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German Pages 60 [108] Year 1982
NICOLAI HARTMANN
Die Erkenntnis im Lichte der Ontologie Mit einer Einführung von
JOSEF STALLMACH
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 347 Der vorliegende Text ist dem Werk »Nicolai Hartmann, Kleinere Schriften, Band I: Abhandlungen zur systematischen Philosophie« mit freund-licher Genehmigung des Verlages Walter de Gruyter & Co., Berlin, entnommen.
Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod
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INHALT*
Einführung. Von J osef Stallmach . . . . . . . . . . . . . . . . . IX NICOLAI HARTMANN Die Erkenntnis im Lichte der Ontologie I. Die Problemlage in der Ontologie seit der Jahrhundertwende und das Aufkommen einer neuen Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Phänomenologische und ontologische Fundierung der Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Erkenntnis als "transzendenter Akt", "übergegenständlichkeit" ihres Gegenstandes . . . . . . 7 2. Die ontologische Lösung des "transzendentalen Problems" der Erkenntnis ............ 10 3. Zurückweisung des "Relativismus der Wahrheit", Einschränkung des "Relativismus der Geltung" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 111. Rückkehr zur Ontologie unter Berücksichtigung der Errungenschaften der Erkenntnistheorie ("kritische Ontologie") .................... 1. Wiederaufnahme der Realitätsthese des "natürlichen Realismus" ohne seine Adäquatheitsthese ................................. 2. Eingliederung des Erkenntnisverhältnisses in die Seinsverhältnisse und den Schichtenbau der realen Welt ......................... 3. Differenzierung der (aposteriorischen) Erkenntnis nach den Seinsgebieten ihres Gegenstandes und der Abstufung der Gegebenheit in den verschiedenen Seinsschichten . . . . . . . . . . . . . . . .
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*Die ziffernmäßigen Unterteilungen I-VII des für den Druck bearbeiteten Vortrages stammen vom Autor. Die für die Inhaltsübersicht hinzugefügten Überschriftstexte und alle weiteren Zwischentitel sind vom Herausgeber eingefügt.
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Inhalt
IV. Differenzierung der apriorischen Erkenntnis nach den Gegenstandsgebieten und der Gegebenheitsabstufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Identitätsverhältnis von Seins- und Erkenntniskategorien (als Bedingung apriorischer Erkenntnis) und seine Reichweite .......... 2. Die Abstufung der Identität (von Erkenntnisund Seinskategorien) nach den verschiedenen Gegenstandsgebieten im Schichtenbau des Seins ................................. 3. Das Organische, das Bewußtsein, der Geist als Gegenstandsgebiete apriorischer Erkenntnis (der anthropologische Hintergrund der Abstufung der Gegebenheit und der kategorialen Identität nach Seinsschichten) ............. V. Gestufte Abwandlung der "gnoseologischen Indifferenz" ............................... 1. Primärer Sinn der gnoseologischen Indifferenz: Gleichgültigkeit des Seienden gegen sein Erkanntwerden .......................... 2. Einschränkung der gnoseologischen Indifferenz im Verhältnis zwischen "betroffenen" Personen ................................ 3. Gradmäßige Abwandlung der gnoseologischen Indifferenz nach den Gegenstandsgebieten in den verschiedenen Seinsschichten . . . . . . . . . . .
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VI. Wandel und Wechsel von Kategorien in der Geschichte der menschlichen Erkenntnis . . . . . . . . . 39 1. Einschränkung auf die Kategorien des Begreifens (Verstandeskategorien) ................... 39 2. Absetzung des Wandels der Kategorien vom Wandel der Denkformen und Kategorienbegriffe ................................ 41 3. Beispiele für den Wandel von Kategorien in der Geschichte des Denkens .................. 44 a) Wandel im Bereich der allgemeinen oder Fundamentalkategorien . . . . . . . . . . . . . . . . 44
Inhalt
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b) Wandel spezieller Kategorien im Gegenstandsfeld einzelner Seinsschichten . . . . . . . 4 7 VII. Perspektiven der Gesetzlichkeit des kategorialen Wandels im geschichtlichen Prozeß des Geisteslebens .................................. 1. Stufengang des kategorialen Wandels in den Gegenstandsschichten der Erkenntnis . . . . . . . . . . 2. Wandelbarkeit auch des Apriori im geschichtlichen Erkenntnisprozeß .................. 3. Fortschreitende Adäquation von Seins- und Erkenntniskategorien durch die fortschreitende Arbeit des geschichtlichen Geistes an den "Rätselfragen des Seienden" .............. 4. Erhellung des Sinnes der Erkenntnis und ihres Prozeßcharakters durch Abkehr von kritizistischer Reflexion Jind Rückkehr zur ontologischen Intention ........................
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Die zahlreichen Verweise im Text und in den Anmerkungen der "Einführung" beziehen sich auf die Seitenzahlen des Textes von Nicolai Hartmann in "Kleinere Schriften" I, S. 122-180, die im Kolumnentitel in Klammem wiedergegeben sind.
EINFüHRUNG
Nicolai Hartmann (1882-1950) hat im Jahre 1949 aus Anlaß eines Vortrages in der Münchener Kantgesellschaft in einer knappen, dichten Zusammenschau noch einmal jene Grundthematik seines ganzen Philosophierens dargelegt, die ihn seit seiner spannungsvollen Begegnung mit dem Marburger Neukantianismus zuinnerst bewegt hat und die ihre ausführliche Behandlung vor allem in "Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis" (1921), dem ersten richtungweisenden Hauptwerk auf seinen "neuen Wegen", und dann in den vier Bänden seiner groß angelegten Ontologie 1 gefunden hatte. Obwohl die "Grundlegung der Ontologie" erst über ein Jahrzehnt nach der "Metaphysik der Erkenntnis" erschienen ist, b!!trachtet Hartmann diese im Rückblick doch schon als "das erste Resultat" jenes "Durchbruches zu einer neuen Ontologie", den er, nachdem er wohl ein Jahrzehnt um ihn gerungen hatte, um 1919 vollzogen sieht 2 • Die "Metaphysik der Erkenntnis" versteht sich darum auch keineswegs nur als erkenntnistheoretische Grundlegung einer neuen Ontologie, sondern von vomherein als eine Erkenntnistheorie, deren Grundlage ontologisch ist und deren Durchführung überhaupt nur "im Lichte der Ontologie" möglich ise. All das, was Hartmann in seinem "Kampf gegen den Marburger logischen Idealismus und den Neukantianismus überhaupt"4 sich ergeben hatte und zu den tragenden Grundüberzeugungen seines gnoseologischen und ontologischen Denkens geworden war, findet sich in der hier im Druck neu vorgelegten spätesten Selbstdarstellung5 noch einmal bekräftigt: daß die "Rückkehr zur intentio recta" und zur "natürlichen Ausrichtung der Erkenntnis" (auf den Gegenstand), der Rückgriff "auf die unreflektierte ontologische Intention mit ihrem TranszendenzchIakter" die Voraussetzung für die Wiederentdeckung des "ursprünglichen Wesens der Erkenntnis" ist, das durch das Oberhandnehmen der intentio obliqua aus dem Blick geraten war.
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Weil nur in der Gegenstandsrichtung, "und nicht am Selbstbewußtsein", das Grundphänomen der Erkenntnis greifbar wird, darum kann Erkenntnis "auch sich selbst erst ganz zuletzt und nur in Abhängigkeit von allen andem Erkenntnisgebieten zu ihrem Gegenstand machen", will sie in einer s-olchen Theorie von sich selbst nicht von vomherein fehlgehen: "Erkenntnis-,Theorie' kann nicht philosophia prima sein" 6 • In jener Spannungseinheit, zu der sich im Denken Hartmanns Gnoseologie und Ontologie verbinden, hat die Ontologie sachlich eindeutig den Primat. Hartmann hätte für diese neue Ontologie, die den Gesamtaufbau seiner wieder alle klassischen Hauptdisziplinen umfassenden (nicht mehr auf Erkenntniskritik reduzierten) Philosophie fundieren sollte, auch den alten "von Aristoteles geprägten Namen ,philosophia prima' vorgezogen", wenn er eine Aussicht gesehen hätte, ihn wieder einzubürgern'. Bei aller "rein ontologischen Einstellung", um die Hartmann sich bemühte, konnte jedoch sein Denken, nachdem es nun einmal in der Begegnung mit Kant und dem Neukantianismus durch die Erkenntnisreflexion und -kritik in ihrer höchsten Entfaltung hindurchgegangen war, tatsächlich nicht mehr in "unreflektierter ontologischer Intention" ansetzen. Die Grundlegung einer neuen, einer "kritischen Ontologie" konnte die "Errungenschaften der Erkenntnistheorie" nicht mehr unberücksichtigt lassen, sie durfte "das transzendentale Problem" nicht wieder aus dem Blick verlieren (136 f., 179). Mag auch das Verhältnis von Sein und Erkenntnis "ein einfaches, nur durch künstliche Verschiebung verfehlbares" sein - das Verhältnis von Ontologie und Gnoseologie kann "so einfach" nicht mehr sein8 • Denn zwar gilt alles, was Erkenntnis gibt, in erster Linie nicht ihr selbst, sondern dem Sein, andererseits aber stammt alles, was wirvom Sein überhaupt wissen können, aus der Erkenntnis und hängt insofern von ihr ab 9 • Den Bedingungen unserer Erkenntnis, der ratio cognoscendi nach kann also wiederum auch die Ontologie "nicht erste, sie kann nur letzte philosophische Erkenntnis sein, und zwar eben deswegen, weil sie Erkenntnis
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des an sich Ersten ist" 10 • Auf dem Erkenntnisweg, für den Gang der Untersuchung bleibt die Ontologie von der Gnoseologie abhängig. Ist dieser Erkenntnisweg aber erst einmal durchschritten, sind die Erkenntnisphänomene erst einmal analysiert und der Zugang zum Sein eröffnet, so erweist sich dieses als das allem Zugrundeliegende, alles Umgreifende. Die ratio essendi, die nach der schon von Aristoteles herausgestellten Gesetzlichkeit zur ratio cognoscendi gegenläufig ist, ergibt den höheren Gesichtspunkt der Betrachtung'' . Da von ihm aus jetzt auch die Erkenntnis noch in ihrem Seinscharakter, als in ihrer ganzen Spannweite vom Sein umgriffen erscheint, ordnet sich für Hartmann die Ontologie endgültig der Gnoseologie in jener Weise über, wie sie von der "Metaphysik der Erkenntnis" an für die gesamte Denkhaltung Hartmanns charakteristisch ist und dann auch im Titel dieser späten "Abhandlung" zum Ausdruck kommt. "Erst im Lichte der Ontologie zeigt sich die wahre Stellung ihres (der Erkenntnistheorie) Gegenstandes, d. h. der Erkenntnis selbst, in der Welt" 12 • Wenn Hartmann fast dreißig Jahre nach der "Metaphysik der Erkenntnis" die Ergebnisse seiner "ontologisch fundierten Erkenntnistheorie" (135) - ergänzt um manches, was sich aus der in Schichtenlehre und Kategorialanalyse erst noch entfalteten Ontologie inzwischen ergeben hatte - noch einmal vorlegt, dann kann er auf eine "Umwälzung" zurückblicken (122), "die sich seit dem Anfang unseres Jahrhunderts vollzogen hat" (und an derermaßgeblichmitgewirkt hatte). Es versteht sich, daß diese Ergebnisse mit bestimmt sind durch die Möglichkeiten und Grenzen der Methode, die er entwickelt und an die er sich mit aller Strenge gehalten hat. Wie "alles wissenschaftliche Vordringen" sich in den "drei Hauptetappen: "Phänomen, Problem, Theorie" bewegt (125), so kann nach Hartmanns Auffassung von ihrem Wissenschaftscharakter auch die Philosophie ihre Probleme nur im Rahmen dessen stellen, was eine "rechtmäßige Erfassung und Beschreibung" der Phänomene ergibt. Dabei muß dann auch noch dahingestellt bleiben, ob und wie weit sich für die so sich ergebenden und dann möglichst noch aporetisch zugespitzten Proble-
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me auch Lösungen finden lassen. "Gerade in den wichtigsten Grundproblemen bleibt die Erkenntnis bloße Annäherung an das Wirkliche." So groß auch die Fortschritte der Wissenschaften sind, "die unerkannten Restbestände der uns umgebenden Welt und unseres eigenen Wesens" sind je noch größer (125 f.). Ein gewisser skeptischerbzw. agnostischer Zug, was die Reichweite und Gewißheit menschlicher Erkenntnis - über die Deskription und Analyse von Phänomenen hinaus - angeht, ist bei Nicolai Hartmann nicht zu übersehen. Gerade bei den "großen weltanschaulichen Grundfragen, den "Rätseln des praktischen Lebens", all dem, "was die Sinn- und Wertgehalte menschlichen Daseins ausmacht", zieht sich die Entscheidung darüber, ob wir darin tatsächlich überhaupt "Erkenntnis" haben, unabsehbar hin oder bleibt ganz aus (135 f.). Die neue - zu einem nicht geringen Teil erneuerte alte (122) - Sicht der Erkenntnis, zu der Hartmann gelangt, indem er das sie ausmachende Verhältnis wieder in seiner ganzen Spannweite in den Blick bekommt, die aus einer umfassenden Analyse der Erkenntnisphänomene sich ergebende Problematik in die umfassendere ontologische einordnet und sie dann in ihrer ganzen Vielschichtigkeit behandelt, ist durch folgende Grundmomente bestimmt: a) Erkenntnis ist ein "Seinsverhältnis" 13 • b) Der Erkenntnisakt ist ein "transzendenter" 14 , d. h. "ein Akt, der über die Grenzen des Bewußtseins hinausgreift". c) Das Fortschreiten der Erkenntnis ist ein "kategoriales", vom Maße der "Identität von Erkenntnis- und Seinskategorien" abhängiges15 • d) Bestimmte Gesetzmäßigkeiten in der Differenzierung des Erkenntnisverhältnisses nach Gegenstandsgebieten und in seinem geschichtlichen Wandel fmden keine erkenntnistheoretische Erklärung mehr, sondern eine anthropologische16. Zu a) Erkenntnis ist eine seiende Beziehung zwischen einem seienden Subjekt und einem seienden Objekt. Sie ist somit eingefügt in das von einer Vielzahl von Beziehungen durchzogene Sein, ist nur eine von vielen Beziehungen, die
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das in ihr als "Subjekt" erscheinende Seiende mit dem als "Objekt" erscheinenden verbinden, wenn auch eine besondere und die einzige "mit Bewußtseinswert". Im Lichte der Ontologie erweist sich Erkenntnis als vom Sein umgriffen ("Immanenz des Denkens im Sein"), nicht das Sein von der Erkenntnis (nicht "Immanenz des Seins im Denken") 17 • Zwar kann auch die Ontologie von einem Umgriffensein des Seins vom Denken sprechen, insofern nämlich Denken das Sein intentional umgreift. Währendjedoch das Umgriffensein der Denksphäre vom Sein ein totales ist, eben so weit reicht, als diese überhaupt eine seiende Sphäre ist, kann das Umgriffensein des Seins, wie uns die Denkerfahrung lehrt, auch bei äußerster Reichweite unseres Erkennens und Denkeils je nur ein partiales sein. Da Denken dazu noch Sein überhaupt nur intentional umgreift, dieses "an sich" aber -gerade das Nicht-bloß-Gedachte, gerade das Denktranszendente ist, kann Denkimmanenz keine Charakteristik des Seins abgeben. Dagegen kann Seinsimmanenz sehr wohl eine Charakteristik des Denkens abgeben, die nämlich einer "Reflexion des Seins in sich" 18 • Die "ontologische Revolution der Denkweise" - wie es in "Metaphysik der Erkenntnis" noch in der kämpferischen Sprache des Aufbruchs heißt -, die "die Vernunft in ein größeres Seinssystem" eingliedert, "das sich nicht nach ihr richtet und bewegt, in welchem sie vielmehr selbst das Abhängige und Sekundäre ist", hatte für Hartmann die Bedeutung einer "Umkehrung der ,kopernikanischen Tat' Kants", "dessen gnoseologisches Weltbild ... subjektozentrisch" war19 • Zu b) Daß das Erkenntnisverhältnis von seinem Wesen her ein Seinsverhältnis ist, ist gleichbedeutend damit, daß es ebenso wesentlich ein "transzendentes", nicht bloß bewußtseinsimmanentes, ist (155, 173 f.). Erkenntnis hat ihren ganzen Sinn in der Erfassung von Gegenständen. Gegenstand jenes Bewußtseinsaktes aber, der mit Recht "Erkenntnis" genannt wird, kann etwas nur sein, wenn es nicht durch eben diesen Akt, als dessen Gegenstand es erscheint, erst gesetzt wird (126 f., 128 f.), wenn es also- anders als ein Gegenstand der Phantasie, "bloßen Gedankenspiels",
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rein hypothetischer Theorienbildung - "bewußtseinsunabhängig ist, gleichgültig dagegen, ob und wieweit ein Bewußtsein es zu seinem Gegenstand macht", wenn es nicht in seinem Gegenstandsein aufgeht, kurz: als Gegenstand zugleich "von Haus aus übergegenständlich" ist2° _ "Es hängt alles an dem einen Punkt: an der phänomengerechten Fassung des Erkenntnisgegenstandes als eines übergegenständlich Seienden" (133). Für die Hartmannsehe Gnoseologie, deren Analysen nicht mehr vor allem auf den Subjektpol, sondern vor allem auf den Objektpol des Erkenntnisverhältnisses gerichtet sind 21 , ist diese Formel von der "Obergegenständlichkeit des Gegenstandes" überaus kennzeichnend. Mit ihr läßt sich exakt der Punkt bezeichnen, an dem seine Gnoseologie in Ontologie übergeht, in deren Licht dann die Erkenntnis wieder als das gesehen werden konnte, was sie so unaufhebbar ist, daß eher noch in Zweifel gezogen werden könnte, ob es überhaupt Erkenntnis gibt (123, 128), d. h. ob der menschliche Geist überhaupt der Erkenntnis fähig sei, als das Erkenntnis etwas anderes sei als Erfassung von Ansichseiendem. Eben weil daran alle Möglichkeit "echten Wissens", der ganze "Sinn des Un terschiedes von wahr und falsch", so also der eigentliche Erkenntnischarakter jenes Bewußtseinsaktes, der auf einen Gegenstand geht, hängt, ging es für Hartmann in der Gnoseologie von vomherein und immer vor allem um den "eigentlichen Sinn des Gegenstandseins, ja des Seins überhaupt" (123). Und schon die "Metaphysik der Erkenntnis" hatte das Ergebnis bündig formuliert: "Das Sein (ist) Ansichsein; und Erkenntnis ist, soweit überhaupt sie besteht, Repräsentation des Ansichseienden" 22 • Von ihrem Wesen und dem Wesen ihres Gegenstandes her kann sich Erkenntnis zu diesem nur rezeptiv verhalten (132, 155). Nur wenn das Sein des Gegenstandes in seinem Gegenstandsein aufginge, könnte man überhaupt an eine Konstitution des Gegenstandes durch das sich spontan verhaltende Subjekt denken. Die Spontaneität des Subjekts, die im Gesamtphänomen der Erkenntnis allerdings auch auftritt und die überhaupt nur den Anlaß zur idealistischen Verkennung des die Erkenntnis ausmachenden "Transzen-
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denzverhältnisses" (173 f.) geben konnte, betrifft nur den Aufbau des "Erkenntnisgebildes" im Bewußtsein: die Vorstellung, den Begriff, die Theorie, "das Gesamtbild" 23 • Dieses "Gebilde" ist jedoch nur das, wodurch der Gegenstand der Erkenntnis erkannt wird, nicht dieser selbst. Es ist das, was dessen Sein - mehr oder weniger adäquat - im Bewußtsein repräsentiert. "Erkenntnis besteht darin, daß das Erkenntnisgebilde mit dem Gegenstand ühereinstimmt" 24 • Daß Hartmann in dieser "Abhandlung", in der er entschiedener noch als am Anfang seines neuen Weges die Erkenntnis "in das Licht der Ontologie" stellt, auch auf seine Lehre von den Erkenntnisgrenzen zurückkommt2 5 , versteht sich. Da das Ansichsein eines Seienden, das als Objekt in das Erkenntnisverhältnis eingegangen und somit auch "für uns" ist, immer dem Verdacht unterliegen kann, ein bloß gnoseologisches, d. h. als solches bloß "gemeintes" zu sein, erhalten im Hinblick auf die Bezeugung von ontologischem Ansichsein dann jene auffälligen, aber keineswegs ungewöhnlichen Phänomene ein besonderes Gewicht, in denen ein Transzendieren des Bewußtseins nicht nur auf "Objekte", sondern auf "Transobjektives" hin offenbar wird. "Das rätselhafte Bewußtsein der lnadäquatheit" und die daraus resultierende Tendenz der Adäquation (der Erkenntnis an den zu erkennenden Gegenstand) 26 , das immer neue Anheben des Erkenntnisbemühens durch Hinterfragung und Korrektur des schon Bekannten, das ständige Fortschreiten in das Noch-nicht-Erkannte durch bewußtes Suchen und Forschen, also die gerichtete Dynamik der menschlichen Erkenntnis, all das hat auf der Gegenstandsseite einen Bereich zur Möglichkeitsbedingung, der über die "Objekte", über das nur zum Teil oder lückenhaft Objizierte weit hinausgeht. Das aber, was überhaupt noch nicht als Objekt in eine Erkenntnisrelation einbezogen worden ist, das kann auch nicht vom Subjekt abhängig sein, das jedenfalls kann nicht mehr bloß gnoseologisch, es muß ontologisch "an sich" sein. Die Argumentation für das ontologische Ansichsein auf Grund des im Gesamtphänomen der Erkenntnis selbst auftretenden Transobjektiven erhält ihre volle Durchschlags-
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kraft aber erst, wenn sich auch das Transobjektive noch als gnoseologisch nicht homogen erweist, wenn das die Erkenntnisgrenze ins Transobjektive hinein vorschiebende Erkenntnisbemühen an eine zweite, diesmal unverrückbare Grenze, an die Grenze der Erkennbarkeit, stößtl 7 • Das "Transintelligible", wie es "auf allen Wissensgebieten" schließlich auftritt (124), das also, was jenseits der Grenze nicht nur tatsächlichen, sondern überhaupt möglichen Fürunsseins liegt, ist vollends der Möglichkeit entrückt, in seinem Sein "korrelativistisch" mißverstanden zu werden 28 • Da aber das Seiende ontologisch homogen ist (155), zieht das (mit aller Sicherheit ontologische) Ansichsein des Transintelligiblen an ihm das Ansichsein des Objizierbaren und Objizierten mit gleicher Gewißheit nach sich 29 • Die in der Phänomenologie der Erkenntnis im "Sein" unabweisbar auftretenden Grenzen sind tatsächlich also keine ontologischen, sondern rein gnoseologische, d. h. es sind Grenzen allein für das, "was wir Menschen unsere Erkenntnis nennen", wobei wir dazu noch nicht einmal ohne weiteres wissen können, ob und wie weit es sich tatsächlich um wirkliche Erkenntnis handelt (134). Es sind Grenzen allein der Reichweite des erkennenden Geistes, jenes Geistes, von dem eine streng phänomenal sich begründende, alles spekulative überschreiten der durch den Phänomenbestand gesetzten Grenzen von vornherein abweisende Erkenntnisproblematik allein handeln kann: des menschlichen (endlichen) Geistes, allerdings nicht nur des "personalen", sondern auch des "objektiven Geistes", der im Geschichtsprozeß lebend sich durchhält 30 • Dieser ist in einem Sinne "Geschichtsträger", in dem "das kurzlebige Individuum" es nicht sein kann, er ist Träger auch des geschichtlichen Erkenntnisprozesses und-progressesüber den Wechsel der Individuen und Generationen hinweg (138, 171). Es gibt nach Hartmann also nicht einen "rationalen" und einen "irrationalen" Bereich des Seins. "Alles, was ,ist', ist an sich auch erkennbar" in dem Sinne, daß es, ohne irgendwie entgegenzuwirken, sich dem Erkennen darbietet, "wo und wie auch immer ein erkennendes Subjekt die Fähigkeit aufbringt, es sich zum Gegenstande zu machen".
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Für einen Intellekt also, dessen "Fähigkeit" unbegrenzt wäre, wäre auch das Sein ohne jede Grenze erkennbar, "rational"31. Die Grenze zwischen dem Rationalen und Irra· tionalen erhält aber in der Hartmannsehen "Kritischen Theorie des Irrationalen" 32 in gewissem Sinne dann doch einen definitiven Charakter, insofern nämlich als die Erkenntnis, "die allein wir kennen" (und zwar kennen aus dem phänomenal Gegebenen, zu dem insbesondere auch jenes Stoßen an unübersteigbare Grenzen gehört), die "wirkliche menschliche Erkenntnis" ise 3; insofern als "der Geist, den allein wir kennen" (aus den Phänomenen des geistigen Lebens, auch in seinem Fortgang durch die Geschichte, insonderheit die "Geschichte der Erkenntnis"), "gewordener, realer, geschichtlicher Geist" ist (176). Die Grenzerfahrungen, die der Mensch im Erkenntnisleben und in der Erkenntnisgeschichte macht, haben aber nicht bloß ihre Bedeutung für die Grundlegung der Ontologie34, sondern sie eröffnen auch eine metaphysische durchaus noch in dem von Hartmann kritisch restringierten Sinne - Perspektive: der endliche Geist vor der "Unendlichkeit des Seins" 35 . Dieses "unbestreitbare Infinitum, das über die menschliche ratio hinausweist", stellt sich aber in der Hartmannsehen Phänomenanalyse nicht als "unendliche Bewußtseinssphäre" dar, sondern nur als "Gegenstandssphäre", als "unendlicher Gegenstand", damit als eine "unendliche", für den endlichen Geist also prinzipiell unerfüllbare, "Aufgabe" 36 . Daß Hartmann die intellectusinfinitus-Tradition, die er in allen Formen der Subjektivität außer oder über dem empirischen Subjekt, auch noch im "transzendentalen Subjekt" Kants, sich fortsetzen sieht, abweist (175 f.), hängt offensichtlich mit seiner entschiedenen Abkehr von jedem Subjektivismus und Idealismus zusammen und ist, wie Max Scheler es gesehen hat, als "eine übertriebene Reaktion gegen die maßlosen Marburger überspannungen eines ,erzeugenden Denkens'" anzusehen37. In Gegensetzung zu der idealistischen Tendenz, das Sein (des Gegenstandes von Erkenntnis) auf Bewußtsein zurückzuführen und schließlich in Bewußtseinssetzung aufzulösen, kommt es bei Hartmann zu jener radikalontologi-
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sehen Ansichseinsthese, zu der Konzeption eines von Bewußtsein ganz und gar unabhängigen, mit seinem Schwerpunkt ausgesprochen bewußtseinsfemen, primär bewußt -losen Seins, in dem zwar - merkwürdig genug - "sekundär", sozusagen sporadisch38 und genetisch "erst spät im Gesamtprozeß des Weltgeschehens" 39 , faktisch erkennendes Bewußtsein auftritt, das aber in seinerunendlichen Weite nicht von Bewußtseinscharakter ist40 • Das Positive, das Hartmann in der intellectus-infmitus-Tradition sieht - ein Moment, das sich in der Erkenntnisproblematik, und wenn als "aporetischer Befund", offenbar unabweisbar durchhält - ist das in ihr zum Ausdruck kommende "kritische Grenzbewußtsein der endlichen Erkenntnis" 41 • Sie hat das Bewußtsein wachgehalten von etwas dem menschlichen Erkennen und Begreifen überlegenem, es übergreifendem, davon, daß menschliches Erkennen seine Bedingungen außer sich hat und selbst nicht durchschaut. Wenn Hartmann in der ,,Metaphysik der Erkenntnis" die Endlichkeit des Geistes, von dem allein auszugehen ist, unterstreicht, so geht es ihm dabei vor allem um die Gefahren, die er für das (ihm gnoseologisch so wichtige) ontologische Ansichsein in jeder überbetonung der Subjektivität sieht. Dagegen richtet er in der vorliegenden Abhandlung sein Augenmerk stärker auf das Werden und die Geschichte der Erkenntnis, die Entfaltung des Geistes in der "Realität des geschichtlichen Prozesses", Phänomene, die es gegen "das letzte Residuum des alten Dogmas vom eleatischen Stillstand des Geistes" (176) zu wahren gilt. Dahinter steht vor allem aber auch seine "langjährige, immer wieder neu einsetzende innere Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie des Geistes"42 • Zwar hatte Hegel den Geschichtsprozeß schon in die Selbstentfaltung des Geistes einbezogen, aber doch so, daß "in den Kategorien des Absoluten schon alles angelegt sein" sollte und darum "die dialektischen Stufen des Systems im Ganges des Geistes durch die Jahrhunderte als seine Phasen" wiederkehren mußten (176). Dagegen stehen nach Hartmann wir selbst mitten im Werden des geschichtlichen (objektiven) Geistes, wie es sich insbesondere in der Entwicklung der Wissen-
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schaften ( 136) und in der problemgeschichtlichen Entfaltung der Philosophie darstellt, "und sehen das Ende nicht ab" (176). Indem wir unsere eigene Stellung "als geistige Wesen mitten in der Welt" erfassen, ·"stehen wir bereits in jenem Prozeß der Erkenntnis, dessen Anfang und Ende wir nicht kennen." (180). Zu c) Nach Hartmann wird "alle ins einzelne gehende Ontologie zur Kategorienlehre"43 • Im Lichte der Ontologie muß sich auch das Erkenntnisproblem als eng verbunden mit dem Kategorienproblem erweisen (122). Entscheidend dabei ist die Doppeltheit des Auftretens der Kategorien: als Erkenntnisprinzipien einerseits und Seinsprinzipien andererseits (145). Das begreifende Erkennen (mit den in ihm enthaltenen apriorischen Momenten) beruht in allen Gegenstandsgebieten auf den Kategorien, genauer: auf einem Kategorienverhältnis, dem "Verhältnis der Erkenntniskategorien zu den Gegenstandskategorien" (122) welch letztere bei der Obergegenständlichkeit des Gegenstandes echter Erkenntnis gleich "Seinskategorien" sind -, auf dem "Identitätsverhältnis von Seins- und Erkenntniskategorien" (146). Hartmann beruft sich für diese Grundbedingung der Möglichkeit begreifenden Erkennens auf Kants "obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori", dessen Sinn er, "abgekürzt" gesagt, darin sieht, daß die Kategorien der Erkenntnis zugleich die der Gegenstände sind44 • Zu seinem "vollen Sinn" komme dieser Grundsatz der Identität aber "erst auf dem Boden der Ontologie" (122) -womit Hartmann allerdings auch schon den Rahmen des transzendentalen Idealismus (der Gegenstandskonstitution durch apriorische Formen des Subjekts), in dem Kants "oberster Grundsatz" seine Geltung hat, verlassen hat und in der Kategorienproblematik auf die Linie eingeschwenkt ist, die von Aristoteles herkommt. Für diesen sind "Kategorien" Grundaussagbarkeiten, die auf die Dinge selbst zutreffen, dies aber nur deshalb, weil sie zugleich, und sogar primär, Grundbestimmungen der Dinge selbst sind. Die Begrenztheit des menschlichen Begreifens hat ihren
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Grund darin, daß die Identität der Erkenntnis- und Seinskategorien eine "partiale" ist, daß es einen "überschuß an Seinskategorien" gibt, die nicht im Bewußtsein als Erkenntniskategorien wiederkehren45 _ Auch jene partiale Unerkennbarkeit-für-uns bei totaler Erkennbarkeit-an-sich des Seins findet ihre Erklärung darin, daß wir die den Seinskategorien entsprechenden Erkenntniskategorien nicht haben ( 155 )- So stellt sich also die Erkennbarkeitsgrenze, die im Gegenstandsfeld auftritt, schließlich dar als "die Grenze der kategorialen Identität" (146)- Mit dem "im Lichte der Ontologie" zutage tretenden Problem der "kategorialen Differenz" erweitert sich für Hartmann die Problematik der Erkenntniskategorien zu einem neuen weiten, noch kaum in Angriff genommenen Arbeitsfeld: der "differentiellen Kategorialanalyse". Ihre Aufgabe, die Identitätsgrenze genau zu ziehen, ist nicht schon dadurch zu lösen, daß man Kategorien, die nur Seinsprinzipien, von solchen, die "auch" Erkenntnisprinzipien sind, scharf trennt; denn die Grenze der kategorialen Identität geht offenbar auch mitten durch einzelne Kategorien hindurch ( 146). Auch die Geschichtlichkeit der Erkenntnis, um deren Herausarbeitung sich die "Abhandlung" insbesondere bemüht, stellt sich insonderheit dar als der geschichtliche Wandel der Kategorien, jedenfalls der Erkenntniskategorien, der Kategorien unseres Begreifens, gerade "im Hinblick auf gleichbleibende Seinskategorien" (160 f.). Dabei handelt es sich aber nicht bloß um "Kategorienbegriffe" und deren ,,leichtbeweglichen Wandel" (164), schon gar nicht bloß um "Denkformen", deren Wandel noch "um vieles reicher und beweglicher" ist (167). Gegen "Kant und die älteren Erkenntnistheoretiker überhaupt" sucht Hartmann nachzuweisen, daß auch jene (kategorialen) "wirklich fundamentalen Grundlagen" unserer Erkenntnis selbst und sogar das anscheinend "feste Apriori" (173 f.) in einem, wenn auch schwerfälligen und oft erst über weite Zeiträume der Geistesgeschichte hinweg aufweisbaren, Wandel begriffen sind. Dieser "kategoriale Wandel" besteht vor allem darin, daß neue Kategorien oder Kategorienmomente in das Bewußtsein durchdringen und diese sich dann, wenn
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sie sich erst einmal durchgesetzt haben, mit der Tendenz fortschreitender Annäherung an den Gegenstand weiter wandeln (160, 164). Die menschliche Erkenntnis wandelt sich also geschichtlich, nicht nur im Sinne eines Fortschreitens im Gegenstandsfeld in das Transobjektive hinein, sondern auch kategorial, d. h. in ihrem eigenen "Instrumentarium", indem die Erkenntniskategorien sich wandeln, in gewissen Grenzen auch wechseln, in ihrer Dominanz im Bewußtsein einander ablösen. Im ganzen sieht Hartmann in diesem kategorialen Wandel einen positiven Richtungssinn: der "bewegliche Apparat der Erkenntniskategorien" paßt sich inhaltlich fortschreitend dem Bestand der Seinskategorien an ( 17 5). Der geschichtliche Fortschritt der "kategorialen Identität" ermöglicht und garantiert den Erkenntnisfortschritt, den Fortschritt der Wissenschaft, die "ein einziger großer Prozeß ist", nach einem "inneren Gesetz der Wissenschaft" aber "notwendig ein Adäquationsprozeß, Annäherung an die Wahrheit", jedenfalls "in der Gesamtresultante" der gerade auch über Irrtümer und ihre Berichtigungen gehenden Bewegung des objektiven Geistes durch die Zeiten46 . Die Differenzierung und den Wandel des Erkenntnisverhältnisses sucht Hartmann, nachdem sie ihm im Laufe der Zeit in Einzelzügen aufgegangen waren, jetzt nicht mehr nur phänomenologisch zu beschreiben und an Beispielen aus dem "Begriffsmaterial" der Philosophiegeschichte zu belegen (165 ff.), sondern- und das ist ein neues Moment in dieser onto-gnoseologischen "Abhandlung" - er sucht nun auch deren durchgehende Gesetzlichkeiten aufzudecken47, mit dem Ziel, ein möglichst differenziertes und doch einheitlich verstehbares Gesamtbild des nunmehr in die Seinsverhältnisse und den ontologischen Schichtenbau der realen Welt eingegliederten Erkenntnisverhältnisses (179) zu erhalten. Des näheren ergeben sich dabei Gesetzlichkeiten für die Abstufung der Erkennbarkeit in der Schichtenfolge des Seienden, sowohl was die Gegebenheit als auch was das Begreifen, sowohl was die aposteriorische als auch was die apriorische Erkenntnis angeht (III, IV), für die gradmäßige Abwandlung der "gnoseologischen Indiffe-
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renz" (des Seienden gegen sein Erkanntwerden) nach Gegenstandsgebieten in den verschiedenen Seinsschichten (V), für den "kategorialen Wandel" in der Geschichte in Richtung fortschreitender Adäquation von Seins- und Erkenntniskategorien (VI, VII). Dabei zeigen sich tatsächlich auffällige, z. T. überraschende Korrespondenzen und Diskrepanzen (etwa von Erkennbarkeit und Schichtenfolge), nicht wenig muß aber noch offen bleiben (insbesondere was die Vergleichbarkeit der verschiedenen Gesetzlichkeiten miteinander und die Frage eines gemeinsamen Grundes ,,hinter der oberflächlichen Ähnlichkeit" angeht, 160), manches erscheint auch fraglich. Hartmann ist sich selbst der Anfanglichkeit und Vorläufigkeit seines Unternehmens bewußt: Nicht alle Zusammenhänge zwischen den Seinsund Erkenntnisverhältnissen scheinen gleichermaßen zugänglich (140), nicht alle Phänomene sind schon eindeutig geklärt (160, 172). Was den "kategorialen Wandel" nach Zeitaltem angeht, ist die Aufgabe einer "geschichtlich-empirischen Aufweisung", die über eine bloße ",Vermutung' des Gesetzes" hinausführte, zur Zeit noch nicht erfüllbar (165 ). Zu d) "Auf dem Boden der Ontologie" (176) hatte Nicolai Hartmann die Erkenntnisproblematik von Anfang an, schon in der "Metaphysik der Erkenntnis", behandelt. Durch die Ausarbeitung der von ihm neu grundgelegten Ontologie, an der er bis in sein letztes Lebensjahrzehnt hinein gearbeitet hat48 , hatte "die natürliche Eingliederung" der Gnoseologie in die umfassenderen ontologischen Zusammenhänge auch im einzelnen und des näheren seine Begründung erhalten49 • Was darüber hinaus in der vorliegenden "Abhandlung" aber noch auffällt und was eine neue Wendung in der gnoseologischen Problemstellung beim späteren Hartmann (ja eine gewisse Verschiebung der eigentlich erkenntnistheoretischen Fragestellung) anzuzeigen scheint, ist die "Eingliederung des Erkenntnisproblems in den größeren anthropologischen Problemzusammenhang", den das "erweiterte Erkenntnisphänomen", dem er jetzt nachgeht "gebieterisch" erzwingt" (142, 173); ist die Ten-
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denz, die auffälligen Gesetzlichkeiten, denen er für das Erkenntnisverhältnis als Seinsverhältnis, für seine Differenzierung und seinen Wandel in der Geschichte auf die Spur gekommen ist, in "anthropologischer Perspektive" (150) zu sehen, dort, wo erkenntnistheoretische Erklärungen sich nicht mehr finden lassen, "anthropologische Gründe" ( 142, 1 77) anzugeben und so zumindest "einen Teil der Erkenntnisphänomene aus den Seinszusammenhängen, in denen der Mensch als erkennendes Wesen steht", zu erhellen (144). Gesichtspunkte solcher Art, die beim erkennenden Menschen - also jetzt doch in der Richtung auf den Subjektpol des Erkenntnisverhältnisses - liegen, machen sich so häufig und in einem Maße geltend 5°, daß man sagen kann, die Erkenntnis werde nunmehr "im Lichte" nicht nur der Ontologie, sondern vor allem auch der Anthropologie gesehen. Allerdings besagt für Hartmann - bei seiner Konzeption einer ontologisch fundierten, von der Ontologie umgriffenen Anthropologie - "anthropologisch" zugleich auch "ontologisch" ( 142), ja stellt für ihn eine anthropologische Begründung "letzten Endes" eine "ontologische" dar ( 154 ). Es ist aber nicht nur die Entfaltung seiner eigenen Ontologie in Schichtenlehre und Kategorialanalyse, die auch anthropologische Aspekte in seiner grundsätzlich ontologisch fundierten Gnoseologie stärker hervortreten ließ, sondern auch die Entwicklung der zeitgenössischen Anthropologie, von der er sich schließlich doch stärker beeindruckt und beeinflußt erweist, als man bei seiner so sehr gegenstandsgerichteten Grundeinstellung - die ihm ja auch keinen Zugang zu der in seiner Zeit mächtig aufkommenden, ganz auf den Menschen, sein Seinsverhältnis und Seinsverständnis gerichteten Existenzphilosophie finden ließ 51 vermuten möchte. Hartmann beruft sich für die Wiedergewinnung einer sachgemäßeren Sicht der Erkenntnis ausdrücklich auf den "Umschwung in der Anthropologie unserer Tage", die im Begriffe sei, der künstlichen Herausiösung der Erkenntnis aus dem "größeren Prozeß geistigen Lebens in der Geschichte" ein Ende zu machen 52 • 1940 war Arnold Gehlens Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt erschienen, ein Grundwerk der
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mehr auf die Natur- als die Kulturphänomene im menschlichen Dasein ausgerichteten, sich mehr an die erklärenden Naturwissenschaften als an die verstehenden Geisteswissenschaften anschließenden Anthropologie. Wie intensiv sich Hartmann mit diesem Werk auseinandergesetzt hat und wie viel er bei mancher Kritik im einzelnen von ihm zu lernen bereit war, davon zeugt die ausführliche Rezension, die er ihm gewidmet hat 53 . Sie beginnt mit der auch für Hartmanns eigene Bestrebungen in seinen späteren Jahren kennzeichnenden Feststellung: "Auf nichts ... hat man in Fachkreisen der deutschen Philosophie so sehnlich gewartet wie auf einen neuen, grundlegenden Ansatz der philosophischen Anthropologie". Und zum Abschluß der Rezension bringt er seine eigene anthropologische Grundüberzeugung zum Ausdruck (in der er sich mit Gehlentrotz dessen ausdrücklicher Ablehnung aller "Schichten" einig weiß): "Es gibt keine geistigen Gebiete menschlichen Lebens, weder des persönlichen noch des geschichtlichen, die nicht auf Seinsgrundlagen aufruhten, welche in der ,Natur' des Menschen und seiner elementaren ,Stellung in der Welt' bestehen"54. Zwar kann ihn schließlich auch Gehlen nicht davon überzeugen, daß "Philosophie als eine Wissenschaft mit dem Vorzugsthema ,Der Mensch'" zu bestimmen sei, er sieht es aber immerhin durch dessen Buch als erwiesen an, "daß die Philosophie als Wissenschaft sehr wesentlich durch die Anthropologie bestimmt ist" 55 . Wenn Hartmann im übrigen bei Gehlen noch den ausdrücklichen "Problemanschluß an das gnoseologische Arbeitsgebiet" vermißt, so kann man vermuten, daß er seinerseits von seiner reich entfalteten Gnoseologie her fortan den Problemanschluß an das anthropologische Arbeitsgebiet gesucht hat. Die Abhandlung "Naturphilosophie und Anthropologie" von 194456 nimmt die anthropologische Problematik, die in dem sonst so umfassenden Gesamtwerk Hartmanns bisher nicht zum Thema geworden war, ausdrücklich auf und stellt auch schon die für die Gnoseologie sich ergebenden neuen Perspektiven heraus: Die Erkenntnis ist "bis ins einzelne durch das Verhältnis der Schichten bestimmt und müßte daraufbin eigentlich von Grund aus neu untersucht
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werden, aber das ist eine Aufgabe größeren Stils und bedarf der Herausarbeitung neuer Ansätze" 57 . Aus der an dieser Stelle sich noch anschließenden Charakterisierung der Grundlinien, denen eine solche "IJ.&rausarbeitung" zu folgen hätte, wird ersichtlich, daß es diese "Abhandlung" von 1949 ist, mit der die in der neuen Aufgabenstellung schon erreichten Ergebnisse vorgelegt werden. In der aus dem gleichen Jahre 1949 stammenden Untersuchung "Alte und neue Ontologie" weist Hartmann, jetzt schon im Rückblick auf die Entwicklungen der letzten Zeit, nicht nur auf die Verbindung von Gnoseologie und Anthropologie, sondern stellt auch den Zusammenhang wieder her mit der Fundierung in der Ontologie als der eigentlichen "Grundwissenschaft": "Das neuzeitliche Denken hat die Grundwissenschaft der Philosophie in der Erkenntnistheorie gesucht ... Man entdeckte, daß Erkenntnis nur eine von vielen Bezogenheiten des Bewußtseins auf die umgebende Welt ist ... So sah man sich auf den ganzen Aufbau des Menschenwesens zurückverwiesen und mußte eine Wissenschaft vom Menschen vor die Erkenntnistheorie schalten. Aber auch das hat sich als Halbheit erwiesen. Zum rechten Verständnis des Menschenwesens gehört offenbar das Wissen um die Daseinsverhältnisse, in denen der Mensch steht . . . . Man mußte also den Menschen einschließlich seiner Erkenntnis aus seinem Einbau in das Ganze der realen Welt heraus verstehen. Damit gelangte man auf das alte Problem der Ontologie hinaus - derselben Wissenschaft also, die man einst zugunsten der Erkenntnistheorie zurückgestellt und zuletzt ganz aufgehoben hatte" 58 . Hartmann selbst hatte schon in der "Grundlegung der Ontologie" die "künstliche Isolierung" der Erkenntnis, die er für die Wirkungen der "Scheinargumente der Skepsis und des erkenntnistheoretischen Idealismus" verantwortlich machte59, durch die Einbindung des Erkenntnisaktes in ein Gesamt von "transzendenten Akten" zu überwinden gesucht, "die alle wiederum in einem Gesamtphänomen des Lebenszusammenhanges vereinigt sind" 60 , wenn diese im Grunde schon anthropologische "Rückfundierung" der Erkenntnis damals auch noch ganz im Dienste der (gnoseologischen)
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Grundlegungsproblematik der "Gegebenheit" des realen Seins" 61 stand. Im Lichte der Anthropologie und (das besagt letztlich) der Ontologie geht es also nicht mehr bloß um die Erkenntnis, wie sie in ein~r eigentlich gnoseologischen Reflexion sich selbst zum Gegenstand der Untersuchung macht, d. h. nicht mehr bloß um die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen wahrer und sicherer Erkenntnis, nach der (vom Erkenntnisakt unabhängigen) objektiven und intersubjektiven Geltung von Erkenntnisgehalten und den Bedingungen ihrer Möglichkeit, nach der Übereinstimmung mit dem zum Gegenstand gemachten Seienden (Erkenntniswahrheit), nach den Möglichkeiten der Vergewisserung dieser Übereinstimmung (Wahrheitskriterium). Sondern es geht um das Sein der Erkenntnis, um jenes Seinsverhältnis, als welches Erkenntnis in der Welt auftritt und das allein aus seiner Einbettung in den gesamten "Seinszusammenhang der Welt" begriffen werden kann. Denn diese ist keineswegs nur "Objekt", also nur "das Gegenglied des erkennenden Subjektes", sondern die Erkenntnis selbst ist vielmehr nur "ein Stück der Welt", "und zwar ein von vielen anderen Stücken getragenes, die alle ihr gegenüber primär sind und ein selbständiges Bestehen haben" (138). Wie der Aufbau der realen Welt, so muß auch die Erkenntnis (ihr Akt sowohl wie die zu ihm als "transzendentem" gehörenden Gegenstände), die die "neu aufkommende Ontologie . . . von Grund aus neu sehen und beschreiben lernte" (128), ihre schichten- und kategorialontologische Erklärung finden. Mögen ihre Anfänge auch schon in der Schicht des Bewußtseins feststellbar sein, "zur Entfaltung" - was ihre Zweistämmigkeit (Erfahrung und Denken), ihre Möglichkeiten des Begreifens, der Theoriebildung und vor allem auch der Reflexion angeht - "kommt sie offenbar erst in der höchsten Schicht, im Geist" (138). Als das Verhältnis aber, das Erkenntnis wesenhaft ist, als "transzendentes" Seinsverhältnis ist sie zugleich auf alle andem Seinsschichten bezogen. Es sind dieselben Schichten, von denen die geistige Schicht, in der die Erkenntnis seinshaft verankert ist, "getragen" wird. Dieses Getragen-
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sein des erkennenden Geistes durch die niederen Schichten hat natürlich seine Auswirkungen auch in der Erkenntnis (138, 145), wie sie allein phänomenal gegeben ist, in all ihren Abhängigkeiten (etwa von den Sinnen und deren leiblichen Bedingungen), in der Begrenztheit ihres Horizontes, in ihrer Werdehaftigkeit und ihren Entwicklungsmöglichkeiten. Sie fmdet also ihr "Gegenglied" in allen vier Seinsschichten, die geistige Schicht nicht ausgenommen, so daß sie auch sich selbst in einer Erkenntnis-"Theorie" zum Gegenstand zu machen vermag (139). Natürlich kann der erkennende Geist auch sich selbst als "objektiven Geist" zum Gegenstand machen, dies nach Hartmannscher Auffassung sogar noch leichter und besser, da, während in der Selbsterkenntnis das Subjekt "sich selbst im Wege steht", die Objektivationen des Geistes wieder jene "Gegenstellung" einnehmen, die zur Erkenntnis gehört (143, 151). Erkenntnis kann sich also "grundsätzlich auf alles Seiende erstrecken", wenn auch, was Gegebenheit und Begreifbarkeit angeht, nicht auf alles in gleicher Weise und in gleichem Maße, sondern entsprechend den Stufengebilden ihres Gegenstandes "geschichtet" abgewandelt. So bildet die Erkenntnis selbst ein Stufenreich (139, 145). Wenn es um das Sein der Erkenntnis und ihre Stellung im Aufbau der realen Welt geht, dann geht es voi: allem auch um das Sein dessen, der allein als ihr "Träger in der Welt" (131) auftritt, um das Sein des Menschen und seine Stellung in der Welt. Zwar ist der Mensch nicht bloß nach Hartmann nicht einmal primär- Erkennender, sondern durch eine Vielzahl transzendenter Akte mit der Welt verbunden62 • Jedoch hängt das "unbestreitbare übertierische im Menschen" 63 , seine spezifische Stellung in der Welt, in der er sich zurechtzufmden, in der er nicht nur zu bestehen, sondern sich zu entfalten, "höherzubilden" hat, entscheidend von jener "sehr eigenartigen und unvergleichlichen" Form der Beziehung zur Welt ab, die die Erkenntnis darstellt (138). Schon von seiner biologischen Bedingtheit her - als das "typische ,Mängelwesen'" - ist er angewiesen auf ein "Entlastungsprinzip" geistiger Art, auf jene "sich allmählich herausbildende und nun in schroffem
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Gegensatz zur Gebundenheit tierischer Instinkte stehende freie Einsetzbarkeit des erworbenen Könnens und mit ihr die fortschreitende Weltorientierung und -beherrschung" 64 • In seiner geschichtlichen Entfaltung als Kulturwesen vollends spielt die Erkenntnis, die Erkenntnis der Welt und auch seines eigenen Wesens, die entscheidende Rolle (126 f., 131, 179 f.). Ontologisch stellt sich der Mensch dar als das "prinzipiell vielschichtige Wesen": in ihm kehren "dieselben Seinsschichten, welche die ganze reale Welt ausmachen", von der anorganischen bis hin zur geistigen, wieder. Ihr "Ineinandergreifen" ist für den ganzen Vollzug der menschlichen Existenz, der persönlichen sowohl als auch der geschichtlich-gemeinsamen kennzeichnend 65 • Die gnoseologische Bedeutung dieser schichtenontologisch-anthropologischen Konzeption liegt darin, daß der Mensch in ganz bestimmter Weise mit alljenen Schichten des Realen seinsmäßig, lebensmäßig verbunden ist, auf die er intentional in seinem Handeln und Erkennen bezogen ist, in denen die Gegenstandsgebiete seines Erkennens liegen. Vom "geschichteten" Sein des Menschen her können darum auch die schichtenmäßig abgestufen Möglichkeiten und Grenzen seiner Erkenntnis, die schieb tenbezogene Differenzierung und Abwandlung des Erkenntnisverhältnisses verständlich gemacht werden. In dieser betont "anthropologischen Perspektive" stellt Erkenntnis sich dar als das besondere Mittel der Lebensfristung und Lebensentfaltung eines Wesens, das auf Grund seiner einmaligen Vielschichtigkeit eine Sonderstellung beanspruchen kann. An ihr "hängt die Orientierung des Menschen in der umgebenden Welt", in der vorgefundenen natürlichen sowohl wie in der geschichtlich geschaffenen66 • Erkenntnis dient also primär und "von Haus aus" vitalpraktischen Zwecken des Organismus, sie "erhebt sich" beim Menschen dann aber auch "zu höheren praktischen Zielen", und erst zuletzt wird "sie von allen ihren äußeren Zwecken frei und dient nur dem ... Erfassen der Welt als solchem". Auf dieser Stufe, wie sie im wissenschaftlichen Erkennen erreicht wird, bildet sich ein eigenes geistiges Lebensgebiet des Menschen (138, 158), in dem er in neuen
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Dimensionen und weit über das praktische Interesse hinaus Fortschritte zu machen und eine Sinnerfüllung eigener Art zu finden vermag 67 • Die Stellung des Menschen in der Welt, die praktisch wie theoretisch von seiner Orientierung in dieser ihn umgeben· den Welt und von der Anpassung an ihre vorbestehenden und gegenstehenden Gegebenheiten abhängt, "verändert sich geschichtlich mit jedem Zuwachs der Erkenntnis" (126). Der allgemeine (biologische und geschichtliche) Pro· zeß der Anpassung, jene "fortschreitende Weltorientierung und -beherrschung", geht mit dem "kategorialen Wandel" und der "kategorialen Adäquation", der fortschreitenden Adäquation von Erkenntnis- und Seinskategorien, in einem nur schwer zu durchschauenden gegenseitigen Bedingungsverhältnis zusammen 68 • Unter dem Gesichtspunkt der Lebensdienlichkeit sieht Hartmann die Erkenntnis, ihre Differenzierung und ihre Entwicklung, noch unter einer eigenen Gesetzlichkeit stehen: dem "Gesetz der Aktualität" (160, 176), der "Lebensaktualität" (159). lnfolge der "Verwurzelung der Erkenntnis im aktuellen Lebenszusammenhang" entwickelt sie sich "durch den Druck der Lebenswichtigkeit" (158 f.). So sucht Hartmann etwa auch das höchst auffällige Phänomen der "weit auseinanderklaffenden Grade der Gegebenheit" in den verschiedenen Gegenstandsfeldern, das sich erkenntnistheoretisch und auch ontologisch (durch die Schichtennähe oder Schichtendistanz) nicht weiter erklären läßt, durch das "anthropologische Argument der Dringlichkeit immer neuer Orientierung" verständlich zu machen (144). Wenn "das dem Geiste Heterogenste und das ihm Homogenste", das Dinglich-Materielle und das (Objektiv-)Geistige ihm am besten zugänglich sind, während in den mittleren Schichten, im Organischen und im Seelischen, die Gegebenheit weit zurückbleibt, so soll das seinen Grund in der "ursprünglich praktischen Angepaßtheit der Erkenntnis an das Lebensnotwendige" haben. Für das, was für dieLebensfristung zunächst am dringlichsten ist, für die Auseinandersetzung mit der Natur und die Beherrschung ihrer Kräfte, ist eine weitgehende Gegebenheit der dinglich-sinn-
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fälligen Welt wesentlich (und steht darum- was allerdings nicht selbstverständlich ist, zumal wenn man keine finale Erklärung zuläßt - auch zur Verfügung). In der "unmittelbaren Lebenssphäre des Geistes" auf der anderen Seite dürfen seinem Erkenntnisstreben keine allzu großen Hemmnisse entgegenstehen, weil sie die Sphäre "seiner ständigen Situationen, Konflikte und Entscheidungen ist" (142, 144). Dagegen ist "dem Organismus und dem seelischen Geschehen gegenüber ... das Sichzurechtfinden nicht so aktuell" (154). Dem organischen Leben ist sogar am besten gedient, wenn seine Funktionen "dem Bewußtsein entzogen" sind und "von seiner Willkür nicht gestört" werden. "Ihr Verborgensein für uns ist also selbst organisch zweckmäßig" (142). Schon aus biologischen Gründen konnte der Mensch keine "größere kategoriale Identität" im Bereich des organischen Lebens haben, da er sonst "in der Konkurrenz der Lebewesen unterlegen gewesen wäre, sich nicht mit gleichem Erfolg hätte durchsetzen und zu jener Beherrschung der umgebenden Welt hätte aufschwingen können, die für den Menschen charakteristisch ist" (150). Hartmann beruft sich, um die auffälligen Abwandlungen des Erkenntnisverhältnisses verständlich zu machen, nicht selten auf eine Art Zweckmäßigkeitsprinzip. So erscheint ihm etwa auch die abgestufte Einschränkung der "gnoseologischen Indifferenz" von Natur aus nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten geregelt (158 f., 160). Auch wenn man sich der von Hartmann immer so betonten Unterscheidung von "Zwecktätigkeit" und bloßer "Zweckmäßigkeit" bewußt bleibt, erscheint diese Erklärungsweise doch problematischer, als Hartmann selbst es wohl wahrhaben wollte. Es ist und bleibt die Frage, ob es auch nur "Zweckmäßigkeit" ohne alle (gesetzten) Zwecke und letztlich also ohne ein "bestimmendes Zweckprinzip" (150, 153) überhaupt zu geben vermöchte. Jedenfalls erklärt ein Prinzip der Zweckmäßigkeit eigentlich nichts, sondern ist selbst höchst erklärungsbedürftig, und man kann sich nur um den Preis einer "Problemabweisung" (wie sie Hartmann selbst sonst immer vern:tieden wissen wollte) dieser Fragestellung
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entziehen. Denn damit, daß man verständlich macht, wie mit einer bestimmten Form, einer bestimmten Reichweite, einer bestimmten Begrenzung der Erkenntnis für den Organismus am besten gesorgt ist, ist ja noch nicht erklärt, daß und wie dieser eine solche Erkenntnisfähigkeit dann auch wirklich auszubilden, im Maße des Notwendigen weiterzuentwickeln (und dabei noch, wo dies unzweckmäßig wird, auch zu begrenzen) vermag. Selbst in der selektivistischevolutionistischen Deutung, die Hartmann auch anführt, ohne sie "auf die Spitze treiben" zu wollen69 , scheint noch ein krypto-finales Moment zu stecken. Wird denn so nicht zumindest nahegelegt, daß in der Evolution ein richtendes Prinzip (der Orthogenese) wirksam ist, in der Weise, daß z. B. für ein bestimmtes Wesen all das, was es im Kampf ums Dasein braucht, weil es nicht wie viele andere in ihm untergehen "soll", auch tatsächlich bereitgestellt ist bzw. daß ihm die Anlage oder Fähigkeit gegeben ist, entsprechende Hilfsmittel zu entwickeln oder etwaige " ,Mängel' seiner Ausstattung" durch ein dann aufeinmal zutage tretendes "En tlastungsprinzip" auszugleichen 70 . Hartmann zieht sich für diese Problematik auf die Undurchschaubarkeit des nexus organicus überhaupt, also auf eine Art Transintelligibilität zurück. An diesem Punkt versage die "kategoriale Identität: Es fehlen eben unserem Verstande die maßgebenden Kategorien des organischen Gegenstandes"71. Wenn man sich vor Augen hält, wie weitgehend in der "Abhandlung" die Erkenntnis (ihr Wesen, ihre Funktionen, ihre Gesetzlichkeit, ihre Geschichte) aus der Natur des Menschen und der realen Welt, in die er eingebunden ist, erklärt wird, aus jener Natur, deren schichtenmäßigen Aufbau und kategoriale Bestimmtheit die Ontologie und insbesondere auch die Naturphilosophie beschreibt, analysiert und in Gesetze faßt, dann kann man ermessen, wie weit Hartmann sich inzwischen von jenem Idealismus entfernt hat, dem er bei seinen Marburger Lehrern begegnet war. Es war ja das Ergebnis der "Kritik der reinen Vernunft" gewesen, daß die Welt (der Erscheinungen) allein aus den Bedingungen der Erkenntnis, aus den apriorischen Anschau-
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ungsformen und Kategorien des Subjektes (der Wissenschaften) ihre Erklärung finden konnte, daß also nicht die "Natur" die Erkenntnis erklärte, sondern diese, indem sie sie ja erst konstituierte, die "Natur". - Hat aber Hartmann nunmehr tatsächlich die Erkenntnis in einem solchen Maße von biologischen Bedingungen und Bedürfnissen abhängig gemacht, sie in einen so engen Zusammenhang mit den Anpassungsnotwendigkeiten und -erfolgen des Lebewesens Mensch gebracht, daß er, nachdem er einen entscheidenden Beitrag zur Oberwindung der idealistischen Mißdeutung des Erkenntnisphänomens geleistet hatte, jetzt in die Gefahr des "Biologismus" (und man möchte hinzufügen: des Pragmatismus) und damit einer ,,Preisgabe des alten und eigentlichen Erkenntnisproblems" (173 f.) geraten ist? Hartmann ist viel zu sehr um eine unverstellte Sicht der Phänomene in ihrer ganzen Breite bemüht, er ist ein viel zu umsichtiger Problemdenker, als daß er, wenn man nur seine Gesamtkonzeption nicht aus dem Auge verliert, so leichthin auf irgendeinen Ismus festzulegen wäre 72 • Aber die genannte Gefahr hat er offenbar selbst gesehen, jedenfalls glaubt er sich mit dieser von ihm selbst erhobenen Frage des Biologismus ausdrücklich auseinandersetzen zu müssen (173 f.). Zwar versteht er, "anthropologisch gesehen", die Erkenntnis "als Anpassung des Geistes an die schon vorbestehende Welt" (159, 162), zwar gehören nach ihm der Wandel der Erkenntniskategorien, die fortschreitende "kategoriale Adäquation" tatsächlich der "allgemeinen Anpassungstendenz" (173), wie sie im Bereich des Lebendigen herrscht, an. Jedoch will er dabei "Anpassung" offenbar nur in einem analogen Sinne verstanden wissen: "Anpassung", wie sie der Erkenntnisfortschritt darstellt, "ist deswegen keine biologische, weil sie vielmehr eine kategoriale ist und diese sich im geschichtlichen Prozeß des Geisteslebens abspielt" (175). Sie mag ihre Wurzeln in der biologischen Anpassung haben, ist aber deren Fortsetzung in der Geschichte, in dem "Abschnitt des Weltgeschehens, in welchem der Mensch einschließlich seines Geisteslebens die Ereignisse mitbestimmt". Es handelt sich dabei sozusagen um eine zum Bewußtsein ihrer selbst gelangte "Anpas-
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sung", die dann nicht mehr "unter dem Druck harter Selektion" wie im Tierreich (174) vor sich geht, sondern "auf der Höhe des Geistes aktiv und im Lichte des zur Entfaltung gelangten Bewußtseins zweckmäßig" bzw., wie man jetzt sagen kann, zwecktätig weitergetrieben wird. Ist so erst "die Erkenntnis der Faktor der Orientierung in der Welt", dann ist sie "ihrem Wesen nach zugleich mehr als Anpassung, denn sie hat den Richtungssinn auf Entfaltung, Beherrschung und Erhöhung des Menschenwesens in sich" (162). Erkenntnis vermag sich auch freizumachen von der Rücksicht allein auf das dem (biologischen) Leben Dienliche und das für praktische Vorhaben Förderliche. Als reines Erfassen (138) dessen, was ist, untersteht sie keiner andem Norm als der der Wahrheit. Und "Wahrheit" ist nicht relativ: Da sie in der Obereinstimmung mit der Wirklichkeit, wie sie an sich ist, besteht und diese sich "nicht nach dem Subjekt und seinen Auffassungen" richtet, ist sie völlig unabhängig "von den wechselnden Meinungen und Oberzeugungen der Menschen, von ihrem Wissen oder Nichtwissen" um sie "oder - was dasselbe ist - vom Fürwahrgelten und Anerkanntsein in bestimmter Zeit" (133 f.). In der Auseinandersetzung mit dem Biologismus-Einwand, der sich gegen bestimmte Befunde richtete, wie sie sich Hartmann in der erweiterten Erkenntnisproblematik (173) ergeben hatten, konnte er sich auch auf seine schichtenontologisch und entsprechend kategorialanalytisch unterbaute Anthropologie berufen. Nach dieser garantieren die Unableitbarkeit (entsprechend dem "Gesetz des Novum") und die Autonomie (entsprechend dem "Gesetz der Freiheit") 73 des Geistigen eine Eigenständigkeit jener "eminent geistigen Funktion", die die Erkenntnis bei allem Getragensein (durch die niederen Schichten) darstellt (139), und auch eine Eigengesetzlichkeit des Erkenntnisfortschrittes. Als Prozeß des geistigen Lebens bewegt sich dieser, mag er im übrigen auch als ein "in den allgemeinen Prozeß der Anpassung des Menschen an die umgebende Welt" sich einfügendes Anpassungsphänomen anzusehen sein (173), doch "in weitgehender Freiheit von den Anpassungsvorgängen des Organischen" und hat "auch inhaltlich keine
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Ähnlichkeit mit dem phylogenetischen Werdegang organischer Formen und Funktionen". Greifbar werden kann allerdings ein Prozeß solcher Art nur in einer Anthropologie, die "selbst nicht im Biologischen steckenbleibt, sondern das geistig-kulturelle Leben des Menschen in ihren Phänomenbereich einbezieht" (175). Anmerkungen 1.
2.
3. 4. 5.
6.
Hartmann selbst rechnet außer "Zur Grundlegung der Ontologie" (1935) dazu: "Möglichkeit und Wirklichkeit" (1938), "Der Aufbau der realen Welt" (1940), "Philosophie der Natur" (1950), s. Hartmanns Selbstdarstellung in: Philosophen-Lexikon. Handwörterbuch der Philosophie nach Personen, hrsg. von Werner Ziegenfuß, Bd. 1, Berlin 1949, 454-471 (im folgenden = Sd). Sicher hat aber auch "Das Problem des geistigen Seins" von 1933 seinen genau zu beschreibenden und unaufgebbaren Platz im ontologischen Denken Hartmanns. In der Darstellung des systematischen Gesamtaufbaus seiner Philosophie rückt Hartmann die "Philosophie des Geistes" hinter die "Naturphilosophie" und vor die ,,Ethik" ein (Sd 469 ff.). Genauere bibliographische Angaben s. u. Literaturverzeichnis. Sd 454. In einem Brief vom 12.4.1918 an Heinz Heimsoeth spricht Hartmann von einem ,jahrelangen Ringen um einen rein ontologischen Gesichtspunkt" ("Nicolai Hartmann und Heinz Heimsoeth im Briefwechsel", hrsg. von Frida Hartmann u. Renate Heimsoeth, Bonn 1978 (= Bw), S. 299. Nach dem "Vorwort" von 1934 bildete "Zur Grundlegung der Ontologie" (= GdO) den "Auftakt zu einer Ontologie", die "seit zwei Jahrzehnten in Arbeit" war (V). Sd 454. "Die Erkenntnis im Lichte der Ontologie" ist zuerst erschienen in: "Kleinere Schriften", Bd. I(= KS I), Berlin 1955, S. 122180 (im folgenden kurz "Abhandlung" genannt; Seitenzahlen ohne weitere Angaben beziehen sich immer auf diese "Abhandlung"). 179, vgl. 127, 136 f., 154. Darum steht auch, obwohl Hartmann seinen neuen Weg mit einer "Metaphysik der Erkenntnis" begonnen hatte, in seiner Darstellung des systematischen Gesamtaufbaus "Erkenntnistheorie" (zusammen mit der Logik) an letzter Stelle, womit "zugleich der Kreis der durchlaufenen Problemgebiete sich schließt" - zurück zu der hier an erster Stelle stehenden "Ontologie" (Sd 466, 469).
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7. GdO VII, X f. (wobei Hartmann "philosophia prima" jedoch ausdrücklich nur in jenem restringierten Sinne meint, der zwar den aristotelischen Ansatz der Seinslehre, nicht aber zugleich auch dessen Ausfaltung in der aristotelischen Metaphysik umfaßt). 8. "Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis"(= MdE) 189. 9. 127, dazu: MdE 184. 10. GdO 32;s. "Abhandlung"179,dazu: 127, 136f., 154. 11. MdE 184f.,214. 12. 179. - Erkenntnistheorie ist aber auch "im Lichte der Ontologie" natürlich keine Erkenntnis in der intentio recta, nicht Erkenntnis von Gegenständen selbst, sondern sie ist und bleibt Erkenntnis der Erkenntnis, wenn auch unter besonderer Berücksichtigung ihrer Gegenstandsgerichtetheit, sie ist Reflexion auf die intentio recta der Erkenntnis, auf ihren Transzendenzcharakter. 13. 130, 136,145, 155, 176. 14. eigentlich, nach dem Sprachgebrauch, wie er sich nun einmal entwickelt hat: ein "transzendierender", ein Akt also, der die Bewußtseinsgrenzen hin auf den (bewußtseinstranszendenten) Gegenstand transzendiert; bzw., wie man im Hinblick auf bewußtseinsimmanente Gegenstände hinzufügen muß, zumindest die Aktgrenzen hin auf den (akttranszendenten) Gegenstand. Zit.: 128, dazu: 129, 136, 138 f., 146, 170, 174, 176 f.; s. GdO 23. Kap. Abschn. c. 15. Zitiert: 122, 176;s. Abschn. IV, VI, VII. 16. 142, 154; s. bes. Abschn. IV, 3. 17. Vgl. MdE 194, 214, 284-287. 18. MdE 309. 19. MdE 286 f. (Hervorhebung vom Autor)- Vgl. Verf. "Kopernikanische Wende in der Philosophie des 20. Jahrhunderts?" in: "Nicolai Hartmann 1882-1982", hrsg. v. AJ. Buch, Bonn 1982, 20. 21. 22. 23. 24.
s.
Zit.: 130, s. 136, 149, 173 f. 123,126, 144, 154. MdE 276. 123, 125, 128, 130, 132 f., 136 f., 145, 155. Zit.: 146; s. 129 f., 135 f., 146, 161,164, 175.Hartmannnimmt auch wieder auf den "alten Adäquationsbegrifr• Bezug, "wie die traditionelle Definition der ,Wahrheit' ihn als adaequatio intellectus et rei" ausspricht" (175). Vgl. etwa Thornas von Aquin, "Summa theologica" I, 16, 2. 25. 124, 126, 130, 135, 146, 155. Vgl. MdE 5. Kap. Abschn. g, i; 6. Kap. Abschn. e, f; 32. Kap. u. 58.-60. Kap_ 26. MdE 54 ff. 27 _ 155; vgl. MdE 59 f., 72.
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28. 123, 131; zu dem aus dem "Relationscharakter der Erkenntnis" abgeleiteten "korrelativistischen Vorurteil" der "subjek tivistischen Theorien" vgl. GdO 10. Kap. Abschn. b. 29. CdO 162 f., zum "gnoseologischen und ontologischen Ansieh· sein" allgemein: 22. Kap., zum "Ansichsein des Transobjektiven und des Objizierten": 25. Kap. Abschn. b, zum "Ansichsein des Irrationalen": 26. Kap. Abschn. d. Zur Bedeutung der lrrationalitätsthese für die Erkenntnisauffassung Hartmanns und seine Neubegründung der Ontologie s. auch MdE 30.-35. Kap. ("An· sichsein und Irrationalität") und Hartmanns briefliche Äußerung vom 8.8.1912: ",Rational' denke ich mir das Sein jedenfalls nicht; denn ,rational' bedeutet mir eine ,unserer Vernunft ge· mäße Struktur' ... deswegen halte ich an der überwiegenden Ir· rationalität des Seins fest. (Nur dieses ist es, was ich mit Ontolo· gie bezeichnen wollte). Das Schwergewicht der Probleme und Gegenstände liegt dann immer außerhalb der Erkenntnis; und diese ,Extraponderanz' scheint mir wesentlich zu sein" (Bw 127.) - Vgl. Verf. "Ansichsein. Untersuchung zum Verhältnis von Sein und Erkennen im Anschluß an Nicolai Hartmann", in: Salzburger Jahrb. f. Philosophie 23/24 (1978/79) 39-60. 30. 138 f., 141, 143, 152, 159, 170 f., 176. "Die entscheidende Grundkategorie des ,objektiven Geistes'" übernimmt Hartmann von Hege!, der sie "entdeckt, aber zugleich auch ... als Sub· stanz verkannt" hat (152, 170 f.); allerdings in einem rein phä· nomenologisch·deskriptiv gemeinten Sinn - der nur die ge· schichtlieh "gemeinsame Sphäre" von "Recht, Sitten, Religion, Sprache, Wissen" bezeichnet, "in der wir uns bewegen und zurechtfinden müssen" (138, 141, 143), also unter Abweisung je· der spekulativen Weiterführung und Durchdringung (I 75 f.). Zwar folgt entsprechend der Grundstruktur der Hegeischen Geistlehre auch in der Hartmannsehen Aufrollung des "Pro· blems des geistigen Seins" die Lehre vom "objektiven Geist" ("Das Problem des geistigen Seins", im folgenden= PdgS, 2. T.) auf die vom "personalen Geist" (I. T.). Anstelle des "absoluten Geistes" aber, der bei Hege! erst "der Geist in seiner absoluten Wahrheit" und darum auch das ist, worin Geist überhaupt erst seinen Grund findet ("Encyclopädie der philosophischen Wissen· schaften" 3. T.: "Philosophie des Geistes"; zit. Ausgabe J. Hoffmeister, PhB 33, 5. Auf!. Leipzig 1949, 330), folgt bei Hartmann als drittes "Der objektivierte Geist" (3. T.). 31. 155. Zu "Begriff und Stellung des ,für uns' Unerkennbaren" s. GdO 26. Kap. Abschn. b. 32. MdE 33. Kap. Abschn. d. 33. GdO 159. 34. "Weil ... am Phänomen des Irrationalen die Gegebenheit des An· sichseinsder Evidenz am nächsten gebracht ist ... "(GdO 163).
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XXXVII
35. "Wohl aber bedeutet es für die Philosophie, sofern ihre Grundprobleme auf fast allen Teilgebieten metaphysischer Natur sind, einen Gesichtspunkt von entscheidender Bedeutung. Ihr erweitert sich gerade dadurch die Perspektive ins Unbegrenzte. Im Erkennen ihrer Endlichkeit nimmt sie Fühlung mit dem Unendlichen" (MdE 257). 36. MdE 196,312. 37. "Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus", Vorwort zur 2. Aufl., 4. Aufl. Bern 1954, 21 f.- Das "transzendentale Subjekt" ist, problemgeschichtlich gesehen, für Hartmann "nichts anderes als der säkularisierte und sehr kritisch eingeschränkte intellectus divinus der Scholastiker" ("Das Problem des Apriorismus in der platonischen Philosophie", KS II 82; vgl. MdE 150). "Mit der Sphäre des ,Subjekts überhaupt' ist somit eine Gegenstandssphäre antizipiert, die der gesuchten Seinssphäre im wesentlichen entspricht -auch gerade sofern sie das empirische Subjekt und Objekt umspannt. Läßt man an den Bestimmungen dieser Sphäre den Rest des Subjektivismus fallen, streicht man aus ihr die vieldeutige Fiktion des transzendentalen Subjekts ... so steht man mitten in der kritischen Ontologie ... (MdE 196; dazu GdO 14 u. ,,Abhandlung" 179). 38. als "Reflexionspunkte im Sein" (MdE 308 f). 39. 176, vgl. 131, 162. Vgl. auch "Neue Wege der Ontologie" (= NWdO) 226: " ... der Mensch überhaupt ein spät auftretendes Phänomen in der genetischen Folge der Gebilde ... , welche die Welt ausmachen. Über seine Entstehung selbst ist damit freilich nichts vorentschieden; sie bleibt in mancher Hinsicht problematisch, und es ist durchaus nicht nötig, daß die Ontologie es mit diesem Problem aufnehme". 40. ,Jedenfalls darf die Unendlichkeit des Seins nicht von vornherein als unendliche Bewußtseinssphäre betrachtet werden. Das gerade ist die kritische Haltung der Ontologie, daß sie ohne diese Deutung auskommt, ohne sie grundsätzlich abzuschneiden" (MdE 312, Hervorhebung vom Autor). 41. MdE 257. Vgl. GdO 160: Die Grenzen der Erkennbarkeil sind anerkannt, wenn man "dem endlichen Intellekt den intellectus infinitus (entgegensetzt) und nur ftir ihn die unbegrenzte Erkennbarkeit aller Dinge gelten (läßt). Das ist ein deutlicher Grenzbegriff der Erkenntnis: die folgerichtig gebildete Idee einer Erkenntnis wie wir sie nicht haben ... ". 42. PdgS IV. 43. Sd 45 7. Der dritte Band der Ontologie "Aufbau der realen Welt" stellt einen "Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre", der vierte Band "Philosophie der Natur" einen "Abriß der speziellen Kategorienlehre" dar.
XXXVIII
Josef Stallmach
44. "Ziele und Wege der Kategorialanalyse", KS I, 91 - Kant, Kr.d. r.V. A 158. 45. 146. Vgl. MdE 48. Kap. Abschn. c, du. 49. Kap. (darin S. 365 f.: "doppelseitig partiale Identität", d. h. nicht nur Oberschießen der Seinskategorien über die Erkenntniskategorien, sondern auch umgekehrt). 46. PdgS 393 f. 4 7. und sogar in quasi-mathematischen "Kurven" (149, aber auch 144, 147, 154, 172, 159) darzustellen, um die Kompliziertheit der Abwandlung des Erkenntnisverhältnisses zu veranschaulichen, die sich offenbar "nicht gleichlaufend mit der Schichtenfolge" der Seinsgebiete des Gegenstandes und auch nicht nach der "Seinsdistanz des Gegenstandes vom Geiste" vollzieht (140). 48. Der 4. Band der Ontologie "Philosophie der Natur" ist "nach 1940 geschrieben" (Sd 454), wurde aber erst 1950 veröffentlicht. 49. S. MdE VI (Vorwort zur 3. und 4. Auflage). 50. 126 f., 131, 134 f., 138 f., 142, 144 f., 149 f., 150, 154, 156, 158-162, 173 f., 175, 177, 179. 51. Eine Bemerkung wie GdO 182 ist dafür sehr bezeichnend: "Das Wichtigtun mit dem eigenen Dasein ist immer schon Entwurzelung, künstliche Steigerung des Selbst zum allein Existierenden ... " 52. 173. Vgl. NWd0231: "DieneueAnthropologiesiehtwiederdiese Zusammenhänge" (etwa zwischen "den heterogenen Schichten des Realen"), die Hartmann schichtenontologisch zu erklären sucht: "Darum bedarf es schon für die Zwecke der Anthropologie einerneuen Ontologie." 53. "Arnold Gehlen, Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin, Junker und Dünnhaupt, 1940", Blätter für deutsche Philosophie 1941, aufgenommen in KS 111 (= Rez.), 378-393. 54. Rez. 392 f. 55. Rez. 386. 56. KS I, 214-244 (= NphA). Darin beruft sich Hartmann für seine eigenen Ausführungen auch ausdriicklich auf A. Gehlen (S. 220 Anm.1). 57. NphA 229 (s. bis 232). 58. KS III, 333. 59. GdO 206 f. 60. GdO 203 f., vgl. 207. Den Zusammenhang der Erkenntnis mit andern noch fundamentaleren "transzendenten Akten", unter denen der Erkenntnisakt "keineswegs der erste und grundlegende" ist, stellt die "Abhandlung" her: 129, 137 f., 145, 152, 157 f., 170, 177. 61. GdO 3. Teil.
Einführung
XXXIX
62. 138, 177; s. auch MdE 214. 63. Rez. 380. 64. wie Hartmann, Gehlen gedanklich folgend, Rez. 381, formuliert. Die von Gehlen unter das Stichwort ,,Mängelwesen" gestellte Fragestellung bezeichnet Hartmann als einen .,glücklichen Griff" (379). 65. NphA 216 f., 219,243 f. 66. 138,142;vgl.NphA218. 67. Vgl. PdgS 358 f. (.,ein Leben im Erkennen ist eben an sich schon ein reiches und erfülltes Leben"). 68. 149, 154, 162, 173, 175; Rez. 381. 69. 150, 161 f.: s. auch 169. 70. Vgl. Rez. 381 f . .,Das Wunderbare aber ist, wie der Mensch sie alle (sc. jene .,Mängel", die ebenso viele .,Belastungen" für ihn bedeuten) selbsttätig zu Mitteln seiner Existenz umzugestalten weiß" (380). 71. 150, dazu: 165. 72. Vgl. Rez. 390: "Geht man hier einen Schritt zu weit in Rich· tung auf die physiologischen Prozesse zurück, so meinen sie (sc. jene, denen vor allem "an Eigenart und Selbständigkeit des Gei· stes" gelegen ist) gleich dem Materialismus ausgeliefert zu sein. Und wenn nicht diesem, so doch sicher einem - von ihnen selbst stets äußerst eng verstandenen - Biologismus." Siehe auch die Zurückweisung des Relativismus allgemein in der "Ab· handlung" II, 3. 73. NWdO 257, 266; für die Stellung der Erkenntnis s. vor allem auch 305.
LITERATURVERZEICHNIS
Bibliographie der Veröffentlichungen Nicolai Hartmanns und der Veröffentlichungen zur Philosophie Nicolai Hartmanns bis 1952 zusammengestellt von Theodor Ballauff, in: "Nicolai Hartmann. Der Denker und sein Werk", hrsg. v. Heinz Heimsoeth u. Robert Heiß, Göttingen 1952, S. 286-312; bis 1965 fortgeführt von lngeborg Wirth, "Realismus und Aprioris· mus in Nicolai Hartmanns Erkenntnistheorie", Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie VIII, Berlin 1965, 141-148; bis 1981 ergänzt und weitergeführt von Petra u. Alois J. Buch, in: "Nicolai Hartmann 1882-1982", hrsg. v. A. J. Buch, Bonn 1982. I.
Von den Werken Nicolai Hartmanns bilden folgende den weitge· spannten Hintergrund zu der vorstehenden knapp gefaßten Abhandlung: "Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis", Berlin u. Leipzig 1921,5. Aufl. Berlin 1965. "Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften", Berlin 1933, 3. Aufl. 1962. "Zur Grundlegung der Ontologie", Berlin 1935, 4. Aufl. 1965. "Möglichkeit und Wirklichkeit", Berlin 1938,3. Aufl. 1966. "Der Aufbau der realen Welt. Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre", Berlin 1940,3. Aufl. 1964. "Neue Wege der Ontologie", in: "Systematische Philosophie", hrsg. v. Nicolai Hartmann, Stuttgart 1942, S. 199-311, separat 5. Auflage Stuttgart 1968. "Philosophie der Natur. Abriß der speziellen Kategorienlehre", Berlin 1950, 2. Aufl. 1980. "Kleinere Schriften", 3 Bde., Berlin, Bd. 1: "Abhandlungen zur systematischen Philosophie", 1955; darin insbes.: "Neue Ontologie in Deutschland" (1940), "Ziele und Wege der Kategorialanalyse" (194 7), "Naturphilosophie und Anthropologie" (1944). Bd. II: "Abhandlungen zur Philosophie-Geschichte", 1957; darin
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NICOLAI HARTMANN
Die Erkenntnis im Lichte der Ontologie
Anmerkungen des Herausgebers Einige wenige Anmerkungen seien bereits an dieser Stelle mitgeteilt. Die Textstellen, auf die sie sich beziehen, sind im Text durch ein Sternchen am Rande der entsprechenden Zeile kenntlich gemacht:
s.
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s.
1 *Die Seitenangabe bezieht sich auf Kleinere Schriften, Bd. I (122) (a.a.O.), in dem der Vortrag "Heutige Aufgaben der theo· retischen Philosophie" von 1947 unter dem genannten Ti· tel (S. 89-122) veröffentlicht worden ist. 17 *"Einst glaubte man, die Welt sei nichts als das Gegenglied des erkennenden Subjekts, sein U. St. statt: ihr) ,Objekt'. ( 138) Jetzt sieht es umgekehrt aus: was es U. St. statt: sie) sich zum Objekt zu machen weiß ... " 33 *Die Formulierung: " ... diese (die Welt?- J. St.) liegt bei (154) ... ", wie sie sich im gedruckten Text findet, ist wohl nicht die ursprüngliche. Gemeint ist offenbar : , ... in der umge· benden Welt, die eine Welt von Dingen und mitlebenden Menschen ist'.
S.45 * " ... der anderthalb Jahrhunderte später eingesetzt und (166) ... " muß wohl lauten: , ... der anderthalb Jahrhunderte später eingesetzt hat und ... ". Kleinere Druckfehler, die offensichtlich auf bloße Setzfehler zurück· gehen, wurden für den vorliegenden Nachdruck - soweit möglichstillschweigend korrigiert.
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Die Erkenntnis im Lichte der Ontologie 1
I Eng verbunden mit dem Kategorienproblem geht das Erkenntnisproblem seinen Weg durch die Geschichte. Überall, wo es um den apriorischen Einschlag der Erkenntnis geht, nähern sich die beiden Probleme einander; wo es um das aposteriorische Gegenglied geht, oder auch nur um das Wahrheitsbewußtsein und seine Kriterien, um historische Relativität der Gültigkeit sowie um Methodenfragen, klaffen sie weit auseinander. Das hat seinen einfachen Grund darin, daß alles Wissenapriori auf einem Verhältnis der Erkenntniskategorien zu den Gegenstandskategorien beruht, einerlei, was man im übrigen unter den letzteren versteht und mit welchen Erkenntnismitteln man sie zu fassen sucht. Die reife Formel dieses Kategorienverhältnisses wurde auf dem Boden des transzendentalen Idealismus von Kant gefunden und als Identitätsthese ausgesprochen 2 • Sie wurde dann durch die spekulativen Systeme des deutschen Idealismus völlig verdeckt und in dem langjährigen Kampf des Positivismus gegen die letzteren vergessen. Erst die weiseren unter den Neukantianern haben sie aus ihrer Vergessenheit wieder hervorgeholt und sie an die ihr gebührende Stelle gesetzt 3 , - auch sie immer noch auf idealistischen Voraussetzungen fußend und ohne die ganze Tragweite des von Kant Geleisteten erfassen zu können, denn zu ihrem vollen Sinn kommt die Identität von Erkenntnis- und Seinskategorien erst auf dem Boden der Ontologie. Erst hier gelingt es, die ganze Spannweite des Erkenntnisverhältnisses wiederzugewinnen, wie sie einst in den Theorien der Alten klar erschaut und dann von der Skepsis in ihrer Rätselhaftigkeit begriffen, wenn auch keineswegs positiv ausgeschöpft worden war. Was es damit auf sich hat, die Erkenntnis im Lichte der Ontologie neu zu sehen und zum Problem zu machen, davon gewinnt man einen Eindruck, wenn man sich vergegenwärtigt, was für eine Umwälzung sich in ihrer Auffassung seit dem Anfang unseres Jahrhunderts vollzogen hat. An sie zu gemahnen, ist auch heute noch geboten, weil Reste der alten Auffassung bis in unsere Zeit stehen geblieben sind und sich im philoAls Vortrag in der Münchener Kantgesellachaft gehalten am 26. 4. 49. Der Text ist teilweise verändert und bedeutend erweitert. Vgl. die vorige Abhandlung, S. 9lf. (Ziele und Wege der Kategorialanalyse). 3 Hermann Cohen, Kante Theorie der Erfahrung 1871. 1
* •
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Das Aufkommen einer neuen Ontologie
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sophischen Schriftturn von heute immer wieder geltend machen. Es handelt sich in diesen Atavismen um gewisse Rückstände der Theorie, daß Erkennen ein "Hervorbringen" im Bewußtsein ist, ein "Bilden" der Vorstellungen und Begriffe, zum mindesten aber ein "Umbilden", ein Prozeß, der sich synthetisch im Urteil vollzieht. Diese Auffassung gilt ihren Vertretern als Kantisch und glaubt sich auf die Autorität der Kritik der reinen Vernunft stützen zu können. Und in der Tat finden sich bei Kant Wendungen und ganze Partien, die ihr Recht zu geben scheinen; am deutlichsten wohl in der "transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" (der 2. Ausgabe), wo die Objekte geradezu erst durch die "Verstandeshandlung" der Synthesis zustandekomrnen sollen. Man vergißt dabei freilich, daß sich manches Gegenteilige aus derselben Kritik der reinen Vernunft anführen läßt. Aber wie dem auch sei, jedenfalls hat sich diese Auffassung der Erkenntnis als die "transzendentale" seither festgesetzt, und eine langeReihe schwerwiegender Folgen ist aus ihr gezogen worden. Denn keineswegs nur die eigentlich idealistischen Theorien stützen sich auf sie, sondern genau ebenso auch der Korrelativismus, der von der Unlöslichkeit der Bezogenheit von Subjekt und Objekt aufeinander ausgeht, desgleichen die Philosophie des Als Ob, die Phänomenologie Busserlscher Prägung (in den "Ideen"), ja sogar der historische Relativismus des Seins und der Wahrheit. Der letztere ist gewiß sehr verschieden, je nachdem, worauf das, was wir Wahrheit nennen, relativ gesetzt wird; aber der Grundgedanke bleibt doch der, daß wir an die Gegenstände, wie sie "sind", nicht herankommen und nichts als die wechselnden Auffassungen von ihnen zurückbehalten. Das läuft auf die Vernichtung alles echten Wissens hinaus. Nicht nur der Sinn des Unterschiedes von wahr und unwahr wird aufgehoben, sondern auch der eigentliche Sinn des Gegenstandseins, ja des Seins überhaupt. Von einem Realen, das unabhängig vorn Subjekt bestände, läßt sich dann überhaupt nicht mehr sprechen. Und so steht schließlich die Erkenntnis ohne eigentlichen Gegenstand da, ist also auch gar nicht mehr das, was man ursprünglich mit ihr meinte, - Erkenntnis. Daß hierdurch die Geisteswissenschaften bis auf ihren Wesenskern herab zerstört werden, ist wohlbekannt und oft genug ausführlich gezeigt worden. Ob man das nun als höchstes Verdienst des Relativismus preist oder als seinen Fehler rügt, macht an der Sache keinen Unterschied. Überhaupt geht es hier nicht um Werturteile über Theorien, sondern um das Erkenntnisproblem, soweit sie es in ihrer Weise berühren und zu behandeln suchen; und zwar unabhängig davon, ob sie es bewußt aufgreifen oder nur nebenbei und gleichsam ungewollt auf eine bestimmte Lösung hinausdrängen. Wichtig bleibt nur, daß ihre Resultate auf der ganzen Linie negativ bleiben und sich in gefährlicher Weise der Skepsis nähern. Wobei sie dann schließlich dem Zirkel unterliegen, dem alles rein negativistische Vorgehen verfällt: sie fallen unter ihr eigenes Gesetz der Aufhebung eindeutiger Wahrheit und heben damit sich selbst auf.
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Das Aufkommen einer neuen Ontologie
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Aber auch die Naturwissenschaft geht in unseren Tagen, wo sie sich vor erkenntnistheoretische Fragen gestellt sieht, ähnliche Wege. Der Positivismus geht davon aus, daß die empirischen Gegebenheiten, weil sie in Sinnesdaten wurzeln, subjektiv sind; er sucht sie also durch ein Objektives zu ersetzen. Das Objektive findet er in der mathematischen Formel. Er entfernt sich damit von der Anschauung, macht sich unabhängig von ihr. Diesen Prozeß nennt er "Objektivierung", und das Kriterium der Objektivität ist die Eindeutigkeit der Formel. Die so erreichte Bestimmung des Gegenstandes beruht aber auf einer sehr bestimmten Operation des' Verstandes. Sie ist also relativ auf ein sehr eigenartiges und verantwortungsreiches menschliches Tun. Die Relativität freilich zeigt sich nicht überall, sondern nur an den Grenzen des Gelingens, die seinem Tun gezogen sind. Diese Grenzen aber kommen gerade im heutigen Stadium der theoretischen Physik zutage, sie zeigen sich in der Mikromechanik der atomaren Prozesse als Grenzen der "Objektivierbarkeit". Und das hat zur Folge, daß dieser Art des Vorgehens der Gegenstand selbst relativiert auf das menschliche Tun erscheint. Daß es sich hier in Wirklichkeit nur um das Erscheinen einer Erkennbarkeitsgrenze handelt, daß diese also gar nicht den Gegenstand selbst also den mikrophysikalischen Vorgang als solchen -, sondern nur seine Faßbarkeit mit den Mitteln der gewohnten "Objektivierung" betrifft, ist von positivistischer Einstellung aus nicht durchschaubar. Der Physiker weiß es meist gar nicht, ein wie geläufiges Phänomen das Auftauchen von Erkennbarkeitsgrenzen auf allen Wissenschaftsgebieten ist, wie sehr es sich überall um ein vorsichtig sich herantastendesVordringen handelt. Die meisten Wissenschaften haben es ja mit viel komplizierteren Gegenständen zu tun als er. Ja, es entgeht ihm nur zu leicht, wie sehr auch seine eigenen Gegenstände die Mittel mathematischer Fassung übersteigen. Sind doch in jeder Gleichung, die er aufstellt, die Substrate quantitativer Bestimmung etwas schon Vorausgesetztes, in der Größenbestimmung und im Größenverhältnis nicht Aufgehendes. Nicht nur Raumstrecke, zeitliche Dauer, Bewegung, Geschwindigkeit, sondern auch Kraft, Energie, Arbeit und sogar mehr modellartige Grundbegriffe wie Korpuskel, Welle, Feld, bilden solche Substrate. Und erst an ihnen ergibt die quantitative Bestimmung ein sinnvolles Bild. Gerade diese Substrate aber, und am meisten die letztgenannten, verlieren auf den in Frage stehenden Problemgebieten ihre eindeutige Bestimmtheit. Die Modelle reichen nicht zu. Setzt man das eine ein, so versagt die Ortsbestimmung; ersetzt man es durch das andere, so wird die Bewegung ungreifbar. Das sind heute allbekannte und vielbesprochene Dinge. Der Auffassungen sind viele, aber die Ratlosigkeit ist im Grunde überall die gleiche. Kann man sich wundern, wenn der Physiker sich schließlich auf die aller physischen Gegenständlichkeit heterogene und seinen Überlegungen wesensfremde Subjektivität zurückgeworfen sieht ~ Hat er sich aber einmal auf sie besonnen, die er von ihren viel näheren Zugangsgebieten aus
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nicht kennt, ist es da nicht geradezu notwendig, daß er von ihr den falschen Gebrauch macht, sie verkehrt einsetzt und den physikalischen Vorgang selbst für von ihr beeinflußt hält 1 Erkenntnistheoretisch läßt sich indessen unschwer zeigen, wo der Fehler liegt. Er liegt im ersten Ausgangspunkt der positivistischen Einstellung. Der Ausgangspunkt ist die oben erwähnte Überzeugung, daß Erkennntnis in einem geistigen Bilden bestehe; und da das Bilden von einem Gegebenen anhebt, so muß es die Form des "Umbildens" haben. Setzt man nun das Gegebene dem Inhalt nach dem Mannigfaltigen der Wahrnehmung gleich, der Seinsweise nach aber dem Wirklichen- so also, wie die unweiseren Neukantianer es verstanden, -so resultiert, daß der Verstand im wissenschaftlichen Vorgehen das gegebene Wirkliche in ein mehr oder weniger Unwirkliches umgestaltet und dieses sein Tun für Erkenntnis ausgibt. Hier liegt nun greifbar das lTpOOTOV ljJEiiSos zutage. Denn dieses Vorgehen ist das genaue Gegenteil von dem, was echte Wissenschaft tut. Gerade das Wirkliche ist niemals als solches gegeben, weder durch die Sinne noch in sonst einer elementaren Erkenntnisform, die dem Tun der Wissenschaft schon vorgearbeitet hätte. Das Wirkliche vielmehr soll immer erst gefunden werden. Wäre es schon gegeben, so bedürfte es keines weiteren Eindringens und keiner wissenschaftlichen Methode mehr. "Wirklich" im strengen Sinne ist eben nur das real Seiende, und zwar unabhängig davon, ob und wie weit es erkannt, oder auch nur gegeben ist, ohne verstanden zu sein. Zwischen dem sinnlich Gegebenen und dem Wirklichen spannt sich die ganze lange Reihe der Erkenntnisstufen -vom anschaulichen Erleben über die mannigfachen Stadien der Erfahrung bis zur wissenschaftlich genauen Problemstellung und Problembehandlung. Diesen langen Stufengang schreitet die Erkenntnis nur selten einmal auf einem engen Teilgebiet bis zu Ende; zumeist nehmen die Rätsel, die das Gegebene aufgibt, in ihrem Fortschreiten noch zu, und hinter gelösten Problemen tauchen neue Probleme auf, die durch die Bewältigung jener erst sichtbar werden. Ja, die Erfahrung der Wissenschaft lehrt uns, daß wir immer wieder zum Gegebenen zurückkehren müssen, um es auszuschöpfen, denn die ersten Zugriffe, mit denen wir uns seiner bemächtigen, pflegen ganz unvollständig und ungenau zu sein. Es ist schon eine hohe wissenschaftliche Besinnung erforderlich, um auch nur die Phänomene als solche zureichend zu registrieren. Erst nach ihrer rechtmäßigen Erfassung und Beschreibung kann eine fruchtbare Problemstellung erfolgen; und erst von einer solchen aus kann man hoffen, Lösungen zu findep, die den Namen verdienen, und zu größerer Überschau der Zusammenhänge, der eigentlichen "Theorie" zu gelangen. In diesen drei Hauptetappen -Phänomen, Problem, Theorie - bewegt sich alles wissenschaftliche Vordringen. Aber auch das garantiert noch keineswegs das Durchdringen bis zum Wirklichen. Und gerade in
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den wichtigsten Grundproblemen bleibt die Erkenntnis bloße Annäherung an das Wirkliche. Diese Annäherung jedoch ist nicht zu unterschätzen. Wie sie in der Technik, in der Medizin, im Wirtschaftsleben zu sehr beachtlichen Resultaten geführt hat, so ist sie auch in der reinen Wissenschaft und im philosophischen Ausbau unseres Weltbildes das eigentlich Haltbare und Reelle, mit dem wir zu rechnen haben. Wie groß die unerkannten Restbestände der uns umgebenden Welt und unseres eigenen Wesens auch sein mögen, der Bruchteil des Erkannten bleibt deswegen doch auf allen Gebieten echtes Erkanntes und macht den Grundbestand aller unserer Orientierung in der Welt aus. An solcher Orientierung aber hängt praktisch wie theoretisch die Stellung des Menschen in der Welt, genauso sehr wie sein Wissen um sein eigenes Wesen; und beides verändert sich geschichtlich mit jedem Zuwachs der Erkenntnis. Mit den letzten Überlegungen stehen wir bereits mitten in der neuen Aufassung der Erkenntnis, wie sie sich im Lichte der Ontologie darstellt. Soweit aber ist alles nur ein Vorgriff. Zur richtigen Klarstellung der Sachlage bedarf es noch eines weiteren Ausholans: weder die subjektivistische noch die relativistische, noch auch die positivistische Sehweise ist mit einer bloßen Kritik der Begriffe des geistigen Bildens, Umbildans oder Objektivierens schon erledigt. Dahinter steht eine tiefere Quelle des Irrtums, und diese ist jetzt aufzudecken. Sieht man sich nämlich diese Begriffe näher an, so findet man, daß in ihnen nicht nur das Wesen der Erkenntnis, sondern auch das des Erkenntnisgegenstandes verfehlt ist. Auf den Gegenstand aber kommt es der Erkenntnis an, auf ihn ist sie gerichtet; er soll erfaßt werden, von ihm zeugt alle Gegebenheit, und in ihn sucht alles wissenschaftliche Verstehen einzudringen. Wie eigentlich denken sich die in der Tradition des 19. Jahrhunderts gewachsenen Theorien den Gegenstand der Erkenntnis 1 Um es gleich zu sagen: sie haben ihn weitgehend mit der Vorstellung, mit dem Begriff, mit dem durch die Theorie von ihm gewonnenen Bilde verwechselt. Nicht als hätten sie bewußt ihn mit der Vorstellung gleichgesetzt, wohl aber haben sie den Grenzstrich zwischen ihm und ihr verwischt, den Unterschied verschwinden lassen. Auf diesen Unterschied aber kam alles an. Denn die Vorstellung ist im Bewußtsein, ist selbst ein Bewußtseinsgebilde und kommt selbständig, ohne tragende Bewußtseinssphäre (die cogitatio Descartes') nicht vor; und dasselbe gilt vom Begriff und jeder sonstigen Art des Bildes, das wir uns vom Gegenstande machen. Der Gegenstand selbst dagegen besteht bewußtseinsunabhängig, und zwar nicht nur soweit er ein räumlich-materieller ist, sondern ebensosehr auch als menschlich-seelischer, personaler oder geschichtlich-geistiger Gegenstand. Einem und demselben Gegenstande - z. B. einer realen, lebenden Person mit bestimmten Charakterzügen - entsprechen im erkennenden Bewußtsein der Mitlebenden unzählige,inhaltlich verschiedeneCharakterbildcr, je nach dem Umfang des Verständnisses und der Tiefe des Ein-
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dringens. Wer hier das eine mit dem anderen verwechseln wollte, würde dem Menschen sehr unrecht tun, ihn seiner Lebenswirklichkeit berauben und ihn in die Sphäre der schwankenden Meinungen auflösen. Das sieht, wenn man es so beim rechten Namen nennt, ungeheuer selbstverständlich aus, als lohnte es sich gar nicht, ein Wort darüber zu verlieren. Und doch, übergeht man dieses Grundphänomen mit Schweigen, stellt man es nicht ausdrücklich fest und versichert man sich nicht in aller Bewußtheit seines Bestehens, so zerfließt es einem unter den Händen, und man steht unversehens mitten im uferlosen Relativismus der Meinungen. Man verliert die Perspektive auf die Einheit und Bewußtseinsunabhängigkeit der realen Welt aus den Augen und behält nichts als die Auffassungen, Begriffe und Vorstellungen zurück. Geht man aber von diesen allein aus, so verliert man auch die eigene Stellung als in der Welt stehender Mensch aus der Sicht, und die anthropologische Auffassung des eigenen Menschenwesens wird schief. Wie kommt es nun, daß der Begriff des Gegenstandes so verfehlt werden konnte, während doch die natürliche Einstellung vor aller Reflexion den Gegenstand eindeutig als etwas selbständig Dastehendes versteht, was unabhängig von aller Meinung und Auffassung, von Begriff und Urteil dasteht 1 Man kann hierauf nicht wieder antworten: weil er mit der Vorstellung verwechselt wurde. Vielmehr ist zu fragen: wie konnte er denn mit der Vorstellung verwechselt werden, wo doch das unverbildete Bewußtsein, wenn es überhaupt einmal auf die Vorstellung aufmerksam wird (was z. B. stets im Streit der Meinungen geschieht), ihn niemals mit ihr verwechselt 1 Darauf ist zu antworten, daß es eine sehr alte Überlegung gibt, die das Gegenüber von Gegenstand und Vorstellung aufhebt. Sie lautet etwa so: was wissen wir denn vom Gegenstande, was nicht in unserer Vorstellung von ihm bestünde 1 Der Begriff, das Urteil stehen ja selbst in der Ebene der Vorstellung und sind Umbildungen der Vorstellung. Was also bleibt ihr "gegenüber" 1 Im Grunde ist wohl das Gegenüberstehen selbst nur ein in unserer Vorstellungsweise Bestehendes, die Unabhängigkeit des Gegenstandes von der Meinung selbst nur eine gemeinte. "Setzt" man ihn im Urteil als ·ansiehseienden, so ist das Ansichsein ein bloß gesetztes; denkt man ihn sich als selbständiges Gebilde außer dem Bewußtsein, so ist die Selbständigkeit, und mit ihr das Außensein, ein bloß gedachtes. Dieses Argument ist der sog. "Zirkel des Denkens". Wo bleibt also das der Vorstellung, und überhaupt dem Bewußtsein Gegenüberstehende 1 Man kann auch fragen: wo ist der Gegenstand geblieben 1 Er ist nicht mehr zu finden. Der Zirkel des Denkens hat ihn aufgelöst. Dann aber war es ja in der Tat überflüssig, Gegenstand und Vorstellung einander gegenü herstehen zu lassen; desgleichen Gegenstand und Gedanke, Begriff, Urteil, Meinung. Darum haben Theorien, die konsequent in dieser Richtung weiterdachten, den Schluß gezogen, daß die Gegenüberstellung nichts als eine unnütze "Verdoppelung" ist.
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Wir kennen in jedem Falle nur ein Gebilde, und nicht zwei. Man kann dieses Eine ruhig den Gegenstand nennen. Aber sinnvollerweise sprechen kann man von ihm nur als dem in der Vorstellung (Gedanken, Begriff usw.) gegebenen. Diese Gedankengänge waren noch um die Jahrhundertwende allen philosophischen Richtungen geläufig, obwohl sie in sehr verschiedenen Wendungen auftraten. Und bei vielen von ihnen standen sie in ungebrochenem Ansehen. Erst die neu aufkommende Ontologie hat hier Bresche geschlagen, und zwar dadurch, daß sie das Erkenntnisphänomen von Grund aus neu sehen und beschreiben lernte. Die methodische Technik des Sehens und Beschreibens, die hierzu erforderlich war, lernte sie von der inzwischen arbeitsfahig gewordenen Phänomenologie, deren transzendentale Einseitigkeit sie dazu freilich erst abstreifen mußte. li Was eigentlich fehlte jenem "transzendentalen" Erkenntnisbegriffdenn so nannte man ihn in den neukantischen Schulen, obgleich er sich vom ursprünglichen Sinn der Transzendentalphilosophie sichtlich entfernt hatte 1 Es fehlte ihm die erste Grundlage, die den Sachverhalt erschöpfende Beschreibung des Erkenntnisphänomens. Es war in ihm eine Seite des Phänomens übersehen worden, und zwar eine ganz wesentliche: diese nämlich, daß Erkenntnis ein transzendenter Akt ist, ein Akt, der über die Grenzen des Bewußtseins hinausgreift. Man kann freilich darum streiten, ob es so etwas gibt, ob das Hinausgreifen und das Erfassen seiender Gegenstände nicht Täuschung ist. Aber man muß sich darüber klar sein, daß man dann vielmehr darum streitet, ob es überhaupt Erkenntnis gibt. Und damit eben beginnt die ontologische Überlegung, daß sie, statt um solche Dinge zu streiten, mit dem "Phänomen" der Transzendenz im Erkenntnisverhältnis Ernst macht und nun umgekehrt danach fragt, was unter dem Sein des Gegenstandes zu verstehen ist, und was unter dem Erkenntnisakt selbst zu verstehen ist, sofern er auf dieses Sein hin transzendiert. Und damit hängt es zusammen, daß sie den Zirkel des Denkens nicht einfach hinnimmt, sondern zu sprengen sucht, die Verdoppelung der inhaltlichen Gebilde nicht ablehnt, sondern zu deuten strebt, das innere "Bilden" aber nicht als Hervorbringen des Gegenstandes, sondern als einen anderen, nur die Vorstellung betreffenden Prozeß versteht, der den Gegenstand völlig unbeeinflußt läßt. Fangen wir mit dem Zirkel des Denkens als der extremsten These an. Ist es eigentlich wahr, daß das Denken nichts als den eigenen Gedanken denkt, der Gedanke aber nichts als sich selbst faßt 1 Ist es nicht umgekehrt so, daß das Denken doppelte Intentionalität hat, daß es, indem es den Gedanken denkt, eben damit und durch ihn hindurch einen Gegenstand denkt, der seinerseits etwas ganz anderes, aber eben darum das Eigentliche ist, das der Gedanke meint 1
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In der Tat, niemand denkt um des Gedankens willen. Das wäre ein unfruchtbares Denken. Sondern der Gedanke selbst ist um eines anderen willen. Und dieses andere ist das Seiende. So wenigstens ist es, wenn das Denken nicht bloßes Gedankenspiel, nicht Träumerei oder Phantasie ist, sondern reelles, in den Lebenszusammenhang eingefügtes, suchendes und findendes Denken. Und nur von diesem braucht die Rede zu sein. Der Zirkel des Denkens ignoriert dieses Grundphänomen. Ihm liegt eine undurchschaute Äquivokation zugrunde. Wir sagen "ich denke den Ge. danken", aber auch "ich denke die Sache" (etwa den Sachverhalt, das Ergebnis). Denke ich die Sache zutreffend so, wie sie ist, so koinzidiert der Gedanke inhaltlich mit ihr, und dann sind Gedanke und Sache dem Inhalte nach nicht unterscheidbar, der Seinsweise nach aber bleiben sie grundverschieden. Denn der Gedanke besteht nur in mente, die Sache aber nach wie vor extra mentem. Der Zirkel des Denkens bemerkt das nicht; er meint, die Sache sei, wenn sie gedacht werde, selbst nur Gedanke. Damit hebt er den Sinn des reellen Denkensaufund behält nichts als den Leerlauf des Gedankenspiels zurück. Wie das Denken es macht, den Gedanken schon in der Intention zu transzendieren und zur Sache zu gelangen, ist eine Frage. Diese kann sich erst in größerem Problemzusammenhang lösen; denn nicht allein das Denken transzendiert das Bewußtsein, sondern noch viele andere Akte, die fundamentaler und tiefer im Lebenszusammenhang verwurzelt sind. Aber hier stehen wir noch nicht beim "Problem" des Denkens, sondern erst bei seinem Phänomen. Und dieses muß zuvor richtig beschrieben sein. Das Phänomen aber zeigt als ersten Grundzug die doppelte Intention. Damit ist der eherne Ring der Bewußtseinsimmanenz in ihm gesprengt. Nun aber geht es im Erkenntnisphänomen gar nicht einmal um das Denken. Wohl gibt es erkennendes Denken, aber es gibt auch das leerlaufende Denken - das träumende, phantasierende oder konstruktive. Das Erkennen dagegen gibt es nicht leerlaufend. Erkenntnis ist immer transzendent, ihr geht es immer um den Gegenstand, wie er "ist", nicht wie er gedacht wird, und alle ihre Zurüstungen gelten seiner Erfassung. Der transzendenten Akte gibt es viele. Das Lieben und Hassen sind von dieser Art, denn sie gelten der realen Person, das Wollen und Handeln, denn sie intendieren etwas Reales in der realen Welt; desgleichen das Erleben und Erfahren, aber auch das Erwarten, Befürchten und Erhoffen, denn sie sind auf den realen Strom der Ereignisse gerichtet, und selbst ihre Irrtümer bleiben noch an ihn gefesselt. Die Erkenntnis und zwar auf allen ihren Stufen, von der Wahrnehmung aufwärts bis zum Erforschen - ist nur einer unter diesen transzendenten wissenschaftlichen Akten, und keineswegs der erste oder grundlegende. Sie setzt jene anderen schon voraus, ist auf die von ihnen erschlossene umgebende Welt schon bezogen, ja sie steht in ihren Anfängen noch ganz in deren Dienst. Erst spät erlangt sie ihnen gegenüber Selbständigkeit.
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Aus dieser Einbettung in den größeren Aktzusa.mmenha.ng, der die Verbundenheit des Menschen ·mit der Welt außer ihm trägt, wird es verständlich, daß die doppelte Intentionalität dem Erkennen erst recht eigentümlich ist. Und hier erst wird sie zum wesentlichen Grundmoment: immer entspricht im erkennenden Bewußtsein ein inhaltliches Gebilde dem Gegenstande außer ihm, ein Gegenbild des Gegenstandes, einerlei ob es ein bloßes Wahrnehmungsbild oder Vorstellung, Begriff, Urteil, Theorie oder Weltbild sein mag. Immer bleibt es ein vom Gegenstande Verschiedenes, das auf ihn zutreffen oder nicht zutreffen kann; im ersteren Falle nennen wir es wahr, im letzteren unwahr. Und schon die bloße Tatsache, daß wir im Erkenntnishaushalt Wahrheit und Unwahrheit grundsätzlich unterscheiden - wenn wir auch im Einzelfalle kein Kriterium dafür haben -, beweist zur Genüge, daß der Gegenstand dem Bewußtsein unaufhebbar gegenüber bleibt und weit entfernt ist, mit dem Erkenntnisgebilde zusammenzufallen. Dieses Verhältnis bildet die Grundlage des ontologisch verstandenen Erkenntnisbegriffs. Man sieht von hier aus ohne weiteres, daß Erkenntnis im Grunde ein Seinsverhältnis ist, ein solches nämlich zwischen seiendem Subjekt und ebenso seiendem Objekt. In diesem Verhältnis bleibt das Objekt nicht nur dem Subjekt gegenüber selbständig, sondern auch völlig unverändert und gleichsam unberührt, während im Subjekt sich etwas verändert, ein neues Etwas entsteht: die Vorstellung, oder allgemein das Erkenntnisgebilde. Das Verhältnis wird auf diese Weise ein dreigliedriges: Subjekt - Erkenntnisgebilde - Gegenstand. Und allem Eindringen der Erkenntnis in den Gegenstand entspricht ein inhaltlicher Zuwachs am Erkenntnisgebilde. Damit ist zugleich auch der Gegenstandsbegriff wesentlich verschoben. Man kann ihn jetzt nicht mehr auf das Erkannte einschränken, er erstreckt sich weiter hinaus ins Unerkannte. Das bedeutet, daß er gleichgültig gegen sein Erkanntwerden dasteht, ja gleichgültig gegen die Grenzen seiner Erkennbarkeit. Darin spiegelt sich deutlich sein Seinscharakter. Aber eben durch diesen seinen Seinscharakter ist er auch schon mehr als bloßer Gegenstand. Das kommt so heraus: der strenge Sinn des Gegenstandseins ist das "Gegenstehen" als solches. Was einem Subjekte gegensteht, bzw. von ihm zum Gegenstehen gebracht wird (objiziert wird), das wird damit zum Gegenstande (Objectum) der Erkenntnis gemacht. Denn keineswegs ist es so, daß alles Seiende von vornherein Gegenstand wäre; es besteht gemeinhin auch, ohne Objekt eines erkennenden Subjekts zu sein, d. h. ohne erkannt zu werden. Was aber erkannt wird, das wird erst damit zum Gegenstande der Erkenntnis gemacht. Das bedeutet, anders ausgedrückt: der Erkenntnisgegenstand ist von Hause aus übergegenständlich, er geht als seiender in seinem Gegenstandsein nicht auf, sondern besteht unabhängig von ihm und indifferent gegen sein eigenes Gegenstandwerden für ein Subjekt.
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Dieser Sachverhalt ist ausschlaggebend für die Stellung der Erkenntnis und ihres Trägers, des Menschen, in der Welt. Man kann jetzt nicht mehr Subjekt und Objekt als korrelative Glieder verstehen. Denn die Welt, die den Inbegriff möglicher Objekte ausmacht, ist unvergleichlich älter als der Mensch; der Mensch ist, ontologisch gesehen, ein Spätprodukt. dieser Welt. Erst also war das Seiende da -auch ohne erkennendes Wesen, dessen Gegenstand es hätte werden können-, und dann erst, ganz sekundär, konnte es zum Gegenstande gemacht werden. Das Gegenstandsein ist überhaupt dem Seienden als solchem äußerlich. Nur für das Subjekt ist es etwas Wesentliches. Eine weitere Konsequenz betrifft den Einwand der "Verdoppelung" der Welt. Im Hinblick auf das dreigliedrige Verhältnis und das unaufhebbare Gegenüber von Gegenstand und Erkenntnisgebilde hat der Einwand vollkommen recht. Er ist aber gar kein Einwand. Die Verdoppelung entspricht vielmehr sehr genau dem Phänomen, und die Theorien hatten unrecht, sie zu bestreiten; Phänomene können nicht von Theorien bestritten, sondern nur aufgegriffen und erklärt werden. Wer sie bestreitet, setzt sich ins Unrecht. Es ist ein alter Irrtum, das Einfachste blindlings für das Wahre zu halten. Das Erkenntnisverhältnis ist eben nicht so einfach, wie die alten Bewußtseinstheorien es sich dachten. Das ist es, was überzeugend zum Vorschein kommt, wenn man es auf die Seinsweise des Gegenstandes und die des Erkenntnisgebildes hin analysiert. Denn der Gegenstand bleibt sich gleich, während die Vorstellung von ihm sich verändert, wechselt, fortschreitet. Ja, wenn man genauer zusieht, ist "Verdoppelung" noch zu wenig. Man sollte "Vervielfachung" sagen: in jedem Bewußtsein ist die Vorstellung eine andere, während der Gegenstand identisch verharrt. So steht auch in der Philosophie der einen Welt die Vielzahl der Weltbilder gegenüber; keines deckt sich ganz mit dem anderen, keines wohl auch mit derWeit selbst, wie sie ist. Aber in allen steckt doch auch ein Bruchteil echter Welterkenntnis. Was also ist dann gegen die "Verdoppelung" einzuwenden 1 Offenbar nichts. Wie aber steht es mit dem "geistigen Bilden", mit der "Synthesis", die der Verstand vollzieht, und mit dem "Umbilden" eines gegebenen Mannigfaltigen der Sinne 1 Auch in diesen Begriffen steckt etwas richtig Gesehenes, ein Teilbestand des Erkenntnisphänomens, der nicht bestritten werden kann. Nur daß in diesem Falle das Phänomen für die idealistischen Theorien zu sprechen scheint. Was also fangt die ontologische Auffassung damit an 1 Auf den ersten Blick könnte man meinen, hier versage nun die ontologische Sehweise. Und doch ist es gerade umgekehrt, erst hier kommt die Kantische "Synthesis" und alle an sie anknüpfende Deutung der inhaltlich aufbauenden Bewußtseinstätigkeit zu ihrem vollen Recht. Das "transzendentale" Problem der Erkenntnis wird vom ontologischen nicht verdunkelt oder auch nur zurückgeschoben, sondern im ganzen Umfange aufgegriffen und der Lösung zugeführt.
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Wie das zugeht, bildet ein langes Kapitel. Die Aufzeigung mannigfacher Erkenntnisoperationen, Methoden usw. gehört dazu, und auf jedem Wissensgebiet sind es andere. Aber das Grundsätzliche darin läßt sich einfach aussprechen. Es liegt in folgender Überlegung. Die Erkenntnis ist ihrem Wesen nach ein "aufnehmender" Akt, sie bildet den Gegenstand nicht um, läßt ihn unverändert, wie er ist; ein Akt, der ihn umbilden wollte, wäre ein Handeln. (Tun, Aktivität) ; vom Handeln aber ist die Erkenntnis radikal unterschieden, und zwar eben durch ihr rein "rezeptives" Verhalten zum Gegenstande. Diese Rezeptivität ist aber nur eine solche ihres Gesamtverhaltens, und zwar nur zum Gegenstande; die innere Spontaneität im Aufbau des Erkenntnisgebildes hebt sie keineswegs auf. Diese letztere Spontaneität ist es, von der Kant gesprochen hat: in ihr werden die Synthesen des Verstandes vollzogen, die Urteile gefällt, die Begriffe und ganze Theorien aufgebaut. Das "geistige Bilden" gibt es also sehr wohl. Und ein "Umbilden" von ursprünglich Gegebenem, ein Zusammenfügen und Verarbeiten, ist es unbestritten in weitestem Maße. Aber "gebildet" wird nicht der Gegenstand, und auch umgebildet wird nicht er, sondern einzig die Vorstellung des Gegenstandes, und mit ihr weiter alles, was aus ihr sich entwickelt, das synthetische Urteil, der Begriff, das Weltbild, kurz alles, was in der Ebene des Erkenntnisgebildes steht und zu ihm gehört. Und weil alles dieses dem Bewußtsein angehört und der ganze Bildungsprozeß im Bewußtsein spielt, so handelt es sich um ein rein "inneres Bilden", das den Gegenstand selbst unberührt läßt. Das transzendentale Problem behält auf diese Weise seine volle Berechtigung. Nur die transzendentale Lösung des Problems war irrig. Es war eine bloß standpunktliehe Konsequenz Kants, wenn er die drei Stufen der Synthesis, die er folgerichtig herausarbeitete, als Synthesen des Objekts bezeichnete; ja, es war vielleicht nur eine Ungenauigkeit des Ausdrucks, denn parallel dazu bezeichnet er sie auch wieder als Synthesen der Vorstellung. Und streng genommen hatte ein transzendentaler Idealismus die Übertragung der Synthesen auf das Objekt selbst auch gar nicht nötig, weil er ja die "empirische Realität" der Objekte gar nicht anfocht. Aber gerade diese Grenzüberschreitung der These (oder soll man sagen dieses Mißverständnis~) hat fortgewirkt und noch die neukantischen Interpreten bestimmt. Es war der Irrtum Rickerts, daß er die Umbildung auf den Gegenstand der Erkenntnis bezog, der Irrtum Natorps, daß er den geschichtlichen Werdegang der wissenschaftlichen Erkenntnisdas große "fieri"- als Entstehung des Gegenstandes selbst verstand und damit auf eine Theorie hinausgelangte, welche die Begriffsbildung der Weltentstehung gleichsetzte. Es hätte von vornherein genügt, den Werdegang und seine in der Tat sehr wunderbare synthetische Leistung als Aufbau der Vorstellungswelt, der Wissenschaft oder des Weltbildes zu verstehen. Der Spontaneität des Verstandes wäre dadurch kein Ab-
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bruch geschehen, und das transzendentale Phänomen des synthetischen aprioriwäre ohne Zuspitzungen und Verfli.lschungen zu seinem vollen Recht gekommen. Die ganze Reihe der Schwierigkeiten, an denen die neukantischen Theorien zuletzt zusammenbrachen, fallen unter ontologischem Gesichtspunkte auf einen Schlag hin. Es hängt hier alles an dem einen Punkte: an der phänomengerechten Fassung des Erkenntnisgegenstandes als eines übergegenständlich seienden. Hat man sich einmal klargemacht, daß die Dinge, Ereignisse, Personen, oder was sonst den Gegenstand möglicher Erkenntnis ausmacht, erst sekundär zum "Gegenstehen" gebracht und dadurch in ihrem Bestande nicht verändert werden, so bleibt genügend Spielraum für die Vielfachheit der Vorstellungswelten, für Synthesis und Spontaneität und fortlaufende Umbildung. Denn alles das betrifft nur das Erkenntnisgebilde. Schließlich kann man von hier aus auch dem Relativismus sehr bestimmte Grenzen setzen, solche nämlich, innerhalb deren er spekulativ unschädlich wird. Vor allem ist, gemäß den soeben getroffenen Bestimmungen, eine Grenzscheide zwischen Wahrheit und Sein zu ziehen. Die Wahrheit für relativ zu erklären, ist wenigstens eine sinnvolle These; sie auf das Seiende zu übertragen und von "Relativität des Seins" zu sprechen, ist nicht sinnvoll. Das Sein kommt ausschließlich dem Gegenstande zu, nicht dem Erkenntnisgebilde; und vom Gegenstande hat sich gezeigt, daß er gleichgültig gegen sein Erlaßtwerden dasteht, also auch gleichgültig gegen sein Verfehltwerden. Er ist eben in seinem Sein "übergegenständlich". Genauer also muß man sagen, das Seiende als Gegenstand möglicher Erkenntnis ist gleichgültig dagegen, ob und wie weit es von einem erkennenden Subjekt zum Gegenstande gemacht wird. Es hat also keinen Sinn, die schwankenden Vorstellungen, die sich der Mensch von ihm macht, für Unterschiede seines Bestehens oder Nichtbestehens, seines Soseins oder Nichtsoseins auszugeben. Damit fallt alle Seinsrelativität hin. Was übrig bleibt, ist die Verschiedenheit der Vorstellungen, die wir für wahr halten. Ihr Unterschied spielt lediglich in der Ebene des Erkenntnisgebildes. An ihm variieren die inhaltlichen Momente je nach der Sehweise, der Auffassung, den Vorurteilen des Zeitalters und dem Stande der Wissenschaft. Die Welt bleibt dieselbe, und was sich in ihr wirklich verändert, richtet sich nicht nach dem Subjekt und seinen Auffassungen; was je nach der Einstellung des Subjekts sich wandelt, sind die Weltbilder. Und sofern jedes von diesen einmal für wahr gilt, kann man wohl behaupten, die Wahrheit sei relativ - auf die Sehweise, das Zeitalter oder den Stand der Wissenschaft. Und doch ist auch diese Behauptung keineswegs haltbar. Nicht wenigstens, wenn man unter Wahrsein schlicht das Zutreffen der Vorstellung (der Meinung, des Urteils) auf die gemeinte Sache versteht. Kann denn etwa ein Urteil, das sich später als unwahr erweist, zuvor einmal wahr
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gewesen sein ~ Es muß doch dann vielmehr auch früher schon unwahr gewesen sein. Nur wenn die Sache sich indessen verändert hat, könnte es zuvor wahr gewesen sein. Aber dieser Fall ist ja im Wahrheitsrelativismus gar nicht gemeint; und tatsächlich ist es dann ja auch kein Urteil über dieselbe Sache mehr, sondern über eine anders gewordene. Dasselbe gilt von jeder Art Vorstellung oder Meinung. Erweist sich z. B. die alte Ansicht, daß die Sonne sich um die Erde bewege, eines Tages als irrig, so ist der Sinn dieser Einsicht, daß jene Ansicht auch früher irrig war. Die Ansicht hat sich eben geändert. Und das heißt, die Vorstellung hat sich geändert. Was unwahr "ist", muß schon immer unwahr gewesen sein, wo und wann es auch für wahr gehalten wurde; was wahr "gewesen ist", einerlei wo und wann es geglaubt wurde, muß für alle Zeit wahr bleiben, anders kann es auch zur Zeit seiner Geltung nicht wahr gewesen sein. In diesem allein ontologisch haltbaren Sinn von Wahrsein hat Bolzano von der "Wahrheit an sich" gesprochen. Er meinte damit die völlige Unabhängigkeit des Wahrseins (und Unwahrseins) von den wechselnden Meinungen und Überzeugungen der Menschen, von ihrem Wissen oder Nichtwissen um die Wahrheit, oder- was dasselbe ist- vom Fürwahrgelten und Anerkanntsein in bestimmter Zeit. Er hatte, wenn man seine These nur recht versteht, vollkommen Recht. Es ist der Relativismus unserer Tage, der sie nicht recht verstanden hat. Und nur so konnte er das Gegenteil behaupten. Ist man so weit, so könnte man meinen, der ganze Wahrheitsrelativismus, der so viele ernste Köpfe beschäftigt und manche zu völliger Skepsis geführt hat, sei ein ganz primitives Mißverständnis. Das wird man im Hinblick auf den großen, von hier aus entfesselten Streit nicht annehmen dürfen. Man muß also nach einem anderen Sinn des Relativismus suchen. Ein solcher ergibt sich, wenn man bedenkt, daß es sich ja gar nicht um Relativität des "Wahrseins" handelt, sondern um die des Führwahrgeltans resp. unseres Wissens um Wahr und Unwahr. Denn damit freilich ist es ganz anders bestellt als mit dem Wahrsein als solchem. Man kann die zutreffende Vorstellung haben und sie doch verwerfen, weil man ihr Wahrsein nicht einsieht, und man kann die unzutreffende haben und sie für wahr halten, weil man ihr Unwahrsein nicht einsieht. Das Wissen um Wahr und Unwahr ist eben etwas vollkommen anderes als Wahrheit und Unwahrheit. Um es zu haben, müßte man ein untrügliches Anzeichen des Wahrseins haben, ein zureichendes "Kriterium der Wahrheit". Das aber haben wir in der Tat nicht -wenigstens kein absolutes, das jeden Irrtum ausschließen würde. Hier liegt der eigentliche Sinn des Relativismus. Er wird durch den Bolzanoschen Satz in keiner Weise aufgehoben. Ja, wenn das, was wir Menschen unsere Erkenntnis nennen, deswegen auch immer gleich Erkenntnis wäre, da wären wir der Relativität überhoben. Nun aber ist es
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einer Vorstellung, einer Meinung oder einem Urteil nicht anzusehen, ob sie inhaltlich auf die Sache zutreffen oder nicht, also ob sie Erkenntnis oder Irrtum, wahr oder unwahr sind, Das kann sich günstigenfalls mit der Zeit zeigen, wenn die Erfahrung fortschreitet; aber es gibt auch Gegenstandsgebiete, auf denen sich die Entscheidung unabsehbar hinzieht oder ganz ausbleibt. Von der letzteren Art sind gerade die großen weltanschaulichen Grundfragen, die Rätsel des praktischen Lebens, alles das, was die Sinn- und Wertgehalte menschlichen Daseins ausmacht. Hier überall käme es darauf an, genau und sicher unterscheiden zu können, was wahr und was unwahr ist, wessen wir gewiß sein können. Um die Gewißheit geht es im Relativismus. Daß Erkenntnis und Irrtum in unseren Vorstellungen unheilvoll gemischt sind, ist nicht schwer einzusehen. Aber was an ihnen Erkenntnis, was Irrtum ist, offenbart sich uns nicht so leicht. Es hilft uns wenig, daß das Wahrsein als solches keiner Relativität unterliegt. Was ihr ausgesetzt bleibt, ist das "Wissen" um Wahrheit, die Gewißheit. Weil aber die Geltung von Urteilen, Meinungen, Auffassungen jederzeit an der Gewißheit hängt, die wir ihnen zuschreiben, so bleibt der Relativismus an der Geltung hängen. Dieser Relativismus der Geltung ist um nichts weniger ernst und destruktiv als der vermeintliche Relativismus der Wahrheit. Aber man sollte ihn nicht beim unrechten Namen nennen. Man verunklärt damit nur die wahre Sachlage und verschiebt das Problem auf ein falsches Gleis. Die hiermit vollzogene Richtigstellung ist bereits ein Resultat der Ontologie. Denn natürlich kann man den haltbaren Sinn der Relativität erst begreifen, wenn man eingesehen hat, daß er nicht den Gegenstand, sondern nur das Erkenntnisgebilde betrifft. Aber das ist nur die Hälfte dessen, was im Lichte der Ontologie sichtbar wird. Auch der Geltungsrelativismus erfährt hier eine Einschränkung, die seine alarmierenden Konsequenzen auf ein vernünftiges Maß zurückbringt. Die entscheidende Einsicht ist, daß letzten Endes alles auf das Problem des "Kriteriums der Wahrheit" hinausläuft. Und da ist mit der Feststellung, daß es ein absolutes Kriterium nicht gibt, nur der erste Schritt getan. Der zweite zeigt, daß es deswegen doch sehr wohl ein relatives Kriterium gibt, und daß dieses keineswegs zu verachten ist, daß es sich vielmehr unter günstigen Bedingungen bis zur Gewährleistung hoher Gewißheitsgrade erheben kann. Die ontologisch fundierte Erkenntnistheorie hat es nicht allzuschwer, das zu erweisen. Wäre unsere Erkenntnis auf einen Pfeiler allein gestützt -so wie der reine Empirismus und der reine Apriorismus (Rationalismus) es sich dachten, jener auf dem Sinneszeugnis allein, dieser auf dem reinen Intellekt allein alles aufbauend -, so wäre an ein tragfähiges Kriterium nicht zu denken. Setzt sie sich aber aus beiden Elementen zusammen, so daß diese wie zwei selbständige Pfeiler erst zusammen den Bogen der Erkenntnis tragen, so liegt die Sache ganz anders. Denn beide Erkenntniselemente sind auf dasselbe Feld der seienden
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Gegenstände bezogen: sie legen inhaltlich heterogenes Zeugnis vom Gegenstande ab, haben ihre sehr verschiedenen und weitgehend voneinander unabhängigen Mittel und Wege, bauen aber dennoch erst gemeinsam das Erkenntnisgebilde auf. Sie treffen also in ihm zusammen, und was sich da nicht miteinander reimt, schaltet von selbst aus. Deswegen braucht noch nicht alles, was zusammenstimmt, auf den Gegenstand zuzutreffen. Aber bei größeren Zusammenhängen im Fortschreiten der Erkenntnis nähert sich die Chance des Zutreffens doch der Gewißheit. Mehr als Näherung an die Gewißheit kann der Mensch grundsätzlich nicht erwarten. Das aber ist nicht wenig. Denn es geht ja nicht um die individuell begrenzte Erkenntnis eines menschlichen Einzelbewußtseins; es geht vielmehr um den geschichtlichen Gesamtprozeß der Erkenntnis, und am meisten um den der Wissenschaft. Dieser Prozeß ist, ontologisch gesehen, ein Realprozeß, einmalig und unwiederholbar wie alles Reale. In ihm strömt noch viel mehr Heterogenes zusammen und fügt sich in dem gemeinsamen großen Erkenntnisgebilde des Wissens ineinander; und was zu bestimmter Zeit nicht seine klare Bestätigung oder Widerlegung findet, das gelangt doch im weiteren Fortschreiten irgendwann einmal zu ihr. Und dann wird es entweder fallengelassen, oder es rückt zu hohem Gewißheitsgrade auf. Und so lichtet sich denn das Chaos des uferlosen Relativismus. Das geschieht nicht mit einem Schlage, und es kommt gewiß auch nie zu Ende. Aber auch der Erkenntnisprozeß selbst kommt ja nicht zu Ende. Und es ist schon viel, daß es in ihm überhaupt die Konvergenz des Vielspältigen und scheinbar Divergenten gibt, wenn sie auch stets zeitlich nachhinkt und den an seine Lebenszeit gebundenen Einzelmenschen in seiner Ungewißheit stecken läßt.
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Es besteht nach dieser Durchmusterung der Probleme Grund genug, zur Ontologie zurückzukehren. Denn eine Rückkehr ist es freilich, wennschon die Ontologie selbst heute sehr anders ausfallen muß als einst. Das Zeitalter der Alleinherrschaft erkenntnistheoretischer Besinnung ist am Seinsproblem nicht spurlos vorübergegangen. Es hat Errungenschaften gebracht, die nicht mehr unberücksichtigt bleiben können. Und gerade deswegen ist die Ontologie heute eine ganz anders tragfähige Basis geworden, als die alten Universalientheorien es sein konnten, auch für das Erkenntnisproblem. Es ist viel zu wenig gesagt, wenn man die Umkehr, wie oben geschehen, durch die Auffassung des Erkenntnisverhältnisses als Seinsverhältnis, des Erkenntnisaktes als transzendenten Akt, des Gegenstandes als übergegenständlich seienden charakterisiert. Es geht vielmehr um die Rückkehr der ganzen Sehweise zur natürlichen Einstellung. Denn in dieser allein, der direkten Richtung (intentio recta) der Erkenntnis nach außen - auf den Gegenstand - , ist überhaupt das "Seiende als Sei-
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endes" faßbar. Diese Einstellung ist die des vorwissenschaftliehen Bewußtseins und zugleich die der meisten Wissenschaften, in erster Linie der Naturwissenschaft. Ihre unmittelbare Fortsetzung ist die der Ontologie. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Die Erkenntnistheorie hat eine ganz andere Einstellung. Sie biegt die natürliche Richtung um, wendet sie gegen sich selbst zurück; ihr Gegenstand ist eben die Erkenntnis selbst. Diese "reflexio" (buchstäblich als "Rückbiegung" verstanden) oder auch intentio obliqua -vollzieht sie notgedrungen; aber durch sie geschieht es, daß sie die natürliche Sehweise preisgibt und nun den Erkenntnisgegenstand in seinem Seinscharakter nicht mehr fassen kann. Das zieht die Verkennung ihrer eigenen Stellung in der Welt und zuletzt die ganze Reihe der subjektivistischen Mißverständnisse nach sich. So kommt es, daß man gerade für die richtige Anlage der Erkenntnistheorie, obgleich diese sich notwendig in der intentio obliqua bewegen muß, doch zuerst einmal auf die intentio recta zurückgreifen muß. Vollzieht man nun die Rückkehr zur natürlichen Einstellung schlicht und ohne Vorbehalte, so nähert man sich damit zugleich dem natürlichen Realismus und verliert nun wiederum leicht die Errungenschaften der Erkenntnistheorie, das transzendentale Problem und das "geistige Bilden" aus dem Blick. Das ist natürlich ebenso falsch. Denn erstens ist Realismus ein viel zu enger Begriff; ist doch selbst der naive Realitätsbegriff falsch begrenzt, auf Dinge und dingliches Geschehen eingeschränkt, während die seelische und geistige Welt in Wirklichkeit eine ebenso reale ist. Zweitens aber nimmt die Ontologie vom natürlichen Realismus nur die Realitätsthese selbst auf, keineswegs dagegen die Adäquatheitsthese. Jene besagt nur, daß die Gegenstände ein von der Erkenntnis unabhängiges Sein haben, diese aber behauptet, sie seien auch so beschaffen, wie das unreflektierte Erleben sie zeigt. Daß das letztere sich nicht halten läßt, beweist schon die einfachste Überlegung und ist seit der Sophistenzeit wohlbekannt. Man muß also die Adäquatheitsthese fallen lassen. Damit ändert sich das Bild noch einmal: zwischen die naive Gegebenheit und das, was für real gelten darf, schaltet sich der ganze Prozeß aufbauender Arbeit ein, welche die Erkenntnis zu leisten hat. Und dafür ist nun Spielraum, weil das Erkenntnisverhältnie sich als ein dreigliedriges erwiesen hat und das Erkenntnisgebilde, ohne die Identität des Gegenstandes zu verletzen, die ganze Stufenfolge dieser aufbauenden Arbeit durchlaufen kann. Konkret und bedeutungsvoll wird aber dieses Resultat erst, wenn man es nach seiner anderen Seite zu auswertet. Denn jetzt gliedert sich das ganze Erkenntnisverhältnis zwanglos den übrigen Seinsverhältnissen der realen Welt, in der es seinen Spielraum hat, ein. Von seiner Zugehörigkeit als Akt zur Gruppe der "transzendenten Akte" war schon die Rede: es steht jetzt in einer Reihe mit dem Handeln und Wollen, dem Lieben und Hassen, dem Erleben und Erleiden, dem Erwarten und Fürch-
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ten. Alle diese Akte haben ein seiendes Gegenglied, auf das sie gerichtet sind; und in der Gesamtheit solcher Gegenglieder besteht die reale Welt, soweit sie erfaßt wird (uns zum Gegenstande wird). Die transzendenten Akte machen die Wege der Beziehung zwischen dem Bewußtsein und der Welt, in der es steht, aus. Man kann auch sagen: sie machen dieses sein Darinstehen selbst aus. Die Erkenntnis ist unter ihnen zwar eine sekundäre Form der Beziehung, aber eine sehr eigenartige und unvergleichliche. An ihr hängt die Orientierung des Menschen in der umgebenden Welt. Zunächst ist diese rein vitalen Zwecken der Lebenserhaltung unterworfen, steht also im Dienste des Organismus; dann erhebt sie sich zu höheren praktischen Zielen, zuletzt aber wird sie von allen ihr äußeren Zwecken frei und dient nur der reinen Umschau, dem Erfassen der Welt als solchem. Diese Stufe ist heute in vielen Wissenschaften erreicht und bildet nunmehr ein eigenes geistiges Lebensgebiet des Menschen. Damit erst ist das Feld frei für die richtige Einordnung der Erkenntnis in den gesamten Lebens- und Seinszusammenhang der Welt. Einst glaubte man, die Welt sei nichts als das Gegenglied des erkennenden Subjekts, ihr "Objekt". Jetzt sieht es umgekehrt aus: was sie sich zum Objekt zu machen weiß, ist nur ein Ausschnitt aus der Welt, die Erkenntnis selbst aber ist ein Stück der Welt, ein Glied, und zwar ein von vielen anderen Stücken getragenes, die alle ihr gegenüber primär sind und ein selbständiges Bestehen haben. Dieses Getragensein nun, und mit ihm die Einordnung der Erkenntnis, läßt sich ontologisch sehr genau bestimmen, wenn man den allgemeinen Aufbau der realen Welt zugrunde legt. Die reale Welt nämlich ist nicht in sich einfach, sondern sehr mannigfaltig gestuft. Es überlagern sich in ihr vier Seinsschichten, von denen immer die niedere die höheren trägt. Die unterste umfaßt den Kosmos als Inbegriff aller physischen Gebilde, vom Atom bis zu den Riesensystemen, von denen die Astronomie uns Kunde gibt. Die zweite ist das Reich des Organischen, der Ausdehnung nach verschwindend klein im Kosmos, der Seinshöhe nach ihm weit überlegen und autonom bei aller Abhängigkeit. Über dem Organismus, von ihm getragen, aber ihm gänzlich unähnlich, erhebt sich die seelische Welt, das Bewußtsein mit seinen Akten und Inhalten. Und wiederum über diesem baut sich das geistige Leben auf, das nicht im Bewußtsein des Einzelnen aufgeht, sondern eine gemeinsame Sphäre bildet, deren Werdegang die Generationen überbrückt und verbindet. Welcher dieser Seinsschichten die Erkenntnis angehört, kann nicht zweifelhaft sein. Das Bewußtsein, als primitives (geistloses) verstanden, mag ihre .Anf"änge enthalten. Zur Entfaltung kommt sie offenbar erst in der höchsten Schicht, im Geiste. Hier hat sie ihren ontologischen Ort, und von hier aus muß man das Verhältnis zur übrigen Welt, das sie herstellt, verstehen. Denn da sie ein transzendenter Akt ist, gehört dieses Verhältnis wesentlich zu ihr.
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Man muß also weiter fragen: in welcher Seinsschicht liegt ihr Gegenglied, dem sie funktional zugeordnet ist ? Als Gegenglied funktioniert für sie alles Seiende, das sie sich zum Gegenstande machen kann, und zwar gleichgültig dagegen, wie weit sie es wirklich zu erfassen imstande ist. Denn schon was sie sich zum Problem macht, wird eben damit in gewissen Grenzen zu ihrem Gegenstande. Da nun die Erkenntnis sich grundsätzlich auf alles Seiende erstrecken kann, muß man sagen: ihr Gegenstand liegt in allen vier Schichten, resp. sie ist allen vieren in gleicher Weise zugeordnet. Sie ist also auch dem Geiste, und damit sich selbst als einem möglichen Gegengliede zugeordnet, kann auch sich selbst zum Gegenstande machen. Und das eben tut sie in der Erkenntnis-" Theorie". Sie bildet demnach entsprechend den Stufen ihres Gegenstandes ihrerseits ein Stufenreich, ist Erkenntnis der Dinge, des Lebendigen, der seelischen Innerlichkeit und des geistigen Seins, sowohl des personalen, das im Individuum aufgeht, als auch des geschichtlich objektiven, von dem die Geisteswissenschaften handeln. Das ergibt ein reiches Gesamtbild, dessen Glieder sich in der Mannigfaltigkeit der Wissensgebiete spiegeln. Aber der Reichtum ist keineswegs den Wissenschaften allein eigen. Er differenziert sich schon deutlich im Leben selbst heraus, denn das menschliche Leben ist auch im Alltag schon überall von Erkenntniselementen durchsetzt, und praktisch hängt jeder Schritt, den wir tun, bereits wesentlich von dem Grade der Einsicht ab, die uns die verschlungenen Seinsverhältnisse erleuchtet. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, sich das ontische Doppelverhältnis, in dem die Erkenntnis steht, klarzumachen. Einerseits ist sie durch ihre Zugehörigkeit zum Geiste und als eminent geistige Funktion von der ganzen Stufenfolge der niederen Seinsschichten getragen und insofern von ihr abhängig. Andererseits ist sie als transzendenter Akt funktional eben denselben Seinsschichten als ihren Gegenstandsgebieten zugeordnet. Diese Zuordnung besteht in der Intention auf das Seiende aller Art und Seinshöhe. Sie erstreckt sich also vom Geiste aus rückwärts auf dieselben tragenden Seinsschichten bis hinab zur Materie. Das ganze Doppelverhältnis stellt sich also als eine Art Kreislauf dar, durch den die Welt als Inbegriff des Seienden im Menschengeiste zum Bewußtsein dessen kommt, was sie ist. Man kann in diesem Sinne auch sehr wohl von einem "Fürsichsein" der Welt sprechen, das in der Erkenntnis zustande kommt; denn die Erkenntnis ist im Grunde ein Realverhältnis und gehört als Funktion des Geistes mit zur realen Welt. Soweit liegt keine Übertreibung in dem viel mißbrauchten Begriff des Fürsichseins. Man darf den letzteren nur nicht nach Regelscher Art als "Fürsichsein des Geistes" verstehen, sondern eben nur als Fürsichsein der Welt (oder des Seienden); und man darf seiner Realisation im Menschen nicht eine durch die ganze Welt gehende teleologische Tendenz unterschieben, durch welche sie zu einem bestimmenden Zweck der ontischen Stufenfolge gemacht würde.
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Solche spekulativen Vereinfachungen sind und bleiben völlig unbegründet und müssen in einer ernsthaften Untersuchung aus dem Spiele bleiben. Der Sinn des Kreislaufes ist ein weit schlichterer. Die Welt ist nicht auf Erkenntnis hin angelegt. Der Kosmos und die lebendige Natur bestehen auch ohne sie und bedürfen ihrer nicht, und auch vom geistlosen Bewußtsein gilt noch dasselbe. Erst mit dem Aufkommen geistigen Lebens tritt sie in Erscheinung. Dann aber erstreckt sie sich der Intention und dem Gegenstandsfelde nach auf alles, was auch ohne sie bestand. Ein Interesse an ihr hat nur der Geist selbst. Mit ihrem Einsetzen aber begreift er auch sein eigenes Aufruhen auf dem, was ohne ihn vorbestand. Getragen ist die ganze Schichtenfolge von der Mate:de, erleuchtet aber wird sie vom Geiste. Die Erleuchtung besteht freilich nicht in der Erkenntnis allein, denn alle Sinngebung durch menschliche Zwecke und alle Realisation durch menschliches Schaffen gehört mit zu ihr. Aber Erkenntnis ist doch in alledem das führende Moment; und sie trägt selbst den Stempel des Schaffens und der Sinngebung an der Stirn. Denn der Geist weitet sich mit dem Weltbilde, das sie ihm erarbeitet. Er wächst mit ihrem Wachstum ständig über sich hinaus- hinein in die ihn tragende Welt und wird im Maße seines Umspannens ihrer teilhaftig. Nun aber differenziert sich die Erkenntnis entsprechend den Seinsgebieten ihres Gegenstandes. Nicht alles Seiende ist ihr in gleicher Weise zugänglich. Hier waltet vielmehr eine beträchtliche Abstufung, und zwar nicht gleichlaufend mit der Schichtenfolge. Sie richtet sich auch keineswegs - wie man wohl erwarten möchte - nach der Seinsdistanz des Gegenstandes vom Geiste. Es ist keineswegs so, daß das ihm fernste und unähnlichste Seinsgebiet, das Physisch-Materielle, ihm am meisten verschlossen, er selbst aber sich am leichtesten zugänglich wäre. Und auch das umgekehrte Verhältnis waltet hier nicht. Vielmehr ist die Abstufung viel komplizierter. Oder richtiger, es steht unter einem ganz anderen Gesetz, das man nicht ohne weiteres in ein allgemeines Schema zwingen kann. Man muß es vielmehr erst aus der Analyse der einzelnen Erkenntnisgebiete zu gewinnen suchen. Es spielt hier vor allem der Gegensatz von intentio recta und obliqua, von natürlicher und reflektierter Einstellung, hinein. Der niedersten Seinsschicht gegenüber herrscht eindeutig die erstere. Dinge und dingliche Verhältnisse, räumliche Körper und Vorgänge treten uns als äußere Gegenstände entgegen; sie bestimmen wesentlich den Charakter der Außenwelt. Anders ist es schon mit dem Organischen. Dieses ist uns in zwei Richtungen gegeben: einerseits im Innenaspekt als das eigene körperliche Leben, das sich uns unmittelbar im physischen Schmerz und Wohlbefinden ankündigt, aber dabei zumeist nicht gegenständlich aufgefaßt wird; andererseits am fremden Organismus, in dessen sichtbarer Gestalt, Bewegung usw., also im Außenaspekt. Hier sind beide Einstellungen beteiligt. Eine Stufe höher ist uns die seelische Welt, als unsere eigene, rein im Innenaspekt gegeben- durch "innere Wahrnehmung" oder "inneren Sinn", wie man es genannt hat; hier herrscht also
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die intentio obliqua allein. Im Reich des Geistes hingegen ist es wiederum ganz anders; denn der Geist tritt uns als "objektiver" auch als äußerer Gegenstand und als umgebende Welt entgegen. Recht, Sitten, Religion, Sprache, Wissen lernen wir kennen, indem wir in das Bestehende hineinwachsen und an ihm teilgewinnen. Dem Einzelnen tritt dieses alles als vorbestehende Sphäre entgegen. Darum ist es ihm vorwiegend durch die intentio recta zugänglich. Daneben ist es freilich immer auch in gewissen Grenzen dem Innenaspekt gegeben. Und so haben wir denn auch hier, ähnlich wie im Erfassen des Organischen ein Zusammentreffen beider Aspekte. Dieser merkwürdigen Verteilung der beiden intentiones auf die ver· sohledenen Erkenntnisbereiche entspricht nun die Abstufung der Gegebenheit -verstanden als eine solche der empirischen (aposteriorischen) Seite der Erkenntnis. Am stärksten und unmittelbarsten geben die äußeren Sinne, vor allem der Gesichtssinn, die dingliche Welt. Darum haben wir von der niedersten Seinsordnung -der physisch-materiellen - die stärkste, unbestrittenste und gleichsam prototypische Gegebenheit. Das ist merkwürdig genug, weil doch gerade hier die größte Heterogeneität zum Geiste waltet, "für" den allein die Gegebenheit besteht. Aber hier sieht man es eben, wie wenig sinnliche Gegebenheit mit Homogeneität des Gegenstandes zu tun hat. Worauf es ankommt, ist offenbar etwas ganz anderes: der Gegenstand ist in dieser Seinsschicht noch ein verhältnismäßig einfacher, das macht ihn leichter zugänglich, und zwar nicht nur für die Erkenntnis a posteriori; was sich sogleich noch von anderer Seite zeigen wird. Zunächst aber gilt das nur von der Wahrnehmung. Und im Hinblick auf sie tritt auch der Gegensatz, in dem die Gegebenheit des Organischen dazu steht, am deutlichsten zutage. Das Lebendige als solches ist uns zwar im Doppelaspekt zweier Intentionen gegeben, aber in beiden nur vermittelt. Die innere Wahrnehmung gibt direkt nur das seelische Sein, die äußere nur das Dingliche. In beiden spiegeln sich freilich die organischen Prozesse, aber sie werden nicht direkt wahrgenommen. Das leibliche Selbstgefühl ist nur ein diffuses Bewußtsein der wirklichen Leibzustände ohne Bild der physiologischen Vorgänge; und die Wahrnehmung des fremden Organismus durch die äußeren Sinne sagt erst recht nichts über deren eigentlichen Verlauf. In beiden Richtungen dringt erst eine späte, auf mannigfaltige Beobachtung, Erfahrung und Schlußfolgerung basierte Einsicht tiefer ein, im wesentlichen also die wissenschaftliche. Wir haben eben keinen direkten Sinn für das Lebendige als solches. Wenn wir ein Glied bewegen, so wissen wir nichts von den komplizierten Vorgängen der Innervation und muskularen Kontraktion, erst die Physiologie und Anatomie belehren uns darüber. Aber unsere Aktivität wartet nicht auf die Belehrung, sondern funktioniert völlig unabhängig von ihr. Der Innenaspekt hat zwar unmittelbare Gewißheit, bleibt aber inhaltlich arm; der Außenaspekt ist reich und objektiv, und
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er kann in der Wissenschaft unbegrenzt erweitert werden, aber er bleibt an weite Umwege gebunden, und die eigentlichen Geheimnisse der Le. bendigkeit verrät auch er nicht. Dieses komplizierte Verhältnis ist im Vergleich mit der unmittelbaren Gegebenheit des Dinglich-Materiellen sonderbar genug, weil doch das letztere uns, die wir selbst organische Wesen sind, so viel ferner steht als das eigene Leben. Erkenntnistheoretisch läßt sich das auch nicht weiter erklären. Wohl aber können wir anthropologisch- und das besagt ontologisch - die Sachlage verstehen. Unsere Erkenntnis ist von Hause aus ein Organ des Sich-Zurechtfindens in der umgebenden Welt und dient diesem praktischen Zweck. Dafür ist die Gegebenheit der dinglichen Umgebung wesentlich, die der inneren Lebensvorgänge aber nicht nur unnötig, sondern geradezu hinderlich. Die Atmung, der Blutkreislauf, die chemischen Reaktionen des Stoffwechsels, die innere Sekretion sind von Natur zweckmäßig gesteuert und unterliegen einer subtil funktionierenden Regulation. Diese funktioniert am besten, wenn sie dem Bewußtsein entzogen ist und von seiner Willkür nicht gestört wird. Ihr Verborgensein für uns ist also selbst organisch zweckmäßig. Wir bedürfen im Leben nicht nur keiner wissentlichen Orientierung über sie, sondern sind auch am besten geschützt dadurch, daß sie dem Wissen entzogen ist. In der Außenwelt dagegen bedürfen wir der Orientierung, denn hier bedeutet sie das Verfügbarmachen der Dinge für uns und die Möglichkeit, die umgebende Welt in den GrenzendesLebensnotwendigen auch zu beherrschen. An diesem Verhältnis kann man es wie an einem Standardbeispiel mit Händen greifen, warum die Erkenntnistheorie heute nicht mehr ohne ontologische Fundierung zu bewerkstelligen ist. Die Rätsel in den weit auseinanderklaffenden Graden der Gegebenheit sind ohne Berücksichtigung der Natur des Menschen und seiner Stellung in der Welt nicht lösbar. Sie erzwingen gebieterisch die Eingliederung des Erkenntnisproblems in den größeren anthropologischen Problemzusammenhang. Indessen geht die Stufenfolge weiter. Das seelische Sein ist, wie gezeigt, nur der intentio obliqua direkt gegeben. Hier aber stößt sie auf ein anderes Hindernis. Ist schon die reflektierte Einstellung als solche im Vergleich mit der natürlichen eine Erschwerung, so wird sie vollends behindert durch die Beeinflussung des seelischen Vorganges, den sie erfassen soll, durch ihr eigenes Tun. Denn auch dieses Tun ist ein seelischer Akt und wirkt auf den beobachteten Vorgang zurück. Die Reflexion verändert den Vorgang, der ihr Gegenstand ist. Die Psychologie unserer Tage hat dauernd mit dieser Schwierigkeit zu kämpfen. Sie mißtraut der direkten Selbstbeobachtung, verlegt das Objekt in die fremde Person, experimentiert mit deren seelischer Reaktion als mit der des ungestörten Bewußtseins, muß sich aber dabei auf Aussagen der Versuchsperson verlassen, ohne dabei die Garantie zu haben, daß diese auch objektiv zutreffend sind. Das Verfahren bewährt sich zwar in gewissen einfacheren Problembereichen; bei den komplizierteren -die meist gerade die wichtigeren sind -stößt es auf unüberwindliche Grenzen.
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Einst hatte Descartes gelehrt, das unmittelbare Selbstbewußtsein sei das Gewisseste, was wir haben. Das ist richtig, wenn man es auf die eigene Existenz bezieht, wie sein Satz "cogito ergo sum" es aussprach. Aber es geht hier nicht um die bloße Existenz, sondern um das inhaltliche Erfassen der seelischen Vorgänge in ihrem unübersehbaren Reichtum der Differenziertheit. Und da gilt ein ganz anderes Gesetz: die seelischen Vorgänge sind nicht identisch mit ihrem Erlebtwerden, das Bewußtsein ist in ihnen auf Gegenstände ganz anderer Art (vorwiegend der umgebenden Welt) gerichtet, nicht auf sich selbst. Macht man sie selbst zu Gegenständen, so erhebt man das spezifisch Subjektive in die Objektivität und verfälscht sie damit. Das seelische Leben hat seine eigene, psychische Realität, und diese wird von dem zweiten Bewußtsein, dem der auf sie gerichteten Erkenntnis teilweise verdeckt. Oder, wie Fichte es summarisch aussprach: "Das Ich steht sich selbst im Wege." Auch im praktischen Leben kennen wir dieses Phänomen. Es ist seit Sokrates wohlbekannt als der schwer überwindbare Widerstand der Menschenseele gegen die "Selbsterkenntnis". Freilich ist diese hier als. ethische Rechenschaft des Menschen gemeint, und die Motive des Widerstandes sind andere. Heute sprechen wir lieber in neutralerer Weise von einem "Sichselbstverstehen" im Sinne von Diltheys verstehender Psychologie. Aber das Grundphänomen bleibt dasselbe: ob sich der Akt gegen das helle Bewußtsein seines Vollzuges sträubt, oder ob dieses ihn stört, die Schwierigkeit des Erkennens ist dieselbe. Das eigentlich Subjektive entzieht sich immer teilweise der Objektwerdung, und der nicht objizierbare Teil ist gerade das Wichtigste und Eigentliche an ihm. Alle unsere Vorstellungen und Begriffe sind eben ursprünglich auf Erfassung der äußeren Objektwelt zugeschnitten. Was wunder also, wenn sie auf die innere Welt, die keine gegenständlich scharfen Grenzen und Formen kennt, nicht zupassen ~ Wieder ganz anders steht es mit der Gegebenheit des Geistes. Man sollte meinen, das Wissen um ihn müßte doch erst recht die Form der Reflexion und des Selbstbewußtseins haben und darum von denselben Aporien betroffen sein. Dem ist keineswegs so: der Geist ist nicht als Subjektsphäre allein gegeben, er tritt uns auch objektiv als eine ganze Lebenssphäre entgegen, in der wir uns bewegen und zurechtfinden müssen, ähnlich wie in der natürlichen Welt. Von dieser Sphäre wurde schon gezeigt, wie sie als gemeinsame und geschichtlich fortbestehende - als "objektiver Geist" -in der Sprache, im Wissen, in Recht, Moral und Religion ein inhaltlich geformtes Reich größten Stiles bildet, das geschichtliche Realität hat und durch ihre Prägungen auch den personalen Geist des Einzelmenschen prägt. Subjekt der Erkenntnis ist dagegen nur der in ihr stehende Einzelne. Aber auch sein Wissen um sie wird in die gemeinsame Objektivität erhoben und erscheint als das die Individuen verbindende Rechtsbewußtsein, sittliche Wertung, Wissenschaft, Ausdrucksform und historisches Bewußtsein.
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Durch diese Objektivität ist die Welt des Geistes den Schwierigkeiten des unmittelbaren Selbstbewußtseins und der reinen intentio obliqua enthoben. Ihre Erlebbarkeit und Erfahrbarkeit steht der des Physischen wieder um vieles näher; sie ist wie dieses der natürlichen Einstellung gegeben; und da auch die Akte des personalen Geistes weitgehend durch den objektiven geprägt sind, überträgt sich der Vorzug der intentio recta auch auf deren Erfassung. Übersieht man nun das ganze Feld der Gegebenheit in seiner Differenzierung nach Gegenstandsgebieten, so ergibt sich das Bild einer Kurve. Die Gegebenheit ist am stärksten im Bereich der beiden Extreme, der niedersten und der höchsten Seinsschicht, d. h. im Gegenstandsfelde des Dinglich-Materiellen und des Geistes. Das dem Geiste Heterogenste und das ihm Homogenate ist ihm am besten zugänglich, wenn auch aus sehr verschiedenen Gründen und in sehr verschiedener Weise: das eine weil es das gegenständlich Einfachste und das den fünf Sinnen direkt sich Darbietende ist; das andere weil es die unmittelbare Lebensphäre des Geistes, die seiner ständigen Situationen, Konflikte und Entscheidungen ist. Auf beiden Gebieten ist die Lebensaktualität die gleiche, und für beide trifft daher das gleiche anthropologische Argument der Dringlichkeit immer neuer Orientierung zu. In beiden Fällen also wird der Reichtum der Gegebenheit aus der ursprünglich praktischen Angepaßtheit der Erkenntnis an das Lebensnotwendige verständlich. Das Umgekehrte gilt für die beiden mittleren Schichten des Seienden. Das organische Leben ist zwar beiden Intentionen gegeben, aber nur mittelbar, und die Welt des Seelischen ist auf die reflektierte Einstellung beschränkt, die es nur teilweise und im Kampf gegen die schwersten inneren Widerstände zur Objektivität bringt. Die Abstufung der aposteriorischen Erkenntnis beschreibt auf diese Weise eine gebogene Linie. Sie beginnt am unteren Ende mit einem Maximum inhaltlicher Fülle, gleichsam in größter Nähe zum Gegenstande, entfernt sich dann in den mittleren Bereichen von ihm, erreicht um die psychophysische Grenzscheide (die zwischen Organischem und Seelischem) herum die größte Distanz zu ihm, und damit zugleich ihr eigenes Minimum, führt aber an ihrem oberen Ende wieder zu ihm zurück, indem sie zu einem zweiten Maximum aufsteigt. Diese eigenartige Kurve der Gegebenheit ist ein erstes Resultat des hier eingeschlagenen Vorgehens, welches die Erkenntnis im Lichte der Ontologie zu sehen sucht. Es erleuchtet einen Teil der Erkenntnisphänomene aus den Seinszusammenhängen, in denen der Mensch als erkennendes Wesen steht. Verständlich wird von hier aus vor allem, warum alle Theorien, die vom Subjekt allein, oder auch nur von der Bewußtseinsseite des Erkenntnisaktes ausgehen, besonders aber diejenigen, die das Selbstbewußtsein als Hauptphänomen zugrunde legen, das Wesen der Erkenntnis verfehlt haben. Das Selbstbewußtsein ist gerade der am wenigsten geeiguete Ausgangspunkt, weil es zu dicht am Minimum der
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Gegebenheit liegt. Aber auch die bloß introspektive Analyse des Erkenntnisaktes, wie die Phänomenologen sie versucht haben, gelangt an das eigentliche Wesen der Gegebenheit nicht heran. Sie bleibt am Bewußtseinsvorgang in seiner Immanenz stehen und faßt das transzendente Verhältnis zum Gegenstande nicht. Was sie als Gegebenes beschreibt, ist keine Seinsgegebenheit. Erst die ontologische Sicht, indem sie das Erkenntnisverhältnis als Seinsverhii.ltnis versteht, vermag es aus seiner Einbettung in den Lebenszusammenhang heraus zu begreifen. Dieser aber zeigt es ganz zuerst in seiner Differenzierung nach Gegenstandsgebieten, die ihrerseits identisch mit den Schichten des Realen sind, von denen der erkennende Geist getragen ist. IV Die andere Instanz der Erkenntnis, die apriorische, unterliegt gleichfalls einer Differenzierung, und zwar nach denselben Gegenstandsgebieten. Da sie von grundlegend anderer Art ist, mit anderen Mitteln arbeitet, auf anderen Prinzipien beruht und wesentlich andere Seiten des Gegenstandes erfaßt, so hat man Grund zu erwarten, daß ihre Abstufung gleichfalls eine andere sein wird. Ist sie doch ausschließlich auf das Allgemeine, Wesensnotwendige und Gesetzmäßige am Gegenstande gerichtet, während die empirische Gegebenheit unmittelbar stets nur den Einzelfall als solchen erfaßt. Der Unterschied könnte nicht größer sein: auf der einen Seite das unverstandene Mannigfaltige in seiner Unverbundenheit und Zufälligkeit, auf der anderen das Verstehen und Begreifen der Seinszusammenhänge, der Abhängigkeit, der Bedingungsketten, an denen das Möglichsein und Notwendigsein-und zwar auch das des Einzelfalles- hängt. Alles "geistige Bilden" und "Umbilden" im Bereich der Vorstellung ist Sache der Synthesen, die auf Grund eines A priori vollzogen werden, während das Gegebene für diese nur eine Ausgangsebene bildet. Die Erwartung erweist sich -um es gleich zu sagen -als trügerisch. Der Gang der Abstufung apriorischer Einsicht zeigt sich im wesentlichen als ein ähnlicher wie der soeben geschilderte der Gegebenheit, gleichsam als parallel zu ihm laufende Kurve. Um das zu erweisen, müssen wir auf den Anfang der ganzen Untersuchung zurückgreifen. Das apriorische Element der Erkenntnis beruht auf gewissen allgemeinen Prinzipien, welche das Subjekt mitbringt und in seiner Verarbeitung des Gegebenen einsetzt. Man ist seit Kant gewohnt, sie Kategorien zu nennen; die Geschichte ihres Problems aber weist mancherlei ältere Bezeichnungen für sie auf: vom Eidos der Alten, über die essentiae und universaHa der Scholastik, bis zu den simplices der Rationalisten und den Wesensgesetzen Husserls. Das Entscheidende in ihnen aber liegt nicht im Wechsel der Fassung, sondern in der Doppelheit ihres Auftretens: als Erkenntnisprinzipien einerseits und als Seinsprinzipien andererseits.
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Der Sinn dieser Doppelheit ist auch zu Anfang schon angedeutet worden. Er liegt in einem Identitätsverhältnis von Seins- und Erkenntniskategorien, an dessen Reichweite die Erkennbarkeit a priori auf allen Gegenstandsgebieten hängt. Das volle Gewicht dieses Verhältnisses aber läßt sich erst auf Grund jener Gegenüberstellung von Erkenntnisgebilde und Gegenstand ermessen, die in der ontologischen Analyse des Erkenntnisaktes als eines "transzendenten Aktes" greifbar wurde. Erkenntnis besteht darin, daß das Erkenntnisgebilde mit dem Gegenstande übereinstimmt. Nichtübereinstimmung ist Irrtum. Es kommt also in der apriorischen Erkenntnis darauf an, daß die Kategorien, die das Subjekt im "Bilden" der Vorstellung einsetzt, dieselben sind, auf denen der Gegenstand aufgebaut ist. Darum formulierte Kant seinen obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori dahin, daß die Kategorien der Erfahrung zugleich die des Gegenstandes sein müßten. Diese fundamentale Identitätsthese aber ist nur teilweise zutreffend. Sie behauptet zuviel. Wären alle Kategorien des Gegenstandes zugleich Kategorien der Erkenntnis, so könnte es nichts Unerkennbares geben. Das widerstreitet dem Phänomen der unübersteigbaren Erkenntnisgrenzen, an die wir auf allen Gegenstandsgebieten stoßen. Es muß also einen Überschuß an Seinskategorien geben, die nicht im Bewußtsein als die seinigen wiederkehren. Mit anderen Worten, es kann sich nur um partiale Identität der Erkenntnis- und Seinskategorien handeln, und zwar muß die Identität so begrenzt gedacht werden, daß die Reichweite der Erkenntnis a priori genau der Reichweite der Identität von Seinsund Erkenntniskategorien entspricht. In abgekürzter Formel also darf man sagen: die Erkennbarkeitsgrenze am Gegenstande ist gezogen durch die Grenze der kategorialen Identität. Mit der Erkennbarkeit der Kategorien selbst hat sie dagegen nichts zu tun 1 . Das Kategorienproblem, im Lichte der Ontologie gesehen, erweitert sich demnach zu einem Problem der kategorialen Differenz. Man muß nun statt mit einem Kategorienreich vielmehr mit zweien rechnen, wobei das Hauptgewicht auf die genaue Ziehung der Identitätsgrenze fällt. Man kann diese Aufgabe als die einer "differenziellen Kategorialanalyse" bezeichnen. Sie ist insofern keine einfache, als sie nicht durch eine scharfe Grenzlinie zwischen Kategorien, die nur Seinsprinzipien, und solchen, die "auch" Erkenntnisprinzipien sind, lösbar ist. Es stellt sich nämlich in der Analyse selbst heraus, daß auch einzelne Kategorien nur teilweise in beiden Bereichen identisch sind, d. h., daß sie als Erkenntnisprinzipien nur teilweise mit den entsprechenden Seinsprinzipien identisch sind, teilweise aber von ihnen abweichen. Anders ausgedrückt: die Grenze der kategorialen Identität geht mitten durch sie hindurch. Hier hat die 1 Über dieses in sich nicht ga.nz einfache Verhä.ltnis und die Geschichte seiner Entdeckung habe ich ausführlich gehandelt in den Werken: "Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis" (1921, 4. Auf!. 1949), Kap. 46-49, und "Der Aufbau der reaJen Welt" (1940, 2. Auf!. 1950), K&p.. 12-14.
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differenzielle Kategorialanalyse ein weites Arbeitsfeld, das heute noch kaum in Angriff genommen ist, auf dem aber die wichtigsten Entscheidungen über fast alle Probleme des philosophischen Weltbildes zu suchen sind. Die Beispiele dafür sind gar nicht so entlegen, wie man meinen sollte. Der Realraum etwa hat sich gerade in unserer Zeit als nicht identisch mit dem Anschauungsraum erwiesen, die Realzeit ebensowenig mit der Anschauungszeit. Der Realprozeß in den Naturvorgängen ist weit entfernt, seiner inneren Struktur nach mit dem erlebten Geschehnis identisch zu sein. Auch das Allgemeine in ihm, das wir als Gesetzlichkeit bezeichnen, deckt sich nicht ohne weiteres mit den Formeln, in denen die Naturwissenschaft es faßt; dafür ist das in unserer Zeit aktuell gewordene Problem der statistischen Gesetze, die den Einzelprozeß als solchen gar nicht betreffen, der sprechende Beleg. Die Vorstellungen von Substanz und Kausalität haben im Laufe der Jahrhunderte derartig gewechselt, daß es anmaßend wäre, irgendeine von ihnen als Seinskategorie ausspielen zu wollen. Weiter aufwärts aber von den Kategorien des organischen und des seelischen Seins wissen wir heute noch wenig, ein Zeichen dafür, wie sehr sie unserem erkennenden Bewußtsein fehlen. Aber auch von den einfachsten Fundamentalkategorien, die allen Seinsstufen gemeinsam und darum keinem besonderen Gegenstandsbereich zugeordnet sind, gilt das gleiche. Am greifbarsten ist das im Gebiet der Modalität: Realmöglichkeit deckt sich nicht mit der Denkmöglichkeit, Realnotwendigkeit nicht mit Wesensnotwendigkeit, die Modi der Erkenntnis weichen weit ab von denen des Seienden, und das in der Gegebenheit für "wirklich" Geltende ist weit entfernt, das Realwirkliche zu sein. Vielleicht gibt es überhaupt nur ein einziges Gegenstandsgebiet, auf dem wir mit einer wirklich weitgehenden Identität von Seins- und Erkenntniskategorien rechnen können: das der Mathematik. Die einzigartige Gewißheit mathematischer Erkenntnis ist das Zeugnis dafür. Aber sie gilt streng nur für die "reine" Mathematik, und diese hat es direkt nur mit dem idealen Sein der Zahlen und Figuren, Mengen und Größenverhältnisse zu tun. Diese Gegenstände sind zwar weit entfernt, bloß in Gedanken zu bestehen - wäre das der Fall, so wäre die Mathematik gar nicht Erkenntnis, sondern leeres Gedankenspiel -, aber ihr Sein ist zunächst ein bloß "ideales". Mittelbar allerdings ü herträgt sich die Mannigfaltigkeit der mathematischen Verhältnisse auf die reale Welt; nicht auf die ganze zwar, aber um so mehr auf ihre niederste Schicht, das Physisch-Materielle. Sie durchdringt es und macht es mathematisch exakt faßbar. Darauf beruht die wunderbare Leistung der mathematischen Naturwissenschaft, ihre durchsichtige Gesetzlichkeit und Rationalität. Erkenntnistheoretisch gesprochen: es ist der hohe Einschlag apriorischer Einsicht, der sie zu ihren großartigen Erfolgen geführt hat. Von hier aus kann man es nun sehr deutlich sehen, wie sich die ganze Kurve der Erkenntnis a priori über die Seinsschichten ihres Gegenstandes hin gestaltet, warum sie sich von derjenigen der Gegebenheit nicht weit
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abhebt, sondern im wesentlichen ihr parallel läuft. Die-Xategorien der Erkenntnis stehen denen des Seienden auf dessen unterster Stufe (im Anorganischen) am nächsten. Sie entfernen sich von ihnen ziemlich weit auf der Ebene des organischen und des seelischen Seins, nähern sich ihnen aber wieder im Bereich des geistigen Lebens. Oder kategorial ausgedrückt: die Identität von Erkenntnis- und Seinskategorien variiert in der Weise, daß sie an der unteren und oberen Grenze des Realen am besten erfüllt ist, auf den mittleren Stufen aber weitgehend fehlt. Die Gebiete größter kategorialer Deckung also fallen mit denen der reichsten aposteriorischen Gegebenheit zusammen, die der geringsten Deckung mit den Gebieten ärmster und am meisten fragwürdiger Gegebenheit. In dieser Geschlossenheit ist das Gesamtbild der Abstufung freilich noch ein bloß vorweg genommenes. Nur am unteren Pol ist das Phänomen aufgewiesen. Der Beleg für die höheren Schichten wird also noch nachzuholen sein. Zuvor aber muß, um das Kategorienverhältnis im ganzen zu übersehen, noch eine Ergänzung vorgenommen werden. Das Reich der Kategorien gliedert sich zwar in seiner Besonderung nach den Schichten des Realen, ist aber auf die sich überlagernden Gruppen, die diesen Schichten entsprechen, nicht beschränkt. Es gibt auch Kategorien von solcher Allgemeinheit, daß sie sich in gleicher Weise auf alle Seinsschichten erstrecken. Von dieser Art ist die große Gruppe der Fundamentalkategorien und die bereits obenerwähnte der Modalkategorien. Zu den ersteren zählen Einheit und Mannigfaltigkeit, Einstimmigkeit und Widerstreit, Gegensatz und Dimension, Kontinuität und Diskretion, Determination und Dependenz, Element und Gefüge und viele andere. Sie wandeln sich in ihrem Gang aufwärts durch die Seinsschichten mannigfach ab, bleiben aber dabei bis zum Geiste hinauf im Grunde dieselben. Auch in ihnen gibt es eine gewisse Differenz der Seins- und Erkenntniskategorien, aber weit geht die Abweichung bei ihnen nicht 1 • Und schließlich muß man hierher auch die Quantitätskategorien zählen, von denen schon gezeigt wurde, daß sie die des Mathematischen sind und als solche noch keinem Bereich des Realen angehören, aber dafür die Gruppe der größten kategorialen Identität bilden. Das ergibt nun eine Verlängerung des Kategorienreiches "nach unten zu". Das räumliche Bild will dabei nur dieses besagen, daß die Fortsetzung in Richtung auf das noch Allgemeinere, also auf das Elementare und Primäre geht. Denkt man sich nun im Schema das ganze Kategorienreich symbolisch so angeordnet, daß auf jeder Seinshöhe die Seinskategorien (S. K.) links, die Erkenntniskategorien (E. K.) rechts zu stehen kommen, die Divergenz zwischen ihnen aber als horizontaler Abstand erscheint, während die Vertikale den Stufengang von den einfachsten bis zu den höchsten Kategorien darstellt, so fällt sofort in die Augen, daß Auch über sie ist im "Aufbau der realen Welt", K&p. 23-34, d&s Nötigste gesagt. 1
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die Kurve der Erkenntniskategorien eine S-förmige Gestalt annimmt. Ihre größte Nähe zu den Seinskategorien liegt unterhalb der Realitätsgrenze im Gebiet des Mathematischen, hier ist das ideale Verhältnis einer fast totalen Identität erreicht. Nach unten wie nach oben zu nimmt sie ab. Die größte Entfernung von den Seinskategorien haben wir im Gebiet der biologischen und psychologischen Erkenntnis, auffallige Nahstellung dagegen in der physikalischen und geisteswissenschaftlichen. Unter dem Strich macht sich überdies die beE.K. trächtliche Zunahme der Entfer- S. K. nung im Bereich der Modalität bemerkbar. Geist G.-Wisa. Für das Seiende ist die Abstufung der kategorialen Identität .., gleichgültig - nämlich soweit es Seele Payohol. ' , selbst gleichgültig gegen das Er_i_ kanntwerden dasteht -, für die I BioL Erkenntnis dagegen und für den 0 rg. , 'I Menschen in seiner Stellung zur -----+----,-:,~;...__ umgebenden Welt ist sie ausschlag- Anorg. ,, Physik gebend. Denn kategoriale Identität ", bedeutet Erkenntnis a priori, diese I aber bedeutet Orientierung, Aus- Quant. I Mathem. wertung und Beherrschung. Von hier aus läßt sich auch die Fund. Abstufung der Identität selbst, Fund. deren Bild die Kurve ist, aus den Phänomenen e~gänzend belegen. Mod. Ontol. Ihr Abfall beim Ubergang vom Anorganischen zum Organischen ist in der hohen Kompliziertheit der Lebensprozesse, die sich in manchen Stücken zur Undurchdringlichkeit steigert, deutlich erkennbar. Das Denken des Alltags steht dem Begreifen ihres Wesens ganz fern, aber auch die Begriffe, in denen die Biologie sie zu fassen sucht, sind keine eigentlichen Kategorienbegriffe - gemessen an denen der exakten Wissenschaft. Sie verharren mehr in der bloßen Beschreibung und Zusammenfassung des Beobachteten und dringen nur langsam und mit immer neuen Schwierigkeiten ringend in das dahinterstehende Konstitutive. Die Induktionen bleiben weitgehend unvollständig, weil das eigentlich Prinzipielle sich so leicht nicht aufdecken läßt. Mit Recht sprechen wir bis heute von dieser Wissenschaft als "beschreibender" Naturwissenschaft, wenn es auch wahr ist, daß die Fortschritte des Eindringens in unseren Tagen auf einzelnen Teilgebieten recht bedeutende sind. Die Geheimnisse des morphogenetischen Prozesses sind noch nicht enträtselt, obgleich die Zuordnung einzelner "Gene" in den Chromosomen der Keimzellen zu einzelnen Formteilen des somatischen Baues feststeht; das Wie der Funktion in ihnen verharrt noch im Dunkel.
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Das Verhältnis, das Kant seinerzeit als das der "reflektierenden Urteilskraft" entwickelt hat, ist auch heute noch in Kraft. Die "besonderen Gesetze", die das konstitutive Element bilden und auf die hier die Forschung abzielt, entziehen sich immer noch der Faßbarkeit, und es bedarf nach wie vor des "regulativen Prinzips", um ihr die Richtung zu weisen. Das eindringende Begreifen behilft sich mit dem "Als ob", wohl wissend, daß der erscheinenden Zweckmäßigkeit der Formen und Funktionen kein bestimmendes Zweckprinzip zugrunde liegt. Das ist in der Begriffssprache der Kantischen Philosophie nichts anderes als das Versagen der kategorialen Identität: es fehlen eben unserem Verstande die maßgebenden Kategorien des organischen Gegenstandes, oder doch wenigstens viele von ihnen, wahrscheinlich die wichtigsten. Und das bedeutet nicht bloß, daß wir sie nicht erkennen, sondern daß sie in unserem Gegenstandsbewußtsein auch nicht unerkannt enthalten sind. Denn das Funktionieren von Erkenntniskategorien in der Gegenstandserfassung hängt nicht an ihrem Erkanntsein, wohl aber kündigt es sich im Gelingen der Gegenstandserfassung an. Diese Sachlage reimt sich sehr genau mit der anthropologischen Perspektive, welche das "dem-Bewußtsein-Entzogensein" des organischen Geschehens als zweckmäßig für den Organismus verstehen lehrte. Auch der Mensch ist organisches Wesen und als solches mit Instinkten und unbewußten Reaktionen, soweit er sie hat, weit besser an die Lebensbedingungen seiner Umgebung angepaßt, als er es mit durchgehendem Bewußtsein des eigenen organischen Geschehens wäre. Er bedarf also nicht nur keiner weiterreichenden kategorialen Identität auf diesem Gegenstandsgebiet, sondern würde sie auch gar nicht vertragen. Er hat auch hier nur so viel Erkenntnis a priori, wie für ihn zweckmäßig ist, d. h. nur ein Minimum, und ist damit vor der inneren Gefahr seiner Freiheit am besten geschützt. Biologisch kann man sich das weiter so zusammenreimen, daß ein Wesen mit größerer kategorialer Identität in der Konkurrenz der Lebewesen unterlegen gewesen wäre, sich nicht mit gleichem Erfolg hätte durchsetzen und zu jener Beherrschung der umgebenden Welt hätte aufschwingen können, die für den Menschen charakteristisch ist. Man wird eine solche selektivistische Deutung gewiß nicht auf die Spitze treiben dürfen. Wohl aber zeigt sie, daß es ontologisch einen gewichtigen Grund für das Zurücktreten auch des apriorischen Elements in der Erkenntnis des Lebendigen gibt und daß wir diesen ohne große Schwierigkeit in der Schichtung des Menschenwesens erkennen können, gemäß welcher der Geist einschließlich der Erkenntnis vom Organismus getragen ist. Wenn der Geist auch auf seiner Höhe sich nach und nach die Kategorien der ihn tragenden Grundlage erarbeitet und sie nun zu deren Schutz gebrauchen lernt (in der Medizin etwa), in seinen Anfängen müssen sie ihm doch fehlen, weil sie in seiner Hand die Grundlage gefährden. Die Anfänge aber sind im Werdegang jedes Individuums neu gegeben.
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Etwas Ähnliches läßt sich aber auch am Bewußtsein als Gegenstand aufzeigen. Es ist allbekannt, daß die Psychologie eine späte Wissenschaft ist, daß sie heute noch in den Kinderschuhen steckt und gerade erst dabei ist, ihre Grundbegriffe von unten auf zu revidieren. Sie steht heute in den Anfängen dieses Umbildungsprozesses; ob sein Resultat ein affirmatives sein wird, ist nicht vorauszusehen. Aber auch wenn er auf echtes kategoriales Gut hinausführen sollte, wird das doch nur ein Anfang sein können. Denn hier waltet ein Verhältnis zwischen erkennendem und erkanntem Bewußtsein, das man als dialektisch bezeichnen kann. Das "Sich selbst im Wege stehen", von dem oben die Rede war, ist nur die Hälfte davon, diejenige Seite an ihm, welche die Gegebenheit betrifft. Alle Gegebenheit aber betrifft nur die Oberfläche dessen, wovon sie zeugt. Das Begreifen dagegen dringt ein, seine Tendenz ist, das Innere zu erschließen. Und gerade damit hat es am Bewußtsein als Gegenstand seine Schwierigkeit. Das Bewußtsein, ja das Subjekt selbst, kann wohl zum Objekt gemacht werden, aber nicht direkt, sondern nur in der Rückkehr von einem andern her, dem seine unmittelbare Intention zuvor gegolten haben muß. Das Bewußtsein kann nur aus der Distanz zu sich selbst her zum Selbstbewußtsein werden. Oder auch so: das Selbstbewußtsein vollzieht sich nur in der Entfernung zu sich selbst. Erkenntnis besteht nur in der GegenstellWlg zum Objekt; ist ihr eigenes Subjekt das Objekt, so wird die Gegenstellung aufgehoben: dann .,ist" sie zwar, was sie erkennen wollte, aber sie erkennt es nicht. Tritt sie aber in Distanz zu ihm, so erkennt sie zwar, aber nicht mehr sich selbst. Diese Dialektik ist deutlich aufweisbar im Wissen um die Bewußtseinsakte, und zwar nicht bloß um die transzendenten. Und sie betrifft das .,begreifende" Element dieses Wissens, keineswegs bloß das der Gegebenheit. Sie bezieht sich also auf das dahinterstehende Kategorienverhältnis. Die Vorstellung z. B. ist auf einen gegenständlichen Inhalt gerichtet, das Begreifen der Vorstellung aber lenkt von diesem ab und zurück auf sie selbst. So kann der Akt vom Gegenstande aus als dessen subjektives Korrelat begriffen werden, nicht aber als das, was er im Vollzuge selbst ist. Denn der Vollzug ist im Gegenstande (auch dem inneren, intentionalen) nicht greifbar. Daß Akt und gegenständlicher Inhalt eine strenge Korrelation bilden, ist ein apriorischer Satz (als solcher z. B. von Husserl geltend gemacht); man kann ihn auch weiter ausspinnen als feste Bezogenheit von v6T)