www. recherche-online.net/jacques-derrida.html (letzter Zugriff: 30.10.2017). 103 | Wild: Die anthropologische Differenz, S. 3. 104 | Vgl. dazu auch: Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940.

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plus X, während Tiere Lebewesen minus X sind und ihnen etwas fehlt.105 Wild unterscheidet des Weiteren den differentialistischen und den assimilationistischen Ansatz der anthropologischen Differenz, wobei „[e]in Differentialist […] direkt einen Unterschied hervor[hebt], der als wesentlicher kognitiver Unterschied – als Unterschied, der alle weiteren Unterschiede bedingt – verteidigt werden kann. Der auffälligste Unterschied zwischen Menschen und Tieren besteht nun freilich darin, dass Tiere nicht sprechen. Der Mensch hingegen ist dasjenige Tier, das spricht. […] Das wichtigste differentialistische Modell geht denn auch von einem engen Zusammenhang zwischen Sprache und Geist aus. Da wir sprechend unsere Gedanken ausdrücken, liegt die Vermutung nahe, dass Tiere keine Gedanken haben, die ausgedrückt werden könnten. Unser Sprechen ist der entscheidende Hinweis auf unser rationales Vermögen, ihre Schweigsamkeit ist der entscheidende Hinweis auf ihr rationales Unvermögen. Kennzeichnend für diese Position ist also, dass sie der Sprache eine wichtige demarkative Rolle zuschreibt.“ 106

Assimilationisten hingegen „sind der Ansicht, dass wir von den Gemeinsamkeiten zwischen den kognitiven Fähigkeiten von Menschen und anderen Tieren ausgehen sollten, um dann stufenweise zu differenzieren“107. Ihre Herangehensweise und Denkrichtung baut auf grundlegenden Gemeinsamkeiten zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren auf: „Man positioniert den Menschen sozusagen möglichst nahe beim Tier, indem man davon ausgeht, dass auch Tiere über alle die Merkmale verfügen, an denen die anthropologische Differenz festgemacht wird. Man kann auch von einer Entwicklungskontinuität verschiedener Tierarten ausgehen, zu denen der Mensch mit gehört. Die kognitive anthropologische Differenz geht von einem eindeutigen und qualitativen kognitiven Unterscheidungsmerkmal aus. Demgegenüber kann die anthropologische Differenz auch schwächer angesetzt werden und gleichsam verstreut werden. […] Dies bedeutet zwar keinen Verzicht auf eine Mensch-Tier-

105 | Vgl. Wild: Die anthropologische Differenz, S. 4f. 106 | Ebd. 107 | Ders.: Tierphilosophie, S. 105.

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Unterscheidung, denn offenbar unterscheiden sich die kognitiven Fähigkeiten von Menschen beträchtlich von denjenigen der Tiere. Es bedeutet aber einen Verzicht auf eine anthropologische Differenz […]. 108

Die anthropologische Differenz ist in jeder Hinsicht eine erdachte Scheidelinie, durch die Tiere zu Figuren der Abgrenzung werden. „Das Tier nimmt dabei eine eigentümliche Grenzposition ein. Es dient dazu, eine Grenze zu ziehen.“109 Das menschliche Tier definiert sich über die Differenz zu dem nichtmenschlichen Tier, wobei dieser Prozess den vermeintlichen Status des Anderen birgt. Eine Abgrenzung bedarf die Anwesenheit eines Anderen, die aber, so scheint es, nicht gegeben ist. Vielmehr stellt das Tier eine Art Antithese dar, über welche die Differenzierung hergestellt wird. „Indem ‚das Tier‘ vom Strukturelement einer triadischen Weltpyramide aus ‚Gott – Mensch – Tier‘ in der Neuzeit endgültig zum ganz Anderen, d. h. zum antithetischen Konstrukt des menschlichen Selbstbildes wird, kommt ihm eine wesentliche gesellschaftspolitische Funktion zu: als implizit bleibender Referenzpunkt des westlichen Symbolsystems liefert es eine zentrale Grundlage für hierarchische Wirklichkeitskon­s truktionen, Höher- und Minderwertigkeitszuordnungen und Legitima­t ionsschemata für Ausgrenzungs-, Unterdrückungs- und Gewaltformen auch im innerhumanen Bereich.“110

Tierphilosophie, so beschreiben es Hans Werner Ingensiep und Heike Baranzke, kann keine Philosophie aus der Perspektive des Tieres sein, sondern muss stets eine Philosophie über unsere Vorstellungen vom Tier sein. Tierphilosophie, heißt es, ist immer auch philosophische Anthropologie ‚ex negativo‘, anthropologische Selbstvergewisserung.111 Die Abgrenzung von einem Anderen gibt uns vermeintlich Gewissheit unseres Selbst,

108 | Ders.: Die anthropologische Differenz, S. 8f. 109 | Jöelle Proust: L’esprit des bêtes, in: Revue internationale de philosophie 46 (1992), S. 418–434, zitiert nach: Wild: Die anthropologische Differenz, S. 3. 110 | Birgit Mütherich: Die soziale Konstruktion des Anderen — Zur soziologischen Frage nach dem Tier, in: Brucker et al.: Das Mensch-Tier-Verhältnis (2015), S. 49–77, hier S. 50f. 111 | Vgl. Hans Werner Ingensiep/Heike Baranzke: Das Tier, Stuttgart 2008, S. 8.

Auf der Suche nach dem ‚konkreten Tier‘ in der zeitgenössischen Kunst

„[k]ein Tier aber bestätigt den Menschen, weder im positiven noch im negativen Sinne. Das Tier kann getötet und gegessen werden, so daß seine Energie der des Jägers hinzugefügt wird. Das Tier kann gezähmt werden, so daß es den Bauern versorgt und für ihn arbeitet. Aber die ihm fehlende gemeinsame Sprache, sein Schweigen gewährleisten seine Distanz, seine Verschiedenheit, seine Ausgeschlossenheit vom Menschen.“ 112

Diese Feststellung John Bergers zeigt, dass Grenze in einem zweifachen Sinne zu deuten ist. Grenze kann die Bedeutung von Ausgrenzung, aber auch die von Distanz haben. Die Frage nach der anthropologischen Grenze ist viral und wird im Diskurs der Tierstudien häufig als ein zu überwindendes Hindernis interpretiert. Würde der Mensch diese Grenze auflösen, so würde das Tier nicht länger ein Wesen des Mangels bleiben. Doch genau hier liegt die Kalamität, die Frage nach Demarkation ist weitaus komplexer, und so müssen, wie sich im Folgenden zeigen wird, die anthropologischen Fragen lauten: Wie ist diese Grenze gegenwärtig beschaffen, was setzt sie voraus, welche Bedeutung hat sie für Tiere und Menschen? Und vornehmlich: Sollte sie tatsächlich aufgelöst oder überwunden werden und welche Folgen hat dies? Differentialistische, aber auch assimilationistische Strategien, also solche, die bei Tieren und Menschen ein gemeinsames Geflecht kognitiver Fähigkeiten identifizieren, bei dem nur graduell unterschieden wird, setzen die Präsenz von Mensch und Tier miteinander in Beziehung. Aber: Der kritischen Auseinandersetzung im Zusammenhang mit dem Tier ist es bislang nicht gelungen, das ‚konkrete Tier‘ auszumachen. Das eigentliche Tier ist absent, es zeichnet sich durch Abwesenheit aus. Während Berger das Tier zwar als abwesend, dafür hingegen als Stellvertreter für etwas anderes ansieht – „Die Beispiele sind zahllos. Überall boten Tiere Erklärungen an, oder genauer, liehen ihren Namen oder Charakter einer Eigenschaft, die wie alle Eigenschaften in ihrem Kern mysteriös war.“113 –, ist bei Steve Baker das Tier nicht einmal mehr denkbar, es beschreibt „the disappearance of visibility‘, also das Verschwinden der Sichtbarkeit, und ‚the dissolution of bodies“ das Auflösen von Körpern, und bleibt in sei-

112 | John Berger: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin 2003, S. 14. 113 | Ebd., S. 17.

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ner Absenz verhaftet.114 Jean Baudrillard spricht sogar davon, dass „[e]ben darin […] der ganze Unterschied [besteht]: Die Spezies Mensch ist zweifellos die einzige, die einen spezifischen Modus des Verschwindens erfand, der nichts mit dem Naturgesetz zu tun hat. Vielleicht sogar eine Kunst des Verschwindens.“115 Und „[d]urch sein außergewöhnliches Erkenntnisvermögen setzt der Mensch, während er der Welt Sinn, Wert und Realität verleiht, gleichzeitig und parallel dazu einen Prozess der Auflösung in Gang.“116 Während es weitestgehend das Vermögen des Sprechens ist, das als das Demarkationsspezifikum schlechthin angesehen wird, stellt Hans Jonas die Frage nach der ‚differentia specifica‘ auf andere Weise und eröffnet damit einen Blickwinkel auf die ‚anthropozentrische Grenze‘, der im Folgenden von Bedeutung sein wird. Jonas erkennt in der Grenze eine Unsicherheit und Mehrstimmigkeit der zeitgenössischen Philosophie117 und begibt sich auf die Suche nach einem Differenzierungsmerkmal, in dem sich der Unterschied überzeugender äußert. Jonas erkennt in der ‚Freiheit des Bildens‘, also der Möglichkeit zur Bildproduktion und damit dem Nachschöpfertum, das Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Die Differenziertheit zwischen Bildproduktion und bloßer Nachahmung definiert hier menschliche Überlegenheit: „Der Nachschöpfer von Dingen ist […] potentiell auch der Schöpfer neuer Dinge, und die eine Macht ist nicht verschieden von der anderen. Die Freiheit, die gewählt hat, eine Ähnlichkeit wiederzugeben, kann ebenso gut wählen, von ihr abzuweichen. […] Noch eine Freiheit des Menschen bezeugt sich im bildnerischen Tun. Bilder müssen schließlich hergestellt, nicht nur konzipiert werden. Ihr äußeres Dasein als Ergebnis menschlicher Tätigkeit offenbart daher auch einen physischen Aspekt der Macht, die im Bildvermögen wirksam ist: die Art Gewalt, die der Mensch über seinen Körper hat. Denn die innere Gewalt über das Eidos,

114 | Baker: The Postmodern Animal, S. 8. 115  |  Jean Baudrillard: Warum ist nicht alles schon verschwunden?, 2. Auflage, Berlin 2012, S. 6. 116 | Ebd., S. 7. 117 | Vgl. Jonas: Homo Pictor, S. 106.

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mit all ihrer Freiheit des Entwerfens, bliebe unwirksam, hätte sie nicht auch die Macht, den Leib im Zuge der Ausführung zu leiten.“ 118

Es fällt damit schwer, beiden Spezies, Mensch und Tier, eine gleichwertige Präsenz zuzusprechen, da das Tier fast immer ein Ergebnis menschlichen Bildvermögens ist. Die Macht der radikalen Verklärung, also der Erhebung des Menschen zu einem auch schöpferischen Wesen, ist auf das Abbilden von Tieren übertragbar. Man kann mithin fragen: Meint die Abbildung ein individuelles Tier oder alle Tiere gleicher Rasse, alle Tiere gleicher Gattung?

1.2.1 Z oonyme — Das Benennen von Tieren als anthropozentrische Handlung Die grammatikalische Einzahl ‚das Tier‘ steht für Derrida immer für eine Vielheit.119 Seinem ideologiekritischen Ansatz folgend, birgt Sprache immer auch Gewaltpotential in sich: „Tier, das ist ein Wort, das zu geben Menschen (hommes) sich das Recht gegeben haben. Sie, diese Menschen (humains), fanden sich in der Lage, es zu geben, das Wort, aber so, als ob sie es als Erbe empfangen hätten. Sie haben sich das Wort gegeben, um eine Vielzahl an Lebenden unter diesem einen Begriff zusammenzupferchen: das Tier (L’animal), sagen sie.“120

Derrida bezeichnet „das Denken vom ‚Tier‘ im allgemeinen Singular als ‚vielleicht eine der größten – und systematischsten Dummheiten derer, die sich Menschen nennen‘. Die Subsumtion aller nichtmenschlichen Individuen unter den Tierbegriff und den damit verbundenen Dualismus, welcher ‚Tiere‘ in der Rolle des ‚ganz Anderen‘ festschreibt, klagt Derrida als ‚ein erstes Verbrechen gegen die Tiere‘ an.“ 121

118 | Ebd., S. 121. 119 | Vgl. Derrida: Das Tier, S. 47ff. 120 | Ebd., S. 58. 121  |  Chimaira: Eine Einführung, S. 9.

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Eben diese Subsumtion, dieses Zusammenpferchen, erinnert an Hans Blumenbergs Ausführungen zum ‚Einbrechen des Namens in das Chaos des Unbenannten‘, in welchen er feststellt: „Archaisch ist die Furcht nicht so sehr vor dem, was noch unerkannt ist, sondern schon vor dem, was unbekannt ist. Als Unbekanntes ist es namenlos; als Namenloses kann es nicht beschworen oder angerufen oder magisch angegriffen werden.“122 Indem der Mensch die Masse aller Tiere unter einem Begriff zusammenfasst und benennt, entwickelt sich auch „[die] Vertrautheit mit der Welt“123, denn: „Alles Weltvertrauen fängt an mit den Namen, zu denen sich Geschichten erzählen lassen. Dieser Sachverhalt steckt in der biblischen Frühgeschichte von der paradiesischen Namengebung. Er steckt aber auch in dem aller Magie zugrunde liegenden Glauben, wie er noch die Anfänge der Wissenschaft bestimmt, die treffende Benennung der Dinge werde die Feindschaft zwischen ihnen und dem Menschen auf heben zu reiner Dienstbarkeit.“ 124

So scheint es, als könne der Mensch alle Tiere in diesem einen Zug der Namengebung, der Benennung, unschädlich machen. Ihm tritt nicht mehr das eine tierliche Individuum gegenüber, sondern eine Gesamtheit aller Tiere, von deren normierter Masse keinerlei Gefahrenpotential ausgeht. Derrida unterstreicht: „Das Tier (L’animal), was für ein Wort! Das ist ein Wort, das Tier, das ist eine Benennung, die Menschen eingeführt haben, ein Name, den dem anderen Lebenden zu geben, sie sich das Recht und die Autorität gegeben haben.“125 ‚Das Tier‘ beschreibt eine ‚Mannig­faltigkeit‘, wie es bei Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer Auseinandersetzung mit dem Tier-Werden 126 heißt. Und auch die Bilder, die wir vom Tier und uns vom Tier machen, sind von seiner Individualpräsenz oft weit entfernt – „unsere Tierbilder sind tatsächlich kollektive Bilder.“127

122 | Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, 4. Auflage, Frankfurt am Main 1986, S. 40. 123 | Ebd., S. 40f. 124 | Ebd., S. 40. 125 | Derrida: Das Tier, S. 47. 126  |  Vgl. Deleuze/Guattari: Kapitalismus. 127 | Matthias Winzen: Das Tier als Bild, in: Ausst. Kat. Das Tier in mir (2002), S. 176–189, hier S. 178.

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1.2.2 Tiere als Figuren des dritten Raumes Wie aber lässt sich nun die Vorstellung eines Anderen, welche für das Festhalten an einer anthropologischen Grenze unabdingbar ist, mit der Abwesenheit des konkreten Tieres zusammenbringen? Es erweckt den Eindruck, und dies ist bedeutungsschwer, als hätten Anthropozentrismus und Anthropomorphismus das tatsächliche Tier verdrängt und so die anthropologische Differenz in einem Sinne überwunden, in welchem dem Tier nicht länger der Status des Anderen zugesprochen werden kann. Die Demarkationslinie scheint damit überschritten. Wenn eine sogenannte Tierliebe zur Eigenliebe wird, die übergewichtige Frau einen Windhund an ihrer Seite braucht, um ihre Körperfülle zu kompensieren, so greift diese auf ein von Menschenhand gestaltetes Lebewesen zurück, welches mittels seines Exterieurs Spiegelwünsche befriedigt. Infolgedessen muss die ‚anthropozentrische Grenze‘ dahingehend untersucht werden, ob ihre Sinndimension künftig haltbar ist oder eine neue Definition notwendig sein wird, denn das Tier übernimmt ähnlich einer Prothese Funktionen, welche sich in einem wie auch immer gearteten Mangel äußern. Damit wird der tradierte Blick der Kunstgeschichte obsolet, der eine bloße Sinnzuschreibung des Tierischen vollzieht. Die erwünschten Tierbilder der Gegenwart gehen buchstäblich ‚unter die Haut‘ und formen damit das Körperbild des Tieres neu. Eine Analyse der Abwesenheit und die damit verbundene Suche nach dem ‚konkreten Tier‘ auch und allem voran in Tierbildern, Bildern vom Tier, Tierdarstellungen und Ausstellungen von Tieren ist dabei zentral, um das Phänomen zu untersuchen, welches dem Tier den Status des Anderen abspricht und es in einen Raum des Dazwischen verortet. Es ist nicht länger das Andere, es spiegelt vielmehr die menschlichen narzisstischen Bedürfnisse. So ist eine Auflösung der Grenze, zumindest aber eine Kategorieverschiebung zu verzeichnen, welche in den folgenden Kapiteln der vorliegenden Arbeit mittels bilddiskursiver Analyse in künstlerischen Werken dechiffriert werden wird. Bislang werden Zäsur und Gliederung zwischen Humanem und Animalischem als die problematische Grenze diskutiert. Die Dichotomie zwischen Menschen und Tieren bringt eine Art Überlappungsraum hervor, welcher aber nicht ausreichend mit den Inhalten des Grenzbegriffs formuliert werden kann. Im Zusammenhang mit den Kultur- und Literaturwissenschaften und auch der Soziologie sind Figuren der/des Dritten bekannt. Während „[d]ie Figur des Dritten in der soziologischen Theorie […] in einer doppelten Beziehung zur Figur des

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Selbst und zu der des Anderen [steht,] unabhängig davon, wie die dyadische Beziehung zwischen Selbst und Anderem konzipiert ist, kommen mit der Figur des Dritten weitere Beziehungsaspekte hinzu“128, welche den dritten Raum besiedeln und welcher nach Homi Bhabha auch als Form der Existenz gedeutet werden kann. ‚Figuren der/des Dritten‘ verkörpern sinngemäß das Aufeinandertreffen und vor allem Ineinanderwirken von Gegensätzen.129 „So oszilliert das Dritte stets zwischen den Oppositionen, die es durchkreuzt, und bezeichnet einen Versuch, binäre Denkstrukturen zu überwinden, während es doch unweigerlich auf sie bezogen bleibt.“130 Als Geschöpf der Absenz kann das Tier als eine Figur des Dritten in eben jenem Raum angesiedelt werden. Claudia Breger und Tobias Döring beschreiben eine Figur der/des Dritten als beispielsweise geschlechtlich uneindeutig, jung und alt zugleich in einem Erscheinungsraum, der nicht klar bestimmbar ist.131 All dies lässt sich auch auf das Tier übertragen. Es ist geschlechtlich undifferenziert, da wir Tieren im Allgemeinen keine Sexualität zusprechen.132 Sie sind jung und alt zugleich, das individuelle Tier vermag nicht zu sterben, da es stets durch ein anderes ersetzt werden kann. Es ist nicht länger ein Teil der Natur, hat aber auch keinen eigenständigen Anteil an unserer Kultur. Tiere befinden sich in einem Dazwischen, ihre Erscheinung gleicht einem Vexierbild, welches zwischen Abwesenheit und Präsenz zu wechseln scheint, den Blick auf das ‚konkrete Tier‘ jedoch nicht freigibt. Franz Kafka notierte in seinem Tagebuch, „das Versteckte in einem Vexierbild sei deutlich und unsichtbar. Deutlich für den der gefunden hat, wonach zu schauen er aufgefordert war; unsichtbar für den, der gar

128  |  Philipp Hessinger: Das Gegenüber des Selbst und der hinzukommende Andere. Die Figur des Dritten in der soziologischen Theorie, in: Eva Eßlinger/Tobias Schlechtriemen/Doris Schweitzer/Alexander Zons: Die Figur des Dritten: ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010, S. 65–79, hier S. 65. 129 | Vgl. Doris Bachmann-Medick: Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung, in: Claudia Breger/Tobias Döring (Hrsg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 19–36, hier S. 22. 130 | Claudia Breger/Tobias Döring: Einleitung: Figuren der/des Dritten, in: Breger/Döring: Figuren der/des Dritten (1998), S. 1–18, hier S. 3. 131 | Vgl. ebd., S. 1. 132 | Jean Baudrillard stellt in seiner Auseinandersetzung mit dem Haustier als Mittelding zwischen Wesen und Sache fest, dass „diese Tiere geschlechtlich nicht bestimmt sind (manchmal mit Rücksicht auf die Umwelt, kastriert werden), daß sie wiewohl Lebewesen, doch wie Gegenstände keine Sexualität zeigen und gerade durch diesen Umstand keine gefühlsmäßige Beunruhigung stiften. Dank dieser wirklichen oder symbolischen Kastration tragen sie dazu bei, die Angst des Besitzers vor dem Kastriertwerden zu überwinden. Sie

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nicht weiß, dass es etwas zu Suchen gilt.“133 So fragt es, wo ist das konkrete Tier – Vexierbilder dienten immer auch dazu, Missstände anzuzeigen, ohne jedoch solche offenkundig zur Schau stellen zu müssen – und so wird der sensibilisierte Betrachter erkennen, dass das konkrete Tier nicht anwesend sondern lediglich artifiziell präsent ist. Er wird feststellen, dass vieles zu sehen ist, so zum Beispiel das, was wir auf das Tier projizieren. Das Eigentliche aber bleibt im Verborgenen und scheint sich in einer Vielzahl von möglichen Bildern aufzulösen. Das tatsächliche Tier entgleitet der Wahrnehmung, ungefähr so, wie der zentrierte Blick auf ein Vexierbild kein klar erkennbares Bild erzeugt. Und so kommt es, dass der unwissende Betrachter das Tier als offensichtlich anwesend auffassen wird und dabei nicht bemerkt, dass er es mit einem Trugbild zu tun hat. In diesem Sinne sind Tiere flirrende Gebilde, mit sozusagen unscharfen Konturen, und doch ist das Tier keine Figur des Hybriden, es rückt durch das menschliche Überschreiten der Grenze nicht plötzlich näher an den Menschen heran oder weiter von ihm ab.

132 | Jean Baudrillard stellt in seiner Auseinandersetzung mit dem Haustier als Mittelding zwischen Wesen und Sache fest, dass „diese Tiere geschlechtlich nicht bestimmt sind (manchmal mit Rücksicht auf die Umwelt, kastriert werden), daß sie wiewohl Lebewesen, doch wie Gegenstände keine Sexualität zeigen und gerade durch diesen Umstand keine gefühlsmäßige Beunruhigung stiften. Dank dieser wirklichen oder symbolischen Kastration tragen sie dazu bei, die Angst des Besitzers vor dem Kastriertwerden zu überwinden. Sie spielen also die gleiche wichtige Rolle wie alle übrigen Gegenstände, die uns umgeben. Denn der Gegenstand ist das vollkommene Haustier selbst. Er ist das einzige ‚Wesen‘, dessen Eigenschaften die Person entfalten, anstatt sie einzuengen. In der Mehrzahl ausgedrückt: Die Gegenstände sind die einzigen ‚Existenten‘, deren Koexistenz tatsächlich möglich ist, da ihre Unterschiede sich nicht gegeneinander richten, wie dies bei Lebewesen der Fall ist, sondern gefällig auf die Person zu konvergieren und sich in ihrem Bewußtsein anstandslos zusammenaddieren lassen.“ Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, 3. Auflage, Frankfurt am Main 2007, S. 114f. 133 | Franz Kafka: Tagebücher. Kritische Ausgabe, herausgegeben von Hans Gerd Koch/ Michael Müller/Malcolm Pasley, Frankfurt am Main 1990, S. 47.

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1.2.3 Zur Autopoiesis des Tieres Indem das Tier zu einem Artefakt wird – „[f]ür die moderne Kunst ist das Werk nicht Ausdruck, sondern Schöpfung: sie zeigt das, was vor ihr nicht gesehen wurde, sie bildet, anstatt widerzuspiegeln“134 –, bringt es der Mensch auf eine Weise hervor, gemäß der er in das ‚autopoietische System‘ des Tieres eindringt. Humberto Maturana und Francisco Varela verstehen den Begriff einer Perturbation auf den Grundlagen biologischen Denkens in seinem positivsten Sinne135. Was von der Perturbation ausgelöst wird, ist nicht vorbestimmt, so kann das perturbierende System lediglich Auslöser für eine Veränderung des Systems sein, aber eine solche nicht prädisponie­ ren: „Bei diesen Interaktionen ist es so, dass die Struktur des Milieus in den autopoietischen Einheiten Strukturveränderungen nur auslöst, diese also weder determiniert noch instruiert (vorschreibt)“136. Das perturbierte System (Individuum) selbst generiert den Prozess einer Strukturveränderung. Dringt der Mensch derart in das autopoietische System des Tieres ein, muss an dieser Stelle vielmehr von Disturbation die Rede sein. Tiere und Men-

134 | Picon, zitiert nach: Elize Bisanz: Die Überwindung des Ikonischen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft, Bielefeld 2010, S. 127. 135 | „Der […] verwendete Begriff perturbación bezeichnet […] Zustandsveränderungen in der Struktur eines Systems, die von Zuständen in dessen Umfeld ausgelöst (d. h. nicht verursacht) werden. Im Bereich sozialer Phänomene ist hierfür der Begriff ‚Verstörung‘ bereits eingeführt worden.“ Maturana/Varela: Der Baum, S. 27. 136 | Ebd., S. 85. 137 | „Anzuerkennen, daß das Charakteristische an Lebewesen ihre autopoietische Organisation ist, erlaubt eine große Anzahl empirischer Daten über die zelluläre Funktionsweise und ihre Biochemie miteinander zu verbinden. Das Konzept der Autopoiese steht daher nicht im Widerspruch zu den bisher angesammelten Erkenntnissen; im Gegenteil, es lehnt sich ausdrücklich an sie an und schlägt explizit vor, diese Erkenntnisse aus einem spezifischen Blickwinkel zu interpretieren, der die Tatsache betont, daß Lebewesen autonome Einheiten sind. Wir verwenden den Begriff Autonomie in seiner üblichen Bedeutung. Das heißt, ein System ist autonom, wenn es dazu fähig ist, seine eigene Gesetzlichkeit beziehungsweise das ihm Eigene zu spezifizieren. Wir schlagen nicht vor anzunehmen, daß Lebewesen die einzigen autonomen Wesen sind; sie sind es sicherlich nicht. Es ist aber evident, daß seine Autonomie einer der unmittelbarsten Aspekte eines Lebewesens ist. Nach unserer Ansicht ist deshalb der Mechanismus, der Lebewesen zu autonomen Systemen macht, die Autopoiese; sie kennzeichnet Lebewesen als autonom.“ Ebd., S. 55.

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schen sind gleichermaßen autopoietische Systeme137 und charakterisieren sich als Lebewesen durch ihre autopoietische Ordnung138, das Tier und der Mensch sind Entitäten, Einheiten einer strukturellen Ordnung, welche im Sinne einer Perturbation oder Disturbation gestört werden kann. Infolgedessen gibt es strukturelle Veränderungen im System, die „durch ihre wie auch immer geartete Struktur determiniert sind und in denen diese strukturellen Änderungen aus ihrer eigenen Dynamik resultieren“139. Folgende Zustandsveränderungen werden von Maturana und Varela unterschieden, die auch solche Veränderungen inkludieren, die eine Einheit auflösen können: „a) Bereich von Zustands veränder ungen – das sind alle Strukturver­ änderungen, die eine Einheit ohne Veränderung ihrer Organisation erfahren kann, also unter Aufrechterhaltung ihrer Klassenidentität. b) Bereich von destruktiven Veränderungen – das sind alle Strukturveränderungen, die zum Verlust der Organisation einer Einheit und daher zu ihrer Auf lösung als Einheit einer bestimmten Klasse führen. c) Bereich von Perturbationen – das sind alle Interaktionen, die Zustandsveränderungen auslösen. d) Bereich von destruktiven Interaktionen – das sind alle Perturbationen, die zu einer destruktiven Veränderung führen.“ 140

Der Bereich der Strukturveränderungen vermittelt dabei jene Zustandsveränderungen eines autopoietischen Systems, die stetig vollzogen werden. Das System ist immer dynamisch und unter normalen Lebensumständen jederzeit Veränderungen ausgesetzt, die in diesem Fall keine Auswirkungen auf seine Organisation haben. Der Bereich der destruktiven Veränderungen steht für derartige Modifikationen eines Systems, die zum Verlust seiner Einheit führen und die Einheit und damit das System auflösen, was zu seiner Eliminierung führt. Das angeführte Fallbeispiel der Perturbation wurde bereits erklärt. Perturbationen verändern ein System passiv, das bedeutet, die Störung, bzw. das ‚Durcheinanderwirbeln‘ oder ‚Verwirren‘, denn das ist die eigentliche Bedeutung von perturbare, hat keine destruktive Veränderung

137 | „Anzuerkennen, daß das Charakteristische an Lebewesen ihre autopoietische Organisation ist,ebd. erlaubt eine große Anzahl empirischer Daten über die zelluläre Funktionsweise 138 | Vgl. und ihre Biochemie 139 | Ebd., S. 107. miteinander zu verbinden. Das Konzept der Autopoiese steht daher nicht im Widerspruch zu den bisher angesammelten Erkenntnissen; im Gegenteil, es lehnt sich 140 | Ebd., S. 108. ausdrücklich an sie an und schlägt explizit vor, diese Erkenntnisse aus einem spezifischen Blickwinkel zu interpretieren, der die Tatsache betont, daß Lebewesen autonome Einheiten sind. Wir verwenden den Begriff Autonomie in seiner üblichen Bedeutung. Das heißt, ein System ist autonom, wenn es dazu fähig ist, seine eigene Gesetzlichkeit beziehungsweise das ihm Eigene zu spezifizieren. Wir schlagen nicht vor anzunehmen, daß Lebewesen die einzigen autonomen Wesen sind; sie sind es sicherlich nicht. Es ist aber evident, daß seine Autonomie

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zur Folge. Das vorhandene System bleibt vollkommen, unter Umständen verändert sich lediglich seine Ordnung. Der Bereich c) hingegen zeigt solche Veränderungen an, die durch Disturbation und Destruktion das System derart verändern, dass es ebenfalls, wie in Fall b), seine Organisation verliert. Die Einheit wird aufgelöst, das System ist zerstört. Maturanas und Varelas Motiv der Perturbation und Disturbation liefert ein wertvolles Vokabular zum Verständnis der Bildwerdung des Tieres, über die es im Folgenden zu verhandeln gilt.

1.3 R  epräsentationen — Zur Medialität des Tierkörpers als Topos der Absenz Ein Körper ist biologisch gesehen die materiell in Erscheinung tretende Gestalt eines Lebewesens, dennoch, „[w]er jenseits eines fachspezifischen Wissens über den Körper nachdenkt, muß sich eingestehen, daß auch nach Tausenden von Jahren nichts Definitives gewusst werden kann: Körper sperren sich hart­n äckig gegen eine einseitige Zuordnung zu Objekten, Dingen oder Sachen, ebenso gegen eine eindeutige Zuordnung zu Subjekten, Transzendentalien: Sie sind und bleiben beides; aber dafür fehlt auch noch am Ende des 20. Jh. das dies berücksichtigende Vokabular, wenigstens im Rahmen des okzidentalen Rationalismus.“ 141

Tiere sind nicht länger an die Referenz des natürlichen Körpers gebunden. Die in der visuellen Kultur vorhandenen ‚Tiere der Vorstellung‘ haben keine wirklichen physischen Tierbedürfnisse oder Grenzen, sie sind nur dazu da, unsere eigenen narzisstischen Bedürfnisse widerzuspiegeln.142 Der Mensch aber ist im Begriff, den Verlust seiner eigenen Körperlichkeit zu beklagen:

141 | Dietmar Kamper: Körper, in: Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/ Burkhart Steinwach/Friedrich Wolfzettel (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart 2010, S. 426–449, hier S. 427f. 142 | Vgl. Berger: Das Leben, S. 23.

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„Dabei ist es doch verräterisches Indiz, daß die Klage über den Verlust des Menschen simultan mit der Klage über den Verlust des Körpers geführt wird. Eine seltsame Einmütigkeit besteht darin, daß wir ebenso dabei sind, das Bild vom Menschen zu verlieren, wie wir auch kein Bild mehr von unserem Körper haben, auf das wir uns noch verständigen könnten. Doch drängt sich die Frage auf, was Bild in beiderlei Hinsicht bedeutet. Das Menschenbild verstehen wir als Metapher, mit der wir eine Idee des Menschen ausdrücken: eine Idee, die nach dem Ausfall des Christentums als Leitkultur trotz zahlreicher Neudefinitionen der Humanwissenschaften, wie wir sie immer noch nennen, keinen Konsens mehr findet. In der amerikanischen Debatte um eine Kultur des ‚Posthuman‘ stellt die Frage nach dem Menschenbild bereits einen Anachronismus dar.“ 143

Der einstige Wert des Menschenbildes – „[w]o immer Menschen im Bilde erscheinen, werden Körper dargestellt[, a]lso haben auch Bilder dieser Art einen metaphorischen Sinn: sie zeigen Körper, aber sie bedeuten Menschen“144 – scheint verringert, da dem Körper „das Possesivpronomen im Sinne von ‚mein Körper‘ abhanden gekommen ist“145. Hans Belting proklamiert die Krise, in der sich die Repräsentation des Menschen befindet. Er unterscheidet dabei Bilder des Menschen von Bildern des Körpers, die „uns Erscheinungskörper [zeigen], in denen sich der Mensch verkörpert und sein Rollenspiel betreibt. Wir selbst haben Erscheinungskörper, in denen wir uns in corpore ähnlich darstellen, wie wir dargestellt sein wollen, wenn wir uns in effigie betrachten.“146 Das Körperbild des Tieres ist in ähnlich krisenhaftem Umbruch begriffen. Es scheint, als bemächtige sich der Mensch der tierlichen Körper, um sein eigenes gebrochenes Körperbild wiederherzustellen. Auf die Frage, ob man den Körper aber überhaupt auf ein Bild reduzieren könne, schreibt Belting: „Wir tun es, wenn wir zu Bildern greifen, sobald wir vom Körper zu sprechen beginnen. Je mehr aber der Körper von Biologie, Genetik und Neurowissenschaften erforscht wird, steht er uns noch in einem sym-

143 | Belting: Bild-Anthropologie, S. 87. 144 | Ebd. 145 | Ebd., S. 87f. 146 | Ebd., S. 88.

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bolkräftigen Bild zur Verfügung. Schon rückt die Versuchung in den Blick, einen neuen Menschen zu züchten, was heißt, nicht nur einen neuen Menschen zu erziehen, sondern einen anderen Körper zu erfinden. Diese Versuchung ist ihrerseits ein Ausdruck der Tatsache, daß wir den Körper vom traditionellen Menschenbild abgelöst haben.“ 147

Für Dietmar Kamper ist der menschliche Körper per se ein ‚corpus absconditum‘ und liegt damit im Verborgenen bzw. kann als eine Instanz verstanden werden, die ihr eigenes Fehlen darstellen kann.148 Kamper postuliert den „Körper als Rest des metaphysischen Behälterdenkens. Der Körper bleibt der zerstückelte Körper. Der ganze Körper ist kein Körper, sondern ein Bild.“149 Die Folgen stürzen das Tierbild in gleicher Weise in eine Krise. Ein Teil der menschlichen Körperbilder wird auf den Tierkörper projiziert, wobei dieser seine Realpräsenz verliert. Der gebrochene, bruchstückhafte oder nach Belting kartografierte Körper ähnelt sinngemäß den gebrochenen Körpern des postmodernen Tieres eines Steve Baker 150. Einen anderen Körper finden kann also gleichbedeutend sein mit einen tierlichen Körper finden. Das abgelöste Bild verschiebt sich dabei auf die Kategorie des Tieres. Das Tier ist sowohl vor seiner Geburt als auch während seiner Lebens­ zeit und darüber hinaus, nach seinem Tod, an das auf ihn projizierte Vorstellungsbild gebunden.151 Der Begriff des abwesenden Referenten beschreibt treffend das Phänomen des Zwischenraumes, in welchem sich das ‚konkrete Tier‘ zwischen Leibsein, Körper und Fremdpräsenz befindet. Der Effigieskult, „[a]n die Stelle des abwesenden Körpers tritt ein Ding, das ihm ähnelt (oder auch nicht); so etwa die Puppen aus Wachs, Holz oder Leder, die während der Bestattung der französischen und englischen

147 | Ebd., S. 87. 148 | Vgl. Dietmar Kamper: Ästhetik der Abwesenheit. Die Entfernung der Körper, München 1999. 149 | Ebd., S. 45. 150 | Vgl. Baker: The Postmodern Animal. 151 | Indem auch der Leichnam ein Bild darstellt — „[d]as fossile Bild ist das, was den Tod einer Spezies überlebt, genau wie der Körper des individuellen Exemplars überlebt“ (William J. Thomas Mitchell: Bildwissenschaft, in: Bernd Hüppauf/Peter Weingart (Hrsg.): Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft, Bielefeld 2009, S. 91–106, hier S. 103) —, kann das Tier nicht einmal sterben.

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Herrscher auf den königlichen Sarg gestellt wurden“152, und die metaphorische Überfrachtung der Tierdarstellungen, deren Symbolgehalt sich bis heute in künstlerischen Werken ausmachen lässt, sind nur zwei Beispiele, die uns lehren, ‚in representationem‘ wörtlich als Bildnis zu verstehen: Das Tier wird durch Medialisierung zu einer Repräsentation eines Anderen gemacht und mittels dieser Inszenierung wird sein Körper genau wie ein Wachsbild zu einem Topos der Absenz. Der Status des Anderen wird mit der Frage nach Medialisierung des Tieres insofern obsolet, als dass Baudrillard eindeutig beantwortet hat, ob Medien zum Selbst oder zum Anderen gehören: „Für ihn sind sie Momente und Monumente einer Identitätsphilosophie, die sich als Normalbewußtsein gegenwärtig in alle Richtungen ausbreitet. Diese Ausbreitung geschieht in der Form der Beseitigung des Realen und des Referentiellen, zumeist als ‚Referenzgemetzel‘ (Gerburg Treusch-Dieter) und als reale Vernichtung des Anderen. Im Imaginären gibt es den Anderen nicht.“ 153

Gleichsam verändert der Mensch in der Tradition eines Vorbildes durch Zucht den tierlichen Körper und erschafft so einen Körper außerhalb seines eigenen Körpers, bereits vor dessen physischer Erscheinung als Bild der Vorstellung.154 Die ‚anthropozentrische Grenze‘ ist damit nicht bloß überschritten, vielmehr wird sie durch das Eliminieren des Anderen getilgt. Die hervorgerufene Krise der Körper und Bilder rückt den Menschen ungeahnt nah an das Tier heran. Darin begründet sich die Unmöglichkeit, Abstand zum menschlichen Selbst und ebenso zum tierlichen Anderen zu wahren. In diesem Sinne liegt das Problem nicht länger in der anthropologischen Grenze, sondern vielmehr in ihrer Überschreitung dieser. Lambert Wiesing zeigt unter dem Begriff der artifiziellen Präsenz auf, dass ein Bildobjekt nicht zwingend das Sujet bezeichnet, zumindest nicht in einer Direktheit, die bisweilen angenommen wird:

152 | Carlo Ginzburg: Repräsentation — das Wort, die Vorstellung, der Gegenstand, in: Freibeuter 53 (1992), S. 3–23, hier S. 4. 153 | Kamper: Ästhetik, S. 68. 154 | Weitere Ausführungen zum Themenfeld der Zuchtästhetik finden sich unter Abschnitt 2.2 der vorliegenden Arbeit.

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„Wenn Bilder denotieren, dann denotieren sie nicht die Dinge, die man mittels Hinsehen auf die sichtbaren Eigenschaften von Monitoren, Leinwänden und Fotopapieren bestimmen kann, sondern sie denotieren Dinge, die sich bestimmen lassen, wenn man auf sichtbare Eigenschaften des Bildobjektes achtet. Wenn man ferner sagt, daß bei bildlichen Zeichen das Denotat durch Berücksichtigung des Aussehens des Signifikanten bestimmt wird, dann ergibt sich: In dem Satz Ein Bild denotiert etwas ist mit ‚Bild‘ das Bildobjekt gemeint. Die Verwendung von Bildern als Zeichen besteht darin, daß mittels eines materiellen Bildträgers ein immaterieller, das heißt ausschließlich sichtbarer Gegenstand zur Erscheinung gebracht wird. Jeder Gegenstand kann als Zeichen verwendet werden, selbst – wie im Fall des Bildobjektes – ein Gegenstand, der ausschließlich artifiziell präsent ist. Der Signifikant eines bildlichen Zeichens ist sowenig physikalisch anwesend, wie durch ein Hundebild ein echter Hund anwesend ist.“ 155

Und weiter, so wenig ein Hundebild die Präsenz eines tatsächlichen Hundes ankündigt, muss das Hundebild auf einen tatsächlichen Hund verweisen, ihn denotieren. Mehr noch, ein Hundebild kann auf etwas sehr anderes verweisen. Artifiziell kann damit sowohl der tatsächliche Hund in einem Hundebild sein, wie hingegen ebenso auch der tatsächliche Mensch und/oder seine Spiegelwünsche in einem Hundebild artifiziell präsent sein können. Indem Lambert Wiesing einen Gedanken Edmund Husserls aufnimmt, der offenbart, dass das Bildobjekt die Funktion des Zeichenträgers darstellt, postuliert er die Wichtigkeit des Vorstellungsbildes: „Darunter [Bildobjekt – M.M.] verstehen wir nicht das abgebildete Objekt, das Bildsujet, sondern das genaue Analogon des Phantasiebildes, nämlich das erscheinende Objekt, das für das Bildsujet Repräsentant ist. […] Vom physischen Bild unterscheiden wir also das repräsentierende Bild, das erscheinende Objekt, das die abbildende Funktion hat und durch dasselbe wird abgebildet das Bildsujet.“ 156

155 | Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz, S. 50. 156 | Edmund Husserl, zitiert nach: Wiesing: Artifizielle Präsenz, S. 51.

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Husserl ebnet damit den Weg, Bilder in einem doppelten Sinne zu verstehen157, wie Eduard Marbach betont: „Wohl eine der erstaunlichsten Fähigkeiten von uns Menschen ist die, auf Dinge, Personen, Ereignisse und Sachverhalte, die gar nicht wirklich hier und jetzt gegenwärtig sind, Bezug nehmen und uns mit ihnen beschäftigen zu können. Wir tun dies in Gedanken für uns selbst, im Erinnern, Phantasieren, Planen, oder öffentlich mittels Bildern, Spielen, Sprachen und anderen Zeichensystemen. Bei allen solchen Bezugnahmen ist uns normalerweise klar, ohne eigens darauf ref lektieren zu müssen, daß wir nicht einfach etwas Gegenwärtiges mit unseren Sinnen wahrnehmen, sondern in der einen oder anderen Weise etwas selbst nicht Gegenwärtiges gleichsam im Auge oder gedanklich im Sinne haben.“ 158

Damit ist der tierliche Körper als Medium nicht direkt Zeichenträger, sondern das Vorstellungs- bzw. Phantasiebild ist es: „Der Bildträger ist nicht Zeichenträger, sondern er zeigt den Zeichenträger.“159 Der Zeichenträger ist somit nicht zwingend Teil der physikalischen Welt, sondern kann intentional sein: „Das eine existiert als Stück der Welt und das andere ist ein Nichts, nicht Teil der Welt, sondern ein Objekt für ein Bewusstsein.“160 Diese Ausführungen verdeutlichen, warum auch ein lebendes Tier in einer Ausstellungssituation als Bild wahrgenommen werden kann, denn es fungiert in seiner Körperlichkeit als Bildträger und zeigt damit durch das entstehende Vorstellungsbild erst den Zeichenträger auf und offenbart damit das Zeichen, das es als mediale Projektionsfläche beinhaltet, das, was es repräsentiert. Das Tier nimmt dabei wiederum eine gesonderte Position unter den Bildträgern ein, denn es trägt sowohl sein Vorbild, denn

157 | Die Texte der Studienausgabe stammen aus: Edmund Husserl: Husserliana. Gesammelte Werke. Band XXIII: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass (1898–1925), herausgegeben von Eduard Marbach, London 1980. 158 | Eduard Marbach: Einleitung, in: Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Eduard Marbach, Hamburg 2006, S. XV-L, hier S. XV. 159 | Wiesing: Artifizielle Präsenz, S. 51. 160 | Ebd., S. 52.

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wie unter Perturbation und Disturbation in der vorliegenden Arbeit ange­ führt wird, kann das Tier nicht als etwas angesehen werden, von dem der Mensch sich noch kein Bild gemacht hat, als auch das Vorstellungsbild, welches als Zeichenträger operiert und welches etwas bezeichnen kann, was mit dem ‚konkreten Tier‘ nichts zu tun hat. So verschiebt sich ein Teil der Kategorie Mensch auf die Kategorie Tier. Das Tier verkörpert nicht das Wesen seiner selbst, sondern wenn überhaupt allein ein Zeichen davon. Unklar ist, ob es sich dabei um einen Rest des Authentischen handelt oder lediglich ein Zeichen des Ursprünglichen. Es muss hinterfragt werden, was das absolute Wesen des Tieres ist, nicht, wie es (er-)scheint. In diesem Sinne verschiebt oder besser verschwimmt die ‚anthropozentrische Gren­ ze‘. Sie ist in Bewegung. Das tatsächliche Tier wird verdrängt und dies in einem zweifachen Sinne: Erstens ist das Tier nicht mehr Teil von Natur und Kultur, es wird aus seinen Habitaten verdrängt, aber es wurde und wird auch aus der Kultur des Menschen verdrängt. Zweitens wird es in einem philosophischen, übergeordneten Sinne verdrängt: „Die kulturelle Verdrängung der Tiere ist natürlich ein komplexerer Prozess als ihre physische Verdrängung. Die Phantasietiere können nicht so leicht verjagt werden. Sprichwörter, Träume, Spiele, Geschichten, Aberglauben, die Sprache selbst, erinnern an sie: die sind nicht verjagt worden, statt dessen hat man sie anderen Kategorien zugeschrieben, so dass die Kategorie Tier ihre zentrale Bedeutung verloren hat.“ 161

Die Frage muss folgerichtig lauten: Welche Kategorien werden nunmehr verhandelt? Tiere, das sind Konstruktionen einer Sichtbarkeit als Phänomen menschlicher Überpräsenz. Alles Sichtbare ist Insignie menschlicher Präsenz. Tierliches Leibsein wird von Metaphern, Effigies und Spiegelwünschen überlagert, und so schickt der Mensch sie als bildgewordene Repräsentate in die Welt, als welche sie im Folgenden Beachtung finden sollen. Bilder und Körper müssen gemeinsam und in Wechselwirkung behandelt werden, bedenkt man, „daß Bilder einmal Gefäße der Verkörperung gewesen waren, als sie den Toten ihre verlorenen Körper ersetzten.“162 Entsprechend der Vorstellung, dass Bilder Gefäße der Verkörperung waren, kann gedacht werden, dass der Körper der Tiere zu einem Gefäß der

161 | Berger: Das Leben, S. 23. 162 | Belting: Bild-Anthropologie, S. 143.

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Verkörperung menschlicher Zuschreibungen wird. Resultierend daraus wird der Körper des Tieres zu einem Trägermedium, Vorstellungsbild und Abbild gleichermaßen. Während Husserl mit der Zuschreibung der Bedeutungsebenen bewiesen hat, dass das Vorstellungsbild nicht deckungsgleich mit dem Zeichenträger und dem Bildobjekt sein muss, ist für die Betrachtung des Tieres und der Frage nach seiner Individualpräsenz auch von Bedeutung, welche Bilder das Zurschaustellen selbst erzeugt: „[A]uf der einen Seite vergegenwärtigt die Repräsentation etwas Nichtgegenwärtiges, was eine klare Unterscheidung zwischen dem Repräsentierenden und dem Repräsentierten voraussetzt; auf der anderen Seite ist die Repräsentation die Zurschaustellung eines Gegenwärtigen, die öffentliche Darstellung eines Dinges oder einer Person.“ 163

Wenngleich die Repräsentation Ambivalenz aufweist, die ihr inhärenten Dichotomien sich einander auszuschließen scheinen, so wird nachfolgend aufgezeigt werden, dass man es bei der Repräsentation in Bezug auf nichtmenschliche Tiere mit beiden Definitionen gleichermaßen zu tun hat. „In der ersten Annahme ist die Repräsentation das Requisit einer mittelbaren Kenntnis: sie macht ein nichtgegenwärtiges Objekt sichtbar, indem sie es durch ein Bild ersetzt“164. In diesem Fall kann der tierliche Körper Surrogat, Symbol, Metapher für alles Mögliche sein: „Die Kunstgeschichte ist reich an Tierdarstellungen. Doch trotz dieser Fülle an Bildern, auf vielerlei Art benutzt und gedeutet, als Symbol, Metapher oder Allegorie, scheint es, dass Tiere selten, wenn überhaupt je, als sie selbst dargestellt worden sind. Immer scheinen sie für etwas oder jemand anderen zu stehen.“ 165

Das Tier fungiert demnach als repräsentierendes Moment, als Medium. Repräsentiert wird hingegen etwas anderes; das Tier ist nicht selbstreferenziell. Zeichen und Referent sind voneinander zu unterscheiden. Kom-

163 | Ginzburg: Repräsentation, S. 4. 164 | Ebd. 165  |  Jo Longhurst: Anmerkungen zum fehlenden Haustier, in: Eskildsen/Lechtreck: nützlich (2005), S. 118–126, hier S. 118.

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plizierter wird es, wenn die Idee des Tieres, das Bild, Schnittstellen mit der realen, konkreten, körperlichen Präsenz bildet. Das sichtbare Zeichen bezieht sich augenscheinlich auf den Referenten, so beispiels­weise im Umgang mit lebenden Tieren, wobei es sich auch hier um nicht anwesende Körper oder nicht mehr anwesende Körper handelt; oder Verkörperungen eines ursprünglich Körperhaften.166 Der Rezipient fasst das Tier fälschlicherweise als gegenwärtig auf, obwohl es sich in einem vielfachen Sinne ebenfalls um ein Bild bzw. um eine bildhafte Überlagerung handelt. Darin besteht die Schwierigkeit, in der stillschweigenden Transformation des Körpers in ein Bild vom Körper, das den Unterschied von Bild und Körper negiert.167 „Das charakteristische der damit erreichten Entwicklungsphase dieser begriff lichen Bedeutung des Wortes Repräsentation liegt darin, dass bei solcher Verwendung nicht nur kein Ähnlichkeitsverhältnis, sondern auch keinerlei kausale Beziehung zwischen Repräsentat und Repräsentation mehr mitgedacht wird.“ 168

Das Tier ist in diesem Sinne ein anthropomorphes Repräsentat und damit Teil einer ‚anthropomorphic creation‘. Die Repräsentation richtet sich nach der menschlichen Vorstellungsart, was dazu führt, dass das Tier ausschließlich artifiziell präsent ist und sein kann und demnach zu einem Gegenstand reiner Sichtbarkeit wird. Der Mensch zeigt sich hier gleichermaßen überpräsent – im Sinne eines Initiators und Konstrukteurs der Repräsentation –, der tierliche Leib ist absent und so wird der Körper zu einem Ersatzkörper, zu einem reinen Träger fremder Information. Der tierliche Körper evoziert Abwesenheit. Martin Schulz stellt kraft einer Denkfigur von Boris Groys fest, „dass sich […] hinter den Zeichen etwas sehr anderes befindet, als die bloße Vorderansicht erscheinen lässt und zu erkennen verspricht: ein

166  |  Vgl. Martin Schulz: Körper sehen — Körper haben? Fragen der bildlichen Repräsentation, in: Belting/Kamper/Schulz: Quel Corps? (2002), S. 1–25, hier S. 15. 167 | Vgl. Dietmar Kamper: Der Körper, das Wissen, die Stimme und die Spur, in: Belting/ Kamper/Schulz: Quel Corps? (2002), S. 167–174, hier S. 167. 168 | Hans Jörg Sandkühler: ‚Repräsentation‘, in: ders. (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 1999, S. 1384–1389, hier S. 1385.

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submedialer Raum, eine verborgene, abwesende und geheime Struktur, etwas Unsichtbares und Unbewusstes, welches das Äußere immer schon gesteuert und uns in eine Scheinwelt der Repräsentation eingeschlossen hat.“ 169

Sybille Krämer leistet in ihrer ‚Kleinen Metaphysik der Medialität‘170 einen hilfreichen Beitrag zu der Frage nach Repräsentation und Fremdpräsenz, indem sie feststellt, dass Medialität nach dem Modell des Boten bzw. die Figur des Boten als mediale Urszene171 zu verstehen und Medien im Hinblick auf den Vorgang der Übertragung zu beschreiben sind. Isabell Otto greift, indem sie sich auf Krämer bezieht, drei Aspekte von deren Botenmodell heraus: „Um zu klären, warum die Vorstellung der Übertragung von Botschaften durch einen Boten geeignet ist, um mediale Vorgänge zu beschreiben, nennt Krämer unterschiedliche Dimensionen des Botenmodells: Heteronomie, Materialität und Indifferenz. In seiner Aufgabe, zwischen Verschiedenartigem zu vermitteln und Abstände zu überbrücken, spricht der Bote mit fremder Stimme. Er handelt nicht selbsttätig, sondern im Auftrag eines anderen. In seiner Fremdgesetzlichkeit lässt sich der Bote als ‚Extension des Körpers seines Auftraggebers‘ verstehen. Er fungiert dabei aber auch als Verkörperung einer Botschaft. Der Botenkörper leistet eine Beglaubigung seiner Übertragung in einem Materialitätskontinuum. Dennoch tritt der Bote hinter seiner Botschaft zurück. Er verg genwärtigt etwas anderes, indem er sich selbst neutralisiert.“ 172

In Bezug auf das Tier lässt sich daraufhin Folgendes feststellen: Tierkörper weisen Medialität auf und können als Extension des Körpers eines Auftraggebers (des Menschen) verstanden werden. Der Botenkörper des Tieres leistet ebenfalls Beglaubigung seiner Übertragung, kann aber nicht

169 | Schulz: Körper sehen, S. 3f. 170 | Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt am Main 2008. 171 | Vgl. ebd., S. 108ff. 172 | Isabell Otto: Die Bildersprache des Körpers. Georg Groddeck und die wilde Psychosomatik, in: Martin Schulz/Beat Wyss (Hrsg.): Techniken des Bildes, München 2010, S. 51–63, hier S. S. 56.

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in­different sein. Nicht er selbst ist es, der sich zugunsten der Botschaft neutralisiert, vielmehr wird er durch den Empfänger der Botschaft negiert. In dem Moment der Übertragung der Botschaft zwingt der Empfänger den Botenkörper, hinter die Botschaft zu treten, was die Rezeption des Tier­lichen erschwert, da davon auszugehen ist, dass der Tierkörper bereits Ausdruck und nicht bloß mediale Oberfläche der Botschaft ist. Der Tier­ körper ist die Botschaft. In diesem Sinne verschwimmt die Grenze zwischen Medium und Botschaft als auch die Grenze zwischen Sender und Bote. Für die anthropologische Differenz ist diese Annahme folgenschwer: Während diese als Demarkationslinie zwischen Mensch und Tier verstanden wird und damit als apodiktisch gilt, ist das Verhältnis der MenschTier-Konstellation im Sinne des Sender-Bote-Verhältnisses dynamisch, „die Demarkationslinie zwischen Menschen und Tieren ist in moralischer Hinsicht porös und durchlässig geworden.“173 Der Mensch herrscht damit an der Grenze der Sichtbarkeit des Tieres. Die ‚anthropozentrische Grenze‘ kann im Folgenden gedacht werden als eine Grenze von Sichtbarkeiten. Dieser Gedanke findet eine Fortsetzung in den folgenden Überlegungen zur Perturbation und dem dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit, in dem es um die Rezeption von Kunstwerken geht, in denen das lebende Tier zum Objekt der Anschauung und somit zum Werk selbst wird. Repräsentationen sind geprägt von einem anthropozentrischen Weltbild. So liegt es nahe, dass „[i]n traditionellen Abhandlungen über Repräsentation […] der Schwerpunkt auf dem, wer oder was repräsentiert wird [liegt], während in zeitgenössischer Theorie die Aufmerksamkeit dem Prozess des Repräsentierens gilt, der Frage also, wer die Repräsentation ausübt.“174 Hans Belting wirft damit die Frage nach der Autorschaft der Repräsentation auf. In den Fokus der Auseinandersetzung tritt nun neben dem Sender der Botschaft, also dem Repräsentierten, zusätzlich der Repräsentierende und mit ihm der Prozess des Repräsentierens an sich. Diese komplexe Struktur der Repräsentation

173 | Herwig Grimm: Das ‚Tier an sich‘? Auf der Suche nach dem Menschen in der Tier­ ethik, in: Konrad Paul Liessmann (Hrsg.): Tiere. Der Mensch und seine Natur, Wien 2013, S. 277–332, hier S. 278. 173 | Herwig Grimm: Das ‚Tier an sich‘? Auf der Suche nach dem Menschen in der Tier­ 174  Hans Belting: in: Tiere. Belting/Kamper/Schulz: QuelNatur, Corps? ethik,| in: Konrad PaulRepräsentation, Liessmann (Hrsg.): Der Mensch und seine Wien(2002), 2013, 29–52, hierhier S. S. 29.278. S. 277–332, 175 | Schulz: Körper sehen, S. 2f. 174  | Hans Belting: Repräsentation, in: Belting/Kamper/Schulz: Quel Corps? (2002), 176 | „Was wirS.Welt S. 29–52, hier 29.nennen, ist keine vorgegebene Fertig-Welt, sondern sie ist bei der ‚Kon-

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„kann erstens die Bedeutung von ‚Vorstellung‘ annehmen, die, vor allem psychologischer Tradition, als mentales Bild einer Vergegenwärtigung von etwas verstanden wird. Zweitens wird ‚Repräsentation‘ in der sicherlich häufigsten Verwendung, die von einer christlich-theologischen bis zur modernen zeichentheoretischen reicht, als Darstellung von etwas – in Korrelation zur geistigen Vorstellung – aufgefaßt. Damit ist ganz allgemein die veräußerlichte, materialisierte, codierte und daher immer auch symbolisch und kollektiv wirksame Referenz auf und ein ‚Stehenfür‘ etwas gemeint, das nicht notwendig im Hier und Jetzt anwesend sein muß, um als präsent vorgestellt, gedacht und erinnert werden zu können, sei es mittels der Sprache, der Schrift, der Bilder oder sei es mit Hilfe anderer möglicher Zeichen und ihrer als Zeichenträger fungierenden Medien. Das Spektrum der Phänomene erstreckt sich hier von der scheinbar natürlichsten, ältesten und einfachsten Referenz durch Ähnlichkeit, die in vielen Zeichentheorien ein wenig geklärter Topos ist, über ritualisierte und identitätsstiftende Formen gemeinsamen Verhaltens bis zur Bezeichnung durch einen abstrakten Begriff oder vereibarten Benennung eines komplizierten Sachverhalts, die bestimmten Regeln unterliegt.“ 175

Was hier von Martin Schulz als Frage nach einer bildlichen Repräsentation eindeutig definiert erscheint, erweist sich für das Tier als Repräsentant diffus. Das Tier verfügt in seiner Repräsentation oft über keine Ähnlichkeit zu dem Repräsentierten und kann auch nicht als Stellvertreter für etwas oder jemanden verstanden werden. Das Tier ist vielmehr als mentales Bild zu verstehen, dass als Vergegenwärtigung von etwas aufgefasst werden kann. Das Tier erfährt durch die Repräsentation Bildwerdung und wird durch die Vergegenwärtigung von etwas anderem abstrakt. Das ‚konkrete Tier‘ ist abwesend, denn es kann nicht erkannt werden. Seine Sichtbarkeit ist ambivalent, changiert zwischen einem mental sichtbaren Bild, also einem Bild der Vorstellung 176, und dem wirklichen Bild-Träger 177

175 | Schulz: Körper zeptualisierung des Realen sehen,alsS.eines 2f. Attributs der Repräsentation entstanden‘.“ Sandkühler: 176 | „Was wir Welt ‚Repräsentation‘, S. 1386. nennen, ist keine vorgegebene Fertig-Welt, sondern sie ist bei der ‚Konzeptualisierung 177 | Vgl. hierzudes Christiane Realen als Kruse: einesVera Attributs Icon –der oder Repräsentation die Leerstellen entstanden‘.“ des Bildes, Sandkühler: in: Belting/ ‚Repräsentation‘,Quel Kamper/Schulz: S. 1386. Corps? (2002), S. 105–129, hier S. 109. Kruse thematisiert hier die 177 | Vgl. obskure Sichtbarkeit hierzu Christiane eines vorstellbaren Kruse: Vera Icon Bildes – oder bei faktischer die Leerstellen Unsichtbarkeit des Bildes, desin:wirklichen Belting/ Kamper/Schulz: Quel Corps? (2002), S. 105–129, hier S. 109. Kruse thematisiert hier die Bildträgers.

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Die Präsenz des tierlichen Körpers steht nicht für die Anwesenheit des konkreten Tieres. „Das Minimum wäre, den entschiedenen Bildcharakter der sogenannten Körperlichkeit […] endlich zu durchschauen, diese Bilder als Bilder wahrzunehmen und ihre genuin vernichtende Tendenz, was das Körperliche und das Bildhafte angeht, endlich wahrzunehmen.“178

1.4 Trug- und Zerrbilder Dietmar Kamper konstatiert in seiner ‚Ästhetik der Abwesenheit‘ die Beseitigung des Realen und des Referenziellen als die reale Vernichtung des Anderen. Er beschreibt das Verhältnis von Körper und Bild folgendermaßen: „Das aktuelle Verhältnis ist nämlich so: die Körper verschwinden, die Bilder dominieren. Es wird nicht mehr für möglich gehalten, daß es Körper ohne Bilder gibt, wohl aber, daß die Bilder das, was sie zeigen, restlos vereinnahmen und sich an dessen Stelle setzen können.“179 Für die Wahrnehmung des Tieres bzw. die Unzulänglichkeit der Wahrnehmung des Tieres als ein tatsächliches, konkretes Mitlebewesen ist seine Feststellung von besonderer Bedeutung, denn, so heißt es weiter: „[i]n der Epoche der körperlosen Bilder, sei es der Bilderkörper, sei es der Körperbilder, wird die Erinnerung unmöglich und das Vergessen allge­waltig.“180 Dieses allgewaltige, inszenierte Vergessen erinnert an den von Maturana und Varela bezeichneten Daseinsraum, welcher „durch das Erleben einer biologischen interpersonellen Kongruenz, die uns den anderen sehen läßt“181, eröffnet wird oder aber verschlossen bleibt. Das bedeutet, wenn das Tier nicht als ein konkretes referenzielles Lebewesen wahr­genommen wird oder wahrgenommen werden kann, wird auch kein Da­seinsraum eröffnet, welcher die Präsenz des anderen ermöglicht. Das Konkrete tritt hiermit hinter das Bildliche, wird geleugnet und damit entfernt. Der Begriff des Bildes zeigt sich generell als nicht ganz eindeutig, da es sich dabei sowohl um das Etwas in der Welt handelt, von welchem sich der Mensch ein Bild macht – diese Tatsache inkludiert Vorstellungsbilder als auch solche, die allgemein unter Bildproduktion zusammengefasst

obskure Sichtbarkeit 178 | Kamper: Ästhetik, eines S. vorstellbaren 67. Bildes bei faktischer Unsichtbarkeit des wirklichen Bildträgers. S. 69. 179 | Ebd., 178 | Kamper: 180 | Ebd., S. 70. Ästhetik, S. 67. 179 | Ebd., S. 69. 181 | Maturana/Varela: Der Baum, S. 266. 180 | Ebd., S. 70. 181 | Maturana/Varela: Der Baum, S. 266.

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werden können: Gemälde, Fotografien, Abgüsse, digitalisierte Wiedergabe etc. –, aber auch solche Bilder, die der Mensch als Repräsentate konstruiert und die auch lebende Bilder sein können182. Diese werden von Horst Bredekamp unter der ‚Lebendigkeit des Bildes‘183 zusammengefasst, auf die bereits Roland Barthes hingewiesen hat, indem er Körper beschrieb, die im weitesten Sinne als Bilder geformt und verwendet wurden184. Auch wenn die Verweise von Barthes und Bredekamp sich auf schematische Bilder und allem voran auf ‚tableaux vivants‘185 beziehen, leisten sie einen wertvollen Beitrag zu einer Betrachtung von Tieren und Tierbildern in der Kunst immer dann, wenn es um die Dar- oder vielmehr Ausstellung lebender Tiere geht: „In ihrer wie eingefrorenen und zugleich höchst lebendig wirkenden Präsenz gehörten die tableaux vivants zur ersten Kategorie jener Bilder, die durch lebendige Körper das Gestaltungs- und Wirkungsprinzip des

182 | Diese Unterscheidung wird dann von Bedeutung sein, wenn es darum geht, inwiefern der Mensch die Rolle des Schöpfers oder besser Konstrukteurs einnimmt. Grundlage vorliegender Überlegungen ist, dass das Überlagern des Konkreten durch erstens das Vorstellungsbild, welches sich der Mensch unweigerlich macht, und zweitens die diversen Schichten konstruierter subjektiver, emotionaler, assoziativer und affektiver Bilder, welche der Mensch auf das Tier projiziert und welche im Folgenden als Trug- bzw. Zerrbilder denotiert werden, vollzogen wird. Der semiotische Ansatz der Bildwissenschaften unterscheidet das Darstellende (Bildträger wie zum Beispiel Papier, Leinwand etc.), die Darstellung (zum Beispiel ein Haus) und das Dargestellte (zum Beispiel das Haus als realer Gegenstand). Das Tier nimmt insofern eine Sonderstellung ein, wenn es um Bilder geht, als dass es sowohl Darstellendes als auch Darstellung gleichermaßen ist. Das Tier wird in diesem Sinne zu einem Bild zweiter Ordnung. 183 | Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin 2010 184 | Vgl. Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer, Berlin 1988, S. 16. 185 | „Als ‚lebende‘ Bilder zeigen sie Gemälde, Fresken, Vollskulpturen oder Reliefs, die nicht aus Bildwerken, sondern Menschen und Menschengruppen aufgebaut sind. Diese müssen für die Dauer ihrer Existenz in Bewegungslosigkeit verharren, um ihre Funktion als lebendes Bild erfüllen zu können. […] Aufführungen lebender Bilder reichen bis in die Zeit des Hellenismus zurück. Vermutlich sind sie auch in nachantiker Zeit niemals ausgesetzt worden, aber erst seit dem fünfzehnten Jahrhundert mehren sich Berichte über die Praxis, durch die Unbewegtheit der Körper die Präsenz von Bildern zu erreichen und dadurch eine Wirkung zu erzielen.“ Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 104f.

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schematischen Bildakts auswiesen […]. Menschen, zu Kunstwerken erstarrt, sollten sie sich als Bilder einprägen und musterhaft wirken.“ 186

In der Tradition der ‚tableaux vivants‘ stehen zweifelsohne auch solche Werke, die als lebendes Bild die „Unterscheidung von Bild, Nachbild und Leben verschwinde[n]“187 lassen. Martin Schulz beschreibt eine solche Art von Repräsentation als „ein Bild eines Bildes, welches wiederum einen inszenierten Körper zeigt, der sich auf andere und nächste Bilder bezieht, die ihrerseits schon nachgeahmt wurden und in unserem Blick, ob vertraut oder fremd, anziehend oder abstoßend, ohnehin bereits als Bilder erscheinen.“188 Die „Tatsache, […] daß ein Bild, um einen Gegenstand repräsentieren zu können, ein Symbol für ihn sein, für ihn stehen, auf ihn Bezug nehmen muß; und daß kein Grad von Ähnlichkeit hinreicht, um die erforderliche Beziehung der Bezugnahme herzustellen“189, stellt die Be­ trachtung von Tieren im Kontext der künstlerischen Auseinandersetzung gleichermaßen vor ein Problem, wie sie offenbart, worin die Diskrepanz zwischen Darstellendem und Dargestelltem zu suchen ist. Denn „Ähnlichkeit ist für Bezugnahme auch nicht notwendig; fast alles kann für fast alles andere stehen. Ein Bild, das einen Gegenstand repräsentiert, ebenso wie eine Passage, die ihn beschreibt, nimmt auf ihn Bezug, und, genauer noch: denotiert ihn. Denotation ist der Kern der Repräsentation und unabhängig von Ähnlichkeit.“ 190

Präsenz und Repräsentation sind folgerichtig nicht zwingend kongruent, was die Annahme bestärkt, das Tier repräsentiert nicht sich oder seinesgleichen, sondern menschliche Ausdrucksdimensionen und das selbst dann, wenn es augenscheinlich als tierliches Individuum in einem Werk erscheint. Die wohl größte Schnittmenge zwischen Realpräsenz und Repräsen­ tation stellt das Körperbild dar. Es wird dann bedeutungsvoll, wenn das Tier offenkundig real präsent und ähnlich konnotiert ist, wie der von

186 |  Ebd., S. 108. 187 | Ebd., S. 120. 188 | Schulz: Körper sehen, S. 1. 189 | Wiesing: Artifizielle Präsenz, S. 26. 190 | Ebd.

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Schulz beschriebene „Scheinleib“ als wirkliche Substitution: „d.h. [ein] an ein Medium191 gebundene[s] Bild in seiner Funktion als stellvertretender Ersatz, als Scheinleib und wörtlich eben als Repräsentation eines nicht im selben Raum [P]räsenten“192. Für den anthropologischen Ansatz der Bildwissenschaften sind die Bedingungen der Möglichkeit von Bildproduktion193 identisch mit den Bedingungen der Möglichkeit des bewussten Daseins; Bilder sind zuerst einmal Artefakte des Menschen194. Sowohl konkrete Bilder als auch Vorstellungsbilder sind Gegenstand bildwissenschaftlicher Forschung: „Die Rede von inneren und äußeren Bildern, von Bildern im Geiste und Bildern an der Wand ist keine Äquivokation. In inneren und äußeren Bildern ist gleichermaßen ein Bewußtsein von etwas, das nicht anwesend ist, angesprochen. Der sich einen Film anschaut, hat als Betrachter ein Bewußtsein von einer nicht anwesenden Wirklichkeit, so wie derjenige, der sich eine Situation in der Vorstellung ausmalt.“ 195

Die Frage nach der Repräsentation ist immer auch eine Frage nach dem Körper. „Der Körper wird seither eher als Einzelwesen verstanden, das sich vom kollektiven Körper der Gemeinschaft gelöst oder aber darin aufgelöst hat.“196 Wenn im Folgenden die Rede von Körper sein wird, ist dieser als ein Bildkörper zu verstehen. Solche Bildkörper „stellen nicht Körper um ihrer selbst willen dar, sondern drücken mit dem Körper eine Idee […] aus, die sie verkörpern. Die dargestellten [und zur Schau gestellten – M.M.] Körper sind gleichsam Stellvertreter, die anschaulich machen, was sich sonst der Anschauung entzieht [bzw.

191 | Martin Schulz beschreibt den Scheinleib in Bezug auf das Loslösen des eigentlichen Körpers durch Medien. 192 | Schulz: Körper sehen, S. 15. 193  |  Ob und inwiefern nichtmenschliche Tiere selbst Bilder produzieren, soll nicht Teil dieser Untersuchung sein. Vielmehr geht es um das Verständnis des nichtmenschlichen Tieres als Dargestelltes und die Konsequenzen dieser Erkenntnis für den Umgang mit dem lebenden Tier. 194 | Vgl. Wiesing: Artifizielle Präsenz, S. 17ff. 195 | Ebd., S. 22. 196 | Belting: Repräsentation, S. 29.

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sich somit der Anschauung nicht zu entziehen vermag – M.M.] und nur gedacht werden kann oder geglaubt werden muss.“ 197

Was hier in einer anderen Kontextualisierung von Belting beschrieben wird, lässt sich auf den tierlichen Körper als Medium übertragen. Der eigentliche Körper hat sich durch das Bildvermögen des Menschen in eine bestürzende Erfahrung der Absenz verwandelt, da die antizipierte Wirklichkeit nur mehr als Modell, als eine Reliquie der Erinnerung, als Erscheinung überlebt.198 Der tierliche Körper ist Teil der menschlichen Bildproduktion und als ein solcher stellt er ein Sichtbarkeitsgebilde, einen Gegenstand aus Sichtbarkeit dar. „Entscheidend ist, dass in der präzisen Rede über Bilder zwischen dem Dargestellten, der Darstellung und dem Darstellenden differenziert werden muss.“199 Mit dieser Unterscheidung geht auch die Dekonstruktion des Bildkörpers des Tieres einher. Das Dargestellte ist die Extension, die Darstellung ist eine mögliche Intension, das Darstellende ist Zeichenträger. Folglich gibt es den darstellenden Bildträger, hier der tierliche Körper, die im Bildkörper gegebene Darstellung, welche ferner als Intension besser als Projektion verstanden werden sollte, und das Dargestellte, welches einen mehr oder weniger klar bezeichneten realen Gegenstand meint und sich ebenso auf den Tierkörper wie auf weitere ästhetische Wahrnehmungsphänomene, also das Wahrnehmen von Kunstwerken, beziehen und so weiteres Abbild sein kann. Autor und Initiator der Darstellung ist der Mensch. Es lässt sich zusammenfassen: Die Tatsache, dass der Mensch sich vom Tier eine Vorstellung, also ein Bild im Kopf, gemacht hat, bedingt die Absenz des Konkreten. Dieses irdische Abbild wird auf den Körper des Tieres projiziert und macht ihn so zum Darstellenden, also zum Träger von Information und zum Bildkörper, Extension, gleichermaßen. Das künstlerische Bildvermögen evoziert folgerichtig ein Bild eines Bildes. Die Intension, ergo Darstellung, ist Gegenstand der Rezeption. Nicht erst das Abbild, sondern bereits der Körper, der dahinter steht, muss als Bild analysiert werden. Das Tier ist eine Einheit von Signifikant und Designat

197 | Ebd. 198 | Vgl. Ursula Frohne: Berührung mit der Wirklichkeit. Körper und Kontingenz als Signaturen des Realen in der Gegenwartskunst, in: Belting/Kamper/Schulz: Quel Corps? (2002), S. 401–426. 199 | Wiesing: Artifizielle Präsenz, S. 27.

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und bleibt an die Sichtbarkeit des Dargestellten gebunden. Die Wahr­ nehmung des Tieres als Entität, als einfach Seiendes und nicht als ein kompliziertes Konstrukt menschlicher Imagination200, bedingt, dass der Bildkörper Tier letztlich als Fragment gefasst werden muss. Eine Desub­ jektivierung geht damit einher. Neu ist, dass diese Desubjektivierung eine abbildende oder bildende ist und sich nicht wie beispielsweise in der Fleischverarbeitung auf eine Entzweiung der physischen Bestandteile bezieht.201 Dieser Prozess der Verbildlichung zeichnet verantwortlich für den objektbezogenen Umgang mit den lebenden Tieren. So muss es schlüssig heißen: Das Tier erfährt Desubjektivierung durch Bildwerdung. Interdependenzen zwischen solchen Bildern, die durch die menschliche Vorstellung den tierlichen Körper überlagern, jenen, die den tierlichen Körper konstruieren, und denen, die ihn in einem doppelten Sinne als Bildträger hervorgebracht haben, können mithilfe der Bildwissenschaften beschrieben und dekonstruiert werden. Das Bildvermögen des Menschen wird von Hans Jonas als ein physischer Aspekt der Macht und damit als eine Art von Gewalt angesehen, welche der Mensch, den Jonas als ‚homo pictor‘202 denotiert, über seinen Körper hat.203 Jonas sieht in der Fähigkeit des Bildens das wesentliche Alleinstellungsmerkmal des Menschen im

200 | Wer nun anmerkt, dass wir Menschen alles in unserer Welt imaginieren, tut dies zurecht. Die Imagination von Menschen und/oder der unbelebten Welt unterliegt jedoch anderen Mechanismen und muss folglich mithilfe anderer Methoden untersucht werden. 201 | Siehe hierzu die Ausführungen zur Desubjektivierung durch Fragmentierung von Klaus Petrus: Tiere als fragmentierte Subjekte, in: Tier im Fokus, http://www.tier-im-fokus.ch/ mensch_und_tier/fragmentierte_subjekte/ (letzter Zugriff: 30.10.2017). 202 | „Seitdem Hans Jonas dieses Wort in den sechziger Jahren als Analogiebildung zum homo faber oder auch zum homo habilis ins Gespräch gebracht hatte, wohl auch in der Annahme, dass zur Existenzweise des Menschen nicht nur der Logos, sondern ebenso sehr sein bildnerisches Vermögen zählt, hat sich das Interesse an diesem Aspekt deutlich verstärkt.“ Gottfried Boehm: Vorwort, in: ders. (Hrsg.): Homo pictor (= Colloquium Rauricum, Band 7), München/Leipzig 2001, S. 3–13, hier S. 3. 203 | Vgl. Hans Jonas: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1987.

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Gegensatz zum Tier.204 Diese Art von Macht und Gewalt ist es, die er auch über den tierlichen Körper hat und welche Ute Eskildsen auf die Position des Tieres bezogen zwingend als ‚Kein Recht am Bild‘205 postuliert. William J. Thomas Mitchell fasst zusammen, dass „[f ]ür viele Philosophen, antike wie moderne[,] das repräsentierende Tier, der homo s ymbolicus, ein Wesen [ist], das sich von anderen Geschöpfen durch seine Fähigkeit zur Schaffung und Handhabung von Zeichen – von Dingen, die für etwas anderes oder anstelle von etwas anderem stehen – unterscheidet.“206

Es zeichnet sich ab, dass die Mensch-Tier-Beziehung auch und vor allem eine Bild-Betrachter-Beziehung ist, denn der Mensch, der homo symbolicus, hat das Tier als sein Abbild hervorgebracht. Dabei konnte „[d]as wilde Tier […] den langen Belichtungszeiten vorerst entkommen, das Zuchttier wurde still- und die Exoten in Käfige gestellt. In dem Interesse am lebenden Tier folgte die Kamera [und so der menschliche Blick – M.M.] dem Gewehr; bis heute dienen Tiere den Schönbildnern der Ma-

204 | „Die Frage nach dem Wesen des Menschen kann gestellt werden als die Frage nach dem, was den Menschen von den übrigen Lebewesen unterscheidet. Die Frage nach dem Unterschiede, der differentia specifica, des Menschen kann gestellt werden als die Frage nach einem Merkmal, in dem sich der Unterschied sinnfällig und überzeugend äußert. Die Frage nach einem solchen Merkmal nun kann zweckmäßig angegriffen werden im Rahmen eigens gestellter rigoroser Bedingungen. […] Ein gewisser hermeneutischer Vorzug, dessen wir uns versichern wollen, liegt in der relativen Einfachheit der Natur des Bildens — verglichen etwa mit der des Sprechens. Dieses ist wohl das menschlich konstitutivere und zentralere, aber in seiner Vielschichtigkeit auch schwer fassbare Phänomen und jedenfalls in seiner Deutung philosophisch weit mehr vorbelastet und umstritten. […] Vor allem aber ist der Begriff der ‚Sprache‘, wie der der ‚Vernunft‘ und des ‚Denkens‘, in der zeitgenössischen Philosophie so unsicher geworden, und der Boden der Einstimmigkeit, der sich voraussetzen ließe, so fraglich, daß ‚Sprache‘ sich schon darum nicht für die elementar-theoretische Absicht eignet“. Jonas: Homo Pictor, S. 105. 205  |  Ute Eskildsen: Kein Recht am Bild. Das fotografierte Tier — ein Überblick, in: Eskildsen/ Lechtreck: nützlich (2005), S. 11–34. 206 | Mitchell: Bildtheorie, S. 78.

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gazine, Amateuren und Künstlern – sich der Abbildung zu verweigern ist ihnen nicht vergönnt.“207

Dieser Annahme ist im Hinblick auf aktuelle künstlerische Positionen jedoch eine weitere Hypothese entgegenzustellen, die gleichermaßen erund begründet wird: Das Sehen und Wahrnehmen ist in der Vermittlung von sozialen Beziehungen ebenso bedeutsam wie die Sprache. „Alle Philosophen, die wir befragen werden (von Aristoteles über Descartes, Kant, Heidegger und Lévinas bis zu Lacan), alle sagen sie dasselbe: Das Tier ist der Sprache beraubt. Oder, genauer gesagt, der Antwort, einer Antwort (réponse), die präzise und streng von der Reaktion zu unterscheiden ist: des Rechts und der Macht/des Vermögens (pouvoir) zu ‚antworten‘.“208

Denkbar ist, so zumindest in einer ersten Idee von Tierbildern, dass eine solche Antwort, geringstenfalls eine Respons209, in oder durch Bilder möglich ist. Eine solche Art von Antwort kann nicht in der Inszenierung liegen, sondern muss sich außerhalb der Intension befinden. Diese muss gewissermaßen in jenem Zwischenraum gesucht werden, den Umberto Eco als ‚das Offene‘210 in einem Kunstwerk verstanden wissen will. Es bedarf also nicht zuletzt der Betrachtung der Relationalität von Bild und Betrachter: „Bilder sind unsere Art, einen Zugang zu den Dingen zu bekommen, was auch immer diese sind. Die Frage, die vom Standpunkt einer Poetik gegenüber Bildern zu stellen ist, lautet daher nicht einfach, was sie bedeuten oder bewirken, sondern was sie wollen – welche Ansprüche sie uns gegenüber geltend machen“211 .

207 | Eskildsen: Kein Recht, S. 11. 208 | Derrida: Das Tier, S. 59. 209 | Respons sollte als eine auf Initiative, besser auf ein Angebot folgende Antwort verstanden werden, die jedoch nicht bloße Reaktion auf etwas ist. 210 | Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Berlin 1977. 211 | Mitchell: Das Leben, S. 13.

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Dies sollte auch Gegenstand der Untersuchung des Verhältnisses und vor allem des Verständnisses zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren und so Grundlage einer Mensch-Tier-Diskussion sein.

1.5 Simulakrum, Illusion, Immersion Die Entzweiung von Realpräsenz und Repräsentation ist dem Tier­lichen immanent und verweist als wesentliches Attribut des Bildes und des Bildens auf die Idee des Simulakrums, welche an dieser Stelle formuliert wird. Das Simulakrum nach Jean Baudrillard – „[m]an muss Baudrillard wie Science-fiction lesen“212 –, das eröffnet bereits ein Zitat von Christian Descamps, fußt auf der Idee des Hyperrealen und des Virtuellen. In Baudrillards kurzen Anmerkungen zu einem Begriffsverständnis wird das französische ‚simulacre‘ als Trugbild, Blendwerk, Fassade und Schein, das lateinische ‚simulacrum‘ als Bild, Abbild, Bildnis, Gebilde etc. festgelegt.213 Das Simulakrum nach Baudrillard wird immer dann herangezogen, wenn es darum gehen wird, das Tierbild als Trug- und Zerrbild zu entlarven. Vor allem eine Aussage Baudrillards ist von erheblicher Qualität für die vorliegende Auseinandersetzung: In seiner Definition von Simulationen stellt er fest, dass durch diese zwischen Realem und Modell etwas verloren geht. „Denn etwas ist verschwunden: die souveräne Differenz zwischen beiden, und damit der Charme der Abstraktion. Gerade die Differenz macht die Poesie […] und den Charme […], die Magie des Begriffs und den Charme des Realen aus.“214 In der Simulation verschwindet das ideale Nebeneinander. Das Reale wird verdeckt, es entsteht das Hyperreale. Für das Körperbild des Tieres bedeutet dies, dass das Modell, das menschliche Idealbild des Tieres, den Bezug zu einem realitären, ‚konkreten Tier‘ verloren hat. Baudrillard versteht die Simulation als Liquidierung aller Referentiale215, ein Umstand, der zu der Annahme hinführt, das Reale erhalte künftig nie wieder die Gelegenheit, sich zu produzieren216. „Das Hyperreale ist von

212 | Christian Descamps in ‚La Quinzaine‘ zitiert nach: Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978, Klappentext. 213 | Ebd., S. 6. 214 | Ebd., S. 8. 215 | Vgl. ebd., S. 9. 216 | Vgl. ebd.

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nun an vor dem Imaginären, vor jeder Trennung von Realem und Imaginärem sicher. Zugelassen wird nur noch ein orbitaler Rücklauf von Modellen und die simulierte Generierung von Differenzen.“217 Diese Idee der absoluten Referenzlosigkeit, aktuell offensichtlicher denn je, kann übertragen werden auf den virtuellen Raum, ist darüber hinaus aber auch auf die vermeintliche Realpräsenz zu transferieren. Denn nichts ist frag­licher als des Tieres Referenz und das Verschwinden des Nebeneinanders, des Anderen. Das Tier ist nicht selbstreferenziell, das haben vorangestellte Überlegungen bereits gezeigt, aber kann Referenz haben, so zum Beispiel, wenn das Tierbild auf eine fremde Referenz verweist. Doch Referenzen verschwinden, so wie alles andere und nicht zuletzt wie in einer Evolution, die nichts mehr mit Natürlichkeit zu tun hat, auch das Reale an sich verschwindet.218 So ist denkbar, dass auch das Generieren von Bildern die Referenz verschwinden lassen kann, zum Beispiel dann, wenn der Mensch derart die autopoietischen Systeme anderer Lebewesen stört, dass diese lediglich noch als Spur vorhanden sind. „Jedenfalls wird nichts schlicht und einfach getilgt, und von allem, was verschwindet, bleiben Spuren. Das Problem ist das, was übrigbleibt, wenn alles verschwunden ist. Es ist ein wenig wie im Falle der CheshireKatze bei Lewis Carroll, deren Lächeln immer noch im Raum schwebt, nachdem ihre Gestalt entschwunden ist“219 ,

nimmt Baudrillard Bezug auf die Grinsekatze aus Lewis Carrolls ‚Alice’s adventures in wonderland‘. Auch Rosalind Krauss sieht in einem Simulakrum Bilder, die ohne Grundlage eines essentialisierbaren Originals verstanden werden und somit bloße Effekte simulierter Ähnlichkeit sind.220 Krauss koppelt das Simulakrum mit Bezug auf Jean Baudrillard und Gilles Deleuze an die Idee der ‚falschen Kopie‘:

217 | Ebd., S. 9f. 218 | Vgl. ders.: Warum ist, S. 11. 219 | Ebd., S. 16. 220 | Vgl. Annette Jael Lehmann: Verfehlte Ähnlichkeiten. Genderperformances in Neuen Medien, in: Martina Oster/Waltraud Ernst/Marion Gerards (Hrsg.): Performativität und Performance, 2. Auflage, Münster 2010, S. 19–35, hier S. 34.

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„Die ganze Idee der Kopie besteht darin, daß sie ähnlich sein muß, daß sie die Idee der Identität verkörpert […]. Doch der Begriff der falschen Kopie kehrt diesen ganzen Prozeß um. Die falsche Kopie übernimmt die Idee der Differenz oder Nicht-Ähnlichkeit, internalisiert sie und errichtet sie in einem gegebenen Objekt als vollständige Bedingung seines Seins. Wenn das Simulakrum irgendetwas ähnelt, dann der Idee der Nicht-Ähnlichkeit. Auf diese Weise wird ein Labyrinth errichtet, ein Spiegelsaal, in dem keine unabhängige Perspektive eingenommen werden kann, von der aus Unterscheidungen zu treffen sind – weil die Realität diese Unterscheidungen nun internalisiert hat.“221

Dem Verschwinden bei Jean Baudrillard ist Roland Barthes’ Idee der strukturalistischen Tätigkeit entgegenzusetzen, deren Ziel darin besteht: „sei sie nun ref lexiv oder poetisch, […] ein ‚Objekt‘ derart zu rekonstituieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine ‚Funktionen‘ sind). Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein simulacrum des Objekts, aber ein gezieltes, ‚interessiertes‘ Simulacrum, da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, das im natürlichen Objekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb.“222

Während das Simulakrum für Jean Baudrillard das Reale verdeckt, spricht Roland Barthes von dem Simulakrum als „dem Objekt hinzugefügte[n] Intellekt.“223 Ihm zufolge sind „Schöpfung oder Reflexion […] nicht originalgetreuer ‚Abdruck‘ der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will.“224 Dieses ‚Verständlichmachen‘ steht den Trugbildern Jean Baudrillards insofern gegenüber, als dass er durch die Simulation das

221 | Rosalind Krauss: Eine Bemerkung über die Fotografie und das Simulakrale [1984], in: Hubertus von Amelunxen (Hrsg.): Theorie der Fotografie IV. 1980–1995, München 2000, S. 260–277, hier S. 271f. 222 | Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit, in: Kursbuch 5 (1966), S. 190–196, hier S. 191 (zitiert als: Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit). 223 | Ebd., S. 192. 224 | Ebd.

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Wesentliche im Verschwinden begriffen sieht, indes das Simulakrum für Barthes das Wesentliche freizulegen vermag. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das ‚konkrete‘ bzw. tatsächliche Tier absent ist und es neuer Methoden bedarf, um dies in der zeitgenössischen Kunst zu untersuchen. Die Kategorieverschiebung bzw. der Kategorieverlust deutet hin auf eine neue Ästhetik, welche mit William J. Thomas Mitchell als ‚Eröffnung einer poetischen Welt‘ bezeichnet werden kann, welcher sich die vorliegende Arbeit widmet. Dabei sollen auch solche künstlerischen Arbeiten untersucht werden, die mittels Immersionserfahrungen den Betrachter in das Bild und damit in einen Wahrnehmungsraum hineinziehen. Anhand von ausgewählten Kunstwerken wird das Phänomen der tierlichen Abwesenheit bzw. ihrer Sichtbarmachung bestimmt, beschrieben, interpretiert sowie dekonstruiert und auch hinterfragt, inwiefern über eine mögliche ‚anthropozentrische Grenze‘ in der zeitgenössischen Kunst verhandelt wird. Es stellt sich die Frage, wann ein Werk der bildenden Kunst das ‚konkrete Tier‘ behandelt bzw. in Erscheinung treten lässt. Bislang wurde das ‚konkrete Tier‘ in einem Werk immer dann attestiert, wenn das lebende Tier in den Kunstkontext einbezogen wurde. Diese Annahme wird kritisch hinterfragt werden. Weiter wird festgelegt, welche Charakteristika dem Bildwerden des Tieres entstammen und welche Bedeutung diese für die Rezeption darstellen. So muss der Bildproduzent „[n]icht nur über die Macht der Bilder […] Rechenschaft ablegen, sondern auch über ihre Machtlosigkeit, ihre Ohnmacht ihren Jammer. Mit anderen Worten: Wir müssen beide Seiten des Paradoxons des Bildes zu fassen suchen: dass es lebendig ist – aber auch tot; mächtig – aber auch schwach; bedeutungsvoll – aber auch bedeutungslos.“225

225 | Mitchell: Das Leben, S. 25f.

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1.6 ‚Erkennen‘ — ‚Erkennen‘ Das Erkennen bzw. das Nichterkennen, welches als obligatorisch für die Abwesenheit des konkreten Tieres angenommen werden kann, wird von Humberto Maturana und Francisco Varela als jener Akt beschrieben, bei dem der Erkennende und auch der Nichterkennende – dies bringt die vorliegende Arbeit zum Vorschein – gewissermaßen wie der Zauberer aus seinem Hut eine Welt hervorbringt226: „In diesem Sinne werden wir ständig festzustellen haben, daß man das Phänomen des Erkennens nicht so auffassen kann, als gäbe es ‚Tatsachen‘ und Objekte da draußen, die man nur aufzugreifen und in den Kopf hineinzutun habe. […] Die Erfahrung von jedem Ding ‚da draußen‘ wird auf eine spezifische Weise durch die menschliche Struktur kon­f iguriert, welche ‚das Ding‘, das in der Beschreibung entsteht, erst möglich macht.“227

Maturana und Varela deuten des Weiteren an, dass der Mensch stets einer Versuchung von Gewissheit unterliegt, welche in einem direkten Zu­sammenhang mit der Frage nach Erkenntnis steht, obgleich „Gewiß­ heiten keine Beweise der Wahrheit sind, daß die Welt, die jedermann sieht, nicht die Welt ist, sondern eine Welt, die wir mit anderen hervorbringen.“228 Diese Versuchung kann das Wahrnehmen konkreter Dinge erschweren, denn „[w]ir neigen dazu, in einer Welt von Gewißheit, von unbestreitbarer Stichhaltigkeit der Wahrnehmung zu leben, in der unsere Überzeugungen beweisen, dass die Dinge nur so sind, wie wir sie sehen. Was uns gewiß erscheint, kann keine Alternative haben. In unserem Alltag, unter unseren kulturellen Bedingungen, ist dies die übliche Art, Mensch zu sein.“229

Für das Erkennen des konkreten Tieres oder auch nur das Inbetrachtziehen der Möglichkeit eines konkreten Tieres, dessen Abwesenheit durch die

226 | Vgl. Maturana/Varela: Der Baum, S. 31. 227 | Ebd. 228 | Ebd., S. 263f. 229 | Ebd., S. 20.

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Gewissheit erzeugt wird, dass die Welt, die wir sehen, diese eine Welt ist, muss es die Bereitschaft geben, das Erkennen selbst zu hinterfragen. Maturana und Varela insistieren auf der Erfahrung des Erkennens, wie es der Augenblick der Reflexion vor einem Spiegel230 ermöglicht, um den Prozess des Erkennens des Erkennens zu reflektieren. Durch das Erkennen des Selbst wird der Betrachter zu Betrachtetem durch sich selbst231 und wird im Verstehen dieser Begebenheit sensibilisiert für Rekursionen weiterer Phänomene, denn „[s]olange wir keine geistreichen Experimente machen, nehmen wir in der Tat jene Diskontinuität, die erscheinen sollte, nicht wahr.“232 Wenn es im Folgenden darum gehen wird, die tierliche Absenz zu beleuchten und ihre Sichtbarmachung in Kunstwerken aufzudecken – genau hier liegt die Diskontinuität, sozusagen der blinde Fleck –, so ist dies auch ein Experiment, um das Erkennen zu hinterfragen und das Erkennen als solches zu verstehen.233

230  |  „Der Augenblick der Reflexion vor einem Spiegel ist immer ein ganz besonderer Augenblick, weil es der Augenblick ist, in dem wir uns des Teiles unserer selbst bewußt werden, den wir auf keine andere Weise sehen können. […] Die Reflexion ist ein Prozeß, in dem wir erkennen, wie wir erkennen, daß heißt eine Handlung, bei der wir auf uns selbst zurückgreifen. Sie ist die einzige Gelegenheit, bei der es uns möglich ist, unsere Blindheiten zu entdecken und anzuerkennen, daß die Gewißheiten und die Erkenntnisse der anderen ebenso überwältigend und ebenso unsicher sind wie unsere eigenen.“ Ebd., S. 29. 231 | Vgl. ebd. 232 | Ebd., S. 23. 233 | „Wenn wir die Existenz einer objektiven Welt voraussetzen, die von uns als den Beobachtern unabhängig und die unserem Erkennen durch unser Nervensystem zugänglich ist, dann können wir nicht verstehen, wie unser Nervensystem in seiner strukturellen Dynamik funktionieren und dabei eine Repräsentation dieser unabhängigen Welt erzeugen soll. Setzen wir jedoch nicht eine von uns als Beobachtern unabhängige Welt voraus, scheinen wir zuzugestehen, daß alles relativ ist und daß alles möglich ist, da es keine Gesetzmäßigkeiten gibt. So sind wir mit dem Problem konfrontiert zu verstehen, wie unsere Erfahrung — unsere Lebenspraxis — mit einer uns umgebenden Welt gekoppelt ist, die erfüllt zu sein scheint von Regelmäßigkeiten, die in jedem einzelnen Fall das Ergebnis unserer biologischen und sozialen Geschichte sind. […] Der ganze Mechanismus der Erzeugung unserer selbst als Beschreiber und Beobachter sagt uns, daß unsere Welt — als die Welt, die wir in Koexistenz mit anderen hervorbringen — immer genau jene Mischung von Regelmäßigkeiten und Veränderlichkeit aufweisen wird, jene Kombination von Festigkeit und Flüchtigkeit, die so typisch ist für die menschliche Erfahrung, wenn wir sie genauer unter die Lupe nehmen. […] Das ist der

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Dem Erkennen des Bildseins des Tieres, welchem die Absenz des konkreten Tieres als Phänomen vorangestellt ist, bedarf einer detaillierten Betrachtung von solchen künstlerischen Werken, denen entweder das Erkennen oder aber das Verbergen als Rezeptionsmoment inhärent ist. Als ein ästhetisiertes Produkt menschlichen Bildvermögens sind vor allem solche Tiere zu betrachten, deren Körper per se ein Resultat anthropomorpher Schönheitszucht sind und deren Präsenz hinter der des Menschen zurücktritt. In der Rezeption künstlerischer Werke wurde dem Zuchttier bislang kein besonderer Status zuteil. Es wurde unter Gesichtspunkten der Zweckzucht eher dann von Bedeutung, wenn seine Besitzer Gemälde und Skulpturen anfertigen ließen, um den Zucht- oder Zweckerfolgen des Tieres und damit sich selbst zu huldigen. In Werken wie denen der englischen Künstlerin Jo Longhurst wird das Haus- bzw. Zuchttier erstmals insofern kritisch hinterfragt, als dass es bereits als Gegenstand künstlerischer Produktion in das Werk integriert wird.

kognitive Kreis, der unser Sein in einem Werden charakterisiert, welches Ausdruck unserer Weise ist, autonome lebende Systeme zu sein. Durch diese ständige Rekursivität verbirgt jede hervorgebrachte Welt ihre Ursprünge. Wir existieren in der Gegenwart; Vergangenheit und Zukunft sind Weisen, jetzt zu sein.“ Maturana/Varela: Der Baum, S. 259f.

2 Das Tier als Form 2.1 J o Longhursts ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ — Das Abbild des Zuchttieres als Emblem menschlicher Überpräsenz Champion Khabaray Single Malt at Dumbriton, Champion Nevedith Ayfa Aze, Starswift Ebony Prince, Hillsdown Raoul, Hillsdown Forest Prince, Hillsdown Forest King, Elaphine Alexander Blue, Champion Walkabout War Waggon from Stormalong, Aerial Storm, Nevedith Beefa Beejabers, Nevedith Zedfa Zappa, Shoalingam Sentennial Marchpast Irresistable of Hillsdown, Italian Champion Rivarco Velvet Voice, Elleonia Dancing Queen at Dumbriton, Stormalong Lonely Heart, Elaphine Blue Blood, Dumbriton Classic Gold, Champion Nuts In May of Nevedith, Nearco Honey Bee at Starswift, Elaphine Sapphire Blue, Shoalingam Swallow, Shoalingam Solostar, Darquell Silver Dollar of Shoalingam Die hier aufgelisteten 24 Namen benennen die Protagonisten des Werkes ‚Twelve dogs, twelve bitches‘, welches zwischen den Jahren 2001 und 2002 fotografiert und im Jahr 2003 von der englischen Künstlerin Jo Longhurst produziert wurde.234 Die Installation der zwei Tableaus mit jeweils zwölf Porträts zeigt auf den Einzelsegmenten je einen Vertreter der britischen, von der Fédération Cynologique Internationale (FCI) anerkannten Hunderasse ‚Whippet‘, wobei die linke Tafel ausschließlich Rüden, also männliche Hunde, zur Schau stellt, während auf der rechten Tafel Hündinnen zu sehen sind. Die Arbeit ist Teil eines umfassenden Projektes, bei welchem Longhurst sich dem Whippet als Ausstellungshund und der damit verbundenen Zurschaustellung von Tieren widmet. Ein zentraler Ausgangspunkt dieses Kunstschaffens ist die Definition menschlicher Individualität und Identität über die Erschaffung und Verformung des Exterieurs von Hunden. Zu ihrem Werkkomplex ‚The Refusal‘235, in deutscher Übersetzung ‚Die Verweigerung‘, gehören folgende Arbeiten: ‚Twelve dogs, twelve bitches‘,

234 |  Jo Longhurst, ‚Twelve dogs, twelve bitches‘, 2003, 24 matte C-Prints auf Aluminium, je 60,9 cm × 40,6 cm. 235 |  ‚The Refusal‘ war 2012 Teil des ‚The Worldly House‘ der dOCUMENTA (13). Das Schwanenhaus der Karlsaue wurde von Tue Greenfort genutzt, um ein Archiv künstlerischer Werke

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‚Breed‘, ‚I know what you’re thinking‘, ‚The Queen’s stud‘, ‚Vincent‘, ‚Sighthound‘, ‚At home‘, ‚It’s all in my mind‘, ‚Untitled I, II, III, and Portrait of a dog‘, ‚The refusal (part I)‘, ‚The refusal (part II)‘, ‚The refusal (part III)‘, ‚The decisive moment (study II for Show ring)‘, ‚Terence, Vincent, Saffi, Iris, Shaun & Monique‘ und ‚Parade‘. Jo Longhurst arbeitet seit dem Jahr 2001 an diesem Projekt, welches zusammenfassend der Frage nach tierlicher Selbstbestimmtheit und Idealbildern der Tierzucht nachgeht. Hierfür arbeitet sie mit Whippetzüchtern zusammen, welche ihr ermöglichen, die Hunde zu fotografieren. Die Künstlerin ist selbst Halterin zweier Hunde dieser Rasse, welche in einigen anderen Arbeiten des Projektes abgebildet sind. Dass sie das Projekt unter dem Titel ‚The Refusal‘ zusammenfasst, verweist auf ihr Interesse an dem Verhältnis und Verständnis zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren. Die Frage lautet also, wer verweigert sich und warum. Der Titel der Einzelarbeit ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ und so auch die Namen der Hunde, die von der Künstlerin veröffentlicht werden236, sind nicht minder bedeutsam. In die deutsche Sprache übersetzt bedeutet ‚dog‘ sowohl ‚Hund‘ als auch ‚Rüde‘ und beschreibt somit in der biologischen Systematik die Gruppe der Hundeartigen und gleichermaßen die männlichen Vertreter dieser Gattung. Der Terminus ‚bitch‘ hingegen ist in seiner ursprünglichen Bedeutung die englische Bezeichnung für Hündin, wird aber ebenso als beleidigender Ausdruck verwendet. So kann ‚bitch‘ auch mit ‚Schlampe‘, ‚Miststück‘ oder ‚Luder‘ übersetzt werden und bezeichnet so eine durchtriebene, liederliche, mannstolle Frau. Die Hündinnen, so scheint es impliziert, sind vordergründig als Gebärsubjekte anzusehen, während der Rüde als Stammhalter seiner Art fungiert. Die Namen der Zuchthunde sind Titel, Verweise auf Herkunft, Stammbaum, Auszeichnung und nicht zuletzt auf den Züchter. Eben diesem ‚Namen geben‘ ist bereits ein schöpferischer Akt immanent. So wie der Mensch sich das Recht und die Autorität gegeben hat, die Gesamtheit aller nichtmenschlichen Individuen als Tiere zu benennen237, nimmt er sich auch das Recht, dem einzelnen Tier einen Namen zu geben. Jacques Derrida schreibt die-

als Hommage an die Ideen Donna Haraways zu einer Multispezieskoevolution zu kompilieren und auszustellen. 236 |  So zum Beispiel in: Ausst. Kat. Jo Longhurst. The Refusal, herausgegeben vom Museum Folkwang Essen, 5. April bis 15. Juni 2008, Göttingen 2008. 237 |  Vgl. Derrida: Das Tier, S. 279.

Das Tier als Form

ser Namengebung gewissermaßen Machtpotential zu und erkennt ihren Ursprung in der biblischen Genesis238, in welcher Gott Adam befiehlt, den Tieren den Namen zu geben und ihn so zum Namengeber aller Kreaturen macht.239 Derrida formulierte die zwangsläufige Passivität der Tiere nach Walter Benjamin, der anmerkte, dass die Traurigkeit, die Trauer, die Melancholie der Natur oder der Tierheit von deren Stummheit und Sprachlosigkeit herrühren würden240, aber auch, und dies hebt Derrida hervor,

238 |  Peter Sloterdijk merkt in seiner ‚Phantasie über animalische Repräsentation‘ an, dass „[i]n der biblischen Überlieferung […] die Kohabitation des Menschen mit der vormenschlichen Natur, insbesondere mit den animalischen Kreaturen, zweifach charakterisiert [wird] – im adamitischen Modus zuerst, im noachitischen danach. Als Adam, das Geschöpf des späten sechsten Tages, zu seiner paradiesischen Existenz erweckt wird, findet er eine Fülle von Kreaturen vor, die an den vorangegangenen Schöpfungstagen ins Dasein gerufen worden waren. Das Altersprivileg der vorerschaffenen Wesen kompensiert Adam durch sein Bezeichnungsprivileg: Es bleibt das spirituelle Vorrecht der jüngeren Kreatur und zugleich die Spur ihrer ebenbildlichen Erschaffung, daß ihr die Fähigkeit gegeben ist, den älteren Kreaturen Namen zu verleihen.“ Des Weiteren wissen wir, „daß die adamitische Gnade widerrufen wurde. Der biblische Bericht motiviert die Sintflut dadurch, daß es Gott reute, den Menschen geschaffen zu haben. In einer schöpfungskritischen Aufwallung beschließt der enttäuschbare Gott, alles Leben, das nicht schwimmen kann, vom Antlitz der Erde zu vertilgen. Die Sintflut vernichtet Menschen und Landtiere gleichermaßen, ohne zwischen den älteren und den jüngeren Geschöpfen zu unterscheiden. Allein der Gerechte Noah und die tierische Besatzung seiner Arche werden vom Holozid ausgenommen. Mit deren Hervorgang aus dem Schiff nach dem Sinken der Flut beginnt eine zweite Sukzession des Lebens – diesmal jedoch eine, in der Menschen und Tiere gleichaltrig geworden sind. Die Arche Noahs ist das noch immer nicht genug verstandene Symbol für die ontologische Gleichaltrigkeit der nachsintflutlichen Geschöpfe.“ Peter Sloterdijk: Stimmen für Tiere. Phantasie über animalische Repräsentation, in: Ausst. Kat. Herausforderung Tier von Beuys bis Kabakov, herausgegeben von Regina Haslinger, Städtische Galerie Karlsruhe, 15. April bis 30. Juli 2000, München/London/New York 2000, S. 128–133, hier S. 129. Fast mutet es in diesem Sinne an, als erschaffe und züchte sich der Mensch Tiere nach seinen Vorstellungen, um damit als namensmächtige Kreatur Bestand zu haben. 239 |  Vgl. Derrida: Das Tier, S. 36ff. 240 |  Vgl. ebd., S. 41. 240 |  Vgl. ebd., S. 41.

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„von dieser namenlosen Wunde: den Namen empfangen zu haben. Wenn man sich der Sprache beraubt findet, verliert man das Vermögen/die Macht (pouvoir) zu benennen, sich zu benennen, ja Verantwortung für seinen Namen zu übernehmen. (Als ob nicht auch der Mensch seinen Namen empfangen hätte!) Das Gefühl dieser Beraubung/dieses Entbehrens, dieser Verarmung, dieses Mangels sei ‚das große Leid der Natur‘. Um ihres Loskaufs, ihrer ‚Erlösung‘ von diesem Leid willen leben und sprechen die Menschen in der Natur – die Menschen, nicht nur der Dichter, präzisiert Benjamin. Diese unterstellte Traurigkeit hängt nicht nur […] mit der Sprachlosigkeit und Stummheit zusammen, damit, der Wörter durch Aphasie oder Benommenheit beraubt zu sein. Wenn diese unterstellte Traurigkeit auch zu einer Klage anhebt, wenn die Natur klagt, mit einer stummen Klage, die jedoch in spürbaren Seufzern bis hin zum Rauschen der Pf lanzen hörbar ist, dann deshalb, weil man vielleicht die Terme umkehren muß. Benjamin schlägt es vor. Es braucht eine Umkehrung im Wesen der Natur. Gemäß der Hypothese dieser umwerfenden Umkehrung (renversement renversant) ist die Natur (und die Tierheit in ihr) nicht traurig, weil sie stumm ist. Im Gegenteil: die Trauer der Natur macht sie stumm und aphasisch, lässt sie wortlos zurück (Die Traurigkeit der Natur macht sie verstummen). Denn was seither traurig macht und in der Folge den von Trauer Überschatteten seiner Worte beraubt, was ihm das Wort untersagt, ist keine Stummheit und keine Ohnmachtserfahrung, kein Nicht-Benennen, sondern zunächst einmal die Tatsache, den Namen zu empfangen.“241

So ist eines festzuhalten: Das Benennen, das Namengeben ist eine anthropozentrische Handlung die häufig mehr evoziert als angenommen. Der gegebene Name birgt zahlreiche Informationen, die, und das ist folgenschwer, sich ausschließlich auf den Menschen beziehen. Die angeführten Namen der Hunde in der Arbeit Jo Longhursts beschreiben nicht nur die Provenienz und die genetische Abstammung, sondern evozieren ebenso Bilder von Ruhm und Ehre, Schnelligkeit, Leichtigkeit, Leistungsstärke, Schönheit, Klasse etc. D.  h., die Anforderungen und Ansprüche an das Tier werden bereits kurz nach dessen Geburt kraft der Namengebung an dieses herangetragen, vielmehr diesem mit auf seinen Lebensweg gegeben, um auf diese Weise in ihrem Fordern beständig zu

241 |  Ebd., S. 41f.

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bleiben. Die Bezeichnungen erscheinen wie eine stetige Ermahnung daran, dem Namen gerecht zu werden, diesem alle Ehre machen zu müssen. Das linke Tableau zeigt zwölf fotografische Porträts von männlichen Windhunden der Rasse Whippet. Die Anordnung ergibt sich aus drei CPrints in der Horizontalen und vier C-Prints in der Vertikalen auf einer Ausstellungsfläche von ca. zwei mal fünf Meter, wobei die Abfolge und Präsentation je nach Ausstellungsort von der Künstlerin variabel gehalten wird. So sind diverse Hängungen möglich, wobei die Grundstruktur des Tableaus stets beibehalten wird. Das rechte Tableau zeigt in gleicher Weise zwölf fotografische Porträts von weiblichen Whippets. (Abb. 2) Diese Geschlechterunterscheidung wird von der Betitelung der Arbeit vorgeschrieben, bestätigt sich im Detail aber auch durch das sichtbare primäre Ge­schlechtsmerkmal der Rüden. Derart separiert erinnert die Geschlechter­trennung der Tableaus an Grundlagendarstellungen der Vererbungs­lehre und leitet ein in eine Thematik von Genetik und Zucht. So nimmt der Betrachter zuerst die stark divergierenden Fellfarben und die damit verbundene Vielfältigkeit wahr und fühlt sich animiert, imaginäre Verbindungslinien zwischen den Individuen zu ziehen. Die Konnotation von Vererbungslehre wie etwa den mendelschen Regeln und genetischer Systematik wird von der Hintergrundfarbigkeit der Einzelbilder noch verstärkt. Die blasse Grau­grüntönung der monochromen Hintergründe ruft eine aseptisch-klinisch anmutende Ästhetik in Erinnerung. Die Hunde haben allesamt die gleiche Positur eingenommen, die Köpfe sind zum rechten Bildrand ausgerichtet, die Rute ist rassetypisch zwischen die Hinterläufe geklemmt. Der Abstand zum Objekt, die Lichtführung, der Hintergrund, Farbklang und die Plat­zierung innerhalb des Formates sind von der Künstlerin minutiös geplant und stringent beibehalten. Longhurst erinnert mit dem eigentümlich Statischen in ihren Fotografien und so auch in der Hängung im musealen Raum visuell an die Reihenfotografien Eadweard Muybridges. Im Großen und Ganzen sind die Rüden von körperlich massiverer Gestalt, die Hündinnen minimal zierlicher und kleiner. Alle hier gezeigten Exemplare erfüllen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Standards der Rasse­ zucht, deren Insignien dem Betrachter nach und nach offensichtlicher werden. Im Rasselexikon des Verbands für das Deutsche Hundewesen (VDH) heißt es zum allgemeinen Erscheinungsbild eines Standardwhippets: „Ausgewogene Kombination von Muskelkraft und Stärke, mit Eleganz und

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Grazie der Umrisslinien. Für Geschwindigkeit und Leistung gebaut.“242 Und weiter, nach detaillierter Beschreibung und Festlegung aller äußeren Merkmale wie das Aussehen des Kopfes, Halses, Körpers, der Rute, den Gliedmaßen, des Haarkleides, der Größe etc.: „Jede Abweichung von den vorgenannten Punkten muss als Fehler angesehen werden, dessen Bewertung in genauem Verhältnis zum Grad der Abweichung stehen sollte und dessen Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden des Hundes zu beachten ist.“243 Die Richtlinien bezüglich des Exterieurs sind schier endlos. Abweichungen sind nicht erwünscht, alles folgt dem vorbestimmten Idealbild eines Whippets. Sogar die eingenommene Haltung der Hunde beruht auf einer antrainierten Verhaltensweise, so lassen sich die besonderen Merkmale in einer Ausstellungssituation von den Preisrichtern besonders gut beurteilen, wenn die Showwhippets gegeneinander antreten. Longhurst transformiert das Bild des Idealwhippets in ein wiederum nächstes Bild, wobei sich der Betrachter in dieser panoptischen Sicht auf den tierlichen Körper ungehemmt ein wiederum nächstes Bild machen kann. Das Tier wird, wie William J. Thomas Mitchell es nennt, ein biologisch lebensfähiges Simulakrum seiner selbst. In diesem Zusammenhang steht auch der Klon, hier im Sinne einer Reproduktion von Idealbildern, den er wie folgt beschreibt: „Der Klon bezeichnet das heutige Potenzial zur Erzeugung neuer Bilder [dies impliziert den Schöpfungsdrang des Menschen – M.M.] – Bilder, die insofern neu sind, als sie den alten Traum von der Erschaffung eines ‚lebendigen Bildes‘ erfüllen, einer Replik oder Kopie, die nicht bloß ein mechanisches Duplikat ist, sondern ein organisches, biologisch lebensfähiges Simulakrum eines Lebewesens. Indem der Klon den Begriff der belebten Ikone auf den Kopf stellt, macht er das Verleugnen des lebendigen Bildes unmöglich. Wir erkennen nun, dass es nicht nur einige wenige Bilder sind, die lebendig zu werden scheinen, sondern, dass Lebe­w esen selbst immer schon in der einen oder anderen Form Bilder gewesen sind.“244

242 |  Verband für das Deutsche Hundewesen (Hrsg.): Whippet, http://www.vdh.de/welpen/ mein-welpe/whippet (letzter Zugriff: 30.10.2017). 243  |  Fédération

Cynologique

Internationale

(Hrsg.):

Whippet,

nomenclature/WHIPPET-162.html (letzter Zugriff: 30.10.2017). 244 | Mitchell: Das Leben, S. 28.

http://www.fci.be/

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Nachdem die beiden Tableaus in ihrer Gesamtheit auf den Betrachter gewirkt haben, stellt sich der Wunsch nach einer detaillierten Rezeption ein. Welches Einzelbild aber eignet sich in besonderer Weise dafür? Jedes Einzelbild scheint genauso geeignet wie das andere. Bis auf Differenzen in der Fellfarbe und geringen Abweichungen in der Haltung ist kaum ein Unterscheidungsmerkmal auszumachen. Ein Versuch, die Besonder­heiten der Einzelbilder zu vermerken, scheitert gleichsam einem verlorenen Gedächtnisspiel. Die Hunde folgen, und darauf verweist Longhurst in aller Eindringlichkeit, der Standardisierung. „Möglicherweise besteht darin eine der Aufgaben der Kunst im Zeitalter der biokybernetischen Reproduzierbarkeit: die Codes offenzulegen und die Vorstellung von der ultimativen Beherrschung des Lebens als Illusion deutlich zu machen.“245 Eine Hündin, weiß mit schabrackenartiger Stromung und gestromerter Maske mit weißen Pfoten und Schwanz (Abb. 3), steht in der ihr an­ dressierten Körperhaltung, vor und auf einem monochromen resedagrünen Hintergrund, zentriert im Format der Farbfotografie abgebildet. Die schwarzen Ballen der Hundepfoten berühren den Untergrund. Die Krallen sind fachmännisch gekürzt, derart gleichmäßig läuft ein Hund seine Krallen nicht selbstständig ab. VDH und Züchter raten, die Nägel der Whippets einmal wöchentlich zu kürzen. Whippets haben katzenartige Pfoten, welche es unmöglich machen, durch normale Aktivität eine Abnutzung zu gewährleisten. Vier lange, muskulöse Beine tragen den gestreckten, leicht nach hinten abfallenden Rumpf. Die Rute ist, wie vorgesehen, zwischen den Hinterbeinen hindurch gen Boden gerichtet. Diese dem Whippet eigene Schwanzhaltung findet sich bei allen Windhund­rassen und gehört zu den gewünschten, vorgeschriebenen Merkmalen. Das feine, kurze, anliegende Fell der Hündin erscheint sauber, fast rein, so auch der gesamte Umraum und Hintergrund der Fotografie. Nichts deutet hin auf eine Spur oder einen Abdruck des Tieres. Hinterlassen Tiere überhaupt Spuren, könnte die Frage sein. Das Gesäuge der Hündin ist deutlich vergrößert, was zu der Annahme führt, dass diese nicht erst einmal Junge zur Welt gebracht hat. Ihr langer weißer Hals reckt sich empor, was den Eindruck von Erhabenheit und Stolz implizieren könnte, wäre da nicht der kaum sichtbare, nahezu durchsichtige Kunststofffaden, eine Art Leinenersatz, der um den Hals des

245 | Ebd., S. 222.

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Tieres gelegt ist246. Jener Faden ist Platzhalter für die dünnen Lederleinen und Halsbänder, die während der Ausstellung und Begutachtung dafür Sorge tragen, den Kopf des Hundes weit genug hinaufziehen zu können, um eine geduckte, unterwürfige Haltung zu vermeiden. Longhurst weist damit in ihrer Arbeit auf einen vielschichtigen Aspekt hin, der sich in weiteren Arbeiten der Künstlerin wiederfinden lässt und der hindeutet auf einen neuen Umgang zeitgenössischer künstlerischer Positionen mit dem Sujet Tier. Die Frage nach der Überpräsenz des Menschen in Abbildungen tierlicher Individuen ist insofern neuartig, als dass bislang nur wenige Künstler die Mensch-Tier-Verhältnisse in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gestellt und in ihren Werken verhandelt haben. Gleichförmiges, weiches Licht von beiden Seiten beleuchtet den Körper der Hündin in einer Weise, die jede Stelle des Tierkörpers für den Betrachter an- und einsehbar macht. Schatten und Reflexionen gibt es kaum. Der tierliche Körper ist dem Betrachter ausgeliefert. In einer panoptischen Situation kann der Tierkörper ohne zeitliche Begrenzung und gänzlich undistanziert angesehen und untersucht werden. Das sichtbare schwarze Auge der zierlichen Hündin weist einen kleinen Lichtreflex auf, wirkt ansonsten aber leer und gläsern. Der Blick aller Hunde in ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ ist vom Betrachter abgewandt, sie blicken etwas oder jemanden an, der oder das sich nicht im Bildbereich befindet, vielleicht verliert sich ihr Blick im Nichts. „Für die damit verbundene Ideologie sind Tiere immer die Beobachteten. Die Tatsache, dass sie uns beobachten können, hat jede Bedeutung verloren. Sie sind die Objekte unseres sich immer weiter ausdehnenden Wissens. Was wir über sie wissen, ist das Maß unserer Machtfülle, und daher ein Maß dessen, was uns von ihnen trennt. Je mehr wir wissen, desto weiter sind sie von uns entfernt.“247

246 |  „The leather leash that would lead the animals reminding them that they were in ‚show mode‘ holding them still to be critically examined by the judges, was replaced by Longhurst with fishing wire that almost disappears under the studio lights, yet retains the act of control of these ‚model‘ specimens.“ Jean Wainwright: Jo Longhurst: Twelve Dogs Twelve Bitches, in: HotShoe 156 (2008), S. 82f., hier S. 82. 247 |  Berger: Das Leben, S. 25.

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2.2 Anthropofakte — Zucht als ästhetische Praxis Das Bild des Zuchttieres stellt eine der vielschichtigen Konstruktionen menschlichen Abbildungsvermögens dar. Noch bevor ein Rassetier geboren wird, ist sein Körperbild bereits imaginiert. Rasse- und Zuchtstandards definieren die charakteristischen Merkmale, die als Zuchtziel angestrebt werden und sich vor allem auf den Phänotypus konzentrieren. Ideale Vertreter einer Rasse werden auf Ausstellungen von Zuchtrichtern prämiert, solche Individuen, die der Normierung nicht entsprechen, werden von der Fortpflanzung ausgeschlossen. Das domestizierte Tier wird in einem mehrfachen Sinne auf seinen Körper und sein Abbild reduziert. Auf den ersten Blick knüpft Jo Longhurst mit ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ an eine Ästhetik an, wie sie von Zuchttierdokumentationen248

248 |  „Schon bevor es die fotografische Dokumentation gab, fertigten Künstler Porträts von Zeitgenossen, indem sie deren Wohlstand zur Schau stellten; im Falle der Landwirtschaftsreformer hieß dies ihre Herrenhäuser und landwirtschaftlichen Besitztümer, ihre Pferde und Wagen, das Vieh, die Schafe und Schweine. Noch bis Ende des 17. Jahrhunderts war es für die einzige Klasse, die es sich leisten konnte, Ölgemälde in Auftrag zu geben, üblich, Porträts für die Ahnengalerie anfertigen zu lassen. Das Land und die Tiere, die ihnen ihre vornehmen Titel garantierten, waren kein Objekt von Interesse. Die Bildung der Großgrundbesitzer wurde bestimmt durch Arkadiensehnsucht, Hirtendichtung, später das Pittoreske der Grand Tour, die Sammlung antiker Kunst und die Anfänge des Besichtigungstourismus. Im 18. Jahrhundert legten das Anwachsen der ländlichen Bevölkerung und die industrielle Revolution, zuerst in England, die Grundlagen für die enclosures- und Fortschrittsbewegung, die das Land zum Gegenstand sorgfältiger Prüfung, Darstellung und Intervention machte. Mit der Einfuhr von Qualitätstieren (holländische Kühe, arabische Pferde, siamesische Schweine) wurden durch selektive Kreuzungen die ersten reinrassigen Tiere, zuerst Rennpferde, dann Rinder, Schweine und Schafe gezüchtet. Bereits vertraut mit der gesellschaftlichen Bedeutung von Personenporträts, war dem Landadel daran gelegen, seine Errungenschaften dokumentieren zu lassen. Tierporträts kamen in Mode. Mehr oder weniger bekannte Künstler machten Gravüren und Mezzotintos für diejenigen, die sich Ölgemälde nicht leisten konnten. Die Öffentlichkeit wurde bekannt gemacht mit Porträts von berühmten Ochsen und Bullen, Schafböcken und Muttertieren, mit ihren stolzen Besitzern und deren gestalteten Gärten. Diese neue Erziehung der Aufmerksamkeit etablierte den Kanon eines Idealtyps, nach dem noch heute in der Zucht verfahren wird.“ Christina Grasseni: Tierdarstellung, agrarischer Fortschritt und die Ökologie des Blicks für die agrarische Landschaft, in: Eskildsen/ Lechtreck: nützlich (2005), S. 96–102, hier S. 96.

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bekannt ist. Pferde, Rindvieh, Hunde, Katzen etc., Richtlinien existieren für sie alle und so auch bildliche Dokumentationen ihrer Standards und Normen: „Das im 18. Jahrhundert entstandene Genre des Tierporträts ist noch immer die vorherrschende ‚Zuchtästhetik‘ und setzt sich fort in Form von Fotografien posierender Champions auf landwirtschaftlichen Ausstellungen, Viehkatalogen, heutzutage online – und sogar in Amateurvideos, aufgenommen auf den Viehmessen durch die Bauern selbst. Die Ökologie der täglichen Wahrnehmung, besonders innerhalb der Gemeinde von Leuten, die mit der Viehindustrie zu tun haben, ist geprägt von Samenannoncen, Videos und Postern von Messegewinnern und Idealtyp-Modellen, die sich sogar in Plastikspielzeug für Kinder wiederfinden.“249

Neben der Viehzucht, in der die Tiere auf den Ertrag und den landwirtschaftlichen Nutzen hin optimiert wurden, gab es bereits Ende des 18. Jahrhunderts ein erhöhtes Interesse am Exterieur der Tiere. Die Fokussierung auf das Erscheinungsbild erhöhte die Nachfrage nach Bildnissen der Tiere, mittels derer sich das Bildmotiv der Tierporträts wandelte. Der Körper der Tiere rückte in den Bildmittelpunkt und verdrängte solche Szenen, die auch das Leben der Menschen mit den Tieren dokumentierte. Exemplarisch für diese Veränderung sind die Porträts des von den Gebrüdern Colling gezüchteten „Durham-Ochsen (1796–1807), 1,65 m hoch mit einem Gewicht von 1,3 Tonnen, der gegen eine Gebühr zur Schau gestellt wurde, bis er durch einen Unfall zu Tode kam. Berühmtheit erlangte der Durham-Ochse durch die 1802 von Thomas Weaver und John Boultbee (1753–1812) angefertigten Porträts, und er war so populär, dass allein im ersten Ausstellungsjahr 2000 Exemplare seines Porträts in Auftrag gegeben wurden. Nach dieser Modewelle wurden Tiere zunehmend in statischen Posen und nicht mehr in Situationen des bäuerlichen Lebens porträtiert: Im Vordergrund stand der rechteckige, massige Körper sowohl von Ochsen als auch Bullen“250.

249 |  Ebd., S. 101. 250 |  Ebd., S. 99f.

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Seitdem, so scheint es, ist der Mensch nicht länger präsent in den Bildern, die er sich vom Tier macht, um jedoch, genauer betrachtet, umso stärker in deren Vordergrund zu treten: „Der Whippet nimmt unter der Art der Windhunde eine Sonderstellung ein. Während (mit Ausnahme des italienischen Windspiels) alle übrigen Windhundrassen, als älteste bekannte Hundeart, ihre für sie typischen körperlichen Merkmale und wesensmäßigen Eigenarten unter dem überwiegenden Einf luß der jeweiligen Umweltbedingungen erhielten, verdankt der Whippet seine Entstehung ausschließlich menschlichem Zutun.“251

Jo Longhurst knüpft formal an das Bestreben an, ein windhundtypisches Schönheitsideal zu erhalten, zu pflegen und dessen Musterbild in Fotografien zu visualisieren. Abgebildet wurden in der Rassezucht stets solche Vertreter ihrer Art, die sich in besonderem Maße in Rennen, Ausstellungen und der Zucht verdient gemacht haben und deren Physiognomie dem Vorbild, also dem Leitbild des Idealwhippets, in einem möglichst hohen Maß entspricht. (Abb. 4) Wie in den künstlerischen Fotografien von Longhurst ist in den fotografischen Bildern der Züchter und Zuchtvereine der einzelne Hund vor meist hellem Hintergrund freigestellt. Der Körper ist von der Seite dargestellt und so auf die Hochzucht seiner Rassekenn­zeichen hin überprüf bar. Teilweise ist ein Wimpel (Abb. 5) oder eine andere Auszeichnung in die Fotografien integriert. Longhurst verzichtet in ihren Porträts auf diese Beurkundungen der Besitzer. Die Whippets in ihren Fotografien sind zu den Trophäen selbst avanciert. Aussagen, die über die Rassezucht und Optimierung von Nutztieren, also Vieh der Milch- und Fleischproduktion gemacht werden, können größtenteils auch für die Rassezucht von Familien-, Sport- und Ausstellungstieren, sogenannten Showtieren, getroffen werden: „Die Sozialisation der Mensch-Tier-Beziehung findet mittlerweile primär im Kontext der Familie statt, wo Tiere als Familienmitglieder be-

251 |  August Brendel: Der Whippet: Eine Zweckzüchtung für die Rennbahn. Ein Beitrag über die Geschichte seiner Entstehung und Erklärungen über die Besonderheiten seines Aussehens und seines Wesens, in: Deutscher Windhundzucht- und Rennverband e. V. (Hrsg.): Zehntausend und 75 Jahre Hetzhunde/Windhunde, Hamburg 1968, S. 195–201, hier S. 195.

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handelt und gesehen werden. Der Referenzpunkt einer guten MenschTier-Beziehung ist hier eine intensiv gepf legte, die die Einzigartigkeit und die Besonderheit des Tieres in den Vordergrund stellt. Dies schlägt sich auch auf die Anforderungen im Erscheinungsbild nieder. Nimmt man die Rassehundezucht in den Blick, so wird deutlich, dass auch hier Tiere auf menschliche Zwecke hin optimiert werden. Es sind insbesondere Anforderungen an das Erscheinungsbild, die durch Zucht verfolgt werden. So wird beispielsweise das Kindchenschema zum Kriterium beim Mops.“252

Jo Longhursts Interesse ist genau in dieser Thematik zu suchen. Indem sie die Whippets in ihrer Showpositur fotografiert, rekurriert sie auf eine lange Tradition der Tierzucht, welche in der Zuchtverbesserung der äußeren Merkmale der Haustiere der Gegenwart gipfelt; Züchter bezeichnen ihre Praxis selbst als Kulturleistung.253

252 |  Herwig Grimm: Leiden um der Schönheit willen? Zur ethischen Verantwortung in der Tier- und Rassezucht, in: Reiko Rackwitz (Hrsg.): LBH: Proceedings 6. Leipziger Tierärztekongress – Tagungsband 1, Köln 2012, S. 32ff., hier S. 33. 253 |  „‚Wunderschön!‘ ruft der Fachmann angesichts eines Gibber Italicus, und sein Herz schlägt höher‚ ‚perfekt, ein idealer Ausdruck des Rassestandards!‘ Der Laie aber erblasst, wendet sich ab und flüstert: ‚Ist das möglich? Das sind doch Missgeburten. Freaks! Darf man das?‘ Man darf. Kanarienvögel so züchten, dass der Hals dank überzähliger Wirbel extrem lang ist, in einem Winkel von 90 Grad abknickt, dass Schenkel und Brust fast federlos sind. Wie ein trauriges gerupftes Hühnchen sieht der ‚gebogene Positurkanarienvogel‘ aus, aber der Züchter schwört, dass der Vogel glücklich und gesund ist. Es ist noch mehr erlaubt: aus dem unter Aquarianern beliebten Zahnkarpfen unter Verkürzung und starker Verkrümmung der Wirbelsäule einen kugeligen ‚Ballonmolly‘ zu züchten, der nur noch torkelnd schwimmen kann. Und niemand kann einem verbieten, Bulldoggen feilzubieten, die dank züchterischer Langzeitbemühungen kaum noch Luft bekommen, bei Hitze umfallen und sich ohne handgreifliche menschliche Hilfe nicht paaren können. Da die extradicken Köpfe der Welpen nicht mehr durch den Geburtskanal passen, werden die meisten Bulldoggen mit Kaiserschnitt geboren. Die Tierzucht ist eine Kulturleistung.“ Burkhard Strassmann: Verbotene Qualzucht. Monstren und Mutationen, in: Zeit Online, 8. März 2012, http://www.zeit.de/2012/11/ Tierschutz-Qualzucht (letzter Zugriff: 30.10.2017).

Das Tier als Form

Dabei stehen Tierporträts und Zuchtverbesserung in einer Beziehung der Korrelation zueinander, wie Christina Grasseni es für die Anfänge der Tierzucht formuliert hat: „Die neuen Zuchtvereine – mit ihren Zuchtbüchern, Registrierungen und Codes zur öffentlichen Bewertung preisgekrönter Tiere auf institutionalisierten Viehmessen – stellten sicher, dass die charakteristischen Merkmale der Züchtung beachtet, beibehalten und weitergegeben wurden. Durch Auswahl und später Insemination wurden die ‚verbesserten‘ Merkmale der stärksten Rassen an die übrigen Tiere der Herde weitergegeben. Und im Zuge des Kolonialismus brachte die britische Viehindustrie ihre Herden nach Australien, Neuseeland, Südafrika, Nord- und Südamerika. Die Tradition der Tierporträtmalerei, die sich damit etabliert hatte, bildete daher ein wichtiges Instrument in der globalen Strategie der Zuchtverbesserung. Diese Strategie ist jedoch kontrovers, denn sie lässt Fragen der biologischen Vielfalt und der ökologischen Nachhaltigkeit außer Acht“254 .

Jo Longhursts fotografische Porträts in ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ müssen über die Verknüpfung mit der Tradition der Rassezucht auch gelesen werden als ein Verweis auf Physiognomik und Eugenik255, denn bei näherer Betrachtung fallen Brüche in diesem Kunstwerk auf, die es ermöglichen, dem Werk weitgreifende Bedeutungsebenen zuzuschreiben. Eine Idee des perfekten Whippets256, das Vergrößern und Herausarbeiten po-

254 |  Grasseni: Tierdarstellung, S. 100. 255  | Longhurst selbst verweist auf die Nähe zu einer Betrachtungsweise und Aufnahmebedingung menschlicher Physiognomie. „For several years I worked with emminent breeders, photographing their dogs by bloodline, exploring their obsessive quest for the perfect dog. As part of my working process I used a variety of photographic equipment normally used to record and classify human physiognomies, including state-of-the-art technologies“. Jo Longhurst, http://www.jolonghurst.com/docs/more_info.php?id=1:2264:0:0 (letzter Zugriff: 30.10.2017). 256 |  „Die offizielle Anerkennung des Whippets als Rasse erfolgte im Zuge seiner ersten Zulassung zu einer englischen Ausstellung im Jahre 1891. Hatte man anfangs, geleitet von reinen Nützlichkeitserwägungen, auch nicht an die Schaffung einer Rasse mit einheitlichem Erscheinungsbild gedacht, so zeigte sich doch schon im Aussehen eine gewisse Übereinstimmung: ein kleiner, drahtiger von Rennübermut strotzender Hund, dem Typus nach zweifellos ein Windhund.“ Brendel: Der Whippet, S. 196.

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sitiv erachteter Erbanlagen und das Vermeiden und Ausgrenzen negativer Gene, wird von der Künstlerin hinterfragt. Augenscheinlich ist, dass Longhurst die Whippets zwar in der vorgesehenen Pose fotografiert, aber sie lässt kleine Haltungsfehler zu, die in einer Beurteilungssituation durch Preisrichter zu Punktabzug führen müssten. Hinzu kommt, dass sie die Whippets von der Seite darstellt, die nicht dem vorgesehenen Blick des Beurteilenden folgt. D.  h., der Betrachter befindet sich so gesehen auf der gegenüberliegenden Seite des Auf baus. Diese Brüche im Kunstwerk zeigen auf, dass es Longhurst um ein Wechselspiel zwischen der Betrachtung des Whippets als Ausstellungsobjekt und um eine Wahrnehmung desselben als ein individuelles Tier geht und auch darum, wie Menschen das Tier tatsächlich sehen wollen. Longhurst macht in ihrer Arbeit sichtbar, was sich sonst der Aufmerksamkeit entzieht, nämlich das Zurschaustellen und Zur-Schau-gestellt-Werden, das Vorführen und Vorgeführtwerden, das Exponieren und Exponiertsein. Auf diese Weise exponiert – die eigentliche Bedeutung pointiert den Sinn, meint Exponiertsein doch das Herausgehoben-, das Ungeschütztsein – werden die stolzen erhabenen Windhunde zu sogenannten Showdogs und damit zu degradierten Trophäen der Gegenwart. Die Künstlerin unterstreicht dies in ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ durch solche Bilder, welche die Hunde in einer eher geduckten Haltung zeigen und die damit als unterwürfig und devot wahrgenommen werden können. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das Format und die Größe der Bilder. Die Evokation der Unterwürfigkeit wird verstärkt durch die unterlebensgroße Darstellung der Hunde. Im Vergleich zur Widerristhöhe bei Rüden von 47 bis 51 Zentimetern und bei Hündinnen von 44 bis 47 Zentimetern sind sie deutlich verkleinert dargestellt.

2.3 Tierliebe Was man gemeinhin unter Tierliebe versteht, ist ein positivistischer Ausdruck für Besetztheit und Besessenheit und „von einem schamlosen Umgang mit der Kreatur geprägt: ein zum Teil brutales egoistisches Aneignen, Gefangenhalten, Unterwerfen und Ausnützen von Tieren, und sei es nur zu dem Zweck, sich über den beschämenden Zustand der Menschheit – und seiner selbst – hinwegzutrösten.“257

257 |  Gerhard Staguhn: Tierliebe. Eine einseitige Beziehung, Wien 1996, S. 13.

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Damit sind die gezüchteten Hunde in der Arbeit von Jo Longhurst nicht länger die Tiere der Kindheit, die unvoreingenommen, respektvoll und mit oft ernsthafter Emotion verbundenen Tiere, von denen jedes Einzelne als überaus individuell wahrgenommen wird. Kinder vermögen auch Gefühlswelten gegenüber solchen Tierarten aufzutun, die für einen erwachsenen Menschen häufig als nicht liebenswert angesehen werden. All die Schnecken, Regenwürmer und Mäuse entziehen sich der Struppi-, Minka- oder Fifiliebe, wie Gerhard Staguhn sie benennt.258 Longhursts Hunden hingegen gilt eine stereotype Tierliebe, die geprägt ist von einem „Mißverständnis, und dieses beruht auf einem Mißverstehen der Tiere. Die Tiere sind nicht das, wofür sie gehalten werden, sie sind keine Anhängsel des Menschen, kein lebendiger Füllstoff für innere Leere, keine Zierde und Dekoration für menschliche Behausungen, kein Spielzeug für Kinder. Tiere sind keine Objekte für uns, sondern Subjekte für sich. […] Wirkliche Tierliebe hingegen setzt voraus, daß der Mensch anerkennt, daß das Tier anders und ein Anderes ist. Und diese Anerkennung hätte zur Folge, daß der Mensch das Tier so sein läßt, wie es ist, wie die Natur es gemeint hat“259 .

Friedrich Weltzien schreibt über das Werk ‚Hansi‘ von Katharina Moessinger, einem präparierten Wellensittich in einem Vogelkäfig, wie über eine Szene moderner Initiation: „Die hyperrealistische Form des Tierpräparats im Vogelbauer lässt den Schmerz aus der Kindheit, den gewiss ein hoher Prozentsatz aller momentan in den westlichen Industrieländern lebenden Menschen einmal gespürt hat, wieder lebendig werden. Alles ist noch da: Das Futter mit den Jod S11-Körnchen, der Hirsezweig zum Knabbern, sogar der unver-

257 |  Gerhard Staguhn: Tierliebe. Eine einseitige Beziehung, Wien 1996, S. 13. 258 |  „Wirkliche Tierliebe setzt ein ungeheuer großes Herz voraus, um allen Tierarten darin einen Platz zu geben. Aber das ist es gerade, was die Tierliebe zu verdächtig macht: daß die Tiere dabei gar nicht gemeint sind, sondern meist nur jene, die der Tierliebhaber sein eigen nennt. Mit ‚Tierliebe‘ ist tatsächlich nur eine Struppi-, Minka- oder Fifi-Liebe gemeint. Fünfundneunzig Prozent der Tierarten, nämlich jene, die kleiner sind als ein Hühnerei, kommen als Objekte der Tierliebe erst gar nicht in Betracht.“ Ebd., S. 14. 259 |  Ebd., S. 265f.

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wüstliche Spielkamerad aus Kunststoff, von seinem hängenden Gegengewicht unsterblich aufrecht gehalten. Jetzt, nach all der Zeit, vermischt sich dieser Schmerz allerdings mit dem bittersüßen Geschmack der Melancholie, nostalgisch werden wir gewahr, dass die unvermittelte Direktheit der Trauer, die sich damals durch das Kinderherz bohrte, wie Hansi für immer dahin ist.“260

Des Weiteren beschreibt Weltzien, Moessingers Arbeit habe ihn berührt, da er Bewusstsein darüber erlangt hat, dass ihn der Tod eines Tieres nicht länger betroffen macht. Man weint nicht, wenn ein Vogel stirbt, denn, „[d] ie abendländische Subjektphilosophie lehrt uns, dass Tiere nicht sterben können, weil sie nicht über ein reflektiertes Ich verfügen. Sterben können nur Menschen, Tiere hören schlichtweg auf zu existieren.“261 Longhursts Whippets sind, wie viele andere Rassevertreter ebenso, nicht die Tiere der menschlichen Kindheit. Was den Menschen bei dem Ableben des Zuchttieres betroffen macht, ist das Dahinsiechen der eigenen Präsenz. So wird das menschliche Verschwinden durch die Stereo­ typen der Rassezucht aufgehoben, bei welcher ein immerwährender Standard das Überdauern der Lebenszeit eines individuellen Tieres evoziert. Das Verblassen der menschlichen Erscheinung wird des Weiteren durch eine Ersatzschönheit aufgewogen, welche die Makel des Menschen zu nivellieren scheint: „Er kann sich in großem Rahmen (s)eine eigene Welt schaffen – eine Welt mit Räumen und Strukturen, die keineswegs nur seinen überlebensnotwendigen Bedürfnissen entsprechen, sondern seine Vorlieben und Wünsche ausdrücken. Diese Freiheit erschwert den Blick auf die Ursprünge des Schönen, weil sie dieses nicht nur idealisieren, sondern auch, kunstfertig oder einfach nur künstlich, gänzlich umgestalten kann.“262

260 |  Friedrich Weltzien: Katharina Moessinger, in: Ausst. Kat. Tierperspektiven (2009), S. 34f., hier S. 34. 261 |  Ebd. 262 |  Ebd., S. 14.

Das Tier als Form

Der Mensch strebt nach Schönheit und Vollkommenheit, wobei er die Schönheit der Natur in einem darwinistischen Sinne von funktionaler Schönheit unbeachtet lässt. „Am meisten Freiheit hat der Mensch, das Lebewesen, das, wie es so oft heißt, ‚aus der Natur herausgetreten ist‘.“263 Seine gezüchteten Tiere nimmt er bei diesem Heraustreten mit aus ihrem natürlichen Habitat, heraus aus dem natürlichen Verlauf ihrer Fort­pflanzung und aus der damit möglichen Evolution264: Vielmehr geht es insgeheim um den schöpferischen Akt der Zucht265, denn

263 |  Josef H. Reicholf: Der Ursprung der Schönheit. Darwins größtes Dilemma, München 2011, S. 201. 264 |  „Die Entdeckung der Natürlichen Selektion war der geniale Wurf von Charles Darwin und Alfred R. Wallace. Selektion bewirkt Anpassung. Die besser passenden Individuen überleben, statistisch gesehen, häufiger als die weniger gut den Anforderungen der Umwelt entsprechenden. Die Umwelt wirkt wie eine Schablone mit Sieb. Nur solche Lebewesen, die überhaupt in die Schablone passen, kommen für den Test der Überlebenstauglichkeit in Frage. Diesen bestehen nur sehr wenige. Die Umwelt selektiert mit einer Mischung aus Zufall und Notwendigkeit. Klare, strenge Vorgaben gibt es nicht. Solchen folgt nur die züchterische Auslese der Menschen – und bewirkt damit ungleich schnellere Veränderungen als sie in der Natur zustande kommen. Die Vorgaben der Natur bleiben variabel, weil sie nirgends längerfristig im gleichen Zustand verharrt.“ Ebd., S. 181. 265 |  „Die Meinung, daß domestizierte Tiere infantilisiert und nicht vollwertige Tiere seien, daß sie lebenslang im Jugendlichenstadium verharrten, den Menschen als ‚Muttertier‘ akzeptierten, dabei emotional verkrüppeln und nur deswegen die Gemeinschaft mit dem Menschen ertragen würden, kann im Lichte neuer Erkenntnisse über die Entwicklung der Mensch-Tier-Beziehung zurückgewiesen werden. Dessen ungeachtet hat der Mensch durch Qualzüchtungen versucht, den Tierkörper so zu verändern, daß er lebenslang dem eines Welpen ähnelt und damit dem sogenannten Kindchenschema entspricht, das, wie die Entwicklungspsychologie zeigt, Pflege- und Schutzinstinkte hervorruft. Die ‚Auswahl‘ der Tiere, die vom Menschen schließlich domestiziert wurden, läßt Rückschlüsse auf den Wunsch nach Bindung und auf Gemeinsamkeiten bei der Struktur des Wahrnehmungs- und Gefühlsraumes zu. Rind oder Schaf, Katze oder Hund sehen und hören trotz sinnesphysiologischer Unterschiede im großen und ganzen das, was auch der Mensch sieht und hört, auch wenn die Nase des Hundes feiner, das Ohr der Katze schärfer, ihre Sinnesorgane damit differenzierter sind.“ Hanna Rheinz: Eine tierische Liebe. Zur Psychologie der Beziehung zwischen Mensch und Tier, München 1994, S. 31f.

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„Tiere können für uns schön sein. Ersatzschön. Die übergewichtige Hundenärrin mit dem Windhund lebt in einer Symbiose: Der eine braucht ein Dach über dem Kopf, die andere bewundernde Blicke.“266 „Wir Menschen lieben einander – zumindest an guten Tagen – wegen unseres Geistes […]. Aber unsere Haustiere lieben wir wegen ihrer Körper“267.

Die ästhetische Selbstbegründung und -beglaubigung mitsamt ihren Praktiken, den eigenen Körper zu stilisieren, scheitert immer häufiger an solchen Anforderungen und Erwartungen, die geprägt werden durch medialisierte Idealbilder. Kann der Mensch diese nicht erfüllen, scheint er sich ein Ventil zu schaffen bzw. zu erschaffen. Er verlagert kurzerhand das Sehnsuchtsbild von seiner eigenen Körperlichkeit auf das des Anderen, denn „[i]m Anschauen des Schönen lieben wir uns selbst; Schönheit, heißt das, ist das Versprechen des Glücks als Versprechen.“268 In diesem Sinne greift der Mensch zum Symbol: „Ohne ihren physiologischen Ursprung zu unterschlagen, können wir dann feststellen, daß ‚Schönheit‘ nur Menschen eignet und daß der unterstellte sense of beauty anderer sexueller Lebewesen also eine anthropomorphe Projektion ist, die freilich auch auf uns selbst zurückschlagen kann. Menschlicher Schönheitssinn aber, so können wir vermuten, schafft nicht nur Anziehung, Attraktivität, er distanziert und sublimiert zugleich. Er genießt das Versprechen, er will nicht berühren, er ‚imaginiert‘ Bilder, muß sie nicht ‚verwirklichen‘. Nur so können wir verstehen, daß es nicht nur reizende Mädchen- und Knabenkörper gibt, sondern auch anmutige Landschaften mit ihren sanften Hügeln, Pastellfarben und ununterbrochenen Linien [und so auch anmutige Tiere mit besonderen Alleinstellungsmerkmalen – M.M.]. […] Daß wir schön finden, was uns ihr Bild zurückwirft. Daß wir uns, buchstäblich, in solche Bilder verlieben – und in uns selbst beim Betrachten von Bildern; und

266 |  Claus-Peter Lieckfeld: Tierliebe – ein Menschending. Warum wir lieben, was sich nicht wehren kann, in: Ausst. Kat. Mensch und Tier (2002), S. 29–37, hier S. 33. 267 |  Andreas Platthaus: Von Mickey Maus zu Copy Cat. Der Einbruch der Wirklichkeit in das Spiel, in: Ausst. Kat. Mensch und Tier (2002), S. 38–50, hier S. 38. 268 |  Raimar Zons: Die Macht der Schönheit. Eine Einleitung, in: Cathrin Gutwald/ders. (Hrsg.): Die Macht der Schönheit, München 2007, S. 9–34, hier S. 34.

Das Tier als Form

daß Katachresen, Bildbrüche, auf einen Schlag nicht nur alle Illusionen, sondern auch den Reiz dieser auf keimenden Liebe wieder zerstören.“269

Der Mensch ist in jedem Bild des Tieres bereits präsent, unwesentlich, ob es sich um ein Vorstellungsbild oder eines der tatsächlichen Bildproduktion handelt. Davon ausgehend, dass er sich einschreibt in das Erscheinungsbild, den Körper des Tieres, muss die Sprache sogar von einer Überpräsenz sein, da der Mensch dadurch wesentliche Merkmale des Tieres verdrängt. Er schreibt seine Spiegelwünsche, sein Streben nach Perfektion, seinen Schöpfungsdrang ein in den Körper des anderen Lebewesens. Dass sich diese Art der ästhetischen Selbstbegründung des Menschen durch Projektion auf das Tier entdecken lässt, in der fotografischen Arbeit Longhursts, mag auch darin begründet sein, dass sie den Blick des Betrachters auf den tierlichen Körper konzentriert – und dies in einer Weise, die Unbehagen schafft. Jeder Bereich des tierlichen Körpers wird immens wichtig, Longhurst zelebriert jedes Detail.

Exkurs: Wim Delvoyes Art Farm Das Einschreiben ästhetischer Selbstbegründung in den Körper anderer Lebewesen wird von Jo Longhurst auf subtile Weise in ihrem Werk verankert. Erst über das Dechiffrieren der Insignien der Rassezucht kann der Rezipient eine Verbindung zum Aspekt menschlicher Überpräsenz und damit zu einer Anwesenheit des Menschen in den Fotografien herstellen. Der Rezipient selbst ist so immer schon im Bild oder, wie William J. Thomas Mitchell es vermerkt hat: „Denn was auch immer dieses Bild ist – wir selbst befinden uns […] immer schon in ihm.“270 Der abgebildete Körper der Tiere ist Repräsentat und Surrogat gleichermaßen. Tiere „stellen nicht Körper um ihrer selbst willen dar, sondern drücken mit dem Körper eine Idee […] aus, die sie verkörpern. Die dargestellten [und zur Schau gestellten – M.M.] Körper sind gleichsam Stellvertreter, die anschaulich machen, was sich sonst der Anschauung entzieht [bzw. sich

269 |  Ebd., S. 27f. 270 |  Mitchell: Das Leben, S. 15.

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somit der Anschauung nicht zu entziehen vermag – M.M.] und nur gedacht werden kann oder geglaubt werden muss.“271

Was hier in einem anderen Kontext von Belting beschrieben wird, lässt sich auf den tierlichen Körper als Medium übertragen. Der eigentliche Körper hat sich durch das Bildvermögen des Menschen in eine bestürzende Erfahrung der Absenz verwandelt, da die antizipierte Wirklichkeit nur mehr als Modell, als eine Reliquie der Erinnerung, als Erscheinung überlebt.272 Der tierliche Körper ist Teil der menschlichen Bildproduktion und als ein solcher stellt er ein Sichtbarkeitsgebilde, einen Gegenstand aus reiner Sichtbarkeit dar. Für das Projekt ‚Art Farm‘ tätowierte Wim Delvoye bis zum Jahr 2008 lebende Schweine auf einer Farm in Yang Zhen, Peking, nachdem er zuvor aus Schlachthäusern bezogene Häute von Schweinen tätowiert hatte.273 Eine Auseinandersetzung mit dem Körperhaften und der Bedeutung des tierlichen Körpers tritt in seiner Arbeit dabei besonders deutlich in Erscheinung und visualisiert auf teilweise plakative Weise das (Ab-)Bilden des tierlichen Körpers. Auf der Kunstfarm in China – Delvoye musste einem richterlichen Beschluss Folge leisten und das Tätowieren der Tiere in Europa einstellen – lebten bis zu 24 Schweine unter, möchte man im Vergleich die Massentierhaltung anführen, verhältnismäßig guten Bedingungen. Die Tiere hatten ausreichend Platz in den Ställen, Auslauf, konnten sich suhlen und wurden von mehreren Angestellten Delvoyes gepflegt. Sie wurden auf der Art Farm großgezogen, bis sie ein Gewicht von ca. dreißig Kilogramm erreicht hatten und damit als tätowierfähig galten. Delvoye beschäftigte einen Stab Assistenten, die sich um das Reinigen der Ställe, die Fütterung der Schweine, das Eincremen und das Vorbereiten der Tiere kümmern sollten. Der Tätowierprozess erfolgte dann nach Sedierung des Tieres und wurde in mehreren Sitzungen vollzogen. Die Haut der Schweine wurde mit Vaseline behandelt und durch Lotion vor dem Sonnenlicht geschützt. Dass das Tätowieren für die Tiere ein traumatisches Erlebnis darstellte und ihnen meist unausweichlich die Schlachtung bevorstand, ist dem Werk immanent. Inwiefern der Betrachter dies jedoch auszublenden vermag, hängt

271 |  Belting: Repräsentation, S. 29. 272 |  Vgl. Frohne: Berührung, S. 401–426, hier S. 422. 273 |  Vgl. Wim Delvoye: Art Farming: 1997-2006, Künstlerbuch, Brugge 2007.

Das Tier als Form

damit zusammen, dass das Schwein, per se ein Tier der Schlachtung, der Einverleibung und des Nutzenerbringens, wenig eindeutige Gefühle im Menschen hervorruft, obwohl es eines der frühesten domestizierten Tiere der Zivilisationsgeschichte ist. Physiologisch sind sich Menschen und Schweine sehr ähnlich. Dies betrifft sowohl die Beschaffenheit des Fleisches als auch die Struktur des Fettgewebes. Delvoye verwendet sogenannte weiße Schweine, die eine helle rosige Haut aufweisen, welche als ein Analogon zu der westeuropäischen menschlichen Haut verstanden werden kann. Die Haut menschlicher und nichtmenschlicher Tiere gleicht sich in vielerlei Hinsicht mehr, als dass sie sich unterscheidet, und so lassen sich Parallelen ziehen und Aussagen treffen, die für beide Spezies gültig sind. „Die Haut des Menschen hat ganz unterschiedliche Funktionen. Insbesondere bietet sie Schutz vor Wärme, Kälte und gewissen Strahlungen, weiterhin vor dem Eindringen bestimmter Mikroorganismen und anderen schädlichen Einf lüssen von außen. Zudem be­w ahrt sie den menschlichen Körper vor Wärme- und Wasserverlust. Darüber hinaus ist die Haut das größte Sinnesorgan des Menschen, über das er mithilfe unterschiedlicher Rezeptoren Schmerz, Wärme, Kälte oder auch Vibrationen und Druck wahrnehmen kann. Diesen eindrücklichen Wahrnehmungen stehen aber auch eine Reihe von Ausdrucksmöglichkeiten gegenüber, mit der die Haut Signale an die Umwelt weitergibt, die Hinweise auf die Verfassung des Menschen geben können. So kann die Haut erröten oder erblassen, man kann eine ‚Gänsehaut‘ bekommen und über gewisse Drüsen in der Haut Pheromone aussenden. Auch in dieser biologischen Perspektive ist die Haut Mittler zwischen Innen und Außen, gehört sozusagen zwei Welten an. Die enge Verbindung von Haut und Innenwelt zeigt sich z.B. in dem Ausspruch ‚Die Haut als Spiegel der Seele‘, der darauf hindeutet, dass die Haut als Ausdrucksf läche besonders sensibel auf psychische Belastung reagiert.“274

Wenn Delvoye ein Schwein tätowiert, so hebt er den tierlichen Körper in einer zweiten Stufe in die Abbildhaftigkeit. Er schreibt ein Bild in die Haut ein, welches wesentlichen Anteil an der Gestalt und an dem Erscheinungsbild des Tieres hat. Die Tatsache, dass das Schwein kein Recht an seinem Bild hat,

274 |  Oliver Bidlo: Tattoo. Die Einschreibung des Anderen, Essen 2010, S. 38.

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verdeutlicht, dass es sich lediglich um das Einschreiben anthropologischer Informationen handeln kann. Das tätowierte Schwein wird einmal mehr zu einer Reproduktion gesellschaftlicher Spiegelwünsche, seine Haut zur Projektionsfläche, im Gegensatz zu einem Menschen, der sich bewusst für eine Körpermodifikation entscheidet und so den Übergang „vom Körper hin zum spezifischen Selbst, das sich zeichenhaft […] zu repräsentieren sucht“275, gewährleistet. „Die Haut ist eine besondere Oberfläche. Sie ist Trennwand zu(m) anderen, eine Grenze des Individuums zu seiner Außenwelt, eine Demarkationslinie zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Du, die nicht ohne weiteres überschritten werden kann.“276 Durch das Einschreiben von Informationen in die Haut der Tiere wird diese Grenze jedoch überschritten: „Die Verfügung über die Haut des Anderen war und ist immer auch an Herrschaft und Macht gekoppelt.“277 So wie bei Delvoye die Haut als Träger einer Markierung nicht länger eine bloße Trennung zwischen Individuum und seiner Umwelt darstellt, ist es in Kafkas Erzählung ‚In der Strafkolonie‘ die Inschrift, die sich in ihrer Bedeutung im Körperhaften manifestiert: „Eine bis in feinste Details ausgetüftelte Apparatur graviert dort den Delinquenten Gebote in die Haut, bis sie nach langen Stunden an den Folgen dieser Folter sterben. […] Die in die Haut geritzten Gebote be­ inhalten jeweils die Vergehen der Verurteilten. Interessanterweise kennt dieser seinen individuellen Lehrsatz vor Ausführung der Strafe nicht: ‚Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib‘ – die Inschrift soll sich explizit ‚im Körper vollziehen‘“278 .

Was sich in der Arbeit von Wim Delvoye im Körper der Schweine vollzieht, ist eine grenzüberschreitende aggressive Geste anthropozentrischen Bildvermögens. Delvoyes Tätowierungen können in einem Kontext der

275 |  Ebd., S. 40. 276 |  Liane Schüller: Haut als Metapher – Anatomie einer literarischen Oberfläche, in: I.K.U.D. (= Schriftenreihe für Kunst und Designwissenschaften IV),herausgegeben im Institut für Kunst- und Designwissenschaften von Susanne Düchting und Kerstin Plüm, Münster 2011, S. 116–125, hier S. 116. 277 |  Bidlo: Tattoo, S. 24. 278 |  Ebd., S. 17.

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Erinnerungskategorien von Schrift, und im Besonderen von Inschrift279, gelesen werden. Cordula Meier stellt zu einer speziellen Situation der Inschrift fest, dass „[e]ine besondere Eigenschaft, die die Inschriften begleitet, […] die Dauer­h aftigkeit [ist]. Inschriften werden aus keinem kurzweiligen Anlaß gemacht, sondern sie tragen den Sinn des ‚immer gegenwärtigen Seins‘, unabhängig von ihrer inhaltlichen Thematik, in der Konzeption mit. Zudem kommt der Inschrift, bezogen auf einen Wahrheitsgehalt, eine besondere Bedeutung zu: Mit einer mündlichen Überlieferung wird nicht zwingend die Verantwortung für den Wahrheitsgehalt des Überlieferten getragen. Die Inschrift schafft zunächst einen Wahrheitsanspruch auf Dauer.“280

Damit schreibt der Künstler den Sinn ‚immer gegenwärtigen mensch­lichen Seins‘ nach Vilém Flusser dauerhaft in die Haut – hier des Tieres – ein und drängt so nicht nur das individuell tierliche, sondern auch das kollektiv Eigenartige des Tieres in den Hintergrund.281 Durch dem der Inschrift

279 |  „Mit Hilfe der Etymologie wird deutlich, daß Schreiben ursprünglich bedeutete, etwas mit einem Gegenstand einzuritzen oder einzugraben; dies zeigen sowohl das lateinische scribere – ritzen – und das griechische graphein – graben. In der Regel schreibt man heute meist derart, daß Farbe auf eine Oberfläche aufgetragen wird, d.h., man macht Aufschriften und nicht wie anfänglich Inschriften.“ Cordula Meier: Kunst und Gedächtnis. Zugänge zur aktuellen Kunstrezeption im Licht digitaler Speicher, München 2002, S. 70. 280 |  Ebd. 281 |  Der künstlerische Akt des Schreibens in beziehungsweise auf menschliche Haut imitiert, wie exemplarisch in Jenny Holzers ‚Lustmord‘ oder Oliviero Toscanis Kampagnen für das Unternehmen Benetton, die Unmittelbarkeit, Direktheit und unausweichliche Präsenz einer Einschreibung wie die einer Tätowierung: „Die Schrift auf der Haut hat sowohl bei Benetton als auch bei Holzer einen mittelbläulichen bis violetten Ton, ähnlich wie man ihn von Tätowierungen kennt. Die Schrift auf der Haut schreibt sich ein in eine lange, negativ belastete Tradition: die Numerierungen auf der Haut der Häftlinge in den deutschen Konzentrations­ lagern während des Zweiten Weltkrieges.“ Ebd., S. 90. — Die Haut wird bei Holzer „zum einen Grundlage einer Inschrift, wie man sie von Gedenkstätten kennt. Die Schrift auf der Haut ist dabei auch für ein zukünftiges Ende zu sehen. Die Schrift zeigt offenkundig die Erinnerung an Vergangenes an und prognostiziert in diesem Fall den Tod in der Zukunft: Die Gründe für den Krieg im ehemaligen Jugoslawien liegen im Historischen, im Vergangenen. Die Spuren auf der

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inhärenten Wahrheitsanspruch lassen die Tätowierungen Delvoyes keinen Zweifel zu: „Die Inschrift schafft damit ihre eigene Instanz der Legitimation. Sie ist genau genommen autorlos, beansprucht aber qua Institution, einen Autor von höherer Instanz zu haben“282, was sich im Sinne des Menschen als höher gestelltes Wesen in Delvoyes tätowierten Schweinen gleichsam mehrfach nachvollziehen lässt. Diese künstlerische Auseinandersetzung mit der Körperoberfläche der Schweine bedeutet eine Auseinandersetzung mit dem leiblichen raumgreifenden Körper und „[d]ie visuelle Rhetorik der Außenhaut ist immer auch ein Reden über Internes. Die Kunst der Körperoberfläche will dem Innersten nahe kommen durch Thematisierung des Äußeren“283. Der Künstler möchte der Gesellschaft ein großes verzerrtes Spiegelbild vorhalten. Wenn er einen tierlichen Körper über und über mit einem Markenbranding wie dem des Herstellers Louis Vuitton versieht – jedes junge Mädchen in China wünscht sich eine Handtasche dieses Fabrikats, so Delvoye – oder einen Körper mit den Helden und Prinzessinnen der Disneyfilme verziert und dann mit dem Duktus der stilisierten Unterschrift von Walter Elias Disney mit seinem eigenen Namen signiert, liegt auf den ersten Blick

Haut lassen Vergangenes erinnern und verweisen auf Zukünftiges, hier auf die Situation vieler Frauen im Krieg.“ Ebd., S. 94. — Die Spuren auf der Haut der Schweine hingegen verweisen nicht auf Vergangenes oder Künftiges im Leben der Tiere. Die tätowierten Schweine tragen menschliche Embleme als Menetekel der unausweichlichen Darstellung ihrer Körper als Objekte der Schaulust. Es ist, als habe Delvoye die Projektion menschlicher Spiegelwünsche unmittelbar in die Haut der Tiere eingeschrieben. Damit macht der Künstler sichtbar, was sich sonst nur als Vorstellungsbild präsentiert. Indem er die Schweine mit einer Inschrift versieht, knüpft er ebenso an die von Cordula Meier auf Holzers ‚Lustmord‘ bezogenen Gedanken Nietzsches (vgl. ebd., S. 92) aus dessen ‚Genealogie der Moral II‘, 1887, an: „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis – das ist ein Hauptsatz der allerältesten […] Psychologie auf Erden.“ In den Tätowierungen der Schweine Delvoyes brennt sich die Präsenz des Menschen ein in das Bewusstsein des Tieres. Wenn Cordula Meier die Texte aus Jenny Holzers ‚Lustmord‘ rezeptionsästhetisch als Wortfetzen interpretiert, „die für den Rezipienten aus drei Perspektiven verstehbar werden: aus der Perspektive des Täters, des Opfers und desjenigen, der zurückbleibt“ (ebd., S. 94), ist offenkundig, dass in der Arbeit Delvoyes ein anderer Rezeptionsansatz greift. Täter und Zurückbleibender verschwimmen in der Rezeption der Schweine und werden zu einer Person. 282 |  Ebd., S. 70. 283 |  Harald Kimpel: Skinscapes. Die Kunst der Oberfläche, Marburg 2008, S. 7.

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eine Glücksverheißung vor, welche durch die Assoziation zum Materialgebrauch der tierlichen Haut als Leder gebrochen wird. (Abb. 6) Gleichzeitig erinnert die rosige Haut an unsere eigene und wirft den Betrachter so schnell auf seine eigene Körperlichkeit zurück. Der Mensch, das zeigt Delvoye fast reißerisch, ist gleich mehrfach präsent: in den Insignien der Rassezucht, in seiner biologischen Nähe zum Tier und durch die tätowierte Inschrift. So ist „[d]er fremde Körper, dessen Schrift ich lese, […] physisch abwesend und gleichzeitig als die Spur des Rhythmus seiner Hand anwesend.“284 Es sei an dieser Stelle auf ein ästhetisches Phänomen verwiesen, welches des Weiteren von Interesse für die Suche nach dem konkreten Tier sein wird: Delvoye arbeitet mit dem Stilmittel der Idylle, hier, um genauer zu sein, mit der von Julia Wirxel definierten gebrochenen Idylle285. Er zieht einzelne Tierindividuen auf seiner Kunstfarm auf, gibt ihnen Namen286 und schreibt Bilder menschlicher Wünsche und Ideale, so zum Beispiel Charaktere aus Disneyproduktionen287, religiöse Motive und das genannte Markenlogo, in ihre Haut ein. Schon die Bezeichnung ‚Art Farm‘ impliziert etwas Idyllisches. Mit Farmen wird kollektiv etwas Positives, geradezu Natürliches assoziiert. Farm steht in unserem Sprachgebrauch im Gegensatz zu Massentierhaltung und Mast. Das die Idylle irritierende Moment ist Delvoyes Werk immanent. Die fertig tätowierten Schweine (der Kunstmarkt wartete nur darauf, dass die Bilder der Schweine ‚heranreiften‘) werden in Glas­v itrinen wie 1998 im Museum Dhondt-Dhaenens in Deurle, Belgien (Abb. 7), lebendig umringt von zweidimensionalen Bildern ausgestellt, oder ihnen steht die Schlachtung bevor, ihre Körper werden entweder per

284 |  Alois Hahn: Körper und Gedächtnis, Wiesbaden 2010, S. 118. 285 |  Gebrochene Idyllen entsprechen aufgrund ihrer Gebrochenheit – mit diesem Begriff wird auf die Komplexität und die vielfältigen, im Werk angelegten Ebenen durchdringende und miteinander verwobenen Aspekte hingewiesen, die eine alles erfassende Transparenz und Eindeutigkeit unmöglich machen – zwangsläufig dem zeitgenössischen Kunstwerkcharakter. Vgl. Julia Wirxel: Idyllen in der zeitgenössischen Kunst, Oberhausen 2012, S. 14f. 286 |  Siehe hierzu die Ausführungen Jacques Derridas zu dem Verhältnis von Benennung und Machtausübung. Derrida: Das Tier, S. 26ff. 287 |  Es wurden überwiegend solche Bilder tätowiert, die menschliche Wesen darstellen. Aber auch Donald Duck und Mickey Maus werden neu interpretiert: An ein Kreuz genagelt, blutend und mit verschlossenen Augen, stirbt Mickey gewissermaßen für all die anderen Mäuse, Hunde, Enten, Fische und Schweine.

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Taxidermie zu Skulpturen, Trophäen weiterverarbeitet oder aber ihre Häute werden auf bereitet, aufgespannt, ausgestellt. Und auch die Häutung weist auf eine im Kontext der Bildwissenschaften interessante Form der Verbildlichung hin. ‚Sich ein Bild machen‘ spielt in der Fotografie nicht zuletzt auf den Mythos um Marsyas und Apoll an.288 Das Häuten zeigt einmal mehr die Vielschichtigkeit des Bildermachens auf und bleibt als solche in der Rezeption auf der Ebene des ästhetischen Geschehens verhaftet. 289

288 |  Vgl. hierzu: Michael Reinhard Heß: Häutungen – Der Marsyas-Mythos und seine Folgen, in: Sigrid Weigel (Hrsg.): Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München 2007, S. 211ff.; Ursula Renner/Manfred Schneider (Hrsg.): Häutung. Lesarten des Marsyas-Mythos, München 2006. 289 |  „Die spiritistischen Photographen Ende des 19. Jahrhunderts tragen als Trophäe die Haut des Geistes heim in die nüchterne Welt des Sichtbaren. Doch bereits einer der ersten – und zugleich originellsten – Kommentatoren der neuen Erfindung der Photographie, Oliver Wendell Holmes, der als Publizist, vor allem aber als Jurist Berühmtheit erlangte, unternimmt eine neue Deutung des antiken Mythos […] am Leitfaden der Photographie: […] Allgemein verbreitet und akzeptiert ist die Version, dass ein junger Hirte Minervas Flöte gefunden hat und naiv genug war, um einen musikalischen Wettkampf mit dem Gott der Musik einzugehen. Natürlich wurde er besiegt, und der Sieger fesselt ihn an einen Baum und häutet ihn bei lebendigem Leibe. Aber der Gott des Gesangs war ja gleichzeitig der Gott des Lichts“. Bernd Stiegler: Bilder der Fotografie. Ein Album fotografischer Metaphern, Frankfurt am Main 2006, S. 121. Und so deutet Holmes den Mythos subtil als einen Vorgang des Abbildens durch Licht, so wie auch in späteren Versuchen, eine Erklärung für das Abbilden durch Fotografie zu finden, die Sprache von ‚Eidola‘ – einem Häutchen, einer Schicht eines Körpers ist, welche durch Macht der Fotografie abgelöst wird. „[U]nd die Photographie überrascht ihn, zieht ihm eine Schicht des Körpers ab und bewahrt sie auf. Daher kommt es für den Körper zu einem offenkundigen Verlust eines seiner Häutchen und mit ihm eines Teils seines konstitutiven Wesens.“ Ebd., S. 85. Was Stiegler hier als Metapher der Fotografie nach Nadar zitiert, ist, wenngleich esoterisch anmutend, ein treffendes Schaubild für das, was ‚ein Bild vom Tier machen‘ heute bedeuten kann.

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2.4 J o Longhursts ‚I know what you’re thinking‘ — Über ein trügerisches Glücksversprechen Vier hochformatige Fotografien, überlebensgroß in ihrer Darstellung, bilden die Reihung ‚I know what you’re thinking‘ (Abb. 8), welche wie auch ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ dem Werkkomplex ‚The Refusal‘ zugehörig ist. Die in der Hängung der Künstlerin außen links angeordnete Fotografie zeigt, wie auch die drei weiteren, ein Dreiviertelporträt eines Whippets. Rekurrierend auf klassische Kniestücke, die vornehmlich das Wesen des Porträtierten zum Ausdruck bringen sollten, fokussiert die Künstlerin das Tier en face und verzichtet in ihren Abbildern auf die Darstellung von Beinen, Rumpf und Rute. Die Frontalansicht des tierlichen Gesichtes – die Kamera zeichnet nur in einer der Aufnahmen die Augen des Hundes scharf, die Ausdehnung der Schärfentiefe ist in allen Porträts gering – suggeriert vorerst eine Gegenüberstellung von Betrachter und Bildobjekt. Je nach genauer Positionierung der Hunde ist nur die Augenpartie scharf gezeichnet oder aber auch Nase und Schnauze. Der Brustkorb der Tiere ist zum unteren Bildrand hin zunehmend unschärfer. Dies erinnert an das Handschriftliche des malerischen Duktus. Zwei der Whippets haben eine sitzende Haltung eingenommen, was unausweichlich auf die Anwesenheit eines Dresseurs, eines Herren verweist, gehört das Sitzen in einer solch aufrechten Pose doch nicht zu dem natürlichen Gebaren von Hundeartigen. Die beiden linken Porträts wurden im Stand porträtiert, was an der Haltung der Schultern auszumachen ist. Der Hund der äußeren linken Bildtafel mit gestromertem Fell hat die Ohren leicht an den Kopf angelegt, ein Kunststofffaden hängt locker neben seinem Kopf und löst sich optisch im linken Bildraum auf. Seine tiefschwarzen Augen wirken im Vergleich – und diesen stellt der Betrachter unmittelbar zwischen den Individuen her – besonders groß und rund, in ihnen sind die Reflexe der Lichtquelle der Studiosituation auszumachen. Die Fotografin scheint sich in ihnen widerzuspiegeln. Wie auch in ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ ist der Umraum des Bildes von jeglichen Verweisen befreit290, der eng beschnit-

290 |  Der die Hunde umgebende Umraum ist leer. Weder Zitate noch Attribute deuten hin auf das, was für die Haustierfotografie der Amateure ausnahmslos zu gelten scheint: „Die Tiere wirken austauschbarer als ihre Umgebung. Man erfährt mehr über Wohnungseinrichtungen, Teppichböden, Wandschmuck oder Bekleidungsstücke in diesem oder jenem Jahrzehnt als über die abgebildeten Tiere. Ironischerweise wirken diese für den distanzierten Betrachter

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tene Bildraum, ebenfalls resedagrün, lässt die Windhunde förmlich wie auf dem Bildgrund appliziert wirken. Das Hochformat antwortet auf die gestreckten Hälse und die aufrechte Position der Tiere. Der Hund auf der Fotografie rechts neben ersteren hat ein schwarzes Fell. Lediglich um Nase und Maul, an welchen Spuren von Erde erkennbar sind291, lassen sich einige hellgraue und weiße Haare ausmachen. Seine Augen sind ebenfalls so dunkel, dass die Konturen von Augen und Fell ineinander übergehen. Das Gehänge ist derart an den Kopf angelegt, dass es auf der Fotografie fast nicht zu sehen ist. Den Hals umschließt ein durchscheinender, in dieser Abbildung gespannter Kunststofffaden, der im oberen linken Bildrand in einem nicht abgebildeten Raum verschwindet und so vom Betrachter weitergedacht werden kann. Dass sich an seinem Ende eine ausführende menschliche Hand befindet, ist anzunehmen. Die Art, in der Longhurst die Leine durch einen transluzenten Faden ersetzt, der einerseits in den Bildhintergrund gerückt nur schwach sichtbar ist, andererseits in der Rezeption der Fotografien umso deutlicher in den Vordergrund der Betrachtung rückt, lässt an die Fotografien AndréAdolphe-Eugène Disdéris denken, der neben fotografischen Studioaufnahmen von Hunden auch seinen eigenen Hund namens Corral porträtierte. Während die Auftragsfotografien die Hunde mit ihren Besitzern zeigen oder aber die Hunde vor den artifiziellen Hintergründen im Studio darstellen, nimmt Corral eine gesonderte Position in seinen Bildern ein. Disdéri zeigt seinen Hund in alltäglichen Situationen, der Umraum erscheint beliebig. Vielmehr macht es den Eindruck, als sei es dem Fotografen um den Blick des Tieres und dessen individuelle Körperhaltung gegangen, die

wie Leerstellen. In fremde Hände gelangt, droht der Hintergrund das besetzte Objekt, ohne welches es die Aufnahme nicht gäbe, zu verdrängen.“ Bernhard Kathan: „‚Creda‘ — Meine kleine Seele!“ Das Tierbild in der Amateurfotografie, in: Eskildsen/Lechtreck: nützlich (2005), S. 111–117, hier S. 112. 291 |  Dass Longhurst ein besonderes Interesse an den Details hat, welche in ihrer Abbildung die Perfektion unterlaufen, verweist auf ihr Interesse an einer Divergenz zwischen Faszination des Zuchtbildes und einer Suche nach dem ‚konkreten Tier‘. „When making images of generations of prize show Whippets it ist he detail that interests me; the coursing injuries — the lost toe, the missing nipple; the old champion who has arthritis and can barely stand; the unique combinations of coat colour and pattern; and the family likenesess, which parallel the magic of our own.“ Jo Longhurst: Perfectibility. The Whippet as a mode of enquiry, Dissertationsschrift, London 2008, S. 85.

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nicht erzwungen oder posenhaft scheint. Einer der Album­indrucke292 Disdéris zeigt Corral auf einem holzbeplankten Fuß­boden liegend. Der Hund hat seine linke Vorderpfote zu seiner Brust hin angezogen, sein rechtes Vorderbein ist entspannt ausgestreckt. An dem leicht abgespreizten sichtbaren Hinterlauf und der daneben ruhen­den Rute lässt sich ablesen, dass der Hund entspannt und ruhig ist. Lediglich der wache Blick, das aufgestellte Gehänge und der zu der Kamera hin erhobene Kopf zeigen seine Aufmerksamkeit dem Fotografierenden gegenüber. Im Hintergrund ist ein dunkles, hölzernes Brett sichtbar, hinter welchem zwei Schuhe und Hosenbeine erkennbar sind; mehr ist von dem Menschen im linken oberen Bilddrittel nicht sichtbar. Der Eindruck der in den Hintergrund gerückten menschlichen Präsenz wird nur durch einen Bildgegenstand getrübt, welcher an einem weiteren fast identischen Albumindruck deutlich erkennbar wird, wenngleich dieser immer schon Teil der Szenerie war. Das Bild, es mag den Moment kurz vor oder nach der zuvor beschriebenen Fotografie festhalten, zeigt Corral in fast identischer Haltung, jedoch mit geringer Bewegungsunschärfe um dessen Kopf. Ein signifikanter Unterschied lässt sich dennoch ausmachen: Ein weißer Strick, behelfsmäßig geknotet, ist am Hals des Hundes festgemacht und ragt gespannt in den linken oberen Bildteil, so als halte die schemenhafte Person hinter der Tür das Tier an einer Leine. Mit dem Wissen um diese lässt sich in der ersten Abbildung erkennen, was immer schon dort war: Unter der etwas zu dunklen Retusche ist auch dort der Strick auszumachen, der den Hund fixiert. Mit der Wahrnehmung der Leine kehrt die Präsenz des Menschen deutlich verstärkt in das Bild zurück. Das Retuschieren Disdéris zeugt von dessen Bedürfnis, seinen Hund ohne die Leine als Zeichen menschlicher Obrigkeit darstellen zu wollen. Die Leine und so auch das Halsband sind Kontrollmittel, die vermögen, das Tier an den Menschen zu binden, es festzuhalten, zu erziehen und zu tadeln, es in seiner Körperlichkeit einzuschränken. Der Fotograf wird die Leine in dem Porträt als störend empfunden haben, da sie einen Bund zwischen Hund und Besitzer negiert, der auf eine materielle Verbindung verzichtet. Dass Jo Longhurst statt einer Leine einen Kunststofffaden benutzt, um die Hunde für ihre Fotografien in Positur zu setzen, spiegelt die Ambivalenz wider, mit der sie den Betrachter der

292 |  André-Adolphe-Eugène Disdéri: ‚Corral, le chien de André Adolphe Eugène Disdéri‘, o. D. [zwischen 1850 und 1870], Albumindrucke auf Karton, 6,1 cm × 7,7 cm, Musée d’Orsay, Paris.

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Porträts konfrontiert. Die Whippets zeugen gleichermaßen von der Überpräsenz des Menschen wie von dem Wunsch, diesen tierlichen Individuen eine Präsenz über ihren Show- und/oder Haustierstatus hinaus eingestehen zu wollen. Das dritte Porträt aus Longhursts ‚I know what you’re thinking‘ zeigt einen hellbraunen Windhund. Vergleicht man sein Erscheinungsbild mit dem der anderen drei Hunde, wirkt seine Statur wesentlich massiger, der Schädel breiter, das Kinn gereckt. Seine Augen, nur in diesem einen Porträt liegt die Schärfe genau auf der Augen- und Nasenpartie, sind weniger weit aufgerissen und seine Ohren liegen nicht am Kopf an, sondern hängen locker, aber doch aufmerksam hinunter. Dieser Hund sitzt wesentlich aufrechter als die anderen drei. Das ganz rechte, vierte Porträt zeigt ein braun-grau gestromertes Tier. Sein Hals, und dies ist besonders auffällig, ist unnatürlich lang gestreckt und schief. Seine Haltung wirkt nicht nur dressiert und anerzogen, sondern in Gänze erzwungen. Der Knochen oberhalb seines rechten Laufes steht hervor, die Ohren sind vollständig an den Kopf angelegt. In dieser Fotografie ist erneut ein gespannter Kunststofffaden über dem Kopf auszumachen, welcher hier in die obere Bildmitte ragt. Auf diese Weise in Pose gerückt, fühlt man sich erinnert an Marionetten, durch Fäden bewegbare Gliederpuppen, die in ihrer Bewegung die Impulse des Puppenspielers übertragen und so sichtbar werden lassen. Der Titel ‚I know what you’re thinking‘ unterwandert subtil die grundsätzliche Idee des Dargestellten, beschreibt dieser nicht das, was zu sehen ist, sondern das, was der Betrachter zu sehen glaubt, besser, zu wissen sich erhofft. Mehr noch, der Ausruf ‚Ich weiß, was du denkst‘ impliziert Überlegenheit gegenüber dem Betrachteten, ist es doch unmöglich zu wissen, was der Andere denkt. Anders als bei der Betitelung ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ rückt die Künstlerin in ‚I know what you’re thinking‘ den Betrachter augenscheinlich in den Vordergrund der Arbeit. Ähnlich einer Folie ist das ‚Ich‘ des Betrachters vordergründig vor das Betrachten selbst geschaltet. Oder aber führt Longhurst den Betrachter in die Irre? Bezeichnet ‚I know what you’re thinking‘ vielmehr das Begehren des Bildes293, wie es bei William J. Thomas Mitchell heißt. Grammatologisch betrachtet wäre die Übersetzung ‚Ich weiß, was du am Denken bist‘ eindeutiger und würde sich, da die Fotografie immer schon die Vergangenheit bezeichnet, als

293 |  Vgl. Mitchell: Das Leben.

Das Tier als Form

eine Aussage des Bildes selbst herausstellen. Somit wären es die Gedanken des Betrachters, die hier als offenkundig erscheinen, denn er befindet sich in der gegenwärtigen Betrachtung und immer auch im Bild. Steffen Siegel beschreibt das Zusammenspiel von Präsenzen fotografiespezifisch wie folgt. „Fotografien sind Bilder voller Licht. Flüchtiges wird in ihnen nicht allein eingefangen, festgehalten und gespeichert. Durch den Eintritt in ein fotografisches Bild gewinnt das rasch Vergängliche vielmehr die Möglichkeit, im Augenblick der Bildbetrachtung neue Gegenwart für sich zu beanspruchen. Fotografien in den Blick zu nehmen heißt daher stets, zwei verschiedene Formen von Präsenz miteinander in Beziehung zu setzen: unsere eigene und die des Bildes. Solche Verhältnisse lassen sich aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten. Ausgehen können wir zum einen von Beziehungen der Nähe, der Ähnlichkeit, ja sogar der Identität. Gerade in der Möglichkeit, eine im Bild liegende und immer schon vergangene Gegenwart sehr nahe an unsere eigene rücken zu können, liegt das große Versprechen der Fotografie. Man kann hierin den wesentlichen Grund ihrer Faszinations- wie Verführungskraft vermuten. […] Doch sind die Beziehungen zwischen unserer eigenen Gegenwart und jener des fotografischen Bildes immer auch von Distanz, Verfremdung und Autonomie bestimmt. Aus dieser zweiten Perspektive scheint die nicht minder wesentliche Seite des fotografischen Bildes auf.“294

Während der erste Interpretationsansatz auf die Durchdringlichkeit des betrachtenden Blickes abzielt, der Betrachter steht hier im Sinne eines Hegemon, wissend und überlegen über den Dingen, kann letzterer verstanden werden als die Projektion menschlicher Vorbilder auf das Tier. So scheint hier gespiegelt, was der Betrachtung von Tieren immanent ist: „Die Faszination, die wir an vielen Tierporträts empfinden, liegt in un­ serer anthropozentrisch überhitzten Lektüre begründet: wir unterliegen einer Täuschung und halten die Aufmerksamkeit der Tiere gegenüber der Kamera und dem Fotografen (als Repräsentant des späteren Betrachters) für bewussten Ausdruck (obschon selbst dies in der fotografischen

294 |  Steffen Siegel: Belichtungen. Zur fotografischen Gegenwart, Paderborn 2014, S. 9.

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Praxis des Menschen, wie Barthes weiter ausführt, zu den Paradoxa des Mediums zählt). Tiere merken allenfalls auf, sie beachten, aber sie nehmen, vielleicht mit Ausnahme der Primaten, nur sehr begrenzt einen differenzierbaren mimischen Ausdruck an.“295

Die Künstlerin hat beide Ansätze in ihrer Benennung angelegt und spielt mittels dieser Markierung mit der Wahrnehmung der anthropologischen Grenze. Sie bildet anthropomorphe Spiegelwünsche ebenso ab wie die Unzulänglichkeit menschlicher Empathie für das Tier.

2.4.1 Physiognomik und Anthropometrie Es erweckt den Anschein, als habe Longhurst neben unterschiedlich angelegten Fellfarben auch solche Individuen für ‚I know what you’re thinking‘ ausgesucht, die sich in ihrer Physiognomie und ihrem Ausdruck fundamental voneinander unterscheiden. Longhurst mag an die vier Temperamente gedacht haben296, als sie jene vier Porträts für ‚I know what you’re thinking‘ inszenierte. Möchte man diesem Interpretationsansatz folgen, blickt man auf die Visualisierung physiognomischer Erkennt­nissuche. Der melancholische Ausdruck des Hundes im äußeren linken Bild, Passivität und Phlegma im Abbild rechts daneben, darauffolgend die Erregbarkeit des cholerischen Temperamentes und die aktiv bis heitere Expression des Sanguinikers der rechten Fotografie. In diesem Verständnis erinnert die Arbeit an einen Wissenschaftsdiskurs des 19. Jahrhunderts, „welcher im Medium Fotografie nach Möglichkeiten sucht, eine Hilfestellung be-

295 |  Florian Ebner: Affe wie Eule. Neue Gesichter für ein altes Genre, in: Eskildsen/ Lechtreck: nützlich (2005), S. 171–178, hier S. 177. 296 |  Mit den Worten John Bergers gesprochen, wird „(d)en meisten modernen ‚gebildeten‘ Lesern […] diese Passage, fürchte ich, zwar edel, aber zu anthropomorphisierend vorkommen. Sanftmut, Gereizheit […], so werden sie argumentieren, sind keine moralischen Qualitäten, die Tieren zugeschrieben werden können. Und die Behavioristen würden diesen Einwand unterstützen. Doch bis zum 19. Jahrhundert war der Anthropomorphismus wesentlich für die Beziehung zwischen Mensch und Tier und brachte ihre Verwandtschaft zum Ausdruck. Er war das Residuum der ständigen Verwendung von Tiermetaphern. Während der letzten zwei Jahrhunderte verschwanden die Tiere allmählich. Heute leben wir ohne sie. Und in dieser neuen Einsamkeit macht uns der Anthropomorphismus doppelt unsicher.“ Berger: Das Leben, S. 20.

Das Tier als Form

züglich des Festhaltens und Dokumentierens ephemerer mimischer Zustände zu bekommen.“297 Dieser fotografischen Auseinandersetzung mit dem Ausdruck sind viele physiognomische Untersuchungsstrategien vorangegangen. Die vermutlich älteste Darstellung physiognomischen Wissens findet sich in der aristotelischen Physiognomika der Antike. Das Mittelalter entdeckte die griechisch-römischen Physiognomiken durch den Islam wieder.298 1586 erscheint die ‚Humana Physiognomia‘ Giambattista della Portas, der seine Gedanken zu dem Zoomorphismus in seiner Physiognomik mit den folgenden drei Leitsätzen einleitet: „1. – Jede Tierart hat in ihren Eigenschaften und Leidenschaften entsprechende Gestalt. 2. – Die Elemente dieser Gestalten finden sich auch beim Menschen. 3. – Der Mensch, der dieselben Züge hat, besitzt folglich einen entsprechenden Charakter.“299

In der Herausbildung individueller Merkmale spielte die Lehre der Physio­gnomie auch eine bedeutende Rolle für die Porträtauffassung der Renaissance300, um im 18. Jahrhundert mit Johann Caspar Lavaters Idee zeichenhafter und damit lesbarer Organisation der Natur und seiner Vorstellung von Menschenkenntnis und Menschenliebe301 zu verschmelzen.

297 |  Christina Natlacen: Bewegte Gesichter, erstarrte Masken. Zu den Mimikstudien von Hermann Heller, in: Fotogeschichte 91 (2004), S. 15–32, hier S. 16. 298 |  „Polemon, dessen zweites Kapitel die Ähnlichkeit des Menschen mit den Tieren, die Charaktere der beiden Geschlechter und die Methode der Herleitung des menschlichen Charakters aus seiner Ähnlichkeit mit den Tieren behandelt, ist schon im 10. Jahrhundert ins Arabische übersetzt worden.“ Jurgis Baltrušaitis: Imaginäre Realitäten. Fiktion und Illusion als produktive Kraft, Köln 1984, S. 10. 299 |  Giambattista della Porta, zitiert nach: Baltrušaitis: Imaginäre Realitäten, S. 13. 300 |  Vgl. Katharina Andres: Antike Physiognomie in Renaissanceporträts. Frankfurt am Main 1999, S. 14. 301 |  „Physiognomik ist die Wissenschaft, den Charakter (nicht die zufälligen Schicksale) des Menschen im weitläufigsten Verstande aus seinem Aeußerlichen zu erkennen; Physio­ gnomie im weitläuftigen Verstande wäre also alles Aeußerliche an dem Körper des Menschen und den Bewegungen desselben, in sofern sich daraus etwas von dem Charakter des Menschen erkennen läßt. So viele verschiedene Charaktere der Mensch zugleich haben kann, das ist, aus so vielen Gesichtspunkten der Mensch betrachtet werden kann, so vielerley Arten

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Lavater schließt seine Abhandlungen ‚Von der Physiognomik‘ (1772) mit einer Entwicklungstheorie, nachdem er die Physiognomie der Tiere und die der Menschen getrennt betrachtet hatte. Der letzte erschienene Band (französisch 1803) zeigt die sukzessiven Veränderungen der Arten.302 Den graduellen Wandel eines tierlichen Erscheinungsbildes hin zu einer ihm ähnlichen menschlichen Gestalt zeichnet eine morphologische Entwicklung vom Tier zum Menschen nach. Es ist der Körper des Menschen, der zu allen Zeiten auf seine verborgenen Anlagen hin untersucht worden ist303 und dessen Ausdruck immer schon dem des Tieres gleichgesetzt wurde, um verborgene Eigenschaften des Charakters und des Temperamentes mittels der Deduktion zu enthüllen. Dabei sind die Methoden des Anthropomorphismus von denen des Zoomorphismus zu unterscheiden, sie sind einander gegenüberzustellen. 1876 erscheint Cesare Lombrosos ‚L’Uomo delinquente‘, seine Lehre des ‚geborenen Verbrechers‘. Aggressive verbrecherische Neigungen treten bei manchen Personen in ihren körperlichen Merkmalen offen zutage304, welche auch durch Aneignung gesellschaftlicher Normen nicht überdeckt werden könnten, so Lombrosos These, und weisen Kriminelle so als anthropologisch determinierte Typen aus. Die Nationalsozialisten beriefen sich in ihren Programmen der Rassenhygiene in ihrer Form der Eugenik auch auf Lombrosos Lehren. Seither ist jedwede Lehre des Ausdruckes nicht mehr ohne den bitteren Beiklang der Eugenik und Rassenhygiene zu denken, welcher auch mitschwingt in der Arbeit von Jo Longhurst. Die Künstlerin arbeitet mit ihrem Werkkomplex ‚The Refusal‘, dessen Titel ein

von Physiognomien hat Ein und eben derselbe Mensch. Daher begreift die Physiognomik alle Charaktere des Menschen, die zusammen einen completen Totalcharakter ausmachen, in sich. Sie beurteilt den physiologischen, den Temperamentscharakter, den medicinischen, den physischen, den intellectuellen, den moralischen, den habituellen, den Geschicklichkeitscharakter, den gesellschaftlichen oder umgänglichen, u.s.w.“ Johann C. Lavater: Von der Physiognomik, herausgegeben von Karl Riha/Carsten Zelle, Frankfurt am Main 1991, S. 10. 302 |  Vgl. Baltrušaitis: Imaginäre Realitäten, S. 42. 303 |  Vgl. ebd., S. 9. 304 |  Eine bestimmte Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen erbrachten in Lombrosos Forschungsergebnissen — er führte beispielsweise Messungen an Schädeln von Hingerichteten durch — den Beweis auf eine atavistische und damit einhergehend aggressivere evolutionär veraltete Lebensform.

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Sichentziehen und -verweigern einer allgemeingültigen Wahrheit vorbereitet, nah an einem anthropomorphistischen Tiergenre: „Eine große Bedeutung kam dem Begriff auf der symbolischen Ebene zu. Er bezeichnete anfänglich das symbolische Verhältnis des Menschen zum Tier als ‚anthropoidomorphe‘ Einstellung, was ‚menschenähnlich gestaltet‘ meinte. […] Die Kennzeichnung des symbolischen Verhältnisses zum Tier hat sich im Begriff Anthropomorphismus als Bedeutungsdimension bis heute gehalten. Mit ihm ist kurz die Vermenschlichung des Tieres, seine Erhebung zum Symboltier gemeint.“305

Den Werken Longhursts liegt ein Anthropomorphismus ideeller Natur zugrunde, der auf einem Menschenbild fußt, das sich von Gott entfremdet hat und im Verlauf des 19. Jahrhunderts das Tier erstmals in einem nichtreligiösen Sinne anthropomorphisierte. Der Mensch erkannte im Tier nicht länger das Göttliche, sondern „fand in Gott nur sich selbst, den Menschen, nicht aber den Anderen wieder, der Auskunft über sein Menschsein geben konnte.“306 Longhurst bildet solche komplexen Anthropomorphismen ab, die über ein Vermenschlichen aus wahrnehmungspsychologischer Sicht hinausreichen und die in ihrem Akt der Vermenschlichung mehr bedeuten, als „auf das Tier nicht als Tier zu reagieren.“307 Im 19. Jahrhundert bedeutete der Anthropomorphismus neben einer bloßen Sentimentalisierung des Tieres auch „die Einsicht, daß die Tiere ein eigenes Leben haben.“308 Jo Longhurst führt dem Betrachter einen Anthropomorphismus vor Augen, der nach Mullan und Marvin309 unter fünf Formen des Anthropomorphismus des Tieres als personifizierter Anthropomorphismus beschrieben wird: „Personifikation (personification): diese Form ist weniger ungefährlich, da Menschen ihre Wünsche auf die Tiere projizieren, ohne sich der Übertragung ihrer Bedürfnisse auf die Tiere bewußt zu sein. Statt dessen halten sie ihre Wünsche für die tatsächlichen Bedürfnisse der

305 |  Artinger: Von der Tierbude, S. 35. 306 |  Ebd., S. 36. 307 |  Ebd. 308 |  Ebd., S. 39. 309 |  Vgl. Bob Mullan/Garry Marvin: Zoo Culture, London 1987, S. 13ff.

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Tiere. Das Ankleiden von Haus- und Wildtieren in menschlichen Kleidern hat hier seinen Platz. Zwar ist diese Form mit der allegorischen verwandt, da sie gleichsam die biologische Wirklichkeit der Tiere nicht anerkennt, doch sie übersteigt diese noch, indem sie die Tiere für die angestrebte persönliche Botschaft konkret benutzt; die Tiere sind keine literarischen Figuren mehr, sondern lebendig und leiden konkret unter diesem Prozeß.“310

Die Fotografien Jo Longhursts sind keine anthropomorphistischen Genredarstellungen von Tieren, sondern vielmehr Abbildungen an­ thropomorpher Stereotypen von Tieren der Rassezucht, deren Vermenschlichung nicht erst in ihrer Abbildung, sondern bereits in ihrer Genealogie ihren Ursprung hat. Im 19. Jahrhundert und der damit einhergehenden fotografischen Techne, wird ein anderer Umgang mit den Studien der Ausdrucksforschung möglich: „Hermann Heller, der in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts den Grundstein für seine weitere künstlerische und medizinische Lauf bahn legt, entschließt sich zu einem auf mehreren Ebenen angelegten Diskurs mit Theodor Piderit, dem bedeutendsten deutschen Ausdrucksforscher der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Piderits Interesse galt einer Klassifizierung und psychologischen Interpretation der Affekte, für welche er anhand von linearen Zeichnungen einen bildlichen Kanon aufzustellen suchte. Im Zentrum dieser Untersuchung steht die Frage nach möglichen adäquaten Formen zur Repräsentation von Mimikstudien in Zusammenhang mit einer kontinuierlichen Suche nach medialen Erweiterungen. Insbesondere sollen dabei die Möglichkeiten und Verwendungsarten der Fotografie in den Mittelpunkt gerückt werden“311 .

Heller hatte 1902 das Tafelwerk ‚Grundformen der Mimik des menschlichen Antlitzes‘ konzipiert und bezieht sich in seiner Auseinandersetzung „auffallend häufig auf einen der wichtigsten Wissenschaftler aus dem Bereich der Pathognomik, welcher der Fotografie eine essentielle Rolle zur

310 |  Dies., zitiert nach: Artinger: Von der Tierbude, S. 40. 311 |  Natlacen: Bewegte Gesichter, S. 17.

Das Tier als Form

Illustration des bewegten menschlichen Gesichts zugeschrieben hat, nämlich Duchenne de Boulogne.“312 Für Heller beanspruchen Porträtfotografien, „besonders authentische Abbildungen der Wirklichkeit zu sein, welche die verdichtete Darstellung der gesamten Existenz eines Menschen in einem einzigen aussagekräftigen Moment zum Ziel haben. Die Authentizität generiert sich über das Prinzip des Indexikalischen, welches sich als Lichtspur beziehungsweise Abdruck des Gesichtsausdruckes manifestiert.“313

Das Indexikalische Hellers kann als ein Resultat eines fotografischen Aktes beschrieben werden, der nach Roland Barthes eine ‚message sans code‘ hervorzubringen scheint, „ein rein analoges Zeichen, das sich einer kulturellen Codierung entzieht“314 und damit als physikalische Beziehung zwischen dem Zeichen und seinem Referenten existiert. Longhursts Fotografien können vielmehr jedoch mit dem Begriff un­tersucht werden, den Gottfried Boehm in Bezug auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren fotografischer Bil­der als die Ikonische Differenz prägte. Die fotografischen Porträts Jo Longhurst lassen nicht ausschließlich an die Vorbilder menschlichen Zuchtvermögens, sondern auch an jene Fabrikation von Bildern denken, die zusammengefasst unter der ‚Iconographie photographique de la Salpêtrière‘ veröffentlicht und bekannt geworden ist. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entdeckte der Mediziner Jean Martin Charcot, der zusammen mit Guillaume-Benjamin Duchenne als Begründer der modernen Neurologie gilt, die Hysterie als Objekt seiner Forschung, besser, er erfand diese neu. Charcot, der versuchte zu verstehen, was die Hysterie sei, definierte eine experimentelle Methode, mittels derer er die Beobachtungen der Hysterikerinnen derart herbeiführte, dass er die Sichtbarkeit der Krankheit gleichsam festlegte:

312 |  Ebd., S. 22. 313 |  Ebd., S. 23. 314 |  Bernd Stiegler: Fotografie und Indexikalität. Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010, S. 71–76, hier S. 73.

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„Strenggenommen ist damit die experimentelle Methode definiert, wie sie Claude Bernard formuliert. […] Die experimentale Methode, schreibt er, ist nicht Beobachtung, sondern ‚provozierte‘ Beobachtung: Das heißt zum einen, die Kunst, Tatsachen zu erheben, zum andern, die Kunst, sie ins Werk zu setzen.“315

Dort, wo in der Ausdrucksforschung mittels der Bezeichnung der Stereotypen eine Interpretation der menschlichen oder tierlichen Expression im Nachtrag erfolgte, wurde den Fotografien Jean-Martin Charcots und Jo Longhursts eine imaginierte Pose zugrunde gelegt. Longhursts Bildstrategie lässt sich zurückführen auf das, was Georges Didi-Huberman für Charcots Bilderfabrik in der ‚Salpêtrière‘ vermerkte: Für Charcot war die Fotografie mehr als ein Werkzeug des experimentellen Verfahrens, des wissenschaftlichen Archivierens und der Vermittlung; „die Photographie [war] zuerst eine museale Instanz des kranken Körpers […], die museale Instanz seiner ‚Beobachtung‘: die figurative Möglichkeit, den Fall in einem Tableau zu verallgemeinern.“316 Mehr noch steht aber auch das von Longhurst und Charcot Bezeichnete selbst in Konnex: So wie die Hysterie „gezwungenermaßen erfunden werden mußte, als Schauspiel und als Bild“317, mussten gleichermaßen die Rassehunde Longhursts erst erfunden werden, erst Bild werden, bevor sie externe Sichtbarkeit erlangten. DidiHuberman reflektiert: „Und ich selbst entgehe dem scheußlichen Paradox nicht, daß ich mich gezwungen sehe, die Hysterie, so wie sie in der Salpêtrière, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Gang gesetzt wurde, wie ein Kapitel der Kunstgeschichte zu betrachten.“318 Auch die Whippets Longhursts verdienen als ein Kapitel der Kunstgeschichte betrachtet zu werden. So wie die Hysterie gewissermaßen in ihrer Sichtbarkeit von Charcot erschaffen wurde, wurde der Whippet von seinen menschlichen Züchtern erschaffen. Der Whippet, der anhand der Idealvorstellungen seiner Züchter erst erfunden wurde, gleicht in Bezug auf das Machtpotential, das aufgewendet werden musste, um diesen zu formen, Augustine; dem fünfzehneinhalbjährigen pubertierenden Mädchen, dies alles lässt sich der

315 | Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie: die photographische Klinik, München 1997, S. 29. 316 |  Ebd., S. 40. 317 |  Ebd., S. 13. 318 |  Ebd., S. 14.

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‚Iconographie photographique de la Salpêtrière‘ aus dem Jahr 1878 entnehmen, das in gewisser Weise nach Jean-Michel Charcots Idealvorstellungen einer Hysteriepatientin erschaffen schien. Augustine „ist groß, gut entwickelt (der Hals ein wenig stark, der Busen sehr voll, Achselhöhlen und Schamberg sind mit Haaren bedeckt) […] Sie hat fast kein kindliches Verhalten mehr, sie hat beinahe das Aussehen einer erwachsenen Frau, obschon sie noch nie die Regel hatte. Sie wurde wegen einer Gefühlslähmung im rechten Arm aufgenommen, und wegen schwerer hysterischer Attacken, denen Schmerzen im rechten Unterleib vorangehen.“319

So lautet zusammengefasst die Patientenbeschreibung, von der Didi Huberman als der ‚Präsentation‘ von Augustine spricht und die er als eine Untersuchungsweise versteht, die ‚unter den Röcken‘ begann: „Im Lauf der Seiten und Tafeln, im Lauf der Beobachtungen, Szenarios, Messungen und Aufnahmen wird versprochen, das Intimste ihrer Geschichte, ihres Leidens an den Tag zu bringen, genau dazu ist die Iconographie da. Ich würde jedoch sagen, daß uns Augustine auf immer nur quasi geblieben ist, ein Quasi-Gesicht, ein Quasi-Körper, eine Quasi-Geschichte.“320

Didi-Huberman setzt den Kontext des Posierens und Präsentierens, des ‚faire-visage‘ in den Fokus der Hysterieforschung Charcots und Augustine als ein Meisterwerk in diese figurative und taxonomische Fabrikation321, denn, „[w]as Augustine zu einem der großen Stars der Iconographie photographique de la Salpêtrière machte, das war vor allem die Art des zeit­ lichen Ablaufs ihrer Attacken, immer schön unterteilt durch ‚Pausen‘ und ‚Entreakte‘, die Art des dramaturgischen Schnitts ihrer Symptome in Akte, Szenen und Bilder.“322

319 |  Iconographie photographique de la Salpêtrière, par Bournville et Régnard, Paris: Aux Bureaux du Progrès médical/Delahaye & Lecrosnier, Paris 1878, S. 125, zitiert nach: Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie, S. 100. 320 |  Ebd. 321 |  Vgl. ebd., S. 137. 322 |  Ebd.

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Eine der Fotografien Paul Régnards aus dem zweiten Band der ‚Iconographie photographique de la Salpêtrière‘ von 1878 zeigt die junge Augustine auf einem Stuhl sitzend. Der Standpunkt des Foto­grafierenden ist erhaben, der Körper der Hysterikerin beansprucht fast den gesamten Bildraum für sich. Augustine, hier in heller Trikotage, die nur den Oberkörper in Gänze bedeckt, streckt ihr rechtes Bein in Richtung des rechten unteren Bildrandes und lässt in dieser Pose mit den grazil gestreckten unbedeckten Zehen an eine Tänzerin denken.323 Ihr Kopf ist kokett zu ihrer rechten Schulterpartie geneigt, ihr Haar fällt offen auf Rücken und Brust. Nur der rechte Arm und die seltsam verdrehte rechte Hand Augustines zeugen von der symptomatischen Kontraktur der Erkrankten: „Die Iconographie photographique de la Salpêtrière instrumentalisierte die Körper, wendete Listen auf die Körper, auf die hysterischen KörperTrugbilder (corps-simulacres) an, eine Wahrheit des Konzepts im Blick. Sie benützte Listen im Umgang mit den zur Schau gestellten hysterischen ‚Stellvertretungen‘. […] Hysterie und Erwiderung auf die Hysterie, Erpressung der Hysterie, sind in einem gewissen Sinn beide Strohfeuer der Trugbilder. Beide opfern den Körper dem Bild, zehren den Körper im Bild auf.“324

In dieser Pose, Didi-Huberman stellt dem Trugbild der Hysterie die Perversion gegenüber325, ähneln die Zeugnisse der ‚Iconographie photographique de la Salpêtrière‘ denen der Fotografien der Rassehunde Longhursts, sowohl in ihrer fotografischen Umsetzung wie auch in ihrer Sinnhaftigkeit. Die Künstlerin verweist selbst darauf, auf solche Aufnahmemedien zurückzugreifen, die usuell für das Erfassen und Klassifizieren menschlicher Physiognomie ist: „As part of my working process I used a variety of photographic equipment normally used to record and classify human physiognomies, including state-of-the-art technologies and those already

323 |  Erinnert sei an die Begeisterung der Surrealisten für Augustine, die für Breton den Begriff der konvulsivischen Schönheit freisetzte, zu der die Verf. eine größere Studie im Hinblick auf Fotografien von Tieren vorbereitet. 324 |  Ebd., S. 304. 325 |  Vgl. ebd.

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considered obsolete such as stereoscopic cameras.“326 Longhursts taxonomische Untersuchungen gleichen dabei den Klassifikationsschemata JeanMichel Charcots, der seine Taxonomie der Hysterie ebenfalls auf einer fotografischen Archivierung gründete.

2.4.2 Anthropomorphe Blicke Allen Bemühungen um Physiognomik und Anthropometrie ist eines gemein: das Streben nach einem visualisierten Kanon menschlicher Emotionalität und deren Repräsentation, als auch dem damit verbundenen Bildens einer lexikalen Konvention. Sieht man sich als betrachtende Person den vier Porträts der Serie ‚I know what you’re thinking‘ gegenüber, und dies im wahrsten Sinne dieser Worte, so begegnet man den vier dargestellten Hunden allem Anschein nach auf Augenhöhe. Einem ersten Impuls folgend, platziert sich der Betrachter, nachdem er die Fotografien kurz in ihrer kompositorischen Gänze wahrgenommen hat, vor ein Porträt seiner Wahl und findet möglicherweise die Augen des Hundes auf gleicher Höhe wie die seinen. Tritt der Betrachter nahe genug an die Bildoberfläche heran, um die Augen des Hundes zu fokussieren – er folgt sicherlich dem Wunsch, den Blick des Tieres einzufangen –, wird er feststellen, dass ihm der Blick des Tieres entgleitet. Der Augenabstand der auf diese Weise vergrößerten tierlichen Gesichter ist so groß, dass der Betrachter daraufhin meint, einen Schritt zurücktreten zu müssen, nur um daraufhin erneut in seinem Blick abgestoßen zu werden: Das Abbild zeigt sich alsbald wieder in Gänze, so dass der Betrachter eine Aufsicht auf den dargestellten Tierkörper gewinnt. Longhurst bricht durch diese Visualisierung zwei Glücksversprechen gleicher­maßen. Der Betrachter sucht die Begegnung mit dem individuellen Tier. Dort wo Longhurst an eine Ästhetik anknüpft, wie sie zuvor unter Gesichtspunkten der Physiognomik beschrieben wurde, die im Akt des Porträtierens neben Darstellung von Ähnlichkeiten auch das Offen­baren der Wesenszüge evoziert, verspricht sie uns, dem individuellen Tier auf die Spur kommen zu können, uns durch das Rezipieren ihrer Bildnisse annähern zu können an das Konkrete, Tatsächliche, das von Natur Gegebene. Baudrillard aber stellt fest, das Tatsächliche ist das, wovon der Mensch sich noch kein Bild

326 |  Longhurst, Website.

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gemacht hat, und „Haustiere sind die idealen Spiegel, da sie nicht die tatsächlichen, sondern nur die erwünschten Bilder reflektieren.“327 Und mehr noch, Haustiere sind: „eine Art Mittelding zwischen Wesen und Sachen. Hunde, Katzen, Vögel […] – ihre pathetische Anwesenheit ist das Zeichen für ein Versagen auf dem Gebiet der menschlichen Kontakte und für die Zurückgezogenheit in eine narzisstische Heimwelt, in der die Ichbezogenheit sich ungestört auswirken kann.“328

Baudrillard konstatiert für das von ihm als imaginäre Projektion bezeichnete animistische Trugbild, welches für ihn in der künstlichen Intelligenz gipfelt, dass der Mensch die Funktionsweise der Objekte für seine eigene hält und sich selbst „in diese Effizienz [projiziert – M.M.], selbst wenn diese […] absurd ist […] und besonders dann, wenn sie absurd ist.“329 Longhurst gelingt es, die Frage nach der Erwiderung der Blicke in den Betrachtungsmöglichkeiten ihrer Bildnisse anzulegen. In ihrer eigenen wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung versieht Longhurst das Haustier mit einer einzigartigen Stellung zwischen Kultur- und Naturwelt und stellt heraus, dass das Haustier im Gegensatz zu den anderen Tieren den menschlichen Blick sehr wohl zu erwidern vermag, es dem Menschen damit einen Spiegel seiner unbekannten Seiten vorhalten kann.330 Diese unbekannten Seiten, so scheint es, sind aber die prometheisch schöpferischen des Menschen. Die Künstlerin unterläuft damit eine weitere Glücksverheißung331: das Versprechen, sich in Bildern (Imago) des Anderen seiner selbst bewusst werden zu können, oder wie es Berger formulierte:

327 |  Baudrillard: Das System der Dinge, S. 115. 328 |  Ebd. 329 |  Ebd., S. 150. 330 |  Vgl. Longhurst: Anmerkungen, S. 125. 331 | „Die Strategie der Einbildungskraft, der Imagination, der Phantasie, die die Menschen bei der Schöpfung einer eigenen, genuin menschlichen Welt einsetzen, kommt nicht dort aus, wohin sie führen soll. Sie endet in einer Enttäuschung, die im Nachhinein die Ausgangssituation zu einer schief-illusionären macht. Im Bild, wie es Effekt ist, im Weltbild, im Menschenbild, auch im Gottesbild ist ein Versprechen nicht eingelöst, es bleibt zuletzt Trug, Simulakrum, Täuschung und Selbsttäuschung.“ Kamper: Ästhetik, S. 65f.

Das Tier als Form

„Die Augen eines Tieres sind, wenn sie einen Menschen betrachten, aufmerksam und wachsam. Das gleiche Tier wird wahrscheinlich andere Tiere auf die gleiche Weise ansehen. Für den Menschen ist kein besonderer Blick reserviert. Doch keine andere Gattung als die des Menschen wird den Blick des Tieres als vertraut empfinden. Andere Tiere nimmt der Blick gefangen. Der Mensch jedoch wird sich, indem er den Blick erwidert, seiner selbst bewusst.“332

Dieses Sich-selbst-bewusst-Werden, von dem John Berger in ‚Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens‘ berichtet, steht in einem engen Zusammenhang mit Lacans Konzepten des Spiegelstadiums und des Anderen. So wie sich das Kind bei der Betrachtung seines Spiegelbildes zum ersten Mal in seiner Ganzheit wahrnimmt, weil es sich vollständig ansehen kann – erst durch das im Spiegel erblickte Selbstbild entwickelt das Kind ein Bewusstsein von sich selbst –, konstruiert sich der Betrachter über das Sich-in-Beziehung-Setzen zum vermeintlich dargestellten Anderen. „Lacan zeigt auf, dass die Bildung eines Ichs den idealen Entwurf eines Bildes (Imago) voraussetzt. Der Prozess der Ich-bildung ist damit immer ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu einem äußerlichen Gegenüber, das sich in Lacans Konzept im Spiegelblick vollzieht.“333 Rekurrierend auf den Mythos um Narziss – wir projizieren auf überaus narzisstische Weise Spiegelwünsche von Schönheit und Ersatzschönheit auf das Tier, um unsere Ideale in ihm abgebildet zu sehen334 – stört Longhurst unsere Wahrnehmung des Spiegelbildes Tier, indem sie es als ein Trug- und Zerrbild aufdeckt. Sie bringt damit unsere narzisstische Vorstellung ins Wanken, so wie eine Welle335 das Abbild des Narziss im See

332 |  Berger: Das Leben, S. 13. 333 |  Bodenberg: Tier und Mensch, S. 221. 334 |  Das Tier wurde lange als lacansches Anderes angesehen, über dessen Anschauung sich der Mensch von seinem genuin Humanen differenzierte. Das gezüchtete Tier, welches die Vorstellungsbilder des Menschen projiziert, muss hingegen anhand des lacanschen Spiegelstadiums untersucht werden, da es die Insignien menschlicher Ebenbildnerei trägt und nicht länger als das Andere wahrzunehmen ist. 335 |  Eines Tages setzte sich Narziss an den See, um sich seines Spiegelbildes zu erfreuen, woraufhin durch göttliche Fügung ein Blatt ins Wasser fiel und so durch die erzeugten Wellen sein Spiegelbild trübte. Schockiert von der vermeintlichen Erkenntnis, er sei hässlich, starb er.

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verschwimmen lässt. So ist das Tier nicht das Andere, zu dem wir uns in Beziehung setzen können, sondern trägt immer bereits die ikonografisch menschliche Präsenz in sich. Longhurst Porträts zeigen sich dem Betrachter offenkundig als Vexierbilder. Die etymologische Bedeutung des Plagens und Quälens336 im Prozess des Vexierens unterstreicht die verstörende Wirkung. Longhurst bricht die Glücksverheißung der Fremd- und Selbsterkenntnis337 gleichermaßen, offenbart damit eine virulente Fragestellung aktueller künstlerischer Positionierung im Diskurs der Tierstudien und zeigt zwei bedeutungsvolle Insignien der Schaulust auf, welche der Betrachtung von Showtieren immanent ist: den Gestus des Bewahrens und Bedrohens.338 So sind „Tiere in der sogenannten schweigenden Mehrheit aufgegangen.“339 Und/oder die „Tiere, die zum Schauobjekt geworden sind, sind auf andere Weise verschwunden. […] Alle Tiere erscheinen, als würde man sie durch das platte Glas eines Aquariums sehen.“340 „Fische faszinieren zwar, aber der Mensch kann sich in ihren Gesichtern nicht erkennen. Er spiegelt sich nicht im Fischauge, sondern im Aquarium.“341 Das Sich-nicht-in-ihnenerkennen-Können zielt nicht lediglich auf die physiognomische und mimische Differenz, sondern vielmehr auf das narzisstische Selbstbild des Menschen ab, über welches er sein Gegenüber vergisst: „Das ist die letzte Konsequenz ihrer Verdrängung. Dieser Blick zwischen Tier und Mensch, der vielleicht eine wesentliche Rolle in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft gespielt hat […] wurde ausgelöscht.“342

336 |  Lat. ‚vexare‘, plagen. 337 |  Verwiesen sei noch einmal auf die Idee des Dritten und der zugrunde liegenden Annahme, Tiere seien immer Geschöpfe, die zwischen An- und Abwesenheit divergieren. 338 |  „‚Neues sehen‘ ist eine zeitliche Ausdehnung des Sehens; es zeugt ebenso sehr von einem Ideal (das gelehrte Visieren, die klinische Prognostik: in ihm ist Sehen gleich Vorhersehen) wie auch, so denke ich, von einer verborgenen Beunruhigung, in der Sehen gleich Ahnen ist. Die fundamentale Instabilität der Schaulust, zwischen Bewahren und Bedrohen.“ Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie, S. 37. 339 |  Berger: Das Leben, S. 24. 340 |  Ebd. 341 |  Claus-Peter Lieckfeld: Der blamierte Hund, in: Berliner Zeitung vom 16. November 2002, auch online unter: http://www.berliner-zeitung.de/archiv/der-blamierte-hund,10810 590,10044476.html (letzter Zugriff: 30.10.2017). 342 |  Berger: Das Leben, S. 35.

Das Tier als Form

Longhurst Bildstrategie des Vexierbildens erinnert an eine fotografische Auseinandersetzung Gerhard Langs, der mit seinen ‚Paläanthropischen Physiognomien‘ mittels Projektionstechniken Porträts erschuf, die insoweit Monster darstellen, als dass sie Bilder von nichtmenschlichen und menschlichen Tieren kombinieren. Langs synthetisierte Phantom­bilder, die er mit einem Photo-Montage-Synthesizer343 ermittelte, changieren zwischen tierlichen und menschlichen physiognomischen Charakteristika. So bleibt von einem Männerporträt lediglich noch die menschliche Nase klar erkennbar, während fast alle weiteren mensch­lichen Züge durch insektenähnliche Merkmale verdrängt wurden. Ein Gesicht von weiblicher Erscheinung weicht den fellähnlichen Umrissen eines Schäferhundkopfes. Und ein weiteres Porträt erhält zu den scharf abgebildeten Menschenaugen die Facettenaugen eines haarigen Insektes dazu. Gerhard Lang kann man, so analysiert Lucius Burckhardt dessen Face-to-faces-Fotografien, „als den ersten Vertreter der hypothetischen Teratogenese betrachten. Erzeugen nämlich die bisherigen Teratogeneten zunächst das Monstrum und versuchen dann, es zu verstehen, so erzeugt Gerhard Lang zunächst das Bild eines möglichen Monstrums. Nicht zufällig bedient er sich dabei polizeilicher Methoden, des Phantombildes. Wie die Polizei sich zuerst den Dieb vorstellen muß, bis sie ihn erkennen kann, so kann der moderne Zoologe sich jetzt die zu entdeckenden Tierarten schon vorstellen“344 .

Was sich hier in der transformativen Überlagerung von Menschen- und Tierporträts zeigt, ist den Whippets in Jo Longhursts Fotografien immer schon inhärent. Die Rassehunde sind Fleisch gewordene Phantombilder,

343 |  Der von Minolta hergestellte Photo-Montage-Synthesizer (Minolta Montage Unit 401 P), ein sogenanntes ‚Face Recall System‘, mit dem bis zu vier passbildgroße Vorlagen via Spiegel gemischt und mittels eines Monitors reproduziert werden können, wurde entwickelt, um Chirurgen bei der Gesichtsrekonstruktion von Hiroshimaopfern ein Vorbild geben zu können. Der Bildmischer fand in den 1970er Jahren Zuspruch in der Kriminalfahndung und auch Anwendung in der Schönheitschirurgie. 344  | Lucius Burckhardt: Von der Teratologie zur Teratogenese, in: Ausst. Kat. Paläanthropische Physiognomien, herausgegeben von Gerhard Lang im Rahmen der Fototage 1993, Senckenberg-Museum, Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1993, S. 11ff., hier S. 11.

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Idealbilder, die neben tierlichen Zügen immer auch den Menschen darin zeigen.

2.5 ‚Windhund-Werden‘ Dem narzisstischen Selbstentwurf im Tier ist die Annäherung an das Tier gegenüberzustellen. Ein Schriftsteller wie auch ein bildender Künstler sei „ein experimentierender Mensch, der aufhört, Mensch zu sein, um versuchsweise Affe zu werden oder Käfer, Hund, Maus, irgendein Tier, jedenfalls etwas Nichtmenschliches“345, diese Zeilen Deleuze’ und Guattaris in ‚Kafka‘ und ihre Untersuchungen zum Tierwerden in ‚Tausend Plateaus‘ veranlassten Steve Baker dazu, das Tierwerden im Sinne einer augenblicklichen Erfahrung zu verstehen, deren zeitliche Ausdehnung die Aufgabe des Künstlers sei.346 „Wir glauben an die Existenz von ganz besonderen Arten des TierWerdens, die den Menschen durchdringen und mitreißen und die ebenso das Tier wie den Menschen betreffen.“347 In diesem Durchdringen, Ergreifen und Mitgerissensein verorten Deleuze und Guattari den Prozess des Werdens, welcher sich nur dann durch ein Kunstwerk vollzieht, wenn der Mensch von anthropozentrischen Wahrnehmungs- und Projektions­ mechanismen Abstand gewinnt: „Die Arten des Tier-Werdens zeugen […] von einem anderen Vermögen, weil ihre Realität nicht in dem Tier liegt, das man imitiert oder dem man entspricht, sondern in ihnen selber, in dem, was uns plötzlich ergreift und uns werden läßt, eine Nachbarschaft, eine Ununterscheidbarkeit, die aus dem Tier etwas gemeinsames herauslöst, das mehr ist, als jede Domestizierung, Benutzung oder Imitation: ‚das Biest‘.“348

Jo Longhurst erörtert in ihren ‚Anmerkungen zum fehlenden Haustier‘, dass das Haustier in den Diskussionen nicht bloß fehlt. „[E]s wird bewusst

345 |  Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt am Main 1976, S. 13. 346 |  Vgl. Baker: Wie sieht, S. 46. 347 |  Deleuze/Guattari: Kapitalismus, S. 323. 348 |  Ebd., S. 380.

Das Tier als Form

ausgeschlossen. In großen Teilen der aktuellen kritischen Theorie wird das Haustier nicht als richtiges Tier anerkannt und mit einer gewissen Abneigung betrachtet.“349 Dabei liegt vor allem in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem domestizierten Tier der Schlüssel zu einer Tierwerdung und damit der „Versuch, ins Miteinander, ins Zueinander zu kommen, in eine Form der Gleichberechtigung einzutreten, anstatt weiter Rechtfertigungen für eine destruktive Überlegenheit zu suchen.“350 Man kann jedoch nicht ‚Windhund-Werden‘351, darin liegt der Bruch Longhursts bildnerischer Verheißung, und das formuliert sie über das zweifach konstruierte Zuchttierbild352 besonders sinnfällig aus, denn „they have simply become too close to us; that the lack of critical distance between human and pet heralds a return to anthropomorphism and sentimentality.“353 Das ‚konkrete Tier‘ ist hier derart von Anthropomorphismen und Spiegelwünschen überlagert, dass das ‚Tierwerden‘ auf ein ‚Menschsein‘ reduziert bzw. zurückgeworfen würde.354 Die Künstlerin

349 |  Longhurst: Anmerkungen, S. 118. 350 | Friedrich Weltzien/Jessica Ullrich: Menschsein: Zur Ausstellung ‚Tier-Werden, Mensch-Werden‘, in: Neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V.: Tier-Werden (2009), S. 6–12, hier S. 9. 351 |  „Deleuze and Guattari believe that the concept of becoming animal only applies tot he nondomesticated animal. Although one might become rat, insect or wolf, for example, one can’t become Whippet.“ Longhurst: Perfectibility, S. 101. 352 |  „[D]ie vereinzelten, gefühlsmäßig besetzten Haustiere, die ödipalen Tiere der Anek­ doten der Kindheit, ‚meine‘ Katze, ‚mein‘ Hund; diese Tiere bringen uns dazu, zu regredieren, indem sie uns zu einer narzißtischen Betrachtung bringen, und die Psychoanalyse versteht nur diese Tiere, um hinter ihnen um so besser das Bild von Papa, Mama oder einem kleinen Bruder entdecken zu können (wenn die Psychoanalyse von Tieren spricht, fangen die Tiere an zu lachen): alle, die Katzen oder Hunde lieben, sind Dummköpfe.“ Deleuze/Guattari: Kapita­ lismus, S. 328. 353 |  Longhurst: Perfectibility, S. 102. 354 |  Marion Laval-Jeantet hat mit ihrer Performance ‚May the Horse Live in Me‘ 2011 die Frage nach dem Tier-Werden neu gestellt. Die Künstlerin inszenierte eine Blutsverschwis­ terung mit einem Pferd, indem sie sich Blutplasma des Tieres initiieren ließ. Laval-Jeantet hatte zuvor verschiedene Immunglobuline aus Pferdegewebe getestet, welche fähig sind, das jeweilige Zielgewebe zu erkennen und eine spezifische funktionale Regulierung desselben bewirken. Die einstündige Performance in Ljubljana hinterfragt die Grenze zwischen den Spe­ zies und die Möglichkeit, dass die biologischen Ressourcen der Tiere künftig für den Erhalt

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offenbart mittels der aufgezeigten Vexiermechanismen die Missstände und den Mangel des tierlichen Vorstellungsbildes. Sie vertritt so den Ansatz, und diese Strategie möchte ich für diese Studie besonders hervorheben, dass ein ‚Tierwerden‘, hier im Sinne einer Befreiung des Tieres von seinen Vorbildern und der Wahrnehmung des Tieres als gleichwertiges Anderes, auch ein ‚Menschwerden‘, besser ein ‚Sichbewusstwerden‘ ist, nie hingegen auf dem ‚Menschsein‘ beruhen kann. ‚I know what you’re thinking‘ wirft den Rezipienten damit auf seine Unzulänglichkeit zurück, das Tatsächliche nicht erfahren zu können, und stellt ihn vor die Aufgabe, die Welt der Vorbilder aufzulösen und in den Prozess der Menschwerdung einzutreten, um so dem ‚Bildsein‘ des Tieres entgegenzuwirken. Oder anders, es stellt ihn vor die Aufgabe, das ‚Bildsein‘ des Tieres aufzulösen, die Vorbilder auszulöschen und damit in den Prozess der Menschwerdung einzutreten. In diesem Zusammenhang sei noch einmal darauf verwiesen, wie Jacques Derrida seinen Vortrag ‚Das Tier, das ich also bin (weiterzuver­folgen)‘355 einleitete: „Am Anfang – möchte ich mich Worten anvertrauen, die, wenn es möglich wäre, nackt sein sollten. An erster Stelle nackt – um aber bereits anzukündigen, daß ich unablässig über die Nacktheit sprechen werde, und über das Nackte in der Philosophie. Von der Genesis an. Ich möchte Worte wählen, die, für den Anfang, nackt sein sollten, schlicht und einfach Herzensworte.“356

des menschlichen Körpers nutzbar gemacht werden könnten. Die Aktion, in deren weiteren Verlauf die Künstlerin eine Prothese aus Pferdehufen trägt, alterniert zwischen einer TierWerdung des Menschen und einer Mensch-Werdung des Tiers und reißt gleichsam kraft der Hybridisierung beider Körper metaphorisch Grenzen ein. 355 |  Nur der einführende Teil ist in den Akten des Kolloquiums veröffentlicht worden unter dem Titel, der dem gesamten Vortrag gegeben worden war, ‚L’Animal que donc je suis‘ (‚Das Tier, das ich also bin‘), mit dem Hinweis ‚á suivre‘ (‚Fortsetzung folgt‘), der die Absicht ankündigte, auch das darauf Folgende zu veröffentlichen. 2003 hat sich Derrida dann schließlich entschlossen, im Rahmen der unveröffentlichten Texte, die für das ihm gewidmete ‚Cahier de L’Herne‘ bestimmt waren, unter dem Titel ‚Et si l’animal répondait?‘ (‚Und wenn das Tier antworten würde?‘) einen Text zu veröffentlichen, der im besagten Vortrag gegen Ende platziert war. Vgl. Mallet: Vorwort, S. 11. 356 |  Derrida: Das Tier, S. 17.

Das Tier als Form

Derridas Verweis auf die biblische Genesis – Adam und Eva begannen sich nach dem Sündenfall ihrer Glieder zu schämen – wird von ihm in seinen Gedanken über die Begegnung mit einer Katze357 wieder aufgegriffen: „Ich frage mich oft, nur mal eben um zu sehen, wer ich bin (qui je suis) [dieses Sehen seines Selbst kongruiert mit dem deleuzschen und guattarischen Menschwerden – M.M.] – und wer ich in dem Moment bin, da ich, nackt und schweigend überrascht vom Blick eines Tiers (animal), zum Beispiel den Augen einer Katze, leidlich Mühe habe, ja, leidlich Mühe (du mal), eine gewisse Verlegenheit zu überwinden. Warum diese leidliche Mühe? Ich habe leidlich Mühe, eine Regung der Schamhaftigkeit (pudeur) zu unterdrücken. Leidlich Mühe, in mir einen Protest gegen die Unschicklichkeit zum Schweigen zu bringen. Gegen die Ungehörigkeit, die darin bestehen kann, sich nackt, mit exponiertem Geschlecht, splitterfasernackt vor einer Katze wiederzufinden, die einen anblickt, ohne sich zu regen, just um zu sehen. Ungehörigkeit (malséance) dieses Tiers (animal), das nackt vor dem anderen Tier steht, von nun an würde man sagen eine Art Ungehörigkeit/Séance gegenüber dem Tier (animalséance): die einzigartige und unvergleichliche Ur-Erfahrung dieser Ungehörigkeit, die darin bestünde, vor dem insistierenden Blick des Tiers, einem wohlwollenden oder erbarmungslosen, erstaunten oder (an) erkennenden (reconnaissant) Blick, in Wahrheit nackt zu erscheinen. Dem Blick des eines Sehers, eines Visionärs oder eines hellseherischen Blinden [Der Titel ‚I know what you’re thinking‘ evoziert genau dieses Sehen bzw. gaukelt dieses durchdringende Sehen vor. – M.M.]. Es ist, als ob ich mich nun, nackt vor der Katze, schämen würde, aber auch schämen dafür, daß ich mich schäme. Ref lexion der Scham (honte), Spiegel einer Scham, die sich ihrer selbst schämt, einer Scham, die spiegelhaft, nicht zu rechtfertigen und uneingestehbar zugleich ist. Im optischen Zentrum einer solchen Ref lexion würde sich das Ding/die Sache befinden – und in meinen Augen der Brennpunkt dieser unvergleichlichen Erfahrung,

357 |  „Die Katze, über die ich spreche, ist eine echte Katze, wirklich, glauben Sie mir, eine kleine Katze. Sie ist nicht das Bild einer Katze. Sie kommt nicht lautlos als eine Allegorie sämtlicher Katzen der Welt ins Zimmer, aller Katzenartigen, die Mythen und Religionen, literarische Werke und Fabeln durchziehen.“ Jacques Derrida, zitiert nach: Donna Haraway: Die Begegnung der Arten, in: Neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V.: Tier-Werden (2009), S. 65–76 , hier S. 65.

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die man Nacktheit nennt. Und von der man glaubt, daß sie das Eigene des Menschen sei, das heißt den Tieren fremd, nackt wie sie sind, so denkt man dann, ohne das geringste Bewußtsein davon, es zu sein.“358

Das Nacktsein Derridas, welches von ihm immer auch mit der Ur-Erfahrung konnotiert wird, ist assoziiert mit dem Sehen und dem Wahrnehmen des Tieres als nichtbildhaftes Geschöpf. In diesem Sinne muss der Betrachter eines Kunstwerkes erst selbst das Stadium des Nacktseins erreichen und erfahren, um das ‚konkrete Tier‘ als ein tatsächliches Tier, nicht als ein Allegorisches, Metaphorisches oder das die Gesamtheit aller Tiere Bezeichnende wahrzunehmen. Die Erfahrung des Nacktseins, wie sie von Derrida umschrieben wird, ist mit der deleuzschen und guattarischen Menschwerdung gleichzusetzen. Longhurst vermag auf eben diese Verknüpfung aufmerksam zu machen. Demzufolge wird das Glücksversprechen in ‚I know what you’re thinking‘ zwar nicht eingelöst, es erinnert aber an einen besonderen Charakterzug der Glückserfahrung, den Dieter Thomä als Eigensinn359 ausweist. Mit diesem Eigensinn bezieht er sich auf das Glück selbst, genauso aber auch auf den Eigensinn des Betrachters, vielmehr den eigenen Sinn des Betrachters, der erweitert werden kann und so auf die menschliche Selbsterfahrung und auf deren Borniertheit gleichermaßen hinweist. Jo Longhurst bezeichnet mit ‚I know what you’re thinking‘ eine Vorstufe auf dem Weg der menschlichen und damit möglich werdenden tierlichen Erkenntnis, ohne die eine weitere Auseinandersetzung jeder Grundlage entbehren würde. Dabei scheint es, als folge ‚I know what you’re thinking‘ als eine konsequente formale wie inhaltliche Intensivierung und Weiterentwicklung auf ‚Twelve dogs, twelve bitches‘. Während die Arbeit ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ immerzu die Frage nach menschlicher Überpräsenz stellt und die ‚anthropozentrische Grenze‘ als längst überschrittene Demarkationslinie entpuppt, die sich streng genommen in ihrer Überschreitung liquidiert, bestärkt ‚I know what you’re thinking‘ den Betrachter in der Suche nach dem ‚konkreten Tier‘ in einer Weise, die an ein paradiesisches Heilsversprechen erinnert, es bricht und damit wiederum einen kathartischen Zustand in Aussicht stellt.

358 |  Derrida: Das Tier, S. 20f. 359 |  Vgl. Dieter Thomä: Zur Verteidigung des Glücks gegen die Gebildeten unter seinen Verächtern, in: Andreas Grosz/Carsten Höller/Udo Kittelmann (Hrsg.): Glück. Ein Symposium, Kölnischer Kunstverein, Ostfildern 1997, S. 19–28.

Das Tier als Form

Exkurs: Yun-Fei Tous ‚Memento mori‘ Eine allem Anschein nach mittelgroße Hündin, das Gesäuge ist stark vergrößert und lässt darauf schließen, dass dieser Canide bereits mehrfach Jungtiere zur Welt gebracht hat, vielleicht hat die Hündin sogar gerade in diesem Moment Nachwuchs, blickt hin zu dem rechten Rand des sie umgebenden dunkelgrauen bildeigenen Umraumes. (Abb. 9) Ihr Blick ist vom Betrachter abgewandt und suggeriert dennoch ein Bewusstsein über die Anwesenheit des Fotografen. Das Fell ist schwarz und braun gefärbt, ihre Erscheinung ist keiner spezifischen Rasse zuzuordnen. Unterhalb des wohlgeformten Kopfes ist das ansonsten kurze Fell länger geraten. Es erinnert an einen Fellkranz, wie er die Rassehunde feiner Damen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zierte. Dieser Kragen lässt die sitzende Pose der Hündin stattlich und erhaben wirken. Die Fotografie zeigt das Brustbild des Tieres in aller Schärfe. Einige Partien, so an Lefze, Hals, Ohr, Brust und Bauch, an denen das Fell weniger dicht ist, lassen Haut durchscheinen. Hier ist ein weißliches bis rosafarbenes Kolorit zu sehen. Vor allem das Gesäuge erinnert stark an menschliche Haut und Fleisch. Unterstützt wird diese Wahrnehmung noch von den sehnigen Läufen, die auf unnatürliche Weise vom Rumpf weggestreckt sind. Ein weiteres Porträt (Abb. 10) aus Yun-Fei Tous umfangreicher Serie ‚Memento mori‘ – der Fotograf hat seit dem Jahr 2010 über tausend Hunde fotografiert360, welchen er für seine Arbeit stets zum ersten und gleichsam letzten Mal begegnet ist – blickt den Betrachter direkt an. Das gestromerte braun-schwarze Fell des Hundes erscheint im künstlichen Licht des Studios rein und gesund. Seine Augen sind wach und klar. Das rechte Ohr steht waagerecht von seinem in die Kamera geneigten Kopf ab. In der Pose des Hundes lässt sich ein letztes Zurückblicken vermuten. Der Anschnitt rekurriert auf das Bruststück, so wie es ganz ähnlich auch die Fotografien Jo Longhursts tun. Genau wie in den weiteren Porträts Yun-Fei Tous ist der Hintergrund von dunkelgrauer Farbe. Im Gegensatz zu der

360 |  „Er habe das Projekt gestartet, sagt er, weil die Regierung sich dem Elend der Hunde nicht gewidmet habe. […] Die Arbeit mache ihn traurig, sagt er. Aber er wolle eine Botschaft der Verantwortlichkeit senden.“ Benjamin Schulz: Hunde vor Einschläferung: Der letzte Blick, in: Spiegel Online, 5. Juli 2012, http://www.spiegel.de/panorama/fotograf-in-taiwanmacht-bilder-von-hunden-vor-einschlaeferung-a-842749.html (letzter Zugriff: 30.10.2017).

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zuvor beschriebenen Darstellung – latent verweist er auf die Genealogie von der Ikone hin zum Porträt, „das seinerseits den Anspruch erhob, ein echtes Gesicht ins Bild zu bringen: ein Gesicht ‚nach dem Leben‘ (au vif )“361 – deutet der Blick auf eine Fazialität des Porträts im Sinne eines blickenden bzw. zurückblickenden Subjektes. „Nicht nur der oder die Dargestellte blickt, sondern das Porträt selbst blickt. Der Blick im Bild ist ebenso wie die Präsenz ein Erbteil der Ikone, aber er wurde jetzt neu definiert. […] Mit dem Blick verliert das Porträt seinen Objektcharakter und eignet sich die Präsenz eines echten Gesichts an, mit dem wir im Blick Kontakt aufnehmen können. […] Blicken ist anders als Sehen, denn im Blick liegt ein Selbstbezug des Subjekts, eine Aussage des Subjekts über sich selbst. Deshalb kann das Subjekt auch in einem direkten oder indirekten Blicktausch mit einem Betrachter treten. Mit dem Blick geht das Subjekt aus sich heraus und ‚macht sich erst dadurch zum Subjekt. Es ist kein Blick auf ein Objekt‘, sondern bedeutet ‚eine Öffnung auf die Welt‘. Im Blick konstituiert sich auch eine Wesensähnlichkeit zwischen der Person im Porträt und der Person vor dem Porträt, über alle physiognomische Differenz hinaus.“362

Bei dem hier von Hans Belting thematisierten Blick handelt es sich um den Blick in Menschenbildern. Und doch hilft die Porträtmalerei bei der Analyse von Darstellungen nichtmenschlicher Individuen. Angenommen wird, dass in Tous Bildern der oder das Andere sich als ein präsentes Subjekt in die Bilder eingeschrieben hat. In seinen Bildern scheint das ‚konkrete Tier‘ insofern präsent, als das sich in ihnen das Leid manifestiert, welches Susan Sontag gewissermaßen als ,das Leiden anderer betrachtet‘, denn, „bei jedem Unheil, das ins Bild kommt, verspürt der Zuschauer Mitleid oder Empörung, Sensationskitzel oder Zustimmung.“363 Yun-Fei Tous Fotografien sind Leidensbilder, ihre Protagonisten tragen zugleich die Gesichter ihrer Väter364, Leidensväter, und der These folgend, Fotografien seien immer Bilder des Todes, da sich in ihnen die Vergangenheit eingeschrieben hat, ist ihnen der Memento-mori-Aspekt immanent. Mehr noch,

361 |  Belting: Faces, S. 150. 362 |  Ebd., S. 151. 363 |  Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, 3. Auflage, Frankfurt am Main 2010, S. 25. 364 |  Ebd., S. 150.

Das Tier als Form

sie nehmen das zwangsläufig unmittelbar bevorstehende Lebensende der Abgebildeten vorweg: „Selbst wenn der fotografierte Mensch noch am Leben ist, so ist doch der Augenblick, in dem er fotografiert wurde, auf Nimmerwiederkehr verschwunden. Um genau zu sein: die-Person-die-fotografiert-wurde – nicht die Gesamtperson, die eine Konstruktion ist – ist gestorben, gestorben, weil sie gesehen wurde.“365

Tou untertitelt seine Fotografien mit der exakten Datierung jener spezifischen Aufnahme, einer Ortsangabe, welche auf die taiwanesischen öffentlichen Tierheime verweist, in denen die Bilder entstanden sind, und der verbleibenden Zeit bis hin zur Euthanisierung, also Tötung des porträtierten Hundes. In dem Bewusstmachen dieser Zeitangabe, teil­weise handelt es sich lediglich um Minuten die nach der Fotografie verbleiben, bis das Tier eingeschläfert werden wird, liegt für den Betrachter das Unbehagen einer Ohnmacht: Jedem fotografischen Abbild ist die unausweichliche, fast unerträgliche Sicherheit inhärent, dass sich das Gesehene in der Vergangenheit und nur in dieser vollzogen hat. „[W]as die PHOTOGRAPHIE endlos reproduziert, hat nur einmal stattgefunden: sie wiederholt mechanisch, was sich existentiell nie mehr wird wiederholen können.“366 Und: „In ihr weist das Ereignis niemals über sich selbst hinaus auf etwas anderes: sie führt immer wieder den Korpus, dessen ich bedarf, auf den Körper zurück, den ich sehe; sie ist das absolute BESONDERE, die unbeschränkte, blinde und gleichsam unbedarfte KONTINGENZ“367. „Die bewußte Reaktion, die eine Fotografie auslöst, hat in der Geschichte kein Vorbild. Sie erzeugt nicht das Bewußtsein des Daseins des Gegenstands (das eine Kopie auslösen könnte), sondern des Dage wesensein. Wir stoßen hier auf eine neue Kategorie des Raum-Zeit-Verhältnisses: räumliche Präsenz bei zeitlicher Vergangenheit, eine unlogische Verbindung des Hier und Jetzt mit dem Da und Damals. […] [Die Realität der Fotografie – M.M.] ist die des Dagewesenseins, denn jede Fotografie legt

365 |  Christian Metz: Foto, fetisch, in: Kairos 1/2 (1989), S. 4–9, hier S. 6. 366 |  Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1985, S. 12. 367 |  Ebd.

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eine staunenerregende Evidenz über das ‚So war es‘ ab und gibt uns auf wundersame Weise eine Realität, von der wir abgeschirmt sind.“368

Indem sich Yun-Fei Tou die fotografische Referenz für seine Arbeit gleich mehrfach zu eigen macht, forciert er im Betrachter ein Gefühl von Unwohlsein. Einerseits kann der Betrachtende den Blick nicht abwenden, „[m] an hat gegen Bilder gelegentlich den Vorwurf erhoben, sie machten es möglich, Leiden aus der Distanz zu betrachten – als gäbe es auch eine andere Art des Betrachtens. Doch auch wenn man etwas aus der Nähe betrachtet – ohne Vermittlung durch ein Bild –, tut man nichts anderes als betrachten […]“369, die Fotografie aber verdeutlicht, dass keinerlei Einhaltgebieten mehr möglich ist370. Der Betrachter bleibt auf seiner passiven Ebene des Sehens verhaftet, ein Einschreiten ist unmöglich, die Hunde wurden bereits um ihr Leben gebracht, aber sie waren dort und haben sich als Emanation des Referenten in die fotografische Oberfläche eingeschrieben.371

368 |  Ders.: Rhetorik des Bildes, in: Stiegler: Texte zur Theorie (2010), S. 78–94, hier S. 87. 369 |  Sontag: Das Leiden, S. 137. 370 |  „[D]ie PHOTOGRAPHIE […] sprengt den ‚konstitutiven Stil‘ (darin liegt ihre Erstaunlichkeit); sie ist ohne Zukunft (darin liegt ihr Pathos, ihre Melancholie); sie besitzt nicht den geringsten Drang nach vorn, indes der Film weiterstrebt und somit nichts Melancholisches hat“. Barthes: Die helle Kammer, S. 100. 371 |  „Es heißt oft, die Maler hätten die PHOTOGRAPHIE erfunden (indem sie den Ausschnitt, die Zentralperspektive Albertis und die Optik der camera obscura auf sie übertrugen). Ich hingegen sage: nein, es waren die Chemiker. Denn der Sinngehalt des ‚Es-ist-sogewesen‘ ist erst von dem Tage an möglich geworden, da eine wissenschaftliche Gegebenheit, die Entdeckung der Lichtempfindlichkeit von Silbersalzen, es erlaubte, die von einem abgestuft beleuchteten Objekt zurückgeworfenen Lichtstrahlen einzufangen und festzuhalten. Die PHOTOGRAPHIE ist, wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin; die Dauer der Übertragung zählt wenig; die Photographie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns. Eine Art Nabelschnur verbindet den Körper des photographierten Gegenstandes mit meinem Blick: das Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium, eine Haut, die ich mit diesem oder jener teile, die einmal photographiert worden sind.“ Ebd., S. 90f.

Das Tier als Form

Der Künstler verbindet mittels der fotografischen Unmittelbarkeit Bildsubjekt und Rezipient miteinander und rekurriert damit auf den von Roland Barthes als ‚Nabelschnur‘ beschriebenen Bund, der einmal mehr an den Mythos um Marsyas und Apoll denken lässt. Demgemäß ist der Betrachter von den Porträts betroffen – sie betreffen ihn. Tou agiert mit der menschlichen Affektion. In ‚Memento mori‘ werden Affekte wie Mitleid, Hilflosigkeit, Betroffenheit und auch Ekel herauf beschworen, welche eng mit den Bildern verknüpft sind und sich kaum mehr aus des Betrachters Gedächtnis verdrängen lassen.372 Yun-Fei Tou fotografiert gegen das Vergessen und will sensibilisieren für die Vergehen an den vielen Hunden in Taiwan, welche den Status eines Spielzeuges haben und genauso schnell wie ein solches nicht mehr von Interesse sind. In staatlichen Tierheimen in Taiwan werden Hunde nach wenigen Tagen eingeschläfert373, wenn sich innerhalb einer Gnadenfrist niemand für ihr Leben interessiert. „‚Ich glaube, dass etwas nicht gesagt, sondern gefühlt werden sollte‘, sagt Tou. ‚Und ich hoffe, dass diese Bilder die Betrachter dazu bringen, über diese bedauernswerten Leben nachzudenken, mit den Tieren zu fühlen und die Unmenschlichkeit zu verstehen, der sie durch die Gesellschaft ausgesetzt werden.‘“374

Während einige der Porträts vor allem Mitgefühl und Zuneigung auszulösen vermögen, sind es andere, deren Betrachtung fast unerträglich scheint. (Abb. 11) Das Moment der Katharsis, nämlich dann, wenn eine Gefühlswahrnehmung wie Ekel oder Mitleid im Affekt den Betrachter eines Kunstwerkes durchfährt, reinigt in einem übertragenen Sinne von den vielen anthropomorphen Bildern und Vorbildern, und in diesem Moment zeigt sich das tierliche Individuum für einen fast ebenso kurzen Zeitraum

372 |  „Nonstop-Bilder (Fernsehen, Video, Kino) prägen unsere Umwelt, aber wo es um das Erinnern geht, hinterlassen Fotografien eine tiefere Wirkung. Das Gedächtnis arbeitet mit Standbildern, und die Grundeinheit bleibt das einzelne Bild.“ Sontag: Das Leiden, S. 29. 373 |  „In Taiwan werden in diesem Jahr schätzungsweise etwa 80.000 Hunde eingeschläfert. […] Laut Tierschützern werden 70 Prozent der Hunde in taiwanischen Tierheimen nach einer Wartezeit von zwölf Tagen getötet. Die Tiere werden meist von Hundefängern abgegeben, die Streuner oder ausgesetzte Tiere einsammeln.“ Schulz: Hunde vor Einschläferung (Internetquellen). 374 |  Ebd.

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als ein tatsächliches, leidendes, gepeinigtes, schmerzerfülltes etc. Individuum. In diesem kurzen Zeitraum begegnet man dem Tier. Schmerzhaft wird der Betrachter daraufhin auf die Tatsache zurückgeworfen, dass dieses Individuum für immer verloren ist. So kann man es „für seine Pf licht halten, Fotos zu betrachten, auf denen Grausamkeiten und Verbrechen festgehalten sind. Man sollte es in jedem Falle für eine Pf licht halten, darüber nachzudenken, was es heißt, solche Bilder zu betrachten, und wie es um die Fähigkeit bestellt ist, sich das, was sie zeigen, tatsächlich anzueignen.“375

2.6 Das ‚überindividuelle Tier‘ Während John Berger argumentiert, das Tier des modernen Denkens sei ein Surrogat der Absenz, erklärt Steve Baker in seinem ‚Postmodern Animal‘376 das Tier der Moderne als schlichtweg nicht vorhanden377: „As the example of modernist art history as a whole suggests, the animal comes to be least visible in the discourses which regard themselves as the most serious. The modern animal is thus the nineteenth-century animal (sym-

375 |  Sontag: Das Leiden, S. 111. 376 |  Der Aspekt findet unter auf den Seiten 30f. der vorliegenden Arbeit bereits ausführliche Betrachtung. 377 |  „The very idea of a ‚postmodern‘ animal, however loosely the term is employed, inevitably provokes the question ‚what was the modern animal?‘ The Postmodern Animal’s hypothesis ist hat there was no modern animal, no ‚modernist‘ animal. Between nineteenth-century animal symbolism, with ist reasonably secure hold on meaning, and the postmodern animal images whose ambiguity or irony or sheer brute presence serves to resist or to displace fixed meanings, lies modernism at ist most arid. This hypothesis, it must be said, is essentially art-historical in ist emphases: it is specifically to do with the look oft he animal body, and with what that look was understood to say about the artist responsible fort he representation. For modern art, the imperatives of formalism and abstraction rendered the image oft he human difficult enough. The image oft he animal was further hampered by memories oft he unashamedly anthropomorphic sentiment of an earlier age, which could hardly have been more at odds with the values oft he self-consciously serious modernist avantgardes. […] [E] ven when the animal was visually present, it could be explained away, and that one function of modernist art criticism was to do so.“ Baker: The Postmodern Animal, S. 20.

Das Tier als Form

bolic, sentimental), which has been made to dissappear.“378 Das postmoderne Tier hingegen sei nicht weniger ‚anwesend‘, „[b]ecause the look of the postmodern animal – no surprise here – seems more likely to be that of a fractured, awkward, ‚wrong‘ or wronged thing, which it is hard not to read as a means of adressing what it is to be human now.“379 Die Werke von Damien Hirst sind nur ein Beispiel für das, was mit Steve Baker als ‚Botched Taxidermy‘ bezeichnet werden kann.380 An die Stelle des ‚konkreten Tierlichen‘ tritt, und dies, obwohl es sich um präparierte Tierkörper handelt, also letztlich Reliquien, das Bild der eigenen menschlichen Vergänglichkeit. In vielen künstlerischen Werken wird das Tier als ein Element der Vanitas in die Bildwelten einbezogen. So ist das „Gesamtwerk von Damien Hirst […] von der Todesthematik geprägt. Dies ist nicht verwunderlich, weil der Tod als zwar erklärliches, aber nie begreif liches Phänomen jeden Menschen in mehr oder weniger großem Maße beschäftigen muß und folglich ein Kardinalthema in Kunst und Philosophie darstellt. Da alle künstlerischen Äußerungen in gewisser Weise das Leben zum Thema haben, umkreisen sie, in absolutem Sinn gesehen, indirekt immer auch den Tod.“381

Hirst spiegelt zwei Modi menschlicher Auseinandersetzung und Annäherung an das Phänomen des Ablebens und den sichtbaren Tod382: „Einerseits wird versucht, dem Phänomen des Todes durch die Betonung der Tatsache, daß das Tier tot ist, auf die Spur zu kommen, andererseits zeigt sich das Bestreben, mit dem Tiermotiv den Tod zu leugnen und damit aufzuhalten.“383 Wenn Hirst Fragmente tierlicher Körper in seinen Installationen verwendet, wie beispielsweise in ‚A thousand years‘ einen gehäuteten Kuhkopf, so ist dies wie ein Zitat menschlicher Sterblichkeit zu lesen.

378 |  Ebd., S. 21f. 379 |  Ebd., S. 54. 380  |  Steve Baker arbeitet in seinen Ausführungen zum postmodernen Tier die Umschreibung ‚tatty‘, die so viel bedeutet wie ‚zerfleddert‘, in Verbindung mit Hirsts ‚The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living‘ besonders heraus. 381 |  Thümmel: Shark Wanted, S. 93. 382 |  Vgl. ebd., S. 94. 383 |  Ebd.

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Hirst inszeniert in ‚A thousand years‘ einen Kreislauf des Fressens und Gefressenwerdens und einen Kreislauf von Geburt und Tod. In der Installation werden Fliegen gezüchtet, sie ernähren sich von den fleischlichen Überresten der Kuh und sterben letztlich in einem Fliegenvernichter. Hirst geht aber in seiner Aussage über das Darstellen der Sterblichkeit und Ermahnen an die Vergänglichkeit hinaus. In ‚The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living‘ wählt er „nicht nur das Tier als Motiv, sondern als ‚Material‘ als solches, weil er der Meinung ist, daß der Tod nur über ‚wirkliches‘ Material ‚wirklich‘ werden könne.“384 „Hirsts Kunstwollen kreist um das Bemühen, den Tod mit künstlerischen Mitteln ‚sichtbar‘ zu machen. Als Kunststudent hatte er im Leichenhaus Tote gezeichnet, um den Punkt herauszufinden, ‚where death starts and life stops straight in my head‘. Bei diesen Bemühungen mußte er feststellen, daß seine Suche nach dem Ausdruck des Todes scheiterte: ‚I don’t think death really exists in life. It’s that kind of looking for it and you can’t find it‘. […] Hirsts Annäherungsversuch an das Phänomen des Todes über das Zeichnen menschlicher Leichen war gescheitert. Aus den Menschenkörpern war der Eindruck der Körperlichkeit gewichen: ‚After the first two weeks I spent in a morgue they ceased tob e corpses.‘ Dies war für ihn der Anstoß, den immateriellen Tod metaphorisch anhand der Tiergestalt in eine Form der Darstellung zu bringen“385 .

Der präparierte Hai in ‚The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living‘ fungiert über die metaphorische Ebene hinaus als eine Art Transmitter. Der Betrachter ist in der Betrachtung des in Formaldehyd präparierten und temporär konservierten Haikörpers in ergriffener Weise betroffen. „Das als stellvertretendes Wesen begriffene Tier mit ‚überindividuellem‘ Charakter vermag dem Tod ein ‚überindividuelles‘ Aussehen zu verleihen, während der Tod eines Menschen zwangsläufig von anderen Menschen als individuelles Schicksal eines Einzelnen begriffen wird.“386 Ein anderes Beispiel einer vielleicht noch offensichtlicheren ‚Botched Taxidermy‘ sind die ‚Misfits‘ von Thomas Grünfeld, der Fragmente von präparierten Körpern von Hunden, Rehen, Schweinen, Vögeln etc. – sein

384 |  Ebd., S. 95f. 385 |  Ebd., S. 95. 386 |  Ebd., S. 102.

Das Tier als Form

Repertoire scheint unerschöpflich – zu wolpertingerähnlichen Konstrukten zusammenfügt. Hier steht aber wohl weniger das Fabulöse eines gehörnten Hasen als das Konzeptuelle einer ‚eierlegenden Wollmilchsau‘ im Vordergrund, womit der Anknüpfungspunkt zu den teilweise bis hin zur Groteske gezüchteten Rassetieren gegeben ist. Die Arbeit Longhursts knüpft an dieser Stelle kritisch an und hebt das in ihrer künstlerischen Auseinandersetzung dargestellte Tier in einen neuen Diskurs. So wie sich einst der Wandel von der Ikone zum Porträt vollzog, ein Wandel von einem heiligen Gesicht zu einem Gesicht, aus dem ein Subjekt blickt387, ist in ihrer Arbeit der Wandel des Tierporträts von der Darstellung eines symbolträchtigen Surrogats hin zu einem semipräsenten Subjekt nachzuvollziehen. In ihnen wiederholt sich die Emanzipation des Porträts388 in ihrer Bedeutung für das tierliche Abbild. Während ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ auf eine neue Rezeptionspraxis vorzubereiten scheint und optioniert, das Bild des Tieres kritisch zu hinterfragen – die künstlerische Aussage kreist um die Hintergründe der Zuchtästhetik, indem sie diese in Teilen imitiert und gleichermaßen unterläuft –, zeichnet die Strategie des Vexierens in ‚I know what you’re thinking‘ einen Bruch in der Wahrnehmung von Tierbildern nach. In der Vexierfrage steckt die Paradoxie zweier Präsenzen. Die Verweigerung liegt in dem Bildnis des Tieres, denn „[j]e mehr der Körper als Gegenstand der Repräsentation aus dem Bild verschwunden ist und je undurchdringlicher die mediale Oberfläche der Zeichen wird, desto mehr wird man auf die Präsenz seines eigenen Körpers und seines eigenen Blickes zurückgeworfen.“389 Die

387 |  Vgl. Belting: Faces, S. 148. 388 |  „Meist waren […] Porträts in einer starren Profilansicht wiedergegeben, ohne einen eigenen Bildraum zu besetzen, und besaßen auch keinen Bildträger, der sie als Tafelbild gegenüber ihrer Umgebung ‚autonom‘ machte. Ähnlich wie Bildnisse auf Münzen und Medaillen konnten sie niemals aus dem Bild herausblicken oder das Bild für sich behaupten. Das geschah erst, als das Porträt die Wende zur Fazialität vollzog in dem Sinne, dass sich das Gesicht aus der Fläche löste und dem Betrachter zuwandte, wie es bisher das Privileg der Ikone gewesen war. Mit der Herauslösung des Porträts aus der Fläche erwarb die dargestellte Person den Handlungsraum für eine eigene Präsenz, eine Präsenz in imagine, welche so suggestiv war, dass sie wie eine Präsenz in corpore wirkte. Präsenz ist mehr als Ähnlichkeit, weil sie die Gegenwart eines Gesichts im Bild behauptet und nicht nur eine Erinnerung an das Gesicht ist.“ Ebd., S. 150. 389 |  Schulz: Körper sehen, S. 13.

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Präsenz des Tieres ist aber dennoch gegeben, so dass der Betrachter sich nicht auf diesem Zurückgeworfensein auf Eigenpräsenz ausruhen kann. Jo Longhurst und auch Yun-Fei Tou emanzipieren sich von einer Tierbildnerei, die das ‚konkrete Tier‘ in die Abwesenheit trieb und dafür Sorge trug, Tiere „für immer im Reich der Legenden und Mythen zu verankern“390. Ihr Kunstschaffen arbeitet an dieser Mythologisierung und kratzt Schicht für Schicht von den Überlagerungen des konkreten Tieres ab. Longhurst und auch Tou lassen die Historie des Tierbildes zugunsten einer neuen Genese des tierlichen Bildes hinter sich und damit auch die Faszinationen für die Bewegung eines Eadweard Muybridge und die Zuchtästhetik des 18. Jahrhunderts mitsamt ihrer Nähe zur Trophäenfotografie in Jagd und Wilderei.391 Der Akt des Lauerns und Nachstellens der Jagdfotografen hat in zeitgenössischen Arbeiten dem Lauern eines Fotografierenden Platz gemacht, dem nicht länger Bäume, Sträucher und unwegsames Gelände, sondern vielmehr die eigene kulturelle Überfrachtung die Sicht verstellen: „Betrachtet man die Bewegungen eines mit einem Fotoapparat versehenen Menschen (beziehungsweise eines mit einem Menschen versehenen Fotoapparates), dann gewinnt man den Eindruck eines Lauerns: Es ist die uralte pirschende Geste des paläolithischen Jägers in der Tundra. Nur verfolgt der Fotograf sein Wild nicht im offenen Grasland, sondern im Dickicht der Kulturobjekte, und seine Schleichwege sind von dieser künstlichen Taiga geformt. Die Widerstände der Kultur, die kulturelle Bedingtheit, ist der fotografischen Geste anzusehen, und sie müßte, in der These, aus den Fotografien herausgelesen werden können. Das fotografische Dickicht besteht aus Kulturgegenständen, das heißt aus Gegenständen, welche ‚absichtlich hingestellt‘ wurden. Jeder dieser Gegenstände verstellt dem Fotografen den Blick auf sein Wild. Er schleicht zwischen ihnen hindurch, um der in ihnen verborgenen Absicht auszu-

390 |  „Es bedurfte schon der Zuhilfenahme sämtlicher mechanischer Aufnahmetechniken wie Fotografie, Chronofotografie und Kino, um das Pferd für immer im Reich der Legenden und Mythen zu verankern.“ André Gunthert: ‚Der weite Ritt. Das Pferd im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‘, in: Eskildsen/Lechtreck: nützlich (2005), S. 45–59, hier S. 58. 391 |  In den Zeugnissen der Rassezucht wird das Tier per se zu einem Attribut und/oder Artefakt des Menschen und somit zu einer Trophäe überhöht.

Das Tier als Form

weichen. Er will sich von seiner Kulturbedingung emanzipieren, will sein Wild unbedingt schnappen.“392

Longhurst fotografiert Haustiere, wie sie nicht besetzter und aufgeladener von Fremdbedeutung sein könnten, distanziert sich aber von einer Darstellungsweise, welche ausschließlich die menschliche Präsenz in den Vordergrund hebt. Das von Erik Kessels archivierte fotografische Fremdmaterial eines kinderlosen Ehepaares wird zu einem Tropus der Absenz des konkreten Tieres. ‚in almost every picture‘ ist ein schwarzer großer Hund zu sehen oder besser: ist ein schwarzer großer Hund nicht zu sehen. (Abb. 12) Vielmehr sind es schwarze Umrisse einer Hundegestalt, hervorgerufen durch das Unvermögen der Amateurfotografie, das Filmmaterial korrekt zu belichten. Der schwarze Fleck, in fast jeder Fotografie des Ehepaares, zeigt sich als Gesellschafter, Freund, Kindesersatz, ohne dass es dem Rezipienten gelingen kann, seine tatsächliche Statur oder seinen mimischen Ausdruck auszumachen. Damit rücken die Einrichtungsgegenstände, die jeweilige Mode der Kleidung und die Lebensalter der Menschen in den Fokus der Betrachtung. Erst eine allerletzte Abbildung in dem Buch ‚in almost every picture 9‘ zeigt eine Aufnahme des Hundes, derart überbelichtet, dass sich seine Gestalt in dem künstlichen Licht des Blickes aufzulösen scheint. (Abb. 13) Der eigentliche Protagonist der Fotografien, der Hund, um den sich das Familienleben zu drehen scheint, wird rezeptionsästhetisch betrachtet zu einem Emblem der Absenz. Sein Erscheinen als großer schwarzer, teils undefinierter Fleck im Bild bietet sich einerseits als ein Sinnbild für die erhebliche Relevanz dar, die Haustieren im Allgemeinen zugesprochen wird – der Hund ist, wie der Titel bereits vorwegnimmt, in fast jedem Bild –, andererseits fungiert das Haustier als ein Surrogat für diverse menschliche Verlangen. Die schwarze Fläche ist austauschbar. Der Rezipient kann mannigfach interpretieren, wie der Ausdruck etc. des Hundes sein könnte. Der Hund figuriert als ein unbeschriebenes Tafelbild, welches mit Inhalt versehen werden, in dem gleichen Maße aber auch von Inhalt befreit werden kann. In Longhursts Aussage wird die Überpräsenz des Menschen zur Diskussion gestellt und neu verhandelt. Die Künstlerin appelliert an eine Apperzeption des Betrachtenden. Ihre und ebenso die fotografischen Bilder

392 |  Vilém Flusser: für eine philosophie der fotografie, 11. Auflage, Berlin 2011, S. 31.

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von Yun-Fei Tou haben nichts gemein mit den Tierporträts eines Walter Schels, welcher in den 1980er Jahren den Versuch unternahm, ‚die Seele der Tiere‘ auf lichtempfindlicher Oberfläche widerzuspiegeln. Schels’ Aufnahmen, die unter formalen Kriterien auf den ersten Blick denen der Arbeit ‚I know what you’re thinking‘ ähneln, faszinieren aufgrund ihrer bestechenden Schärfe und zeichnen die tierlichen Brustbilder in Schwarz-weiß-Anmutung weich. Die konsequente Lichtführung, bei der sich Schlagschatten und Glanzlichter abwechseln, lässt die Tiere in dramatischen Szenerien auftreten, die an Werbefotografien erinnern. Im Umschlagtext des Kataloges ‚Die Seele der Tiere. Gesichter, Gefühle, Geschichten‘ heißt es: „Eindrucksvolle Begegnungen. In außergewöhnlichen Fotos zeigt der renommierte Fotograf Walter Schels über siebzig Tierpersönlichkeiten und offenbart damit ihre Seele.“393 Dass die Mitherausgeberin Sabine Schwabenthan dabei anhand von Mythen, Sagen, Märchen und Volksweisheiten den tierlichen Charakter zu porträtieren und beschreiben versucht394, ist auch für die Fotografien von Bedeutung. Anthropomorphe Modelle werden hier gleichwertig durch die Art der Abbildung und den Text konstruiert. Schels’ Bilder stehen in der Tradition der von Paul Eipper 1928 in seiner Publikation ‚Tiere sehen dich an‘ vereinten Bildnisstudien einer Hedda Walther.395 Eipper leitet mit den folgenden Zeilen in seine Überlegungen zum tierlichen Gegenüber ein: „In der Nähe von Tieren empfinde ich Glück und Befriedigung. Der Ameisenzug quer durch den Wald, die Weidekoppel hinter den Dünen, der Zeltstall im Wanderzirkus, ein Hund oder eine Katze, sie beeinf lussen meinen Weg, und oft fragen mich die Menschen: ‚Was tun Sie denn jeden Morgen im zoologischen Garten; das muß doch langweilig werden auf die Dauer? Warum gehen Sie denn in jeder fremden Stadt zuerst dorthin?‘ Schwer zu beantworten, diese Frage, und wiederum ganz leicht: Ich sehe Tiere an!“396

393 |  Walter Schels/Sabine Schwabenthan (Hrsg.): Die Seele der Tiere. Gesichter, Gefühle, Geschichten, München 2014, Umschlagtext. 394 |  Ebd. 395 |  In keiner der Fotografien Walthers wird dem Tier der erwidernde Blick zugestanden. Der Betrachter blickt auf das Tier, der tierliche Blick richtet sich nicht dem Betrachtenden entgegen. 396 |  Paul Eipper: Tiere sehen Dich an, Berlin 1942, S. 4.

Das Tier als Form

Die Auseinandersetzungen Eippers sind aus aktueller Sicht nahezu gänzlich von anthropozentrischen Praktiken bestimmt. Dennoch beobachtet Eipper das Tier intensiv und sucht nach Charakter- und Subjekteigenschaften der Individuen. So macht er aufmerksam auf tierliches Verhalten, das zwar als menschlich und somit als eine edle Gebärde397 bezeichnet wird, aber doch zum Beispiel Leidensfähigkeit und Freude als tierliche Affekte herausstellt. Auch die fotografischen Studien Hedda Walthers folgen einer Suche nach dem tierlich Individuellen und stellen damit eine Weiterentwicklung zu fotografischen Tierbildern der Zeit dar. Hedda Walther hatte bereits zuvor Studien betrieben, die ähnlich denen Jo Longhursts die tierliche Physiognomie untersuchen und 1931 unter dem Titel ‚Das Gesicht des Tieres‘ veröffentlicht wurden. Die Erläuterungen Adolf Koelschs zu den Bildern sind signifikante Merkmale des anthropozentrischen Denkens und anthropomorpher Sichtweisen. So erläutert Koelsch beispielsweise: „3. Gorilla (Gorilla gina), vierjährig. Ein Urwaldgeist, der vor der Menschenmacht abgedankt hat. Voll Schwermut, Kümmernis, Ergebenheit und Verzicht scheint er aus seinen großen, einsamen Augen, halb ängstlich, halb teilnahmsvoll, nach der sonderbaren Menschenwelt zu blicken, die ihn mit Rätseln umgibt.“398

397 |  „Am Karfreitag starb im Berliner Zoo das eine der beiden Elefantenkinder, die vor einem Jahr aus Afrika gekommen waren. Nun hat der überlebende Bruder seinen großen weiten Stall räumen müssen und steht wieder dort, wo sie ursprünglich beide untergebracht gewesen sind. Aber wie ganz anders steht er da, nicht mehr angeschmiegt an das Geschwister, neugierig mit dem Rüsselfinger durch die Eisenstäbe tastend; scheu und schüchtern lehnt er sich an die gekalkte Wand. Sein Rüssel liegt aufgerollt und zurückgebogen über der Stirn. […] Im Sommer zeigte sich draußen im weiten Auslauf das lebhafte Temperament der beiden Afrikaner. Sie rannten wild, ungeschickt und dabei irgendwie leichtfüßig über den Sand, trieben eine Holzkugel vor sich her oder peitschten sich gegenseitig und selber mit den Buchenzweigen, die ihre Rüssel vom Baum herabgerissen hatten. Von rückwärts sahen sie aus wie Dorfbuben in des wohlbeleibten Vaters Sonntagshosen; solche Falten warf ihre Haut am Hinterteil. Jetzt steht der eine von ihnen einsam an der Wand und rollt seinen Rüssel nach der Stirn. Wenn das bei den Elefanten eine Gebärde der Trauer ist, so muß man sie als eine edle Gebärde bezeichnen.“ Ebd., S. 12f. 398 |  Adolf Koelsch: Erläuterungen zu den Bildern, in: Emil Schaeffer (Hrsg.): Das Gesicht des Tieres, Zürich 1931, S. 11–16, hier S. 11.

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Die Fotografien Walthers scheinen dem voraus zu sein, auch wenn sich die Auseinandersetzung mit einer tierlichen Subjektivität in den Anfängen befindet. So stellt aber bereits Koelsch über das Gesicht des Tieres fest: „Alle Zustände und Bewegungen des Gemüts, die groben und feinen, finden ihren Widerschein im umschließenden Körper. Er ist die Stätte ihrer Entäußerung. So ist es beim Menschen, aber das gleiche gilt auch vom Tier“399. Diese Überlegungen zu einer gemeinsamen Physio­gnomie spiegeln sich in Fotografien wie denen einer Hedda Walther wider. Sie bilden die ersten Auseinandersetzungen mit einer Gesichtlichkeit des Tieres und gleichermaßen die Gefahr des Anthropomorphismus. „Neben der Beobachtung des Tiers in seinem Lebensraum, und sei es auch dem künstlichen des Zoos, entwickelte sich eine spezifische Form des charakteristischen Einzelporträts, wie es bereits die knappen Bildtitel andeuten: Junger Orang, Der Pfauenkranich, Das Weißschwanz- Gnu, Das Kamel etc. Unter den Tierfotografien des Jahrbuchs [Das Deutsche Lichtbild – M.M.] von 1930 finden sich sieben Aufnahmen, die sich nicht wesentlich von den Bildnissen menschlicher Modelle im Band unterscheiden. Augenfällig wird diese Suche nach einer repräsentativen Form von gemeinsamer ‚Gesichtlichkeit‘ auf einer der wohl schönsten Doppelseiten des Deutschen Lichtbildes.“400

Wenngleich einige formale Parallelen in den Fotografien Walthers, Schels’ und auch Longhursts auszumachen sind (fotografisches Bildmedium, Anschnitt, Frontalität etc.), zeigt sich in den Arbeiten Jo Longhursts eine Neuerung und Intensivierung in der Frage nach dem ‚konkreten Tier‘. Diese heben sich damit deutlich von den Porträts eines Walter Schels ab, der die bildnerischen Aussagen der 1930er und 1940er Jahre in eine neuere Ästhetik transferiert. Der Werkkomplex ‚The Refusal‘ von Jo Longhurst und auch Tous Affektevokationen haben hingegen progressiven Charakter. Zusammenfassend kann für das Werk Jo Longhursts die Idee der Perfektion als Sujet bestimmt werden. Der Idealstandard der Whippets wird gleichermaßen über ihr Erscheinungsbild generiert wie visualisiert, womit die Zucht als ästhetische Praxis beschrieben werden kann. Ute Eskildsen stellt fest: „Inspirierend für ihre Auseinandersetzung war die Frage, wann

399 |  Adolf Koelsch: Vorwort, in: Schaeffer: Das Gesicht (1931), S. 5–10, hier S. 5. 400 |  Ebner: Affe wie Eule, S. 172.

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die Vorstellung von Tieren als einer Vielheit sich zu der Vorstellung von einer ‚Gesamtheit Tier‘ gewandelt hat, die dem einzelnen Tier individuelle Züge verweigert.“401 In ihrer taxonomischen Untersuchung des Whippets nähert sie sich immer wieder der Frage nach dem individuellen Tier. Longhurst lässt mit ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ und ‚I know what you’re thinking‘ das Wechselspiel zwischen dem Tier als dem Anderen und der Überpräsenz des Menschen sichtbar werden. Ihre Bildstrategie ist es, den Anthropomorphismus offenzulegen, indem sie Porträts erschafft, denen die Frage nach dem perfekten Menschen im Hund inhärent ist. Es ist ein Sehen und Gesehenwerden, das sich auf den Menschen bezieht, welches Longhurst in ihrer Auseinandersetzung beschreibt. Wie auch ihr jüngstes Projekt, das sie in dem Jahr 2012 begonnen hat, handelt ‚The Refusal‘ von dem Bestreben nach Perfektion und Musterbild, was stets ein Vorstellungsbild des Ideals voraussetzt. In ‚Other Spaces‘ wendet Longhurst die Idee der Perfektion auf den menschlichen Körper an und fotografiert Gymnastiker des ‚Heathrow Gymnastic Clubs‘, der ‚Gemini Gymnastics‘ in Oshawa und auf den ‚World Artistic Gymnastics Championships‘. Aus dem fotografierten Material stellt die Künstlerin hybride Bildgefüge zusammen, die ein Idealbild erschaffen. Das Idealbild kann auch mit Vorbild beschrieben werden und damit mit einem bereits bestehenden Vorstellungsbild. „Ein richtiger Vorführ-Whippet wird zum Gesehenwerden gezüchtet. Die Züchter hoffen, einen vollendeten Hund zu erzielen.“402 Das Urbild des Tieres – „[w]ir sind zu ironischen Platonikern geworden, die nicht mehr an die Urbilder glauben, sie aber gleichwohl nicht aufgeben wollen und daher die Abbilder an ihre Stelle gesetzt haben“403 – wird zerstört und gleichsam übermalt. Die neu entstandenen Bilder gehen aus einer Anthropotechnik hervor, deren ästhetische Praxis es ist, das Abbild einem Vorstellungsbild anzugleichen. Damit wird das erdachte Bild, das Idealbild, zu einem Abbild und löscht das Urbild im Sinne einer von Thomas Macho beschriebenen ‚Nichtung‘ im Namen einer Steigerung des ‚Seins‘404 aus. Der Berliner Agrarethnologe Eduard Hahn „behauptete, weder mit (ungeplanter) Domestikation noch mit der Zähmung wil-

401 |  Ute Eskildsen: Vorwort, in: Ausst. Kat. Jo Longhurst. The Refusal (2008), S. 8–9, hier S. 8. 402 |  Ausst. Kat. Jo Longhurst. The Refusal, S. 45. 403 |  Bernd Stiegler: Zur gesellschaftlichen Lage der Fotografie, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1 (2004), S. 25–50, hier S. 32. 404 |  Vgl. Macho: Vorbilder, S. 438.

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der Tiere habe die Viehzucht begonnen, sondern mit der Haltung kleiner Herden in eingezäunten Gattern – zu Zwecken religiöser Bevorratung von Opfertieren“405 Die Typologien Longhursts – das Idealbild tritt sinnbildlich an die Stelle des Urbildes – zeugen davon, dass das Haustier nicht mehr Opfer religiöser Riten, sondern vielmehr Opfer menschlicher Fetischisierung 406 ist. Thomas Macho thematisiert den Zusammenhang zwischen dem ‚Nichten‘ und dem ‚Sein‘ am Beispiel des Opfers und des Fleischverzehrs: „Das ‚Vorbild‘ des erbeuteten oder geopferten Tiers wird während des Kultmahls zum Verschwinden gebracht, ausgelöscht und überschrieben vom Bild des Essenden, der sich den Charakter des getöteten Lebewesens, seine Kraft oder Schnelligkeit, anzueignen versucht. Repräsentiert wird das Tote nicht durch sein Bild (als Leichnam), sondern durch Inkorporation. Die Tötung, so scheint es, dient neuem Leben: im Sinne einer metabolischen Ontologie, nach deren Ritualen das Sein allemal ‚nichtet‘.“407

So wie das Bild des Essenden das Vorbild des geopferten Tieres auslöscht und überschreibt, tritt in der Rassezucht das menschlich erdachte Vorstellungsbild an die Stelle des Urbildes und überschreibt dieses. Dieser ästhetischen Praxis ist ein schöpferischer Gedanke inhärent, welcher mit der prometheischen Machtfantasie beschrieben werden kann. Prometheus erinnert einerseits an die griechische Mythologie und Prometheus als den Kulturstifter und/oder Schöpfer von Mensch und Tier, andererseits verweist das Prometheische auf Mary W. Shelleys Roman ‚Frankenstein

405 |  Ebd., S. 433. 406 |  Die Fotografie besitzt eine generelle Nähe zum Fetisch, was durch das Werk Longhursts noch eindeutiger erscheint: „[D]urch zwei Züge [wird – M.M.] eine gewisse Affinität zwischen dem Foto und dem Fetisch gestiftet: die Kleinheit und die Möglichkeit eines Anhaltens des Blicks [arrêt du regard]. Gleichermaßen verdankt sich auch der echte (klinische) Fetisch einem einzigartigen und definitiven Anhalten des Blicks, das für ein ganzes Leben Geltung behält.“ Christian Metz: Foto, Fetisch, in: Amelunxen: Theorie der Fotografie (2000), S. 345– 355, hier S. 346. Und: In diesem Geltungbehalten steckt wiederum ein Signum der Fotografie; ebenso in der Tatsache, die von Metz formuliert scheint, im privaten und familiären Leben liege die „Geburtsstätte des Fetischs (ebenso wie der fotografischen Praxis selbst)“. Ebd. 407 |  Ebd., S. 438.

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oder Der moderne Prometheus‘, in dem die Figur des Viktor Frankenstein letztlich vor einer entgrenzten menschlichen Vernunft warnt, die sich selbst zu Gott macht und sich anmaßt, Leben zu erschaffen und zu verändern. Longhurst expliziert in ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ und ‚I know what you’re thinking‘ die genetische Manipulation tierlicher Individuen als ästhetische Praxis zur Überwindung des Urbildes des Tieres. Dabei fokussiert sie in dem Wunsch nach dem Hervorbringen des ästhetischen Ideals der Vollkommenheit das Einschreiben menschlicher Präsenz. Während nachgedacht wird über die Schnittstelle Mensch-Maschine, vollzieht sich in der gegenwärtigen Tierzucht das Driften menschlicher Überpräsenz im tierlichen Körper. Die menschliche Sehnsucht nach dem Vorbild manifestiert sich darin, den tierlichen Körper einem Modell zu unterwerfen.

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Abbildung 2 Jo Longhurst: Twelve dogs, twelve bitches, 2001/2002 24 C-Prints auf Aluminium, je 60,9 × 40,6 cm

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Abbildung 3 Jo Longhurst: Twelve dogs, twelve bitches, 2001/2002 24 C-Prints auf Aluminium, je 60,9 × 40,6 cm, Detail

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Abbildung 4 Whippethündin Amber von Buchwald, o. D.

Abbildung 5 Whippethündin Jasmin Whipples Ranch, o. D.

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Abbildung 6 Wim Delvoye: Live tattooed pigs, 2005

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Abbildung 7 Wim Delvoye: Critical Elegance, 1998 Dimensionen variabel

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Abbildung 8 Jo Longhurst: I know what you’re thinking, 2002/2003 4 C-Prints auf MDF, je 101,6 × 76 cm

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Abbildung 9 Yun-Fei Tou: Memento mori 2/8, 2011/06/13, 11:44 a.m., 2011 C-Print

Abbildung 10 Yun-Fei Tou: Memento mori 6/8, 2011/08/01, 11:38 a.m., 2011 C-Print

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Abbildung 11 Yun-Fei Tou: Memento mori 1/8, 2011/10/24, 12:09 p.m., 2011 C-Print

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Abbildung 12 Erik Kessels: in almost every picture #9, 2010 Vorgefundene Fotografie aus Privatbesitz

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Abbildung 13 Erik Kessels: in almost every picture #9, 2010 Vorgefundene Fotografie aus Privatbesitz

3 Das Tier als Physis 3.1 S  ichtbarkeiten als Demarkation — Pierre Huyghes ‚Zoodram 4‘ Licht scheint durch leicht getrübtes Wasser auf erdig rotes Gestein. Krustige Formationen ragen wie Felsblöcke empor und bilden kulissenhaft eine Landschaft nach. Inmitten der unwirklich scheinenden Szenerie tauchen Wasserspinnen auf. Langsam, wie in Zeitlupe, ertasten sie das steinig-karge Terrain – ihr Terrain, denn, der Betrachter ist nicht Teil ihrer Umwelt. Er blickt von außen, durch eine von vier gläsernen Scheiben eines Aquariums, hinein in eine Welt aus Wasser und Lumineszenzen von Kobalt, Eisenoxid und Bronze. Auf dem Untergrund liegt, ruhend, Constantin Brâncușis ‚La muse endormie‘, die schlafende Muse, Skulptur eines ab­strahierten Frauengesichtes mit geschlossenen Augen, und in ihr, vielmehr in ihrer Nachbildung, der filigrane Körper eines Einsiedlerkrebses. (Abb. 14) Pierre Huyghes ‚Zoodram 4‘ ist Sinnbild einer Demarkationslinie von ‚Sichtbarkeit‘ und ‚Autokonstruktion‘, wie der Künstler selbst die Installationen nennt, die er, von Tieren bevölkert, zur musealen Schau stellt. Die Bewohner von ‚Zoodram 4‘ leben in einem für sie künstlich, aber dennoch lebensfreundlich erschaffenen Habitat, dessen Zutritt dem Menschen aufgrund des vorherrschenden Milieus verwehrt bleibt. Damit scheiden sich zwei Welten an den Scheiben eines Wassertanks. In der Ambivalenz des Aquariums aber – es ist gleichermaßen durchscheinend für den betrachtenden Blick, wie es diesen an den räumlichen Grenzen abstößt – vollzieht sich die Frage nach anthropologischer Differenz und Grenze zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren, die in den Werken Pierre Huyghes nachzuzeichnen sich die vorliegende Auseinandersetzung zur Aufgabe gemacht hat. Indem sich der Mensch in dem polierten Gesicht der ‚muse endormie‘ zu spiegeln und erkennen glaubt, die längst mit dem Körper des Einsiedlerkrebses eins geworden ist, gerät diese Grenze, die letztlich eine imaginäre ist, sinnbildlich ins Wanken.

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Exkurs: „Der Hund ist anwesend!“ „Der Hund ist anwesend!“, verkündete Katia Baudin, die damalige stellvertretende Direktorin des Museums Ludwig Köln, anlässlich der PierreHuyghe-Ausstellung 2014. 408 Zur Stunde sei er zwar noch nicht eingetroffen, werde aber spätestens zur feierlichen Eröffnung am Abend erwartet. Und dann werde er auch während der gesamten Ausstellungsdauer mit seinem Halter in Köln wohnen, so schrieben die Welt 409, Monopol 410 und die Westdeutsche Zeitung 411 bezugnehmend auf die bevorstehende Eröffnung der Ausstellung. Schnell nehme ich die Stufen herab in Richtung der großen Retrospektive Pierre Huyghes, fast zu schnell um den Teppichboden wahrzunehmen, über den der Besucher die Ausstellung betritt. Dieser Bodenbelag ist dem Verwaltungstrakt des Museums Ludwig entnommen. Er trägt die Abnutzungsspuren von über zehn Jahren und zeichnet damit die Wege nach, die eingeschlagen und genommen wurden. Indem auch ich zwangsläufig meine Spur in den Flor einschreibe, verorte ich mich, ebenso die Besucher vor und nach mir. An einer weißen Stellwand, einer neuen Inkarnation von Huyghes Werkgruppe ‚Umwelt‘, nehme ich im Vorübergehen einige kleine schwarze Punkte wahr. Meiner kindlichen Neugierde Folge leistend, entdecke ich beim näheren Hinsehen eine Ameisenstraße auf der sonst makellosen weißen Oberfläche. ‚Umwelt‘ aus dem Jahr 2011 stellt, wie ich

408 |  Die Ausstellung wurde vom Centre Pompidou, Musée National d’art moderne, Paris, in Zusammenarbeit mit dem Museum Ludwig, Köln, und dem Los Angeles County Museum of Art organisiert und nahm jedes Mal andersartig Gestalt an. 409 |  O. A.: Der Hund ist anwesend, in: Die Welt vom 23. Mai 2014, auch online unter: http:// www.welt.de/print/welt_kompakt/koeln/article128323564/Der-Hund-ist-anwesend.html (letzter Zugriff: 30.10.2017). 410 |  O. A.: Pierre Huyghe in Köln. Der Hund ist anwesend, in: Monopol, 10. April 2014, http://www.monopol-magazin.de/der-hund-ist-anwesend (letzter Zugriff: 30.10.2017). 411 |  Christoph Driessen: Museum Ludwig zeigt Pierre Huyghe: „Der Hund ist anwesend“, in: Westdeutsche Zeitung vom 21.4.2014, auch online unter: ht t p://w w w.w z.de/home/kultur/museums-ludwig-zeig t-pier re -huyghe - der-hund-istanwesend-1.1616702 (letzter Zugriff: 30.10.2017).

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mich später kundig machte, Ameisen der Familie ‚Polyrhachlis dives‘412 und einige angekündigte gewöhnliche Hausspinnen aus, die meinen Blicken jedoch verborgen bleiben. Die Ameisen, in reges Treiben vertieft, scheinen keine Notiz von mir zu nehmen oder nehmen zu können. Ich sehe auf sie herab und bezweifle, dass Insekt und Mensch das Raum- und Zeitgefüge der Ausstellungssituation in gleicher Weise zu erfassen vermögen. Die Ameisen befinden sich in demselben Raum wie die Betrachter und doch erweckt es den Anschein, als besiedelten sie einen autarken Mikrokosmos. Insekten, das sind immer die Anderen. Anders als beispiels­weise Hans Haackes ‚Ameisenkooperativ‘ von 1969, eine Art Ameisenfarm, oder Luis Benedits labyrinthische ‚Microzoos‘413 sind die Ameisen in Pierre Huyghes ‚Umwelt‘ nicht durch eine künstliche Begrenzung von dem Betrachter getrennt. Dass sie dennoch nicht als Teil der mensch­lichen Umwelt wahrgenommen werden und, anders als andere Tiere, kaum menschliche Empathie erfahren, mag dieser künstlerischen Arbeit immanent sein. In Anverwandlung des innerhalb der Gesellschaft immer weniger relevanten bürgerlichen Habits, dem Autorität gebietenden schwarzen Saaldieneranzug, mit übermäßig gestauchten Hosenbeinen und deutlich zu kurzen Ärmeln, fragt mich ein Mann am Eingang des Ausstellungsraumes nach meinem Namen. Unsicher und zweifelnd, was diese Frage und vielmehr ihre Beantwortung mit sich bringen wird, halte ich für einen Augenblick inne, um daraufhin diesem mir vollkommen Fremden zu verraten, welchen Namen ich führe. Noch bevor mir bewusst wird, dass mich dies aus meiner mir Sicherheit suggerierenden Anonymität an diesem Ort heraus-

412 |  So wurde 2011 während der Ausstellung ‚Influents‘ in der Berliner Galerie Schipper eine Werkliste ausgehändigt, welche ‚Umwelt‘ als Einzelarbeit mit 10.000 Ameisen und fünfzig Spinnen auswies. Der Eingang des Ameisennestes sei als Referenz zu einem an der Wand hängenden Kunstwerk in Augenhöhe angebracht. Vgl. Ingeborg Wiensowski: Kommet, ihr Ameisen!, Spiegel Online, 4. Oktober 2011, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ ausstellung-influants-kommet-ihr-ameisen-a-789446.html (letzter Zugriff: 30.10.2017). Auch wurde darauf hingewiesen, dass ‚Umwelt‘ ein ‚Environment‘ ist, womit die Intention einer Beziehungssetzung zwischen Objekt und Umgebung im Sinne der ‚environments‘ einer Kunst der 1950er Jahre offengelegt wird. Die Überwindung der Trennung zwischen Kunst und Leben und das Spiel mit der Bedeutung von Umfeld, Umgebung und Raum wird von Pierre Huyghe ebenfalls in anderen Arbeiten verfolgt. 413 |  Vgl. Petra Lange-Berndt: Das Zeitalter der Insekten, in: Ullrich/Weltzien/Fuhlbrügge: Ich, das Tier (2008), S. 133–143, hier S. 136.

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reißen wird, tut der ‚name announcer‘ das, was seine ihm von Huyghe vorgesehene Rolle vorschreibt, sonor ruft er meinen Namen aus. Er tut dies so laut, dass andere Besucher in meiner Nähe wissend und erleichtert aufsehen, denn auch sie sind aus der Namenslosigkeit des Museumsbesuches gerissen worden. Ich erröte und fühle mich ertappt. Ich weiß mich im Blick der Anderen. Ich bin in der Ausstellung. Ich bin anwesend und so auch alle weiteren Besucher, die ich anders als in vergangenen Ausstellungen ebenfalls als präsent wahrnehme. Präsenz, Leiblichkeit und damit Affekte als besondere Qualität des Fühlens wie beispielsweise Scham werden hervorgerufen. Nach einer kurzen Zeit der Verunsicherung – es scheint als sähen mich die anderen Menschen an, statt sich der Werke Huyghes zu widmen – besinne ich mich auf den Grund meines Besuches: Ich bin auf der Suche nach der weißen Podencohündin mit dem bedeutsamen Namen ‚Human‘ oder besser mit dem inhaltsschweren Titel ‚Human‘, die u. a. Teil der temporären Installation ‚Untilled‘ aus den Jahren 2011/2012 auf der dOCUMENTA (13) war.

3.2 Pierre Huyghes Arbeit an der Aggregation Hier hat Huyghe in der Kompostierungsanlage der Kasseler Karlsaue ein als ‚Untilled‘414 bezeichnetes Biotop angelegt. Der Titel – zu Deutsch: un­be­ stellt, unkultiviert – akzentuiert die Imponderabilität der Tier- und Pflanzeninstallation. Das Biotop umfasst diverse Objekte, Skulpturen, Reliquien und Subjekte, die in dieser Aggregation neben einer Assoziation von Objekten auch einen Dialog von Subjekten kennzeichnen. Die Bestandteile des von Huyghe komponierten Gartens lesen sich wie die aus dem Modellbuch übernommenen Elemente barocker Gartenkunst: Pflanzen, Wege,

414 |  Dass bei einem ersten Lesen des Titels die Bezeichnung ‚Untitled‘ vermutet werden kann, scheint implizit. Damit wird das Fehlen einer Titelgebung eines Kunstwerkes zum Ausdruck gebracht. Ob ein Kunstwerk keinen Titel verdient hat, es keinen passenden Titel gab, sich das Kunstwerk gegen jeglichen Versuch einer Betitelung aufgelehnt hat oder ob es sich um eine Geste handelt, die keine weitere Kontextualisierung zulässt, bleibt im Verborgenen. Pierre Huyghe könnte, so lässt sich bei ‚Untilled‘ vermuten, in einer zweiten Bedeutungsebene expliziert haben wollen, dass es nicht möglich erscheint, einem natürlichen, unwägbaren und unbeständigen Gefüge einen Namen aufzuerlegen.

Das Tier als Physis

Anschüttungen, Planierungen, architektonische Segmente, ein Wasserbassin, eine Skulptur. Im Detail betrachtet aber stellt die ‚Compost Site‘, so auch die Betitelung des Künstlers,per definitionem das Antonym der ursprünglich barocken Parkanlage der Karlsaue dar. Die Pflanzen: Fingerhut, Tollkirsche, Stechapfel, Cannabis und Roggen, die auf den Komposthügeln wuchsen, können für die Herstellung halluzinogener Drogen verwendet werden und gehören damit zu den medizinischen, aphro­disierenden und bewusstseinserweiternden Substanzen. Während der Barockgarten mit seinen einzelnen Kompartimenten Teil eines architektonischen Gesamtkonzeptes war, erweckt Huyghes Garten den Anschein, als sei er die Negativform eines solchen. Die der gewöhnlichen Aufmerksamkeit verborgene Kompostierungsanlage der Karlsaue wird von Huyghe zu dem Ort seines Kunstwerkes transformiert. So befindet sich auf der einen Seite die Parkanlage Kassels, auf einer anderen Seite die Kompostierungsanlage, die genau genommen die Parkanlage mit frischem Humus speist und damit als Lieferant neuer Energie und Blutzufuhr angesehen werden kann. Die Wege in ‚Untilled‘ sind nicht vorgegeben, sie erscheinen eher als Angebot oder Möglichkeit, das pulsierende System zu entdecken. Dort, wo in den Grünanlagen des Barock nicht nur die Ausrichtung zum Herrschafts- oder Herrensitz vorgegeben, sondern auch das Entlangschreiten der Wegpassagen akribisch durchdacht, somit jede Blickrichtung vorhersehbar war, wirkt ‚Untilled‘ als mehrdimensionales, offenes Konstrukt, welches keine Richtung vorgibt, sondern sowohl in der räum­lichen wie auch zeitlichen Ebene erfahrbar sein sollte. Anschüttungen von Erde, Kompost und Geröll sind nicht eindeutig der Handlungsweise des Künstlers zuzuschreiben. „Es gab auch Aspekte der Arbeit, die offenblieben. Ich weiß bis heute nicht, ob Huyghe die Hügel aufgeschüttet hatte oder ob diese bereits vorher da waren, ob der Weg angelegt war und welche Pf lanzen an diesem Ort wuchsen beziehungsweise welche er gepf lanzt hatte.“415

415 |  Dorothea von Hantelmann: Denken der Ankunft. Pierre Hyghes Untilled, in: Lotte Everts/Johannes Lang/Michael Lüthy/Bernhard Schieder (Hrsg.): Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation — Kritik — Transformation, Bielefeld 2015, S. 223–239, hier S. 224.

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Und doch müssen auch die Reifenspuren eines landwirtschaftlichen Vehikels, die Anhäufungen und Aufschüttungen als Teil der Installation wahrgenommen werden, die Dorothea von Hantelmann in ihren Über­legungen zu ‚Untilled‘ als ein Zusammenspiel von Gestaltung und Ungestaltetsein verortet. Huyghes Arbeit geht über das Gestaltetsein hinaus. Der Künstler integriert Vorgefundenes und Künstliches, ebenso, wie er die Vergangenheit und die Zukunft mitdenkt. Das Werk bleibt nicht auf der Ebene des Anschaulichen verhaftet, sondern wird vom Künstler als ein immerwährender Diskurs verstanden. Der Künstler selbst beschreibt die Installation am Rande der Karlsaue als einen Polylog von Räumen und Zeiten, Immersionen und Realitäten: „Der Ort ist eingezäunt. Elemente und Räume aus verschiedenen Zeiten der Geschichte liegen nebeneinander ohne chronologische Ordnung oder ein Zeichen ihrer Herkunft. Was da ist, sind entweder physische Bearbeitungen fiktionaler oder wirklicher Zeugnisse oder bereits bestehende Dinge. Im Kompost der Karlsaue haben Artefakte, unbelebte Elemente und lebende Organismen … Pf lanzen, Tiere, Menschen, Bakterien alle Kultur abgelegt. Die Transaktionen zwischen ihnen laufen ohne Drehbuch ab. Es gibt Gegensätze, Bündnisse, Gastfreundschaft und Feindseligkeit, Korruption, Trennungen und Verfall oder Zusammenbruch ohne Begegnungen. Es gibt Umstände und Abweichungen, die das Auftreten von Komplexitäten ermöglichen. Es gibt Rhythmen, Automatismen und Zufälle, unsichtbare und schleichende Verwandlungen, Bewegungen und Prozesse, aber keine Choreografie; Klänge und Widerhall, aber keine Vielstimmigkeit. Es gibt Wiederholung, chemische Reaktion, Vermehrung, Bildung und Lebendigkeit, aber ob es ein System gibt, ist nicht sicher. Die Rollen sind nicht verteilt, es gibt keine Organisation, keine Repräsentation, keine Ausstellung. Es gibt Regeln, aber keine Grundsätze. Der Kopf ist hinter einem Bienenstock verborgen. Die Kolonie bestäubt aphrodisierende und bewusstseinsverändernde Pf lanzen. Ihr kopf loser Körper liegt im Dreck. Der Mann bewegt sich als Automat durch den Tag. Belebe den Tod mit einer unendlichen Wiederholung des Lebens, 1914. Ein f luoreszierender Hund im Schatten von Betonplatten entwöhnt einen Welpen. Eine Beuys-Eiche wurde entwurzelt. Myrmekochorie findet statt, Ameisen verbreiten ihre Samen. Die Blinden zerquetschen sie. Es gibt keine Farbe, keinen Geruch. Selbst geworfen in den ewigen Sachverhalt … wo ihr Arm sie vor der Sonne schützte, siedelten sie sich an. Es ist endlos, unauf hörlich.“416



416 |  Pierre Huyghe: Untilled, in: Ausst. Kat. dOCUMENTA (13). Das Begleitbuch/Katalog 3/3. dOCUMENTA (13), Kassel 9. Juni bis 16. September 2012, herausgegeben von der documenta/dem Museum Fridericianum, Ostfildern 2012, S. 262.

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Der von dem Künstler beschriebene Polylog erinnert an die Rhizomstrukturen Deleuze’ und Guattaris, welche in der Evokation eines vermeintlichen Urzustandes in einem Zusammenhang mit Pierre Huyghes Kompositum gesehen werden können. 417 Ein Plan 418 Huyghes zum Arrangement von ‚Untilled‘ auf der dOCUMENTA (13) visualisiert den möglichen Polylog der Elemente des installativen Systems von Huyghe. Auch dieser knüpft an die Prinzipien des Rhizomatischen an. So heißt es bei Deleuze und Guattari: „Man muß dem Rhizom durch Brüche hindurch folgen, die Fluchtlinie verlängern, fortsetzen, wechseln und ändern, bis die abstrakteste und verschlungenste Linie mit n Dimensionen und gebrochenen Richtungen entsteht.“419 Zudem definieren Deleuze und Guattari das Rhizom als genuin Kartierendes: „Der Baum verbindet die Kopien und ordnet sie hierarchisch, die Kopien sind sozusagen die Blätter des Baumes. […] Ganz anders das Rhizom, das eine Karte und keine Kopie ist. […] Die Karte ist das Gegenteil einer Kopie, weil sie ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist. Die Karte reproduziert kein in sich geschlossenes Unbewußtes, sie konstruiert es. […] Die Karte ist offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen. Man kann sie zerreißen oder umkehren; sie kann sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe, einer gesellschaftlichen Organisation angelegt werden. Man kann sie auf eine Wand zeichnen, als Kunstwerk konzipieren oder als politische Aktion […] begreifen.“420

Neben den Schemata von Eiche und Statue sind die Grundrisse der Hügel, Pflanzstellen und möglichen Wege eingezeichnet, wobei der Duktus des Entwurfs – die Skizzierung hat etwas Beiläufiges und erinnert an Gekritzel mit einem Kugelschreiber – mannigfache Überlappungen her-

416 | Pierre Huyghe: Untilled, in: Ausst. Kat. dOCUMENTA (13). Das Begleitbuch/Katalog 3/3. dOCUMENTA (13), Kassel 9. Juni bis 16. September 2012, herausgegeben von der documenta/dem Museum Fridericianum, Ostfildern 2012, S. 262. 417 |  Vgl. Deleuze/Guattari: Kapitalismus, S. 11–42. 418 |  Vgl. Huyghe: Untilled, S. 263. 419 |  Deleuze/Guattari: Kapitalismus, S. 22. 420 |  Ebd., S. 23f.

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vorbringt. Zwei Verweise, die in die Zeichnung in Form einer liegenden menschlichen Figur und eines liegenden Baumes skizzenhaft integriert sind, scheinen von besonderer Bedeutung. Huyghe kündigt in den Zeilen seines Beitrages der dOCUMENTA bereits an, dass Elemente aus verschiedenen Räumen und Zeiten der Geschichte vorliegen, womit nicht nur das offensichtliche Zitat der Skulptur gemeint ist, die eine Reminiszenz an die ‚Liegende‘ von Max Reinhold Weber aus den 1930er Jahren ist und deren Kopf über und über von Bienen bedeckt ist. Tatsächlich ist ihr Haupt von einem Bienenstock umbaut 421, wofür die Betonskulptur für die Dauer der Ausstellung künstlich beheizt wurde. 422 Eine der 7000 Eichen des Werkes ‚7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung‘ von Joseph Beuys, der Künstler hatte diese über mehrere Jahre hinweg für die documenta 7 im Jahre 1982 gepflanzt und mit einer Basaltsäule daneben versehen, ist an einem der zwei möglichen Eingänge von ‚Untilled‘ platziert. Sie ist einem Mahnmal gleich und verkündet das Gescheitertsein der Stadtverwaldung. Huyghes Reminiszenz an Joseph Beuys zieht sich in besonderer Weise durch sein Werk. Ein weiterer Baum verweist hingegen auf den ‚Dead Tree‘ Robert Smithsons, der am Ende der Ausstellung ‚Prospect 69‘ der Kunsthalle Düsseldorf zerstört wurde423. In der ‚City‘424 – wie Huyghe das Areal bezeichnet, in dem zu Hügeln aufgestapelte Pflastersteine und aufgebrochene Asphaltplatten den erdi­ gen Untergrund überziehen – liegt ebenfalls umgestürzt die fast zwei Me­ ter lange rote Betonbank, die von Dominique Gonzales-Foerster in ihren ‚Park: A Plan for Escape‘ auf der Documenta 11 im Jahre 2002 integriert 421 |  „Schwarmintelligenz ersetzt hier sozusagen Gehirn und menschlichen Verstand. Dezentrale„Schwarmintelligenz Lenkung, Reaktion auf die Signale der Mitbewohner undmenschlichen einfache Regeln – das hilft 421 |  ersetzt hier sozusagen Gehirn und Verstand. Dedem Bienenvolk sich auf zu organisieren. NurMitbewohner gemeinsam und können sie komplexe zentrale Lenkung,dabei, Reaktion die Signale der einfache Regeln – Situatiodas hilft nen bewältigen.“ O. A.: Künstlerischer Kontrollverlust. Pierre Huyghes documenta-Biotop, in: dem Bienenvolk dabei, sich zu organisieren. Nur gemeinsam können sie komplexe SituatioArtMag 4 (2014),O. A.: auchKünstlerischer online unter: Kontrollverlust. http://db-artmag.de/de/71/feature/kuenstlerischernen bewältigen.“ Pierre Huyghes documenta-Biotop, in: kontrollverlust-pierre-huyghes-documenta-biotop/ (letzter Zugriff: 30.10.2017). ArtMag 4 (2014), auch online unter: http://db-artmag.de/de/71/feature/kuenstlerischer422 |  „Für seinen Documenta 13-Beitrag goss die(letzter Kunstgiesserei die ‚Liegende‘ von Max kontrollverlust-pierre-huyghes-documenta-biotop/ Zugriff: 30.10.2017). Reinhold Weber (1897–1982 ) in Beton, die später von Pierredie Huyghes Arbeitvon im Aus422 |  „Für seinen Documenta 13-Beitrag gossein dieElement Kunstgiesserei ‚Liegende‘ Max senraum bildete. […] Um die Symbiose zuzuspitzen dievon sichPierre verändern (Kompost, Reinhold Weber (1897–1982 ) in Beton, die spätervon einDingen, Element Huyghes Arbeit Pflanzen, Tiere) und Dingen, verändern (steinerner Künstim Aussenraum bildete. […] die Umsich die nicht Symbiose zuzuspitzen von Frauenakt), Dingen, dielegte sich der verändern ler in Zusammenarbeit mit der einem Imker am Kopf derFrauenakt), Liegenden einen (Kompost, Pflanzen, Tiere) undKunstgiesserei Dingen, die sichund nicht verändern (steinerner legte Bienenstock an.Zusammenarbeit Dafür musste der mittels eines auf Kopf Körpertemperader Künstler in mittote der Beton Kunstgiesserei und Heizsystems einem Imker am der Liegentur gebracht werden.“ Kunstgiesserei (Hrsg.): PierreBeton Huyghe. Untilled Frauenakt), den einen Bienenstock an. Dafür musste der tote mittels eines(Liegender Heizsystems auf Kör2011-2012, http://www.kunstgiesserei.ch/index.php?id=670 (letzter Zugriff: 30.10.2017). pertemperatur gebracht werden.“ Kunstgiesserei (Hrsg.): Pierre Huyghe. Untilled (Liegender Frauenakt), 2011-2012, http://www.kunstgiesserei.ch/index.php?id=670 (letzter Zugriff: 30.10.2017). 423 |  Auch die drei nachfolgenden Rekonstruktionen von ‚Dead Tree‘, die für andere Ausstellungsorte herangezogen wurden, erfuhren ihre Zerstörung bei Beendigung der Ausstellungen. 424 |  Vgl. Marie-France Rafael: Pierre Huyghe ‚on site‘. Atelierbesuch, Berlin 2002, S. 12.

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wurde. Das Umwerfen dieser Bank aus Taipeh – Gonzales-Foerster ließ verschiedene geografisch und historisch kodierte Elemente Bezug zueinander aufnehmen – ist gleichermaßen ikonoklastischer Akt als auch Infragestellung der prästabilierten harmonischen Kultur des Kunstbetriebes. Die Skizze Huyghes zeigt nicht nur die mögliche Orientierung des Besuchers in seinem Garten, sondern enthält auch die Richtungsweisen und Straßen der Ameisen, die er am Fuße der Eiche angesiedelt hat und welche Myrmekochorie ermöglichen, also jenen Ausbreitungsmechanismus, mit dem Ameisen Früchte, Samen und Sporen über weite Strecken verbreiten können. Auch scheint es, als habe er in der Zeichnung die rhizomatischen Beziehungen unter den Elementen durch Pfeile visualisiert. Der Plan enthält zusätzlich den Verweis auf einen bemalten Hund und zwei Welpen. Das darunter angeführte Wort ‚Milk‘ lässt den Rückschluss zu, dass es sich um zwei sehr junge Welpen handelt 425, die noch nicht von dem Muttertier entwöhnt worden sind, was die Bedeutungsebene eines weiteren Systems, nämlich das des Säugens, beinhaltet hätte. Weitere Systeme werden durch das Einzeichnen der Standorte von ‚All Sexual Plants‘, ‚Degistive System Plants‘ und ‚All Plants‘ angedeutet, also Pf lanzen, die sich in einer speziellen Weise auf die menschliche Sexualität, das Verdauungssystem und den psychischen Zustand auswirken. Unter den psychoaktiven Gewächsen gibt es eine Differenzierung. Hier wird dezidiert auf Cannabis, Schlafmohn und den Peyotekaktus hingewiesen. Auch stellt der Künstler Zustände einander gegenüber. So sind die verrottenden Pf lanzen ‚Rotten Plants‘ im Begriff, sich in ihre Einzelbestandteile aufzulösen, während es eine Art wildwuchernden Bereich gibt, der in seinem Wachstum übergroß geworden ist und anhebt, sich weiter auszubreiten. Dem toten Beton steht die Temperatur von 35 Grad C gegenüber, auf welche die Skulptur gebracht werden muss, um den Bienen die notwendige Lebensbedingung zu erschaffen. Ein Bienenstock wird von den Insekten unter natürlichen Bedingungen selbstständig aufgeheizt. Bienen können bei geringerer Körpertemperatur nicht fliegen. Über 38 Grad C verfallen sie in eine Hitzestarre. Damit bewegt sich die Körpertemperatur der Honigbiene sehr nah an der mensch-

423 |  Auch die drei nachfolgenden Rekonstruktionen von ‚Dead Tree‘, die für andere Ausstellungsorte herangezogen wurden, erfuhren ihre Zerstörung bei Beendigung der Ausstellungen. 424 |  Vgl. Marie-France Rafael: Pierre Huyghe ‚on site‘. Atelierbesuch, Berlin 2002, S. 12. 425 |  Huyghe hat diese Überlegung für die Realisierung nicht übernommen.

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lichen Körpertemperatur. Dass die ‚Liegende‘, als Abbild eines Menschen, auf die Körpertemperatur der Biene erhitzt wird, ist der Verweis auf eine erdachte Körperschaft zwischen tierlichen und menschlichen Gefügen. Mit dem Einzeichnen eines Kraters, der Bodenmasse und eines Hortisolhügels dehnt Huyghe seinen Plan in eine weitere Dimension aus. Er beachtet ebenso die Erdvorkommnisse, also die Bodenbeschaffenheit, als auch die Aus­weitung in die Höhe, indem er den Weg der Sonne vermerkt. Damit ist seinem Garten der Status einer raumgreifenden, mehrdimensionierten Installa­tion zuzusprechen. Neben den Kartierungen integriert Huyghe Jahres­zahlen und Literaturan­gaben in seinen Plan. Das Jahr 1968 erinnert an die studentischen Revolten und Bürger­rechtsbewegungen, die zu massiven kulturellen, politischen und ökonomischen Veränderungen führten. Pierre Huyghe, der selbst 1962 in Paris geboren wurde, mag an die Pariser Maiunruhen gedacht haben, als er diesen Vermerk eintrug. Unterhalb des dreidimensional gezeichneten Wasserbassins im unteren rechten Bildrand und oberhalb rechts davon betitelt Huyghe zwei Romane, welche an einer anderen Stelle noch aufschlussreicher erscheinen. Es existiert ein weiterer, zweiter Plan Huyghes zu ‚Untilled‘ (Abb. 15), wel­cher weitere Verweise und damit Sinndimensionen enthält. 426 Dessen Duktus unterscheidet sich nur marginal von demjenigen der ersten Karte. Schwarze, oft filigrane Striche wie die eines Tinten- oder Tuschestiftes zeichnen nach, was zuvor durch die zaghaften Linien eines Bleistiftes auf ein gräulich-weißes Papier von offener Struktur skizziert wurde. Damit enthebt Huyghe den Plan aus der Skizzenhaftigkeit hinein in das Dokumenthafte und überwindet damit das Entwurfsstadium. Das Blatt, 21 mal 29,7 Zentimeter groß, ist nicht bis zum Rand ausgenutzt. Einem Satzspiegel ähnlich verbinden sich vier aus der Hand gezeichnete Linien zu einem offenen Rechteck. Die Enden und oder Anfänge der Linien zeichnen sich durch Verdichtungen des Zeichenmittels aus und visualisieren das kurze Innehalten des Urhebers. Das Rechteck wird an wenigen Stellen zeichnerisch überwunden, stellt an­sonsten aber eine Begrenzung zwischen der Zeichnung und dem Rand des Papieres dar. Die Grundstrukturen der beiden Pläne ähneln sich stark: Die Hügelfelder und das vermeintliche Zentrum rund um die Skulptur sowie die das Kompostierungsgelände durchschneidende ‚Old Raod‘ werden in beiden Ausführungen durch das

426 |  Vgl. Ausst. Kat. Pierre Huyghe, Centre Pompidou, Paris, 25. September 2013 bis 6. Januar 2014, Paris 2013, S. 186.

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mehrfache Umfahren mit dem Zeichenmittel in den Vordergrund gehoben. Ihre Schwärzung hebt sich von den anderen Linien ab. Bezeichnungen, Hinweise und Daten sind durch handschriftliche Versalien vermerkt. Die Ausrichtung der Schrift ist unstet. Sie orientiert sich an den Umrisslinien der Zeichenelemente oder erscheint beliebig und zwingt damit den eingehenden Betrachter, den Plan immer wieder zu drehen. Einige der Wörter sind bis zur Unlesbarkeit überkritzelt, andere erschließen sich aufgrund ihrer schlechten Lesbarkeit erst im Kontext. Insgesamt ist dieser zweite Plan wesentlich kleinteiliger und enthält weitaus mehr Informationen als Ersterer. Um die aufeinander wirkenden Systeme und Ebenen zu verstehen, empfiehlt es sich, die diversen Schichten des Plans zu denotieren und in der folgenden Systematik zu begreifen: – – – – – – – – – – – – – – – –

belebte Pflanzen abgestorbene Pflanzen Eukaryoten Sand Schlamm Steine natürlicher Provenienz Beton Fundament Steine als Artefakte Werke der bildenden Kunst Daten Literatur Erfahrungszustände des Menschen Körperfunktionen des Menschen Systeme und Funktionen der nichtmenschlichen, tierlichen Welt Beschaffenheiten des Umraumes

3.2.1 ‚Untilled‘ und seine ‚künstlichen Paradiese‘ Zu den belebten Pflanzen zählen die psychoaktiven Pflanzen, die Huyghe in dem rechten oberen Viertel des Plans kartiert. Hierhier findet sich auch der Hinweis auf ‚Datura‘, Stechäpfel, welche als Nachtschattengewächs schon früh als Rauschmittel zur Bewusstseinserweiterung genutzt wurden. Die durch den Stechapfelkonsum hervorgebrachten Halluzinationen sind vielfach als Autosuggestion einer Tierverwandlung beschrieben wor-

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den. 427 Die durch den Konsum freigesetzte, realitätsnahe Simulation eines Rausches war bereits 1859 Gegenstand in Franz Ungers ‚Botanischen Streifzügen auf dem Gebiete der Culturgeschichte‘, in deren dritter Abhandlung mit dem Titel ‚Die Pflanze als Zaubermittel‘ er den übermäßigen Konsum des Stechapfels der Erfahrung eines Vogelfluges gleichsetzte: „Merkwürdig ist, dass sowohl der gemeine Stechapfel (Datura Stramonium L.) als die andern Arten, von denen zwei, nämlich Datura metel und Datura sanguhiea, Amerika eigen sind, ganz ähnliche Wirkungen hervorbringen, welche sich von den Wirkungen anderer Betäubungsmittel durch ganz eigentümliche Hallucinationen auszeichnen. Um mit den Geistern seiner Vorfahren in Verkehr zu treten, trinkt der Peruane ein aus den Samenkapseln der Yerba de huaca (Datura sanguinea) bereitetes Getränk – Tonga –, und Gassendi erzählt, dass ein Schäfer in der Provence sich durch den Genuss von Stramonium zu visionären und prophetischen Zuständen vorbereitete. Inwieferne nun die Anwendung des Stechapfels für sich allein oder in Verbindung mit andern Narcoticis zu den vorerwähnten Zwecken beitrug, bezeugen die klarsten Angaben jener Unglücklichen und Verirrten vom Gebrauche eigener Salben, welche sie selbst Hexensalben nannten. Peter Fosselt, der am 20. Mai 1689 in Gleichenberg hingerichtet wurde, sagt: ‚er hab Sich wan ihme der Lust ankhummen, mit der hexensalben Geschmiert, und wehren allezeith in habichgestalt aintweder am khönnigs: Stradner oder gleichenberger khogel geflogen‘. Die Anwendung der Salbe hat sie stets entweder zu Habichten oder Raben, so wie zu Störchen gemacht.“428

Die Verbindung von Mensch und Vogel zeigt das Interesse Huyghes, Schnittstellen zwischen den Lebewesen und Systemen in seinem künstlerischen Werk zur Disposition zu stellen. Auch knüpft der Künstler an eine Suche nach dem verlorenen Ursprung und dem Ort natürlicher Vollkommenheit eines Hieronymus Bosch an, welcher in seinem Triptychon ‚Der Garten der Lüste‘ um 1500 auf der linken Bildtafel den Baum der Erkenntnis mit Stechäpfeln versieht.

427 |  Vgl. Wolfgang Schmidbauer/Jürgen vom Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen, 8. ergänzte und erweiterte Neuausgabe, München 1997, S. 175. 428 |  Franz Unger: Botanische Streifzüge auf dem Gebiete der Culturgeschichte III. Die Pflanze als Zaubermittel, Wien 1859, S. 48f.

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Der zu den Nelkenartigen zählende Peyotekaktus, unmittelbar neben ‚Datura‘ in Huyghes Zeichnung als ‚Peyote‘ angeführt, wird auch ‚Mescal‘ genannt und verweist damit auf das ihm enthaltene psychotrope Meskalin, welches sich in seiner Wirkung auf die menschliche Vorstellung durch die Aufhebung der Grenzen zwischen der Ich-Wahrnehmung und der Außenwelt auszeichnet 429. Sowohl der Gebrauch von Stechapfel als auch der des Peyotekaktus haben ihren Ursprung in der Suche nach temporärer Selbstentgrenzung. Der Afghanische Mohn 430, den der Künstler in der näheren Umgebung des Betonfundamentes ansiedelt, ist mit der Jahreszahl 2001 versehen. Das kann verstanden werden als Hinweis auf den Einbruch der Opiumgewinnung im Jahr 2001. 431 Während in den Vorjahren und auch nach der US-amerikanischen Besatzung Afghanistans 2001 die Kultivierung der Schlafmohnpflanzen stets auf mehr als 50.000 Hektar Land erfolgte, sank die Angabe des ‚United Nations Office on Drugs and Crime‘ für das Jahr 2001 auf 7.606 Hektar Anbaufläche. 2001 ist aber auch das Jahr, in dem vier von der Terrororganisation al-Qaida gesteuerte Anschläge auf politisch ökonomische Ziele kultureller Bedeutung verübt worden sind. Ein weiterer Hinweis, ‚Conium‘, gilt dem Gefleckten Schierling, ‚conium maculatum‘, einem Doldenblütler, der die Erzählung um den Schierlingsbecher eröffnet, mit welchem vordergründig der selbst herbeigeführ-

429 |  „Der Berauschte stellt fest, daß die Gegenstände seiner Umgebung plötzlich zu Lebe­ wesen werden, deren Denken und Fühlen dem eigenen gleicht. Die Ursache hierfür ist die dem Betrachter nicht mehr bewußte Tatsache, daß er den betrachteten Gegenstand auf der Basis seiner eigenen seelischen und gedanklichen Verfassung interpretiert.“ Alexander Kupfer: Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik. Ein Handbuch, Stuttgart/Weimar 1996, S. 252f. 430 | „Opium ist eine Substanz, die aus dem getrockneten Saft der unreifen Samenkapseln des Schlafmohns (Papaver somniferum) entsteht. Seine berauschende Wirkung geht vor allem auf ein Akaloid zurück, das der deutsche Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner 1806 erstmals isolierte und mit Bezug auf Morpheus, den griechischen Gott der Träume, MORPHIN nannte.“ Ebd., S. 223. 431 |  Vgl. United Nations Office on Drugs and Crime (Hrsg.): World Drug Report 2010, New York 2010, auch online unter: http://www.unodc.org/documents/wdr/WDR_2010/World_ Drug_Report_2010_lo-res.pdf (letzter Zugriff: 30.10.2017), S. 138.

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te, erhabene Tod Sokrates’432 verbunden wird und welcher in der Antike mit dem Saft des gefleckten Schierlings gefüllt häufig zur Selbsttötung und Vergiftung verwendet wurde. Unterhalb der ‚City‘ befindet sich der Verweis auf ein weiteres psychoaktives Rauschmittel: Marihuana. Das tabakähnliche Gemisch aus den Blüten- und Blätterspitzen der weiblichen Hanfpflanze, in seiner Wirkung etwas milder, aber dennoch ähnlich wie die des Haschischs, erinnert an die Experimente mit den ‚künstlichen Paradiesen des Rausches‘, von denen bereits Charles Baudelaire sich Nützlichkeit auf seiner Odyssee zwischen unvereinbaren Realitäten erhoffte433 und deren Wirkungsmacht von Theophile Gautier im Jahre 1843 folgendermaßen beschrieben wurde: „Nach einigen Minuten überfiel mich eine allgemeine Steifigkeit. Mein Körper schien sich aufzulösen und durchsichtig zu werden. Das Haschisch, das ich gegessen hatte, sah ich sehr deutlich in meiner Brust in Form eines Smaragds, der Millionen kleiner Fünkchen sprühte. Meine Augen­lider verlängerten sich ins Unendliche und schienen wie Goldfäden auf kleinen elfenbeinernen Rollen, die sich ganz von allein mit einer verblüffenden Schnelligkeit drehten. Rings um mich war ein Rieseln und Einstürzen von Steinmassen in allen Farben und in stetem Wechsel, das nur mit dem Spiel des Kaleidoskops verglichen werden kann. In manchen Augenblicken sah ich nur noch meine Kameraden, jedoch verändert, halb Mensch, halb Pflanze, mit dem nachdenklichen Aussehen des Ibis, auf dem Fuße eines Vogels Strauß stehend, mit den Flügeln schlagend. […] Die erste Phase näherte sich dem Ende, und ich war ganz ruhig, ohne Kopfschmerzen oder sonst irgendeines der Symptome, die den Weinrausch begleiten, und war sehr überrascht über das, was vorgegangen war. – Nach einer halben Stunde verfiel ich von neuem wieder der Wirkung des Haschisch. Dieses Mal waren die Visionen sehr viel komplizierter und ungewöhnlicher. Milliarden von Schmetterlingen, deren Flügel wie Fächer rauschten, flogen mit dauernden Summen in einer merkwürdig erleuchteten Luft umher. Gigantische Pflanzen und Blumen mit kristallenen Kelchen, enorme Pfingstrosen, goldene und silberne Betten stiegen auf und breiteten sich rings um mich aus mit einem Knis-

432 |  Vgl. Ernst Müller: Schierlingsbecher und Kreuz — der christianisierte Sokrates, in: Weigel: Märtyrer-Porträts (2007), S. 49ff. 433 |  Vgl. Kupfer: Die künstlichen Paradiese, S. 43.

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tern, das an Feuerwerk erinnerte. Mein Gehör hatte sich merkwürdig gesteigert, ich hörte das Geräusch der Farben. Grüne, blaue, gelbe Töne kamen in scharf unterschiedenen Wellen zu mir. […] Nach meiner Berechnung dauerte dieser Zustand ungefähr 300 Jahre, denn die Empfindungen folgten sich dermaßen zahlreich und rasch, daß eine Zeitwahrnehmung unmöglich schien. Nachdem dieser Zustand vorüber war, merkte ich, daß er nur eine Viertelstunde gedauert hatte […] Eine dritte Phase, die letzte und zugleich bizarrste, beendigte meine orientalische Sitzung.“434

Die durch rauschhafte Zustände veränderte bzw. entstehende Naturerfahrung – allen von Huyghe angeführten psychoaktiven, teils halluzinogenen Pflanzenarten ist gemein, dass sie Vorgänge und Gegenstände außerhalb des menschlichen Selbst simulieren, aber auch Vorgänge erfassen lassen und verstärken, die tatsächlich existieren 435 – erscheint in ‚Untilled‘ vordergründig. Huyghe erinnert mit den vorhandenen Pflanzen in seinem Werk auch an solche künstlerischen Positionen, wie die Francis Alÿs’, die den Ich-Verlust des Menschen mittels externer Stimulanzen zu einer transzendentalen Bewusstseinserweiterung thematisieren. Alÿs erkundete für sein Werk ‚Narcoturismo‘ 1996 eine Woche lang Mexiko-Stadt unter dem Einfluss täglich wechselnder psychotroper Substanzen. Seine Erfahrungen mit Alkohol, Haschisch, Speed, Heroin, Kokain, Valium und Ecstasy

434 |  Schmidbauer/vom Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen, S. 84f. 435 |  „Der Betrachter nimmt auf seinem Cannabis- oder LSD-Trip […] zunächst einmal Vorgänge und Gegenstände außerhalb seiner selbst wahr, die aus seiner seelischen Innenwelt stammen und die er nach draußen projiziert. Das ist aber nur ein Aspekt. Eine andere Sichtweise könnte sein, daß die Halluzinationen Vorgänge erfassen, die tatsächlich existieren, also nicht nur ‚eingebildet‘ sind. Ein Beispiel: Ein junges Mädchen läuft bekifft durch eine Straße in München und sieht plötzlich die Seelenlosigkeit des Autoverkehrs, wo Menschen hinter Glas und Blech voneinander und von den Fußgängern, insbesondere von ihr selbst abgekapselt sind; sie nimmt auch die Häßlichkeit der sterilen Betonfassaden und die Masken­ haftigkeit der Gesichter, die Angst und Verzweiflung der ihr begegnenden Menschen wahr. Und sie begreift, daß sie all dies viele Jahre, durch Gewöhnung verdrängt hatte. Auf ähnliche Weise kann der unter Halluzinogen-Einfluß Stehende auch andere Einsichten gewinnen, zum Beispiel in umfassendere soziale, kulturelle, technische Zusammenhänge, die er bislang nur aus der Literatur kannte. Auf Trip nimmt er sie leibhaftig wahr.“ Ebd., S. 97f.

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schrieb er mit einer Schreibmaschine auf ein DIN-A4-Blatt 436 auf betont analytische Weise unter der Ankündigung weiterer medialer Aufzeichnungen nieder. Alÿs konzentriert sich dabei auf eine rein körper­liche Auswirkung des Drogenkonsums, während Pierre Huyghe anhand des Zusammenspiels verschiedener Verweise sowohl körperliche wie auch psychische Auswirkungen und Empfindungen darlegt. Darüber hinaus beschwört Huyghe mittels der Wahl der berauschenden Substanzen und deren Vorkommen in Kunst und Literatur einen Kanon der Rauscherfahrungen herauf. Unterhalb des eingezeichneten Marihuanas – während im Plan des dOCUMENTA-Katalogs der Hinweis auf die umgangssprachliche Bezeichnung ‚Weed‘ gegeben ist, die auch eine Schwemme oder Tränke meinen kann, konkretisiert Huyghe hier mit ‚Marijuana‘ – thematisiert Pierre Huyghe die Ameisenausbreitung, Myrmekochorie, welche mit den eingezeichneten Ameisennestern und Ameisenhügeln einherzugehen scheint. Neben den Ameisen, welche den ganzen Plan an verschiedenen Stellen einnehmen, ist ein weiteres Tier vermerkt. Entlang eines Hügels wird auf ‚Lactura‘ hingewiesen, eine Mottenart aus der Familie der Schmetterlinge. Dieser Hinweis bezieht sich auf die zeitliche Dimension in ‚Untilled‘: Schmetterlinge durchlaufen mehrere Stadien in ihrer Entwicklung und symbolisieren damit die Veränderung durch die Zeit. Motten zählen darüber hinaus zu den nachtaktiven Lebewesen, die sich vom Licht angezogen fühlen.

3.2.2 Biomacht Die Angabe des Monats Mai des Jahres 1968 – in dem ersten Plan Huyghes wird lediglich die Jahreszahl angeführt – bestätigt die Annahme, der Künstler mag die studentischen Unruhen in Paris bedacht haben. Es sind die von Michel Foucault definierten Machtverhältnisse, welche sich, wenngleich rätselhaft, hinter dem Benennen dieser Zeitangabe zu verbergen scheinen. Zum Ende der Mairevolten kehrte Foucault von seinen Lehrtätigkeiten im Ausland zurück in ein von radikalem linken Auf begehren geschütteltes Paris. Die politische Verfasstheit seines Heimatlandes erken-

436 |  Francis Alÿs: ‚Narcoturismo‘, 1996, Schrift auf weißem Papier, 21 cm × 29,7 cm, im Besitz des Künstlers.

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nend, unterstützte Foucault fortan die ‚Gauche Prolétarienne‘ und nahm, wie auch Jean-Paul Sartre, an diversen Demonstrationen teil. Die wesentliche Funktion der Macht, die für Foucault mit dem Ziehen von Grenzen gleichzusetzen ist, beschäftigt den Philosophen bereits in ‚Wahnsinn und Gesellschaft‘, 1961 437, und führt sich in seinem Denken in ‚Die Ordnung der Dinge‘ von 1966 fort und gipfelt in ‚Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses‘ im Jahre 1975. Der ‚innere Raum‘ der Gesellschaft und der durch Ausschluss aus dieser hervorgebrachte ‚äußere Raum‘, welcher für Foucault die dunkle Kehrseite der Gesellschaft darstellt, wird u. a. in diesen Werken behandelt. Pierre Huyghe scheint eben diese Machtverhältnisse in ‚Untilled‘ aufzugreifen. Der Künstler stellt Grenzen zur Disposition und definiert die Machtverhältnisse innerhalb seines installativen Schaffens neu. Die Tiere, Pflanzen und Skulpturen in seinem Biotop haben selbst Machtpotential, aber der Künstler scheint diese zu regulieren. Bei ‚Untilled‘ handelt es sich nicht um ein performatives oder gar theatrales Werk. Huyghes Installation beruht auf dem Schaffen einer Plattform, auf der die Tiere, Pflanzen und letztlich die Rezipienten frei agieren. Huyghe respektiert die Autonomie der Betrachter und der Konstituenten des Werkes; die Betrachter werden selbst zu Konstituenten und damit situativen Bildern erklärt. Klar zeichnet sich ab, dass es sich bei ‚Untilled‘ um ein installatives, die Wahrnehmung eines Ortes veränderndes Kunstwerk handelt. Sabine B. Vogel spricht in diesem Zusammenhang von einem holistisch angelegten Beziehungsgeflecht: „Mit diesem Begriff aus der Biologie wird die Tendenz bezeichnet, Einheiten zu bilden, die mehr sind als die Summe der Teile. In Installationen können Betrachter, Raum, Stadt und Land ebenso Teil des Werkes sein wie ökonomische, soziale oder gesellschaftliche Systeme – bis hin zur Position des Menschen im Universum“438 .

Der an dieser Stelle sinnvoll anzuführende Begriff der Biomacht, französisch ‚le biopouvoir‘, geht ebenfalls auf Michel Foucault zurück und schließt an seine Überlegungen zu politischen Machtverhältnissen an:

437 |  Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Berlin 1973. 438 |  Sabine B. Vogel: Die Grenzlosigkeit der Skulptur, in: Kunstforum International 229 (2014), S. 30–85, hier S. 40.

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„Eines der charakteristischsten Privilegien der souveränen Macht war lange Zeit das Recht über Leben und Tod. Es leitete sich von der alten patria potestas her, die dem römischen Familienvater das Recht einräumte, über das Leben seiner Kinder wie über das seiner Sklaven zu ‚verfügen‘: er hatte es ihnen ‚gegeben‘, er konnte es ihnen wieder entziehen. […] Das sogenannte Recht ‚über Leben und Tod‘ ist in Wirklichkeit das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen. […] Die Macht war vor allem Zugriffsrecht auf die Dinge, die Zeiten, die Körper und schließlich das Leben; sie gipfelte in dem Vorrecht, sich des Lebens zu bemächtigen, um es auszulöschen.“439 Dieser Machtvorstellung stellt Foucault eine aktuelle Machtorganisation gegenüber, „deren höchste Funktion nicht mehr das Töten, sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist“440, und welche die Ära der Biomacht eröffnet: „Konkret hat sich die Macht zum Leben seit dem 17. Jahrhundert in zwei Hauptformen entwickelt, die keine Gegensätze bilden, sondern eher zwei durch ein Bündel von Zwischenbeziehungen verbundene Pole. Zuerst scheint sich der Pol gebildet zu haben, der um den Körper als Maschine zentriert ist. Seine Dressur, die Steigerung seiner Fähigkeiten, die Ausnutzung seiner Kräfte, das parallele Anwachsen seiner Nützlichkeit und seiner Gelehrigkeit, seine Integration in wirksame und ökonomische Kontrollsysteme – geleistet haben all das die Machtprozeduren der Disziplinen: politische Anatomie des menschlichen Körpers. Der zweite Pol, der sich etwas später – um die Mitte des 18. Jahrhunderts – gebildet hat, hat sich um den Gattungskörper zentriert, der von der Mechanik des Lebenden durchkreuzt wird und den biologischen Prozessen zugrunde liegt. Die Fortpf lanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung. Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat.“441

439 |  Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit: Erster Band: Der Wille zum Wissen, in: ders.: Die Hauptwerke, Frankfurt am Main 2008, S. 1021–1151, hier S. 1130f. 440 |  Ebd., S. 1134. 441 |  Ebd.

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Damit liegen dieser neuen Macht zum bzw. über das Leben auch neue Funktionsprinzipien zugrunde: „Während die Machttypen aus Überwachen und Strafen […] auf die Körper im Rahmen von Körpertechnologien Einf luss nehmen, greift die BioMacht durch die Statistik in entindividualisierender Weise auf die Masse der Bevölkerung als große Zahl zurück und findet im Leben selbst ihr Ziel.“442

Foucaults Auseinandersetzung mit der Sexualität in diesem Zusammenhang geht zurück auf seine Annahme, die Biopolitik versuche „durch flankierende Maßnahmen eine Steuerung der demographischen Parameter sicherzustellen“443, wobei „die Ökonomie bei Foucault nicht als Grundlage einer veränderten Sexualpolitik gesehen werden [darf]. Es geht vielmehr um die öffentliche Hygiene und die Reinheit der Rasse, die sich letztlich in einer umfassenden Gesundheitspolitik rund um den Sex etabliert.“444 Ein weiterer Aspekt, der auch für Pierre Huyghes künstlerisches Schaffen von Bedeutung scheint, ist das Prinzip der Ordnung, auf welches dieses neue Verhältnis der Macht zurückzuführen ist: „Diese Macht ist dazu bestimmt, Kräfte hervorzubringen, wachsen (zu) lassen und zu ordnen, anstatt sie zu hemmen, zu beugen oder zu vernichten.“445 Der Ursprung dieses Ordnungsprinzips, wie es Foucault auch in ‚Die Ordnung der Dinge‘ kritisch verhandelt 446, ist für ihn in der Naturgeschichte verortet, in

442 |  Michael Ruoff: Foucault-Lexikon, 2. Auflage, Paderborn 2009, S. 80. 443 |  Ebd. 444 |  Ebd., S. 81. 445 |  Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit: Erster Band: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1977, S. 163. 446  |  „Wie hat das klassische Zeitalter dieses Gebiet der ‚Naturgeschichte‘ definieren können, dessen Evidenz und dessen Einheit uns jetzt so fern und als bereits verwirrt erscheinen? In welchem Feld ist die Natur zur Genüge in sich selbst zusammengerückt erschienen, damit die Individuen, die sie einschließt, klassifiziert werden konnten, und in welchem Feld war sie weit genug von sich selbst entfernt, damit die Individuen durch die Analyse und die Reflexion erfaßt werden mußten? Man hat den Eindruck, und man spricht es auch oft aus, daß die Naturgeschichte auf dem Gewölbe der mechanistischen Theorie Descartes’ hat erscheinen müssen. Als es sich schließlich als unmöglich herausgestellt hatte, die gesamte Welt in die Gesetze der geradlinigen Bewegung zu pressen, als die Komplexität der Pflanzen und der Tiere

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welcher die Menschen, Tiere, Pflanzen, jedwede Organismen geordnet, gegenübergestellt und miteinander verglichen werden und jedem Organismus mittels einer fixen Systematik sein fest definierter Platz zugewiesen wird. Identität und Differenz, Ähnlichkeit und Unterschied standen in einem System damit dem chaotisch Evolutionären gegenüber. Nach der Ent­deckung der Abweichungen und Mutationen, dem Evolutionären schlechthin, löste die Biologie die Naturgeschichte ab. Für Foucault trat auf diese Weise ein neuer Faktor auf, welcher die Zeitlichkeit und hiermit das Prozesshafte der Biologie umfasste. Huyghe scheint in ‚Untilled‘ zweierlei in sich verwobene Denkmodelle Foucaults aufzugreifen. Er verknüpft die Machtvorstellungen des Menschen hier über die Natur – der Rezipient betritt die künstlerische Inszenierung ohne ein Bewusstsein darüber, welche Elemente vorgefunden worden und welche Elemente dem künstlerischen Schaffen entsprungen sind – und bringt damit die Idee der Macht und, so auch im Denken Foucaults, die Vorstellung der Grenze ins Wanken. Huyghe thematisiert überdies kritisch die damit verbundene Idee von Ordnung, Klassifizierung und Historie mit dem chaotisch prozesshaften Charakter von ‚Untilled‘. Das Prozesshafte und die Zeitlichkeit, für Michel Foucault von besonderer Bedeutung, werden in ‚Untilled‘ betont. Das Areal der Kompostierungsanlage der Karlsaue wird von Huyghe einerseits als inszenierter Garten bespielt, in welchem das menschliche Machtprinzip über dem evolutionären Chaos steht. Der Garten befindet sich in der Gegenwart des Rezipienten. Unterdessen duldet Pierre Huyghe andererseits das evolutionär Prozesshafte, indem er das unberechenbare Moment des Pflanzenwachstums, der Tiere und der Besucher als unbekannte Größe und Variable inkludiert. Aus dem Garten wird ein Biotop. Indem er die Räumlichkeit und Zeitlichkeit von ‚Untilled‘ in alle Richtungen ausweitet 447 – die Arbeit hat eine Historie, eine Gegenwart und eine Zukunft und dehnt sich in alle räumlichen Dimensionen aus –, verdichtet sich die Idee einer Utopie. Die wahrgenomme-

den einfachen Formen der ausgedehnten Substanz genügend widerstanden hatte, mußte die Natur sich in ihrem eigenartigen Reichtum manifestieren.“ Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, in: ders.: Die Hauptwerke (2008), S. 7–471, hier S. 172. 447 |  „Huyghe hatte einen Ort geschaffen, der weder Anfang noch Endpunkt hatte, […] ein Werk, das buchstäblich in seiner Umgebung verwurzelt war und sich in jedem Moment seiner Existenz weiter verwurzelte.“ Hantelmann: Denken der Ankunft, S. 226.

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ne Zeit des Rezipienten kann synchron mit der Eigenzeit der ästhetischen Erfahrung 448, hingegen aber auch asynchron sein, nämlich dann, wenn die emotionale Zeit 449 des Rezipienten nicht mit der gegenwärtigen Betrachtungszeit des Gartens einhergeht. Eben darin liegt der Unterschied zwischen der Betrachtung von ‚Untilled‘ als inszeniertem Garten und der Rezeption des Werkes als Biotop. Infolgedessen kann auch nach den jeweiligen Machtverhältnissen in ‚Untilled‘ gefragt werden, die ebenfalls immer neu zur Disposition gestellt zu werden scheinen. Im Sinne Michel Foucaults visualisiert Huyghe den Widerstand gegenüber bestehenden Machtverhältnissen und stellt das Chaotische, evolutionär Unberechenbare und Individuelle in ‚Untilled‘ der ordnenden, vergleichenden, systematisierenden Natur­historie gegenüber, welche für Foucault „nichts anderes [ist] als die Benennung des Sichtbaren. Daher rührt ihre scheinbare Einfachheit und jener Anstrich, der von weitem naiv erscheint, so einfach und durch die Evidenz der Dinge auferlegt ist sie. Man hat den Eindruck, daß mit Tournefort, mit Linné oder Buffon man schließlich begonnen hat, das auszusprechen, was schon immer sichtbar gewesen war, aber vor einer Art unüberwindbarer Unachtsamkeit der Blicke stumm geblieben war. Tatsächlich ist es keine jahrhundertealte Unaufmerksamkeit, die plötzlich verf logen ist, sondern ein neues Gesichtsfeld, das sich in seiner ganzen Mächtigkeit gebildet hat. Die Naturgeschichte ist nicht möglich geworden, weil man besser und aus größerer Nähe hingeschaut hätte. Im strengen Sinne kann man sagen, daß das klassische Zeitalter sich angestrengt hat, wenn nicht so wenig wie möglich zu sehen, so doch wenigstens freiwillig das Feld seiner Erfahrung einzuengen. Die Beobachtung ist seit dem siebzehnten Jahrhundert eine sinnliche Erkenntnis, die mit systematisch negativen Bedingungen verbunden ist. Dabei war das Hörensagen ausgeschlossen, aber auch der Geschmack und der Geruch waren ausgeschlossen, weil sie mit ihrer Ungewißheit, ihrer Variabilität keine Analyse in getrennte Elemente gestatten, die allgemein akzeptabel wäre.“450

448 |  Vgl. Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation, 6. Auflage, Frankfurt am Main 2014, S. 152f. 449 |  Vgl. ebd., S. 153. 450 |  Foucault: Die Ordnung, S. 177f.

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3.2.3 Joris-Karl Huysmans’ Gegenentwurf zur Natur Des Weiteren kartiert Huyghe im oberen rechten Viertel des Plans die ‚City‘451 und die Betonbank der Künstlerin Dominique Gonzales-Foerster452. Die ‚City‘, eine aus teilweise aufgestapelten Betonfundamenten, grauem aufgeschütteten Sand, Asphaltbrocken und Pflastersteinen konstruierte Landschaft, erschließt sich in ihrer Künstlichkeit und artifiziellen Bedeutung in besonders eindeutiger Weise durch einen Vergleich mit Joris-Karl Huysmans’ Roman ‚À rebours‘ von 1884. Meint Huyghe doch diesen, wenn er den Namen ‚Huysmans‘ und die Jahreszahl ‚1884‘ notiert. Huysmans schrieb das Werk als Antiroman gegen die eigene naturalistische Vergangenheit. 453 ‚À rebours‘, als ‚Bibel des Fin de Siècle‘ apostrophiert, stellt in diesem Sinne einen anderen Verweis auf die Suche nach ‚künstlichen Paradiesen‘ dar. Die Künstler des Symbolismus, vor allem die des engeren Kreises um Huysmans, hatten sich mit dem Konsum von Opiaten und Haschisch dem euphorisierenden Rausch verschrieben. Das ‚idéal artificiel‘454, die künstliche Idealwelt, die sich oftmals im Rausch konstituierte „erhielt […] einen programmatischen Charakter als bewußte[n] Gegenentwurf zur Natur“455. Die Verbindung von Wahrnehmung in der Hingabe zum Rausch, welche sich aus den ‚All Psycho-Plants‘ in Huyghes Karte herauslesen lässt, zu Huysmans’ Antinaturroman ‚Gegen den Strich‘ manifestiert sich bereits in den Überlegungen Alexander Kupfers zu Rauschmitteln in den französischen Künstlerkreisen:

451 |  „Diesen Teil des Gartens nennt Huyghe die City.“ Rafael: Pierre Huyghe, S. 12. 452 |  Siehe Kapitel 4.2. 453 |  Vgl. Ulrike Kunz: Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit. Ästhetizistischer Realismus in der europäischen Décadenceliteratur um 1900, Hamburg 1997. 454 |  „Baudelaire hatte sich für den Titel Les Paradis artificiels in einer Zeit entschieden, als er seine Hoffnung auf die Befreiung des Bewußtseins durch den Drogenrausch längst aufgegeben hatte, so daß er wohl darauf hinweisen wollte, wie trügerisch die Magie der Drogen sei. Gleichzeitig wird hier aber auch der Gedanke von einer künstlichen Idealwelt angesprochen (das ‚idéal artificiel‘ ist im Denken Baudelaires ein zentraler Begriff), die sich im Rausch konstituieren und damit die Unabhängigkeit des Geistes von der Welt der natürlichen Erscheinungen ermöglichen soll.“ Kupfer: Die künstlichen Paradiese, S. 44. 455 |  Ebd.

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„In diesem Werk, das einen Gegenentwurf zu den naturalistischen Romanen Zolas darstellt, wird der Versuch des Protagonisten Des Esseintes geschildert, der Häßlichkeit der Welt zu entf liehen, indem er ein Haus kauft, dessen Garten und Innenausstattung er nach den Grundsätzen einer vollkommenen Künstlichkeit gestaltet. Was die vulgäre Natur nicht zu bieten hat, will er durch sorgfältig abgestimmte Kompositionen von Farben, Düften und Einrichtungsgegenständen schaffen. So ist er ein Connaisseur der ausgefallensten Parfüms, deren Düfte in der Natur nicht vorkommen; er züchtet Blumen, die künstlichen täuschend ähnlich sehen; er kauft eine Schildkröte und überzieht ihren als gemein empfundenen Panzer mit Gold und Juwelen, woran das Tier zugrunde geht; er ernährt sich anstatt auf dem üblichen Weg durch Klistiere, und ein Luxusdruck des Gedichtes ‚Any where out oft the world‘ [‚N’importe où hors du monde‘] erhält im Haus des Baudelaire-Bewunderers einen symbolischen Ehrenplatz. Das auf die Spitze getriebene Künstlertum Des Esseintes’ stellt somit den Versuch dar, die in der Vergangenheit häufig aufgesuchten künstlichen Paradiese des Opium- und Haschischrausches durch ein dauerhaftes Universum der Künstlichkeit zu ersetzen, in dem ihm jeder Gegenstand seiner Wahrnehmung zum Rauschmittel wird.“456

Sowohl die künstlichen Blumen Des Esseintes’ als auch die Schildkröte finden sich in Pierre Huyghes Kartierung wieder457 und unterstreichen damit die Bedeutsamkeit von Huysmans’ ‚Gegen den Strich‘ für Pierre Huyghes ‚Untilled‘. Die Begriffe ‚Against-Nature-Plants‘ und ‚Turtle‘ stehen unmittelbar über der Literaturangabe, wobei die Blumen auf das Vermögen Des Esseintes‘ anspielen, alles durch Künstlichkeit ersetzen zu können, während die Nennung der Schildkröte diese Be­f ähigung negiert:

456 |  Ebd., S. 47. 457 |  Ob eine Schildkröte tatsächlich Teil von ‚Untilled‘ war oder diese nur Teil einer übergeordneten Sinndimension ist, muss offenbleiben. Vgl. hierzu: Hantelmann: Denken der Ankunft, S. 224.

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„Eines Spätnachmittags hielt ein Wagen vor dem Haus bei Fontenay. Da Des Esseintes nie Besuch empfing und sich nicht einmal der Briefträger in diese menschenleere Gegend vorwagte, denn er hatte ihm weder Zeitungen oder Zeitschriften noch Briefe auszuhändigen, zögerten die Dienstboten, weil sie sich fragten, ob sie öffnen sollten. Beim Anschlag des mit Wucht gegen die Mauer geworfenen Klöppels schoben sie tapfer die Klappe des Spions zur Seite, der in die Tür eingeschnitten war, und gewahrten einen Herrn, dessen Brust vom Hals bis zur Körpermitte ganz von einem riesigen goldenen Panzer bedeckt war. Sie meldeten es ihrem Herrn, der zu Mittag aß. ‚Ausgezeichnet, führen Sie ihn herein‘, sagte er, denn er erinnerte sich, einst einem Edelsteinhändler seine Anschrift zur Ausführung einer Bestellung gegeben zu haben. Der Herr grüßte und setzte im Speisezimmer auf dem Parkett aus amerikanischer Pechkiefer seinen Panzer ab, der schwankte, sich ein wenig hob und den schlangenartigen Kopf einer Schildkröte vorstreckte, der sich aber, plötzlich verstört, sogleich wieder unter seinen Panzer zurückzog. Diese Schildkröte war ein wunderlicher Einfall, den Des Esseintes noch einige Zeit vor seiner Abreise aus Paris gehabt hatte. Als er eines Tages einen schimmernden Orientteppich betrachtet hatte und mit den Augen dem silbrigen Schein gefolgt war, der über das aladingelbe und pf laumen­ violette Wollgewebe lief, hatte er sich gesagt: es wäre angebracht, etwas auf diesen Teppich zu setzen, das sich bewegt und dessen dunkler Ton die Lebendigkeit dieser Farben noch verstärkt. Besessen von der Idee war er ziellos durch die Straßen gestreift, und als er beim Palais-Royal angelangt war, hatte er sich vor dem Schaufenster von Chevet an die Stirn geschlagen: da saß in einem Becken eine riesige Schildkröte. Er hatte sie gekauft und sich dann, nachdem er sie auf den Teppich gesetzt hatte, vor ihr niedergelassen und sie mit zusammengekniffenen Augen lange betrachtet. Es war nicht zu leugnen: die Negerkopffarbe und der starke Siennaton des Rückenschildes trübten den Schimmer des Teppichs, anstatt ihn zu beleben; der sonst vorherrschende Silberglanz leuchtete jetzt kaum noch, er verf loß mit den kalten Tönen der abgewetzten Zinkfarbe, die die Ränder dieser harten, mattierten Schale säumte. Er biß sich in die Fingernägel, suchte nach Mitteln, diese Unvereinbarkeit zu versöhnen, die offenkundige Zwietracht dieser Töne zu verhindern. Schließlich kam er darauf, daß sein ursprünglicher Gedanke, das Feuer des Stoffes durch den Kontrast eines auf ihm platzierten, düsteren Gegenstandes schüren zu wollen, falsch war. Im Grunde war dieser Teppich noch zu grell, zu ungestüm, zu neu. Die Farben waren

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noch nicht stumpf und blaß genug. Das Verhältnis mußte umgekehrt, die Töne mußten gedämpft und erstickt werden durch das Gegengewicht eines hell leuchtenden Objekts, das alles um sich herum in den Schatten stellte, das auf bleiches Silber ein goldenes Licht warf. Ging man das Problem so an, ließ es sich leichter lösen. Er beschloß folglich, den Panzer seiner Schildkröte mit einer Goldglasur überziehen zu lassen. Als das Tier dann vom Praktiker wiederkam, der es in Pension genommen hatte, gleißte es wie eine Sonne, strahlte auf dem Teppich, dessen Farben verdrängt wurden und zurückwichen vor dem Widerschein dieses westgotischen Schildes mit seinen Schuppen, die ein Künstler von barbarischem Geschmack dachziegelartig übereinander geschichtet hatte. Zuerst war Des Esseintes entzückt von der Wirkung, meinte dann, daß dieses riesenhafte Schmuckstück noch immer einen groben Entwurf darstellte und erst wirklich vollendet sei, wenn darin seltene Edelsteine eingelegt worden seien. Aus einer japanischen Sammlung suchte er eine Zeichnung heraus, die einen strahlenförmig, von einem dünnen Stengel aufstrebenden Blumenschwarm abbildete. Er trug sie zu einem Juwelier, skizzierte einen Umriß, der den Strauß mit einem ovalen Rahmen umgab, und vermeldete dem verdutzten Edelsteinhändler, daß Laub und Blütenblätter jeder einzelnen Blume in Juwelen ausgeführt und unmittelbar in das Schildpatt des Tieres eingearbeitet werden sollten. Die Wahl der Steine hielt ihn auf […]. Es schien ausgemacht: keiner dieser Edelsteine konnte Des Esseintes zufriedenstellen. Ohnehin waren sie zu zivilisiert und zu bekannt. Er ließ entlegenere und bizarrere Mineralien durch seine Finger gleiten und sonderte schließlich eine Reihe echter und falscher Steine aus, deren Vermischung eine faszinierende und verwirrende Harmonie erzielen mußte. Und so komponierte er nun sein Blumengebinde […]. In eine Ecke des Speisezimmers gepreßt, betrachtete Des Esseintes nun die Schildkröte, die im Halbdunkel funkelte. Er fühlte sich ganz und gar glücklich. Seine Augen berauschten sich am Glanz der auf goldenem Grund f lammenden Blütenkronen. Plötzlich bekam er ungewöhnlicherweise Appetit und tauchte seine mit einer besonders köstlichen Butter bestrichenen Röstbrotscheiben in eine Tasse Tee […]. Als er den letzten Schluck getrunken hatte, ging er in sein Kabinett zurück und ließ sich von dem Diener die Schildkröte nachtragen, die sich partout nicht bewegen wollte. […] Des Esseintes überließ sich seinen Träumen. […] Drei Jahre war es her. Mitten in der Nacht überfiel ihn plötzlich rasendes Zahnweh; er klopfte sich die Wange, stieß gegen die Möbel und lief wie ein Wahnsinniger in seinem Zimmer auf und

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ab. Schuld war ein bereits plombierter Backenzahn und an Heilung war nicht zu denken. […] ‚Brr!‘ schüttelte er sich betrübt unter dem Ansturm dieser Erinnerungen. Er erhob sich, um den gräßlichen Zauber dieser Vision zu brechen, und sorgte sich nun, da ihn das Leben wiederhatte, um die Schildkröte. Sie bewegte sich noch immer nicht. Er befühlte sie; sie war tot. Weil sie zweifellos an ein ortsgebundenes Dasein, an ein bescheiden unter ihrem armen Panzer verbrachtes Leben gewöhnt war, hatte sie den gleißenden Luxus, den man ihr aufzwang, den funkelnden Chormantel, den man ihr umlegte, die Edelsteine, womit man, gleich einer Monstranz, ihren Rücken bepf lasterte, nicht ertragen können.“458

Für die Romanfigur des Des Esseintes ist Künstlichkeit ein Ausdruck menschlicher Überlegenheit gegenüber der Natur und steht im Gegensatz zu einem naturalistischen Weltbild, welches den Menschen als einen festen B ­ estandteil der Natur selbst begreift. „Ihm zufolge hat die Natur ihre Zeit gehabt. Durch die abstoßende Einförmigkeit ihrer Landschaften und Himmel hat sie die Aufmerksamkeit und Geduld der Menschen mit verfeinertem Geschmack endgültig erschöpft. Wie ist sie im Grunde doch platt, diese Spezialistin, die sich auf ein einziges Gebiet beschränkt, was ist sie doch für eine kleinliche Krämerin, die unter Ausschluß aller anderen Artikel nur einen einzigen führt, welch eintöniger Baum- und Wiesenladen, welch banale Meeresund Gebirgsagentur wird hier betrieben! Es gibt im übrigen keine als subtil oder grandios gelobte Erfindung, die das menschliche Genie nicht ebenfalls hervorbringen könnte, keinen Wald von Fontainebleau, keinen Mondschein, die von elektrischen Lichtstrahlen überf lutete Kulissen nicht herbeizuzaubern vermöchten, keinen Wasserfall, den die Hydraulik nicht täuschend ähnlich nachahmte, keinen Felsen, den Pappmaché nicht nachbildete, keine Blume, der prächtiger Taft und zart bemalte Tapeten nicht gleichkämen! Kein Zweifel, diese ewige Schwätzerin hat die gutmütige Bewunderung der wahren Künstler nun abgenutzt, und der Augen­blick ist gekommen, da man sie, wo irgend möglich, durch Künstlichkeit ersetzen muß.“459

458 |  Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich, München 2015, S. 55–67. 459 |  Ebd., S. 33.

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Indem Huyghe die Literatur Huysmans’ mit einem besonderen Hinweis auf die Schildkröte in seinem Plan erwähnt, führt er dem Betrachter gleich zwei Rezeptionsansätze vor Augen: Die autistische Perspektive Des Esseintes’, mit dessen Psychogramm Huysmans die Melancholie und Leere einer ganzen Generation nachzuzeichnen scheint, eröffnet dem Rezipienten Huyghes ‚Untilled‘ als eine künstliche Fantasie voller berauschender Sinnes­reize, zu deren Erfahrung vordergründig die Artefakte in dem inszenierten Garten beitragen. Dabei sind zwei Artefakte vornehmlich zu betrachten: ‚Human‘ und ‚Señor‘, in dem linken Quadranten unter ‚Female Dye Dog + Puppy‘ verortet. Die beiden lebenden Hunde verkörpern das inszenierte Biotop, indem sie eines von zwei Werken darstellen und das von Huyghe als Kunstwerk im Kunstwerk angelegt ist. Das rechte Vorderbein des adulten weißen Podencohundes ist bis zur Schulter hinauf magentafarben koloriert. (Abb. 16) Der hellbraune Welpe hingegen trägt erst eine geringe Insignie offensichtlicher, menschlicher Präsenz: Lediglich seine rechte Hinterpfote ist magentafarben akzentuiert. In dieser Weise markiert, offenbart sich die Parallele zu der Schildkröte Des Esseintes’, die ebenfalls die Insignien menschlicher Aneignung trägt und mit ihrem kläglichen Ableben vor dem Fall aus ‚künstlichen Paradiesen‘ warnt. In diesen liegt auch die Entsprechung zu den Rauschmitteln des huygheschen Gartens, welcher ein inszeniertes Biotop im Sinne eines inszenierten Raumes darstellt. Darin werden die Realitäten und Relationalitäten eines Monismus von Mensch und Natur in einer Weise potenziert, die den Rezipienten zu einem Teil des Mikrokosmos Garten werden lässt. Der Rezipient begegnet dem Biotop weder als arkadischem Ort noch steht er diesem hegemonial gegenüber. Der Raum, der von den Menschen durchmessen, aber selten wirklich bewohnt wird 460, nimmt hier den Rezipienten in sein autopoietisches System auf. Michel Serres erörtert in seinem ‚Naturvertrag‘ ein ‚Vergessen der Natur‘, dem Huyghe sein Biotop entgegenzustellen scheint: „Jene, die heute die Macht unter sich aufteilen, haben eine Natur vergessen, von der man sagen könnte, daß sie sich rächt, die sich uns jedoch eher in Erinnerung bringt, die wir in der ‚Zeit‘ leben und nie unter direkten ‚Witterungsverhältnissen‘, über die wir uns jedoch kompetent zu äußern behaupten und über die wir zu entscheiden haben. Uns ist die

460 |  Vgl. Michel Serres: Der Naturvertrag, Frankfurt am Main 1994, S. 53.

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Welt abhanden gekommen: Wir haben die Dinge in Fetische oder Waren verwandelt“461 .

Huyghe enthebt die Dinge wieder dem Status von Fetisch und Ware, so scheint es. Er konstruiert dabei ein System, welches durch die ihm immanenten Elemente angereichert wird.

3.2.4 ‚Locus Solus‘ und die Bedeutung des Gartens Einen nächsten Verweis findet der eingängige Betrachter des Papiers, der den Plan Huyghes gleich einer Schatzkarte liest, neben der großzügigen Kartierung eines ‚Rye Field‘, also Roggenfeldes, welches erneut zu den Konstituenten der ‚künstlichen Paradiese‘ gezählt werden muss, da in seinen Ähren das Mutterkorn heranwächst 462: ‚Locus Solus 1914‘, welcher auf Raymond Roussels zweiten Roman ‚Locus Solus‘ aus dem Jahr 1914 hindeutet. Das erste Kapitel eröffnet dem Leser den Ort des Geschehens, eine Parkanlage, welcher in sieben Kapiteln Schöpfungen und Attraktionen des Protagonisten des Romans, des Wissenschaftlers Martial Canterel, entsprießen. Nach und nach präsentiert er darin einer Gruppe von Interessierten und Freunden seine Entdeckungen und Erfindungen. Der Roman beginnt wie folgt:

461 |  Ebd., S. 54. 462 |  Der Chemiker Albert Hofmann stellte während seiner Forschungsarbeiten zum Mutterkorn im Jahre 1938 erstmals LSD her. „Aber erst 1943 entdeckte er durch einen Zufall, daß d-Lysergsäure-Diethylamid-tartrat psychische Prozesse umfassend verändert. […] Die ursprünglich religiöse Bedeutung zahlreicher Rauschdrogen ist bekannt […]. In LSD haben wir das einzigartige Beispiel einer umgekehrten Entwicklung. Während in der Regel die Rauschdrogen aus dem magisch-religiösen Kontext herausgenommen, wissenschaftlich erforscht und zielbewußt zu viel begrenzten Zwecken […] eingesetzt werden, kam es bei LSD zu einem gegenläufigen Prozeß.“ Schmidbauer/Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen, S. 208. Huyghes Intention mag bei der Nennung dieser Rauschdrogen und damit der Optionierung ihres Konsums für die Rezeption von ‚Untilled‘ der rauschhaft hervorgerufene Kontakt zu den Göttern, der Welt der Ahnen und damit der Kontakt zu der Ursprünglichkeit schlechthin gewesen sein.

Das Tier als Physis

„An diesem Donnerstag, in der ersten Blüte des Aprils, hatte mich mein gelehrter Freund, Meister Martial Canterel, zusammen mit einigen anderen Vertrauten eingeladen, den ausgedehnten Park zu besichtigen, der seine schöne Villa in Montmorency umgibt. Locus Solus – so heißt die Besitzung – ist ein stiller Zuf luchtsort, wo Canterel seine vielfältigen und fruchtbringenden Arbeiten in völliger Ungestörtheit des Geistes zu verrichten pf legt. An diesem solitären Ort ist er vor der Zügellosigkeit von Paris hinreichend geschützt – und kann doch in einer Viertelstunde die Hauptstadt erreichen, wenn seine Forschungen den Aufenthalt in einer Spezialbibliothek erfordern oder wenn der Augenblick gekommen ist, der wissenschaftlichen Welt in einem außerordentlich gut besuchten Vortrag diese oder jene sensationelle Mitteilung zu machen. In Locus Solus verbringt Canterel fast das ganze Jahr, umgeben von Schülern, die ihn aus leidenschaftlicher Bewunderung für seine fortwährenden Entdeckungen voll Fanatismus bei der Vollendung seines Werkes unterstützen. […] Nachdem der letzte Gast eingetroffen war, übernahm der Meister die Führung unserer Gruppe, die ihm bereitwillig folgte. […] Die warme einschmeichelnde Stimme verlieh seiner eindringlichen Sprache viel Charme, und ihre verführende Kraft und Klarheit machten ihn zu einem Meister des Wortes. Wir schritten inzwischen auf einer stark ansteigenden Allee. Auf halber Höhe sahen wir am Wegrand, in einer tiefen steinernen Nische, eine merkwürdige alte Statue, die aus schwärzlich ausgetrocknetem und hartgebranntem Ton geformt zu sein schien und nicht ohne Anmut ein lächelndes nacktes Kind darstellte. Die Arme waren in darbietender Geste ausgestreckt – die Handf lächen nach oben gekehrt. Eine kleine verdorrte steinalte Pf lanze erhob sich in der Mitte der rechten Hand, wo sie einstmals Wurzeln geschlagen hatte. Canterel, der zerstreut seines Weges ging, mußte unseren einhelligen Fragen Rede stehen.“463

Bereits diese ersten einleitenden Sätze lassen erahnen, dass Pierre Huyghe diese Quelle nicht nur als Inspiration, sondern auch als Grundlage seiner Adaption verwendet hat. So wie sich der Besucher in Pierre Huyghes ‚Untilled‘ verlieren kann, kann es dem Leser von ‚Locus Solus‘ in Canterels

463 |  Raymond Roussel: Locus Solus, revidierte und ergänzte Fassung von Stefan Zweifel, Berlin 2012, S. 8f.

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Park 464 ergehen. Kultur und Natur irisieren in einer Art Wechselspiel oder lassen den Rezipienten gänzlich in Ungewissheit. Der ‚Locus Solus‘ als solitärer, abgeschiedener Ort ist ein Gegenentwurf der ‚normalen Welt‘ und wird so tendenziell zum Paradies, zum verlorenen Garten Eden 465 erhoben. Auch ‚Untilled‘ stellt in seiner Abgeschiedenheit und Abgeschlossenheit und seinen ihm innewohnenden Werken und Verweisen einen Gegenentwurf, besser, ein Simulakrum dar. Dies ist umso auffälliger, da Huyghe einen abgelegenen Ort für seinen Garten wählt und diesen bereits in den Plänen als in sich geschlossenes Habitat kennzeichnet. Im zweiten Kapitel von ‚Locus Solus‘ stellt Canterel eine erste Erfindung vor, eine Maschinerie, ‚Demoiselle‘ betitelt, welche eine Art Pflastergerät darstellt, das aus menschlichen Zähnen verschiedenster Farbgebung ein seltsames Mosaik in der Form eines Kriegsknechtes in den Boden rammt. In Roussels Ausführungen wird dieser Apparat bis in das kleinste Detail beschrieben, als läge der Schilderung eine technische Zeichnung zugrunde. Stefan Zweifel mutmaßt, Roussel habe sich mit dem zweiten Kapitel in die Tradition der Junggesellenmaschinen eingeschrieben, „vielleicht sogar Duchamp während seiner Arbeit am Großen Glas beeinflusst.“466 Michel Foucault expliziert: „Die Maschinerien Roussels bringen kein Sein hervor; sie halten die Dinge im Sein. Ihre Aufgabe besteht darin, zum Bleiben zu veranlassen: Bilder zu konservieren, das Erbe und die Königtümer zu bewahren, die Ruhmestaten mit ihrer Ausstrahlung zu erhalten, Schätze zu verstecken, Bekenntnisse zur Kenntnis zu nehmen, Geständnisse zu verbergen, kurz, unter die Glasglocke zu stellen […]. Ihre Aufgabe besteht aber auch darin – um dieses Aufrechterhalten jenseits der Grenzen zu sichern –, zum Übergang zu veranlassen: Hindernisse zu überwinden, Reiche zu durch-

464 |  „Das konkrete Areal der ‚agrarischen Beschäftigungen‘ Canterels folgt in der Chronologie des Satzes sogleich nach der Nennung seines Namens: der Park und die Villa von Montmorency. Montmorency ist ein Ort nördlich von Paris — Roussel knüpft hier an die reale Geografie an — und darüber hinaus auch der Ort, an dem Rousseau von 1746 bis 1762 lebte“. Astrid Vollmer: Ästhetische Reflexionen in Raymond Roussels Romanen. Impressions d’Afrique und Locus Solus, Bonn 1995, S. 128. 465 |  Vgl. ebd., S. 130. 466 |  Stefan Zweifel: Kommentar zu Werk und Revision der Übersetzung, in: Roussel: Locus Solus (2012), S. 291–480, hier S. 299.

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queren, Gefängnisse und Geheimnisse zu erobern, auf der anderen Seite der Nacht wieder zu erscheinen, die schlummernden Erinnerungen zu besiegen […]. All diese Maschinerien erschließen einen Raum der schützenden Geschlossenheit, der zugleich ein Raum der wunderbaren Kommunikation ist. Übergang, der Erschließung ist. Schwelle und Schlüssel. Die Eiskammern von Locus Solus spielen diese Rolle mit bemerkenswerter Sparsamkeit: das Leben in den Tod übergehen zu lassen und durch die bloße Wirkung (ganz leicht, wie man zugeben muß) des ‚Vitaliums‘, die mit der nicht geringeren Wirksamkeit des ‚Resurectins‘ verbunden wird, die Trennlinie zwischen Leben und Tod niederzureißen.“467

Das Changieren zwischen Leben und Tod, Kultur und Natur und hierdurch das Spiel zwischen Vorsätzlichkeit und Zufall bildet sich in ‚Untilled‘ mittels bildnerischer Gesten ab, während Roussel die Anlage zu diesem Wechselspiel in seinen Worten und nicht erst in der Erzählung selbst festlegt: „Ich habe mir immer schon vorgenommen zu erklären, wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe […]. Es handelt sich um ein sehr spezielles Verfahren. Und wie mir scheint, ist es meine Pflicht, es zu enthüllen, denn ich habe den Eindruck, daß Schriftsteller der Zukunft es vielleicht mit Gewinn auswerten könnten. In früher Jugend schon schrieb ich Erzählungen von einigen Seiten und verwendete dabei dieses Verfahren. Ich wählte zwei fast gleiche Wörter (die an Metagramme erinnern). Zum Beispiel billard (Billardtisch) und pillard (Plünderer). Zu ihnen fügte ich dann gleichlautende, aber in zwei verschiedenen Bedeutungen verstandene Wörter hinzu und erhielt so zwei fast identische Sätze. Was billard und pillard angeht, so lauteten die beiden Sätze, die ich erhielt, folgendermaßen: 1. Les lettres du blanc sur les bandes du vieux billard… (‚Die Buchstaben aus Weiß auf den Randstreifen des alten Billardtischs…‘) 2. L es lettres du blanc sur les bandes du vieux pillard… (‚Die Briefe des Weißen über die Banden des alten Plünderers… ‘) Im ersten Satz war das Wort lettres in der Bedeutung von ‚Lettern‘, das Wort blanc in der Bedeutung von ‚Kreidestück‘ und das Wort bandes in der Bedeutung von ‚Umrandung‘ genommen. Im zweiten war das Wort lettres in der Bedeutung von ‚Briefe‘, das Wort blanc in der Bedeutung

467 |  Michel Foucault: Raymond Roussel, Frankfurt am Main 1989, S. 87.

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von ‚weißer Mann‘ und das Wort bandes in der Bedeutung von ‚Banden; kriegerische Horden‘ genommen. Waren die zwei Sätze gefunden, so ging es darum, eine Erzählung zu schreiben, die mit dem ersten Satz anfangen und mit dem zweiten auf hören konnte. Aus der Lösung dieser Aufgabe nun schöpfte ich all meine Materialien.“468

Diesem Verfahren folgend, bedachte Roussel in gleicher Weise das Wort demoiselle: „1. Demoiselle (junges Mädchen) à prétendant (Verehrer); 2. Demoiselle (Ramme) à reître en dents (Kriegsknecht aus Zähnen). Ich stand also vor dem Problem: das Legen eines Mosaiks durch eine Ramme. Daher der so komplizierte Apparat, der auf der Seite 35 und folgenden beschrieben ist.“469

Michel Foucault sieht in dieser Struktur „den wirkliche[n] Schlüssel – oder jedenfalls einen andere[n] Schlüssel auf einer tieferliegenden Ebene“, der den Text in seiner Gänze offenbart und gleichermaßen unter dem Vorwand der Offenbarung die „wahre unterirdische Kraft, aus der die Sprache erwächst“470, verbirgt. Das Wechselspiel zwischen Verbergen und Offenbaren, welches sich bei Roussel anhand der Sprache und bei Huyghe mittels der Imagination von Bildern entfaltet, ist nach Foucault der Schlüssel zu einem tiefergründigen, grundlegenden Verständnis. Roussel gibt zugleich stets preis und verweigert sich, ebenso wie Huyghe in ‚Untilled‘ Sinnhaftigkeiten aneinanderfügt und gleichermaßen voneinander trennt. Sie eint die Herangehens- und Vorgehensweise an ihre Werke, denn Pierre Huyghe schafft sich, ähnlich wie es Raymond Roussel für sein Schaffen bestimmte, eine neue Welt, aus welcher heraus für Huyghe das eigentliche Werk entsteht, besser, aus welcher es heraustritt. 471

468 |  Raymond Roussel: Wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe, in: Hanns Grössel (Hrsg.): Raymond Roussel. Eine Dokumentation, München 1977, S. 78–97, hier S. 78. 469 |  Ebd., S. 88. 470 |  Foucault: Raymond Roussel, S. 13. 471 |  „As I start a project, I always need to create a world. Then I want to enter this world and my work from this world is the work. What takes me a long time is to create the world.“ Euopean Graduate School (Hrsg.), http://www.egs.edu/faculty/pierre-huyghe/quotes/ (letzter Zugriff: 30.10.2017).

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Im Sinne Umberto Ecos sind Pierre Huyghes ‚Untilled‘ und Roussels ‚Locus Solus‘ im höchsten Maße offene Werke, die sich nicht vor dem Betrachter verschließen, sondern sich ihm in mannigfaltiger Weise eröffnen. Dabei bleibt es dem Rezipienten selbst überlassen, wie tief er in die entstehenden Welten eintritt. So kann er in dem Plan zu ‚Untilled‘ das Wort ‚Foxhole‘ als Fuchsbau oder als Schützengraben verstehen. Und der daneben angeführte Hinweis ‚Cognitive Dissonance‘ könnte dazu führen, dass er den links unten kartierten Bereich des Plans, der mit ‚Messian Blackbird 52‘ auf Olivier Messiaens kammermusikalisches Werk ‚Le Merle noir‘ verweist, als bedrohlich und verstörend empfindet, oder ihn an Messiaens Faszination für die Transkription von Amselgesängen und die damit verbundene Verschmelzung von tierlichen und menschlichen Schallereignissen erinnern. Ebenso ließe sich das ‚Nettlefield‘ vorschnell als Battlefield lesen, die ‚Mushrooms‘, die als psilocybinhaltige Organismen zu den psychoaktiven Substanzen in Huyghes ‚Untilled‘ zu zählen sind, erinnern in dieser Sicht an negativ erlebte Drogener­fahrungen. Dass Huyghe neben der Angabe zu ‚Locus Solus‘ auf das im Roman beschriebene ‚Vitalium‘ deutet, zeigt sich inhaltsschwer. Im vierten Kapitel folgen die Besucher Canterel zu einem kolossalen Glaskäfig, in dem ein Mann eine Art rituelle Handlung vollzieht. Er reibt eine Goldmünze an den Gitterstäben des vermeintlichen Käfigs, um so Goldstaub abzureiben. Mit einem Blütendorn ritzt er eine unsichtbare Schrift in ein Stück Papier, die erst durch das Bestäuben mit Wasser und Goldstaub lesbar wird. Er wiederholt diese Abfolge mehrfach. Das Gefolge Canterels wird daraufhin Zeuge einer weiteren Handlung, die sich innerhalb des riesigen durchsichtigen Käfigs abspielt. Ein Priester spannt die sich umschließenden Hände zweier alter Menschen vor einem Altar in einen Schraubstock ein. Des Weiteren sehen die Besucher einen am Tisch sitzenden Edelmann, der Anmerkungen in einem Buch macht, einen weiteren Mann mit einem Pergament vor einer verschlossenen Tür. Die nächste Person, die das Interesse der Besucher des Parks auf sich zieht, kratzt aus einem Blatt Papier, das von getrockneter Tinte völlig eingeschwärzt ist, mithilfe eines Rasiermessers weiße Stellen heraus. Canterel lenkt die Aufmerksamkeit daraufhin auf eine Person, die eine Inschrift auf dem Stirnknochen eines Totenschädels betrachtet und in das Alphabet transkribiert, liest, schreibt und sich letztlich erschießt. Insgesamt sind es

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acht Personen 472, die Canterel seinen Gästen zum Ende seiner Führung entlang des Glaskäfigs als Leichname offenbart und die er mittels einer von ihm konzipierten Maschine in dem Glaskäfig kühlt, wo sie immer und immer wieder den letzten Handlungssträngen ihrer Leben nachgehen: „Aber die Notwendigkeit einer niedrigen Temperatur machte es unmöglich, die starke elektrische Kraft der Aqua-micans zu verwerten, die, schnell gefroren, jeden Verstorbenen in ihr Gefängnis eingeschlossen hätte, wo jede Bewegung unmöglich war. Nach langwierigen tastenden Versuchen an Leichen, die rechtzeitig der notwendigen Kälte ausgesetzt worden waren, stellte der Meister schließlich sowohl das Vitalium als auch das Resurrectin her, eine rötliche Materie auf der Grundlage des Erythrits, die durch eine seitliche Öffnung in f lüssiger Form in den Schädel des Verstorbenen gespritzt wurde und, das Gehirn von allen Seiten eng umschließend, sogleich erstarrte. Man brauchte dann nur irgendeinen Punkt der so geschaffenen inneren Umhüllung mit Vitalium in Berührung zu bringen, einem braunen Metall, das man leicht in Gestalt eines kurzen Stäbchens in die Injektionsöffnung einführen konnte, und schon erzeugten die beiden neuen Körper, von denen jeder ohne den anderen wirkungslos blieb, einen starken elektrischen Strom, der das Gehirn durchdrang, die Leichenstarre auf hob und dem Toten ein eindrucksvolles künstliches Leben einf lößte. Infolge einer seltsamen Wiedererweckung des Gedächtnisses reproduzierte dieser bald mit absoluter Genauigkeit die kleinsten Bewegungen, die er in bestimmten entscheidenden Augenblicken seines Daseins ausgeführt hatte; dann

472 |  Der Dichter Gérard Lauwerys, der sich in Gefangenschaft einem Arbeitsexzess hingibt und ein alphabetisches Verzeichnis von Pflanzen, Tieren und Mineralien verfasst, stellt die erste handlungsfähige Leiche in Locus Solus dar. Es folgt als zweiter wiedererweckter Leichnam, Mériadec Le Mao, der das Ritual seiner goldenen Hochzeit an der Seite seiner lebenden Frau vollzieht. Es folgen der Schauspieler Lauze in seiner letzten Rolle als Roland de Mendebourg, der im Kindesalter verstorbene Hubert Scellos, der in seiner Handlung auf dem Schoß der Mutter, diese zärtlich anblickend, ‚Virelai cousu‘ von Ronsard rezitiert, der Bildhauer Jerjeck in seiner Arbeit verhaftet, der Schriftsteller Claude Le Calvez, welcher auf eigenen Wunsch in das Kühlhaus von Locus Solus gebracht wurde, um seine Angst vor dem Nichts zu mildern, und der Selbstmörder Francois-Charles Cortier, dessen Tragödie anhand handschriftlicher Bekenntnisse, ausgeführt in seiner posthumen Handlung, aufgeklärt werden konnte.

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wiederholte er, für unabsehbare Zeit, pausenlos die starre Reihe von Handlungen und Gebärden, die er ein für alle Mal gewählt hatte. Und die Illusion des Lebens war vollkommen: Beweglichkeit des Blickes, beständige Tätigkeit der Lungen, Sprache, Regungen und Bewegungen, Gang, nichts fehlte. Als diese Entdeckung bekannt wurde, erhielt Canterel zahllose Sendschreiben aufmerksam gewordener Familien, die den zärtlichen Wunsch hegten, einen der ihren, der ihnen hoffnungslos entrissen war, nach dem Ableben vor ihren Augen wieder auf blühen zu sehen. Der Meister ließ in seinem Park eine bestimmte gradlinige Allee erweitern, um einen günstigen Platz für eine Art riesiger rechteckiger Halle zu schaffen, die einfach aus einem Metallgerüst bestand und einen Plafond sowie Wände aus Glas trug. Er stattete sie mit elektrischen Kühlapparaten aus, die beständig Kälte erzeugten, um die Leichen vor Verwesung zu schützen, ohne daß ihr Gewebe erstarrte. Warm gewandet konnte Canterel mit seinen Gehilfen dort ohne Schwierigkeit längere Zeit verweilen. Jeder vom Meister zugelassene Tote, der in diesen gewaltigen Kühlraum gebracht wurde, erhielt eine Resurrectin-Injektion in den Schädel. Die Substanz wurde durch ein Loch eingeführt, das dann sogleich mit einem Vitalium-Pfropfen verschlossen wurde. Hatten sich Resurrectin und Vitalium erst einmal verbunden, so begann der Verstorbene zu handeln, während in der Nähe ein Augenzeuge seines Lebens, auf Wunsch warm eingemummt, die vorgeführte Szene – die aus einem Bündel verschiedener Ereignisse bestehen konnte – an den Gebärden oder Worten des Verstorbenen wiederzuerkennen suchte.“473

In Pierre Huyghes Garten ist allen Interpretationsansätzen die Illusion des Lebens und mit ihr das Simulakrale übergeordnet. Der Verweis auf den ‚Locus Solus‘ in Huyghes Plan zu ‚Untilled‘ und damit das Herausstellen des ‚Human Vitalium‘ kann dahingehend gedeutet werden, dass Pierre Huyghe als Künstler und damit Schöpfer des Gartens die Perspektive und Handlungsmacht des Martial Canterel einnimmt und mittels seines Plans zu ‚Untilled‘ seine Gäste durch das Werk führt. Zugleich stellt er den Besucher vor die Frage seiner eigenen Handlungsmacht, indem er auf die rituellen letzten Handlungen der Leichname in ‚Locus Solus‘ anspielt. Es drängt sich dem Rezipienten die Frage auf, welche letzte Handlung er unaufhörlich vollziehen müsste, würde er einer der aufgeweckten Toten in

473 |  Roussel: Locus Solus, S. 136f.

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‚Locus Solus‘ sein. Durch die Simulation, also das Simulakrale, in seinem Werk erschafft Huyghe ein Spiegelbild der eigentlichen Welt. Dieses Spiegelbild, und in dieser Verdopplung liegt eine weitere Parallele zwischen Pierre Huyghe und Raymond Roussel, bildet nicht das Reale ab, sondern erschafft überdies eine neue Wirklichkeit, welche mittels ihrer Chiffrierung aufzuzeigen vermag, was sonst im Verborgenen verbleibt. Roland Barthes beschreibt dies als das Ziel einer jeden strukturalistischen Tätigkeit. 474 In dieser Sichtbarmachung des Eigentlichen erscheinen die Gegebenheiten für jeden einzelnen Besucher von ‚Untilled‘ in einem neuen Licht. ‚Untilled‘ wird für jeden Rezipienten zu einem ‚Locus Solus‘; zu einem Raum eines Einzelnen. Darin begründet liegt die Tatsache, dass es nicht möglich ist, kein Teil von Pierre Huyghes Werk zu werden. Indem der Betrachter das Areal betritt, wird er unweigerlich zu einem Bestandteil der Realität von ‚Untilled‘. Der Rezipient ist dem Werk immanent.

3.2.5 Bioy Casares’ Simulation Der Hinweis ‚Invention Of Morel‘ unmittelbar auf Adolfo Bioy Casares’ ‚Morels Erfindung‘, 1940 erstmalig veröffentlicht, findet sich unmittelbar neben der Zeichnung einer Zisterne und eines Wasserbassins, in welchem laut Plan Kaulquappen, Tropen der Gestaltwandlung und Metamorphose und damit der Anpassung an bestimmte Umweltbegebenheiten, in ihrer Gallerte heranreifen. Daneben weist ein anderer Anhaltspunkt auf die von Carlo Scarpa gestaltete Grabstätte für Giuseppe Brion hin. Scarpas moderne Gruft scheint Inspirationsquelle für Huyghes Konzeption, metaphorisches Bindeglied zu den lebenden Toten Raymond Roussels und darüber hinaus das wirklich gewordene fantastisch verschachtelte Gebäude auf der einsamen Insel aus Casares’ ‚Morels Erfindung‘ zu sein. ‚Morels Erfindung‘ knüpft mit der Thematik des Simulakralen direkt an Roussel an. Der Roman, ein Schlüsselwerk der spanischsprachigen fantastischen Literatur, stützt die vorangestellte These von dem Eintreten, Verändern und/oder Erzeugen einer Realität. Die darin festgehaltenen Tagebuchaufzeichnungen eines wegen namenloser politischer Vergehen in Venezuela zu lebenslanger Haft verurteilten Flüchtlings beginnen mit

474 |  Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit, S. 191.

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einer lebendigen Rekapitulation seiner Flucht auf eine abgelegene, mutmaßlich verseuchte Pazifikinsel: „Ein Italiener, der in Kalkutta Teppiche verkaufte, brachte mich auf die Idee, hierher zu kommen; er sagte mir (in seiner Sprache): ‚Für einen Verfolgten, für Sie gibt es nur einen Ort auf der Welt, aber an diesem Ort kann man nicht leben. Es ist eine Insel. Ein paar Weiße haben dort um 1924 ein Museum, eine Kapelle und ein Schwimmbecken gebaut. Nach der Fertigstellung wurde die Anlage aufgegeben.‘ Ich unterbrach ihn, wollte seine Hilfe für die Reise erbitten; der Händler fuhr fort: ‚Weder die chinesischen Piraten noch das weißgestrichene Schiff des Rockefeller-Instituts laufen die Insel an. Sie ist Herd einer immer noch rätselhaften Krankheit, die von außen nach innen tötet. Die Nägel fallen aus und die Haare, dann sterben die Haut und die Hornhaut der Augen, und danach lebt der Körper noch acht bis vierzehn Tage. Die Matrosen eines Dampfers, der vor der Insel geankert hatte, waren gehäutet, kahl und ohne Nägel – alle tot –, als der japanische Kreuzer Namura sie fand. Der Dampfer wurde mit Kanonenschüssen versenkt.‘ Aber so schrecklich war mein Leben, daß ich abzureisen beschloß … Der Italiener wollte es mir ausreden; ich brachte ihn dazu, mir zu helfen. Diese Nacht bin ich zum hundertsten Mal auf dieser öden Insel eingeschlafen … Beim Anblick der Gebäude überlegte ich, was es gekostet haben muß, diese Steine herzuschaffen; dabei wäre es doch so einfach gewesen, eine Ziegelbrennerei zu bauen. Ich schlief spät ein, und die Musik und das Geschrei weckten mich früh am Morgen. Durch das Leben auf der Flucht ist mein Schlaf leicht geworden; ich bin sicher, daß kein Schiff angekommen ist, kein Flugzeug, kein Zeppelin. Und trotzdem hat sich in dieser drückenden Sommernacht das wilde Gras am Hügel mit Leuten bevölkert, die tanzen, umherschlendern und im Schwimmbecken baden, wie Sommerfrischler, die sich schon einige Zeit in Los Teques oder Marienbad eingerichtet haben.“475

Die Insel, auf der sich der Protagonist zwischen einem Schwimmbecken, einem Museum, einer Kapelle und einem Sumpfgebiet bewegt, wird durch die Aufzeichnungen detailliert beschrieben:

475 |  Adolfo Bioy Casares: Morels Erfindung, Frankfurt am Main 2003, S. 8f.

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„Die Insel hat vier mit Gras bewachsene Talhänge (die westlichen sind steinig); im höchsten Tal liegen das Museum, die Kapelle und das Schwimmbecken. Die drei Bauwerke sind modern, eckig, schlicht, aus unpoliertem Stein. Wie so oft wirkt der Stein wie eine schlechte Imitation und verträgt sich nicht ganz mit dem Stil. Die Kapelle ist ein langgestreckter, f lacher Kasten (was sie sehr groß erscheinen läßt). Das Schwimmbecken ist ordentlich angelegt; weil es jedoch nicht über das Niveau des Bodens hinausragt, füllt es sich zwangsläufig mit Schlangen, Fröschen, Kröten und Wasserinsekten. Das Museum ist ein großes dreistöckiges Gebäude, ohne sichtbares Dach, mit einer Galerie an der Vorder- und einer zweiten, kleineren an der Rückseite, sowie mit einem Rundturm. Ich fand es offen vor; sofort ließ ich mich darin nieder. Ich nenne es Museum, weil der italienische Händler es so nannte. […] Der Boden des runden Salons ist ein Aquarium. In unsichtbaren Glaskästen unter Wasser sind elektrische Lampen angebracht (die einzige Beleuchtung dieses fensterlosen Raums). An diesen Ort denke ich mit Ekel. Bei meiner Ankunft gab es dort Hunderte toter Fische; sie herauszuholen war eine schauderhafte Arbeit […]. Bei zwei einander ähnlichen Anlässen machte ich meine Entdeckungen im Keller. Das erstemal – die Vorräte der Speisekammer begannen zu schwinden – suchte ich Nahrungsmittel und entdeckte den Maschinenraum.“476

Dieser Maschinenraum erweist sich als das Herz der Erfindung des Wissenschaftlers Morel, der eine Art fotografisches Verfahren entwickelt, welches, auf Kosten der Lebendigkeit, eine projizierte Anwesenheit von Menschen, Tieren und Pflanzen erzeugt und diese, ähnlich wie in ‚Locus Solus‘, ihrer Sterblichkeit enthebt, indem er sie immer und immer wieder ihre letzten Handlungen vollziehen lässt. Der Protagonist, der sich von der Anwesenheit der Menschen gleichermaßen bedroht wie angezogen fühlt, führt das plötzliche Erscheinen der Eindringlinge, wie dieser sie nennt, vorerst auf den Genuss einiger Wurzeln der Insel zurück: „Zwei Dinge gibt es – eine Tatsache und eine Erinnerung –, die ich heute als miteinander verknüpft ansehe und die eine Erklärung bieten. In letzter Zeit hatte ich mich damit befaßt, neue Wurzeln zu erproben. Ich glaube, die Indios in Mexiko kennen ein Gebräu aus dem Saft von

476 |  Ebd., S. 13ff.

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Wurzeln – so meine Erinnerung (oder mein Vergessen) –, das tagelang Delirien bewirkt. Die Schlußfolgerung (hinsichtlich des Aufenthalts von Faustine und ihren Freunden auf der Insel) ist logisch zulässig; ich müßte mir aber etwas vormachen, wenn ich sie ernst nehmen wollte.“477

Es folgen Tagebucheinträge mit verschiedenen Hypothesen, welche die Eindringlinge unter unterschiedlichen Gesichtspunkten zu erklären versuchen. Der Verfasser der Aufzeichnungen findet die Insel unter immer neuen Begebenheiten vor: Das Aquarium des Salons scheint wieder mit lebenden Fischen gefüllt, die Eindringlinge schwimmen in dem klaren Wasser des einst verkommenen Schwimmbeckens. Der Protagonist wird daraufhin Zeuge einer Ansprache eines Mannes im Salon des Museums, welcher sich als Morel herausstellt und der seine Mitmenschen über die Begebenheiten und seine Erfindung aufzuklären versucht: „Mein Vergehen besteht darin, daß ich Sie ohne vorherige Erlaubnis photographiert habe. Natürlich handelt es sich nicht um eine Photographie wie jede andere; es ist meine neueste Erfindung. Wir werden in dieser Photographie leben, und zwar immer. Stellen Sie sich eine Bühne vor, auf der unser Leben in diesen sieben Tagen vollständig aufgeführt wird. Die Darsteller sind wir. Alle unsere Handlungen sind aufgezeichnet worden.“478

Morel fährt fort: „Bis vor kurzem hatte sich die Wissenschaft darauf beschränkt, für Gehör und Gesicht räumliche und zeitliche Abwesenheiten aufzuheben. Das Verdienst des ersten Teils meiner Arbeiten besteht darin, daß ich eine Trägheit unterbrochen habe, die schon das Gewicht einer Tradition besaß, und daß ich auf nahezu parallelen Wegen mittels Logik das Denken und die Lehren jener Wissenschaftler fortgeführt habe, die mit den erwähnten Erfindungen die Welt verbesserten. […] Ich machte mich daran, bislang unerreichte Wellen und Schwingungen zu suchen, Apparate zu ersinnen, um sie einzufangen und zu senden. Ich erlangte relativ leicht die Geruchsempfindungen; die thermischen und die eigentlichen,

477 |  Ebd., S. 51. 478 |  Ebd., S. 81.

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taktilen Empfindungen erforderten meine ganze Beharrlichkeit. […] Ich wendete diesen Teil meiner Arbeit auf das Bewahren der von Spiegeln erzeugten Bilder. […] Soviel zum ersten Teil der Maschine; der zweite zeichnet auf; der dritte projiziert. Dazu sind weder Bildschirme noch Leinwände nötig; die Projektionen werden überall im Raum empfangen, und es spielt keine Rolle, ob Tag ist oder Nacht. […] Die Hypothese, daß die Bilder eine Seele haben, scheint bestätigt durch die Wirkung meiner Maschine auf Personen, Tiere und Pf lanzen, die als Sender fungieren.“479

Morels Ausführungen verdeutlichen eine Kernaussage sowohl in dem fantastischen Roman wie auch für Pierre Huyghes ‚Untilled‘. Letztlich ist es die Frage nach der Beseelung von Bildern und die Vorstellung, Abwesenheiten als Oberfläche für Projektionen nutzen zu können. So wird in ‚Morels Erfindung‘ das Körperbild nicht ohne Auslöschung seiner physischen Substanz identisch mit der Seele. Dass ein Verzeichnen dieser Projektion möglich scheint, die Projektion und die Seele nicht deckungsgleich sind, belegen zumindest für Casares’ Fiktion die ersten Versuche Morels, in welchen das harmonische Zusammenfügen der Daten, wie er es nennt, scheiterte. So werden die ersten Bilder Morels als „monströse Gespenster“480 beschrieben, vor denen der Protagonist selbst warnt und sie seinem Publikum nur ungerne zugänglich machen möchte. In ‚Untilled‘ scheint der Verweis auf Casares’ Utopie mit der Idee Jean Baudrillards verknüpft, welcher in seiner Simulationstheorie unseren gesellschaftlichen Zustand als eine Simulation enttarnt, in der Zeichen und Wirklichkeit zunehmend ununterscheidbar werden, und er infolgedessen eine Referenzlosigkeit postuliert, da sich die Zeichen zunehmend von ihrem Bezeichneten zu lösen scheinen. 481 Die Zeichen simulieren eine Hyper­realität und haben die Verbindung zur Wirklichkeit verloren. Indem Pierre Huyghe sowohl Huysmans als auch Roussel und Casares anführt, verweist er mannigfaltig auf die Macht von Bildern und hinterfragt Realitäten, Wirklichkeiten und Referenzen. Dabei mag die erste Diskrepanz zwischen Zeichen und Referent die seiner Pläne und des Werkes selbst sein, sofern man die Pläne zu ‚Untilled‘ als werkbegleitend, jedoch nicht als werkimmanent ansehen möchte. Es bleibt unklar, welche

479 |  Ebd., S. 85ff. 480 |  Ebd., S. 90. 481 |  Vgl. Baudrillard: Warum ist.

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Konstituenten der Pläne dem Besucher der dOCUMENTA sichtbar werden und welche hingegen eine Idee verbleiben. Letztlich müssen die Pläne zu ‚Untilled‘ jedoch als Teil des Werkes angesehen werden. Damit sind auch die Hinweise auf Kunst, Literatur und Musik in effigie Konstituenten der Arbeit, welche als Bilder der Vorstellung dem Besucher des Gartens einen vorbestimmten Rezeptionsansatz liefern.

3.2.6 Antithesen anthropozentrischer Bildproduktion So kehrt sich in der Skulptur (Abb. 17), die als zweite künstlerische Arbeit Huyghes das Zentrum des Gartens bildet, die anthropozentrische Aneignung um. Die Hunde zeugen per se mittels ihres rassetypischen Erschei-­ nungsbildes und darüber hinaus qua ihrer Markierung von menschlicher Überpräsenz und stellen damit ein Artefakt in einem doppelten Sinne dar. Die Bienen hingegen bilden die Antithese dieser anthropozentrischen Bildproduktion. Sie umschließen mit ihrem Volk, bestehend aus tausenden von Individuen, den Kopf und Teile des Arms der Skulptur (Abb. 18), die Huyghe von der Kunstgießerei St. Gallen nach dem Vorbild der ‚Liegenden‘ von Max Reinhold Weber fertigen ließ. Damit umschließen tierliche Individuen das menschliche Abbild; die Aneignung findet in einer kontradiktorischen Weise, hier durch die tierlichen Individuen, statt. Die surrealistische Anmutung der Skulptur mit Bienenkopf – „[i]m Surrealismus erschien das Tier als Verkörperung des Unbewussten, der Trieb- und Instinktnatur des Menschen“482 – kann gedeutet werden als eine Anspielung auf die Entzweiung von Mensch und Natur und den Verlust der natürlichen Impulse. Der Annahme zum Trotz, das Tier könne nur als Repräsentant seiner jeweiligen Gattung, nicht hingegen als ‚konkretes Individuum‘ verstanden werden 483 – oder wie Jessica Ullrich es pointiert: „Es ist nie konkretes Individuum, sondern Repräsentant seiner jeweiligen Gattung und geht in seiner symbolischen Bedeutung restlos auf“484 –, legt

482 |  Jessica Ullrich: Das Tier im Bild oder der Blick des Anderen, in: Plurale. Zeitschrift für Denkversionen 2 (2003) (= Natur), S. 29–51, hier S. 30. 483 |  Vgl. ebd. 484 |  Ebd. In dieser Aussage knüpft Ullrich an das hegelsche Verständnis von tierlichen Organismen als Wesen des Mangels an, welches von Thomas Baumeister wie folgt zusammengefasst wurde: „Hegel versteht Organismen als funktionell organisierte Gebilde, deren

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Huyghe die Frage nach dem konkreten Tier und die Dekonstruktion eben dieser symbolischen Bedeutung in seiner Arbeit kritisch an. Die Präsenz tierlicher Sichtbarkeiten in den Werken Pierre Huyghes und dem Schaffen von Joseph Beuys – ganz ähnlich nehmen die Bienen und der Kojote aus der Ikonografie Beuys’ in Huyghes Werk die Gestalt von Bienenstaat und Rassehund an – und dazu die Parallele in der Ästhetik der Skizzen und Pläne der beiden Künstler bedürfen einer näheren Betrachtung und Gegen­überstellung.

3.3 Joseph Beuys’ Bestiarium Joseph Beuys konstatierte in einem Gespräch mit Janis Kounellis, Anselm Kiefer und Enzo Cucchi im Jahr 1985 in Basel: „Das Tier ist doch quasi ein Organ des Menschen, und es geht weiter, die Pflanze ebenfalls und die Erde […] auch.“485 Die Biene stellt dabei für Joseph Beuys ein Tier besonderer Bedeutung dar, auch weil sich letztlich in ihrer plastischen Arbeit bzw. plastischen Bewegung der Übergang von chaotischer Substanz hin zu geordneter Form materialisiert. Dabei steht das Chaos, das Unbestimmte, Organisch-Warme und in der Ausdehnung Begriffene in der plastischen

Zweck das ‚Leben‘ sei: die Selbsterhaltung von Individuum und Gattung in einem bestimmten Milieu. Dieser Zweck sei aber dem lebendigen Körper, den Organen, nicht äußerlich; vielmehr sei das Leben ungeteilt in der räumlichen Ausdehnung des Organismus anwesend und durchziehe das Ganze. Erst im Ganzen sind die verschiedenen Organe das, was sie sind. Aus dem Zusammenhang gerissen, ‚verwesen‘ sie und verwandeln sich in leblosen Stoff. Alles dies sind Feststellungen, die ihre Herkunft von Aristoteles und den Neuplatonikern erkennen lassen. Der Organismus zeige, dass Vernünftigkeit und Zweckmäßigkeit nicht, wie bei von Menschenhand konstruierten Geräten, dem Stoff äußerliche Prinzipien sind. Doch ist die Schönheit des tierischen Organismus in Hegels Augen von mangelhafter Art. Denn hier trete die Seele, das innere Prinzip der Einheit, nicht vollständig im Individuum in Erscheinung, denn das Tier lebe in der Unmittelbarkeit seiner Bedürfnisse. Es führt kein eigenes Leben, vielmehr lebt es bewusstlos das Leben der Gattung. Es entbehrt Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung und verkörpert daher — so Hegel — eine sehr viel niedrigere Form der Integration des Mannigfaltigen als die ihrer selbst bewusste, denkende Subjektivität.“ Thomas Baumeister: Die Philosophie der Künste. Von Plato bis Beuys, Darmstadt 2012, S. 241. 485 |  Jacqueline Burckhard (Hrsg.): Ein Gespräch. Joseph Beuys, Jannis Kounellis, Anselm Kiefer, Enzo Cucchi, 4. Auflage, Ostfildern 1994, S. 102.

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Bewegung der Ordnung, dem Unbestimmten, Kristallin-Kalten, Sichzusammenziehenden gegenüber, ohne diesen Pol zu negieren. Vielmehr verkörpert die plastische Bewegung für Beuys eine nichtendende Kontraktion und Expansion: „Ich erkannte, daß Wärme (Kälte) überräumliche plastische Prinzipien waren, die bei Formen: der Ausdehnung und Zusammenziehung, dem Amorphen und Kristallinen, dem Chaos und dem Geformten entsprachen. Gleichzeitig erhellte sich mir im exaktesten Sinne das Wesen der Zeit, der Bewegung, des Raumes.“486

Im Zentrum seiner Befassung mit dem Wärmeprinzip stehen drei charakteristische Arbeiten des Jahres 1952. Mit den Titeln ‚Bienenkönigin I‘, ‚Bienenkönigin II‘ und ‚Bienenkönigin III‘ können sie zu den programmatischen Werken des Künstlers gezählt werden. Während sich ‚Bienenkönigin I‘ heute in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München befindet, sind die Werke ‚Bienenkönigin II‘ und ‚Bienenkönigin III‘ Exponate im Block Beuys des Hessischen Landesmuseums Darmstadt. Indem Beuys sich für die Bienenkönigin als plastisches Werk entschieden hat, hat er sich zugleich dem wichtigsten wie auch schwächsten Glied des Bienenstaates gewidmet. In der Bienenkönigin ist die Polarität, die seinen Werken immanent ist, bereits angelegt. Die Bienenkönigin ist das wichtigste Glied des Bien – der Begriff visualisiert seine Bedeutung; der Bienenstaat wird im Sinne eines Einzelwesens als Bien zusammengefasst –, sie ist als einziges Glied fähig, Nachwuchs zu generieren. Sie wird jedoch von ihren Schwestern herangezogen und vom gesamten Staat in ihrer Funktion ausgenutzt und stellt damit zugleich das schwächste Glied des Bien dar. Die Plastik ‚Bienenkönigin I‘487 , bestehend aus den Materialien Buchsbaumholz, Bienenwachs und gebranntem Ton, beinhaltet zwei Werkelemente. Auf einem beidseitig ornamentierten Buchsbaumbrett, das an die Form eines Kleeblattes erinnert und auch im Sinne einer Zellteilung inter-

486 |  Joseph Beuys im Interview ‚Plastik und Zeichnung‘, in: Ausst. Kat. Joseph Beuys. Werke aus der Sammlung Karl Ströher, herausgegeben vom Kunstmuseum Basel, Kunstmuseum Basel, 16. November 1969 bis 4. Januar 1970, Basel 1969, S. 12f. 487 |  Joseph Beuys: ‚Bienenkönigin I‘, 1947–1952, Buchsbaumholz, Bienenwachs, Ton, 34,3 cm × 34,9 cm × 7,5 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Dauerleihgabe Lothar Schirmer.

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pretiert werden kann, ist ein wächsernes Relief montiert, welches, betrachtet man dessen Unterseite, zwölf Zellen aus kristallinem Bienenwachs aufweist. Die Zellwände stellen die Auflageflächen für den hölzernen Untergrund dar und lassen das Wachsrelief optisch über dem Untergrund schweben. In dieser Anmutung lässt die Wachsplastik gleichermaßen an eine Wabe denken, welche, dreht man sie herum, auf ihrer Rückseite ein gänzlich anderes Erscheinungsbild aufweist. Das Buchsbaumholz, von dem Beuys sagte, „es sei der Entwurf zu einem ‚Denkmal für das Meer‘, den er während einer Fahrt der Mataré-Klasse an die Nordsee angefertigt hatte“488, zeigt auf seiner vom Betrachter abgewandten Seite stilisierte Wellen, Schwäne, Medusen und stromlinienförmige Schnitzereien. Die Buchbaumholzplatte weist einige Risse auf, wie sie durch Temperaturunterschiede zustande kommen, und wirkt ansonsten glatt, fast poliert. Das Ornament liegt der Gesamtplastik buchstäblich zugrunde. Die sichtbare Oberfläche des Holzes zeigt nur wenige geschnitzte Ornamente, darunter vertikale Linien und einige erkennbare Stromlinien. In einer Kerbe am rechten oberen Rand des Holzes ist die Signatur der frühen Arbeiten Joseph Beuys’ eingeritzt, an der rechten oberen Seitenkante befindet sich eine Signatur mit Bleistift und die Datierung 1947–1952, was Aufschluss über die für Beuys lange Entstehungsphase des Werkes gibt. Das aufliegende Wachsrelief hat eine ovale Form, an deren oberer Begrenzung eine Wulst aufliegt, die an beiden Seiten über den Rand hinausragt. Sie erinnert an ein Scharnier, was die Annahme zulässt, das Oval sei in der Anmutung eines Flügels weiterdenkbar. Die Wachsplatte, auf die offensichtlich aufgetragen wurde, ist glatt und von heller honigbrauner Farbe. Zum rechten äußeren Rand hin ist ihr Farbton dunkler; hier scheint das Wachs weniger rein, sondern von Schlieren durchzogen. Im unteren Bereich der Wachsoberfläche ist deutlich das Andrücken des durch Wärme weich gewordenen Materials durch den Künstler erkennbar. Hier enden zarte horizontale Linien in wulstigen runden Knötchen, die an Eiablagen denken lassen. Die linke Hälfte der Platte zeigt, anders als die rechte Freifläche, ein vermeintlich zentrales Segment. Zwei runde Formen und ein amorphes Mittelteil sind mittels einer Ausdehnung mit dem höhlenartigen Konstrukt darüber

488 |  Lothar Schirmer und Helmut Friedel: Katalog der Werke, in: Ausst. Kat. Joseph Beuys im Lenbachhaus und Schenkung Lothar Schirmer, herausgegeben von Helmut Friedel/ Lothar Schirmer anlässlich der Wiedereröffnung der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München im Mai 2013, München 2013, S. 23–111, hier S. 28.

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verbunden. Das Gebilde wirkt organisch in seinem eigentlichen Sinne; wie eine Art körperliches, subkutanes Gewebe hebt es sich ca. zwei Zentimeter von dem mit ihm verschmelzenden Untergrund ab. Ein dünner Steg aus Wachs reicht bis in die Aushöhlung hinein. Dieses Hineinreichen kann sowohl als ein Eindringen oder Durchdringen wie auch als ein Heraustreten aus der Form gedeutet werden und lässt damit erneut den Dualismus von Ausdehnung bzw. Erweiterung und Zusammenziehen bzw. Verminderung erkennen. Zwei Wachsstränge darüber sind einem von zwei Frauenkörpern zugewandt, die entlang einer breiten Wulst am oberen Rand befestigt sind. Eine große tropfenförmige Platte befindet sich darunter. Die horizontal ausgerichtete Figurine ist aus Wachs geformt. Erkennbar sind Kopf, Brust, Bauch und Beine; Arme hingegen sind nicht ausgebildet. Die Farbe des Wachskörpers ist heller als der Untergrund. Auch sieht es aus, als sei er von Fremdmaterial durchzogen. Der Kopf der Figur liegt auf einer Anhäufung von Wachs. Ein zweiter Frauenkörper, ihm fehlen Kopf und Füße, liegt vertikal auf dem rechten Drittel des Untergrundes und bildet mit dem ersten, wächsernen Frauenkörper einen rechten Winkel. Der Torso ist aus gebranntem Ton erschaffen, zeigt aber an einigen Stellen Spuren von Wachs, die den Eindruck vermitteln, den Stumpf an den Sollbruchstellen zusammenzuhalten. Während der wächserne Frauenkörper einen nach außen gewölbten Bauch trägt und damit Fruchtbarkeit symbolisieren kann, sind die über der Scham gekreuzten Arme des zweiten Körpers ein mögliches Zeichen von Keuschheit. Es ist, als wären in ‚Bienenkönigin I‘ die Prinzipien des Bienenvolkes vereint: Die Fruchtbarkeit der Bienenkönigin als einziges vermehrungsfähiges Individuum und die Keuschheit der Arbeiterinnen als unfruchtbare Weibchen. Die Drohnen, die einzig männlichen Tiere des Bienenvolkes, haben lediglich den Lebenszweck der Begattung der Königin und scheinen damit bereits im weiblichen Prinzip angelegt. ‚Bienenkönigin II‘489, geringfügig kleiner als ‚Bienenkönigin I‘ gearbeitet, besteht ebenfalls aus den Materialien Buchsbaumholz und Wachs. Die Buchsbaumholzplatte ist abgerundet, wobei ihr oberes Ende in einen geschlitzten Holzbalken hineingesteckt ist, der in Richtung der Wachsplastik konkav verläuft. In dieser Formgebung ist die Nähe zu der flügelhaften

489 |  Joseph Beuys: ‚Bienenkönigin II‘, 1947–1952, Bienenwachs auf Holz, 27 cm × 35 cm × 7,5 cm, Block Beuys, Hessisches Landesmuseum Darmstadt.

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Erscheinung von ‚Bienenkönigin I‘ zu suchen. Der runde Holzteller erscheint unbehandelt und weist eine von rechts nach links abgeschwächte ebenso zirkelartige Einkerbung auf. Die linke Hälfte des Holzes ist dunkler als die rechte und hinterlässt den Eindruck eines Versatzes in der Mittellinie; ganz so, als seien zwei Halbkreise dort aneinandergesetzt und verleimt worden. Inmitten dieser Holzbasis, die Untergründe sind immer Träger des Materials und nie in Gänze mit dem Wachs verbunden, thront ein skulpturaler Auf bau, der den Eindruck erweckt, die beiden kreisförmigen flachen Formen und das höhlenähnliche Konstrukt der ‚Bienenkönigin I‘ habe sich weiterentwickelt, sei gewachsen und habe sich schließlich so lange zusammengezogen, bis, wie bei einem Morphingprozess, aus der Fläche erst ein Plateau und dann wiederum eine Ausdehnung erwachsen ist. Die beiden Kreise sind dabei zu Kugeln angeschwollen, die auf eine Wabenform aufmontiert sind. Aus einem die Kugeln verbindenden Element steigt mittig eine ovale Form an. Sie ist derart mit sehnigen Wachssträngen überzogen, das die Impression eines Nestbaus entsteht. In ihr findet sich auch der Höhlencharakter der ‚Bienenkönigin I‘ wieder. Auf der linken Seite des ovalen Körpers liegt ein wächserner Frauenkörper an, der eine Synthese aus den beiden Frauenkörperfragmenten der ‚Bienenkönigin I‘ zu sein vorgibt. Der Rumpf, die Figurine ist kopflos, ragt bis zu dem unteren Rand des Holztellers hinab, überschreitet diesen jedoch nicht. Insgesamt wirkt ‚Bienenkönigin II‘ wesentlich weniger amorph. Die dritte der drei ‚Bienenköniginnen‘490 führt in ihrer Darstellung das Prozesshafte von Komprimierung und Expansion weiter und nimmt an Gestalt weiter zu. Bei der Basis der ‚Bienenkönigin III‘ handelt es sich nicht um das Holz des monözischen Buchsbaums, der die Anlagen beider Geschlechter in sich trägt, sondern um ein nicht weiter definiertes Holz, welches zuvor möglicherweise einem anderen Zweck gedient hat. Es erweckt den Eindruck, als hätte man dem rechteckigen Holzbrett Teile entrissen und so spröde Blessuren im Holz hinterlassen. Die gesamte Oberfläche des Holzes wirkt rau und rissig, fast so, als wäre dem Holz jedwede Energie und damit Lebendigkeit entzogen worden. Die Wachsplastik, die größtenteils auf dem Holz aufliegt – lediglich das Kopfende ragt darüber hinaus –, mutet in sich geschlossen an. Die vielen Stränge und Schnüre

490 |  Joseph Beuys: ‚Bienenkönigin III‘, 1952, Holz, Wachs, 27 cm × 35 cm × 7,5 cm, Block Beuys, Hessisches Landesmuseum, Darmstadt.

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der beiden anderen ‚Bienenköniginnen‘ haben sich zu Fühlern und Extremitäten weiterentwickelt; der vermeintliche Bienenrumpf erscheint wuchtig und ausdefiniert. Er liegt als einziges Segment nicht komplett auf dem wächsernen Untergrund auf. Ein Drittel seiner Gesamtform ragt über den Rand der Wachsplatte hinaus, während die übrigen Teile der Plastik mit einem herzförmigen Wachsplateau verbunden sind bzw. mit diesem zu verschmelzen scheinen. Eben dieses Verschmelzen kennzeichnet für Rudolf Steiner das nicht überwundene Larvenstadium der Bienenköniginnen. Die Bienenkönigin, als Oberhaupt des Bienenstaates mit Gelée royal aus eigenen Reihen herangezüchtet, verbleibt in ihrer Entwicklung am stärksten der Anmutung der Larven verhaftet. 491 Sie hat einen wulstigen großen Körper, hingegen wenig ausgeprägte kleine Flügel. Sie steht am Anfang und zugleich an der Spitze und damit dem Ende der Entwicklung des Bienenvolkes und stellt hierdurch eine Verbindung zwischen verschiedenen Stadien der Entwicklung dar. Diese Verbindung der Entwicklungsstadien findet sich übergreifend in den drei ‚Bienenköniginnen‘ wieder. Beuys selbst sprach der detaillierten formalen Werkbeschreibung seiner ‚Bienenköniginnen‘ wenig Bedeutsamkeit zu. 492 Er sah die Wahrnehmung seiner Plastiken in einem übergeordnet geistigen Sinne angelegt und damit die Rezeption in der Wirkung und Auswirkung des Materials, nicht hingegen in seiner rein formalästhetischen Anmutung. Die auf diese Weise von dem Künstler angelegte Unmittelbarkeit seiner ‚Bienenköniginnen‘ eröffnet sich auch in seinen Aussagen über deren Präsentation im Jahr 1964 auf der documenta III in Kassel und seiner Vorstellung, dass man, würde man seine ‚Bienenköniginnen‘ essen, das in ihnen angelegte Wärme­prinzip sinnlich erfahren können. 493 Dieses von Beuys mit der Inkorporation, also dem Einverleiben, der Plastik verbundene unmittelbare Erleben der Sinnhaftigkeit gründet erneut auf seinen Überlegungen zu ei-

491 |  „Also die Königin, die bleibt gewissermaßen immer ihrem Larvenzustand, ihrem Madenzustand näher als die anderen Tiere. Und am weitesten entfernt vom Madenzustand ist die Drohne, das Männchen. Die Königin ist dadurch, [daß sie dem Madenzustand näher bleibt,] imstande, ihre Eier abzulegen.“ Rudolf Steiner: Mensch und Welt. Das Wirken des Geistes in der Natur. Über das Wesen der Bienen. Fünfzehn Vorträge gehalten vor den Arbeitern am Goetheanumbau in Dornach vom 8. Oktober bis 22. Dezember 1923, Achter Vortrag, Dornach, 26. November 1923, Dornach 1995, S. 136f. 492 |  Vgl. Schirmer: Anmerkungen zu Beuys, S. 34. 493 |  Vgl. ebd., S. 34f.

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nem erweiterten Kunstbegriff. So müsste die Funktion der Bienenkönigin in der menschlichen Physiologie „zwischen Herz und Gehirn zu suchen sein, also die Bienenköniginnenfunktion. Und das Ausscheiden von verfallenen Zellen geschieht täglich, indem der Mensch einfach eine Ausscheidefunktion hat. Und die Drohnen, die überflüssig sind, das ist kein Mord an individuellen Existenzen, sondern das ist ein Ausscheiden von Zellen, die mal benötigt wurden, um den Prozess aufrechtzuerhalten und die immer wieder neu kommen, aber immer wieder neu ausgeschieden werden, während andere Zellverbände ein längeres Leben haben. So was gibt es in der menschlichen Physiologie auch, also man muss sich davor hüten, so eine einzelne Biene zu sehen und zu sagen, das ist ein Individuum. Das ist eine Zelle im Ganzen, genau wie eine Hautzelle, oder eine Muskelzelle, oder eine Blutzelle. Am besten lässt sich das noch vergleichen mit den im Körper herumschwärmenden Blutzellen. Da gibt es ja auch unterschiedliche Zellen, die sehr schnell im Blut immer wieder abgebaut werden, und solche, die länger bleiben. Also, der Mensch ist praktisch auch ein Bienenschwarm, Bienenstock. […] Ich habe gesagt, was für mich wichtig ist, ist der allgemeine Wärmecharakter, der sich bildet, die Substanzen, die sich bilden: Honig, Wachs, Blütenstaub, Nektar. […] Daß am Bienen­organismus sich der ganze Zusammenhang abbilden lässt als Wärmeprozess, und daß man ihn übertragen kann im Sinne des Apis­k ultes im anderen Sinne, die sich in der menschlichen Weiterentwicklung vollziehen können, oder vielleicht auch sollen. Wie z. B. ein Sozialismus, jetzt nicht im Sinne eines Staates, der perfekt funktioniert, aber eines Organismus, der doch perfekt funktionieren muss. Denn gegen die Perfektion ist ja nichts einzuwenden, wenn diese Perfektion human ist, also wirklich wärmehaft sozial ist. […] Also, wenn wir das noch mal zusammenfassen, sind das ja sehr verschiedene Elemente. Erstens einmal die rein morphologischen, die wir besprochen haben durch diese Charak­tere. Dann, nicht wahr, der substanzielle Charakter: Wachs, Honig, Pollen, Blütenstaub, Nektar, Pflanzenhonig, so in dieser Reihe. Dann, dazwischen, in diesem ganzen Betrieb, der Wärmecharakter, der bei der Blüte schon vorliegt, der hinein genommen wird in den ganzen Bienen­stock und sich da weiter auf eine höhere Stufe hin organisiert. Und dann allgemein, wie es therapeutisch jetzt angewandt wird, das interessiert. Dann die Übertragung, jetzt aber nicht als eine sinnlose Übertragung, sondern vom Bilde genommene Übertragung, einer sozialen Wärmeskulptur. Das hat ja bei mir dazu

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geführt, dass ich sage, es muss ein anderer Kunstbegriff geprägt werden, der sich auf jedermann bezieht und nicht nur Sache des Künstlers ist, sondern sich anthropologisch nur deklarieren lässt.“494

Die ‚Bienenköniginnen‘ sind deshalb so wichtig für die Wärmeplastik Joseph Beuys’, da sich in ihnen erstmals die Pole von Warm und Kalt, Weich und Kristallin visualisieren. Seine Intention ist dabei eng mit Rudolf Steiners Vorträgen ‚Über das Wesen der Bienen‘ verknüpft 495, wobei es Beuys „nicht nur wie Steiner um die Sonnenwirkung und Erdwirkung auf die Bienen, sondern vor allem um den Wärmecharakter bei der Biene [geht]. Er kann im Bienenkorb jene Theorien von kristallin hart (kalt) und ungeformt weich (warm) nachvollziehen, mit denen Denker wie Paracelsus und Novalis die Spannweite irdischer Materie zu fassen versuchten: ,Es ist zu sagen, daß bei der Biene nichts durcheinander geht, sondern daß das Organische, das die Biene erzeugt, sie in einem unheimlichen kristal­linen System anwendet. Das sind auch architektonische Bahnen, und dazwischen ist das kristalline Gefüge und das ganz entgegengesetzte embryonale Bewegungsprinzip gebaut.‘ Darüber hinaus kann er in der Berührung der Biene mit der Pflanze jene Transmissionsqualität erkennen, die die Alchemisten jahrhundertelang erforscht und praktiziert haben, den Wärmecharakter, der von der Pflanze in die Biene übergeht“496.

Die Honiggewinnung der Biene ist dabei zentrales Transformationsmoment. Der Wärmeprozess beginnt im Bienenstock und setzt sich fort im

494 |  Joseph Beuys: Gespräch über Bienen, in: Rheinische Bienenzeitung 126 (1975), S. 373–377, zitiert nach: Schirmer: Anmerkungen zu Beuys, S. 126f. 495 |  „Auch wenn Beuys in seinen frühen Arbeiten die Natur- und Sakralmotivik seines Lehrers Mataré adaptierte, ergab sich letztlich nur eine formale Verwandtschaft. Noch während des Studiums hatte Beuys seine Arbeiten vom christlich-humanistischen Wertekanon gelöst, um sie an den Gesetzmäßigkeiten des Steiner-Kosmos auszurichten. […] Die Inspiration Steiners deutete sich in Beuys’ Werk ab etwa 1948 an, ab Mitte der fünfziger Jahre ist sie zweifelsfrei nachzuweisen.“ Hans Peter Riegel: Beuys. Die Biografie, Berlin 2013, S. 103. 496 |  Veit Loers: Die plastischen Arbeiten der documenta 3, in: Ausst. Kat. Joseph Beuys. documenta-Arbeit, herausgegeben von dems./Pia Witzmann, Museum Fridericianum Kassel, 5. September bis 14. November 1993, Stuttgart/Ostfildern 1993, S. 49–64, hier S. 56.

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Sammeln des Nektars im Inneren der Blüten, welches das Zentrum der Wärme und Energiezufuhr ist. Der gesammelte Nektar wird von den Bienen in den Bienenstock gebracht, wo er von sogenannten Stockbienen mehrfach eingesogen und wieder ausgeschieden wird. Dabei wird der Nektar entwässert und mit Enzymen aus dem Bienenkörper angereichert. Danach reift der Honig einige Wochen in der Wabe. Joseph Beuys denkt diese Abfolge dabei ganzheitlich, „[a]lso raus aus dem Bienenstock, hin zu der ganzen Umwelt, die Pflanze selbst, die dazu gehört. Die Pflanze, die wieder im Zusammenhang steht mit mineralischer Grundlage, dem Bodenwechsel.“497 Der Wärmebegriff und mit ihm die ‚Bienenköniginnen‘ bzw. die Bienen stehen für Beuys in einem direkten Zusammenhang mit den energetischen Prozessen zwischen Kopf und Herz. Beuys’ ‚Honigpumpe am Arbeitsplatz‘, die er im Jahre 1977 auf der documenta 6 realisiert hat, stellt eine Fortsetzung und Weiterentwicklung seiner ‚Bienenköniginnen‘ dar und ist deutlicher, wenngleich nicht intensiver mit dem Bewegungsprinzip der Körperfunktionen und damit den Kreisläufen verknüpft. „Grundbegriffe der Physiologie sind in den Herz- und Kreislaufkonzepten von Joseph Beuys wirksam: Das Zirkulierende, der Blutstrom, Energie und Wärme, Signale, Rhythmus und Bewegung.“498 Darüber hinaus ist eine Sichtweise auf die Biene in besonderer Weise für Joseph Beuys’ Bienenplastiken von Bedeutung: Das Bienenvolk als ‚Einwesen‘, wie es der berühmte Bienenzüchter Johannes Mehring bereits im 19. Jahrhundert formulierte und damit eine Vorstellung des Bienenstaates etablierte, die sich nicht ausschließlich mit dem Bienenvolk als staatenbildender Ordnung oder Organisation befasst. Dieses ‚Einwesen‘ entspreche einem einzelnen Wirbeltier, die Arbeitsbienen seien dabei der Gesamtkörper mitsamt den Erhaltungs- und Verdauungsorganen. 499 „Diese Sichtweise, eine ganze Bienenkolonie mit einem einzigen Tier gleichzusetzen, brachte den Begriff des ‚Bien‘ hervor, mit dem die ‚organische Auffassung des Einwesens‘ ausgedrückt werden sollte:

497 |  Beuys: Gespräch über Bienen, zitiert nach: Schirmer: Anmerkungen zu Beuys, S. 126. 498 |  Heribert Schulz: Pulsschlag. Herz- und Kreislaufkonzepte von Joseph Beuys, Düsseldorf 2003, S. 8. 499 |  Vgl. Jürgen Tautz: Der Bien — ein Säugetier mit vielen Körpern, in: Biologie in unserer Zeit (2008), S. 22–29, hier S. 22.

Das Tier als Physis

Man betrachtete die Bienenkolonie als ein unteilbares Ganzes, als einen einzigen lebenden Organismus. Für diese Lebensform prägte der amerikanische Biologe William Morton Wheeler (1865–1937) auf der Grundlage seiner Arbeiten an Ameisen dann 1911 den Begriff des Superorganismus“500.

Eben dieses Phänomen eines ‚Superorganismus‘501, die damit verbundene Sozietät, faszinierte Beuys in einem solch hohen Maße, dass er die vorbildhaften Eigenschaften wie Fleiß, Harmonie und allem voran die vermeintlich altruistischen Verhaltensweisen der Bienen – die Biene gibt mit ihrem Stich zur Vertreibung des Feindes ihr Leben für die Gemeinschaft – zu Symbolen für eine in seinem Sinne bestmöglich funktionierende Gemeinschaft von Menschen transformierte. Leitmotiv ist dabei der Wärmecharakter der Bienen, welchen er neben der Adaption ihrer morphologischen Gestaltmuster auf viele seiner Zeichnungen und Plastiken anwendete. Das übergeordnete Wärmeprinzip, welches Beuys als die unabdingbare energetische Zufuhr eines Kollektivs und gleichermaßen als ein von diesem hervorzubringendes Gut versteht, gründet ebenfalls in dem autopoietischen Naturgefüge502 der Honigbienen. Bienen heizen ihren Stock auf und verbrauchen dabei ca. achtzig Prozent ihres Honigs, welcher keine

500 |  Ders.: Phänomen Honigbiene, München 2007, S. 4. 501 |  „Die Kolonien der Honigbienen sind hochkomplexe Systeme mit vielfältigsten Rückkopplungsmöglichkeiten. Im Superorganismus Bienenstaat finden wir Homöostase auf den Ebenen der Körperfunktionen der einzelnen Bienen und als soziale Homöostase auf der Ebene der gesamten Kolonie. Die Einzelbiene ist in ihren Körperfunktionen ausbalanciert und abgestimmt wie jedes andere gesunde Lebewesen. Der Bienenstaat weist darüber hinaus Gleichgewichtszustände auf, die nur durch die gemeinsamen Aktionen aller Koloniemitglieder erreichbar sind. Dazu gehören der Wabenbau, die Nestklimatisierung und die Nesthygiene. Solche nur in der Gemeinschaft auftretenden Fähigkeiten oder Eigenschaften, die einzelne Mitglieder der Gemeinschaft nicht besitzen und die die Soziophysiologie der Kolonie aus­ machen, sind kennzeichnend für einen Superorganismus.“ Ebd., S. 249f. 502 |  „Ähnlich wie Novalis geht Beuys von einem poietischen Naturzusammenhang aus, wobei alle Veränderungen und Bewegungen nicht als Reflexion eines transzendentalen Subjekts erscheinen, sondern als schaffende, auch den Menschen hervorbringende Bewegung des Werdens aller Phänomene einschließlich der geistigen.“ Armin Zweite: Die plastische Theorie von Joseph Beuys und das Reservoir seiner Themen, in: Ausst. Kat. Joseph Beuys. Natur, Materie, Form, herausgegeben von dems., Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen

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Nahrung für die Biene darstellt, sondern Brennstoff. Dabei schaffen die Bienenindividuen die Temperatur aus sich selbst heraus und bestimmen damit, zu welchen Bienenindividuen ihre Schwestern heranwachsen werden. Pierre Huyghe greift mit seiner Adaption der ‚Liegenden‘ von Max Reinhold Weber in ‚Untilled‘ die Idee der Wärmeplastik von Joseph Beuys auf und verknüpft Elemente der ‚Bienenköniginnen‘ mit seiner Skulptur. Bei der ‚Liegenden‘ wie auch in den Werken ‚Bienenkönigin I‘ und ‚Bienenkönigin II‘ von Joseph Beuys ist es ein weiblicher Körper, der entweder Grundlage oder aber Teil der Skulptur ist. Indem Huyghe den Kopf und einen Arm des aus Beton gegossenen weiblichen Aktes unter einem Bienenstock verschwinden lässt, übernimmt er auch formalästhetisch die Gestalt der aus Wachs und Ton gefertigten Frauentorsi des beuysschen Werkes. Das Wärmeprinzip von Joseph Beuys’ Plastiken findet sich als sinngebendes Axiom in der ‚Liegenden‘ wieder. Der kalte Beton wird künstlich erhitzt, womit der lebensnotwendig temperierte Umraum der Bienen sinnbildlich erwächst. Dieser von dem Bien gemeinhin selbst generierte Zustand ensteht nun nicht aus dem Inneren des Bienenstaates, sondern befindet sich in dessen Basis, so wie das Holz den ‚Bienenköniginnen‘ zugrunde liegt. Dass der Bien letztlich synonym für einen unsterblichen Kreislauf ist – Jürgen Tautz spricht in seinen Ausführungen zum Bien und den Honigbienen als Superorganismus darüber, dass es möglich sei, in Ägypten einen Staat zu sehen, auf den bereits die Pharaonen blickten –, ist den Werken Joseph Beuys’ und auch Pierre Huyghes immanent. Rudolf Steiner führte dazu ebenfalls einen Vergleich an, der zumindest für Beuys von erheblicher Bedeutung scheint: „Denken Sie sich, Sie haben einen Freund; den lernen Sie, sagen wir im Jahre 1915 kennen. Dieser Freund bleibt hier in Europa und Sie gehen nach Amerika und kommen im Jahre 1925 wieder zurück. Der Freund ist meinetwillen in Arlesheim. Sie kommen nach Arlesheim, begegnen dem Freund und erkennen ihn wieder. Was ist aber inzwischen vorgegangen? Ich habe Ihnen ja auseinandergesetzt: Der Stoff, die Materie, die Substanz, die in dem menschlichen Körper ist, die ist nach sieben, acht Jahren vollständig ausgetauscht. Es ist gar nichts mehr davon da. So

Düsseldorf, 30. November 1991 bis 9. Februar 1992, München/Paris/London 1991, S. 13–29, hier S. 21.

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daß also der Freund, wenn Sie ihn nach zehn Jahren wiedersehen, nichts in sich hat von all dem, wirklich nichts an sich hat von dem, was Sie vor zehn Jahren an Materie an ihm gesehen haben. Und doch haben Sie ihn wiedererkannt. Und wenn wir ihn äußerlich anschauen, dann schaut er ja allerdings so aus, wie Sie wissen, daß er eine zusammenhängende Masse ist. Er schaut schon so aus. Aber wenn Sie ihn jetzt durch ein genügend großes Vergrößerungsglas anschauen würden, den Freund, da würden Sie sehen: Da f ließt in seinem Kopf eine Blutader. Ja, schön, diese Blutader sieht so aus, wenn man sie mit dem gewöhnlichen Auge oder mit einem kleinen Vergrößerungsglas anschaut. Aber wenn man sich ein riesiges Vergrößerungsglas denkt, da schaut das, was da als Blut ist, nicht mehr so aus; da besteht es aus lauter Pünktchen, die so ausschauen wie kleine Tiere. Aber diese Pünktchen sind nicht in Ruhe, die zittern fortwährend. Und wenn Sie das anschauen, dann hat das eine verf luchte Ähnlichkeit mit einem schwärmenden Bienenschwarm! Der Mensch schaut nämlich, wenn man ihn genügend vergrößert in seiner Substanz, ganz genau so aus wie ein Bienenschwarm. Wenn man das durchschaut, so müßte es einem eigentlich unverständlich erscheinen, daß einen ein Mensch nach zehn Jahren wiedererkennt, denn kein einziges von diesen kleinen bewegten Pünktchen ist noch da. Seine Augen haben ganz andere Punkte. Es sind ganz andere kleine Tierchen da drinnen, und dennoch erkennt einen der Mensch wiederum. […] [U]nd der Bienenstock ist eben nicht nur das, was man so und so viele tausend Bienen nennt, sondern der Bienenstock ist ein Ganzes, ein ganzes Wesen.“503

Gleichnisse und Personifikationen Steiners führten zu Joseph Beuys’ Verständnis, das Wesen der Bienen als Analogie zu dem menschlichen Organismus zu werten und das Tier im Allgemeinen als Vorläufer menschlicher Präsenz zu betrachten. Dass Huyghe den Bien auf dem Kopf der Skulptur ansiedelt und so auf das zentrale Nervensystem und das Zentrum menschlicher Sinneswahrnehmung und Verhaltensweisen, ist dem Implementieren der sozialen Plastik in das menschliche Bewusstsein gleichzusetzen. Die Prinzipien von Kontraktion und Expansion durch die Prinzipien des Wachstums und des Beschneidens – der Künstler selbst ritzt zaghaft immer wieder die gewünschte Formgebung in die Waben ein, sobald die

503 |  Steiner: Mensch und Welt, S. 182f.

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Hautflügler ihren Staat zu schnell erweitert haben504 –, gründen auf dem Wärmeprinzip Joseph Beuys’, welches sich bereits auf subtile Weise in den drei ‚Bienenköniginnen‘ offenbart hatte. Den angeführten Vorstellungen Joseph Beuys’ folgt Huyghe mit ‚Untilled‘ aber bereits in seinen Plänen zu dem Biotop, in welchem er Kopf und Herz – also die Kreisläufe, die auch Beuys in seiner Wärmeplastik umkreist – aufgreift. Die pharmakologisch wirksamen psychotropen, medizinischen und aphrodisierenden Gewächse in ‚Untilled‘ beziehen sich auf das menschliche Bewusstsein und die Psyche, auf die Gesundheit und damit Erhaltung des Körpers sowie auf die Sexualität und damit Vermehrung und Erhaltung der Art. Die alte Straße, die seinen Plan und damit das Kompostierungsgelände der Karlsaue durchzieht, die ‚Old Raod‘, lässt an den Rachen des Menschen denken. In der Zeichnung hat es den Anschein, als hätte Huyghe das Herz in der ‚City‘ kartiert, also das Zentrum menschlicher Urbanität, in deren Nähe in Versalien ‚Heart‘ notiert ist, und als zöge sich die Speiseröhre hin bis zu dem in der oberen Mitte der Karte niedergeschriebenen Vermerk ‚Cut Digestive System‘, welches sich sowohl auf das Verdauungszentrum des menschlichen Körpers, Magens und Gedärms mit all seinen Windungen, aber auch auf ein Häckselgerät beziehen könnte, mit welchem Pflanzenschnitt zerkleinert wird. Ganzheitlich betrachtet findet sich das Zirkulative eines Kreislaufes mehrschichtig in ‚Untilled‘ wieder: Einerseits bildet sich darin der Kreislauf der Flora ab, Pflanzen wachsen, sterben ab, werden kompostiert, der aus ihnen entstehende Humus bildet die Bodensubstanz für neues Wachstum. Andererseits lässt sich ‚Untilled‘ auf den menschlichen Organismus beziehen, welcher Nahrung verdaut und ausscheidet. Weitere Kreisläufe finden sich in den einzelnen Markierungen und Werken, so in der Bestäubung durch die Bienen, der von Ameisen ermöglichten Myrmekochorie, der Adaption, Wiederverwertung und damit Neubestimmung künstlerischer Werke und sogar in der Betrachtung und Rezeption der Besucher, die ‚Untilled‘ ein Stück weit in sich aufnehmen, so wie Beuys es sich für seine ‚Bienenköniginnen‘ gewünscht hatte: „Mein Glaube ist, daß vor der Plastik etwas geschieht, was eine reale Ausstrahlung ist, daß also diese Wachssubstanz eine Verlängerung nach

504 |  Vgl. Rafael: Pierre Huyghe, S. 9.

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oben hat. Also nehmen wir an, man könnte sie direkt essen. Jetzt nehmen sie das, was scheinbar materialistisch klingt, aber vergeistigt.“505

Beuys führt auf die Frage nach dem Betrachtenden und einer bestmöglichen Rezeption weiter aus, dass er den Betrachter die Plastik praktisch essen lassen würde: „Im Essen dieser Plastik würde er vielleicht etwas erleben, was in diesen Dingen enthalten ist, was wichtig für mich war“506. Und um diesen Eindruck des Wesentlichen der Plastik reicher, könne sich durch Weiterdenken, Zer-denken und schließlich Verwerten des Gedankens über das Wesentliche in der Intention des Künstlers die soziale Plastik eröffnen, dann nämlich, wenn das Wesentliche in den Betrachter übergegangen ist. Den Übergang eines Wesentlichen in den Betrachter legt auch Huyghe in seinen Werken an. ‚Untilled‘ ist durchsetzt von Wachstums-, Transformations- und Energieprozessen und weist immer auch auf deren Negation hin. Dieses Aufzeigen von Positiv- und Negativformen ist in einem durchaus räumlichen Sinne als Expansion und Kompression begreif bar und stellt darin eine Entsprechung zu Joseph Beuys’ erweiterten Kunstbegriff und der Wärmeplastik dar. Eine weitere Parallele zwischen Huyghe und Beuys, die ihren Ursprung in den steinerschen Skizzen und Tafelbildern zu haben scheint, ist die Vorbereitung von Vorhaben und Werken in Skizzen, aber auch der betont handschriftliche Duktus ihrer Zeichnungen. Eine Bleistiftzeichnung zur Aktion ‚Honigpumpe‘507 von 1984 zum Beispiel – auch diese beinhaltet den Bezug auf den menschlichen Organismus samt dessen Geistesmacht – ähnelt den Skizzen und Zeichnungen Huyghes in offensichtlicher Weise und scheint Letzterem Vorbild gewesen zu sein: Es gibt zaghafte, zarte Bleistiftlinien, aber auch mit Druck geschwärzte Linien und Kreise, die Schrift ist versal gehalten. In seiner Art, Zeichnungen als Transporter für abstrakte Vorgänge zu nutzen, mag Steiner sowohl Beuys als auch Huyghe Leitbild gewesen sein. „Bei Beuys konkretisiert die Linie das Denken selbst: Denken als einen kreativen Vorgang im Zuge seines Sich-Entwickelns. Das Denken wird sichtbar, man sieht das Denken selbst. Und was es sichtbar macht, ist die

505 |  Joseph Beuys, zitiert nach: Loers: Die plastischen Arbeiten, S. 62. 506 |  Ebd. 507 |  Vgl. Joseph Beuys: ‚Die Honigpumpe‘, 1985, Siebdruck, 30 cm × 21 cm.

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autonome Linie, die der Hand entf ließt wie das, was man schreibt. Im Ursprung, die Etymologie weist es aus, waren Zeichnen und Schreiben eins, und es lohnt, sich vor Augen zu halten, dass Punkt und Linie älter sind als jeder Versuch, Sprache in Zeichen sichtbar zu artikulieren.“508

Damit ist ebenso der unmittelbare Charakter der Pläne Huyghes zu erklären wie auch deren Unterscheidung voneinander: Huyghe materialisiert in Anlehnung an Beuys und auch Steiner seine Gedanken und ihnen voran ihre Entwicklung über den Bleistift auf das Papier. Dabei schichtet er mittels der Zeichen und der Schrift die verschiedenen Sinndimensionen seiner Arbeit, über deren Rezeption sich das Werk in seiner Vollkommenheit zu erschließen versucht. Huyghe hebt kraft der Schrift – „[e]s ist eine Schriftzeichen ausrichtende, sie ordnende Geste. Und die Schriftzeichen sind (mittelbar oder unmittelbar) Zeichen für Gedanken. Also ist Schreiben eine Gedanken richtende, ausrichtende Geste. Wer schreibt, muß vorher nachgedacht haben. Und die Schriftzeichen sind Anführungszeichen zu richtigem Denken“509 –

Gedanken zu ‚Untilled‘ aus dem Bereich des Mythischen in das logische und damit zeitgemäße Denken, „[d]enn ungeschrieben und sich selbst überlassen laufen sie in Kreisen. Dieses Kreisen der Gedanken, wobei jeder Gedanke zum vorangegangenen zurückkehren kann, nennt man in spezifischen Kontexten das ‚mythische Denken […]‘“510. Damit stellt er für den Rezipienten einen mythologischen Zugang her, transformiert diesen aber parallel in lesbare Zeichen. Es ist, als werden bedeutend mythologische Inhalte erst ihrer Komplexität beraubt, um ihnen dann, nachdem sie erfahrbar gemacht wurden, eine erweiterte, bedeutungspotenzierende Qualität zukommen zu lassen.511 Mit der Schrift in den Karten zu ‚Untilled‘ lagert der Künstler das kulturelle Gedächtnis in seiner Arbeit an.

508 |  Franz Joseph van der Grinten: Grußwort. Rudolf Steiner und Joseph Beuys, in: Ausst. Kat. Joseph Beuys — Rudolf Steiner. Zeichnungen — Entwürfe — Skizzen, herausgegeben vom Rudolf Steiner Archiv in Kooperation mit dem Goetheanum Haus Duldeck, Dornach bei Basel, 3. Mai bis 3. August 2007, Dornach 2007, S. 7f., hier S. 7. 509 |  Vilém Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, 2. ergänzte Auflage, Göttingen 1989, S. 10. 510 |  Ebd. 511 |  „Auch hier eröffnet sich nun das mehrfach beschriebene Rezeptionsphänomen: Durch die Schrift wird eine andere Verstehensweise der Darstellung ermöglicht. Es erfahren abstrakte Zeichen im Bild, die zunächst z.B. nur Landschaft assoziieren, nun eine mythische Verknüpfung und somit eine Bedeutungserweiterung. Eine ungeahnte Geschichte spielt sich nun in dieser Landschaft ab.“ Cordula Meier: Anselm Kiefer — Die Rückkehr des Mythos in der Kunst. Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung, Essen 2013, S. 143.

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„Dabei verhält sich das strukturelle System der Schrift ähnlich dem des Gedächtnisses als grundlegendes Prinzip aller Kultur im Sinne gesellschaftlicher Wirklichkeits- bzw. Sinnkonstruktion; gleichsetzen lassen sich Schrift und Gedächtnis – vor allem kulturelles Gedächtnis – jedoch nicht. Der Schrift ist es nicht möglich, das Gedächtnis zu ersetzen; die Schrift kann aber in unterschiedlichem Maße in verschiedene Funktionsbereiche einer Gedächtniskultur eindringen und neue Strukturen entwickeln oder hinterlassen.“512

Huyghe integriert mit seinen schriftlichen Vermerken Wissen um Literatur, bildende Kunst und Musik in sein Werk. In der konkreten Erfahrung von ‚Untilled‘ als begehbarem Ort ist es nicht zwingend, die Andeutungen und Anklänge des geschriebenen Wortes visualisiert wiederzufinden, die Schrift fixiert eine mögliche Imagination, die in Huyghes Biotop gleichwertig zu den real präsenten Objekten und Subjekten ist. In Huyghes Utopie oder besser: Denkversion steht die Wahrnehmung als realitär im Vordergrund. Damit bleibt auch das Bedürfnis vieler Rezipienten gleichermaßen unbefriedigt wie unbedeutend, die sich mit der Frage befassen, ob letztlich alle in den Plänen angeführten Marker in ‚Untilled‘ umgesetzt, materialisiert und oder realisiert wurden. Das Biotop ist demzufolge auch ohne die Pläne rezipierbar, dies jedoch auf eine sehr andere Art und Weise. Ein zweites bedeutsames Tier aus dem Bestiarium Joseph Beuys’ ist der Kojote, den der Künstler im Mai 1974 zur Eröffnung der Galerie René Block während seiner Aktion ‚Coyote: I like America and America likes me‘ in Erscheinung treten ließ. Während die Dauer der Aktion als einwöchig angekündigt wurde und auch größtenteils im Nachtrag so beschrieben und rezipiert wird, ist heute bekannt, dass Beuys drei Tage lang acht Stunden in der Galerie der Begegnung mit dem Kojoten entgegensah.

511 |  „Auch hier eröffnet sich nun das mehrfach beschriebene Rezeptionsphänomen: Durch die Schrift wird eine andere Verstehensweise der Darstellung ermöglicht. Es erfahren abstrakte Zeichen im Bild, die zunächst z.B. nur Landschaft assoziieren, nun eine mythische Verknüpfung und somit eine Bedeutungserweiterung. Eine ungeahnte Geschichte spielt sich nun in dieser Landschaft ab.“ Cordula Meier: Anselm Kiefer — Die Rückkehr des Mythos in der Kunst. Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung, Essen 2013, S. 143. 512 |  Dies.: Kunst und Gedächtnis, S. 60.

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„Die Aktion ‚Coyote‘ begann auf der Reise von Europa nach Amerika. Nach den Eisfeldern Labradors, menschenleeres Niemandsland der Gedanken, bedeckte der Mann seine Augen, und dies war das Letzte, was er von Amerika sah. Am Kennedy Airport wurde sein ganzer Körper in Filz eingewickelt, das Material, das für ihn Isolation und Wärmehülle zugleich bedeutet. Er wurde in einen Ambulanzwagen verladen, bewegliche Erinnerung wissenschaftlicher Therapie, und gleich zu dem Ort gebracht, den er mit dem Kojoten zu teilen hatte. Eine Woche später wird man ihn wieder filzisoliert in einen Ambulanzwagen verpacken, Anfangsstation seiner Rückreise nach Europa, Rotes Kreuz für den Mann, Blaues Kreuz für das Tier. Dazwischen lag tagaus, tagein der öffentliche Dialog: lange, ruhige, beinahe schweigende Tage des Dialoges zwischen Repräsentanten zweier Gattungen, zum ersten Mal zusammen in einem Raum.“513

Auch wenn filmische Dokumente Joseph Beuys im Kennedy Airport ohne die Filzummantelung zeigen, so hält er sich doch die Augen zu, um sich so den visuellen Eindrücken Amerikas zu entziehen.514 Der Künstler wird nach seiner Ankunft außerhalb des Gebäudes von drei Personen in Filz gehüllt und auf eine Liege gebahrt in den Krankenwagen geschoben. Zügig, darauf lässt das Motorengeräusch des auditiven Materials des Films schließen, wird der Krankenwagen auf direktem Wege zur Galerie gesteuert. Andere Fahrzeuge weichen ihm wie bei einem Notfall aus oder räumen ihm die Vorfahrt ein. Der Transport wird von Polizisten unterbrochen, die nach der Genehmigung des Vorhabens fragen, den Wagen aber dann weiterfahren lassen. Vor der Galerie angekommen, wird die Kranken­bahre aus dem Wagen gezogen und in den Eingang des Hauses geschoben. Dort entsteigt Beuys seinem Filzumhang erst, nachdem er mithilfe eines Begleiters über den Aufzug in eines der oberen Geschosse des Hauses gelangt ist und sich vor dem Zaun wiedergefunden hat, der den Raum der weiterzuführenden

513 |  Caroline Tisdall: Joseph Beuys. Coyote, München 1976, S. 6. 514 |  Ausschnitte der Aktion wurden von Herbert Wietz auf Sechzehnmillimeterfilm aufgezeichnet: ders.: ‚I like America and America likes Me. One week’s performance on the occasion of the opening of the René Block Gallery, New York, May 1974‘, produziert von der Galerie René Block und Helmut Wietz, VHS, 1981. Das 37-minütige Farbfilmmaterial wurde auf Veranlassung von Joseph Beuys in Schwarz-Weiß konvertiert, um den spirituellen Charakter der Aktion nicht von farbigen Reizen in den Hintergrund rücken zu lassen.

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Aktion und mit ihm den Kojoten vom Raum der Betrachter des Geschehens abtrennt. Die Absperrung besteht aus hölzernen Quer- und Längsstreben, einem Zaungeflecht aus Metall und einer in das raumhohe Konstrukt integrierten Tür bzw. einem Durchlass und erinnert so an die Begrenzungen eines Stalls. Beuys, der das erste Mal auf den Kojoten trifft – einem von nur zwei lebenden Tieren seines Œuvres515 – erhält Einlass und betritt schnellen Schrittes die Holzdielen des Ausstellungsraumes, wo er in dessen Mitte ein Bündel Filz ablegt. Er geht zurück zum Durchlass und erhält einige Gegenstände516, darunter ein Stoff knäuel und eine Taschenlampe. Eine Triangel ist mit einer Schnur um den Hals des Künstlers befestigt und hängt daran bis hinunter zu seinem Genitalbereich. Ein Spazierstock hängt mit dem oberen Ende über seinem linken Unterarm. Der Künstler trägt feste braune Handschuhe und wirft nun dem Kojoten Fleischstücke zu, die er dem Stoff knäuel entnommen hat. Der domestizierte Kojote, dessen Herkunft von einer Farm in New Jersey offenkundig ist, bettelt erregt um Zuwendung. Er ist nicht misstrauisch, riecht nicht zuvor an den Fleischstücken, sondern schnappt in freudiger Erwartung in der Luft nach ihnen. Der Kojote ist kein wildes Tier, sondern ist an Menschen gewöhnt, sogar für das Mitwirken in Filmen trainiert.517 Beuys steht also in der Mitte des Käfigs und wirft mit einer Geste des Wohlwollens die Fleischstücke in die Höhe. Die Szene entbehrt der Intention des Bündnisses mit der Natur, stattdessen wirkt sie eher wie eine Dressur im Zirkus. Beuys hebt einen wasserbefüllten Trog auf, schreitet unter viermaligem Erklingen der Tri-

515 |  Inmitten von Schaf, Bienenköniginnen, Hirsch, Schakal, Storch, Schwan, Damhirsch, Elch, Bär, Fisch, Ren, Kalb, Hase und weiteren leblosen Objekten waren der Kojote und ein Pferd die einzigen lebenden Tiere Teil von Beuys’ Kunst. 516 |  Die Gegenstände und Materialien entstammen der Mythologisierung Joseph Beuys’. Dabei war der Filz als gewalktes Wollmaterial „nicht nur Hülle, er bewährte sich während der Aktion als polyfunktionale plastische Masse, die gebündelt und verschoben, zerrissen, verhüllend und dämmend eingesetzt und mit Schweiß und Urin durchfeuchtet wurde“ Die Taschenlampe, „[e]ine zweite Wärmeplastik[,] schuf er gleich zu Beginn der Aktion […]. Ihre Batterien tauschte er mehrmals aus, so dass sie ein Bild für Verlöschen und Erneuerung ausstrahlte.“ Kirsten Claudia Voigt: Joseph Beuys: ‚I like America and America likes me‘. Beuys’ Arbeit mit Tieren — Studien im anthropologischen Feld, in: Ausst. Kat. Herausforderung Tier (2000), S. 62–75, hier S. 63. 517 |  Vgl. Zaunschirm: Im Zoo der Kunst I, S. 60.

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angel518 in Richtung des Zaunes und setzt das Behältnis auf dem Boden davor ab. Daraufhin holt er eines der fünfzig ‚Wall Street Journals‘, die jeden Tag der Aktion in der aktuellen Ausgabe in die Ausstellung gebracht wurden, breitet es aus und platziert es neben dem Napf. Der Künstler schreitet den Raum ab und gleicht darin dem Abschreiten des Raumes durch den Kojoten. Eine von Beuys im Filzhaufen in der Mitte des Raumes platzierte Taschenlampe wirft Licht hinaus in Richtung der Zuschauer und überbrückt über diesen unsichtbaren Bogen des Lichtscheins die Grenzen der beiden entstandenen Räume. Die Aktion nimmt weiter ihren Lauf. Der Künstler zeigt dem Kojoten die Gegenstände aus seiner Dingwelt: „Der Kojote reagierte auf Kojotenart: er forderte sie mit seiner Geste des Inbesitz-Nehmens. Eines nach dem anderen wurden sie ihm gezeigt, und auf eines nach dem anderen pißte er langsam und entschlossen: Filz, Spazierstock, Handschuhe, Taschenlampe und Wall Street Journal.“519 Beuys verhüllt sich nun selbst mit seinen Filzbahnen, nur der Stock ragt aus der Gestalt, der Plastik520, empor und hinterlässt den Eindruck eines Hirtenstabes, da Beuys ihn umgekehrt ausgerichtet hat. Langsam, fast wie in Zeitlupe, beugt sich die Gestalt vornüber hinunter zu dem Kojoten, welcher, häufig nervös und abgelenkt, beginnt, Bahnen des Filzes von der Gestalt wegzuzerren. „Die Grundstruktur dieser Bewegungen blieb immer gleich, aber die des Kojoten änderte sich bei jeder Sequenz.“521 Manchmal zerrt und windet sich der Kojote wie im Spiel, wälzt sich auf dem ergatterten Filz und blickt die Gestalt erwartungsvoll an, dann wieder ist er skeptisch, angespannt, wachsam, ängstlich, vor allem dann, wenn die akustischen Signale einer Turbine ertönen oder aber die menschliche

518 |  „Ihr Umriss, der eines gleichseitigen Dreiecks, steht in Beuys’ Zeichentheorie für rationale, zivilisatorische Formgebung. Mit […] kurzen Schlägen auf das Instrument, das er am Körper trug, sandte Beuys, wenn er nach einer im Liegen verbrachten Ruhepause aus seiner Filzumhüllung aufgestanden war, immer wieder einen zarten Klang in den Raum. Er war ‚als auf den Kojoten gerichteter Bewußtseinsstoß gedacht‘.“ Voigt: Joseph Beuys, S. 63. 519 |  Tisdall: Joseph Beuys, S. 6. 520 |  „Der fahle Umriß von Filz und Stock war auch eine plastische Gestalt, und wie eine Plastik durchlief sie aufeinanderfolgende Formen und Zustände: vertikal, die Krücke nach oben zeigend; rechtwinklig gebogen, Krücke zum Boden; aufrecht niederkauernd wie auf lange Wartezeit vorbereitet, dann erneutes Kauern, der Stock gegen den Boden geneigt.“ Ebd., S. 6f. 521 |  Ebd., S. 7.

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Gestalt gänzlich zur Ruhe kommt, daliegt, regungs- und bewegungslos. Dann, „besorgt daran witternd, stupsend und scharrend oder sich davon mit wachsendem Mißtrauen abseits haltend“522, reagiert der Kojote verstört. „Plötzlich sprang die auf dem Boden liegende Gestalt auf, warf dabei die Filzhüllen ab, und schlug drei klare weittragende Töne auf der Triangel an […]. Der hohe scharfe Ton zersplitterte die Stille. Dann baute sich die Stille innerhalb der nächsten zehn Sekunden wieder auf, um erneut ausradiert zu werden, diesmal durch einen zwanzig Sekunden lang widerhallenden Lärmausbruch: das Röhren der Turbinen, von einem Tonband hinter der Barriere hineingeworfen.“523

Die Situation entspannt sich wieder. Beuys wirft dem Kojoten einen seiner braunen Handschuhe wie im Spiel zu, richtet daraufhin das Filzlager des Kojoten mittels seines Hirtenstabes neu aus. Der Kojote schleppt die Beute auf sein Lager, der Künstler verharrt in seiner ruhigen betrachtenden Position, bevor er sich erneut mit dem Filz bedeckt und seinen Hirtenstab ausrichtet. Und wieder zerrt der Kojote an der Maskerade des Künstlers. Die Aktion, in der sich die chaotische Ausdehnung durch den Kojoten – sein Zerren und Zerteilen des Filzes und der Journale –, und der Turbinenlärm dem Verhüllen, Schreiten und Herunterbeugen der menschlichen Gestalt und deren Kontemplation gegenüberstehen, wiederholt sich und lässt sich als ein ritualisierter Ablauf beschreiben, in dem sich zirkuläre Strukturen immer und immer wiederholen. Lediglich unterbrochen von den Pausen des Künstlers, der sich auf dem Stroh vor dem Fenster niederlässt, um zu rauchen, und dem der Kojote dabei folgt, wechseln sich die lauten chaotischen Prozesse und die ruhigen Phasen der Ordnung – Beuys pflegte dies auch durch das Ordnen von Filz und Papier zum Ausdruck zu bringen – ab, folgen aufeinander, bis Beuys zum Ende der Aktion seine Materialien zusammensucht, niederkniet, seine Hand nach dem Kojoten ausstreckt, vor dessen Neugierde zurückweicht, ihn nochmals versucht, zu berühren, ihm über den Kopf zu streicheln, aber dieser vor dessen Annäherung zurückweicht. Verhüllt wird Joseph Beuys mit dem Krankenwagen abtransportiert und fliegt, ohne das tatsächliche Amerika gesehen zu haben, zurück nach Deutschland.

522 |  Ebd. 523 |  Ebd.

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„Die Reaktion des Kojoten hat er nicht gesehen. Als Little John sich plötzlich allein in Gegenwart der Menschen fand, verhielt er sich zum erstenmal wie ein gefangenes Tier, schweifte mit echten Wolfsschwüngen auf und ab, hin und her, schnüffelnd, nachsuchend und winselnd. Der Geruch von Angst färbte die Luft rings um ihn her.“524

Der Kojote, der für Beuys in seiner konzeptuellen Rückbesinnung auf die Natur auch Symbol des indigenen Amerikas war und damit der unterdrückten Minderheiten, stellte für Beuys zudem eine Allegorie des Ursprungs und der fremden Natur dar. Dabei steht der Ort der Aktion, der sie umgebende Käfig und allem voran das dressierte gebändigte Tier, im Widerspruch zu dem gewünschten Dialog zwischen Mensch und Natur525, der Freisetzung von energetischem Potential und der Synthese mit dem Ursprünglichen. „Den entsprechenden Sehnsüchten hat Beuys die Illusion ihrer Einlösung geboten, sodass selbst Tierschützer in dieser Käfig-Situation keine Bedenken anmeldeten.“526 Ein Dualismus, wie er für eine darauf folgende Begegnung hätte Voraussetzung sein müssen, war zu keiner Zeit gegeben. Vielmehr erfüllt der Kojote in ‚Coyote: I like America and America likes me‘ den gleichen Sinn, wie bereits der Hasenkorpus in ‚Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt‘, eine Aktion am 26. November des Jahres 1965, in der Joseph Beuys in der Galerie Schmela in Düsseldorf vor einem ebenso ausgeschlossenen Publikum mit einem toten Hasen von Bild zu Bild, von Objekt zu Objekt schreitet und diesem so eine Ausstellung künstlerischer Werke zugänglich zu machen versucht. Dabei steht der Hase nicht für sich selbst im Sinne eines individuellen Hasen, noch steht er sinnbildlich für alle Hasen dieser Welt. Joseph Beuys selbst beschrieb den Hasen als „das Symbol für die Inkarnation, denn der Hase macht das ganz real, was der Mensch nur in Gedanken kann. Er gräbt sich ein, er gräbt sich einen Bau. Er inkarniert sich in die Erde, und das

524 |  Ebd., S. 9. 525 |  „Der Sinn der Aktion war, den Dialog des Menschen mit dem Naturreich wieder in Gang zu bringen. Es darf nicht nur eine Kommunikation zwischen den Menschen geben, sondern sie muß auch mit anderen Wesen stattfinden.“ Joseph Beuys, zitiert nach: Uwe M. Schneede: Joseph Beuys. Die Aktionen. Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumentationen, Ostfildern 1994, S. 339. 526 |  Zaunschirm: Im Zoo der Kunst I, S. 61.

Das Tier als Physis

allein ist wichtig. So kommt er bei mir vor.“527 Der Hase ist insofern eng verbunden mit dem Erdreich: „Wenn der Hase sich wegen drohender Gefahr unsichtbar machen will, drückt er sich ganz fest und still an den Boden. Er möchte im Boden verschwinden, damit er nicht gesehen werden kann. Er möchte eins mit der Erde werden oder, um es anders zu formulieren, er möchte von der Hasensubstanz übergehen in Erdsubstanz. Wenn die Gefahr vorüber ist, löst sich der Hase aus seinem Lager, d.h., er inkarniert sich wieder in sein Hase-Sein.“528

Die Inkarnation bzw. die Transsubstantiation steht für die Möglichkeit, jedwede spirituelle Materialität annehmen zu können. In diesem Sinne ist der Hase empfänglicher für die Kunst, als ein Mensch es sein könnte, denn jener ist nicht mehr in der Lage, sich als Teil der Natur mit dieser zu verbinden. Für Beuys’ Werk lässt sich eine Definition des symbolischen Tieres herausarbeiten, die sich in weiten Strecken von einer rein christlichen oder mythologischen Symbolkraft abhebt: Das Tier bleibt bei Beuys zwar in seiner Symbolik verhaftet, diese jedoch geht weit über eine allegorische und metaphorische Konnotation hinaus. Beuys lädt den tierlichen Körper darüber hinaus mit Bedeutungsebenen auf, die eine räumliche und zeit­liche Komponente beinhalten und die das Sinnliche und das Übersinnliche verbinden, „d.h. den Raum mit dem Gegenraum, die Zeit mit der Überzeit, die Horizontalität mit der Vertikalität.“529 Das Tier ist in den Arbeiten Joseph Beuys’ Bindeglied zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Durch das mit Beuys’ eigener Mythologie aufgeladene Wesen tritt der Künstler in Verbindung mit den Ahnen und Göttern und heilt kraft diesem die Trennung des Menschen von der Natur. Das Tier wird zu einem Katalysator verschiedenartiger Sinnbehaftung. Joseph Beuys’ Wahrnehmung von Tieren ist dabei mit der metaphysischen Tieridee Rudolf Steiners verwoben. Beuys sieht das Tier als ein

527 |  Burckhard: Ein Gespräch, S. 102. 528 |  Wouter Kotte: Die Funktionalität des Hasen bei Beuys, in: Ausst. Kat. Joseph Beuys. Zeichnungen, Skulptur, Objekte, Multiples, Galerie Heinz Holtmann, Köln, April bis Juni 1989, Pulheim 1989, S. 13ff., hier S. 13. 529 |  Ebd.

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Organ des Menschen530 aus einer anderen, vergangenen Zeit531 und so als ein Verbindungsglied zu der Ursprünglichkeit der Natur, „[a]ls Schwellen-

530 |  „Und wenn ich dem toten Hasen die Bilder erkläre, dann sage ich, hier handelt es sich um einen toten Hasen. Und diese Aktion hat ja schon stattgefunden in einem Datum, als Menschen schon ein Bewusstsein hatten von den ökologischen Schäden, die Menschen in den Lebenslinien der Welt anrichten. Das heißt, sie töten Hasen, sie töten aber auch Böden, sie töten die Wälder durch ihre Produktionsweise, sie vernichten die Lebenslinien der Natur generell, das ist ja das ökologische Problem. Und wenn ich das sage, dass ein Hase etwas verstehen muss, dann weiß ich doch, dass ein Hase und mit ihm die Natur ein Organ des Menschen sind, ohne das der Mensch nicht leben kann. Das heißt, der Mensch braucht als Lunge den Wald, als Sauerstoffquelle, er braucht als Nahrung das Korn, so braucht er die vielfältige Tierwelt zum Fruchtbarwerden der Erde. Also da er das alles braucht, braucht er diese Natur und auch das Tier, wie er sein Herz braucht, wie er seine Leber und seine Lunge braucht. Also kann man einen Hasen als ein Außenorgan des Menschen nehmen.“ Joseph Beuys in der ORF Talkshow ‚Club 2: Kunst und Schwindel‘, 27. Januar 1983, zitiert nach: Rüdiger Sünner: Zeige Deine Wunde. Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys, Berlin/ München/Wien 2015, S. 74f. 531 |  „Seine gesamte Tierthematik greift auf Erkenntnisse zurück, die im 19. Jahrhundert im Zuge einer aus der Romantik entwickelten Naturphilosophie umfassend diskutiert wurden. Erstmals wurde in der romantischen Moderne die Frage nach dem Wesen des Tiers in einen metaphysischen Diskurs hinein geführt, der eine universale anthropologische Sicht auf das Tier ermöglichte. Diese reichte […] bis zu Friedrich Nietzsches radikaler Behauptung: ‚der Mensch ist das noch nicht festgestellte Tier‘. In diesem ‚noch nicht‘ wird ein zukünftiges Menschsein antizipiert, das über den, wie es Nietzsche nennt, ‚letzten Menschen‘ hinausreicht. Die aus dem deutschen Idealismus, Goethes Weltbetrachtung, Nietzsches Philosophie und theosophischen Vorstellungen unter anderem einer Helena Petrovna Blavatsky entwickelte eklektische Anthroposophie von Rudolf Steiner ist für die von Beuys vertretene metaphysische Auffassung vom Tier von wesentlicher Bedeutung. […] Nietzsches noch nicht fixiertes Menschentier entzieht sich der Erfassung, der Gattungsbindung, der Feststellung, was es ist, es verbleibt in der ungeklärten Frage nach dem Sein des Menschen. Es ist im Sinne eines zukünftigen Menschen noch nicht über sich hinausgekommen. Nach dieser Auffassung bleibt der Mensch, solange er das Tier bis zur Vernichtung nur verdrängt und sich (oder das Tier in sich) nicht zum Menschen erlöst, ein gebundenes, unfreies Wesen.“ Eugen Blume: Joseph Beuys. Wenn das Tier zum Menschen erlöst wird, in: Ausst. Kat. Franz Marc und Joseph Beuys. Im Einklang mit der Natur, herausgegeben von Cathrin Klingsöhr-Leroy/Andrea Firmenich, Franz Marc Museum Kochel am See, 18. September bis 27. November 2011, München 2011, S. 25–30, hier S. 25f.

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wesen, das Zugänge vermittelt zu einem vormenschlichen und instinktgeleiteten Naturzustand […]“532. Es ist Erinnerung an das schöpferische Prinzip, Verbindungsglied zum Ursprung, Träger künst­lerisch mythologischer Aufladung, rituelles Gefäß der Kunst, Transmitter von Energie und Objekt der Authentizität; nie aber ist das Tier Individuum. Dies unterstreicht auch die Feststellung, „daß es so etwas wie tote Materie für Beuys nicht gibt, daß vielmehr alles, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, als Energiepotential angesehen wird, daß die Dinge durchgängig eine innere Substanz haben. Die ‚Materialisierung eines rein geistigen evolutionären Prinzips‘ verkörpert sich für Beuys in den verschiedensten Formen, die ebenso wie die verwendeten Materialien nicht symbolisch verstanden werden sollen, sondern als Form den jeweiligen Energiezusammenhang unmittelbar darstellen.“533

In dieser transzendenten Sinnbehaftung des Tieres führt Beuys die Gedanken Rudolf Steiners weiter, der „Darwins Erkenntnisse einfach auf den Kopf [stellt]: Der Mensch sei als Idee zuerst dagewesen, und die Tiere hätten sich aus ihm nach und nach ‚herausgegliedert‘. Als ungeduldige geistige Wesen, die den Zeitpunkt ihrer Inkarnation nicht hätten abwarten können, seien sie deshalb nicht von Menschen-, sondern von Tiergestalten verkörpert worden, sozusagen als ‚Materialisierung‘ bestimmter Leidenschaften, die zum Menschen dazugehören, aber in dieser Tierform besonders stark ausgeprägt worden seien. Der ideelle Urmensch habe, bevor er sich als ganzer Mensch inkarnierte, zuerst gewisse Teile in die Physis gebracht, etwa sein Wölfisches, Äffisches, Vogelhaftes oder Fischhaftes. Daher könnten wir heute zum Beispiel im Zoo unsere ganzen Leidenschaften und Fähigkeiten in isolierter und intensivierter Form herumspazieren sehen.“534

532 |  Regina Haslinger: Die Erinnerung der Kunst an das Tier, in: Ausst. Kat. Herausforderung Tier von Beuys (2000), S. 18–35, hier S. 28. 533 |  Zweite: Die plastische Theorie, S. 19. 534 |  Sünner: Zeige Deine Wunde, S. 70f.

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Damit kann sich das Tier auch für Beuys nicht aus seinem Mängeldasein befreien, da es auf der Ebene des Triebhaften verbleibt. Dies stellt für Beuys eine bedeutende Qualität dar, da es in seiner Tier- und Triebhaftigkeit die Natürlichkeit nicht überwunden hat und so für den Menschen Reflexionsfigur und Verbindungsglied sein kann.

3.4 ‚ Untilled‘ als Landschaftsgarten — Die Bedeutung des Pittoresken Wie für Joseph Beuys stellt die Natur und mit ihr die Pflanzenwelt535 auch für Pierre Huyghe ein zentrales Element künstlerischer Auseinandersetzung dar. Das Werk ‚Untilled‘ muss ganzheitlich betrachtet als Gartenschöpfung und damit als veränderte Natur rezipiert werden, wobei Pierre Huyghe den Naturbegriff als solchen darin zu hinterfragen scheint bzw. mit Lothar Schäfers Diversität zur Disposition stellt: „Die Geschichte des Naturbegriffs zeigt drei deutlich verschiedene Konzepte von Natur, denen jeweils unterschiedliche Einstellungen des Menschen zu ihr entsprechen: 1. die vorgegebene Natur: Natur als Erscheinung ewiger Ordnung 2. d ie zu unterwerfende Natur: Natur als Bereich prozeßorientierter Forschung und technischer Nutzung 3. die schonungsbedürftige Natur: Natur als labile Grundlage des Lebens der Organismen.“536

Die vorgegebene Natur wird durch die Wahl der Kompostierungsanlage der Karlsaue repräsentiert. Statt sich ein Areal auf dem Parkgelände anzueignen, adaptiert der Künstler das abgelegene, nicht zur Betrachtung vorgesehene Kompostiergelände, in dem natürliche Prozesse nicht unterdrückt oder verändert, sondern in einem ihrer grundlegendsten Vorgän-

535 |  Vgl. hierzu beispielsweise Volker Harlan: Das Bild der Pflanze in Wissenschaft und Kunst bei Aristoteles und Goethe, der botanischen Morphologie des 19. und 20. Jahrhunderts und bei den Künstlern Paul Klee und Joseph Beuys, Berlin 2002, S. 142–189. 536 |  Lothar Schäfer: Zur Geschichte des Naturbegriffs, in: Barbara Baumüller/Ulrich Kuder/Thomas Zoglauer (Hrsg.): Inszenierte Natur. Landschaftskunst im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 9–17, hier S. 11.

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ge forciert werden, nämlich dem biologischen Nährstoff kreislauf, der das Verrotten, also Absterben organischen Materials voraussetzt, um lebende Organismen mit Nährstoffen zu versorgen. Dieser natürliche Prozess bildet den Kreislauf des Lebens und Sterbens in effigie ab. Das Betrachten des Seienden steht hier für das Konzedieren der vorgegebenen Natur. Die Berechenbarkeit der Naturprozesse und mit ihr die Beherrschung des Natürlichen bildet sich in Pierre Huyghes ‚Untilled‘ u. a. kraft der Rassehunde ‚Human‘ und ‚Señor‘ ab. In deren Benennung zeigt sich in einem doppelten Sinne eine Anthropomorphisierung537 und damit die Überpräsenz des Menschen, denn das Benennen, dies wurde bereits zu Beginn der vorliegenden Arbeit dargelegt, ist per se ein schöpferischer Akt538. Dass die Namengebung der beiden Hunde darüber hinaus auf den Menschen, den Herren und oder den Schöpfer verweist, unterstützt die Annahme, Pierre Huyghes Intention sei es gewesen, auf die menschliche Über­präsenz aufmerksam zu machen. Des Weiteren lassen sich die Literaturangaben dahingehend deuten. Sowohl Joris-Karl Huysmans’ ‚Gegen den Strich‘, Raymond Roussels ‚Locus Solus‘ als auch Adolfo Bioy Casares’ ‚Morels Erfindung‘ zeugen von menschlichen Versuchen, sich die Natur aneignen zu wollen, diese also zu überwinden. Es ist, als nutze Pierre Huyghe alle vorgefundenen und hinzugefügten Konstituenten in seinem Werk für das Sensibilisieren für die Natur. Der Künstler initiiert ‚Untilled‘ einer vorzivilisatorischen Erfahrung gleich und lässt damit an den Garten Eden denken, jenes irdische Paradies, das dem Menschen verschlossen bleibt, seit er dem christlichen Verständnis nach die verbotene Frucht des Baumes der

537 |  „Sobald der Zuchthund verkauft wird und in den privaten Haushalt gelangt, geht das Tier aus der Klasse der Zucht- in die Haustiere über. Dies schlägt sich in einer Umbenennung nieder. Die semantisch undurchsichtigen Zuchtnamen werden tendenziell durch menschliche Rufnamen ersetzt. Damit erfolgt eine onymische Anthropomorphisierung [Anthroponymisierung] des Hundes.“ Carolin Leppla: Zur Motivik, Struktur und Pragmatik von Hundezucht­ namen, in: Antje Dammel/Damaris Nübling/Mirjam Schmuck (Hrsg.): Tiernamen — Zoonyme. Band 1: Haustiere, Heidelberg 2015, S. 117–141, hier S. 120. 538 |  „Die Namengebung erlaubt […] nicht nur Schriftstellern und Publizisten, sondern auch den durchschnittlichen Sprachträgern die Entfaltung eines kreativen Benennungsvermögens […] Als sozialer Akt unterliegt der Namengebungsakt einer gesetzlichen Regelung. Aus juristischer Sicht können prinzipiell Wahlnamen und Zwangsnamen unterschieden werden.“ Angelika Bergien: Zur Motivation und Wahrnehmung von Haustiernamen, in: Dammel/Nübling/ Schmuck: Tiernamen (2015), S. 177–189, hier S. 177f.

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Erkenntnis kostete und daraufhin von Gott daraus verbannt wurde. Neben der Nähe seiner Pläne zu geografischen Darstellungen des Garten Edens ist auch eine Verbindung zu einer angewandten Gartenkunst festzustellen, zu der Pierre Huyghe ‚Untilled‘ als einen Ort natürlicher Vollkommenheit und verlorenen Ursprungs positioniert. Die Geschichte der Karlsaue begann, als Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel einen Renaissancegarten539 mit einem Lusthaus, einem Pomeranzenhaus, Laubengängen und einem Fischbassin anlegen ließ. Nachdem das Lusthaus vermutlich einem Brand zum Opfer gefallen war, wurden bereits umfangreiche Änderungen des Gartens in Betracht gezogen. Der Garten und die Gebäude waren daraufhin bis in das Jahr 1577 diversen Umgestaltungen und Erweiterungen unterworfen, welche zum Teil auf Landgraf Moritz zurückzuführen sind.540 Die sogenannte Moritz­ aue verwilderte während des Dreißigjährigen Krieges, voraufhin „[d]er Lustgarten Wilhelms IV. und seines Sohnes Moritz […] seit Ende des 17. Jahrhunderts unter Landgraf Karl (1654/1677–1730) in die barocke Gesamtgestaltung der Aue integriert [wurde]. Dieser ‚grand parc‘ musste – der Tradition des Renaissancegartens in der Voraue folgend – in einiger Entfernung vom Stadtschloss angelegt werden, da vor der Residenz selbst kein Platz für umfangreiche Anlagen war. So entstand ein

539 |  „Obgleich der italienische Garten der Renaissance mannigfaltige Formen ausgebildet hat, können doch verallgemeinernd folgende Merkmale festgehalten werden: Die Parterres sind in mindestens vier gleich große Teile aufgegliedert, die in der Regel auch Wasserbecken umfassen. Unter Berücksichtigung der Zentralperspektive sind Wege und Blickpunkte konstruiert. Eine dynamisch-räumliche Treppen- bzw. Terrassenführung betont die zum Haus hinleitende Achse. Die Wege werden gesäumt und hervorgehoben von exakt geschnittenen Hecken. Pergolen aus Holz oder Stein, überwachsen mit Wein, Glyzinien oder Geißblatt, spenden dem Lustwandelnden Schatten. Antike Skulpturen, wiedergefundene Originale wie Kopien, verweisen auf die Vergangenheit. […] Die in Terrassen und Mauern eingebauten Grotten und Heckenlabyrinthe haben als feucht-dunkle Orte mit eigenem Figurenkanon bzw. als Initiations-‚Architekturen‘ symbolische Funktion im Sinne des Höhlengleichnisses von Platon und eines Bildes für die Suche des Menschen nach der jeweiligen Mitte als Ort der Harmonie. Auf hochentwickelter Ingenieurskunst basierende Wasserspiele beleben diese Anlagen und erzeugen ein eigenes kühles Klima.“ Gabriele Uerscheln/Michaela Kalusok: Wörterbuch der europäischen Gartenkunst, 3. Auflage, Stuttgart 2009, S. 23f. 540 |  Vgl. ebd., S. 21f.

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Aue-Garten, der sich unterhalb der Stadt ausbreitete und keinerlei axiale Beziehung zum Stadtschloss hatte. […] Als barocker Bezugspunkt wurde über mehrere Planungsstadien das Orangerieschloss errichtet, vor dem sich der neue Garten völlig achsensymmetrisch ausbreitete.“541

Der einst barocke542 Garten – Regierende und Architekten formten ihn über die Jahre auf der Suche nach dem Abbild des irdischen Paradieses immer wieder neu – durchlief seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine Umgestaltungsphase zum Landschaftsgarten. Die neue Naturästhetik des englischen Gartens543 löst die regelmäßige Gestaltung des barocken

541 |  Ebd., S. 23. 542  | „Zu den charakteristischen Merkmalen für den klassischen französischen Barockgarten des grand goût zählen: Die gesamte Anlage orientiert sich zum Schloss als Zentrum, von wo aus sich ein umfassender Blick eröffnet — das Schloss wird zur Metapher des allsichtigen Herrscherblicks; die zentrale Mittelachse bildet über den Horizont hinaus eine optische Verbindung zwischen dem König mit seiner Residenz, die als Ort der Vernunft das Reich der Natur bezwingt, und dem ihm attributhaft zugewiesenen Licht des Himmels. […] Zu den Gestaltungselementen gehören die strahlenförmige bzw. achsensymmetrische Anordnung von Wegen sowie die damit gegebenen Parkabschnitte, kanalisierte Wasserläufe, Wasserbecken und Wasserspiele, optische Inszenierungen mittels spiegelnder Wasserflächen und bewusst aufgebaute Geländepartien, Terrassierungen und Schauarchitekturen. Vasen und Gartenskulpturen, die eine auf den Herrschenden zugeschnittene Mythologie thematisieren, steigern eindringlich den Geltungsanspruch hierarchischer Ordnung. Geometrische Formen — Vierecke, Halbkreise, Ovale, Kreise, Kreuze, Dreiecke und Vielecke — bestimmen alle Gartenelemente. Ungezügelte Natur hat in der Anlage keinen Platz, wird aber als Teil ihrer selbst zitiert und symbolisiert in Form von Labyrinthen, Heckentheatern und Grottenarchitekturen, die in Bosketten eingelagert sind. Damit ist die wilde Seite der Natur zwar nicht vorhanden, wird jedoch repräsentativ dargestellt und in die Gesamtordnung eingebunden.“ Ebd., S. 26f. 543 |  „Charakteristische Merkmale für Gärten englischen Typs sind in der Regel hügelige Geländemodellierung, Seen mit natürlich wirkenden Uferkonturen, schön geschwungene Wegeführung, die nach Biegungen neue, überraschende ‚Bilder‘ bereithält, weite Rasenflächen (pleasureground), Baum- und Buschgruppen (clumps) in freiem Gelände, Aha-Gräben, die die Landschaft außerhalb des gestalteten Gartens optisch einbeziehen, Farbenspiel von grünem Blattwerk mit seiner Licht- und Schattenwirkung, Architekturen in Anlehnung an klassische, gotische, orientalische und chinesische Vorbilder, Scheinarchitekturen sowie künstliche Ruinen.“ Ebd., S. 30.

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Gartens ab: „Streng formale Gärten wurden als Ausdruck feudalautoritärer Herrschaft interpretiert; ihm wurde der an Natürlichkeit und Erhabenheit orientierte Gartenentwurf als Ausdruck aufklärerischen, liberalen Denkens entgegengesetzt.“544 Pierre Huyghe setzt seinen Garten im Bewusstsein dieser Tradition den hegemonialen anthropozentrischen Herrschaftsstrukturen gegenüber und etabliert auf diese Weise einen erfahrbaren Ausdruck ökologischer Naturästhetik. So wie die Künstlichkeit der Gärten des 17. Jahrhunderts einen Protest gegen die ‚Unnatur‘ hervorbrachten545, scheint Huyghe gegen die Künstlichkeit zu protestieren. Sein Garten auf dem Gelände der Kompostierungsanlage stellt eo ipso eine Gegenwelt dar. Immanuel Kant formulierte als Verbindungsglied zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriff des Subjektes die Urteilskraft als drittes, vermittelndes Prinzip zwischen theoretischer und praktischer Vernunft.546 Mittels dieser ‚Kritik der Urteilskraft‘ entsteht eine Verknüpfung des ästhetischen Urteils mit der Sinnebene, welche Andrea Siegmund für den Landschaftsgarten als Ästhetik des Übergangs bestimmt: „Die ästhetische Erfahrung wird zur Sinnerfahrung, weil sich der Mensch angesichts des Naturschönen (bzw. -erhabenen) seiner Sittlichkeit bewusst wird. Diese neuartige Verknüpfung des ästhetischen Urteils mit der Sinn-Ebene erlaubt es, den modernen ästhetischen Blick trotz seiner Subjektivität als Sinnerfahrung zu beschreiben: Aufgrund einer formalen Analogie der freiwilligen Übereinstimmung der Einbildungskraft (als Vermögen der Anschauung) und des Verstandes (als Ver-

544 |  Ebd., S. 31f. 545 |  „Die raffinierte Künstlichkeit des Gartens des 17. Jahrhunderts mußte den Reiz der natürlichen Wildnis heraufbeschwören. So war es nicht weiter verwunderlich, wenn sich einzelne Stimmen zugunsten der ganz anders gearteten Schönheit von sich frei, in natürlichen Formen entfaltetenden Pflanzen erhoben. In puritanischen Kreisen hatte man das Gefühl, daß bei den neuen Zuchtversuchen, an denen ernsthafte Gärtner arbeiteten, etwas nicht stimmte, daß sie nahezu anstößig und gewiß vergänglich seien. Die Natur dagegen war ‚schlicht und rein‘ gewesen — bis der Mensch größere, farbigere und mehr gefüllte Blumen erzeugte. Nach Andrew Marvell war ein Garten jetzt ‚ein Teich von toter und stehender Luft‘.“ Derek Clifford: Geschichte der Gartenkunst, 2. Auflage, München 1981, S. 279. 546 |  Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Werkausgabe, Band X, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 2000.

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mögen der Begriffe) mit der Übereinstimmung der Freiheit des Willens mit sich selbst nach allgemeinen Vernunftsgesetzen kann der schöne Gegenstand die Fähigkeit des Subjekts symbolisieren, nach moralischen Ideen zu handeln, die sich aus der Vorstellung einer von der menschlichen Vernunft entworfenen idealen Gegenwelt ableiten. Insofern beschreibt Kants Theorie eine Ästhetik des Übergangs, die für den Landschaftsgarten bestimmend ist.“547

Pierre Huyghe erschafft mit ‚Untilled‘ einen Landschaftsgarten, der den symbolischen Gehalt des Barocken zu überwinden sucht. Die barocke Vergangenheit der Karlsaue hat sich unabänderlich in das dOCUMENTAAreal eingeschrieben und wird von Huyghe als Anlage mitgedacht. Indem er ästhetisch an die Konstituenten des Landschaftsgartens anknüpft, bildet er die Überwindung des Hegemonialen ab. Huyghes Garten als Gegenwelt birgt ein neues Subjektideal, welches mit den Worten Siegmunds beschrieben werden kann: „Symbolisierte Landschaft noch im Barockzeitalter die unveränderliche vollkommene göttliche Weltordnung (das ‚Heilige‘), so wird sie dem modernen Subjekt zum ‚künstlerische[n] Ref lex auf die […] Idee der Individualität.‘ Landschaft wird zum Sinnbild eines Subjektideals, das — zum Teil als Gesellschaftsideal umformuliert — als Ziel der Geschichte der momentanen Lebenswirklichkeit gegenübergestellt wird. Wenn die Landschaft in dieser Weise zur ‚innerweltlichen Transzendenzerfahrung eines Subjekts [wird], das sich in ihr als über das Bestehende hinaus [empfindet] oder empfinden [soll]‘, verändert sich mit der ‚Idee des Subjekts‘, die diesem aus einer idealen Lebensform abgeleiteten Anspruch zugrunde liegt, auch die Bedeutung der Landschaft. Landschaft symbolisiert also eine von verschiedenen positiven Gegenwelten, sie übersetzt die jeweilige Utopie in ein ästhetisches Bild.“548

Pierre Huyghe schuf ‚Untilled‘ als ein solches ästhetisches Bild seiner Utopie, wobei es nicht eine bloß positive Naturerfahrung ist, die er als

547 |  Andrea Siegmund: Der Landschaftsgarten als Gegenwelt. Ein Beitrag zur Theorie der Landschaft im Spannungsfeld von Aufklärung, Empfindsamkeit, Romantik und Gegenaufklärung, Würzburg 2011, S. 83. 548 |  Ebd., S. 85.

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Grundlage verwendet. Huyghes Utopie speist sich aus der jeweiligen individuellen Rezeption bzw. im bestmöglichen Falle aus der individuellen Transzendenzerfahrung. Seine Gegenwelt lädt nicht zu der Empfindung arkadischer Gefühle ein, wie es ein ‚locus amoenus‘, ein lieblicher Garten, vermag; noch konstruiert sich durch ‚Untilled‘ ein idyllisches Bild eines ‚hortus conclusus‘, eines abgeschlossenen Gartens oder Ortes, denn seine Grenzen sind kaum wahrnehmbar. ‚Untilled‘ bleibt ein ‚locus solus‘, ein Ort eines Einzelnen, eines jeden Einzelnen, wobei sich anhand der von Huyghe vorgegebenen Konstituenten ein Idealzustand interpretieren lässt, welcher eine vorgegebene Naturordnung zur Grundlage hat. Die Imagination des Rezipienten wird dabei für Huyghe das wichtigste Vermögen der Anschauung. Er etabliert in ‚Untilled‘ mittels wechselnder Gartenbilder eine Inszenierung in vier Szenen in Begleitung meist surrealer Topoi. Die vier Szenen werden durch die Knotenpunkte seines bildhauerischen Schaffens bestimmt: Die Skulptur mit Bienenkopf, die markierten Hunde, die angeordneten Betonplatten und die Zisterne. Alle vier Szenen haben die Anmutung eines Bühnenprospektes. Die einzelnen Szenen entstehen kraft der Bepflanzung, der Kunstwerke und schließlich mittels der Ebene der Imagination des Rezipienten. Die auf diese Weise entstehenden Bilder sind eng mit dem Pittoresken verbunden. Das Pittoreske bzw. ‚the picturesque‘ stellt sich dabei als ein wichtiges Kriterium für die Bewertung der Gartenkunst Pierre Huyghes heraus. Die etymologische Bedeutung „des englischen Begriffs ‚picturesque‘ lautet ‚bildhaft‘ oder ‚wie in einem Gemälde‘. Gemäß dieser Bedeutung ist der Bezug zur Kunstgattung Malerei grundlegend. Dingen das Prädikat pittoresk zu verleihen heißt, ihnen ursprünglich für die Malerei typische Eigenschaften zuzusprechen. Die Theorie des Pittoresken basiert tatsächlich in Grundzügen auf einem Vergleichen von Natur und Kulturlandschaft sowie von Artefakten wie dem Landschaftsgarten mit Malerei. Sie enthält bedeutsame wirkungsästhetische Erkenntnisse: Mit jener von Gartentheoretikern beschriebenen und geforderten Bildhaftigkeit der Landschaftsgärten wird nämlich zugleich die Möglichkeit des Betrachters angesprochen, einen Wechsel der Wahrnehmungsebenen vorzunehmen – er kann bildhaft gestaltete Gartenszenen betrachten, als ob es sich um Gemälde handelte. Die Möglichkeit dazu liegt in der Kunstgattung des Landschaftsgartens begründet. Landschaftsgärten sind grundsätzlich Kunstwerke, die überwiegend aus natürlichen Elementen bestehen und im realen Raum exis-

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tieren. Der Betrachter bewegt sich durch einen Landschaftsgarten wie durch die Natur, er erlebt sich selbst als Individuum, das sich an einem realen Ort auf hält, der Unterschied zwischen Kunstsphäre und Alltagsrealität ist bei der Kunstgattung des Landschaftsgartens verunklärt.“549

Aus diesem Grund muss ‚Untilled‘ um eine Bedeutungsebene erweitert werden: Pierre Huyghe legt das Werk als einen Ort an, welcher zwar als real existierend wahrnehmbar ist, dessen Perzeption aber über das Empfinden von Realität hinausgeht. Konstituenten wie die surreal wirkende Liegende und auch die magentafarben markierte Hündin ‚Human‘, der kraft seines Erscheinungsbildes selbst einen Teil veränderter Natur darstellt, brechen das Erlebnis eines raum- und zeitgebundenen Gefüges. Hinzu kommen die Vorstellungsbilder, die Huyghe mittels seiner Pläne zu ‚Untilled‘ hervorruft und welche die pittoresken Impressionen um eine Bilderdimension erweitern. Julia Liebrich hat in Bezug auf Beuys’ Objektwelt über eine vierte Dimension nachgedacht, die ebenso für Pierre Huyghes ‚Untilled‘ formuliert werden kann, und welche sie wie folgt beschrieben hat: „Ich muß sie als vierdimensional begreifen, d.h. die Dimension von Zeit und damit Bewegung, von geistigem Prozeß einbeziehen und mich selbst als Handelnden mitdenken. Also nicht nur genau betrachten, was da ist, sondern mir auch klarmachen, was fehlt. Anders ausgedrückt: Ich muß an diese Objekte etwa mit der Haltung herangehen, mit der ein neugieriger Zwölfjähriger ein naturwissenschaftliches Museum besucht oder – pointierter formuliert – mit der ein ‚Werkspion‘ eine fremde Produktionsstätte nach Betriebsschluß betreten würde. Er will herausbekommen, wie die Anlage funktioniert und wozu sie dient, und dazu muß er sich in die Rolle dessen versetzen, der mit ihr umgeht.“550

Das ‚picturesque‘ in Huyghes Garten wird durch das szenenartige Wahrnehmen beim Durchwandeln des Areals der Kompostierungsanlage be-

549 |  Kerstin Walter: Das Pittoreske. Die Theorie des englischen Landschaftsgartens als Baustein zum Verständnis von Kunst der Gegenwart, Worms 2006, S. 11. 550 |  Julia Liebrich: Was kann man damit machen? Die vierte Dimension im Werk von Beuys, in: Matthias Bleyl (Hrsg.): Joseph Beuys. Der erweiterte Kunstbegriff. Texte und Bilder zum Beuys-Block im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, Darmstadt 1989, S. 75–84, hier S. 75.

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stärkt. Hinzu kommt, dass sich in ihm das Schöne und das Erhabene551 intensiv abzeichnen. Ein Spannungsfeld zwischen Kunst und Natur wird mittels verschiedener Bestandteile erzeugt. Huyghe verdichtet darüber hinaus die kulturelle Praxis der Naturimitation und der Zucht als ästhetische Praxis bzw. den Versuch, die Natur besonders natürlich wirken zu lassen oder diese zu sublimieren. In diesem Wechselspiel zwischen dem Schönen der Kunst und der Künstlichkeit und dem Erhabenen der Natur ist die Ordnung des Pittoresken erkennbar: „Die pittoreske Landschaft sollte beides, das Schöne und das Erhabene, in einer neuen Ordnung verbinden. Ein Bauwerk wurde etwa im Zustand des Verfalls gezeigt, so daß die noch erkennbaren gefälligen Linien der ehemaligen Struktur in herbem Kontrast zu den schroffen Konturen der jetzigen Ruine standen. Der Kampf zwischen Natur und Kultur, wie er sich etwa in der Überwucherung einer Tempelruine äußern mochte, wurde als Gesamtkunstwerk empfunden. Diese Überlegung beinhaltete aber, daß der Mensch nicht mehr wie bisher nur seine eigenen kulturellen Leistungen, sondern auch die seines Widersachers, nämlich die Aktionen der Natur selbst in die Hand nehmen mußte. Der Künstler musste demnach der Natur vorgeben, wie sie möglichst wirkungsvoll und kontrastreich ihren wilden Charakter offenbaren solle. Im englischen Landschaftsgarten half man so also der Natur auf die Sprünge, indem man künstliche Ruinen und Grotten errichtete, Felsen noch bizarrer auftürmte, als die Natur es selbst jemals könnte und genau festlegte, welche Flächen moosbewachsen oder in welchem Maß eine Statue von Efeuranken verschlungen sein sollte. Wiederum figuriert hier die Natur als das Unvollkommene; sie bedarf einer gründlichen Anleitung, um auf eine wirklich eindrucksvolle Weise sie selbst zu sein […]. Doch damit nicht genug; ein Betrachter sollte ja den Eindruck erhalten, daß die Natur selbst für die künstlerischen Konzeptionen verantwortlich

551 |  „Landschaften sind topographisch gestaltete Ideen. Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Landschaft in der Literatur und Kunst im wesentlichen durch zwei solcher Ideen bestimmt, nämlich das Schöne und das Erhabene. Das Schöne fand seinen Ausdruck etwa in der idyllischen Landschaft, die stets als ein kultivierter Lebensraum erkennbar ist […] Ganz anders präsentiert sich die erhabene Landschaft, die den Betrachter mit dem Anblick ungezähmter Naturgewalten konfrontiert.“ Kupfer: Die künstlichen Paradiese, S. 182.

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sei. Durch das Stilmittel vorgetäuschter Nachlässigkeit wurde daher der Konstruktionscharakter des Ganzen besonders hervorgehoben. Dies ist durchaus vergleichbar mit der seltsamen Leidenschaft, die Huysmans’ Romanhelden Des Esseintes ein Jahrhundert später veranlaßt, echte Blumen zu züchten, die künstlichen täuschend ähnlich sehen.“552

Die Wahl der Kompostierungsanlage der Karlsaue unterstützt die Annahme, ‚Untilled‘ als Gegenwelt zu deuten. In dieser Entscheidung bildet sich sowohl die Ablehnung der vorhandenen Parkanlage als Rahmen für das Werk und damit die Ablehnung vorhandener Künstlichkeit als auch die Überhöhung des natürlichen Vorgangs des Kompostierens als eines unumstößlichen natürlichen Prozesses ab. Alle weiteren Konstituenten in ‚Untilled‘ folgen dieser Methode. Sie sind entweder Teil der Natur und Naturerfahrung, so die von Huyghe gepflanzten Gewächse, welche sich mit dem wilden Wuchs der Kompostierungsanlage zu vermischen scheinen, oder Ausdruck künstlerischer und künstlicher Bildproduktion, so wie die Skulpturen. Die beiden lebenden Hunde nehmen einen besonderen Status in dem Werk ein, da sie zwischen den Charakteristika von Kunst und Natur changieren. Dieses Übergehen in verschiedene Ordnungen, der übergehende Wechsel, lässt Pierre Huyghes ‚Untilled‘ an Vicino Orsinis geheimnisvoll verschlüsselten Garten denken, der als ein Test der Gelehrsamkeit seiner Besucher angelegt gewesen zu sein schien und den „man […] zur Zeit seiner Entstehung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Umsetzung von Jacopo Sannazaros Schäferroman ‚Arcadia‘ (1480–1485), als ein mit Schreckensbildern durchsetztes arkadisches Gelände“553 las. Immer wieder geben in Vicino Orsinis Garten die Inschriften des unter der Bezeichnung ‚Sacro bosco‘ (heiliger Wald) oder ‚Parco die Mostri‘ (Park der Monster) bekanntgewordenen Gartens unweit der Stadtgrenzen Bomarzos Hinweise zur Deutung des komplexen Gefüges fantastischer Skulpturen und Gartenarchitekturen, ebenso, wie die Hinweise in Huyghes Plänen zu ‚Untilled‘ auf mögliche Deutungsansätze und Wahrnehmungsräume

552 |  Ebd., S. 183. 553 |  Fritz Emslander: Gegenräume: Passagen durch europäische Gartengrotten, in: Ausst. Kat. Park — Zucht und Wildwuchs in der Kunst, herausgegeben von Johannes Bilstein/ Matthias Winzen, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 23. April bis 10. Juli 2005, Nürnberg 2005, S. 45–59, hier S. 45.

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aufmerksam machen. Wie auch die Konstituenten in Huyghes Garten dem Betrachter sonderbar, gar abwegig erscheinen mögen, „stößt [man] in Bomarzo auf ein Panoptikum von befremdlichen und seltsamen Formen: abrupte Wechsel zwischen intakter Architektur und aus dem Lot geratenen Bauten, Fischmäuler, die aus der Erde auftauchen, riesenhafte, bis zu sieben Meter hohe mythologische und exotische Tiere, antike Göttinnen und Götter, überdimensionierte menschliche Figuren, aus dem Boden ragende Köpfe, ein Tempel, mehrere als sol­c he angelegte Ruinen, Nymphen, Riesen und Ungeheuer“554 .

So wie sich in Bomarzo zu den Personifikationen der Sinnesfreuden jene der geistigen Eingebung gesellen, „[d]er Eros des Leibes verbindet sich hier mit dem des Geistes“555, verschwistern sich dort die philosophischen und die naturhaft-sinnlichen Genüsse Arkadiens556. Anstatt die Widersprüchlichkeit kultureller und idyllischer Ideologien auflösen zu wollen, orientiert auch Huyghe seine Installation an einem mythischen Arkadien jenseits gegebener gesellschaftlicher Zwänge, in welchem sich philosophische und naturhaft-sinnliche Erfahrungen gegenseitig bereichern. Das Pittoreske in Huyghes Garten ist dabei ein Instrument der Sichtbarmachung des Spannungsfeldes zwischen Natur und Kultur und wirkt damit dem Abbilden einer vollkommenen Naturästhetik als Sehnsucht einer natur­fernen Gesellschaft entgegen. Das Naturschöne wird hier nicht als verlorenes Ganzes neu konstruiert, sondern als ein eigenes Ganzes in der Imagi­nation vervollkommnet. Dass eine Landschaft nur als eine solche erkennbar wird, wenn der Betrachter einen distanzierten Blick behält, umgeht der Künstler, indem er ein utopisches Landschaftsgefüge anordnet, welches den Betrachter zwingt, dahinter zurückzutreten. Hinter den Szenen von ‚Untilled‘ offenbart sich ein neuartig pittoreskes Konstrukt, in dessen hybrider Idee sich Schönheit und Erhabenheit als Kontrahenten herausstellen, die sich nicht zu einem einzigen Landschaftsbild formen lassen. Im Gegensatz zu der Annahme, „eine bauliche Struk-

554 |  Gunda Hinrichs: Der heilige Wald von Bomarzo. Ein rätselhafter italienischer Renaissancegarten und Freuds Traumdeutung als Methode seiner Interpretation, Berlin 1996, S. 7. 555 |  Ebd. 556 |  Vgl. Horst Bredekamp: Vicino Orsini und der heilige Wald von Bomarzo. Ein Fürst als Künstler und Anarchist, 2. Auflage, Worms 1991, S. 102–107.

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tur [könne] nur pittoresk werden […], wenn sie den Kräften der Natur ausgesetzt und dem Zahn der Zeit überlassen wurde, [und] Landschaft [könne] nur pittoresk sein, wenn die natürliche Szenerie von ihrer idealen Einheit und reinen Struktur durch menschliches Eingreifen befreit wurde“557, inszeniert Huyghe die Rahmenbedingungen, mit denen der Betrachter mittels einer Dialektik zwischen Natur und Kultur ein pittoreskes Gemälde der Imagination erschafft. Dieses Landschaftsbild der Vorstellung ist letztlich Grundlage der Rezeption. Das Pittoreske in Huyghes Garten wird damit zu einer eigenständigen ästhetischen Kategorie, die als das KritischPittoreske bezeichnet werden kann. Alle Konstituenten – dazu gehören auch die Konstituenten der vierten Dimension des Werks, also auch die Vorstellungsbilder – stehen in einem vorbestimmten Verhältnis, welches Huyghe mittels einer strukturalistischen Tätigkeit hervorbringt. Roland Barthes nimmt an, „daß es Schriftsteller, Maler und Musiker gibt, in deren Augen das Praktizieren der Struktur (und nicht nur der Gedanke an sie) eine distinktive Erfahrung darstellt, und daß man Analytiker wie Schöpfer unter das gemeinsame Zeichen dessen stellen muß, was man den strukturalen Menschen nennen könnte, der nicht durch seine Ideen oder seine Sprache definiert wird, sondern durch seine Imagination oder noch besser durch sein Imaginäres, also durch die Art, wie er die Struktur geistig erlebt.“558

Darüber hinaus denotiert er das Ziel der strukturalistischen Tätigkeit, wie in der vorliegenden Arbeit bereits angemerkt wurde, als Rekonstitution eines Objektes, durch welche sich die Struktur im Simulakrum offenbart. Damit wird das Wesentliche bzw. das Wesen durch Zerlegung und Arrangement zum Vorschein gebracht, worin die strukturalistische Tätigkeit nach Barthes beschrieben ist. Pierre Huyghes Werk ist kraft seiner strukturalistischen Tätigkeit entstanden, wobei den beiden Hunden in ‚Untilled‘ ein besonderer Status zuteil wird, da sie in ihrer Struktur, in ihren einzel-

557 |  Steven Jacobs/Frank Maes/Thomas Niemeyer: Wie gemalt, in: Ausst. Kat. Pittoresk. Neue Perspektiven auf das Landschaftsbild, herausgegeben vom Marta Herford in Kooperation mit Steven Jacobs/Frank Maes, Marta Herford, 3. Oktober 2009 bis 10. Januar 2010, Herford 2009, S. 11–25, hier S. 11. 558 |  Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit, S. 191.

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nen Einheiten natürlich und kulturell, real und simulakral gleichermaßen angelegt sind. Darin gleichen sie den Simulationen in ‚Morels‘ Erfindung.

3.5 ‚Human‘ und die Dimension der Begegnung Eine weiße, große und sehr magere Podencohündin, in den Plänen zu ‚Untilled‘ zusammen mit einem Podencowelpen im linken oberen Quadranten einkartiert, bewegt sich augenscheinlich frei und ohne jegliche Einschränkung durch Menschenhand auf dem Gelände der Kompostierungsanlage der Karlsaue. Sie ist eine der Konstituenten in ‚Untilled‘. Ihre Erscheinung ist deshalb so komplex, da Tiere, wie sie von dem Künstler Pierre Huyghe im Kontext der bildenden Kunst inszeniert werden, nicht den lebenden Tieren der Kunst der 1960er Jahre gleichen und nicht in dieser Tradition rezipiert werden können. Im Rückblick waren es – betrachtet man die Inszenierungen, Happenings und Performances einer Carolee Schneeman oder Marina Abramović, eines Joseph Beuys oder Robert Rauschenberg – die gemeinsamen oder zumindest zeitgleichen Auftritte von Mensch und Tier, welche die Kunst der 1960er Jahre einen. Relevant ist dabei vordergründig eine Verfahrensweise, die Hans Belting als aktuelle Praxis der Künstler erkennt, den eigenen Körper als Medium einzusetzen, und die den Schluss zulässt, „daß es die verlorenen Körperbilder sind, auf welche diese Stellvertretung in corpore reagiert. Der Künstler stellt am eigenen Körper und mit dem eigenen Körper Bilder her, um sich durch diese Realpräsenz gegen die Krise der analogen und mimetischen Bilder zu behaupten. Zugleich lehnt er sich mit der eigenen Körperlichkeit (und Körpererfahrung) gegen das Monopol der medialen Realität auf, welche die Körperwelt so stark usurpiert. Endlich aber, und in einer dritten Hinsicht, sucht der Künstler damit das Problem der Verkörperung zu lösen, welches immer das Problem der Bilder gewesen ist.“559

Während für das Erscheinen und Agieren des menschlichen Körpers in der Kunst die Rezeption vorbestimmt zu sein scheint – die Künstler der 1960er Jahre schafften nicht länger von ihrem Körper ablösbare Artefakte, son-

559 |  Belting: Bild-Anthropologie, S. 90.

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dern forderten, die Körperlichkeit als Realpräsenz aufzufassen, um so eine Unmittelbarkeit zwischen Kunst und Leben herzustellen –, wurde „der Anteil der Tiere, die Entscheidung, auch lebende Tiere einzubeziehen, […] anscheinend ohne großes Aufsehen akzeptiert.“560 Das Tier gelangt zwar ebenfalls in seiner lebenden Gegenwärtigkeit, jedoch, wie ausreichend dargelegt, ohne Präsenz und als Artefakt in die Kunst. Denn der Künstler erschafft ihr Dasein als Anthropofakt561. Der Begriff des Anthropofaktes, der ein gleichnamiges Forschungsprojekt zur Prothetik und Mensch-Technik-Schnittstelle umschreibt, lässt sich in Bezug auf das Tier in der Kunst immer dann heranziehen, wenn es um solche nichtmenschlichen Tiere geht, die derart intensiv als Projektions- und auch Wiedergabefläche des Menschen dienen, dass ihnen tierliche Individualität kaum mehr zugesprochen werden kann. Ein solches Anthropofakt dient dem Menschen als eine Prothese im Sinne eines Trägers von Ersatzschönheit, Spiegelwunsch und weiterer Übertragung und Verlagerung innerpsychischer Konflikte oder Mangelhaftigkeit. Ihre Antithese stellt das ‚Anthrozoofakt‘ dar. Diese Bezeichnung möchte die vorliegende Arbeit in folgender Weise eröffnen: ‚Anthrozoofakt‘ ist ein Neologismus der sich auf die Anthrozoologie als wissenschaftlichen Diskurs der Mensch-Tier-Verhältnisse bezieht, indem er Anthropologie und Zoologie nicht länger als Dualismen auffasst, sondern von einer gemeinsamen Tierlichkeit ausgehend die ‚anthropozentrische Grenze‘ in Frage stellt. Der ihm angefügte Verweis auf das Artefakt als ein dem menschlichen Werken Entstammendes spiegelt die Sichtbarmachung mittels künstlerischer Prozesse. Damit geht ein Anthrozoofakt

560 |  Zaunschirm: Im Zoo der Kunst I, S. 39. 561 | ‚Anthropofakte‘ ist der Titel eines Forschungsprojektes des Deutschen HygieneMuseums und der Technischen Universität Berlin. „Das Projekt erforscht die Schnittstelle zwischen menschlichem Körper und Technik. Es verbindet Fragen der Kultur- und Technikgeschichte, der Philosophie, insb. der Technikphilosophie, und der Anthropologie. Dabei nimmt es soziale, politische und kulturelle Körperbilder sowie Körperwahrnehmung in den Blick und reflektiert die Grundfrage nach der Natürlichkeit, nach einer Hybridisierung durch Technik und nach dem Übergang von Artefakt zum Biofakt. Im Vordergrund steht dabei die Frage, wie sich gesellschaftlicher und kultureller Wandel im 20. und 21. Jahrhundert in konkreten Objekten, die den Übergang Leib/Ding markieren, deren technischer Innovation und in der Interaktion mit ihnen ausdrückt.“ Deutsches Hygiene-Museum/Technische Universität Berlin (Hrsg.): Anthropofakte, http://www.anthropofakte.de/content/ziele (letzter Zugriff: 30.10.2017).

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aus einer künstlichen Bildproduktion hervor, stellt diese aber gleichermaßen als kritisches Prinzip für die Rezeption heraus, um auf diese Weise das Tier als Projektionsfläche und Prothese zu denotieren. Anthrozoofakte sind hierdurch solche Tiere in künstlerischen Werken, anhand derer die Überpräsenz des Menschen kritisch hinterfragt werden kann und welche eine Abwesenheit der tierlichen Individualität kraft ihrer Anwesenheit offenbaren. ‚Human‘, deren Benennung Name und Titel zugleich bekundet, ist ein solches Anthrozoofakt. Die Hündin ist als eine Art lebendes Bild Teil Pierre Huyghes künstlerischer Produktion ‚Untilled‘, die häufig mit der Ergänzung ‚Alive entities and inanimate things, made and not made‘562 untertitelt wird. Der hiermit gegebene Hinweis auf lebende Entitäten und nichtanimierte Dinge gemachter und ungemachter Natur birgt das Zurücktreten des Künstlers hinter seine Arbeit und die Konstituenten, denen er den Status einer Entität, also einer seienden Einheit, verleiht. Damit verknüpft der Künstler einen provozierten Kontrollverlust, der sich jedoch nicht ausschließlich darauf bezieht, dass Hyughe selbst hinter bestehende Machtverhältnisse zurücktritt, sondern, dass auch der Rezipient gefordert ist, Pression, Herrschaft, aber auch Souveränität und Obhut hinter sich zu lassen. ‚Human‘ ist die Verlebendigung menschlich schöpferischer Perfektionslust, die nicht in der Vollkommenheit der Natur ihr Vorbild sucht, sondern sich in der ästhetischen Praxis der Zucht ihre eigene Vervollkommnung verspricht. Während ‚tableaux vivants‘ als körperliche Nachstellungen im Rückgriff auf historische Kunstwerke bekannt sind – der „leiblich interpretative Umgang mit Bildern ist eine konkrete Spur des Bildgedächtnisses, die sich als Nachahmung inkarniert, Fleisch wird“563 –, sind auch deren implizite Inszenierungen geläufig, die „bekannte malerische Strategien [nutzen], die unausgesprochen im Film oder in der Fotografie die Erfindung neuer Bildformulierungen beeinflussen“564. ‚Human‘ exem-

562 |  Vgl. O. A.: Loss of Artistic Control. Pierre Huyghe’s Biotope at documenta, in: ArtMag 4 (2014), auch online unter: http://db-artmag.com/en/71/feature/loss-of-artistic-controlpierre-huyghes-biotope-at-documenta/ (letzter Zugriff: 30.10.2017). 563 | Sabine Folie/Michael Glasmeier: Atmende Bilder. Tableau vivant und Attitüde zwischen ‚Wirklichkeit und Imagination‘, in: Ausst. Kat. Tableaux Vivants. Lebende Bilder und Attitüden in Fotografie, Film und Video, herausgegeben von dens. mit einem Text von Mara Reissberger, Kunsthalle Wien, 24. Mai bis 25. August 2002, Wien 2002, S. 9–19, hier S. 9. 564 |  Ebd., S. 14.

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plifiziert ein lebendes Bild, welches nicht auf ein historisches Bildgedächtnis zurückgreift, hingegen das Ereignis menschlicher Selbstinterpretation und -inszenierung zitiert. Es geht also nicht um Nachahmung als Prämisse, sondern um die Verlebendigung menschlichen Bildvermögens. Und „[w]ie bei einem Gemälde kommt es auch beim Medium des Tableau vivant auf die Verfasstheit des Betrachters an. Von seinen Stimmungen, Ansichten und Meinungen ist stärker noch als im Theater oder in der Oper das Funktionieren des Intendierten abhängig. Das zeitliche Moment der Tableaux vivants ist auf ein Minimum reduziert, fast schon auf den Augenblick. […] Alle Künste, vor allem die malerische, die uns in den Museen und Galerien unendliche Zeit der Betrachtung schenkt, dehnen den zeitlichen Rahmen für die Rezeption. Sie geben der Entwicklung einer Erzählung, einer Erkenntnis oder einer Interpretation die Chance, sich in Gang zu setzen. Dagegen behauptet das Tableau vivant sich im Moment des Erscheinens.“565

Ebenso behauptet sich das Intendierte im Moment des Erscheinens der Hündin, die an den Grenzen von Skulptur und Inszenierung das Moment der Begegnung vorbereitet. Die Lebendigkeit der Organismen stellt dabei in Pierre Huyghes Werk ein bedingendes Prinzip dar. Während Beuys eine Begegnung in effigie vollzog – in der Kunst der 1960er Jahre war eine Begegnung mit tierlichen Individuen weder gewünscht noch möglich – und damit in seinem introspektiven und autistischen Prolog566 verbleibt, gelingt die Begegnung mit dem Tier bei Huyghe mittels der Eröffnung einer neuen, der als real empfundenen Wirklichkeit übergeordneten Welt. ‚Human‘ als ein ‚atmendes Bild‘ transportiert das einstige ‚tableau vivant‘ in eine neue Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Das Bild ist weder länger an den inszenierten Augenblick gebunden, noch ist seine Positur hinter den Vorhängen einer Bühne dem kurzen Moment historischer Nachahmung gewidmet. Die Hündin ist Teil einer von Pierre Huyghe eröffneten Welt, in der sie, um mit Lacans Worten zu argumentieren, im Realen wieder erscheint, da sie in der symbolischen Ordnung abgelehnt wird. Ihr Körper wird damit zur Handlung in einem Umraum des vermeintlich Realen als Rest zwischen Imaginärem und Symbolischem, der die Grenzen zwi-

565 |  Ebd., S. 12. 566 |  Vgl. Voigt: Joseph Beuys, S. 63.

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schen Rezipient und Werk ebenso zu absorbieren scheint wie die zwischen Mensch und Nichtmensch.567 Während Performativität als genuin menschlicher Akt zwar als körperliche Präsenz in einer Aufführung, aber immer auch als Wiederholung einer oder mehrerer Normen gedacht wird, kann Pierre Huyghes ‚Human‘ vor allem im Vergleich und in der Differenzierung zu dieser Form des Körperdiskurses in der Kunst beschrieben werden: ‚Human‘ ist kein wiederholtes Bild eines Einzelwesens, wie es beispielsweise für die Whippets Longhursts bestimmt werden kann. Denn diese sind vielmehr wiederholbare Bilder (Repräsentationen dublizierter Persönlichkeiten) eines Einzelwesens, welches seine Bedeutung als Entität nahezu verloren hat. ‚Human‘ hingegen kann entweder als Darstellung (Körperbild) oder als Ausdruck einer Erfahrung (Körper) aufgefasst werden. Da es sich bei ‚Human‘ nicht um ein Werk des Künstlers, sondern um ein Lebewesen innerhalb eines künstlerischen Werkes handelt, sollen im Folgenden zwei Aktionen herangezogen werden, die der Auffassung vom Ende des Materials entgegengesetzt sind, und welche Cordula Meier mit dem Begriff der ‚Ästhetik des Authentischen‘568 als stetig heranwachsende Immaterialisierungstendenz beschrieben hat. Dieser voranschreitenden Ent-Materialisierung und somit auch der Immaterialisierung des Körpers tritt in der Kunst der reale Körper gegenüber; „der reale Körper tritt in Konkurrenz zu den maßlosen Körperbildern, die unsere Medienwelt bevölkern.“569 Dass Körper selbst auf ihr Körperbild und ihren materiellen Charakter reduzierbar sind, zeigen exemplarisch die Werke ‚senza titolo (Dodici Cavalli vivi)‘ Jannis Kounellis’ und ‚Rhythm 0‘ Marina Abramović’. Im Jahr 1969 erregte der Künstler Jannis Kounellis großes Aufsehen damit, zwölf lebende Pferde in dem damit neueröffneten Ausstellungsraum der Galerie L’Attico, einer ehemaligen Tiefgarage in der Via Beccaria

567 |  In dieser Weise scheint die nachhumanistische Weltsicht der künstlerischen Leiterin der dOCUMENTA (13), Carolyn Christov-Bakargiev, unter deren kuratorischem Einfluss beispielsweise ein Skulpturenpark für Hunde entstand, in ‚Untilled‘ widergespiegelt. Vgl. zu Christov-Bakargievs Intention: Kia Vahland: Interview mit Documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev: Über die politische Intention der Erdbeere, in: Sueddeutsche.de, 8. Juni 2012,10://www.sueddeutsche.de/kultur/documenta-leiterin-carolyn-christov-bakargievueber-die-politische-intention-der-erdbeere-1.1370514 (letzter Zugriff: 30.10.2017). 568 |  Vgl. Meier: Kunst und Gedächtnis, S. 142ff. 569 |  Ebd., S. 181.

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mitten in Rom, zu exponieren. Die ‚Dodici Cavalli vivi‘ waren mittels Halftern und Stricken in einem Abstand von ca. einem Meter an Festmachern mit dem Kopf in Richtung der Galeriewände angebunden.570 Der gepflasterte, von Exkrementen der Tiere leicht glänzende Galerie­boden – Kot und Urin der Pferde müssen einen nicht unbedeutenden Geruch verursacht haben, der den visuellen Eindruck der Installation erweitert haben wird –, erinnert an die einstige Funktion des Raumes. Die Rezipienten werden das Scharren, Stampfen und Wiehern vernommen haben. Im Hintergrund, dies zeigt eine Fotografie571 Claudio Abates, stehen mehrere Eimer und ein Besen, mit denen der weiß gestrichene Raum mit dem dunklen Boden während der dreitägigen Ausstellung behelfsmäßig gereinigt werden konnte. Kounellis, der die Grenzen zwischen Kunst und Leben zu überbrücken versuchte, was nicht zuletzt politisch motiviert war, machte sich die Unmittelbarkeit der körperlich anwesenden Tiere zu eigen und erschuf Sinnbilder ursprünglicher Kraft, fleischgewordene Zeichen, welche im Gegensatz zu den erstarrten Strukturen des Kunstbetriebes stehen sollten. Er konterkarierte damit die Macht der Galeristen über das Kunstschaffen und Präsentieren künstlerischer Arbeiten zum Zweck der Kommerzialisierung, rückte aber die kulturelle Aufladung seines Werkes statt der simplifizierten Darstellung von Lebendigkeit im Sinne einer ‚arte povera‘ in den Vordergrund: „By turning his dealer to a stable boy, he avoided the trap of all the artists who criticize the system they are engaged in. […] However, the understanding of the work could not be restricted to the first approach because, here, the archaic horse – the most ancient bearer of history – represents culture more than rustic simplicity.“572

Kounellis’ Paukenschlag, der noch vor der Aktion ‚I like America and America likes me‘ Joseph Beuys’ und ungefähr zeitgleich zu dessen ‚Titus Andronicus/Iphigenie‘ – einer theatralen Performance mit einem lebenden

570 |  Die Fotografien der Arbeit, einige von ihnen haben selbst ikonischen Wert erlangt, zeigen hingegen nur elf der Tierkörper in ihrer Anordnung im Ausstellungsraum. 571 |  Germano Celant (Hrsg.): Ars Povera, Tübingen 1969, S. 66f. 572  |  Catherine Strasser: Du travail de l’art. Observations des œuvres et analyse du processus qui les conduit, Paris 2006, zitiert nach: Marc Scheps: Jannis Kounellis. XXII Stations on an Odyssey 1969–2010, München/Berlin/London/New York 2010, S. 18.

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Schimmel auf der experimenta 3 in Frankfurt – stattfand, zeichnet sich durch eine Unmittelbarkeit aus, die sich von den theatralen Praktiken des beuysschen Schaffens insofern abhebt, als dass die Pferde keiner Vorstrukturierung des Künstlers unterlagen. Der Künstler tritt hier vermeintlich in den Hintergrund und ist nicht wie Joseph Beuys Teil der Aktion. Dass die Pferde jedoch angebunden sind und damit in ihrem Bewegungsrahmen stark eingeschränkt, ist bedeutsam. Indem Kounellis die Pferde in den Ausstellungsraum führen und an dessen Mauer anbinden ließ, zeichnete er den wohl ‚einfachsten Akt der Domestizierung‘573 nach. „Kounellis formulierte […] eine Antithese zu den Repräsentationsmodellen der zu der Zeit gängigen Kunststile, zum Modernismus purer Oberflächen“574, die Pferde wurden derart auf ihre körperliche Präsenz reduziert, kraft ihres theatralisch gesteigerten Auftrittes gleichwohl zu puren Oberflächen, bereit, jedwede Kulturzuschreibung zu reflektieren: „The living horses located in the space of the gallery replace their traditional pictorial pepresentation. For the artist, the horse is, above all, a manifestation of the living; but he is obviously aware of ist pictorial presentation in occidental art and the qualities attributed to it – in par­t icular those placing it so close to man.“575

Auf seine Weise rückt auch Kounellis das Tier nah an den Menschen heran; so nah, dass sich die Pferde als Exempel gelungener Domestikation als wiederum neue Bilder ihrer eigenen Bildwerdung in die Erinnerung der Betrachter einschreiben. Den erhaltenen Fotografien ist zu entnehmen, dass sich die Besucher frei inmitten der gebändigten Pferde bewegen konnten. Die Köpfe der Tie-

573 |  Vgl. Cornelia Stabenow: Die Entkleidung der Kultur. Zur Mythologisierung des Materials bei Mario Merz und Jannis Kounellis, in: Ausst. Kat. Mythos Italien, Wintermärchen Deutschland. Die italienische Moderne und ihr Dialog mit Deutschland, herausgegeben von Carla Schulz-Hoffmann, Haus der Kunst München, 24. März bis 29. Mai 1988, München 1988, S. 85–90, hier S. 87. 574 |  Nike Bätzner: Jannis Kounellis’ Pferde als Wiedergänger. Zur Reinszenierung performativer Ereignisse, in: Annette Tietenberg (Hrsg.): Die Ausstellungskopie. Mediales Konstrukt, materielle Rekonstruktion, historische Dekonstruktion, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 259–274, hier S. 265. 575 |  Scheps: Jannis Kounellis, S. 18.

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re aber sind vom Betrachter abgewandt. Sie zeigen zu den weißen Wänden hin und sind ihres Sehfeldes so in weiten Teilen beraubt. Zwar haben Pferde beinahe eine Rundumsicht576, diese ist aber stark eingeschränkt, wenn sie ihrer Natur als Fluchttier zum Trotz angebunden sind. Mit nur einem Auge sehen die Tiere stets unscharf und geraten bei wahrgenommenen Bewegungsabläufen leicht in Panik. In diesem Sinne wendet Kounellis dem Betrachter die Seite des Pferdekörpers zu, die, sollte das Tier verängstigt sein, ausschlägt. Wie er in einem Interview mit Yorgos Karouzakis artikulierte, sollen die Pferde als lebendes Element eine Verbindung mit dem soliden Fundament, also den Wänden des Gebäudes, eingehen: „The horses were tied to the wall of the gallery in order to make a connection between the living element and the idea of solid foundations such as those that that exist in homes. Their placement in the room delineated the building’s foundations. When an exhibition like this ends, all that remains is a memory.“577

Kounellis’ Pferde erhalten damit Objektstatus, welcher durch das Wiederholen der installativen Anordnung im Ausstellungsraum noch verstärkt wird und mit dem damit evozierten Aufführungscharakter an das Theater erinnert. Die Protagonisten, hier die zwölf Pferde, sind austauschbar bzw. ersetzbar, so sind es in jeder Reinszenierung des Werkes andere Tiere, welche die immer gleiche Funktion erfüllen. Die ‚cavalli‘, so Bätzner, „stehen nicht nur in Bezug zum Ausstellungsraum; der Raum ist unabdingbar Bestandteil der Arbeit. Die Protagonisten und die Raumsituation verschränken sich zu einem Werk.“578 Die spezifische Raumsituation ist in Huyghes ‚Untilled‘ hingegen zweitrangig. Zwar misst der Künstler dem Raumgefüge kraft der Sinnzuschreibungen selbst Einwirkung auf den

576 |  Das Gesichtsfeld eines Pferdes umfasst 355 Grad. Es kann daher gleichzeitig nach vorne, zur Seite und nach hinten gucken. Nur direkt hinter dem Vierbeiner gibt es einen toten Winkel. Da die Augen des Pferdes sich seitlich am Kopf befinden, kann es nur den Bereich vor ihm (65 Prozent) räumlich und scharf sehen. Die beiden Bereiche seitlich von ihm (jeweils 145 Prozent) kann der Vierbeiner nur unscharf wahrnehmen. Vgl. Pferde.de (Hrsg.), http://www.pferde. de/Die-fuenf-Sinne-der-Pferde-Sehen.27051.0.html (letzter Zugriff: 30.10.2017). 577  |  Jorgos Karouzakis: I saw the sanctity of everyday objects: Interviews, Interview von Yorgos Karouzakis mit Jannis Kounellis 2004, http://www.karouzo.com (letzter Zugriff:30.10.2017). 578 |  Bätzner: Jannis Kounellis’ Pferde, S. 267.

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Rezipienten zu. Das Raumgefüge kann aber, anders als ‚Human‘, ‚Señor‘ und die menschliche Begleitperson der Hunde in ‚Untilled‘, verändert und auch gänzlich ausgetauscht werden. Diese hingegen aber bleiben unaustauschbar. Auf der Biennale in Venedig wurden 1976 im Rahmen der Sonderausstellung ‚Ambiente Arte: dal Futurismo alla Body Art‘ acht von den einstmals zwölf Pferden Kounellis’ reinsziniert. In Relation zu dem schmalen Raum – der Titel ‚senza titolo (Dodici Cavalli vivi)‘ blieb erhalten – wurde die Anzahl der Pferde reduziert und ließ „das in der venezianischen Halle aufgestellte Ensemble sakral überhöht erscheinen“579. Die Reinszenierung in Venedig – die Besucher konnten den Raum durch eine Tür betreten, wobei die Pferde derart weit in den Raum hineinstanden, dass wohl niemand den Weg durch die schmale Gasse zwischen den Tierkörpern antrat – trägt erste Merkmale einer Veränderung. Der Ausstellungsfläche wird anders als die Garagensituation vor allem durch von oben in den hohen Raum einfallendes Tageslicht beleuchtet. Das natürliche Licht erinnert ganz im Gegensatz zu dem künstlichen und damit gleichförmigen Erhellen an einen Stall. Dieser Eindruck wird zugleich von dem spitz zulaufenden Dach, das an eine Kathedrale denken lässt, gebrochen. Diese Dokumentation ist die einzige, welche nicht ausschließlich die Pferde, sondern auch die Betrachter fokussiert. Es sind ausnahmslos Pferde von dunklem Felltyp sichtbar. Die Tiere sind sehr eng an die Wände gebunden, verfügen aber über Heu und Wasserbehältnisse, die vor jedem Pferd angebracht sind. Eine Reinszenierung in der Whitechapel Gallery in London blieb 2002 ohne Dokumentation. Im Rahmen einer Retrospektive von Kounellis konnten wegen der großzügigen Abmessungen des Ausstellungsraumes im Museo d’Arte Contemporanea Donnaregina 2006 in Neapel vierzehn Pferde in Szene gesetzt werden. Der Ausstellungsraum erinnert visuell deutlich an die erste Inszenierung, ist jedoch von heller, vermutlich weißer Farbe. Auch hier wird der Titel des Werkes nicht verändert. Die Tiere scheinen nunmehr an verhältnismäßig langen Stricken angebunden zu sein, verfügen überdies dauerhaft über Heu und Wasser. 2006 wurden wie ursprünglich zwölf Pferde in einer Messekoje der Art Cologne ausgestellt und erinnerten nicht zuletzt wegen der Betitelung der Sektion ‚Hommage to Jannis Kounellis‘ an die Installation von 1969.

579 |  Ebd., S. 268.

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Die Tiere haben so in dieser Reinstallation viel Spielraum in der Festmachung, dass sie ihre Körper parallel zu den Ausstellungswänden platzieren können, ohne dabei zu nah an das Pferd vor oder hinter ihnen zu geraten. Der künstlich beleuchtete Raum inmitten der Messehallen wird – das gibt auch eine dokumentierende Fotografie Claudio Abates zu erkennen – von einem Absperrseil von den Besuchern abgetrennt. Eine nächste Rekonstruktion des Werkes erfolgte im Jahr 2015. Mit dem Einverständnis des Künstlers und in Kollaboration mit der Galerie Cheim and Read stellte der Galerist Gavin Brown lebende Pferde in An­ lehnung an Kounellis’ ‚senza titolo (Dodici Cavalli vivi)‘ in seinem Ausstellungsraum in Greenwich Village, New York, aus. Drei Pfleger kümmerten sich um die Pferde, die, anders als in den vorangegangenen Installationen, weniger nah an die Wand angebunden zu sein schienen und sowohl Heu zur Verfügung gestellt bekamen als auch einen Behälter mit Wasser, der direkt an der Wand des Ausstellungsraumes befestigt war. Der Boden, ein glatter anthrazitfarbener Untergrund, zeugt nicht ausschließlich von den Abdrücken der Hufe, sondern zeigt ebenso die Spuren menschlicher Anwesenheit. Exkremente sind hingegen auf den Fotografien nicht ersichtlich. Insgesamt wirkt die Rekonstruktion bzw. Reinstallation, die das Ende der Ausstellungstätigkeit in den bestehenden Galerieräumen in Greenwich Village markierte, sauberer und weitläufiger als die Ursprungsinstallation in Rom. Die Pferde in ‚senzo titolo‘ werden nicht zuletzt durch deren Reinszenierung zu austauschbaren Objekten, die angebunden an die Galeriewände kraft ihrer körperlichen Anwesenheit und der damit verbundenen Authentizität als präsent wahrgenommen werden und buchstäblich zu einem ‚tableau vivant‘ avancieren. Die Pferde sind inkarnierte Tropen menschlicher Bildproduktion. Das Moment der Begegnung wird unterbunden, die körperliche Präsenz definiert sich verstärkt über Geruch, Geräusch und Sinnbildhaftigkeit von Kraft, Stärke, Vitalität, Wollust580 und allem voran als ein Symbol heroischer Feldherren- und Herrschaftszeiten. Die physische Gegenwart der Tiere kann mit der Anwesenheit menschlicher Körper in der Kunst vergleichbar sein – lebendiges Material war 1961 durch Piero Manzoni bereits in die Kunst eingeführt worden581 –, da Tiere zumeist die Repräsentation menschlicher metaphorischer Zuschreibung schlechthin

580 |  Stefano Zuffi (Hrsg.): Bildlexikon der Kunst, Band 7, Berlin 2005, S. 257. 581 |  Vgl. Bätzner: Jannis Kounellis’ Pferde, S. 261.

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darstellen; in der Installation werden sie zu Bildern transformiert: „Als unmittelbare Präsenz kann der Körper der immateriellen Natur einer im steigendem Maße bildergesättigten Welt entgegenwirken […], dennoch kann er auch zu einem Mittel der Repräsentation werden, was eine Rückkehr zu der Vorrangstellung des Bildes ermöglicht.“582 Die Pferde sind damit an den ‚Pflock der Bildhaftigkeit‘ gebunden und erstarren zu lebenden Bildern. Pierre Huyghe, dessen Integration der Hunde in ‚Untilled‘ nicht ohne den Körperdiskurs der 1960er und 1970er Jahre rezipiert werden kann, emanzipiert ‚Human‘ von einer tierlichen Körperlichkeit, die sich in ihrer bloßen Hülle visualisiert. ‚Human‘ ist dabei nicht bloß ein Repräsentant ihrer Rasse und damit ein Konstrukt menschlicher Standardisierung, sondern trägt überdies eine Markierung, welche auf diesen Tatbestand aufmerksam zu machen scheint und damit die Standardisierung wiederum negiert. So lässt sich ein Videomitschnitt einer Konversation zwischen einer Besucherin und der menschlichen Bezugsperson von ‚Human‘ in ‚Untilled‘ als moralisch ethische Forderung des Künstlers deuten: Frau: Haben Sie hier die Aufsicht über den Hund, oder? Mann: Bitte? Frau : Sind Sie Besucher oder haben Sie hier die Aufsicht über … Mann: Ich hab hier die Aufsicht über das Gelände. Ja. Frau: Und wie machen Sie das, dass er nicht wegläuft? Einfach weil Sie hier sind? Die Bindung an Sie? Mann: Ja. Frau: Ja und abends nehmen Sie ihn dann mit, oder wie? Mann: Jaja klar, sind ja meine Hunde und … Frau: Ah-ja okay. Mann: … und dementsprechend … Frau: Was ist das für eine Rasse? Mann: Ein Podenco ist das. Ey. Frau: Ah-ja, ist das eine Art Windhund oder sowas? Mann: Mhmh. 2. Frau: So ’ne spanische …

582 |  Sally O’Reilly: Body Art. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst, München 2012, S. 46f.

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Mann: … spanische Wind-/Jagdhunde, ja. 2. Frau: Der hier ist eine Nummer kleiner, haste gesehen? Frau: Ja, jaja. 2 . Frau: Die freuen sich, ne? Genau … jaja. Die haben so tolle Ohren. … Danke. Mann: Bitte. 2. Frau: Ist das normal, dass sie so dünn ist oder kommt das … Mann: Halbes Kilo, dann hat sie schon Optimalgewicht. Frau: Ja. Mann: Aber die sind eben einfach so. Frau: Jaja. Die sind ja schlank … Mann: Ja. Frau: … und wissen Sie, was das mit dem rosa Bein auf sich hat? Mann: Mhmh, ähm … ein bisschen Kritik an der Hundegesellschaft … heutzutage, das heißt … ähm … viele Hunde sind ja massiv überzüchtet … Frau: Ja. Mann: … und dadurch entstehen ja teilweise schon Probleme. Wie bei den Möpsen zum Beispiel irgendwie, dass die kaum Luft bekommen, oder bei den Schäferhunden, Hüftdysplasie … Frau: Ja … ja genau. Mann: Solche Geschichten. Ähm, das finden die Leute aber irgendwie in Ordnung oder süß oder wie auch immer … Frau: Ja. Mann: Aber sobald man dann eben einen zu dünn aussehenden Hund … äh … auf die dOCUMENTA bringt und dem das Bein anpinselt, regen sich die Leute eben massiv darüber auf. Frau: Okay, ja. Mann: … sollte man mal drüber nachdenken. Frau: Ja ne, verstehe ich. Kann ich was mit anfangen. Also dass wir uns aufregen, dass es schön oder nicht schön aussieht, und nicht ob das Tier gesund ist, ne?583

583 |  kasselmenta: Windhündin Human genervt von documenta-Besucher — Karlsaue in Kassel, dOCUMENTA (13) 2012 https://www.youtube.com/watch?v=vZ0LR20J2MA (letzter Zugriff: 30.10.2017).

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Pierre Huyghes Wahl fiel bewusst auf einen Rassehund, welcher auch für weniger informierte Betrachter die Insignien einer Rassezucht ästhetischer Praxis trägt. An diesem Punkt berühren sich Huyghes künstlerischer Kontrollverlust und Daniel Gottlob Moritz Schrebers Bemühungen um eine ‚Erziehung zur Schönheit‘. Der Arzt Schreber, der Name kommt nicht in den Gründungsgeschichten der Kleingärten, der sogenannten Schrebergärten, vor und doch tragen sie seinen Namen zu Recht, war Anhänger der Turnbewegung seiner Zeit und versuchte seinen Körper kraft Zucht und Disziplin zu stählen und dessen Gesundheit zu erhalten. Nach seiner ersten Publikation ‚Ärztliche Zimmergymnastik‘ aus dem Jahr 1855, einem ‚Ratgeber regelmäßiger und geordneter Bewegung‘, erscheint seine ‚Kallipädie‘ nur drei Jahre später, 1858, die „weit über den Bereich der physischen Gesundheit hinaus“584 geht. Der französische Arzt Nicolas Andry, der Begründer der Orthopädie, hatte Schreber mit seinem aufklärerischen Werk dazu inspiriert. Das 1744 erschienene Buch Andrys ziert ein Kupfer­ stich eines krumm gewachsenen jungen Baumes, dessen Stamm kraft eines Strickes an einen Pfahl gebunden ist, der ihn wieder auf die Ideallinie eines Baumes zurechtbiegen soll. „[E]in Jahrhundert später […] legt also Schreber, der deutsche Orthopäde, eine ‚Kallipädie‘ vor. Diesmal aber geht es weniger um Richtigkeit als um Schönheit: ‚kalos‘ bedeutet im Griechischen ‚schön‘, zugleich aber auch ‚gut und edel‘. Als humanistisch Gebildeter kennt und nutzt Schreber diese doppelte Bedeutung des Wortes; es benennt zugleich körperliche und geistige Qualitäten, die Kallipädie zielt also auf die Erziehung zu einer leiblich und sittlich gemeinten Schönheit.“585 Schreber erfindet eine Reihe von Apparaturen, die beispielsweise den Körper im Schlaf in die Rückenlage oder eine aufrechte Sitzhaltung zu Tisch erzwingen. Er sieht vor, „dass alles, was wächst, gerade wächst, in der richtigen Ordnung wächst – genau so, wie die Natur sich das gedacht hast, oder genauer: wie er denkt, dass die Natur sich das gedacht hat.“586 Seine Publikationen sind voll von Garten- und Gärtnermetaphern: „Immer wieder versucht Schreber, seine Erziehungsratschläge mit der Sorte des ge-

584 |  Johannes Bilstein: Herr Schreber oder: Die Ordnung des Wachsenden, in: Ausst. Kat. Park (2005), S. 121–129, hier S. 123. 585 |  Ebd., S. 124. 586 |  Ebd., S. 126.

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sunden Menschenverstandes zu begründen, die man für das gärtnerische Arbeiten braucht.“587 Letztlich sind es kleine Schulgärten in Verbindung mit Spiel- und Sportplätzen, in und auf denen die Kinder den Umgang mit dem Wachsenden einüben sollten und die den Schrebergärten ihren Namen gaben. Wildwuchs und Zucht begegnen sich in ‚Untilled‘ auf mannigfaltige Weise. Huyghe wählt für seinen Garten einen Rassehund, welcher im Grunde als ein Resultat der Lehre eines Schrebers gedacht werden kann, und lässt diesen Hund Teil der Prozesse in ‚Untilled‘ werden. Das Tier wird nicht länger in eine Ideallinie gezwungen, sondern überwindet letztlich, wie auch der Garten, alle Perfektion und mit dieser die kultivierende Konzeption von Zucht und Ordnung. ‚Untilled‘ ist ein Gegenentwurf zum Schrebergarten und damit ein Gegenentwurf zu einer gezüchteten und gezwungenen Synthetik. ‚Human‘ darf Tier sein. Die vielen Hinweise der Museen und Ausstellungsverantwortlichen informieren über die amtlich testierte Gesundheit des Tieres und über die Tatsache, dass das Erscheinungsbild der Hündin rassetypisch sei. Darüber hinaus stellen die Kommentare eine Art Handlungsanweisung für die Besucher dar, um die Hündin bestmöglich in ihrem musealen Umraum zu würdigen. So beispielsweise die Hinweise des Los Angeles County Museum of Art: „In light of Human’s presence at LACMA, here are the need-to-know points about her participation, lifestyle, and the best ways to appreciate her when you visit the exhibition. – Human is a five-year-old Ibizan hound and has collaborated with Pierre Huyghe since she was rescued from a shelter approximately three years ago. She is comfortable in and familiar with the environs of a gallery. She has appeared in previous iterations of this exhibition in France and Germany. – We respectfully ask that visitors refrain from touching, petting, or otherwise disturbing her. – Human has been examined by a local veterinarian as well as by the Los Angeles Department of Animal Services and SPCA Los Angeles, and has been found to be in excellent health. A permit for her inclusion in the exhibition is on file.

587 |  Ebd., S. 127.

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– A  n Ibizan hound is characterized by its single-layer coat. Fur coats spread throughout the gallery are for Human’s comfort. – T he American Kennel Club describes the body of this breed to be ‚deep and long with the breastbone sharply angled and prominent. The ribs are slightly sprung.‘ The dog’s appearance is completely normal per the AKC’s standards. – W hen Human is in the gallery, there is a handler always present as well. Human knows her handler well and is very comfortable in the space. The handler makes sure all of Human’s needs are met. – Human comes and goes with her handler as she pleases—she is never required to be in the gallery at any particular time. If she desires to go for a walk, to eat, or to rest, she does so. We are extremely sensitive to her needs. – Human has a private room for respite.“588

Die hier beschriebenen Umgangsformen, die erbeten werden, um ‚Human‘ nicht zuletzt den Raum zu geben, den die Hündin für ihr Wohlbefinden benötigt, heben sich in einer besonderen Weise von einem performativen Umgang mit dem Körper in der zeitgenössischen Kunst ab, welcher im Folgenden anhand der Performance ‚Rhythm 0‘ Marina Abramović’ beschrieben und für den Umgang mit lebenden Tieren in der zeitgenössischen Kunst fruchtbar gemacht werden soll.589 Die Handhabung des Körpers ist eng mit dem Begriff der ‚performance art‘ verbunden, in der die körperliche Präsenz des Kunstschaffenden in den Mittelpunkt einer Aktion gestellt wird, wobei „[d]as Ziel der Performancehandlung […] nicht die Herstellung eines Kunstobjektes, sondern der Vollzug einer einmaligen ästhetischen Handlung“590 ist. Diese ästhetische Handlung weist immer dann eine Nähe zur Darbietung, Aufführung und zum Theatralen auf, wenn sie nicht als prozessästhetisches Ereignis erfahrbar wird. Marina Abramović’ ‚Rhythm 0‘ aus dem Jahr 1974 zeigt auf, was die dem Prozesshaften zugewandte Performance für die Frage

588 |  Linda Theung: Human, Pierre Huyghe’s Dog-in-Residence, https://unframed.lacma. org/2014/11/26/human-pierre-huyghe’s-dog-residence (letzter Zugriff: 30.10.2017). 589 |  Vgl. Kristine Stiles/Klaus Biesenbach/Chrissie Iles (Hrsg.): Marina Abramović, London 2008. 590 |  Marie-Luise Lange: Grenzüberschreitungen. Wege zur Performance, Königstein im Taunus 2002, S. 27.

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nach der körperlichen Präsenz und deren Transformation in das Objekthafte bedeuten kann. Mit ihrer sechsstündigen Performance wollte sich Abramović von einer Performancekunst abwenden, die entweder nur redundant exhibitionistisch oder aber masochistisch war, und gestand dafür dem Publikum den gesamten Handlungsspielraum zu. Vertraglich hatte sie bestimmt, sich dem Publikum während sechs Stunden wehrlos ausliefern zu wollen und für alle Handlungen, die an ihr vollzogen würden, die Verantwortung selbst zu übernehmen. Die Künstlerin offerierte auf einem Tisch 72 Objekte mit dem Hinweis, sie selbst sei das Objekt innerhalb des Werkes. Eine Rose, Parfum, Brot, Trauben und Wein, einige metallene Gliederketten, Nägel, eine Schere und letztlich eine mit nur einer Kugel geladene Pistole befanden sich mit noch weiteren Gegenständen zum freien Gebrauch aufgebahrt. Abramović fiel zu Beginn der abendlichen Performance in absolute Passivität. Nach anfänglichem Zögern zerschnitt man ihre Bluse, verletzte sie dabei, befingerte ihren nackten Körper, beklebte sie, bemalte sie, traktierte sie. Nach einiger Zeit wurden jedoch immer mehr Grenzen überschritten. Man schnitt der Künstlerin in den Hals, trank das hinausrinnende Blut, legte ihren eigenen Finger auf den Abzug der scharfen Waffe, bis der Galerist ihr diese entriss und aus dem Fenster warf. Man entledigte die Performerin ihrer Kleidungsstücke, besah sie nackt, verletzte sie mit Dornen, bis die Arbeit Abramović’ in den Morgenstunden seitens der Galerie beendet wurde. Als die Künstlerin sich nach vielen Stunden wieder aus eigener Kraft bewegte, sich anzog und zu sich selbst kam, wieder zu einer Person wurde, statt nur als sichtbare Oberfläche zu existieren, verließ das Publikum fluchtartig den Ausstellungsraum, da es ihm unmöglich schien, dem Individuum Abramović zu begegnen: „One photograph near the end oft the performance depicts the artist, stripped to the waist by the public, eyes brimming with tears, holding a set of Polaroid pictures, which someone had taken of her during the event and placed in her hand. Again, thrice removed, Abramović be­c ame the object, shadowing others’ actions, shadowing the function oft he objects, and shadowing her own photographic shadow. […] The performance ended […] precisely at 2 a.m., as Abramović had planned. Only then did she be­g in

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to move about on her own, a transformation from object to subject that frightened the audience“591 .

Die Künstlerin selbst resümierte die Flucht des Publikums als Davonlaufen vor der Konfrontation mit ihr als Persönlichkeit.592 Ihre Aktion war eine Meditation über die Fragilität von Moralvorstellungen, die vergessen werden können, sobald Menschen von der Verantwortung für ihr Handeln befreit werden. Nach allem, was der Mensch mit dem Tier gemacht hat, ist in diesem Sinne nicht weiter verwunderlich, dass es so schwerzufallen scheint, das Tier aus seinem Objektstatus in die Subjektivität zu transformieren, wenn es nicht einmal zu gelingen scheint, dem Menschen Subjektstatus zuzugestehen. Marina Abramović’ ‚Rhythm 0‘ zeigt auf, wie ein lebender Körper – hier der eines Menschen – zu einer sichtbaren Oberfläche mit reinem Objektstatus transformiert werden kann und damit in einer Weise zutiefst vulnerabel wird, da bestehende Grenzen überschritten oder eingerissen werden können, sobald ein Setting offeriert wird, in dem sie offiziell fehlen. ‚Rhythm 0‘ rückt die Abwesenheit in den Vordergrund; konkretes materielles Sein tritt an die Stelle einer bildlichen Repräsentation, so wie das individuelle Tier in seinem Sein hinter den bildlichen Repräsentationen zurückgedrängt wird. In diesem Kontext wird die Anwesenheit ‚Humans‘ in Pierre Huyghes Installationen als Individualpräsenz eines konkreten Tieres substanziell. ‚Human‘ ist der Situation im künstlerischen Kontext nicht ausgeliefert, anders als die vielen anderen Tiere künstlerischer Produktion agiert die Hündin selbstbestimmt, wenngleich in einem von Huyghe vorgegebenen Rahmen von Möglichkeiten. So konnte ‚Human‘ sich beispielsweise zu jeder Zeit zurückziehen und war so für einige der Besucher nicht sichtbar. ‚Human‘ begegnete dem Besucher ganz unerwartet zwischen zwei Ausstellungsräumen oder aber sie entzog sich der Sichtbarkeit gänzlich. Pierre Huyghe erschafft etwas Reales, eine vom Künstler zwar ins Leben gerufene, aber nicht länger beeinflussbare Welt, in der die Grenzen der anthropozentrischen Wahrnehmung nicht aufrechterhalten werden können.

591 |  Kristine Stiles: Survey. Cloud with its Shadow, in: dies./Biesenbach/Iles: Marina Abramović (2008), S. 33–95, hier S. 60. 592 |  Vgl. Marina Abramovic Institute (Hrsg.), http://www.mai-hudson.org/official-maivideos/2014/3/21/marina-abramovic-on-rhythm-0-1974 (letzter Zugriff: 30.10.2017).

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Der Besucher kann nicht hinter einem Bild zurücktreten. Ein Abstand, wie es die Inszenierungen der lebenden Tiere in der Kunst der 1960er Jahre ermöglichten, kann nicht gewahrt werden. Während Thomas Macho ein lebendiges Korrektiv nicht mehr in Betracht zieht – „[i]m 20. Jahrhundert ist die virtuelle Gestalt der Tiere übermächtig geworden: In immer schneller wechselnden Rhythmen wurden die Tiere kulturell codiert, decodiert und wieder neu codiert. […] Die Perspektiven lassen sich beliebig austauschen“593 –, stellt die Hündin ‚Human‘ in Pierre Huyghes Werk ein solches lebendiges Korrektiv dar. Mit dem Betreten des Gartens und auch der Ausstellungssituation wird der Rezipient Teil der Welt Pierre Huyghes, welche der Künstler auch in der Ausstellungsspezifität des musealen Raumes aufrechtzuerhalten vermag. Dabei werden die Termini einer Kategorisierung so weit entgrenzt, dass variable Dauer und Dimensionierung der Werkkonstituenten kaum das Einordnen in Skulptur oder Installation zulässt. Huyghe stößt einen Prozess an, der zwar temporär an einen Ort gebunden ist, dessen Begrenzung aber auch überschritten werden kann. Als Konstituent eines solchen Prozesses in Huyghes Werkkomplex wird der Betrachter zum Akteur im Sinne der von Joseph Beuys entwickelten sozialen Skulptur. Ein von dem Akteur weitergedachtes Moment ist dabei die Begegnung mit ‚Human‘ als einem anwesenden Individuum. Pierre Huyghe und Joseph Beuys eint darüber hinaus die Kritik an einer unnachhaltigen Umgangsweise des Menschen mit seiner Umwelt, der Natur und seinen nichtmenschlichen Mitlebewesen. ‚Untilled‘, so argumentiert David Joselit, widersetze sich nachdrücklich einer Synthese von Bildern. Der Betrachter müsse eine Art Ökologiekit mittels der Akkumulation ungleicher Materialien in dem höchstwahrscheinlich erfolglosen Bemühen zusammenstellen, ein kohärentes Bild zu entwerfen.594 Luc Nancy, dies führt Joselit des Weiteren an, zentralisiert die Frage nach der Präsenz solcher Konstituenten, wenn er schreibt:

593 |  Thomas Macho: Tier, in: Christoph Wulf (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, S. 62–91, hier S. 82. 594 |  Vgl. David Joselit: gegen Repräsentation, in: Texte zur Kunst 95 (2014) ‚BILD VS. KUNST‘, https://www.textezurkunst.de/95/david-joselit-gegen-reprasentation/ (letzter Zugriff: 30.10.2017).

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„Das Bild macht dem Ding dessen Präsenz streitig. Statt eines Dings, das bloß ist, zeigt das Bild, daß und wie das Bild ist. […] Es handelt sich um keine Präsenz ‚für ein Subjekt‘ (es geht nicht um eine ‚Repräsentation‘ im gewöhnlichen und mimetischen Sinne), sondern vielmehr um eine gewissermaßen ‚subjekthafte Präsenz‘. [D]as Ding […] stellt sich vor [se présente].“595

Nancy fährt fort: „Das Bild zieht das Ding aus dessen bloßem Anwesendsein in die Präsenz, praes-entia, ein nach außen gekehrtes Vor-sich-selbst-Sein (Austritt aus der Vorhandenheit, Eintritt in die Gegenwärtigkeit). […] Im Bild oder als Bild, und nur so, wird das Ding – ob unbeweglicher Gegenstand oder Person – zum Subjekt erhoben“596.

Mit diesen Worten Nancys ist der besondere Wert des Kunstwerkes für die Präsenz des Subjektes beschrieben. Zwar ist ein Kunstwerk als ästhetisches Phänomen immer an dessen Bildcharakter gebunden, jedoch besteht ein Unterschied zwischen dem Bild als Ausdruck der Überpräsenz – hier hat sich zwischen Anwesenheit und Bild eine fremde Referenz geschoben – und der Bildwerdung im Sinne der Monstranz597 – hier bleibt die Bildwerdung nicht aus, stellt aber das Wesentliche des Subjektes in den Vordergrund der Betrachtung. ‚Human‘ hat diesem Verständnis nach subjekthafte Präsenz. Die Hündin ist nicht für etwas oder jemand anderen anwesend, sie repräsentiert nicht, sondern ist. ‚Untilled‘ generiert keine Bilder, das Werk schafft ein Geschehen, an dessen Verlauf es den Betrachter teilhaben lässt. Pierre Huyghe unterliegt dabei nicht dem ihm so häufig attestierten Kontrollverlust598, sondern impliziert vielmehr ein Geschehenlassen. Pierre Huyghes künstlerische Auffassung und damit auch ‚Untilled‘ weist viele Parallelen zu der Konzeption der sozialen Plastik Joseph

595 |  Jean-Luc Nancy: Am Grund der Bilder, Zürich/Berlin 2006, S. 41. 596 |  Ebd. 597 |  „Die Monstranz ist eine Darbietung der so genannten Realpräsenz“, ebd. 598  |  Vgl. beispielsweise o.A.: Pierre Huyghe in Paris. Bis einer bellt, in: Monopol, 17. Oktober 2013, http://www.monopol-magazin.de/bis-einer-bellt (letzter Zugriff: 30.10.2017).

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Beuys’599 auf. Neben dem Aufgreifen des Wärmebegriffs in seinem Garten und der Integration und Weiterführung des beuysschen Bestiariums, Kojote und Biene in Hund und Bien, lässt sich die soziale Plastik Joseph Beuys’ in Pierre Huyghes Schaffen zu einer natürlichen Plastik weiterdenken. Auch damit handelt Huyghe im Sinne des künstlerischen Werkes von Beuys, denn auch für Beuys ist der Mensch ein Teil der Natur und sollte sich als einen solchen wahrnehmen. Dass das Politisch-Soziale in seinem Werk prioritär erscheint, ist sicherlich auf die Zeit seines Schaffens zurückzuführen. Indem Huyghe nun aber eine ‚site‘ schafft, eine Stätte, in der es weder Anfangs- noch Endmarkierungen gibt, zu welcher der Mensch als Mensch Zugang hat und nicht als Betrachter im Bild verortet ist, knüpft er an die soziale Plastik an und pflegt diese in das zeitgenössische Denken ein. Huyghe selbst benennt ein dritte Stufe der Erinnerung, die Amelia Barikin als „[n]ot quite like a palimpsest and certainly in opposition to the simulacrum“600 denotiert. Die hier bezeichnete ‚third memory‘ wird von Huyghe als „displacement of an event onto its representation“ und „new object of translation“ beschrieben601. Mit seiner Aussage, „[i]t is through the montage, the way we combine and relate images, that we can create a representation of an event that is perhaps more precise than the event itself“602, knüpft er an Roland Barthes an, der überdies in der Repräsentation, Rekonstitution und Imitation die Möglichkeit erkannt hatte, etwas zum Vorschein bringen zu können, das zuvor unverständlich geblieben ist. ‚Untilled‘ ist übervoll von Wachstums-, Transformations- Translationsund Energieprozessen und fördert immer auch deren Negation zutage. Dieses Aufzeigen von Positiv- und Negativformen ist in einem durchaus räumlichen Sinne als Expansion und Kompression begreif bar und stellt darin eine Entsprechung zu Joseph Beuys’ erweiterten Kunstbegriff und der Wärmeplastik dar.

599 |  Zum Begriff der sozialen Plastik siehe zuletzt: Melitta Kliege: Vom Prinzip Plastik zur Sozialen Plastik, in: Joseph Beuys: Parallelprozesse: Archäologie einer künstlerischen Praxis, herausgegeben von Ullrich Müller, München 2012. Einführend: Dieter Koepplin: Museumskunst und ‚soziale Plastik‘, Reinbek bei Hamburg 1991. Noch immer grundlegend: Volker Harlan/ Rainer Rappmann/Peter Schata (Hrsg.): Soziale Plastik. Materialien zu Joseph Beuys, Achberg 1974. 600 |  Amelia Barikin: Parallel Presents. The Art of Pierre Huyghe, Cambridge 2012, S. 4. 601 |  Ebd. 602 |  Ebd.

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Und auch innerhalb des Museums schafft Huyghe es, eine natürliche Plastik zu schaffen. Hierbei muss der Begriff der Natürlichkeit dahingehend erweitert werden, als dass es sich nicht zwingend um einen Umraum von Pflanzen oder Erde handeln muss. Huyghe, der selbst einmal sagte, er schaffe erst einen Raum und versuche dann sich in ihm zurechtzufinden, schafft eine Umgebung, in deren Umwelt alle Elemente gleichberechtigt sind. Der museale Ort und dessen Verbindungen gehen bei Huyghe in einer inneren Logik neuer Referenzen auf. Huyghe stellt auch im Museum nichts aus, sondern entlässt die Konstituenten seiner Arbeiten in den für sie geschaffenen Raum: „You don’t display things. You don’t make a mise-en-scéne, you don’t design things, you just drop them. And when someone enters that site, things are in themselves, they don’t have a dependence on the person. They are indifferent to the public. You are in a place of indifference. Each thing, a bee, an ant, a plant, a rock, keeps growing or changing.“603

Vielmehr erschafft er auch hier einen Ort, an dem die Anwesenheiten neu ausgelotet werden und gleichberechtigt sind. In dem schützenden Umraum des Museums existieren gleich drei Welten nebeneinander: die als real angenommene Außenwelt, der museale Raum und das künstliche Habitat. Die Rezeption findet damit an den Schnittstellen und Überlappungen statt, an denen Huyghe, wie das Werk ‚Zoodram 4‘ exemplarisch aufzeigt, folgendermaßen interessiert ist: „The aquarium is a place of separation, normally a collection of different species of different places around the world that are gathered together in a system supposed to be in nature, similar to a museum. I am interested in the strange relationship and separation between the human and a world. They are not encountering each other. I am interested in the moment of suspension, in boredom or hypnosis in which you can find the equivalence between the encounter and the thing that is in front of you.“604

603 |  Christopher Mooney: Pierre Hyghe, in: Art Review, Oktober 2013, http://artreview. com/features/october_2013_feature_pierre_huyghe/ (letzter Zugriff: 30.10.2017). 604 |  Allard van Hoorn: The moment of suspension, in: domus. Digital Edition, 18. Oktober 2011, http://www.domusweb.it/en/art/2011/10/18/pierre-huyghe-the-moment-of-suspension. html (letzter Zugriff: 30.10.2017)

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Das mythologische Moment des Natürlichen wird belassen, gleichzeitig aber in eine logisch erfahrbare Sinndimension gelenkt. Der Rezipient seiner Werke wird Teil ihrer Kreisläufe. Gleichermaßen wird dem Rezipienten die Demarkationslinie vor Augen geführt, an der sich die Anwesenheiten von menschlichen und nichtmenschlichen Tieren scheiden. Die Glasscheibe des Aquariums wird ebenso zu einem Synonym der Grenze wie das Körperbild der Hündin ‚Human‘ als Ausdruck menschlicher Überpräsenz. Die Verortung der Konstituenten, wie der Künstler Pierre Huyghe sie vornimmt, lässt den Rezipienten diese Grenze erkennen und überwinden, indem er angeleitet wird, sie als überschreitbares Konstrukt und nicht als Demarkationslinie wahrzunehmen. Die Begegnung mit dem ‚konkreten Tier‘ in der Kunst wird über die Mehrdimensionalität der einzelnen Werke möglich. Neben den drei Dimensionen der materiellen Erscheinung fügt Huyghe den Werken die Dimension einer Begegnung als eine vierte Ebene der Erfahrung hinzu. Ähnlich der Polyfokalität, die für die Werke Joseph Beuys’ beschrieben wird, welche durch das ‚Anstellen‘ der Arbeiten erst erzeugt wird, betritt der Rezipient den Wahrnehmungsraum der vierten Dimension bereits durch die von Huyghe vorbestimmte Struktur. Der Erfahrungsraum des Künstlers bezieht die Körperlichkeit und das Körperbild des Rezipienten raumgreifend mit in das jeweilige Werk ein. Der Rezipient ist, wie es der ‚name announcer‘ deutlich macht, anwesend in der vom Künstler offerierten Welt. Indem ihm die eigene Anwesenheit bewusst gemacht wird, hinterfragt der Rezipient genauso die Anwesenheit weiterer Lebewesen. Huyghe macht eine Begegnung mit dem ‚konkreten Tier‘ möglich und lässt Sichtbares hinter der anthropozentrischen Grenze erscheinen. Er löst durch ein gleichberechtigtes Sein aller Konstituenten in seinem Werk, die den Rezipienten inkludieren, die Dichotomie von nichtmenschlichen und menschlichen Tieren auf. Er löst das Tier heraus aus seinem künstlichen Habitat der Bühne und verleiht ihm einer Art der Ebenbürtigkeit. Auf dieser Grundlage fußt die Möglichkeit einer Begegnung mit dem ‚konkreten Tier‘ in der zeitgenössischen Kunst. Huyghe hat in seinem Film ‚one way in Untilled‘, wie der Titel bereits impliziert, einen möglichen Weg innerhalb ‚Untilled‘ festgehalten, der in der Ausstellung im Museum Ludwig ein zentrales Werkfragment darstellt. Die Geräusche aus seinem Garten, man hört das Surren der Bienen, das Knistern der Grashalme etc., sind in den Ausstellungsräumen allgegenwärtig. ‚one way in Untilled‘ gibt exemplarisch einen Einblick in das Leben in ‚Untilled‘. Dabei hat der Film aus dem Jahr 2012 nicht den Anspruch des Dokumentarischen, sondern versucht, durch die eindringliche Ton-

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spur und die Nahaufnahmen der Konstituenten den Museumsbesucher Anteil an ‚Untilled‘ nehmen zu lassen. Ein weiteres filmisches Werk des Künstlers aus dem Jahr 2014 knüpft thematisch an seine Gesellschaftskritik und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Begegnung mit nichtmenschlichen Tieren im grundlegend Prozesshaften an. Nachfolgend soll dieses exkursiv beleuchtet werden.605

Exkurs: Pierre Huyghes ‚Untitled (Human Mask)‘ Ein Grollen und Surren wie das Geräusch tausender Insekten untermalt auditiv eine Kamerafahrt entlang des Mittelstreifens einer geteerten Straße; nur die linke Hälfte davon ist noch als eine solche erkennbar, die rechte Fahrbahn ist mit Schlamm, Sand und Wasser überzogen und es wachsen Pflanzen darauf. Sie endet vor einer Wand. Es ist die Wand eines Hauses, welches im Zuge des verheerenden Tsunamis nahe Fukushima seines Fundamentes enthoben und auf die Straße gerissen wurde. Fensterscheibenlos und in Teilen seiner Verschalung beraubt, liegt es nun schief vor den Augen des Betrachters, versperrt ihm die Sicht. Der Zoom endet abrupt in einem 45°-Schwenk um das Haus, besser: um das Skelett des Hauses, und zeigt noch weitere Zeichen der Zerstörung. Der Dachstuhl hängt in Einzelstreben herunter, Plastikfolie hat sich darin verfangen. Zurück auf der Straße finden sich am Wegesrand fein säuberlich angehäufte, schwarze, zum Bersten gefüllte Müllsäcke, dann, ordentlich aufgestapelt, Klimaanlagen. Die Kamera folgt weiter der Straße, die vielen Gebäude oder das, was von ihnen übrig geblieben ist, lässt sie links und rechts hinter sich. Immer wieder wird sichtbar, wie sich die Pflanzenwelt ihren Weg zurück durch den Asphalt bahnt. Streifen saftigen Grüns säumen den Straßenrand. Eine blecherne Frauenstimme teilt in japanischer Sprache etwas mit, das sich wie eine Durchsage von Sicherheits- oder Ordnungsorganen anhört. Wie durch ein Megaphon künstlich verstärkt wirkt die Stimme ruhig, aber dennoch eindringlich. Der Sinn ihrer Aussagen eröffnet sich auch ohne ein sprachliches Verstehen. Von diesem Ort sollte man sich fernhalten. Ihre Worte hallen und erfüllen die Leerstellen jedes Winkels dieser Gegend. Die Stimme verdeutlicht in ihrer Präsenz die eigentliche Abwesenheit des Menschen. Das monotone gräuliche Licht des Himmels und das Grau des

605 |  Pierre Huyghe: ‚Untitled (Human Mask)‘, 2014, Film, Farbe, Ton, 19 Minuten.

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urbanen Raumes unterstützen ein Gefühl von Unbehagen. Das, was formal gesehen eben noch der Durchblick durch das Fenster des Hauses war, ist nach einem Schnitt zu der gläsernen Fensterscheibe am Ende eines Korridors geworden. Düster liegt er vor dem Betrachter, durchbrochenvon dem cyanfarbenen Zwielicht eines Fensters. Die Szenerie verdunkelt sich jäh; der Betrachter wird mit einer Gestalt konfrontiert, die sich unmittelbar vor ihm zu befinden scheint und von welcher lediglich der Hinterkopf und das braune, lange Haar sichtbar sind. Aus einigen Sekunden fast völliger Dunkelheit und Schwärze schälen sich Partien eines Gesichtes heraus. In der bildnerischen Anmutung erscheint Huyghes Adaption des Chiaroscuro, der intensiven Helldunkelkontras­ tierung, in seiner cyanfarbenen Tonigkeit als ein Komplement zu den rötlichen Lichteffekten frühbarocker Gemälde und damit als die Antithese sonnenbeschienener Szenerien. In der nächsten Einstellung fährt die Kamera zwischen zwei holzvertäfelten Wänden hinein in einen helleren Raum, in dem mit dem Rücken zum Betrachter die Gestalt sitzt. Ihr überschulterlanges, leicht gewelltes Haar fällt weich über den Rücken herab. Der Betrachter findet sich nun direkt hinter der Gestalt wieder. Die Kamera schwenkt erneut um 45° und offenbart so ein starres Gesicht im Profil, auf dessen glatter porzellanartiger Oberfläche, auf Stirn und Wange, das Licht zweier Fenster Reflexionen erzeugt. Der Unterkiefer scheint leicht nach vorne gerichtet, die farblosen Lippen sind wie die eines versonnenen Kindes leicht geschürzt. Die Nase, zierlich und eher zurückhaltend als markant, erstreckt sich lang und in völliger Symmetrie über das Gesicht. Die dunklen Augenhöhlen zeichnen die Ästhetik asiatischer Augenformen nach. (Abb. 19) Die Kamera und damit der Betrachter rücken ein Stück weit von der Gestalt ab und legen damit die Sicht auf die Bekleidung frei. Ein dunkelblaues, fast schwarzes Oberteil mit weißen umgekrempelten Kurzärmeln erinnert an die Schuluniform von japanischen Mädchen. Ein nächstes Bild zeigt ausschnitthaft Beine und einen Arm der Gestalt. Dabei stützt sich eine über und über mit Haaren bedeckte Hand auf der grellweißen Keramik eines Waschbeckens ab. Auch die Beine – es ist nun festzustellen, dass die Gestalt ein Kleid trägt, welches bis zu den Knien reicht – sind behaart. Dabei fällt auf, dass das Haar heller und glatter scheint, als das Haupthaar. Die Gestalt bewegt sich, greift nochmals nach dem glatten Untergrund des Beckens, streckt dabei für einen kurzen Moment die Finger ab und gibt zu erkennen, was die befremdliche Gestalt bereits angekündigt hat. Es handelt sich um ein tierliches Wesen.

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Ein weiteres Bild verwandelt die Züge des Gesichtes in die einer Maske. Während „[d]ie Bedeutung, die wir der Wahrnehmung des Gesichts beimessen, […] wesentlich darauf [beruht], dass es im Alltagsumgang als besonderer K not enpunkt zwischen dem Anderen und der umgebenden Welt erscheint: am Gesicht versuchen wir etwas über den Zustand des Anderen und sein momentanes Verhältnis zur Welt und zu uns selbst abzulesen“606,

kann die Starre einer Maske zur Evokation des Schocks und damit eines Bruchs werden. „Gegenüber einer vorrangig auf die gegenständliche Welt gerichteten Aufmerksamkeit kommt mit dem Schock auch eine problematische Art des Selbstbezugs in den Blick. Er impliziert den Einschlag eines Übermächtigen, das Körper und Denken belegt, wobei die Starre des Ausdrucks nicht zuletzt die Kluft verdeutlicht, die sich zur umgebenen Welt aufgetan hat. Der in dieser Weise Überwältigte ist von inneren Vorgängen absorbiert. Das Besondere seiner Verbindung zur Welt besteht in einer Desituierung – er wird von ihr kaum mehr erreicht und er greift auch nicht mehr auf sie aus, er ist abwesend und fällt aus dem täglichen Weltbezug heraus.“607

Auf der glatten porzellanartigen Oberfläche der Maske scheint sich die gegebene Situation zu spiegeln. Sie hat sich in der Larve eingeschrieben. Der Betrachter hingegen kann sich in ihrer starren Erscheinung nicht erkennen. Ihre Verstellung greift nicht auf die Welt zurück, sondern wird zu einem Emblem der Abwesenheit. Dann, zum ersten Mal, ist das kleine Wesen in Gänze sitzend neben dem Waschbecken zu sehen. Bizarr mutet der durch die hellweiße Maske und die Perücke übergroß wirkende Kopf an, der auf einem kleinen zierlichen Körper thront. Mit seiner linken Hand greift das Geschöpf nach dem Haar. Es sondert Haar für Haar aus einer Strähne heraus, fährt mit seinen Fingern daran entlang, betrachtet es. In diese Geste versunken wirkt es geistesabwesend. Das Haar ist nicht das eigene. Das Wesen öff-

606 |  Reinhard Olschanski: Maske und Person. Zur Wirklichkeit des Darstellens und Verhüllens, Göttingen 2001, S. 14. 607 |  Ebd., S. 39f.

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net in einer schlagartig veränderten Einstellung mit einem Ruck lautstark einen Handtuchwärmer, entnimmt etwas und läuft auf bizarr anmutende Weise in ein anderes Zimmer, legt das in Folie gewickelte ‚hot towel‘ auf einen Holztisch und verharrt. Die Kamera zeigt das Wesen auf blickend, suchend, fährt dann hinter es und dokumentiert seinen Blick hinaus aus dem Fenster des Raumes. Begleitet wird diese Situation durch das erneute phonetische Erscheinen der Frauenstimme – eine Erscheinung, die das Geschöpf unruhig aufhorchen lässt. Das nächste Bild, eines der Schlüsselbilder des Films, zeigt über mehr als sieben Sekunden hinweg eine japanische Landschaftsdarstellung608, die mittig durch einen Balken entzweit scheint. Berge, Bäume und Wasser, die von Nebel umgeben sind, zeigen das, was in Japan unter dem Begriff ‚Nihon sankei‘ die Bedeutung der drei schönsten Landschaften zusammenfasst. Die japanische Malerei und Poesie wurde von drei Landschaftstypen geprägt und zeigt noch heute ihre Hauptmerkmale: Das Wasser für ‚Ōnuma‘, einen See im Osten der Halbinsel Ōshima, Bäume für den Kiefernwald ‚Miho no Matsubara‘ auf der Halbinsel Miho und Berge und Hügel für die bergige Landschaft ‚Yabakei‘ um Nakatsu.609 Die Aussage ist deshalb von großer Bedeutung, da in ihr auf die unberührte Natur als hohes Gut hingewiesen wird, ihre Anmut aber bereits durch den Balken, der die Darstellung visuell entzweit, zerstört wird. Es folgt eine Nahaufnahme des maskierten Wesens, das allmählich als Affe erkennbar wird, der das Kinn leicht emporgestreckt und nachdenklich in die Ferne zu blicken scheint. Zwei weitere, kurze Sequenzen zeigen den Primaten sitzend in einem der Hinterzimmer des Restaurants. Er streicht über sein künstliches Haar. Dann, der betrachtende Blick entfernt

608 |  „Die Reise ins Bild ist Asiaten vertraut. In ihren vielen wohlbekannten Legenden kommen die Menschen ins Bild hinein oder es kommen umgekehrt die Figuren aus dem Bild heraus. Außerdem ist der Paravent […] ein gutes Beispiel, das zeigt, auf welche Weise das Bild in ihrem Alltag den Raum des Betrachters teilt und charakterisiert.“ Seung-Chol Shin: Vom Simulacrum zum Bildwesen. Ikonoklasmus der virtuellen Kunst, Wien 2012, S. 25. Dass das illusionistische Moment in Huyghes filmischer Darstellung zweigeteilt ist, positioniert den Betrachter in der Realität und so auch den tierlichen Protagonisten der Arbeit. Dieser befindet sich alleingelassen in einer überrealen Welt, die dem hyperrealen Verständnis von Realität gegenübersteht. 609 |  Vgl. Ausst. Kat. Nature in Japanese art: from ‚Sansui‘ to landscape, Nagoya, 5. August bis 3. November 2005, Nagoya 2005.

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sich räumlich von der Figur, ist der Affe immer noch sitzend zu sehen, während er beginnt, sein rechtes Bein auf und ab zu bewegen, so wie es Menschen tun, die auf etwas oder jemanden warten. Daraufhin wechseln sich die Nah- und Ferneinstellungen des Geschöpfes ab. Einige Augenblicke tritt der Betrachter hinter die Gestalt, um das Umfeld mit seinen Augen wahrzunehmen, ohne aber, dass die Figur in Gänze aus dem Blickfeld verschwindet. Unterbrochen wird dieses kontemplative Moment durch eine neue Szenerie, in welcher die Bar des Restaurants fokussiert wird, um dann zu zeigen, dass sich der Affe erneut in den Küchenräumen des Gasthauses befindet. Eine ‚Maneki-neko‘, eine Glückskatze aus Kunststoff, winkt unablässlich im Zeichen des Wohlstandes den Betrachter heran. Ihre Gestalt ist der stummelschwänzigen Rassekatze mit der Bezeichnung ‚Japanese Bobtail‘610 nachempfunden, die am japanischen Kaiserhof mit Beginn der Edo-Zeit (1603–1867) eingeführt worden und „erstmals [erfolgreich] gezüchtet worden war. Katzen mit kupierten Schwänzen waren bereits zuvor als Geschenke des chinesischen Kaisers nach Japan gelangt, am japanischen Hof begann man dann mit der gezielten Zucht einer eigenständigen, stummelschwänzigen Katzenrasse. Hintergrund waren sowohl in China wie auch in Japan die kaiserlichen Seidenspinner-Plantagen, die regelmäßig von Nagetieren und Vögeln heimgesucht wurden und denen die Raupen in Massen zum Opfer fielen. Für die Seidenindustrie waren die entsprechenden wirtschaftlichen wie materiellen Verluste ein Fiasko. Zwar gab es domestizierte Katzen, die sich besonders der Nager annahmen, aber ihre langen Ruten zerstörten die kostbaren Gespinste der Seidenspinner. Deshalb hatte man bereits in China begonnen, Katzen die Schwänze zu kupieren. In Japan schließlich gelang die erste gezielte Selektion von stummelschwänzigen Katzen.“611

610 |  „Einer japanischen Legende zufolge entstand die Rasse durch einen Unfall: Eine Tempel­k atze fing eines Nachts im Schlaf mit ihrer Rute Feuer, rannte durch die Stadt und steckte so unzählige Häuser in Brand. Daraufhin soll der Kaiser angeordnet haben, dass allen Katzen die Schwänze kupiert werden müssten, damit sich ein solches Unglück nicht wiederhole.“ Deutscher Edelkatzenzüchter-Verband e. V. (Hrsg.), http://www.dekzv.de/japanesebobtail.html (letzter Zugriff: 30.10.2017). 611 |  Ebd.

Das Tier als Physis

Für Pierre Huyghe scheint sie ein Sinnbild der monotonen, seelenlosen Mechanik des Tieres bei Descartes zu sein und steht in diesem Sinne im Gegensatz zu dem zu der winkenden Katze auf blickenden Affen. Im Anschluss an dieses Bild wiederholt sich die szenische Abfolge: Zuerst wird ein aus einem Kühlschrank entnommener Gegenstand gezeigt, dann das lange stille Sitzen des Affen an einer großen Holztafel. Die nachfolgenden Bilder erzeugen einen Bruch, da es scheint, als seien der Blick des Betrachters und der Kamera nicht länger synchron. Wie mittels einer Überwachungskamera sieht man den Makak zügig durch die Küche laufen, um dann in den deutlich helleren Raum zu gelangen, in dessen Richtung er zuvor seinen Blick ausgerichtet hatte. Hier befindet sich vor einem großen, von bemaltem, aber durchlässigen Stoff verhangenen Fenster ein Bukett künstlicher Blumen. Rosafarbene, rote und weiße große Blüten sind mit goldenen Federn hinter einer Folie zu einer Komposition zusammengebunden. Eine rote Schleife schmückt das Ensemble. Der Affe nimmt daneben Platz, wippt einige lange Sekunden mit seinem rechten Fuß und beginnt an dem mit deckenhohen Baumdarstellungen verzierten Wandbehang, der sich in dem ganzen Raum befindet, zu nesteln. Die Gestalt, die der Betrachter bis zur folgenden Einstellung nur in diffusem Licht von hinten sehen konnte, befindet sich nun vor dem Fenster. Erst jetzt wird erkennbar, dass der bemalte Stoff vor dem Durchlass die gleiche Baummotivik aufweist wie der Wandschmuck. Der Affe berührt die Cellophanumwicklung des Blumenpräsentes, bevor er sich eingehend mit der Textur seiner haarigen Hände zu befassen scheint. (Abb. 20) Es folgt ein langsames Taxieren des Körpers des Makaken von dem ihm fremden Gesicht über die ihm fremde Kleidung bis zu seinen behaarten Armen, Beinen und Füßen, die als restliche Körpersegmente nicht recht zu der Aufmachung passen wollen. Dem Blick des Tieres folgt der suchende Fokus der Kamera, die als nächstes sekundenlang die Bäume und das Dickicht des gemalten Waldes abfährt, bevor sie an den immer nervöser wirkenden Affen heranzoomt, der mit angezogenen Beinen in einem Armlehnstuhl neben dem Blumenarrangement hockt. Ein lautes Geräusch – der Affe stellt in der nächsten Szene eine Glasflasche auf den großen Holztisch – lässt den Betrachter aus den sonst sehr ruhigen filmischen Bildern und der zurückhaltenden Tonspur aufschrecken. Auf dieses Hochfahren hin entfalten sich erneut viele Sekunden andauernde filmische Momente der Ruhe, auf die wiederum minutenlange verdunkelte Sequenzen folgen, in denen der Affe nur sehr langsam einige we-

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nige Bewegungen im Halbdunkel ausführt, ohne dass für den Betrachter erkennbar wird, in welchem Raum er sich zu diesem Zeitpunkt befindet. Erst dann erhellt sich das Bild, der Makak bewegt sich zurück in das Hinterzimmer, in welchem er einen Spiegel vorfindet, den er in der Folge berührt und abtastet, sich aber entgegen der Annahme, er würde sich darin wiedererkennen, seiner selbst nicht bewusst zu werden scheint. Pierre Huyghe deutet mit dieser Szene auf die Frage nach dem Spiegelstadium hin. Jacques Lacan leitet aus dem Erkennen des Selbst in einem Spiegel ab, dass sich der Mensch erst im Spiegel seiner Abgrenzung zur übrigen Welt bewusst werden kann. War der Mensch zuvor noch in einer Symbiose mit seiner Außenwelt verhaftet, so konstituiert sich die psychische Komponente der Ich-Wahrnehmung kraft des im Spiegel manifestierten Selbstbildes.612 Das Spiegelbild, welches Lacan als imaginäres Bild der unbegreiflich bleibenden Realität gegenüberstellt, birgt den Augenblick der Ich-Wahrnehmung als physische und psychische Einheit. Dieses Erkennen des Selbst bei menschlichen Kleinkindern bezeichnet der Psychoanalytiker als Spiegelstadium. In dessen sinngemäßer Adaption legt Pierre Huyghe damit gleich zwei kontrahierende Rezeptionsansätze in seinem filmischen Werk an: zum einen das Spiegelstadium als Ausdruck menschlicher Überlegenheit gegenüber dem tierlichen Individuum; die meisten Tiere können sich selbst in ihrem Spiegelbild nicht erkennen. Auf dem im Bild des Spiegels entdeckten Vollständigkeitsempfinden beruhen die menschlichen narzisstischen Größen- und Allmachtsfantasien. Zum anderen verweist der Künstler auf das Vermögen der Makakenaffen, sich ihrer selbst im Spiegelbild bewusst werden zu können. Während nichtmenschliche Tiere mit Ausnahme von einigen Menschenaffen, Krähen­vögeln und Delfinen ihr Spiegelbild ignorieren oder aber einen Gegner darin vermuten, auf den sie mit Aggression reagieren, wurde das Spiegel­stadium vor einigen Jahren auch bei Rhesusaffen nachgewiesen. Die Wissenschaftler Abigail Z. Rajala, Katharine R. Reininger, Kimberly M. Lancaster und Luis C. Populin von der University Wisconsin-Madison publizierten im Jahr

612 |  Vgl. Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, in: Dorothee, Kimmich (Hrsg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, vollständig überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe, Stuttgart 2008.

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2010 ihren auf elektrophysiologische Auswertungen von Gehirnimplantaten gründenden Nachweis der Selbstwahrnehmung einer Makakenart613. Für Pierre Huyghes Filmsequenz bedeutet dies, der Makak müsste über die Fähigkeit der Selbstwahrnehmung kraft des Spiegelbildes verfügen, erkennt sich offensichtlich aber in diesem nicht wieder, sondern im Gegenteil, wirkt abwesend und entrückt. Die menschenähnliche Maskerade steht damit einem Entfremdungsfilter gleich zwischen dem Makak-Ich und dessen Selbstwahrnehmung und schiebt das Menschen-Andere als das Imaginäre, demgemäß die Existenzweise des Subjektes, die auf dem Blick beruht, mittels des Abbildes vor das Affen-Selbst. Die überproportionierte stilisierte Menschenmaske verdeckt die Sicht auf das tierlich Individuelle. Der Affe, der sich wieder vom Spiegel weg bewegt hat, befindet sich nicht länger allein in dem Raum. Das Gefüge wird durch eine graugestreifte Katze erweitert, die dem Affen zu Füßen sitzt, ohne das einer der beiden Notiz vom jeweils Anderen zu nehmen scheint. Die Bewegung des wiederholten Wippens des Fußes des Makaken überträgt sich, den physischen Auswirkungen eines Deprivationssyndroms ähnlich, auf den gesamten

613 |  „Self-recognition in front of a mirror is used as an indicator of self-awareness. Along with humans, some chimpanzees and orangutans have been shown to be self-aware using the mark test. Monkeys are conspicuously absent from this list because they fail the mark test and show persistent signs of social responses to mirrors despite prolonged exposure, which has been interpreted as evidence of a cognitive divide between hominoids and other species. In stark contrast with those reports, the rhesus monkeys in this study, who had been prepared for electrophysiological recordings with a head implant, showed consistent selfdirected behaviors in front of the mirror and showed social responses that subsided quickly during the first experimental session. The self-directed behaviors, which were performed in front of the mirror and did not take place in its absence, included extensive observation of the implant and genital areas that cannot be observed directly without a mirror. We hypothesize that the head implant, a most salient mark, prompted the monkeys to overcome gaze aversion inhibition or lack of interest in order to look and examine themselves in front of the mirror. The results of this study demonstrate that rhesus monkeys do recognize themselves in the mirror and, therefore, have some form of self-awareness.“ Abigail Z. Rajala/Katharine R. Reininger/Kimberly M. Lancaster/Luis C. Populin: Rhesus Monkeys (Macaca mulatta) Do Recognize Themselves in the Mirror: Implications for the Evolution of Self-Recognition, in: Plos One (2010), auch online unter: http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/ journal.pone.0012865 (letzter Zugriff: 30.10.2017).

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Körper des Tieres und spiegelt sich darüber hinaus in den dunkel glänzenden Augen der künstlichen Glückskatze. In dieser Ansicht scheint das Winken des Plastetiers mit dem Wippen des Affenbeines zu verschmelzen. Damit nähert sich die lebendige Bewegung der mechanischen Abfolge an. Die lebende Katze verharrt fast regungslos und steht der Glückskatze als natürliches Vorbild gegenüber. Der Makak hüpft einige Male auf dem Sisaluntergund auf und ab, um sich daraufhin in kindlicher Manier im Kreis zu drehen, bis ihn der Schwindel zu Boden wirft. Einige Sekunden einer ruhigen Kameraeinstellung auf den Rücken des Affen folgen, in denen er scheinbar auf eine Fotografie blickt, die einige asiatische Menschen zeigt. Der Affe folgt der Katze in die Küchenräume. Es schließen sich wenige ungewohnt kurze Bilder des Affen in der Küche und auch in den weiteren Räumen an, immerzu ist er in schneller Bewegung und vermeintlich auf der Suche. Er läuft mit seinen haarigen nackten Füßen über die abgenutzten Fliesen und den Ausguss des Küchenbodens. Die nächste Nahaufnahme, begleitet von dem Geräusch eines monotonen Wassertropfens, zeigt einen Wasserhahn. Das austretende Wasser tropft auf eine in das Waschbecken gelegte Klarsichtfolie. Sehr langsam offenbart das filmische Bild den Inhalt der Folie: weiß-gelbliche Maden tummeln sich darin. Die Made, der man früher die Beweiskraft der steten Urzeugung von Organismen attestierte, steht ebenso als meist aasfressender Parasit für die Vanitas und damit Endlichkeit des Lebens. Der Makak sitzt alsbald auf dem Boden der Küche. Sein Blick, das Wasser tropft in immer kürzeren Intervallen, fällt auf einen Insektenvernichter. Sein grünlich-blaues Licht offenbart einige tote Falter, Fliegen und Mücken, die ihm zum Opfer gefallen sind. Welches Insekt sich auch aus den Maden entpuppen mag, es ist kraft des elektrischen Insektenvernichters dem Tode geweiht. Was dann weitgehend tonlos anhebt, sind dunkle Bilder, die sich nur schwerlich als das Abbild des naturgegebenen Habitats614 des Japanmakaken deuten lassen. Die nächste Einstellung zeigt eine Kakerlake, die über die Kacheln des Küchenbodens läuft. Diese Vorratsschädlinge leben in vergleichsweise großen sozialen Gefügen, wodurch ihr sogenannter Befall meist invasiv ist. Schaben werden allgemein auch als Kulturfolger be-

614 |  Vgl. Ausst. Kat. Ape Culture. Kultur der Affen, herausgegeben von Anselm Franke/ Hila Peleg, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 30. April bis 6. Juli 2015, Leipzig 2015, S. 84.

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nannt. Dies bedeutet, dass Tiere dem Menschen bis in ihre Behausungen folgen und dort ihr Habitat begründen. Das Vorkommen der Schabe stellt sich daher als Sinnbild einer Mensch-Tier-Beziehung heraus, die auf anthropogenen Veränderungen fußt. Es schließt eine Abfolge sehr dunkler Bilder an, die das Umherirren des Makaken im Innenraum dokumentiert. Diese Sequenz scheint aus bereits gezeigten Szenen zusammengeschnitten worden zu sein. Der Affe schmeißt die Flasche, die er zuvor lautstark auf den Holztisch gestellt hat, ebenso geräuschvoll um, bevor die Maske des Affen zum ersten Mal frontal und formatfüllend in den Bildmittelpunkt rückt. Auf ihrer weißen Oberfläche perlen Regentropfen ab. Die nächsten Szenen sind von einem erneuten Umherlaufen des Makaken geprägt, wobei er immer häufiger den Kopf in den Nacken legt und damit hinaufzuschauen scheint. Dann sieht man ihn sitzend vor einem schwarzen Möbelstück nach oben sehend. Der Film schließt mit den Nahaufnahmen der oberen Maskenhälfte, hinter welcher eindringlich und flackernd die dunklen Augen des Japanmakaken hindurchblicken. Diese Schlussszenen zeigen endlich das, was der Betrachter neunzehn Minuten lang auszumachen versucht: das lebendige Individuum hinter der Maskerade. Die Tatsache, dass der Betrachter sich in den fast schwarzen Augen des Affen zu spiegeln glaubt, knüpft subtil an die Spiegelszene des Films an und greift die Frage nach der menschlichen Überpräsenz auf. Pierre Huyghe adaptiert mit ‚Untitled (Human Mask)‘ eine reale Begebenheit: In der nahe Tokyo gelegenen Stadt Utsunomiya hat der Restaurantbesitzer der Kayabukiya Tavern die zwei Japanmakaken Yat-chan und Fuku-chan auf das Bedienen der Gäste dressiert. Die beiden Affen tragen Kleidungsstücke, die wie in Huyghes Film an Schuluniformen junger Mädchen oder Kellnerinnenbekleidung denken lassen, während sie warme Tücher zur Erfrischung oder Getränke an die Tische bringen und dafür mit Soyabohnen und Nüssen belohnt werden. Sie tragen eine Maske, die verzerrte menschliche Züge aufweist, wobei die Wangenknochen stark betont sind, die Lippen und Augen stark geschminkt bzw. bemalt erscheinen. Mit einem derart bizarr vorbestimmten Lächeln gehen die beiden Makaken – ihr Geschlecht bleibt ungewiss – täglich zwei Stunden ihrer Arbeit nach. Diese vorgeschriebene Beschäftigungszeit ist über Kommunalbehörden geregelt und soll eine tiergerechte Limitierung der Tätigkeit implizieren. Der Besitzer der Sakewirtschaft exponiert die Vorschrift der Obrigkeit als Aushang in dem Gastraum seines Hauses.

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Im Jahr 2012 wurde erstmals ein vierminütiges Video mit dem Titel ‚Fukuchan Monkey in wig, mask, works Restaurant!‘615 auf Youtube veröffentlicht, das einen der Affen während seiner Tätigkeit zeigt. Das Stimmengewirr der japanischen Gäste – im Hintergrund ist der Makak in seiner Verkleidung, der Maske und Perücke, zu beobachten – ist tonal vordergründig. Der Affe holt ein warmes Tuch aus einem Aufheizgerät heraus, läuft über einen Kachelboden hinüber in den Gastraum, um das Erfrischungstuch auszuhändigen. Die Gäste lachen laut, eine Person klatscht in die Hände, um sie daraufhin nach dem Affen auszustrecken. Nachdem der Affe das Tuch übergeben hat, brechen die Gäste, die an einer großen Tafel zusammensitzen, in Beifall aus. Die ruckartigen Bewegungen des Affen stehen im Gegensatz zu dem eingefrorenen Mienenspiel. Wie der Affe auf die Geräusche und Gesten der Menschen reagiert, ist nicht festzustellen. Die soziale Fähigkeit des Makaken, mittels seiner vielen Gesichtsmuskeln komplexen mimischen Expressionen Ausdruck verleihen zu können, wird diesem Individuum abgesprochen, indem sie hinter einer starren Maske verschwinden. Seine Emotionen bleiben im Verborgenen. Die vielen Menschen reden auf den Makak ein, versuchen ihn anzufassen. Dann, man kann anhand seiner Körperbewegung sein Erschrecken feststellen, dokumentieren mehrere Blitzlichter das Foto­grafiertwerden des Affen. Er setzt sich abseits der Menschengruppe auf den Rand des Waschbeckens und verharrt, nur um danach das nächste warme Erfrischungstuch auszugeben. Im Jahr 2013 sind es bereits drei Affen, die mit ihren Kunststücken die Gäste der Sakewirtschaft unterhalten, wie ein weiteres Video616 zeigt. Pierre Huyghes Adaption ‚Untitled (Human Mask)‘ – erstmalig in der Ausstellung ‚In. Border. Deep‘ im Jahr 2014 in der Hauser & Wirth Gallery in London gezeigt – wurde in der Kayabukiya Tavern gefilmt. Der aufmerksame Betrachter erkennt den gekachelten Untergrund, die bemalten Wände und Vorhänge, das Wasch­becken und viele weitere Details wieder und auch der Japanmakak scheint derselbe zu sein, wobei es schwerfällt, diesen Umstand als signifikant zu werten, da hinter der Maske jeder Makak dem Anderen ähneln würde. Das Individuum – das ist augenscheinlich – bleibt austauschbar. Huyghe inszeniert mit ‚Untitled

615 |  Doug Maet: Fukuchan Monkey in wig, mask, works Restaurant! https://www.youtube.com/watch?v=zS7QkjIKOxk (letzter Zugriff: 30.10.2017). 616 |  Choudenman: Kayabuki Tavern, Japan (Monkey Izakaya) https://www.youtube.com/watch?v=CcPDEtSRYXA (letzter Zugriff: 30.10.2017).

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(Human Mask)‘ die menschliche Überpräsenz, die sich in dem Bild von der Hündin ‚Human‘ zwar ankündigt, aber durch eine mögliche Begegnung mit dem Individuum gebrochen wird. Mit seinem Film über den Makak, der eine seelenlose Maskierung erfährt, verbildlicht der Künstler das Unvermögen des Menschen, die Emotionen des Tieres ablesen und verstehen zu können. Die eigentliche Empfindung und Befindlichkeit des nichtmenschlichen Tieres bleibt für den Menschen trotz einer gemeinsamen Zeitlichkeit und eines gemeinsam erlebten Raumes enigmatisch. Das Sujet der Maske oder Larve erfährt in ‚Untitled (Human Mask)‘ eine besondere Sinnhaftigkeit, die in anderen Arbeiten des Künstlers bereits anklingt. Dass der Makak eine sogenannte ‚neutrale Maske‘ trägt, ist beachtenswert, da „deren Gebrauch in besonderer Weise in das Verhältnis Körper – Gesicht – Expression eingreift“617. Der Künstler hat die gipserne Maske für den Primaten in Anlehnung an Jacques Lecoqs neutrale Masken geschaffen, die der Schauspieler und Theaterpädgoge „im Versuch der Annäherung an ein ‚reines‘ menschliches Gesicht entwickelt hat“618, und die „[a]ller besonderen Ausdrücke entkleidet […] auf eine Art Nullpunkt im Koordinatensystem der Gesichtsexpression“619 verweist. Eine solche reine Maske stellt keinen Bezug zwischen Innen und Außen des Individuums her und neutralisiert eine mögliche Emotionalität zwischen den Individuen. Die ‚neutrale Maske‘ des Makaken verdeutlicht sowohl die Dichotomie zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tieren – eine wechselseitige Kommentierung von Mimik entfällt, es entsteht eine Leerstelle – als auch eine Analogie, indem sich der Mensch in das Erscheinungsbild des Tieres einschreibt; die Maske zeigt ein ‚rein‘ menschliches Antlitz. Der Künstler hat damit über die Annäherung an das Naturalistische hinaus eine Maske erschaffen, die das Prototypische der ‚Ko-omote‘, der sogenannten ‚kleinen Maske‘ des japanischen Nō-Theaters, in einem doppelten Sinne negiert. Die ‚Ko-omote‘ symbolisiert die Schönheit und Infantilität einer sehr jungen Frau und kann durch die Bewegung und Ausrichtung des Schauspielers eine ganze Reihe Emotionen transportieren. Des Weiteren ist diese Maske der Ausgangspunkt für viele weitere der etwa 250 Maskentypen des Nō-Theaters. Während aus der ‚Ko-omote‘ viele weitere Masken gestaltet wurden und diese so Quell diverser Darstellungsweisen

617 |  Olschanski: Maske und Person, S. 105. 618 |  Ebd. 619 |  Ebd.

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wurde, scheint die Maske in Huyghes ‚Untitled (Human Mask)‘ den Nullpunkt aller Emotion zu visualisieren. Der Makak bleibt zurück als uneigenständiges Lebewesen in einer menschenleeren Umwelt. Huyghe verortet die Szenen in eine der kontaminierten Gegenden nach der nuklearen Katastrophe in Fukushima und zeigt dabei die bizarre Spur menschlicher Handlungsweisen, die das Letzte zu sein scheint, das in Huyghes Szenario von den Menschen übrig geblieben ist. Der Makak ist sinnbildlich gefangen hinter einer Maskerade der Wirkungslosigkeit, „Tun und Leiden erscheinen als Geschehensmomente, die sich äußerlich [an dem Körper] vollziehen.“620 Überdies verhilft die ‚neutrale Maske‘ dem Werk zu einer weiteren Aussage. Der kommentarlose Gesichtsausdruck entzieht sich nicht bloß dem Ausdruck, „[e]r zeigt auch nicht lediglich Ruhe im Unterschied zu Bewegung an, die Differenz ist bestimmter. In seiner Ruhe ist er anders, als die Bewegtheit der Szene es erheischt.. Er stimmt mit dieser nicht überein, wo diese Übereinstimmung fordert, er drückt sie nicht aus, wo sie ihn als Ausdruck herbeizitiert, er widersteht der Forderung mitzuspielen.“621

Indem sich der Mensch entgegen des Filmtitels nicht in einer menschlichen Maske widerspiegelt, sondern vielmehr ein Moment der Irritation erzeugt wird, gelingt es Huyghe, Distanz und Nähe und damit die ‚anthropozentrische Grenze‘ und ihren Übertritt in seinem filmischen Werk zu vereinen. Er stellt eine neue Einheit der Situation und den Moment des Übergangs zur Dispostion, was sich in der Wahl der Maske verdeutlicht: „Die neutrale Maske und das neutrale Gesicht verweisen auf eine neue Einheit der Situation, die deren besondere Gehalte überschreitet. Sie sind Öffnung und Entdichtung, in das Geschehen eingelassen stehen sie für den Moment des Übergangs, für die Einkehr in der Bewegtheit, für ein Ansichhalten und die Möglichkeit eines Neuanfangs.“622

620 |  Ebd., S. 112. 621 |  Ebd. 622 |  Ebd., S. 114.

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Abbildung 14 Pierre Huyghe: Zoodram 4 (after ‚Sleeping Muse‘ by Constantin Brâncuși), 2011 Aquarium, lebendes marines Ökosystem, Einsiedlerkrebs im Kopf der schlafen­d en Muse (Modell der Brâncuși Arbeit), rotes Lavagestein, Spinnenkrabben 134,6 × 99,1 × 76,2 cm, Detail

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Abbildung 15 Pierre Huyghe: Plan for Untilled, 2011-12 Zeichnung auf Papier, 21 × 29,7 cm

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Abbildung 16 Pierre Huyghe: Untilled, 2011-12 Alive entities and inanimate things, made and not made Human

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Abbildung 17 Pierre Huyghe: Untilled, 2011-12 Alive entities and inanimate things, made and not made

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Abbildung 18 Pierre Huyghe: Untilled, 2011-12 Alive entities and inanimate things, made and not made Liegender Frauenakt: Betonguss, Bienenstock (Dimensionen variabel), Wachs 145 × 45 × 75 cm (Figur), 145 × 55 × 30 cm (Sockel)

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Abbildung 19 Pierre Huyghe: Untitled (Human Mask), 2014 Film (2:66), Farbe, Ton, Laufzeit 19 min. Standfoto

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Abbildung 20 Pierre Huyghe: Untitled (Human Mask), 2014 Film (2:66), Farbe, Ton, Laufzeit 19 min. Standfoto

4 Das Tier als Kreatur der Absenz 4.1 C  andida Höfers ‚Zoologische Gärten‘ — Architekturen der Belanglosigkeit Vor einem kulissenhaften weiten, weißen Halbrund, welches die Bildober­ fläche dominiert, ergeben langgezogene Stiegen eine Treppenstruktur hinab in den unteren linken Bildraum. Diese endet an einem tonfarben gekachelten Untergrund, welcher sich nur einige Zentimeter von einem blauen Bassin abhebt. Das ovale Becken – seine weiße Begrenzung wird zu dem äußeren rechten Bildrand hin höher – fällt mittig ab. In der so entstandenen Senke ist nur wenig Wasser verblieben, welches in Bewe­ gung geraten zu sein scheint. Ob es der Wind war, der das Wasser in schwingende Kreise versetzt hat, oder ob das Wasser gerade abgelassen wird, ist nicht zu erkennen. Im Zentrum des Wasserbeckens ragt eine blau gefärbte Pylone hinauf. Auf ihr trohnt eine metallene Spitze, die auf eine Fontänenfunktion schließen lässt. Der Springbrunnen aber ist nicht in Gebrauch. Im Vordergrund verlaufen zwei sich überschneidende wei­ ße Trassen. Eine dieser beiden Wegesführungen dehnt sich geschwungen vom linken mittleren Bildrand über die Bildmitte hin zum unteren lin­ ken Bilddrittel, in welchem seine Form hinter dem Bildrand verschwindet. Die zweite organisch wirkende Trasse kreuzt Erstere im Bildmittelpunkt optisch gleich zweifach und mündet in eine Plattform am oberen Ende der Treppe. Im rechten oberen Bildteil befindet sich eine Art Öffnung in dem weißen Baukörper, durch die der Betrachter gewissermaßen einen Blick hinter die Kulisse werfen kann. Im Hintergrund befindet sich ein Grün, Baumwerk und ein Weg. Das Dahinter des architektonischen Kulis­ senbaus wird ebenso ausschnitthaft am oberen Bildrand sichtbar, wo es schemenhaft den Blick auf steinerne Gebäude freigibt. Unter dem grü­ nen Bildausschnitt am rechten Bildrand befindet sich ein Durchgang; die einzig sichtbar räumliche Verbindung zwischen zoologischer Bühne und Außenwelt. Eine kleine, wohl einstmals ebenfalls tonrote Treppe gewährt dem Menschen Zutritt zu dem künstlichen Habitat. Oberhalb dieser Trep­ pe wird die bereits erwähnte Plattform durch eine Glasscheibe begrenzt. Hinter dieser symbolträchtigen, durchsichtigen Grenze stehen zwei Pin­ guine. Weitere Vertreter ihrer Art stehen auf den Trassen, andere werden von den Scharten unterhalb der weißen Wand, die an eine Kinoleinwand erinnern mag, fast in Gänze verdeckt. In der sonst kargen Betonlandschaft

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scheint dies der einzige Rückzug vor den Blicken der Betrachter zu sein. Insgesamt wirkt die Materialität des Geheges des Londoner Zoos – von der Künstlerin Candida Höfer als einer von drei C-Prints des Pinguinbeckens ihrer Werkreihe ‚Zoologische Gärten‘ mit dem Titel ‚Zoologischer Garten London‘623 versehen – eher trist. Die Einflüsse des Wetters, der Abnutzung und Materialalterung sind deutlich in den abgeplatzten oder beriebenen Farbaufträgen erkennbar, Spuren von Rost und Algen säumen den Be­ ckenrand. Und obschon der Londoner Zoo, 1828 als Sammlung von Tieren für wissenschaftliche Studien eröffnet, als erster den Titel ‚Zoologischer Garten‘ trug und der Besuch zu Beginn den Mitgliedern der Zoologischen Gesellschaft vorbehalten war, sucht man vergeblich nach Imitation natür­ licher Habitate. Im sogenannten ‚Penguin pool‘ erinnern lediglich die Far­ ben noch an das weiße Inlandeis und das helle Blau des Horizontes der Antarktika. Dies ist bedeutungsschwer, beherbergt der Londoner Zoo doch Humboldt- und Rockhopperpinguine624, die wohl einen anderen Lebens­ raum bevorzugen würden. Höfer arbeitet stets mit dem vorhandenen Lichteinfall. In ihrer künst­ lerischen Auseinandersetzung untersucht sie Raumsituationen und deren anthropozentrische Zweckbestimmung, ohne jedoch Menschen abzubil­ den. Die Künstlerin inszeniert die Fotografien der Tiergehege mit den tierlichen Bewohnern so, als seien diese Teil ihres synthetischen Umrau­ mes625. Die Tiere werden dabei zu Synonymen von Anschauungsobjekten,

623 |  Candida Höfer: ‚Zoologischer Garten London‘, 1992, C-Print, 23 cm × 34,5 cm, DZ Bank Kunstsammlung, Frankfurt am Main. 624 |  Mittlerweile stellt der Londoner Zoo seine Pinguine in einem Strandgehege, dem sogenannten ‚Penguin beach‘, zur Schau, das sich den ästhetischen Merkmalen des natürlichen Lebensraumes der Pinguine in seiner Imitation annähert. 625 |  Die Illusion von Freiheit und eines natürlichen Habitats mittels artifizieller Zooarchitektur gründet auf dem Versuch des Stellinger Tierparks um 1905, den Besuchern einen besseren und eingängigeren Zugang zu den ‚wilden‘ Tieren zu ermöglichen: „The animals’ apparent freedom at Stellingen was attractive to visitors, who found themselves in an imaginary realm that simulated, and stimulated, the illusion of their own escape. The scenography of illusionistic zoos rests implicitly on the belief that civilized human beings can rediscover a life of freedom through contact with the wild. From being a passiv captive behind bars, the animal, on Stellingen’s fake rocks, came to play the part oft he wild creature it no longer really was, developing an illusory freedom that would be modified, and justified, later.“ Eric Baratay/Ellisabeth Hardouin-Fugier: Zoo: A History of Zoological Gardens in the West, London 2004, S. 237.

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deren Platz in Höfers Fotografien von der Eremitage über das Musée du Louvre bis zur Villa Borghese Skulpturen, Vasen und Bilder einnehmen. In diesem Sinne stehen auch die Fotografien der zoologischen Gärten in der Tradition ihrer Darstellung von Ausstellungsräumen. Des Weiteren eint die unzweifelhafte menschliche Präsenz ihre Fotografien, die sich of­ fenbart, wenngleich keine Menschen abgebildet werden626. Während viele ihrer Fotografien Dokumente von Orten der Begegnung sind, scheint sich dies in den ‚Zoologischen Gärten‘ umzukehren. Der Blick des Betrachters auf das Ausstellungsstück Tier wird durch die architektonische Anord­ nung vorgegeben, ihm wird das Ausstellungstier gegebenenfalls vorge­ führt627 oder aber seinem Blickfeld entzogen. Obgleich die Künstlerin keine Arrangements vornimmt und auch nicht situativ eingreift – weder Beleuchtungsquellen zum Einsatz bringt noch geringste Änderungen an den Räumen vornimmt, die sie fotografiert –, ist doch der entschiedene Ausschnitt, die gewählte Tagessituation, wel­ che das Licht und einen möglichen jahreszeitlichen Eindruck bestimmt, und die Wahl der seriellen Bildreihung Ausdruck des Auratischen in Hö­ fers Fotografien. Die Reihe ‚Zoologische Gärten‘ unterscheidet sich signifi­ kant von anderen räumlichen Untersuchungen der Künstlerin, in denen es scheint, als sei die Imagination menschlicher Abwesenheit vordergründig, mit ihr aber auch das Eliminieren von Spuren menschlicher Präsenz und den Trümmern ihrer Historie: „If you look at Candida Höfer’s silent photographs for long enough – this is not frivolous – you can imagine a world without people. They were there just a moment ago, planning things and putting them in order, expertly, prudently, with imagination. Then they got rid of the finger­ prints, footprints and anything else disturbing, cast a last critical eye over the arrangement of the things that showed they had been there, and disappeared, never to be seen again. […] The person looking at Candida

626 |  „Möglich, daß die öffentlichen Räume menschenleer photographiert werden müssen, da es unerträglich wäre, Menschen ihnen in gleicher Weise angepaßt zu sehen wie Tiere dem Zoo“. Ulrich Loock: Zoologische Gärten. Landschaft als Interieur, in: Ausst. Kat. Candida Höfer: Zoologische Gärten; Photographien, herausgegeben von der Hamburger Kunsthalle/ Kunsthalle Bern, Hamburger Kunsthalle, 2. April bis 31. Mai 1993/Kunsthalle Bern, 3. Juli bis 15. August 1993, München 1993, S. 73–76, hier S. 76. 627 |  Die Fütterungszeiten prangen an der Glasscheibe der Plattform des ‚Penguin pool‘.

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Höfer’s photographs is, if our suspicion is right, the last survivor, who – carefully and in amazement – takes in the inventory of what previous generations have placed in the world, with their great sense of formal composition and a confusing (and futile) love of truth in order to lend the once ‚natural‘ frugal physiognomy of the globe a unique appearance. The observer thus sees the world purged of all dirt, cleansed of all suffering and misfortune – and of all history.“628

Die ‚Zoologischen Gärten‘ folgen dabei anderen Prinzipien; die abgebilde­ ten Räume sind nicht Ausdruck menschlichen Obdachs, Refugiums oder bloßer Baukunst, sondern knüpfen an eine historische Verquickung zwi­ schen Tieren und menschlichen Architekturen an: „Von den ersten Anfängen an und ausgehend von den Hütten der Acker­ bauern der frühen Gesellschaften, diente Architektur insgeheim dazu, menschliches und tierliche Leben zu regeln. Sie diente dazu, die Räume von Tieren zu begrenzen, das Leben von Tieren zu beherrschen, die an­ thropozentrischen Werte einer dominierenden Spezies zu festigen und diese in die gesamte Welt zu verbreiten.“629

In diesen Begrenzungen des tierlichen Lebens – obgleich die tierlichen Individuen bei Höfer belanglos, als Ausdruck nebensächlichen Schmuck­ werks einer architektonischen Szenerie dienen – offenbart sich in dieser raumgreifenden Skulptur menschlicher Dominanz die ‚anthropozentri­ sche Grenze‘. Höfers Architekturfotografien zeigen theatrale Kulissen ar­ tifizieller Präsenz, die nicht wie ihre anderen Fotografien von Schmutz, Leiden und Unglück befreit zu sein scheinen und doch in ihrer Belang­ losigkeit das Tier als Ausstattung des Raumes verstehen. Damit knüpfen die Tiere in den ‚Zoologischen Gärten‘ an die Staffage in der Malerei an, in der vermeintlich belebende Elemente vor allem Größenverhältnisse und Raumtiefe verdeutlichten und das Einfügen der Staffage häufig durch den Nachtrag eines zweiten Malers erfolgte. Candida Höfer reduziert ihre Zoo­

628 | Michael Krüger: On Candida Höfer’s Photographs, in: Candida Höfer. A Monograph, London 2003, S. 5–7, hier S. 5. 629 | Edward M. Dodington: Architektur, in: Ferrari/Petrus: Lexikon der Mensch-TierBeziehung (2015), S. 41–45, hier S. 41.

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architekturen bewusst auf das Zeichenhafte, welches John Berger gleicher­ maßen als Resultat und Extrakt der Nebensächlichkeit denotiert: „Ganz gleich, wie man diese Tiere ansieht, selbst wenn das Tier direkt am Gitter steht und weniger als einen halben Meter von einem entfernt ist und in Richtung des Publikums blickt, sieht man etwas, das ganz und gar nebensächlich geworden ist; und alle Konzentration, die man auf­ bringt, genügt niemals, um es ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rü­ cken. Warum ist das so? In gewissen Grenzen sind die Tiere frei, aber sie selbst und auch ihre Zuschauer setzen ihre Gefangenschaft als gegeben voraus. Die Sichtbarkeit durch das Glas, der Raum vor und hinter dem Gitter oder der leere Raum über dem Graben sind nicht das, was sie zu sein scheinen – wenn sie es wären, würde sich alles ändern. Sichtbarkeit, Raum und Luft sind also auf bloße Zeichen reduziert. Manchmal nimmt das Dekor, das den zeichenhaften Charakter dieser Elemente akzeptiert, wieder auf sie Bezug, um die reine Illusion zu erzeugen – wie etwa bei den gemalten Prärien oder den blau gestrichenen Felstümpeln im hinte­ ren Teil der Käfige kleiner Tiere. Manchmal werden dadurch nur weitere Zeichen hinzugefügt, um ein wenig an die für das Tier natürliche Land­ schaft zu erinnern – so die toten Äste eines Baumes für Affen, künst­ liche Felsen für Bären, Kiesel und f laches Wasser für Krokodile. Diese zusätzlichen Zeichen dienen zwei verschiedenen Zwecken: für den Zu­ schauer sind sie wie Theaterkulissen; für das Tier stellen sie das äußers­ te Minimum einer Umgebung dar, in der es physisch existieren kann. Die Tiere, die man voneinander isolierte und ohne Kontakt mit anderen Arten ließ, sind völlig von ihren Pf legern abhängig geworden. Folglich haben sich die meisten ihrer Reaktionen geändert. Was im Mittelpunkt ihres Interesses stand, wurde durch ein passives Warten auf eine Reihe willkürlicher Unterbrechungen von außen ersetzt. Die Ereignisse, die sie um sich herum beobachten, sind vom Standpunkt ihrer natürlichen Reaktionen ebenso unwirklich wie die gemalten Prärien. Gleichzei­ tig garantiert gerade diese Isolation (jedenfalls gewöhnlich) ihr langes Leben als Ausstellungsstück und erleichtert ihre Klassifizierung. All dies macht sie zu Randfiguren. Der Raum, in dem sie leben, ist künst­ lich. Daher die Tendenz, sich immer am Rand aufzuhalten. (Möglicher­ weise befindet sich jenseits der Grenzen wirklicher Raum.) In manchen Käfigen ist das Licht ebenfalls künstlich. In allen Fällen jedoch ist die Umgebung unwirklich. Nichts umgibt die Tiere außer ihrer eigenen Le­ thargie oder ihrer Hyperaktivität. Sie haben nichts, auf das sie einwir­

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ken könnten – ausgenommen, ganz kurz, das Fressen, das man ihnen bringt, und gelegentlich einen Artgenossen, den man ihnen zuführt. (Deshalb werden ihre wiederkehrenden Aktivitäten zu nebensächlichen Handlungen ohne Objekt.) Endlich haben ihre Abhängigkeit und ihre Isolation ihre Reaktionen so konditioniert, daß sie jedes Ereignis, das um sie herum stattfindet – gewöhnlich vor ihnen, wo das Publikum ist –, als nebensächlich behandeln. (Aus diesem Grund nehmen sie eine sonst ganz dem Menschen vorbehaltene Haltung an – die Gleichgültigkeit.)“630

Wenngleich sich das stereotype und psychotische Verhalten von Zootie­ ren in Höfers Fotografien in den architektonischen Formen herauszu­ bilden, sich zu materialisieren scheint, grenzen sich ihre Bildaussagen deutlich von solchen fotografischen Werken ab, deren höchstes Ziel die Offen­ legung von Missständen über das Implementieren anthropomor­ pher Sehweisen ist. So mag der Betrachter den Fotografien einer Bettina Flitner631 die Enge, Einsamkeit und Verzweiflung ansehen, welche den Tieren in Gefangenschaft gemein ist, wird diese aber lediglich auf seine menschliche Gefühlswelt übertragen können. Die Anthropomorphisie­ rung ist dabei nichts anderes als eine gedankliche Besitzergreifung des Tieres. Ein gedanklicher Transfer findet nur selten statt. Demzufolge werden Fotografien von Zootieren häufig zu leidvollen Symbolen der Ver­ menschlichung; ein zweiter insistierender Blick fällt dem Betrachter oft schwer. Die Begegnung mit dem Wilden oder besser ursprünglich Anima­ lischen ist zum Scheitern verurteilt: „Der Zoo kann nur enttäuschen. Der öffentliche Zweck eines Zoos be­ steht darin, den Besuchern die Möglichkeit zu geben, Tiere anzusehen. Doch nirgends im Zoo kann ein Fremder dem Blick eines Tieres begeg­ nen. Der Blick des Tieres f lackert höchstens und wendet sich dann ande­ rem zu. Die Tiere blicken aus den Augenwinkeln heraus. Sie sehen blind in die Ferne. Sie suchen alles mechanisch ab. Sie sind Begegnungen gegenüber immunisiert, da nichts mehr im Zentrum ihrer Aufmerk­ samkeit stehen kann. Das ist die letzte Konsequenz ihrer Verdrängung. Dieser Blick zwischen Tier und Mensch, der vielleicht eine wesentliche

630 |  Berger: Das Leben, S. 31f. 631 |  Virginia McKenna/Bill Travers/Jonathan Wray (Hrsg.): Gefangen im Zoo. Tiere hinter Gittern, mit einer Fotoserie von Bettina Flitner, Frankfurt am Main 1993.

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Rolle in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft gespielt hat und mit dem auf jeden Fall alle Menschen noch bis vor weniger als einem Jahrhundert gelebt haben, wurde ausgelöscht. Auch wenn der Zoobe­ sucher jedes einzelne Tier ansieht, ist er, wenn er ohne Begleitung kommt, immer allein.“632

Candida Höfers fotografischer Blick auf die Ästhetik des Zoos zeigt auf, inwieweit der Mensch einem vermeintlich Anderen Raum und damit Präsenz zugesteht. Ihre ‚Zoologischen Gärten‘ werden zu kommensurab­ len Zeichen einer Gesellschaft, die das Fremde ein- bzw. ausgrenzt. So stehen die synthetische Umgebung der Tiere – welche letztlich nicht da­ raus entstanden ist, dem Tier ein besseres Leben in Gefangenschaft zu ermöglichen, sondern dem menschlichen Anspruch an eine vermeintlich authentische Ästhetik, die sich an der Wildnis orientiert, zu genügen – und mit ihr die Gehege, Käfige, Scheiben, Gitter und Gräben für die an­ thropozentrische Grenzziehung zwischen den Spezies; sie werden, mehr noch, zu einem Sinnbild der Grenze selbst. Indem Höfer den Ausschnitt in ihren Fotografien so wählt, dass an den Bildrändern immer wieder auch der Blick auf die hintergründige Architektur von und für Menschen frei­ gegeben wird, verortet sie die Zoogehege in der Idee der Bühne, des Thea­ tralen und der Kulisse. Die reale Welt scheint erst hinter den Gehegen zu beginnen und ist deutlich von dem Bühnenbild getrennt. Worauf das ästhetische Prinzip Zoo auch immer gründen mag, „[d]ie übliche Anlage Zoologischer Gärten stammt weder nur von den Menagerien oder später und anders von den Weltausstellungen her, noch lässt sie sich zureichend als Transformation der Ordnungs- und Darbie­ tungsprinzipien fürstlicher Sammlungen herleiten – so als seien an die Stelle anfangs toter später lebende Exponate getreten, und als habe das das innenräumlich in Schränken Sortierte einer Wunderkammer sich ins außenliegend Kompartimentierte erstreckt. Anregung gab nämlich auch jener ‚Englische Garten‘, der seinerseits bildgebunden war“633 ,

632 |  Berger: Das Leben, S. 35. 633 |  Christian Janecke: Tiere in Kulissen. Über das unweigerlich Bühnenhafte des Zoos, in: Ullrich: Tierstudien. Zoo (2015), S. 144–157, hier S. 147.

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der Zoo ist das Paradigma einer Tieranschauung, die davon ausgeht, dass der menschliche Blick auf das Tier immer der Selbsterkenntnis des genu­ in Humanen geschuldet ist. Dabei sollte doch zur Schau gestellt werden, was sich der Wahrnehmung entzieht, das lebendige Tier, besser, das Le­ ben des Tieres. Tiere zeigen nicht sich selbst634, wie es Christian Janecke herausstellt, sie werden gezeigt, womit es sich um die „Schaustellung des eigentlichen Lebens der Tiere“635 handelt. Dieses eigentliche Leben muss als das Beschränken auf grundlegende Lebensfunktionen gewertet wer­ den, denn die Tiere des Zoos sind allem Anderen bereits beraubt worden. Sie leben ohne ihr Habitat, ihre Lebens- und Artgenossen, Interaktivität und letztlich ihre Individualität. Sie stehen als Repräsentanten ihrer Art, ein Löwe scheint dabei so gut wie der andere. Sabine Nessel stellt in ihren Überlegungen zu einer Medialität der Tiere und der Produktion von Prä­ senz am Beispiel des Zoos fest, dass „[d]ie scheinbare Unmittelbarkeit der Tiere in Zoo und Kino […] auf eine je spezielle Schauanordnung [rückführ­ bar ist], in der sie allerdings nicht aufgeht.“636 Christina Wessely denotiert die Tiere des Zoos darüber hinaus in ihrer Analyse des paradoxen urba­ nen Naturdiskurses als eine „Unmenge künstlicher Tiere, die in sich eine Vielzahl urbaner Träume, Wünsche und Sehnsüchte versammelten“637, und Zoos „mit ihren spezifischen Ästhetiken des Einsperrens, Ankettens und Abschließens“638 als „physische Materialisationen der Furcht und des Unbehagens, die durch die unscharf gewordenen Grenzen zwischen Mensch und Tier ausgelöst wurden“639. Wenngleich eine unscharf gewor­ dene Grenze die Mensch-Tier-Beziehungen in ein „Dazwischen von tief empfundener Nähe zum Tier und bedrohlicher Transgression des Tieri­ schen in das menschliche Universum“640 drängt, erscheinen die räumli­ chen Prinzipien des Zoos als bildgewordene Konkretisierung der Grenze

634 |  Vgl. ebd., S. 144. 635 |  Ebd. 636 |  Sabine Nessel: Medialität der Tiere. Zur Produktion von Präsenz am Beispiel von Zoo und Kino, in: Markus Rautzenberg/Andreas Wolfsteiner (Hrsg.): Hide and Seek. Das Spiel von Transparenz und Opazität, München 2010, S. 297–310, hier S. 297. 637 |  Christina Wessely: Künstliche Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne, Berlin 2008, S. 11. 638 |  Ebd., S. 10. 639 |  Ebd. 640 |  Ebd.

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zwischen den Spezies: „Öffentliche Zoos entstanden zu Beginn einer Zeit, die das Verschwinden der Tiere aus dem täglichen Leben erleben sollte. Der Zoo, in den die Leute gehen, um mit den Tieren zusammenzukom­ men, sie zu beobachten, sie zu sehen, ist in der Tat ein Denkmal für die Unmöglichkeit solcher Begegnungen.“641 Wenn Benjamin H. D. Buchloh in seinen Ausführungen zu den Wur­ zeln der künstlerischen Arbeit Candida Höfers die Sozialtypologien eines August Sanders anführt, dann deshalb, um auf „die bewusste Beschrän­ kung der künstlerischen Ambitionen auf den Anschein eines völlig er­ fassbaren Zusammenhangs und dessen ikonischer Darstellungen, ihrer grundlegenden affirmativen Wahrnehmung der Welt ‚so wie sie ist‘“642 hinzuweisen. In diesem Zusammenhang werden auch die Fotografien der ‚Zoologischen Gärten‘ und mit ihnen die Darstellung der Zootiere zu topo­grafischen Vermessungen einer Oberfläche. Höfers Fotografien wei­ sen jeglichen narrativen Charakter von sich, und es erweckt den Eindruck, als trete die Künstlerin selbst vor ihren Objekten zurück. Die fotografischtechnische Umsetzung ist Zeuge eines großen Abstandes zwischen der Künstlerin und ihrer Objektwelt. Eben diese Distanz wird durch das ge­ wählte Format der Fotografien aufgehoben. Die verhältnismäßig kleine Größe der ‚Zoologischen Gärten‘ – die kleinste Abbildung, ‚Zoologischer Garten Duisburg I‘ aus dem Jahr 1991 misst sechzehn mal 24,7 Zentime­ ter, die größten unter ihnen variieren zwischen 27 mal 56,5 Zentimetern, ‚Zoologischer Garten Karlsruhe II‘, und 26 mal 74,3 Zentimetern, ‚Zoolo­ gischer Garten Krefeld I‘–, fordert von dem Betrachter eine nahe, intime Sicht auf die Fotografien und damit auf die Gehege. Eine weitere Fotografie der Serie ‚Zoologische Gärten‘, die eben er­ wähnte kleinste fotografische Arbeit in diesem Kontext, zeigt das ehemali­ ge Eisbärgehege des Duisburger Zoos643. In diesem Außenbereich nimmt, dem weißen Halbrund des Pinguinpools des Londoner Gartens in seiner Sinnbildhaftigkeit ganz ähnlich, eine grobe graue Betonwand mehr als die

641 |  Berger: Das Leben, S. 28. 642 | Benjamin H. D. Buchloh: Candida Höfer. Fotografie und Öffentlichkeit, in: Ausst. Kat. Candida Höfer: Düsseldorf, herausgegeben von Gunda Luyken/Beat Wismer, Stiftung Museum Kunstpalast, 14. September 2013 bis 9. Februar 2014, Düsseldorf 2013, S. 45–55, hier S. 46. 643  |  Candida Höfer: ‚Zoologischer Garten Duisburg I‘, 1991, C-Print, 16 cm × 24,7 cm. Ausst. Kat. Candida Höfer: Zoologische Gärten, S. 29.

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Hälfte des Bildraumes ein und kann ebenfalls als ein Verweis auf das Ku­ lissenhafte in Höfers Bilderwelten gedeutet werden. Signifikant erscheint dabei, dass sie ihre Raumbilder von den Menschen und damit den Schöp­ fern, Gestaltern, Bewohnern der Räume und letztlich dem Lebendigen selbst befreit. Das Desiderat sind Bühnenbilder, Kulissen und Surrogate menschlichen Daseins. Höfers ‚Zoologische Gärten‘ funktionieren an­ ders, sie müssen als artifiziell, synthetisch und anthropozentrisch per se im Zusammenhang des Bühnenbildes gelesen werden. Denn sie sind von Grund auf als solche gestaltet. Ihre Funktion ist vielmehr das Zeigen. Ihr höchster Anspruch ist es nicht, bestmögliche Lebensbedingungen zu er­ schaffen, sondern ihre Bewohner, die längst zu einem Teil des Bühnenbil­ des geworden sind, auszustellen. In diesem Zusammenhang stehen sie in der Tradition des Museums. Und auch wenn Höfer die Ausstellungs­räume menschlicher Kultur und menschlichen Kultes abbildet, sind es Räume, zu denen der Mensch Zugang hat, so wie es ihm möglich ist, diese Räume eigenmächtig zu verlassen. Die Tiere in Höfers Fotografien sind als Teil des theatralen Arrangements zu einem festen Bestandteil in das Bild selbst eingegangen. In dem vorderen Bildraum des Duisburger Eisbärgeheges erwächst eine grafisch anmutende Form stilisierter Eisschollen; aus Beton gearbei­ tet schaffen sie einen Übergang zwischen den geschlossenen Luken in der Betonwand im Hintergrund und dem grünen, brackigen stillen Wasser, welches die Plattform umgibt. Die fotografierte Situation erscheint aus­ weglos. Die beiden Eisbären – sie beleben die Szene keineswegs – haben genau zwei Optionen. Sie können sich auf den artifiziellen Schollen oder im Wasser bewegen, welches in seiner Reinheit so weit von dem klaren eisigen Gewässer polarer Gebiete entfernt scheint wie nur möglich. Die Natur – und das legt die Künstlerin augenscheinlich in ihrer Komposition an – beginnt erst hinter der Kulisse. So steht auch in diesem Bildauf bau die Denaturalisierung im Vordergrund, das Natürliche, hier symbolisiert durch das schmale Band von Baumgrün und Zweigen am oberen Bildrand, tritt in der Bildgestaltung und so auch in der Bildaussage in den Hinter­ grund und befindet sich damit im Außenbereich des Geheges. Das ‚Es ist so gewesen‘ eines Roland Barthes’ ist in diesen fotografi­ schen Bildern ebenso wenig von Bedeutung, wie sein ‚Es wird gewesen sein‘. Es ist unwesentlich, ob die Eisbären dort waren, und noch unwich­ tiger, ob sie noch immer dort sind. Der Betrachter – und darin folgt er der Intention der Künstlerin – nimmt die vorgegebene Situation als gegeben hin. In Fotografien einer Bettina Flitner oder auch weiteren fotografisch-

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kritischen Auseinandersetzungen644 wird das gebrochene Tier bildlich in den Vordergrund gerückt und damit zugleich der anthropomorphe Trans­ fer menschlicher Gefühlswelten hervorgerufen. So mag es einerseits das Unvermögen des Kunsthistorikers sein, der in der Melancholie der einge­ sperrten, angeketteten Tiere und deren deprimierendem Anblick noch im­ mer das Synonym menschlicher Belange sehen mag645, andererseits lässt sich eine Veränderung in aktuellen künstlerischen Positionen erkennen, die sich bewusst gegen die traditionsreiche Darstellung menschlicher Ge­ fühle und Affekte mittels der Abbildung von Tieren wendet. Die Fotografi­ en einer Candida Höfer stehen wie auch weitere in der vorliegenden Arbeit dis­k utierten Werke auf der Schwelle hin zu einer anderen Betrachtung und Abbildung tierlicher Individuen.

4.2 Wesley Meuris’ Rahmungen der Abwesenheit Der belgische Künstler Wesley Meuris nimmt sinnbildlich Konstituenten einer Szene, hier zwei der zuvor beschriebenen Eisschollen, aus ihrer Ab­ bildhaftigkeit heraus und transformiert sie als dreidimensionale Werke in den wahrnehmbaren, den Betrachter umgebenden Raum. ‚Basins‘, so der Titel der raumgreifenden Arbeit, zeigt ein Exzerpt des Aus- und Dar­ stellens selbst. (Abb. 21) Die beiden Segmente der Skulptur bestehen aus Holz, Keramik, einer Beleuchtungseinheit und sind in Teilen mit Wasser gefüllt. Bassins sind gewöhnlich künstliche Wasserbecken, die als streng geometrische Brunnenanlagen in der Gartenkunst das Komplement zu den natürlichen Seen und Gewässern darstellen. Die künstlich angelegten Speicher sind auch im Zusammenhang mit zoologischen Gärten bekannt. Die Notwendigkeit ihrer Pflege und der stetige Austausch des verbrauch­

644 |  So beispielsweise in: William Johnson: Entzauberte Manege. Der grausame Alltag der Tiere in Zirkus und Tierschau, Reinbek bei Hamburg 1994; Panthera Projektgruppe (Hrsg.): Der Zoo. Fotografien von Tieren in Gefangenschaft, Göttingen 1994; McKenna/Travers/Wray (Hrsg.): Gefangen im Zoo. 645 | „Interessant ist die Interpretation, zu der sich Kunsthistoriker angesichts dieser unglücklichen Tiere hinreißen lassen, eine Interpretation, die wie so oft die Belehrung des Betrachters im Auge hat und die Tiere und deren Leiden lediglich als Metaphern für menschliche Torheit benutzt, ohne deren eigene Wirklichkeit, deren eigenes Recht in Erwägung zu ziehen“. Rheinz: Eine tierische Liebe, S. 41.

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ten Wassers bestätigen die Auffassung der Auffangbecken als Antithese zu den sich selbst reinigenden autarken Wassersystemen der Natur. ‚Basins‘ besteht aus zwei weißen, jeweils sechseckigen Formteilen, die sich in ih­ rem geometrischen Auf bau spiegeln. Beide mit Wasser befüllte Segmente integrieren einen Sockel, der wie eine Plattform einige Zentimeter über der Wasseroberfläche emporsteigt und wie die innenliegenden Oberflä­ chen mit kleinen, rechteckigen weißen Kacheln bedeckt ist. Beide Objekte scheinen über dem Boden zu schweben. Das klinische Weiß der hölzernen Konstruktion und das helle Blau des Wassers evozieren den Eindruck ark­ tischen Eises. Zwei schwarze Kabelstränge hinter der Skulptur erinnern an eine versteckte Funktionsfähigkeit wie die einer Fontäne oder eines Brunnens. Der artifizielle Wasserkreislauf imitiert den Kreislauf der Na­ tur. Die Installation oszilliert zwischen zwei Rezeptionsmöglichkeiten hin und her. In ihrer Dichotomie, ihrer Zweigeteiltheit mutet sie einerseits an wie zwei stilisierte, formreduzierte Einheiten einer Eisscholle, deren Prin­ zip das Auseinanderdriften zuvor geschlossener Eisflächen ist. Anderer­ seits fügt der Betrachter die Segmente gedanklich zusammen, überwiegt doch der Eindruck eines Zierbrunnens denkmalwürdiger Gartenanlagen. Meuris arbeitet kraft dieser Bilder das ausdrücklich artifizielle Moment seiner Arbeiten heraus und hebt mittels der entstehenden Leerstelle – die Becken sind, bis auf das Prinzip des Dar- und Ausstellens selbst, weiterer Funktionen beraubt – das Fehlen des eigentlichen Ausstellungsobjektes hervor. Es ist, als hätte man vergessen, das Umfeld, in dem sich die raum­ greifende Skulptur befindet, auszugestalten. Meuris’ Objekte wirken stets entrückt oder aber, als fehle dem ausstellenden Objekt das Exponat. Die Tatsache, dass Meuris seine Skulpturen gedanklich aus dem sie be­ dingenden und sie definierenden Prinzip herauslöst, ja mehr noch, sie von einer tatsächlichen Funktion entbindet, obwohl sie in ihrer Anlage funk­ tionsfähig sind, ist bedeutungsschwer: „His exhibition at La BF15, entitled Expansion, points at the contradiction of spaces designed to fit human ac­ tivity despite being cut off from all external reality by their mechanism.“646 Die grundlegende Funktion der Arbeiten ist es dabei, einzig die funk­ tionale Norm darzustellen. In seinen Ausstellungskonzeptionen ahmen seine Werke etwas nach, ohne damit den Betrachter täuschen oder hinters Licht führen zu wollen. Seine Skulpturen werden zu Insignien des Trans­

646 |  Wesley Meuris, http://www.wesleymeuris.be/work/expansion-la-bf15-lyon-france/ (letzter Zugriff: 30.10.2017).

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naturalen; sie sind nicht Teil der natürlichen Welt und konterkarieren dar­ über hinaus die Gegenwelt des Artifiziellen. Während Huyghe in ‚(Untitled) Human Mask‘ die Sichtbarmachung der Überpräsenz des Menschen generiert und die Hündin ‚Human‘ als ‚konkretes Individuum‘ in das raum- und zeitliche Wahrnehmungsgefü­ ge des Rezipienten transformiert, gibt es einen weiteren künstlerischen Zugang zu der Sichtbarmachung des konkreten Tieres hinter der anthro­ pozentrischen Grenze mittels der Dekonstruktion anthropomorpher Bild­ zuschreibung: Wesley Meuris hat für sein in den Jahren 2005 bis 2007 entstandenes Werk ‚Zoological Classification‘ eine Reihe architektonisch anmutender Installationen geschaffen, die an eine solche Zooästhetik erinnern, die eine klare Grenzziehung zwischen den wahrgenommenen Lebenswelten von menschlichen und nichtmenschlichen Tieren aufrecht­ zuerhalten scheint. Die Arbeit ‚Cage for Galago crassicaudata‘, die Teil des Werkkomplexes ist, stellt eine raumgreifende Käfigskulptur dar. (Abb. 22) Der an eine Vitrine erinnernde architektonische Körper besteht aus zehn in Holz eingelassenen Glassegmenten und ist von dem Betrachter von drei Seiten einsehbar. Die vierte Seite des rechteckigen Gebildes ist holzverklei­ det und geschlossen. Es gibt einen Boden, welcher einige Zentimeter über der Ausstellungsfläche abschließt, ebenfalls holzverkleidet, und ein den Raum nach oben abgrenzendes Element, eine Art Abdeckung bzw. Him­ mel. Der Innenraum ist durch drei Leuchtstoffröhren, die sich im oberen Segment befinden, hell erleuchtet. Das Rückteil des Innenraumes sowie der Boden sind mit kleinen grauen und weißen Mosaikfliesen versehen. In der hinteren Wand ist auf der rechten Hälfte eine ebenfalls geflieste Aus­ sparung zu erkennen, welche eine Klappe oder Durchreiche sein könnte und optisch die einzige Verbindung zum Außenraum darstellt. Der ge­ flieste Boden fällt nach vorne hin ab, in der Senke hat sich Wasser gesam­ melt. So entsteht der Eindruck eines Wasserbassins. (Abb. 23) Der Werk­ stoffaufzählung des Künstlers ist zu entnehmen, dass die Installation auch eine Ventilation inkludiert, welche jedoch für den Betrachter nicht sichtbar ist. Neben den Installationsgefügen von Meuris werden im Ausstellungs­ raum Tafeln angebracht, die den Titel des Werkzyklus aufgreifen; sie ent­ halten Daten und Informationen einer Klassifizierung. Hier definiert die zum Werk gehörende Tafel Größe, Gewicht, Verbreitung, Habitat etc. ei­ nes Halbaffen mit dem lateinischen Namen ‚Galago crassicaudata‘. Sie gibt aber auch Fütterungszeiten, Käfigreinigung, Temperatur, Lichtintensität, Quadratmeterangaben etc. an und steht somit im Kontext des Zoos. Die Installation hingegen bedient sich einer anderen Materials­prache. Die im

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Werk verwandten Werkstoffe rekurrieren auf die Ästhetik von Erholungsund Entspannungsräumen von Menschen, so wie beispielsweise Thermen und Bäder. Einerseits integriert das Objekt zwar die physische Begrenzung und Topologie von Tierkäfigen in zoologischen Anlagen (Abb. 24), anderer­ seits schafft das Werk die Atmosphäre der Entspannung, die der Besucher eines Zoos zu verspüren sucht. Meuris arbeitet nicht mit der derzeit als adäquat empfundenen zooüblichen Imitation von natürlichen Lebensräu­ men, er spielt durch die Wahl des Materials und des Farbklangs mit der Ästhetik von Wellnesseinrichtungen und schafft so eine erste Irritation in der Wahrnehmung des Betrachters. Wie mit der Ambivalenz einer Vitrine – sie zieht die Blicke an, nur um in einem zweiten Schritt den Betrachter aufgrund ihrer Undurchdringlichkeit wieder abzuweisen – spielt Meuris mit der Anziehungskraft seiner Installation, der Ungewissheit und dem bitteren Nachgeschmack, der bleibt, wenn der Betrachter auf die Tatsache verwiesen wird, dass es sich um einen Käfig und damit um einen Ort von Separierung, Freiheitsentzug und Zurschaustellung handelt. Des Weite­ ren steht aber ein gleichermaßen verwirrendes Moment im Vordergrund: Das zur Schau gestellte Subjekt fehlt. In all seinen Käfigen, Vivarien und Gebilden artifizieller Lebensräume ist das Tier absent. Der Künstler kehrt die panoptische Sicht auf das Tier um, der Betrach­ ter wird selbst zum Gefangenen, auf den das Scheinwerferlicht gerichtet ist. Immer, so scheint es, geht es Meuris um die Macht der Imagination, um das Verhältnis von Werk und Betrachter. Imaginiert wird aber nicht nur ein virtueller zoologischer Garten, der Betrachter imaginiert gewisser­ maßen das Gefangensein, das Zur-Schau-gestellt-Werden selbst. Demnach dubliziert sich der Ausstellungsraum. Der Rezipient macht sich ein Bild von dem Zustand, der mit William J. Thomas Mitchell als ‚Eröffnen einer poetischen Welt‘ bezeichnet werden kann: „Ein Bild ist […] ein sehr eigentümliches und paradoxes Geschöpf, kon­ kret und abstrakt zugleich, sowohl ein spezifischer, individueller Gegen­ stand als auch eine symbolische Form, die eine Totalität umfasst. Sich ein Bild von etwas machen, ein Bild von etwas haben oder es festhalten heißt, eine umfassende Sicht auf eine Situation zu erlangen […]. Um schließlich ein vollständiges Bild von Bildern zu erhalten, können wir uns nicht weiterhin mit einem engen Begriff von ihnen zufrieden geben, noch können wir uns einbilden, dass unsere Ergebnisse, gleichgültig wie allgemein oder umfassend sie sein mögen, mehr sein werden als ein Bild

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von Bildern, Objekten und Medien, und zwar so, wie sie einigen von uns zu einem bestimmten Moment erscheinen.“647

Meuris’ ‚Cage for Pelodiscus sinensis‘, ebenfalls aus dem Jahr 2005 – der Titel gibt einmal mehr Aufschluss darüber, dass es sich lediglich um einen Käfig, nicht aber um ein ausgestelltes Tier darin handelt –, ist zunächst ein ähnliches Konstrukt aus Glas, Glasmosaikfliesen, Holz, einer Ventilation und Leuchtmitteln. Wieder ist der vordere Teil verglast, der hintere Teil holzummantelt. Die Installation mit den Maßen 210 mal 125 mal 195 Zen­ timeter ist jedoch anderweitig erfahrbar. Durch acht Beine, die den Auf bau aus Holz und Glas tragen, wiegt die Arbeit visuell leichter, sie wirkt fili­ graner und lässt mit wenigen Schritten, d.  h., von allen Seiten betrach­ ten. Diese Installation ist auch in einem Wohnraum denkbar. (Abb. 25 ) Durch diese Umsetzungsweise erhält der Betrachter einen wesentlich in­ timeren Blick (Abb. 26–27) auf das artifizielle Habitat, vielleicht ertappt er sich selbst dabei, an die Scheiben klopfen zu wollen, so wie Kinder es tun, wenn ein Tier sich nicht so verhält oder zeigt wie erwartet. Noch stärker wird ihm sein eigener Blick als voyeuristisch erscheinen, denn „[j]e mehr der Körper als Gegenstand der Repräsentation aus dem Bild verschwunden ist und je undurchdringlicher die mediale Oberfläche der Zeichen wird, desto mehr wird man auf die Präsenz seines eigenen Körpers und seines eigenen Blickes zurückgeworfen.“648 Der Künstler Wesley Meuris verzich­ tet auf das Abbilden eines Surrogats, er konfrontiert den Rezipienten mit einer Leerstelle und sensibilisiert so zugleich für die Dialektik von Nähe und Distanz. Das Tier ist hier nicht Metapher für einen den Menschen betreffenden Zustand, sondern tritt so weit zurück, dass der Mensch sich unausweichlich auf seine eigene Präsenz und die damit verbundenen grundlegenden Bedürfnisse besinnen muss.649 Eine besondere Qualität seiner Auseinandersetzung verbindet sich mit der Kritik an der Aus- und Zurschaustellung selbst. Durch die Rezepti­ on wird bewusst, dass das Werk selbst unsere Wahrnehmung gestaltet, es nicht ausschließlich Gegenstand der Betrachtung, sondern vielmehr Mit­ tel einer solchen ist.

647 |  Mitchell: Das Leben, S. 15. 648 |  Schulz: Körper sehen, S. 13. 649 |  Vgl. Mona Mönnig: Konstruktionen tierlicher Sichtbarkeit als Phänomen menschlicher Überpräsenz, in: Chimaira: Tiere (2013), S. 241–265.

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Der Umgang mit dem Material rekurriert auf veraltet empfundene Erscheinungsformen von zoologischen Gehegen, in denen nicht einmal der Versuch unternommen wurde, das jeweilige Habitat des Ausstellung­ stieres zu imitieren, sondern die lediglich einen Umraum aus Beton, Ka­ cheln, Gittern und Glasscheiben bilden, welcher leicht zu säubern ist und das Tier von möglichst vielen Perspektiven anschaubar macht. Auf diesen Akt der Entblößung und Zurschaustellung wird der Rezipient von Meuris’ Installationen zurückgeworfen, da ihm letztlich ein Anschauungsobjekt fehlt. Der Käfig selbst und mit ihm das Zeichen der Abwesenheit sind das einzige Anschauungsobjekt, das Meuris dem Betrachter offeriert.

4.3 Bildzerstörerische Gesten Die Frage nach der Begegnung mit dem Tier in Meuris’ Ausstellungsge­ fügen kann nicht materieller Art sein, sondern spielt sich im Wahrneh­ mungsraum ab: „Das Bild ist im Prinzip Simulakrum oder Artefakt. Es ist nämlich die Hervorbringung einer Materialisierung, existiert aber nicht wirklich. Das heißt, es ist virtuell, aber erzeugt körperliche Wahrnehmung und beeinf lusst unsere Realität. Die Ikonizität des Bildes verknüpft sich da­ her immer mit unseren Sinnen. Die Bilderfahrung ist multisensorisch. In einem ikonischen Prozess durchdringt das Bild unseren Körper und verursacht affektive Veränderungen.“650

Meuris’ Tierbilder sind Simulakren, ohne dass ihnen die Hervorbringung einer Materialisierung vorausgegangen wäre. Existent scheinen nur die Rahmungen einer Abwesenheit und „[s]o aktualisieren die Bilder ihren ikonoklastischen Impuls im ikonischen Prozess.“651 Wesley Meuris ex­ trahiert das synthetische Habitat, um darin die bildzerstörerische Geste selbst zu materialisieren, die wiederum den performativen Akt von Vor­ stellungsbildern initiiert. Es sollte dabei nicht unerwähnt bleiben, in wel­ chem Maße Meuris’ installative Umräume mit der Idee der Immersion verwoben scheinen, denn mit den Rahmungen der Abwesenheit eröffnen

650 |  Shin: Vom Simulacrum, S. 14f. 651 |  Ebd., S. 19.

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sich reflexive Räume im Bild selbst. Indem Meuris eine Leerstelle erschafft und damit ein Artefakt oder Simulakrum verdrängt, schafft er einen Platz für die Immersionserfahrung des Rezipienten. Dieser wird in das Werk hineingezogen und kann aus dessen Innerstem heraus erfahren, dass „das Kunstwerk ohne Augentäuschung die Wahrnehmung des Betrachters und die ästhetische Atmosphäre stimulieren [kann]. Es zieht den Betrachter in seinen Kontext hinein, indem es ihn emotional erregt.“652 Während der Immersionsbegriff dem Diskurs über Technologien virtueller Realitäten entstammt, subsumierte Oliver Grau virtuelle Kunstwerke unter dem Be­ griff der Immersion.653 Grau stützt sich dabei auf drei grundlegende, den Immersionsbegriff rechtfertigende Hypothesen: „Erstens: Indem er virtuelle Kunst in der Kunstgeschichte der Illusion und Immersion zuordnet, betont er zu Recht, dass virtuelle Realität sich schließlich auf die Frage nach der Beziehung zwischen Mensch und Bild reduzieren lässt. Zweitens: Virtuelle Realität ist im Grunde immersiv und diese Immersionserfahrung ist in der repräsentativen Funktion des Bildes und dem Präsenzgefühl des Betrachters begründet. Drittens: Die­ se Immersion geht davon aus, dass der Betrachter von dem perfekten Illusionsmedium, das unseren Sinn täuscht, gefangen genommen wird, so dass er je nach bildlicher Logik handelt und fühlt.“654

Während Grau für das illusionistische Bild virtueller Realitäten postuliert, dass „die hohe Qualität der Immersion oder die Präsenz im Bild durch die Maximierung des Realismus erlangt werde“655, kann für die Arbeit von Wesley Meuris, die raumgreifend und skulptural materiell erfahrbar ist, ein Immersionsbegriff eingeführt werden, der den Immersionseffekt für physische Werke erschließt. Im Gegensatz zu der Annahme, Immersion beziehe sich nicht bloß auf einen Geisteszustand, sondern ebenso auf das Eintreten in einen zeitlich determinierten physikalischen Raum und for­ dere die echte Präsenz eines Betrachterkörpers, kann die Arbeit Wesley Meuris’ nicht mit der Einschränkung der Absorption beschrieben werden.

652 |  Ebd., S. 29. 653 |  Vgl. Oliver Grau: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart: visuelle Strategien, Berlin 2001; ders.: Virtual Art: From Illusion to Immersion, Cambridge 2003. 654 |  Ebd., S. 25f. 655 |  Ebd., S. 26.

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In seiner ‚Zoological Classification‘ geht es nicht um das Hineinziehen des Betrachters in eine divergente virtuelle Welt, sondern um die analo­ ge Erfahrung zwischen dem immersiven Bild und der physisch realen Wahrnehmung des materiellen Werkes an sich. Der Wahrnehmung des Betrachters oszilliert zwischen dem ästhetischen Abstand zu der Instal­ lation und der Immersionserfahrung innerhalb des Bildraumes. Meuris gebietet einer auch anthropomorphen Überdeterminierung Einhalt, die Aby Warburg als ‚Pathosformel‘ konstatierte und deren Spannungsverhält­ nis zu dem von Warburg als ‚Nachleben‘ der Bilder postulierten Erfassen zeitlicher Parallelprozesse von Georges Didi-Huberman als „Symptom“ klassifiziert wurde: „Das Symptom bezeichnet jene komplexe schlangenartige Bewegung, jene unauf lösliche Verschlingung, jene Nichtsynthese, die wir bislang aus dem Blickwinkel des Phantoms und des Pathos betrachtet haben. Das Symptom bezeichnet den Kern der Spannungsprozesse, die wir nach Warburg in den Bildern zu begreifen versuchen: den Kern des Körpers und der Zeit. Den Kern der Phantomzeit und des Pathoskörpers an je­ nem Operationsrand der fehlenden Darstellung (wie der Quasi-Unsicht­ barkeit des Windes in Haar und Gewand der Ninfa) und der übermä­ ßigen Darstellung (wie der Quasi-Taktilität des gequälten Fleischs des Laokoon).“656

Meuris verwehrt dem Betrachter durch den ikonoklastischen Gestus der Zerstörung bildgewordener Tiere einerseits die Anthropomorphisierung des tierlichen Körpers; dieser fehlt. Andererseits rückt er den Rezipienten an die Stelle innerhalb des Bildraumes, die als Leerstelle an das fehlende Tier erinnert. In dieser Erinnerung unterminiert Meuris die Absenz par excellence.

4.4 Topoi der Absenz Die künstlerische Haltung Meuris’ ist in einer Weise die Materialisierung bzw. Rahmung einer Verweigerung, welche die Tiere nicht vollziehen kön­

656 |  Georges Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Berlin 2010, S. 302.

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nen. Erinnert sei an Ute Eskildsens Feststellung: „[S]ich der Abbildung zu verweigern ist ihnen nicht vergönnt.“657 Meuris knüpft mit dieser letztlich ästhetischen Verweigerung an eine noch junge Handlungsweise künstle­ rischen Vorenthaltens an: „Seit ihrer Entstehung wird die Kunst von Ritualen der Verweigerung, des Verbergens und des Zerstörens begleitet. In der Vorgeschichte voll­ zogen sich diese Handlungen auf kultischer Grundlage. […] Von einer ‚Ästhetik der Absenz‘ als künstlerischem Konzept läßt sich jedoch erst seit den Anfängen der modernen Kunst […] sprechen.“658

Die Bilderstürmerei hatte stets politisch oder religiös motivierte Vorbe­ halte gegenüber bestimmten Kunstwerken, wohingegen einer ästhetisch hervorgebrachten Absenz eine kunstimmanente Haltung zugrunde liegt. Meuris beschreitet mit ‚Zoological Classification‘ einen schmalen Pfad zwischen einer verweigernden und einer tatsächlich bildzerstörerischen Geste. William J. Thomas Mitchell hat formuliert, was ein ‚Mit-BildernSein‘ aktuell noch immer bedeuten kann: „Moderne urbane Kulturen haben vielleicht nicht viele Heiligen- oder Ikonen-Kulte, aber sie haben eine Fülle von magischen Bildern – von Fetischen, Idolen und Totems aller Art, die sowohl von den Massenme­ dien als auch in diversen Subkulturen ins Leben gerufen werden. Ein vermeintlich obsoleter oder archaischer, an Bilder gebundener Aberglau­ be findet Wege, sich an hochmodernen Orten […] auszubreiten. Darum können noch immer Leute in effigie gehängt werden, darum werfen wir Fotografien unserer Lieben nicht achtlos weg oder zerstören sie, darum […] knien [wir] vor einer Ikone oder entstellen sie.“659

Der Mensch hat das Tier einst zu einer Repräsentation seiner selbst ge­ macht und seine tiefempfundene Nähe zum Tier wie auch die Bedrohung

657 |  Eskildsen: Kein Recht, S. 11. 658 |  Ulrike Lehmann: Ästhetik der Absenz — Ihre Rituale des Verbergens und der Verweigerung. Eine kunstgeschichtliche Betrachtung, in: dies./Peter Weibel (Hrsg.): Ästhetik der Absenz. Bilder zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, München/Berlin 1994, S. 42–73, hier S. 42. 659 |  Mitchell: Bildtheorie, S. 373.

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durch das Tierische in Bildern unschädlich zu machen gesucht. Meuris erleichtert das Tier insofern von dieser Medialisierung, als dass sich sein bildzerstörerischer Akt gegen die Überfrachtung und Fetischisierung des Tieres richtet. Der Künstler verdeckt oder verbirgt dabei nicht, löscht aber auch nicht aus: „Es sind Strategien, die das Bild selbst zum Verschwinden bringen, um es auf eine andere Weise wieder hervorzubringen. […] [E]s handelt sich um Kunstwerke, die die Absenz des Bildes thematisieren, es unsichtbar machen, zerstören und damit die Grenze zwischen einem Noch-nicht und einem Nicht-mehr aufzeigen. Gemeint sind also die Bilder selbst, die abwesend sind“660.

Das Tier ist in der Arbeit von Wesley Meuris absent, aber an seine Stelle tritt keine Fremdpräsenz; das durch das fehlende Tier entstandene Vakuum löst die Immersionserfahrung des Betrachters aus. Dieser begegnet dem Tier in der Erinnerung an das ‚konkrete Tier‘ mitsamt seinen tierlichen wie tierischen Bedürfnissen. Meuris’ Installationen erinnern darin an die radikale Intervention Robert Rauschenbergs, welcher bereits im Jahr 1953 einen Monat lang eine ihm von Willem de Kooning nach anfänglichem Zögern zur Verfügung gestellte Zeichnung ausradierte. Unter dem Titel ‚Erased de Kooning Drawing‘661 und seinem Namen rahmte Rauschenberg die Zeichnung, vielmehr die Spuren der Zeichnung, die von dieser übrig­ geblieben waren, mit einem vergoldeten Rahmen. Dieser ästhetische Akt des Zurücknehmens, „ein Bild durch Ausradierung zum Verschwinden zu bringen, wur­ de zum Auftakt einer neuen künstlerischen Auseinandersetzung in New York nach dem Zweiten Weltkrieg. Rauschenberg notierte: ‚Ich versuchte beides, […] mich von dem Gelernten zu befreien und gleich­ zeitig die Möglichkeiten auszuprobieren, ein monochromes Nicht-Bild herzustellen‘.“662 660 |  Lehmann: Ästhetik der Absenz, S. 42. 661 |  Robert Rauschenberg: ‚Erased de Kooning Drawing‘, 1953, Zeichnung, Tintenspuren und Kreide auf Papier, Schild, vergoldeter Rahmen, 64,1cm × 54 cm (48 cm × 37 cm), Sammlung San Francisco Museum of Modern Art San Francisco Museum of Modern Art (Hrsg.), https://www.sfmoma.org/artwork/98.298 #research-materials (letzter Zugriff: 30.10.2017). 662 | Ebd., S. 51.    

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Dieses Herstellen eines Nichtbildes ist in seiner Bedeutung künstlerischen Werken wie beispielsweise den schwarzen Bildern fern, die Ad Reinhard von 1953 an bis zu seinem Tod als ‚Ultimate Paintings‘ fertigte. In dem ‚Erased de Kooning Drawing‘ materialisiert sich nicht das ‚Ende der Kunst‘. Rauschenberg entleert vielmehr das Bild, um ein wahreres Bild, ein Nicht­ bild oder Nicht-mehr-Bild zu offenbaren. Der Betrachter des ‚Erased de Kooning Drawing‘ wird, so wie er den Spuren de Koonings gefolgt ist, kraft seiner Imagination einen wahren de Kooning erschaffen haben – gewisser­ maßen den ursprünglichsten de Kooning, der als Bild der Vorstellung aus allen anderen Werken des Künstlers hervorgegangen ist bzw. hervorgehen könnte, da in ihm alle Anlagen de Koonings Schaffens in ihrem Nullpunkt angelegt sind; dies beweist der Umkehrschluss. Als das San Francisco Museum of Modern Art 2010 einen Infrarotscan des rauschenbergschen Nichtbildes anfertigte und diesen digital bearbeitete, kamen mehr als nur Spuren der De-Kooning-Zeichnung zum Vorschein.663 Aus der Fläche er­ heben sich in verschiedene Richtungen blickende Figuren. In der Sicht­ barmachung des Bildes liegt hier die eigentlich bildzerstörerische Geste, denn das Nicht-Bild Rauschenbergs ist damit für immer verloren. Es wird überlagert von dieser einen palimpsestartigen Überschreibung, die das Nicht-mehr-Bild endgültig auf ein Bild reduziert.664 Thomas Metscher zitiert Wilhelm von Humboldt, wenn er die Einbil­ dungskraft des Menschen als Vermögen des Subjektes formuliert, welches die Darstellung der Natur erst hervorbringt: „Der Mensch ist Schöpfer seiner selbst, Kunst paradigmatische Selbst­ schöpfung. In diesen Zusammenhang gehört, wenn Wilhelm von Hum­ boldt als ‚vollkommen objektive Definition der Kunst‘ die Bestimmung postuliert, diese sei ‚die Darstellung der Natur durch die Einbildungs­ kraft‘ […] Der Künstler ahmt nicht die Dinge in der Natur, d. h. in der

662 |  Ebd., S. 51. 663 |  Robert Rauschenberg: ‚Erased de Kooning Drawing‘, 1953, Zeichnung, Tintenspuren und Kreide auf Papier, Schild, vergoldeter Rahmen, 64,1cm × 54 cm (48 cm × 37 cm)/Digitaler Infrarotscan von Robert Rauschenbergs ‚Erased de Kooning Drawing‘, Myers, 2010 San Francisco Museum of Modern Art, Website. 664 |  Vgl. Benjamin H. D. Buchloh: Allegorial Procedures: Appropriation and Montage in Contemporary Art, in: Artforum (1983), S. 43–56.

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natura naturata nach, sondern die Handlungen der natura naturans, die Operationen der Physis.“665

Der Betrachter wird durch Meuris’ Installationen aufgefordert, die Dar­ stellung der Natur in einem Sinne hervorzubringen, die an das Seiende, die Physis selbst gebunden scheint. In diesem Sinne sind die Käfige des Künstlers Gebilde; er rahmt mit seinen Käfiginstallationen die Oszillation des Betrachters zwischen Immersion des Bildinneren und Präsenzerfah­ rung des realiter wahrgenommenen Raumes ein. Die Begegnung mit dem ‚konkreten Tier‘ vollzieht sich in dem ästhetischen Prozess der Abwesen­ heit: „Der Ästhetik der Absenz ist ein unauf lösliches dialektisches Prinzip inhärent: Eine ästhetische Äußerung, die Bilder zum ‚Verschwinden‘ bringt, ruft diese, wiederum mit den Mitteln der Kunst, auf anderen Wegen hervor. Es handelt sich daher um einen kunstimmanenten Pro­ zeß, der sich zwischen einem Noch-nicht und Nicht-mehr dialektisch entfaltet. Wir haben es also mit Kunstwerken des ‚Zwischen-Seins‘ zu tun, Kunstwerken zwischen Sein und ‚Schein‘, Anwesenheit und Abwe­ senheit. Sie sind materiell vorhanden, doch zeigen sie sich nicht mehr in ihrer eigentlichen Funktion als zu betrachtende Bilder.“666

Das Bild des ‚konkreten Tieres‘ eröffnet sich dem Betrachter in einem Nachhall des Ursprünglichen, die Differenz zwischen menschlicher Bild­ produktion und Bildwahrnehmung wird aufgehoben, das Konkrete wird aufgedeckt. Die kulturelle Existenz des Tieres wird mittels des Begreifens und Erfahrens der Käfige als Räume des Festhaltens, Ausstellens und Wegsperrens in der greif baren sinnlichen Wahrnehmung des Betrachters zu einer individuell natürlichen Existenz transformiert. „Dies bedeutet für eine Bildtheorie, dass wir die Eigenart von Bildern nicht in der Sichtbarkeit alleine zu suchen haben, sondern in der Verkörperung von sinnlichen Phä­ nomenen in uns und in den Objekten, die wir Bilder nennen.“667 665 |  Thomas Metscher: Widerspiegelung/Spiegel/Abbild, in: Barck et al.: Ästhetische Grundbegriffe (2010), S. 617–669, hier S. 645f. 666 |  Lehmann: Ästhetik der Absenz, S. 60. 667 |  John Michael Krois: Für Bilder braucht man keine Augen: Zur Verkörperungstheorie des Ikonischen, in: ders./Norbert Meuter (Hrsg.): Kulturelle Existenz und Symbolische Form: Philosophische Esays zu Kultur und Medien, Berlin 2006, S. 167–198, hier S. 174.

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Abbildung 21 Wesley Meuris: Basins, 2014 Holz, Mosaik, Motor, Wasser, je 50 × 125 × 135 cm

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Abbildung 22 Wesley Meuris: Cage for Galago Crassicaudata, 2005 Holz, Mosaikfliesen, Glas, Beleuchtungsmittel, Wasser, 220 × 160 × 350 cm

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Abbildung 23

Abbildung 24

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Abbildung 25 Wesley Meuris: Cage for Pelodiscus Sinensis, 2007 Holz, Fliesen, Metall, Wasser, Beleuchtungsmittel, 200 × 120 × 170 cm

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Abbildung 26

Abbildung 27

Zusammenfassung Die zeitgenössische Kunst hält eine umfangreiche Menagerie von Tier­ bildern, Tierdarstellungen, Tierpräparaten und ausgestellten lebenden Tieren bereit. Der Abbildung, Verstümmelung und Vorführung durch den Menschen sind dabei keine Grenzen gesetzt.668 Die in der vorliegen­ den Arbeit fokussierten künstlerischen Positionen haben sich von einer Kunst emanzipiert, die den tierlichen Körper als Synonym menschlicher Befindlichkeit auf bietet. Sie versuchen sich darin, die Dichotomie zwi­ schen nichtmenschlichen und menschlichen Tieren aufzuheben bzw. sie derart hervorzuheben und sichtbar zu machen, dass sie in einer neuar­ tigen Weise diskussionswürdig erscheint. Der wissenschaftliche Diskurs der Tierstudien wird durch diese aktuelle Auseinandersetzung von Künst­ lern wie Jo Longhurst, Yun-Fei Tou, Wim Delvoye, Pierre Huyghe und Wesley Meuris in die bildende Kunst überführt und spiegelt gleicherma­ ßen den Bedarf wissenschaftlich theoretischer und allem voran kunst­ wissenschaftlicher Betrachtung. Dabei ist hervorzuheben, dass sich die vorliegende Auseinandersetzung einem neuen Verständnis vom Tier in ak­ tuellem Kunstschaffen gewidmet hat, bei dem die lebendige Realität669 des Tieres im Sinne einer Kohärenz zu der lebendigen Realität menschlicher Individuen untersucht wird. Die Konzeption dieser Dissertationsschrift

668 |  Der aus Costa Rica stammende Künstler Guillermo Vargas Jiménez, auch unter dem Pseudonym Habacuc bekannt, ließ im Jahr 2007 im Rahmen einer Kunstauktion einen zuvor eingefangenen abgemagerten Straßenhund in der städtischen Galerie Managuas vermeintlich verhungern. Der angebundene Hund fand sich gegenüber einer mit Hundefutter aufgebrachten Schrift an der Wand, die mit ‚Du bist, was du liest‘ zu übersetzen ist. Einen Tag nach Ausstellungsbeginn publizierten die lokalen Medien, der Hund sei tot. Bis heute ist unklar, ob der Hund tatsächlich einen Hungertod in der Galerie erlitten hat. Der Künstler äußerte sich hierzu nicht, sondern machte lediglich auf den mahnenden Charakter der Aktion aufmerksam, schließlich würde es niemanden kümmern, wenn ein Straßenhund verhungert. Erst das Erheben zu einem Kunstwerk mache die Menschen aufmerksam. Später verkündete der Künstler: „Der Hund aus meiner Ausstellung ist heute lebendiger als je zuvor, weil immer noch über ihn gesprochen wird.“ Vgl. hierzu: o. A. [acl]: Künstler lässt Hund verhungern, Spiegel Online, 22. Oktober 2007, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/tierversuch-kuenstlerlaesst-hund-verhungern-a-512799.html (letzter Zugriff: 30.10.2017). 669 |  Vgl. Ullrich: Kunst, S. 210.

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sah zugleich vor, künstlerische Strategien zur Konkretisierung tierlicher Präsenz offenzulegen. Hierbei wurden drei signifikante Strategien künstlerischen Schaffens aufgezeigt, mit denen eine tierliche Sichtbarkeit hinter der anthropozen­ trischen Grenze untersucht und damit das Abbilden und Darstellen von Tieren selbst hinterfragt werden konnte. Zusammenfassend sollen noch einmal diejenigen aufgezeigt werden, die sich als explizit konkretisierend erwiesen haben und an deren Beispiel das Tier in seiner Individualpräsenz herausgearbeitet oder aber eine maßgebliche Überpräsenz des Menschen nachgewiesen werden konnte. Auf der Suche nach dem ‚konkreten Tier‘ wurde indessen eines augenscheinlich: Der Mensch ist in jedem Bild des Tieres bereits präsent, selbst dann, wenn er nicht Teil der Abbildung oder Darstellung ist. Während der erste Teil der vorliegenden Arbeit die konstitutiven Merk­ male anthropozentrischer Bild- und Wahrnehmungspraktiken heraus­ arbeitet und den tierlichen Körper als Topos konnte anhand der Betrachtung des Tieres als Form gezeigt werden, dass das Zuchttier als Anthropofakt eine auf sein Erscheinungsbild red zierte Extension menschlicher Unzu­ länglichkeit ist und die Tierzucht als ästhetische Praxis postuliert werden kann. Mithilfe der künstlerischen Fotografien Jo Longhursts wurde das Einschreiben ästhetischer Selbstbegründung in den Körper nichtmensch­ licher Lebewesen untersucht. Es gelang herauszuarbeiten, dass Longhurst mit ihren Arbeiten an die Tradition der Malerei und Fotografie von Zucht­ tieren zum Zwecke der Dokumentation land­w irtschaftlicher und auch hobbyzüchterischer Genese anknüpft. Entlang des fotografischen Œuvres der Künstlerin konnte das Zitieren von Vorbildern, sowie das Heranziehen von Vorstellungsbildern als ihre künstlerische Strategie herausgearbeitet werden. Darüber hinaus war es möglich, das Benennen tierlicher Individuen als anthropozentrische wie anthropomorphisiernde Handlung auszuzeich­ nen. Zusammenfassend lässt sich das Kunstschaffen Jo Longhursts als künstlerische Strategie der Sichtbarmachung eines Mangels beschreiben. Longhursts fotografisches Tableau ‚Twelve dogs, twelve bitches‘ ist zugleich ein Zuwenden zu und ein Abwenden von den traditionsträchtigen Vorbil­ dern der Tierzucht und deren Zeremoniell. Die Künstlerin adaptiert für ihre Untersuchung entlang des züchterischen Idealbilds tradierte Darstel­ lungsweisen, um diese daraufhin subtil zu unterlaufen. Ihre Fotografien führen dem Betrachter sowohl die Faszination als auch den Irrsinn züch­ terischer Praxis vor Augen. Die Schönheit archetypischer Rassestandards

Zusammenfassung

steht dabei der Überpräsenz menschlicher Wirkmacht gegenüber, die auf unnatürliche Weise das Tier in einem zweifachen Sinn auf das Abbild sei­ ner Körperlichkeit reduziert. Jo Longhurst etabliert ein Porträtverständnis, bei welchem das Hervorbringen eines Selbst oder Anderen von einem performativen Akt der Fremddarstellung abgelöst wurde. Der menschli­ che Ausdruck manifestiert sich in der tierlichen Pose, wobei sich dieser ebenso in das Körperbild des Tieres einschreibt. Damit wird die Mediali­ tät, das Fotografische in seiner in poststrukturalistischen Subjekttheorien an­gelegten Unhintergehbarkeit670 von der Bildproduktion züchterisch-äs­ thetischer Praxis hintergangen. Diese bildproduzierende Verfahrensweise visualisiert synthetische Vorstellungsbilder mittels der Körper der Tiere. Indem Jo Longhurst die Dichotomie zwischen dem Ausdruck natürlicher Präsenz und artifizieller Pose in ihren Fotografien verdeutlicht, hebt sie sinnbildlich den transparenten Schleier an, den Susanne Holschbach als Metapher für die Überlagerung indexikalisch/ikonischer Referentialität durch ikonisch/symbolische Referentialität beschreibt671. Was der Betrach­ ter darunter zu finden vermag, ist jedoch nicht eine Selbstreferentialität des Dargestellten, sondern die Referenz des Darstellenden. In ihren seriell angelegten Porträts ‚I know what you’re thinking‘ ver­ deutlicht Longhurst das gebrochene Glücksversprechen, welches mit der Suche nach dem selbstreferenziellen konkreten Tier einhergeht und bei welchem der Betrachter des Bildes in den Vordergrund der Betrachtung selbst gerückt wird. ‚I know what you’re thinking‘ zeugt von der Unmög­ lichkeit, dem individuellen Tier hinter den stereotypen Vor-Bildern der Rassezucht begegnen zu können. Dass ‚I know what you’re thinking‘ Teil des Werkkomplexes ‚The Refusal‘ und damit ihrer Auseinandersetzung mit der Verweigerung ist, scheint durchaus bedeutsam. Jo Longhurst hin­ terfragt darüber hinaus die Übersexualisierung von Tieren in der Zucht­ praxis wie auch den Umstand der Kastration und Geschlechterlosigkeit von Haustieren. Ihre sublimen Werke eröffnen einen differenzierten Blick auf eine bildnerische Praxis vor der Darstellbarkeit und lösen in dem Be­ trachter ein Unbehagen aus, welches auf die Tatsache zurückzuführen ist,

670 | Erika Linz/Ludwig Jäger: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Medialität und Mentalität. Theoretische und empirische Studien zum Verhältnis von Sprache, Subjektivität und Kognition, München 2004, S. 9–14, hier S. 9. 671 |  Vgl. Susanne Holschbach: Vom Ausdruck zur Pose: Theatralität und Weiblichkeit in der Fotografie des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 35f.

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dass das Bezeichnete, Dargestellte niemals aus dem Bild zurückübersetzt werden kann. Der tierliche Körper ist als ein fremdbesetztes medialisiertes Körperbild in die Welt eingegangen; das Unvermögen eines Rücküberset­ zens in eine entinszenierte individualisierte Daseinsform erinnert an die Unmöglichkeit, hinter den Aufzeichnungen des Duchenne de Boulogne einen Ausdruck natürlicher Eigenschaften und damit tatsächlicher Patho­ gnomik aufzutun. So wie seine Modelle wie formbare Materie hinter ihrer Symptomatik verschwinden, verblassen die Tiere in Jo Longhursts Fotogra­ fien hinter ihrem Ausdruck züchterischer Vorstellungsbilder. Jo Longhursts Hundeporträts sind damit Konstruktionen einer Sicht­ barkeit als Phänomen menschlicher Überpräsenz. Indem sie ihre Fotogra­ fien als Vexierbilder anlegt, gelingt es der Künstlerin, das Bild des Haus­ tieres als Mittler herauszuarbeiten, anhand dessen dem Betrachter seine Überpräsenz kritisch vor Augen geführt werden kann. Longhurst selbst bezeichnet das Haustier als „‚verführerisch andere Spezies“672; das Verfüh­ rerische mag darin liegen, dass sie den menschlichen Blick gleichermaßen anzieht wie abstößt, um den Menschen auf seine Überpräsenz zurückzu­ werfen. Ihr Bildverständnis dient dabei einer besonderen Qualität der Bild­ mächtigkeit. Mit ihren fotografischen Tableaus hat sie das Einzelbild letzt­ lich hinfällig werden lassen und insofern auch dem Betrachter vor Augen geführt, dass das individuelle Tier kaum noch erkennbar scheint. Anhand Pierre Huyghes künstlerischer Strategie der Konkretisierung und der damit einhergehenden Frage nach der tierlichen Physis und An­ wesenheit konnte gezeigt werden, dass ein Lossagen von dem histori­ schen Zitat eines ‚tableau vivants‘ möglich ist, nämlich dann, wenn der Künstler mittels der Eröffnung einer neuen, der als real empfundenen Wirklichkeit übergeordneten Welt das lebende Bild aus der inszenierten Positur der Nachahmung herauslöst. Die einführenden Worte des Kapi­ tels verdeutlichen, was der Arbeit des Künstlers zugrunde liegt. Huyg­ he erschafft eine übergeordnet wahrnehmbare Version der Welt, die aus verschiedenen Dimensionen seines Schaffens erwächst. Die assoziativen Bezüge Huyghes lassen den Kunstschaffenden nur so weit hinter seiner Arbeit zurücktreten, dass diese als autopoietisches System aus sich selbst heraus begründet scheint, der Besucher aber dem Künstler dennoch in das Werk folgen muss. Der Rezipient findet sich auf diese Weise nicht

672 |  Longhurst: Anmerkungen, S. 126.

Zusammenfassung

vor Pierre Huyghes Werk, sondern stets darin enthalten wieder. Huyghe aktiviert die Kunst der Privatmythologie und überlässt dem Betrachter so einen Wahrnehmungsraum, welcher an die poetischen Konstruktionen Panamarenkos und die Installationen Lothar Baumgartens und James Lee Byars denken lässt. Dies gilt auch für Huyghes ‚Untilled‘ aus den Jahren 2011/2012, einem als temporäre Installation angelegten Garten auf der dOCUMENTA (13), welcher dem Rezipienten als eine Art emergentes Sys­ tem eine Welt eröffnete, in deren Disposition das Moment der Begegnung als substanziell figuriert. Dabei erweckte ‚Untilled‘ den Eindruck, um einen wesentlichen Konvergenzpunkt zu kreisen, welcher in der Begegnung mit der Hündin ‚Human‘ angesiedelt schien. Für Huyghe, dessen künstleri­ sche Arbeit häufig in eine Beziehung zu den Werken Joseph Beuys’ ge­ rückt wird, konnte anhand einer Reihe künstlerischer Werke der 1960er und 1970er Jahre nachgewiesen werden, dass er sich von einer traditions­ trächtigen Auseinandersetzung mit dem Tier und dessen Begegnung in effigie emanzipiert hat. Pierre Huyghe arbeitet an einem neuen Animis­ mus, bei welchem die Beseelung der Objekte nicht auf einer Zuschreibung menschlicher Affekte, sondern auf der Zurückbesinnung naturgegebener Präsenz gründet. In diesem Sinne ersetzt Huyghe die Repräsentation durch die Realität: „Denn wie die Produktivität der Kunst, die vom klassi­ schen Repräsentationssystem befreit ist, könnten die Bilder auch dadurch in eine neue Dimension springen, dass sie von dem Selbstverständnis als Simulacrum befreit werden oder umgekehrt dieses vervollständigen.“673 Das komposite Werk ‚Untilled‘ stellt keinen Gegenentwurf zu einer gegebenen Natur dar, sondern arbeitet an und mit einem programmati­ schen Chaos, welches biologisch, organisch, elementar und belebt, den Menschen in sein System einschließend, eine Begegnung zwischen den Spezies ermöglicht. Indem Huyghe die Hündin ‚Human‘ als ein Anthro­ zoofakt in sein Biotop integriert, zwingt er den Rezipienten, sich auf meh­ reren Ebenen mit dem konkreten Tier auseinanderzusetzen, und befreit damit die ästhetischen Tiere aus dem Korsett der Bildhaftigkeit. Anhand der einzelnen Konstituenten in Huyghes ‚Untilled‘ konnte der Nachweis erbracht werden, dass der Künstler den Rezipienten sinnstiftend durch seine Wahrnehmungswelt führt und ihn semiotisch wie hermeneutisch anleitet. So pendelt der Betrachter seines Polylogs zwischen ‚künstlichen

673 |  Shin: Vom Simulacrum, S. 19.

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Paradiesen‘ und authentischer Naturerfahrung und stellt letztlich selbst das die Installation belebende Prinzip dar. Während Pierre Huyghe ein Gedankenkonstrukt so anlegt, dass es den Rezipienten mit sich in eine neue in sich geschlossene Wahrnehmungs­ welt hineinzuziehen vermag, entledigt sich Wesley Meuris der palimpsest­ ähnlichen Strukturen einer Tierdarstellung und Tierbetrachtung, die das Wesentliche zu überdecken scheint, und konstruiert deren Konstituenten nicht neu, sondern verzichtet vollkommen auf sie. In seinen Käfigen, die nahezu in Perfektion an zoologische Architekturen heranreichen, unter­ sucht er das Prinzip der Darstellung selbst. Seine Nichtbilder offenbaren das Vorstellungsbild in seiner ursprünglichen Wirkungsmacht. Im Fokus der Überlegungen stand die Suche nach dem konkreten Tier in der zeitgenössischen Kunst. Die vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, den besonderen ästhetischen, das konkrete Tier her­ ausstellenden Charakter von Werken zu würdigen. Es wäre daher wün­ schenswert, das Tier im Diskurs der Animal-Studies auch künftig nicht ausschließlich hinter einer möglichen tierlichen ‚agency‘ und Produk­ tivität zu suchen, sondern immer auch der Frage nachzugehen, was das Abbilden und Darstellen durch den Menschen für das nichtmenschli­ che Tier be­deuten kann und welche Praktiken und Strategien künstleri­ schen Schaffens es vermögen, das Tier realiter und individuell erfahrbar zu machen. Und vielleicht ist es die künstlerische Auseinandersetzung, gewisser­maßen das Tier-Werden durch Kunst, welche es vollbringt, dem Tier wieder als Tier zu begegnen. Die Betrachtung künstlerischer Ausein­ andersetzung mit dem Tierlichen kann den menschlichen Blick dahinge­ hend schärfen, als dass er sensibilisiert wird für das, was das Vexierbild vor dem Betrachter verbirgt. Darüber hinaus könnte die Annäherung an ein ‚konkret Menschliches‘ künftig von Interesse sein, wenn das Konzept des Posthumanen nicht in der Überwindung der menschlichen Physis, sondern in ihrer Zurückge­ winnung liegt. Die niedergerissene anthropozentrische Grenze, das Den­ ken des konkreten Tieres als vollkommen nichtanthropomorph könnte das nichtmenschliche Tier in jene Exteriorität zurückführen, die Giorgio Agamben „außerhalb des Seins“ verortet: „Das Tier sein lassen, bedeutet also: es außerhalb des Seins lassen. Die Zone der Nicht-Erkenntnis – oder des Verzeihens –, die hier zur Diskus­ sion steht, liegt außerhalb des Erkennens und des Nicht-Erkennens, der Offenbarung und der Verbergung, des Seins und des Nichts. Was hier

Zusammenfassung

außerhalb des Seins gelassen wird, ist deswegen nicht verneint oder be­ seitigt und auch nicht inexistent. Es ist etwas Existierendes, Reales, das jenseits der Differenz zwischen Sein und Seiendes gelangt ist.“674

Während Agamben die Grenze zwischen Mensch und Tier im Men­ schen selbst verortet und erst in der Abkehrung vom Animalischen die Eröffnung der Welt begreift, stellt sich die Frage nach einer Welt, die sich eröffnen würde, wäre der Mensch bereit, den Anthropomorphismus vom Tierlichen abzulösen.

674 |  Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt am Main 2003, S. 100.

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1

Cai Guo-Qiang Head On, 2006 99 lebensgroße Repliken von Wölfen, Glaswand; Wölfe: Gaze, Harz, Fell Dimensionen variabel Installationsansicht Deutsche Guggenheim, Berlin Sammlung Deutsche Bank Courtesy Cai Studio Archives/Sammlung Deutsche Bank Installationsansicht Guggenheim Museum Bilbao, 2009 © FMGB Guggenheim Bilbao Museoa, 2009 Foto: Erika Barahona-Ede

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Abbildung 2

Jo Longhurst Twelve dogs, twelve bitches, 2001/2002 24 C-Prints auf Aluminium je 60,9 × 40,6 cm Courtesy und © Jo Longhurst, 2018

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Abbildung 3

Jo Longhurst Twelve dogs, twelve bitches, 2001/2002 24 C-Prints auf Aluminium je 60,9 × 40,6 cm Detail Courtesy und © Jo Longhurst, 2018

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Das übersehene Tier — Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung

Abbildung 4

Whippethündin Amber von Buchwald, o. D. 155 (DWZB Wh 6774, Int. Champ., Bundessieger 1962, DDR-Sieger 1964, Derby-Sieger 1963, DDR-Rennsieger 1964. Züchter und Besitzer: Hans Nottbrock, Gütersloh) Abgedruckt in: Deutscher Windhundzucht- und Rennverband e.V. (Hrsg.): Zehntausend und 75 Jahre Hetzhunde/Windhunde, Hamburg 1968, S. 194.

Abbildung 5

Whippethündin ‚Jasmin Whipples Ranch‘, o. D. 155 (DWZB Wh 7083, Bundessiegerin 1966, Sieger Linz, Landesrennsieg. Württemberg, Züchter: Joseph Stemmlechner, Österreich, Besitzer: H.-J. Laufer, Ochsenbach) Abgedruckt in: Deutscher Windhundzucht- und Rennverband e.V. (Hrsg.): Zehntausend und 75 Jahre Hetzhunde/Windhunde, Hamburg 1968, S. 192.

Abbildung 6

Wim Delvoye Live tattooed pigs, 2005 Artfarm I, Cheng Jia Tun Beijing, China Courtesy Studio Wim Delvoye © Wim Delvoye, 2018

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Abbildung 7

Wim Delvoye Critical Elegance, 1998 Dimensionen variabel Installationsansicht Museum Dhondt-Dhaenens, Deurle Courtesy Studio Wim Delvoye © Wim Delvoye, 2018

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Abbildung 8

Jo Longhurst I know what you’re thinking, 2002/2003 4 C-Prints auf MDF je 101,6 × 76 cm Courtesy und © Jo Longhurst, 2018

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 9

Yun-Fei Tou Memento mori 2/8, 2011/06/13, 11:44 a.m., 2011 Taiwanese Public Animal Shelter, Time until Euthanized: 40 Minutes C-Print © Yun-Fei Tou, 2018

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Abbildung 10

Yun-Fei Tou Memento mori 6/8, 2011/08/01, 11:38 a.m., 2011 Taiwanese Public Animal Shelter, Time until Euthanized: 29 Minutes C-Print © Yun-Fei Tou, 2018

160

Abbildung 11

Yun-Fei Tou Memento mori 1/8, 2011/10/24, 12:09 p.m., 2011 Taiwanese Public Animal Shelter, Time until Euthanized: 1.9 Hours C-Print © Yun-Fei Tou, 2018

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Abbildung 12

Erik Kessels in almost every picture #9, 2010 Vorgefundene Fotografie aus Privatbesitz Courtesy und © KesselsKramer Publishing, 2018

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Abbildung 13

Erik Kessels in almost every picture #9, 2010 Vorgefundene Fotografie aus Privatbesitz Courtesy und © KesselsKramer Publishing, 2018

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Das übersehene Tier — Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung

Abbildung 14

Pierre Huyghe Zoodram 4 (after ‚Sleeping Muse‘ by Constantin Brâncuși), 2011 Aquarium, lebendes marines Ökosystem, Einsiedlerkrebs im Kopf der schlafenden Muse (Modell der Brâncuși Arbeit), rotes Lavagestein, Spinnenkrabben 134,6 × 99,1 × 76,2 cm Detail Courtesy Pierre Huyghe und Esther Schipper, Berlin © Pierre Huyghe, 2018 Foto: © Guillaume Ziccarelli

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Abbildung 15

Pierre Huyghe Plan for Untilled, 2011-12 Zeichnung auf Papier 21 × 29,7cm Courtesy Pierre Huyghe und Esther Schipper, Berlin © Pierre Huyghe, 2018

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Abbildung 16 Pierre Huyghe Untilled, 2011-12 Alive entities and inanimate things, made and not made Human Courtesy Pierre Huyghe; Marian Goodman Gallery, New York, Paris und Esther Schipper, Berlin © Pierre Huyghe, 2018 Foto: © Pierre Huyghe

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Abbildung 17

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Pierre Huyghe Untilled, 2011-12 Alive entities and inanimate things, made and not made Courtesy Pierre Huyghe; Marian Goodman Gallery, New York, Paris und Esther Schipper, Berlin © Pierre Huyghe, 2018 Foto: © Pierre Huyghe

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 18

Pierre Huyghe Untilled, 2011-12 Alive entities and inanimate things, made and not made Liegender Frauenakt Betonguss, Bienenstock (Dimensionen variabel), Wachs, 145 × 45 × 75 cm (Figur), 145 × 55 × 30 cm (Sockel) Courtesy Pierre Huyghe; Marian Goodman Gallery, New York, Paris und Esther Schipper, Berlin © Pierre Huyghe, 2018 Foto: © Pierre Huyghe

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Abbildung 19

Pierre Huyghe Untitled (Human Mask), 2014 Film (2:66), Farbe, Ton, Laufzeit 19 min. Standfoto Courtesy Pierre Huyghe; Marian Goodman Gallery, New York; Hauser & Wirth, London; Esther Schipper, Berlin und Anna Lena Films, Paris © Pierre Huyghe, 2018 Standfoto: © Pierre Huyghe

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Abbildung 20 Pierre Huyghe Untitled (Human Mask), 2014 Film (2:66), Farbe, Ton, Laufzeit 19 min. Standfoto Courtesy Pierre Huyghe; Marian Goodman Gallery, New York; Hauser & Wirth, London; Esther Schipper, Berlin und Anna Lena Films, Paris © Pierre Huyghe, 2018 Standfoto: © Pierre Huyghe

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Abbildung 21

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Wesley Meuris Basins, 2014 Holz, Mosaik, Motor, Wasser je 50 × 125 × 135 cm Installationsansicht Courtesy Wesley Meuris, Annie Gentils Gallery © Wesley Meuris, 2018

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Das übersehene Tier — Eine kunstwissenschaftliche Betrachtung

Abbildung 22 Wesley Meuris Cage for Galago Crassicaudata, 2005 Holz, Mosaikfliesen, Glas, Beleuchtungsmittel, Wasser 220 × 160 × 350 cm Installationsansicht S.M.A.K. Stedelijk Museum voor Actuele Kunst Gent Courtesy Wesley Meuris, Annie Gentils Gallery © Wesley Meuris, 2018

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Abbildung 23

Wesley Meuris Cage for Galago Crassicaudata, 2005 Holz, Mosaikfliesen, Glas, Beleuchtungsmittel, Wasser 220 × 160 × 350 cm Detail S.M.A.K. Stedelijk Museum voor Actuele Kunst Gent Courtesy Wesley Meuris, Annie Gentils Gallery © Wesley Meuris, 2018

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Abbildung 24 Wesley Meuris Cage for Galago Crassicaudata, 2005 Holz, Mosaikfliesen, Glas, Beleuchtungsmittel, Wasser 220 × 160 × 350 cm Installationsansicht S.M.A.K. Stedelijk Museum voor Actuele Kunst Gent Courtesy Wesley Meuris, Annie Gentils Gallery © Wesley Meuris, 2018

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Abbildung 25

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Wesley Meuris Cage for Pelodiscus Sinensis, 2007 Holz, Fliesen, Metall, Wasser, Beleuchtungsmittel 200 × 120 × 170 cm Installationsansicht Sammlung der Stadt Madrid Courtesy Wesley Meuris, Annie Gentils Gallery © Wesley Meuris, 2018

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 26 Wesley Meuris Cage for Pelodiscus Sinensis, 2007 Holz, Fliesen, Metall, Wasser, Beleuchtungsmittel 200 × 120 × 170 cm Detail Sammlung der Stadt Madrid Courtesy Wesley Meuris, Annie Gentils Gallery © Wesley Meuris, 2018

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Abbildung 27 Wesley Meuris Cage for Pelodiscus Sinensis, 2007 Holz, Fliesen, Metall, Wasser, Beleuchtungsmittel 200 × 120 × 170 cm Detail Sammlung der Stadt Madrid Courtesy Wesley Meuris, Annie Gentils Gallery © Wesley Meuris, 2018

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Dank Mein Dank gilt Prof. Dr. Cordula Meier, meiner Doktormutter, die meine Arbeit nicht nur konstruktiv und kritisch begleitet hat, sondern sich bereits in der Anfangsphase für meine polarisierende Themenwahl begeistern konnte und mich stets ermutigt hat, diese weiterzuverfolgen. Von ihr lernen zu dürfen war für mich ein großes Glück. Bei Prof. Dr. Steffen Siegel, dem Zweitgutachter meiner Arbeit, bedanke ich mich für die bereichernden Denkanstöße und seinen kompetenten Rat in allen Belangen. Ich verdanke beiden darüber hinaus jede erdenkliche, hilfreiche Unterstützung. Christoph Dorsz danke ich für die intensiven Gespräche und die ehrliche Kritik. Seine Kollegialität weiß ich sehr zu schätzen. Ich danke Matthias Gründig für seine prompten Problemlösungen zwischen Tür und Angel, Anne Caplan und Thilo Schwer für das geteilte Leid, Matthias Laschke für seine Rechenkünste und Armin Pelzer für die vielen motivierenden, hilfreichen Gespräche und das jederzeit bereitwillig zur Verfügung gestellte Koffein. Jan Voelkel danke ich für seine Vorstellungskraft, Altan Eskin für das Aufspüren von rarem Bildmaterial und Verena Grotenrath für eine außergewöhnlich magische Zeichnung, die mich bereits seit meinem Studium begleitet. Bettina Püttmann danke ich für ihre Aufmerksamkeit. Meiner lieben Freundin Christiane von Wittgenstein-Höse danke ich für die Lebensfreude voller Flausen und Kapriolen, sie war fortwährend ansteckend. Bianca Oymann gilt mein ganz besonderer Dank dafür, dass unsere Freundschaft auch Dissertationen übersteht. Ich denke, sie weiß, was ich damit sagen möchte. Käthe danke ich für die wundervollen Spaziergänge voller Inspiration. Sie war der Beweggrund für diese Arbeit. Meiner Mutter danke ich für das immer währende Vertrauen in mich, ihre Herzlichkeit und ihr beständiges Interesse an meinen Überlegungen. Für sein Wohlwollen, Mitempfinden und seine Beharrlichkeit danke ich meinem Vater. Ohne meine Eltern wäre diese Arbeit undenkbar gewesen. Den größten Dank schulde ich Max Greve für seine Liebe und das schönste und wundersamste Geschenk, das mir je gemacht wurde.

Kunst- und Bildwissenschaft Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

»Global Art History« Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft 2017, 304 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4061-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4061-2

Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)

Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-3272-3

Heike Engelke

Geschichte wiederholen Strategien des Reenactment in der Gegenwartskunst – Omer Fast, Andrea Geyer und Rod Dickinson 2017, 262 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3922-3 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3922-7

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Kunst- und Bildwissenschaft Burcu Dogramaci, Katja Schneider (Hg.)

»Clear the Air«. Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren Interdisziplinäre Positionen 2017, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3640-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3640-0

Astrit Schmidt-Burkhardt

Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas 2017, 372 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3631-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3631-8

Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.)

Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 2017, 312 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3585-0 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3585-4

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