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German Pages 79 [100] Year 2002
THEODOR LITT
Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis
Mit einer Einleitung herausgegeben von
FRIEDHELM NICOLIN
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 328 Der Nachdruck des Textes erfolgt nach der Ausgabe „Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig“, Philologisch-historische Klasse, 93. Band (1941), 1. Heft. Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.
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Inhalt Einleitung. Von Friedhelm Nicolin . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Theodor Litt Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis I. Die Praxis der geisteswissenschaftlichen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die geisteswissenschaftlichen Induktionen und die allgemeinen Wortbedeutungen . . . . . . . . . . . . . .
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111. Das Apriori der Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . .
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IV. Das Sichselbstwissen des apriorischen Wissens . . . . .
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Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Die Aufnahme des hier edierten Textes von Theodor Litt in die Philosophische Bibliothek hat einen äußeren Anlaß: den 100. Geburtstag seines Verfassersam 27. Dezember 1980. Daß ein solcher Anlaß wahrgenommen wird, setzt allerdings die innere, in der Sache grundende Motivation für eine Einfügung dieser kleinen Schrift in die Sammlung maßgeblicher philosophischer Texte voraus. Dazu seien einige Hinweise gegeben (I), denen wir, um dem Leser den Zugang zu erleichtern, eine übersieht über den gedanklichen Aufbau der Arbeit folgen lassen (11). Weiterhin wird eine Einordnung des Textes in das Littsehe Schrifttum vorgenommen (111) sowie das Nötige über die Edition mitge· teilt (IV). I
Litts Abhandlung ist zuerst 1941 in den Berichten über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig erschienen. Versucht man ihre Stellung im Denken des 20. Jahrhunderts in aller Kürze zu bestimmen, so sind zwei Aspekte zu berücksichtigen, die zunächst sehr unterschiedlich scheinen, die aber in der Denkhaltung Litts gleichermaßen be· griindet sind: 1) Thematisch steht die Abhandlung in der Linie des von Diltheys energischem Einsatz ausgehenden Bemühens, das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften zu explizieren und die "logische Besinnung auf ihre denkerische Leistung" zu richten (vgl. S. 5 ). Der Text selbst und die in den Anmerkungen von Litt beigegebenen Verweisungen auf Schriften von Wilhelm Dilthey, Heinrich Rickert, Richard Hönigswald, Ernst Cassirer, Erich Rothacker machen diese Linie unmittelbar ge-
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genwärtig. Es geht Litt darum, über die bis dahin geführte Diskussion hinaus für den Bereich der geisteswissenschaftlichen Forschung und der in ihr aufzubauenden Erkenntnis das "Allgemeine" näher zu bestimmen und es dabei gegen eine bloße induktive Generalisation wie gegen das Subsumptions-Allgemeine abzugrenzen. Neben der Herausarbeitung dieses geisteswissenschaftlich Allgemeinen ist von Bedeutung die Einbeziehung sprachphilosophischer Einsichten, die Litt der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie verbindlich macht (vgl. S. 11 ). Der heutige Leser wird freilich Argumentation und Ergebnis dieser Schrift nicht aus dem Gesamtwerk Litts isolieren wollen, sondern fortschreiten zur Aneignung seines wissenschaftssystematischen Gesamtkonzepts, seiner philosophischen Anthropologie, seiner Äußerungen zur Geschichtsphilosophie, seiner interpretatorischen Rückgriffe auf Herder, Kant und Hegel, auch seiner Schriften zur Bildungstheorie . 1 Sie alle stehen in Beziehung zu dem in der Abhandlung Dargelegten. Sie haben deren Grundgedanken entweder mit vorbereitet oder ihn aufgenommen und in ihrem jeweiligen Kontext vertieft und bewährt. Von dorther ließe sich dann wieder Anschluß gewinnen an das Gespräch über die Aufgabe der Geisteswissenschaften in unserem Forschungs- und Bildungssystem - ein Gespräch, über das die Akten in den auf Litts Tod (1962) folgenden anderthalb Jahrzehnten schon fast geschlossen schienen, das sich aber heute neu belebt. 2) Litt hat mit seiner Schrift - ungeachtet dessen, was ihr Titel nahelegt - nicht ausschließlich wissenschaftslogische Intentionen verfolgt. Als er die Abhandlung 1941 der Leipziger Akademie vorlegte, war er selbst nach Konflikten mit dem nationalsozialistischen Regime schon mehrere Jahre aus seinem Amt als Universitätilehrer entfernt und in seinen Rede- und Publikationsmöglichkeiten beschränkt. Das hinderte ihn aber nicht an entschiedenen, auch politisch unmißverständlichen Stellungnahmen zur Zeitlage. Hatte er sich schon 1934 in
Vgl. die im Anhang beigefugte Bibliographie. Dort sind auch alle im folgenden zitierten Schriften aufgefiihrt. 1
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einem Aufsatz gegen die Indienstnahme der Geisteswissenschaften durch die nationalsozialistische Ideologie zur \\"ehr gesetzt2, so Yersäumt er es auch in der Akademieabhandlung nicht, den aktuellen Zeitbezug seiner Untersuchung offenzulegen: ohne Umschweife Yerweist er auf die ,·erwerflichen Tendenzen der Epoche, "die dem ,AIIgemein-l\lenschlichen' im Namen des rassisch und völkisch sich Besandemden den Krieg machen" (S. 6) -wobei dialektisch mitzudenken ist, daß dieses völkische Prinzip sich seinerseits zu einem falschen Allgemeinen aufwirft, das alles Individuelle unterdrückt. Mit Recht hat der holländische Pädagoge l\1. J. Langeveld - anläßlich eines in den Niederlanden veranstalteten Neudrucks der Littsehen Abhandlung (Groningen 1959) - gefragt: "\\'er hatte im Deutschland von 1941 den Mut, eine Auffassung öffentlich zu vertreten, die gerade im Allgemeinen das Besondere aufrecht erhält?" 3 Durchmustert man die heutigen politischen Strukturen in der Welt, so wird man Langeveld zustimmen, "daß es auch jetzt noch von höchster Bedeutsamkeit ist, diese Stimme zu vernehmen", die in solcher Eindringlichkeit für eine Verständigung über das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem plädiert und damit eben nicht nur eine "interne Angelegenheit" (S. 7) der wissenschaftlichen Arbeit und der auf sie gerichteten philosophischen Reflexion ansprechen will. II
Die Abhandlung gliedert sich in vier Abschnitte, deren inhaltliche Akzente hier kurz aufgewiesen seien. 1) Der Einleitungsabschnitt exponiert das Problem, wie es sich in der Praxis der geisteswissenschaftlichen Forschung ergibt, deren Aussagen sich einerseits auf besondere Ereignisse, Werke, Personen - andererseits auf allgemeine Sachverhalte Die Stellung der Geisteswissenschaften im nationalsozialistischen Staate. Leipzig o.J. 3 So im Vorwort zu der Neuausgabe (Acta paedagogica Ultrajectina. 16 ). Dort auch das folgende Zitat. 2
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und Zusammenhänge beziehen. Litt schafft der hier entsprin· genden wissenschaftstheoretischen Frage sogleich einen größe· ren Bedeutungshorizont, indem er sie sowohl mit der philoso· phiseben Tradition wie mit dem Zeitgeist in Verbindung bringt: Er verweist einmal darauf, daß in der Relation von Allgemei· nem und Besonderem ein Grundproblem vorliegt, das seit der Antike nicht aufgehört hat, das philosophische Denken zu be· unruhigen, zum anderen apostrophiert er die außerwissenschafdichen Zeitströmungen, die "das Allgemeine in j.eder Ge· stalt" -und so auch die Ausprägungen des Humanum, die sich nicht auf das kanonisierte Rassisch-Besondere einschränken lassen - "vernichten wollen". Den Ausgangspunkt für die Erörterung der wissenschaftslogischen Frage selbst gewinnt Litt durch den Rückbezug auf Dilthey, der die Arbeit der Geisteswissenschaften charakterisiert hatte mithilfe der bekannten These von der "gegenseitigen Abhängigkeit des Historischen und Systematischen", also dem befruchtenden Wechselbezug zwischen dem .,historischen Wissen des Singularen" und den "allgemeinen Wahrheiten". 2) In den Mittelpunkt seiner über Di1they hinausgehenden Untersuchung rückt Litt im zweiten Abschnitt die unüberspringbare Tatsache, daß geisteswissenschaftliche 'Erkenntnisse sprachlich vermittelt sind. Es gehen daher - ganz gleich, ob sie Generelles oder Individuelles zum Gegenstand haben - allgemeine Wortbedeutungen konstitutiv in sie ein. Nicht Dil they, der dem Phänomen des "Ausdrucks" nur auf der Objektseite der Geisteswissenschaften nachgegangen ist, sondern der Neukantianer Rickert war es, der diesen Sachverhalt in seinen Arbeiten zur Logik der historischen Begriffsbildung berücksichtigt hat. Litt hebt ;tber hervor, daß Rickert dem Allgemeinen der Wortbedeutungen für die geisteswissenschaftliche Erkenntnis des Besonderen nur die Rolle eines "Mittels" zumesse, und daß er den logischen Akt, in dem über ein Besonderes geurteilt werde, als "Klassifikation" auffasse. Damit gerät Rickert aus der Sicht Litts wieder ganz in die Nähe Diltheys, der die allgemeinen Aussagen der Geisteswissenschaften auf ein Vorgehen zurückführt, das er selbst als ,;ein der Induktion adäquates Verfahren" bezeichnet. Im folgenden zielt Litt auf den Nachweis,
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daß die allgemeinen \\'ortbedeutungen mit den Kategorien der "Induktion" und "Klassifikation", die weithin als Normalform der Bildung allgemeiner Begriffe gelten, nicht zu fassen sind. In einer sprachphilosophischen Erörterung, die u. a. an Ernst Cassirer anknüpft, macht er Einblicke in die Alltagssprache für die Analyse der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis nutzbar. Er zeigt, daß Sprache notwendig in ihren Ausdrücken über den Bezug auf Einmaliges hinausgeht, trotz dieses ihr inkorporierten Zugs zur Allgemeinheit aber das Konkrete nicht preisgibt, sondern in sich bewahrt. Hier bringt sich auch das Problem der "Definition" in Erinnerung, deren Fehlen oder unzureichende Genauigkeit der geisteswissenschaftlichen Arbeit oft als Mangel vorgeworfen wird. Hatte Rickert die definitorische Zuschärfung der vorwissenschaftliehen Allgemeinbegriffe im Bereich der Historie für entbehrlich gehalten, so würde nach Litt solche exakte Begriffsbestimmung geradezu der hier geforderten Leistung des Allgemeinen widersprechen. Zur Debatte steht nicht größere oder geringere Exaktheit in der Bestimmung des Allgemeinen, sondern "der Gegensatz desjenigen Allgemeinen, welches das Besondere in der Einheit mit sich festhält, und desjenigen Allgemeinen, welches das Besondere als das zu Subsumierende von sich abtrennt" (S. 23 ). 3) In Abschnitt III treibt Litt den Gedankengang weiter, indem er ein spezifisches Erbe des neukantianischen Philosophierens in die Erörterung einbringt: die Geltungsproblematik. Wiederum geht er aus von Diltheys Theorie der historischen Erfahrung, die sich unzureichenderweise auf das Prinzip der induktiven Verallgemeinerung gründet. Litt hebt hervor, daß Dilthey durch seine allzu starke Gegenstandsorientierung gehindert wurde, auf die logische Struktur seiner eigenen Aussagen (etwa über den Zusammenhang von "Erlebnis", "Ausdruck" und "Verstehen") zu reflektieren; so sei er dazu gekommen, jede nicht auf Induktion gestützte Einführung eines Allgemeinen als "konstruktiv" zu verwerfen. Litt holt den versäumten Schritt nach. Er fragt nach dem "Apriori" der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, also nach dem, was nicht wieder erfahrungsmäßig zu begründen ist, was vielmehr der Erfahrung vorausliegt und sie erst ermöglicht; anders ausgedrückt:
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er fragt nach Leistungsformen aufseiten des denkenden Subjekts, die den "Geltungswert von ,Erfahrung'" absichern. Es ist nach Litt für die geisteswissenschaftliche Forschung unerläßlich, diese in ihrem Tun schon immer gemachten Voraussetzungen selber mitzubedenken, und zwar deshalb, weil diese ein wesentliches Moment am Gegenstand ihres Forschens der geistigen Welt- darstellen. Sofern aber die Aufhellung dieser apriorischen Voraussetzungen eine philosophische Aufgabe ist, kann Litt die These aufstellen: Keine empirische Geisteswissenschaft ohne Philosophie !4 4) Eingangs des vierten Abschnitts gibt Litt eine fast tabellarisch angelegte übersieht über den Stufenbau der "auf den Geist bezüglichen Erkenntnis" (S. 45 ). Sie verdient besondere Aufmerksamkeit, da sie nicht nur die Gedankenbewegung der vorliegenden Abhandlung durchsichtig macht, sondern ein Licht auf den reflexiven Ansatz der Littsehen Philosophie im ganzen wirft. Die entscheidende Einsicht an diesem Punkte der Untersuchung besteht für Litt darin, daß die "abermalige Rückwendung" des Gedankens, in der nunmehr nach Funktion und Eigenart der vorangegangenen logischen Durchleuchtung der apriorischen Voraussetzung der Geisteswissenschaften gefragt wird, nicht zu einem "Apriori 2. Grades" hinführt (was den Anfang einer unendlichen Reihe von Voraussetzungsstufen bilden würde). Die Bewegung kommt vielmehr zum Abschluß, insofern es a~f der jetzt erreichten Stufe nur noch darum zu tun ist, daß das apriorische Wissen, das als solches an das empirische Wissen um das Besondere, Konkrete, Individuelle gebunden bleibt, sich "seine eigene Struktur" bewußt macht. Litt verdeutlicht diesen Reflexionsprozeß anschließend noch einmal am Paradigma der Sprache. Auch hier ist es so, daß in der Aufstufung von der Sprache des Lebens bzw. der Anschauung, die die empirischen Geisteswissenschaften reden, zur Sprache der Reflexion bzw. des Begriffs, die sich jene zum Gegenstand macht, eine Selbstunterscheidung vollzogen wird, welche die Identität nicht aufhebt. Ein Satz, der ebenso als analytischer Befund wie als Forderung gelesen werden kann. 4
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5) Damit ist eine Bestimmung des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem gewonnen, die das logische Schema der Induktion und Abstraktion hinter sich läßt und die beiden Momente derart miteinander vermittelt, daß keines von ihnen in seinem Recht geschmälert wird. In einer hieran ansetzenden Schlußbetrachtung (S. 56-68), die es rechtfertigen würde, sie als selbständigen fünften Abschnitt zu deklarieren, fragt Litt gemäß dem in der Einleitung Gesagten über die logische Tragweite der ermittelten Einsichten hinaus. Er überschreitet die G~enzen des Logischen, ja des Theoretischen überhaupt auf die Wirklichkeit des geistigen Lebens und den handelnden Menschen hin. In diesem Zusammenhang erinnert Litt an die positiven Bemühungen der Aufklärung, das Vernünftig-Allgemeine in allen Bereichen der Daseinsgestaltung durchzusetzen. Gerade hier kann er dann auch die unheilvolle Wirkung des Subsumptionsdenkens aufweisen: das in dessen Sinn verstandene Allgemeine, dem die Aufklärung zur Herrschaft verhalf, mußte mit der "Unterdrückung des Besonderen als solchen" enden. Es bezeugt die Unbestechlichkeit von Litts Denken, wenn er ebenso Hegels Begriff des "Allgemeinen" - auf dessen Spuren sich seine Untersuchung erklärtermaßen bewegt - kritisch einschränkt, da ihm unverkennbar im Ausbau des Hegeischen Systems, sozusagen nachträglich, eine einseitige Vorrangstellung zugebilligt wird. Demgegenüber fordert Litt, daß mit der "Diktatur des Allgemeinen" aufgeräumt und die "Wiederherstellung des Besonderen" als unabweisliche Aufgabe gesehen und ernstgenommen werde. Es ist von hohem Reiz, diese Schlußgedanken mit der in der Einleitung formulierten Absage an die inhumane Herrschaft des Besonderen zusammenzuhalten. Dem heutigen Leser wird es sich zudem aufdrängen, die Analysen Litts (ohne deshalb Unterscheidendes zu verwischen) in die Nähe von Gedanken zu rücken, wie sie von Autoren der Kritischen Theorie, zumal von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Darstellung der ,,Dialektik der Aufklärung" (zuerst 194 7), ausgesprochen worden sind. Die ethische Dimension solch kritischer Erkenntnishaltungliegt zutage.
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Die Schrift über "Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis" steht nicht nur zeitlich in der Mitte von Litts literarischer Produktion, sondern sie entfaltet auch ein für sein Denken zentrales Problem. Es erscheint daher angemessen, diese Einführung durch einige Querverweisungen auf andere Werke Litts abzurunden. 5 Den Grund für die Problemstellung legt bereits Litts erstes Buch "Geschichte und Leben" (1918), das die Aufgaben geschiGhtlicher Bildung untersucht und nach Litts eigenem Zeugnis motiviert ist durch das Miterleben der "Katastrophe der europäischen Völkergemeinschaft" im Ersten Weltkrieg. Hier begegnet uns auch die Frage nach der historisches Verstehen begründenden Begriffsbildung. Das Buch ist, wie auch die ihm in der Zielsetzung eng benachbarte erste Auflage des Werkes "Individuum und Gemeinschaft" (1919), in Neubearbeitungen mehrfach umgestaltet worden, nicht zuletzt aufgrund einer durchgreifenden Klärung der wissenschaftlichen Grundauffassungen, die Litt bis etwa zur Mitte der zwanziger Jahre in der Verarbeitung von Motiven der Lebensphilosophie, des Neukantianismus, der Phänomenologie und schließlich der mit einer neuen Aneignung Hegels einhergehenden Entwicklung zum dialektischen Denken vollzog. Einen eigenen Niederschlag• fand! dieses Bemühen in Litts Buch "Erkenntnis und Lebcm•" (1923). Es enthält "Untersuchungen über Gliederung;, Methoden und Beruf der Wissenschaft'•. Diese w.~~:r.dcm, ~~:ntwickelt im Zuge einer hier neu entworfenen Disziplin, nämlich einer die Funktionen des Geistes erforschenden "Strukturlehr.e". Für die begriffliche Bestimmung dieser Funktionen bedient sich Litt dervon Husserl übernommenen "ideierenden Abstraktion", d. i. einer dem "generalisierenden" Verfahren entgegenzusetzenden Abstraktionsweise, die - wie Litt es positiv umschreibt - "durch Analyse Dabei lassen wir die pädagogischen Schriften außer acht, obwohl gerade bei Litt philosophische Grundlagenbesinnung und bildungstheoretische Reflexion stets eng miteinander verschränkt bleiben_ 5
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des Besonderen zu dem Allgemeinen Yordringt, das es im Begriff zu fassen gilt", die also "recht eigentlich im Besonderen das Allgemeine ergreift"- 6 Ebendieses logische Verfahren hält Litt für allein geeignet, die allgemeinen Begriffe und Sätze zu gewinnen, die den Geisteswissenschaften ein tragfähiges Fundament geben. 7 Das Hauptwerk dieser "frühen" Arbeitsperiode Litts, die von ihm später ausschließlich für gültig erklärte dritte Auflage von "Individuum und Gemeinschaft" (192:6), heha:ru:lelt ·die Frage nach dem geisteswissenschaftlich AUgemeinen vornehmlich in der "methodischen Einleitung" und in dem Kapitel über "Ich und Weltanschauung"8 ; zu bemerken ist, daß hier der phänomenologischen Vorgehensweise schon deutlich eine dialektische verbunden wird. Die kleine, aber wichtige Schrift "Wissenschaft, Bildung, Weltanschauung" (1928), die sehr stark auf die zeitgenössische Diskussion Bezug nimmt, setzt die beiden Disziplingruppen der Natur- und Geisteswissenschaften in ein Verhältnis zur Bildung und zu den grundlegenden Weltansichten - das heißt aber für Litt auch: in eine Relation zueinander, zur Sprache und zur ·Philosophie. Zum größeren Teil der Untersuchung der Geisteswissemschaft gewidmet, ist der ,gesamte Gedankengli:Qg ·c:ks Buches für 'll'nser :P·Poblorm ibelangvoll, vor allem für die im dritten Abschnitt der Akademieabhandlung aufgewiesene Bindung der geisteswissenschaftlichen Arbeit an die in ihr stets vorausgesetzte "Metaphysik" (vgl. S. 43 f. ). Das logische Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem wird eigens erörtert in dem Abschnitt über die geisteswissenschaftliche "Objektivität" und im neunten Kapitel mit eindringlichen Hinweisen auf "die Unableitbarkeit der konkreten Situation". 9 In mehreren Anmerkungen zu unserem Text bezieht Litt sich zurück auf ein Buch, das - ähnlich wie später seine kritiErkenntnis und'Leben. 53. Vgl. ebd. 97. 1m übrigen sind aus diesem Buche die Kapitel VI bis VIII des Teils B heranzuziehen. 8 Individuum und Gemeinachaft .. ll.. Auflage. 116-139. 9 Wissenschaft, Bildung, Weltanschau~.l·OiifL, 109 ff. 6
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sehe Gesamtinterpretation Hegels (1953) -zweifellos in besonderer Weise seiner Selbstvergewisserung gedient hat: "Kant und Herder als Deuter der geistigen Welt" (1930). Es sind, wie Litt betont, "unsere allereigensten philosophischen Sorgen" 10 , die in der Behandlung der beiden Denker zu Worte kommen. Unter der Leitformel "Abstraktes Gesetz und konkrete Gestalt" hatte Litt die antithetische Beziehung zwischen Kant und Herder schon im Rahmen seiner "Ethik der Neuzeit" (1926) hergestellt und begründet." Das Buch, das sie nun im einzelnen durchzeichnet, sucht Recht und Grenzen beider Positionen zu bestimmen, folgt aber doch wohl vor allem der Absicht, Fragestellungen und sachliche Aufschlüsse der Herdersehen Geschichts- und Sprachphilosophie zur Geltung zu bringen. Nicht von ungefähr sind zwei Kapitel dieses Buches mit der unterschiedlichen Auslegung der Relation "AllgemeinesBesonderes" im Gedankengebäude der beiden Philosophen befaßtY Auf die erstmals 1933 erschienene "Einleitung in die Philosophie" ist hier im ganzen zu verweisen; doch sei erwähnt, daß die Geltungsreflexion, die auch in die Gedankenbewegung der Akademieabhandlung bestimmend eingegangen ist (s. o. ), dort in der ihr zugemessenen prinzipiellen Funktion hervortritt. Zu den Zeugnissen philosophischer Zeitkritik im Dritten Reich gehört Litts Bändchen "Philosophie und Zeitgeist" (1935 ). Im Grunde eine kleine Monographie über Hege!, exponiert es dessen Begriff des Allgemeinen und beruft sich auf die Hegeische "Logik" als eine "umfassende und unerhört kühne Behandlung des Themas ,Das Allgemeine und das Besondere'".t3
Eine in Deutschland kaum bekanntgewordene kürzere Vorfassung unseres Textes, in der schon die drei Formen des Allgemeinen - empirische Generalisation, allgemeine Wortbedeu-
° Kant und Herder. Einleitung. 5.
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Ethik der Neuzeit. 88-108. Siehe bes. 105. Vgl. Kapitel 8 innerhalb der Erörterung der "allgemeinen Grundlagen" und Kapitel 22 im Teil "Die Geschichte". 13 Philosophie und Zeitgeist. 32. 11
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tungen, apriorisches Grundwissen - entwickelt werden, hat Litt 1936 in der in Oxford erschienenen Cassirer-Festschrift veröffentlicht. Der Titel lautet fast übereinstimmend: "The Universal in the structure of historical knowledge". Als "Ergänzung" der vorliegenden Schrift versteht Litt sein Buch "Die Selbsterkenntnis des l\Ienschen" (1938). Dieses Thema benennt eine Aufgabe, an deren Lösung Geisteswissenschaft und Philosophie in enger Verbundenheit beteiligt sind. Sie umschließt ebenso die erkennende Bemühung, die das besondere Individuum auf sich richtet, wie das auf Selbsterfassung des Gattungswesens "Mensch" zielende Erkenntnisstreben. Das Buch untersucht die strukturellen Probleme, die sich von der Besinnung auf das individuelle Selbst bis hin zur Erkenntnis des "Allgemein-Menschlichen" stellen. Wiederum erfährt dabei die induktive Verallgemeinerung eine Zurückweisung zugunsten der übergreifenden Allgemeinheit, die sich in der Sprache vermittelt. Von der Leipziger Abhandlung des Jahres 1941 führen die Linien des Littsehen Denkweges weiter zunächst zu den beiden Hauptwerken der späten Periode, die um die gleiche Zeit entstanden sind, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg im Druck erscheinen konnten: "Mensch und Welt", eine philosophische Anthropologie, und die wissenschaftstheoretische Untersuchung "Denken und Sein" (beide 1948 ). Erstere vergegenwärtigt die Bedürftigkeit und Bedrohtheit der menschlichen Existenz, um dann im Gegenzug die eigentümliche "Weltbedeutung des Menschen " 14 zu entwickeln. In diesem Zusammenhang werden die übergreifende Funktion der Sprache und die Selbstaufstufung des Geistes zu höchster Allgemeinheit erneut thematisiert. "Denken und Sein" verfolgt die "Frage nach Wesen, Verhältnis und Leistung der Wissenschaften" 15 , die der Welt- und Selbsterkenntnis des Menschen dienen, und muß sich in seinen Analysen mehrfach auf die Struktur des Allgemeinen im Erkenntnisaufbau und auf das damit verbundene
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Dies der Titel eines Aufsatzes aus dem Jahre 1949. So Litt im Vorwort zu: Mensch und Welt.
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Problem der Integration oder Ausklammerung des Besonderen konzentrieren. Noch zu erwähnen sind hier die Schriften zur Theorie der Geschichte und der Geschichtswissenschaft, mit denen Litt nach 1945 noch einmal an seine philosophischen Anfänge (s. o.) anknüpft. Von der geschichtlichen Besonderung des Allge· meinen, auch unter dem Aspekt des "Seinsollenden", also der ethischen Dimension des Daseins, handelt am ausführlichsten die Abhandlung "Der Historismus und seine Widersacher" (1955 )16 , die von der Sorge über die damals deutlich werdende Abkehr von der Geschichte getragen ist und dem Begriff des Historismus - nicht zuletzt durch die gerade hervorgehobene Neuinterpretation des Verhältnisses von Individuellem und Allgemeinem -eine positive Bestimmung zu geben sucht. Begrifflich am prägnantesten wird das geisteswissenschaftlich Allgemeine von Litt in "Mensch und Welt" gefaßt. Er stellt es dort als das "Sinnallgemeine" dem "Sachallgemeinen" gegenüber. Im Bereich des Letzteren hat das Individuelle als das nicht Subsumierbare keinen Ort. "Es fällt, sub specie der Erkenntnis betrachtet, gleichsam ins Leere." Das Allgemeine der Selbstbesinnung dagegen, das übrigens nur auf dem Wege über das Sachallgemeine zu erreichen und somit diesem nicht etwa konkurrierend nebengeordnet ist, verbürgt nach Litt dem Besonderen als solchem seine Bedeutung. "Es ist das Individuelle am Menschen, das Individuelle der menschlichen Selbstgestaltung im Kleinen wie im Großen, was namens des Sinnallgemeinen ins Reich der Erkenntnis eingebürgert wird. " 17 IV Unsere Ausgabe gibt den Text der Abhandlungen von 1941 in fotografischer Reproduktion wieder. Die wenigen Druckfehler wurden jedoch beseitigt. Auch die Paginierung wurde beibehalIn: Die Wiedererweckung des geschichtlichen Bewußtseins. 19-93. Mensch und Welt. 2. Aufl. 1961, 234 f. Im ganzen vgl. vor allem das 13. Kapitel. 16
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ten. Um dieser wünschenswerten Obereinstimmung willen wurde in Kauf genommen, daß die Seiten 1-2, die im Original den Titel enthalten, in der Zählung ausgelassen sind. Die Anmerkungen Theodor Litts folgen wie im Erstdruck am Schluß. Die bibliographischen Nachweise bedurften für den heutigen Leser einiger Präzisierung. Die geringfügigen Ergän· zungen sind in eckige Klammem eingeschlossen. Auf die erläuternden Anmerkungen des Herausgebers, die im Anhang beigegeben sind, wird im Text jeweils durch em auf den Rand gesetztes Zeichen verwiesen.
THEODOR LITT Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis
I. Die Praxis der geisteswissenschaftlichen Forschung Seitdem die Geisteswissenschaften zum Bewußtsein ihrer Senduog erwacht sind, seitdem vollends die logische Besinnung auf ihre denkerische Leistung eingegangen ist, hat immer wieder eine Eigentümlichkeit dieser Wissenschaften ganz besonders die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Diese Eigentümlichkeit ist gegeben in Gestalt der Tatsache, daß die Geisteswissenschaften sich in zwei scharf unterschiedenen Klassen von Aussagen entwickeln. Ihre Aussagen beziehen sich einerseits auf Einmaliges, Individuelles - auf besondere Ereignisse, Taten, Werke, Personen, Gemeinschaften; sie beziehen sich andererseits auf Allgemeines - auf allgemeine Sachverhalte, Zusammenhänge, Abfolgen usw. In der Unterscheidung von "historischen" und "systematischen" Geisteswissenschaften gelangt dieser Gegensatz zu schärfster Ausprägung. Aber auch innerhalb der beiden hiermit unterschiedenen Gruppen kehrt er unübersehbar ·wieder. Denn einerseits wird kein Erforscher einer geschichtlichen Einzelerscheinung es sich nehmen lassen, seine Bemühungen um das Besondere durch solche Erwägungen zu unterbauen, die sich auf das zugehörige Allgemeine beziehen; ebensowenig wird er darauf verzichten, aus dem, was an dem Besonderen erkundet ist, Folgerungen zu ziehen, die über den Einzelfall hinaus ins Allgemeine vorstoßen. Andererseits ist es dem auf die Systematik irgendeines Kulturgebiets gerichteten Denken selbstverständlich, seine allgemeinen Sätze nicht nur durch den Rückgriff auf die einschlägigen Einzelbefunde zu erhärten, sondern auch in der Auslegung dieser Befunde zu erproben und zu bewähren. Es handelt sich also um ein Problem, das durch die gesamte Arbeit der Geisteswissenschaften hindurchgreift. Dabei ist es durchaus nicht an dem, daß dieses für die Geisteswissenschaften so zentrale Problem nur für sie selbst von Bedeutung wäre. In diesen die Geisteswissenschaft bedrängenden Sorgen spezifiziert sich jenes "allgemeine", d. h. über den Bereich jeder
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"besonderen" Wissenschaftsgruppe hinausgreifende Problem der Relation von Allgemeinem und Besonderem, das seit der Antike das philosophische Denken zu beunruhigen nicht aufgehört hat. Und zwar spezifiert es sich hier in einer besonders lehrreichen Form. Denn während die anderen Wissenschaften sich um solche Erkenntnisse bemühen, in denen das Besondere als solches nicht vorzufinden ist, während sie sich also einseitig an dem Allgemeinen interessiert zeigen, wenden die Geisteswissenschaften ihre Teilnahme nicht weniger dem Besonderen als dem Allgemeinen zu. Sie tun es mit einer solchen Eindringlichkeit, daß eine einflußreiche Wissenschaftstheorie in ihrer "individualisierenden" Tendenz geradezu ihr unterscheidendes logisches Kennzeichen hat sehen wollen. Daß den Geisteswissenschaften am Besonderen so viel gelegen ist, das hat zur Folge, daß das Besondere nicht weniger als das Allgemeine, im Verein mit dem Allgemeinen, in ihren Ergebnissen angetroffen wird. Das läßt erhoffen, daß für die Klärung des allgemeinen Problems, welches dem Denken in der Relation Allgemeines-Besonderes aufgegeben ist, aus einer Analyse der Geisteswissenschaften besonders viel, ja vielleicht der entscheidende Aufschluß zu gewinnen ist. Und nun zeigt es sich auch noch, daß dieses Problem, das scheinbar nur die wissenschaftstheoretische Reflexion angeht und beschäftigt, in Wahrheit den Kreis des in theoretischer Hinsicht Belangvollen weit überschreitet. Wie stets, so ist auch heute und gerade heute die wissenschaftliche Frage der theoretische Ausdruck einer Verlegenheit, die dem allgemeinen Bewußtsein der Zeit zu schaffen macht. Wenn eine Epoche von Tendenzen beseelt ist, die dem "Allgemein-Menschlichen" im Namen des rassisch und völkisch sich Besondemden den Krieg machen, ja geradezu das Dasein bestreiten, dann kann es nicht ausbleiben, daß die darin liegende Abneigung ihr Ursprungsgebiet überschreitet und das Allgemeine als solches, das Allgemeine überhaupt und schlechthin ergreift. Verdammungsurteile, die das Allgemeine in jeder Gestalt, also auch in Gestalt des allgemeinen Begriffs, vernichten wollen, sind heute an der Tagesordnung. Das Allgemeine gilt als Zuflucht jener schwankenden und feigen Seelen, die der Entscheidung für die konkrete Wirklichkeit (die .stets eine einmalige und besondere sei) ausweichen möchten und sich deshalb in eine Zone der cha-
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rakterlosen Indifferenz zurückziehen. Auch die Wissenschaft wird, soweit sie dem Allgemeinen zustrebt, den Verfallserscheinungen zugezählt, die das gesundende Zeitalter zu überwinden habe [1]. Bannflüche dieses Inhalts beweisen, daß es wahrlich nicht bloß eine interne Angelegenheit ist, der sich die Wissenschaft in der Bemühung um unser Problem widmet. Wenn wir uns diejenige Beantwortung unserer Frage vor Augen stellen wollen, der vermutlich die Mehrzahl der im geisteswissenschaftlichen Forschungsbereich Tätigen, entweder auf Grund ausdrücklicher Besinnung oder auf Grund einer unreflektierten Gewißheit, zustimmen würde, dann müssen wir uns an denjenigen Philosophen wenden, dessen Wissenschaftstheorie den Vorzug hat, in enger Fühlung, ja in innigster Durchdringung mit der Praxis geisteswissenschaftlicher Arbeit entstanden zu sein: an W. Dilthey. Ihn hat das uns beschäftigende Problem niemals losgelassen. Es kommt schon zur Sprache in der "Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1883). Und es wird eingehend und eindringlich behandelt in der letzten und reifsten Untersuchung, die Dilthey der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis gewidmet hat: dem "Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" (191o). Ausdrücklich greift er in dieser Abhandlung auf die Problemstellung der "Einleitung" zurück und fragt nach dem "Verhältnis, in welchem hier das Einmalige, Singulare, Individuelle zu allgemeinen Gleichförmigkeiten steht" [z]. Und er schlägt den Weg einer geistesgeschichtlichen Betrachtung ein, um auf die ihm zusagende Antwort hinzuführen. Er passiert zunächst die einseitigen Lösungsversuche und glaubt dann in einem Ausgleich der Gegensätze die endgültige Auskunft zu finden. Das Denksystem der Aufklärung ist ihm der in seiner Art imponierende Versuch, die verwirrende Vielfältigkeit der menschlichen Kulturschöpfungen zurückzuführen auf "gesetzliche Verhältnisse, in festen Begriffen darstellbar, die überall gleichförmig dieselben Grundlinien des wirtschaftlichen Lebens, der rechtlichen Ordnung, des moralischen Gesetzes, des Vemunftglaubens, der ästhetischen Regeln erwirken" [3]. Er läßt die Betrachtungsweise dieses "natürlichen Systems" abgelöst werden durch das entgegengesetzte Verfahren, in dem die "historische Schule" zu Allgemeinerkenntnissen vorzudringen suchte: indem sie "die Ableitung der allgemeinen
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Die Praxis der geisteswissenschaftlichen Forschung
Wahrheiten in den Geisteswissenschaften durch abstraktes konstruktives Denken verwarf, wurde für sie die vergleichende Methode das einzige Verfahren, zu Wahrheiten von größerer Allgemeinheit aufzusteigen". . . . "Die allgemeinen Wahrheiten bilden nach diesem Standpunkt nicht die Grundlage der Geisteswissenschaften, sondern ihr letztes Ergebnis" [4]. Ihm selbst scheint die Wahrheit in der Mitte zu liegen. Er leugnet eine Vorordnung sei es des Allgemeinen sei es des Besonderen; vielmehr findet er in den Geisteswissenschaften "alles durch das Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit bestimmt" [s]. Indem der Forscher eine Einzelerscheinung zu verstehen versucht, greift er auf die allgemeinen Sätze zurück, in denen die Erfahrung von dem Wesen geschichtlicher Zusammenhänge niedergelegt ist. Aber diese Erfahrung erweitert und bereichert sich hinwiederum, indem sie sich die mit ihrer Hilfe erforschte Einzelerscheinung einverleibt. So kommt es zu der These von der "gegenseitigen Abhängigkeit des Historischen und Systematischen". Die Erkenntnis schreitet in der Weise fort, daß "sich das historische Wissen des Singularen und die allgemeinen Wahrheiten in Wechselwirkung miteinander entwickeln" [6]. Weshalb die in diesen Sätzen vorgetragene Auffassung dem in der Praxis der Forschung Stehenden einleuchten muß, ist leicht ersichtlich. Sie iäßt der Geisteswissenschaft Befugnis und V ollmacht zu solchen Sätzen, die über die Vereinzelung der besonderen Feststellungen hinausführen und somit weitere Horizonte erschließen - und sie hält zugleich, indem sie jede allgemeine Aussage auf die Bewahrheitung im Besonderen verpflichtet, die V ersuchung zu konstruktiven und spekulativen Aufstellungen, diesem Greuel jeder gewissenhaften Forschung, in aller Strenge ferne. Blick für das Große und Andacht zum Kleinen - beides scheint hier aufs glücklichste verbunden. In der Tat spricht sich ja in den angezogenen Sätzen nichts anderes aus als jenes stetige Ineinander des Allgemeinen und des Besonderen, das· wir schon oben in der Arbeit sowohl der historischen als auch der systematischen Geisteswissenschaft zu bemerken glaubten. Insoweit wäre also gegen diese Entscheidung nichts einzuwenden. Es fragt sich nur, ob mit ihr das Problem in seiner ganzen Ausdehnung und in seiner Tiefe ermessen ist. In dieser Hinsicht aber muß uns schon eine sehr einfache, ja fast banale Beobachtung stutzig machen.
Induktionen und allgemeine Wortbedeutungen
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II. Die geisteswissenschaftlichen Induktionen und die allgemeinen Wortbedeutungen Nehmen wir einen Abschnitt aus einem beliebigen geisteswissenschaftlichen Werke vor, das allgemeine Erwägungen mit der Darstellung des Individuellen verbindet, so überzeugen wir uns sofort, daß jene und diese, ihres logischen Unterschiedes ungeachtet, ein Entscheidendes gemeinsam haben: sie sind sprachlich formuliert. Genauer gesagt: es sind dieselben sprachlichen Formeln, die sich nach Belieben der Erörterung allgemeiner Sachverhalte und der Darstellung individueller Erscheinungen zur Verfügung stellen. Diese sprachlichen Formeln aber sind Symbole von Wortbedeutungen, denen nun ihrerseits wieder der Charakter der Allgemeinheit eignet. Ein Singuläres zu bezeichnen ist ausschließlich Sache der Eigennamen. Diese können denn auch in keiner Erörterung fehlen, die auf Individuelles Bezug nimmt. Aber was über dieses so benannte Individuelle erforscht ist und ausgesagt werden soll, das muß in allgemeine Wortbedeutungen gefaßt werden, damit es eben - die Form klarer Erkenntnis annehmen und mitgeteilt werden könne. Damit kompliziert sich das zur Erörterung stehende Problem in folgender Weise.: ein Allgemeines - nämlich die allgemeinen Wortbedeutungen - formt sich aus zu Sätzen einerseits allgemeinen, andererseits individuellen Inhalts. Es sieht zunächst so aus, als ob an diesem doppelseitigen Sachverhalt nur die eine Seite zu weiteren Überlegungen Anlaß gäbe. Daß die allgemeinen Wortbedeutungen der Sprache sich zur Wiedergabe eines selbst wieder Allgemeinen schicken - das ruft keine Verwunderung hervor. Aber daß sie auch zum Ausdruck eines Besonderen taugen: in diesem Umstand scheint ein innerer Widerspruch zu liegen, der nach Auflösung verlangt. So versteht es sich leicht, daß Möglichkeit und Wesen der Dienste, die die allgemeinen WOrtbedeutungen der geisteswissenschaftlichen Er- . kenntnis leisten, ganz vorzugsweise im Hinblick auf die individualisierenden Tendenzen dieser Erkenntnis, und das bedeutet: im Hinblick auf die Historie erforscht worden sind. Allerdings ist es nicht eigentlich Dilthey gewesen, dem diese Schwierigkeit zu schaffen gemacht hat. Zwar hat das Problem des "Ausdrucks" ihn wie wenige beschäftigt. Aber es war ihm
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Die geisteswissenschaftlichen Induktionen
nicht unter dem GesichtspWlkt wichtig, was der Ausdruck in der Erkenntnisbemühung des geisteswissenschaftlichen Forschers leistet: nur als Moment am Gegenstand dieses Forschers trat es in seinen Gesichtskreis ein. Was ihn am ·stärksten bewegte, das war die Tatsache, daß menschlich-geistiges Leben nur unter der Voraussetzung dem Erkennen zugänglich wird, daß es sich in ausdrückenden Akten und Gebilden "objektiviert". Davon ist natürlich die andere Frage zu unterscheiden, welche Funktion die Ausdrücke der Sprache in dem geistigen Tun desjenigen verrichten, der an der Himd von solchen bereits vorliegenden Objektivationen zu dem in ihnen sich objektivierenden Leben den Zugang sucht. Diese Frage aber hat nun gerade die Aufmerksamkeit desjenigen auf sich gezogen, der die Erkenntnistheorie der Geschichte zur Strenge einer wirklichen Logik durchzubilden als seine Aufgabe ansah: H. Rickert. Unmöglich kann ja eine Logik der historischen Begriffsbildung darüber hinwegsehen, daß dieselbe Historie, der es immer um die Erfassung des Individuellen zu tun ist, im Verfolg dieses Strebens und in der Fixierung seiner Ergebnisse sich ohne Unterlaß in der Region des Allgemeinen bewegt. U ntrügliches Zeugnis dessen die allgemeinen W ortbedeutungen, in denen wir den Ertrag ihrer Bemühungen niedergelegt finden I Die Lösung, durch die Rickert die hier vorliegende Schwierigkeit glaubt beheben zu können, ist sehr einfach. Seine Antwort lautet dahin, daß hier, anders als in den Naturwissenschaften, das Allgemeine lediglich in der Rolle eines unentbehrlichen "Mittels" auftrete, während der "Zweck" gerade die Erfassung eines Nicht-Allgemeinen, eines Einmaligen sei. Um überhaupt Erkenntnis, zumal mitteilbare Erkenntnis hervorzubringen, müsse sich das historische Denken der allgemeinen Wortbedeutungen als der "Bestandteile", der "Elemente" bedienen, aus denen es das Bild des darzustellenden Besonderen "zusammenfüge" [7]. Aber in dieser Erörterung ist das Problein zwar aufgezeigt, aber nicht gelöst. Im Gegenteil: es i:;t in Wendungen bezeichnet, die vom rechten Wege abführen. Alle die Ausdrücke, in denen hier die dienende Stellung des Allgemeinen gegenüber dem darzustellenden Besonderen bezeichnet wird, sin