Die Transzendentalienlehre der alten Ontologie: Teil 1 Die Transzendentalienlehre im Corpus Aristotelicum 9783110831474, 9783110040210


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German Pages 423 [424] Year 1972

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
1. Vorbemerkungen über die Geschichte der alten Ontologie
2. Einführung in die Problematik der Transzendentalienlehre
I. Teil: Die Transzendentalienlehre im Corpus Aristotelicum
A. Findet sich im CA die Lehre von der transzendentalen Wahrheit?
I. Der parallele Gebrauch von „ἀλήθεια“ und „τὰ ὄντα“
II. Der Dativausdruck „ἀληθείᾳ“ und das Adverb „ἀληθῶς“
III. Die Schlußpartie von Met. II 1
IV. Die aristotelische Lehre vom irrtumsfreien, immer wahren Erfassen
B. Enthält das CA den Begriff des transzendentalen Gutseins?
I. Das Gute nach den drei Ethiken des CA
II. Das Gute nach Met. XIV und verwandten Stellen
III. Abschließende Bemerkungen
C. Findet sich im CA eine Theorie vom transzendentalen Seienden und vom transzendentalen Einen?
I. Zum Verhältnis von Ontologie und Theologie im CA
II. Die Lehre vom Seienden als Seiendem in Met. IV 1–2 und ein Vergleich mit Met. XI 3
III. Die Lehre vom unbedingten Prinzip des Seienden, vom „Widerspruchsprinzip“, in Met. IV 3–8, XI 4–7 und in anderen Texten des CA
IV. Die Lehre vom Seienden und vom Einen im übrigen CA
Schluß
1. Zusammenfassung
2. Wichtige Themen für die Fortsetzung der Untersuchung
Anhang I: Über die Sonderstellung von Met. IV
Anhang II: Zur akademischen Lehre von den sog. Idealzahlen
Literaturverzeichnis
Namenregister
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Die Transzendentalienlehre der alten Ontologie: Teil  1 Die Transzendentalienlehre im Corpus Aristotelicum
 9783110831474, 9783110040210

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Karl Bärthlein Die Transzendentalienlehre der alten Ontologie

W G DE

KARL B Ä R T H L E I N

Die Transzendentalienlehre der alten Ontologie I. Teil: Die Transzendentalienlehre ίιη Corpus Aristotelicum

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1972

ISBN 3 11 004021 2 © 1972 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomedianischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter Pieper, Würzburg.

VORWORT

Die vorliegende Arbeit hat 1969/70 der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn als Habilitationsschrift vorgelegen. Sie soll in ein paar Jahren eine Fortsetzung erhalten und schließlich bis zum Ausgang der deutschen Schulphilosophie am Ende des 18. Jahrhunderts heraufgeführt werden. Erst der das geplante Werk abschließende Teil soll mit einem Sachregister versehen werden. Ein Namenregister wird diesem vorliegenden Teil schon mitgegeben. — Was das Zitieren der aristotelischen Texte betrifft, so habe ich midi entschlossen, um Platz zu sparen, aus der „Metaphysik" keine griechischen Zitate zu bringen und stattdessen den Leser zu bitten, ein Exemplar einer griechischen Ausgabe bei der Lektüre bereitzuhalten. Aus den übrigen Schriften des Corpus Aristotelicum gebe ich den griechischen Text der wichtigsten einschlägigen Stellen wieder. Zu danken habe ich vor allem meinem Lehrer, Herrn Professor Dr. Hans Wagner (Bonn). Ihm verdanke ich die Einführung in die Philosophie und auch viel Anleitung zur philosophiehistorischen Arbeit, besonders zur Aristoteles-Exegese. Er hat auch zum Gelingen dieses Werkes beigetragen: durch so manchen anregenden oder klärenden Disput und durch so manches aufmunternde Wort. Dank schulde ich auch dem Verlag Walter De Gruyter für sein großzügiges Entgegenkommen bei der Drucklegung, ferner Herrn Hermann Leipelt für seine Hilfe beim Korrekturenlesen und für die Anfertigung des Namenregisters sowie Herrn Oberbibliotheksrat Dr. Rudolf Hoffmann (Universitätsbibliothek Bonn) für seine immer freundliche Mithilfe bei der Literaturbeschaffung. Bonn, im Oktober 1971

Karl Bärthlein

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

V

Einleitung

1

1. Vorbemerkungen über die Geschichte der alten Ontologie 2. Einführung in die Problematik der Transzendentalienlehre

ι 7

I. Teil: Die Transzendentalienlehre im Corpus Aristotelicum A. Findet sich im C A die Lehre von der transzendentalen Wahrheit? .

.

I. Der parallele Gebrauch von „άλήθεια" und „τά 8ντα"

22 23

II. Der Dativausdruck „άληθείςι" und das Adverb „άληθώς"

2$

III. Die Schlußpartie von Met. II 1

2y

IV. Die aristotelische Lehre vom irrtumsfreien, immer wahren Erfassen . . a) Von der Wahrheit bei der Erfassung der spezifischen Sinnesqualitäten . b) Die Wahrheit des νοϋς Met. IX ίο: 45 — De Anima III 6: 55 — De Anima I I I 4 und 8: 59 — De Anima III y. 62 — Mögliche Einwände: 72 V. Abschließende Bemerkungen

33 34 44

B. Enthält das C A den Begriff des transzendentalen Gutseins?

.

.

.

77

I. Das Gute nadi den drei Ethiken des CA MM I 1: 82 — EE I 8: 86 — EN I 6: 89

82

II. Das Gute nach Met. X I V und verwandten Stellen Met. X I V 4: 96 — Phys. I 9: 100 — Der aristotelische Begriff des Guten: 102 III. Abschließende Bemerkungen 1. Mangelnde Allgemeinheit des aristotelischen Begriffs des Guten . 2. Mögliches oder notwendiges Bezogensein auf ein Stellungnehmen? . 3. Einfachheit und Unaufhebbarkeit dieses Bezogenseins C. Findet sich im C A eine Theorie vom transzendentalen Seienden vom transzendentalen Einen?

74

. .

96

loy ioj 106 107

und 109

VIII

Inhal tsverzeidinis

I. Zum Verhältnis von Ontotogie und Theologie im CA Met. V I i : 114 — Met. X I 7: 133 — Andere Texte des CA (Met. I 2 und X I I 7): 147 II. Die Lehre vom Seienden als Seiendem in Met. IV 1—2 und ein Vergleich mit Met. X I 3 Met. IV 1: 154 — Met. IV 2: 157 — Rückblick auf Met. IV 1—2: 198 — Met. X I 3: 204

in

153

III. Die Lehre vom unbedingten Prinzip des Seienden, vom „Widerspruchsprinzip", in Met. IV 3—8, X I 4—7 und in anderen Texten des CA . .210 Met. IV 3: 210 — Met. IV 4: 221 — Met. IV 7: 235 — Met. X I 4—6: 238 — Über die Bedeutung von „άντίφασις" in anderen Schriften des CA: 247 — Exkurs über die nacharistotelisdie Geschichte der Lehre vom sog. Widerspruchsprinzip: 258 IV. Die Lehre vom Seienden und vom Einen im übrigen CA Topik: 272 — Phys. I: 274 — Met. I: 279 — Met. III: 288 — Met. X I 1—2: 303 — Met. V: 305 — Met. VII: 311 — Met. V I I I : 321 — Met. X : 323 — Met. XII: 355 — Met. XIV 1—2: 362

Schluß

271

371

ι. Zusammenfassung

371

2. Widitige Themen für die Fortsetzung der Untersuchung

380

Anhang I: Über die Sonderstellung von Met. IV

389

Anhang II: Zur akademischen Lehre von den sog. Idealzahlen

399

Literaturverzeichnis

407

Namenregister

4x3

EINLEITUNG

ι. V o r b e m e r k u n g e n

über die Geschichte Ontologie

der

alten

Die Lehre von den sogenannten Transzendentalien (z.B. ens, unura, verum, bonum) ist ein Stück der alten Ontologie. Diese handelt außerdem von den sogenannten Seinsprinzipien (ζ. B. Identitätsprinzip, Widerspruchsprinzip) und von den vier Gründen (Materie, Form, Ziel, Bewegungsursprung) sowie von den Seinsmodi (ζ. B. Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit) und von den Kategorien (ζ. B. Substanz, Quantität, Qualität, Relation) 1 . Warum sprechen wir von dieser Ontologie als von der ,alten4? Ist sie heute tot? Wann war sie denn lebendig? Natürlich denken wir hierbei an jene Ontologie, die sich im lateinisch schreibenden Westeuropa des Mittelalters entwickelt hat, und zwar vor allem aus dem Kommentieren der in der Sammlung des CA ( = Corpus Aristotelicum) überlieferten „Metaphysik". Mitbestimmt war ihre Entwicklung durch einige griechische und arabische Kommentare zur aristotelischen Metaphysik und zu anderen aristotelischen Schriften, sowie durch erste systematische Metaphysikdarstellungen der Araber (ζ. B. Avicennas). Einzelne Stücke finden sich auch in den theologischen Summen und in den Kommentaren zu den „Sentenzen" des Petrus Lombardus. Spätestens um das Jahr 1500 entstehen die ersten Opuscula, 1

Diese Aufzählung ist freilich nur als erste Orientierung gedacht. Die mannigfachen Gliederungen, die die alte Ontologie im 16., 17. und 18. Jahrhundert erfährt, sollen damit nicht für bedeutungslos und indiskutabel erklärt werden, sondern für ein späteres Stadium unserer Untersuchungen aufgespart bleiben. Vielleicht aber darf auch diese rohe Aufzählung schon zum Anlaß genommen werden, auf die Problematik von zwei wichtigen Verhältnissen hinzuweisen, die in der Geschichte und in der Erforschung der Geschichte der alten Ontologie zu wenig beachtet und diskutiert worden sind: a) das Verhältnis der sogenannten Seinsprinzipien zu den Transzendentalien — und b) das Verhältnis der vier Gründe zu den Seinsprinzipien. Auf das zuerst genannte Verhältnis wird immerhin von Suarez und von einigen Erforschern seiner Position hingewiesen, auf das zuletzt genannte von Max Wundt (Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1939, S. 178 und 196—204).

2

Einleitung

die dem Transzendentalienproblem, dem Kernstück der Ontologie, eigens gewidmet sind2. Neuen Auftrieb bekommt das Studium der aristotelischen Metaphysik in der Renaissance. Diese wirkte noch nach in dem großen Kommentarwerk des spanischen Jesuiten Petrus Fonseca (Rom 1577). Aus jenen Opuscula und verschiedenen Kommentaren zur aristotelischen Metaphysik (vor allem aus dem Kommentar des Petrus Fonseca, aber auch aus älteren thomistischen und scotistischen Kommentaren), die schon recht umfangreiche systematische Abhandlungen zur Ontologie enthalten, zieht ein Landsmann und Ordensgenosse Fonsecas, Franciscus Suarez, die Summe in seinen „Disputationes Metaphysicae" (Salamanca 1597). Er behandelt darin nicht nur die oben genannten ontologischen Themen, sondern auch die Lehre vom Metaphysischen im eigentlichen Sinne: von Gott, den Engeln, usw. Auf den Hochschulen der katholischen Orden, besonders des Jesuitenordens, wird die zwischen den Jahren 1500 und 1600 entwickelte thomistische, scotistische und suarezianische Metaphysik weiter gelehrt, bis sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die sogenannte Neuscholastik, die eine intensive Wiederaufnahme des Studiums der Hochschulscholastik (besonders der Werke des Thomas von Aquin) bedeutet, neue Impulse bekommt. Das Studium jener Ontologie blieb keineswegs auf die katholischen Schulen und Universtäten beschränkt. Besonders an den lutherischen (angeregt durch Philipp Melanchton) und an den reformierten Universitäten Deutschlands wandte man sich — zunächst noch unabhängig von der spanischen Scholastik, wohl aber inspiriert durch die Aristoteles-Studien italienischer Humanisten und spätscholastischer Metaphysikkommentatoren — gegen Ende des 16. Jahrhunderts mit großem Eifer dem Studium der aristotelischen Metaphysik zu. Schon bald verband sich damit eine ausgiebige Auseinandersetzung mit dem Metaphysikkommentar des Petrus Fonseca und mit den „Disputationes Metaphysicae" des Franciscus Suarez. Ihren Niederschlag fanden diese Metaphysikstudien nun nur noch selten in Kommentaren zur aristotelischen Metaphysik, statt dessen erschien eine beträchtliche Anzahl von Lehrbüchern der Ontologie, die die Zahl der aus dem Hoch- und Spätmittelalter erhaltenen Metaphysikkommentare weit hinter sich läßt \ Die Blütezeit dieser deutschen Schulmetaphysik dauerte ungefähr bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Nach einigen Jahrzehnten wurde die deutsche Schulmetaphysik durch Christian Wolff (1679—1754) zu neuem Leben erweckt (ζ. T. beeinflußt durch die cartesianische Philosophie). Sie wurde in den Lehrbüchern der Wolffsehen Schule auch noch Kant zugänglich. 2

3

Vgl. 2. B. den Traktat „De Transcendentibus" des Chrysostomus Javellus (v. Casale) (ca. 1470—1538). Einen sehr guten Überblick gibt das Buch von Max Wundt, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1939.

Über die alte Ontologie

3

Kant legte seinen regelmäßigen Metaphysikvorlesungen Baumgartens „Metaphysica" zugrunde. Von diesen Metaphysikvorlesungen sind uns einige Nachschriften erhalten. Aus diesen Vorlesungsnachschriften4, sowie aus dem handschriftlichen Nachlaß zur Metaphysik 5 , vor allem aber aus dem berühmten § 1 2 der zweiten Auflage der „Kr. d. r. V." wissen wir, daß Kant auch zu einigen Lehrsätzen der alten Transzendentalienlehre Stellung genommen hat. Er 'bezeichnet diese Lehrsätze als ein Hauptstück der „Transzendentalphilosophie der Alten". Das Verständnis dieser Lehrsätze bereitet ihm Schwierigkeiten; doch versucht er, diesen Gedanken, „der sich so lange Zeit erhalten hat, so leer er auch zu sein scheint", auf seinen Ursprung hin zu untersuchen und zu prüfen, ob er nicht bloß „falsch gedolmetscht worden" und sich ihm nicht doch ein brauchbarer Sinn abgewinnen lasse6. — Man sollte nun nicht annehmen, Kant habe diese Verständnisschwierigkeiten wohl nur deswegen gehabt, weil er nicht mehr in der bis auf Thomas von Aquin zurückreichenden katholischen Schultradition gestanden habe; denn auch so mancher Metaphysikprofessor auf den katholischen Universitäten des 18. Jahrhunderts klagte über Verständnisschwierigkeiten im Bezug auf diese Lehrsätze7. Von Kants Auslegung jener Lehrsätze ist an späterer Stelle zu handeln. Hier interessiert vielmehr dies: Verschwindet nicht mit der sogenannten Kopernikanischen Wende in Kants „Kr. d. r. V." die alte Ontologie aus dem Lehrstoff der Universitätsphilosophie (jetzt einmal abgesehen von ihrer Weitergabe an den katholischen Hochschulen)? Hört mit Kants „Kr. d. r. V." nicht überhaupt alle Ontologie als philosophische Disziplin auf? Ist durch 4

5

6

7

Kant, Vorlesungen über Metaphysik und Rationaltheologie, Akademie-Ausgabe Bd. X X V I I I , 1 u. 2, Berlin 1969. Kant, Handschriftlicher Nachlaß, Metaphysik, 1. u. 2. Teil, Akademie-Ausgabe Bd. X V I I u. X V I I I , Berlin 1926 und 1928, s. bes. Bd. X V I I S. 287 fi. und Bd. X V I I I S. 234; 339 fi. und S. 699 f. Die Auslegung, die Kant diesen Lehrsätzen aus der Transzendentalienlehre gibt, wird bereits von W . T. Krug (System der theoretischen Philosophie, 2. Teil Erkenntnislehre, 3. vermehrte u. verbesserte Auflage, Königsbrg 1830, S. 89—90) kritisiert und durch eine andere — allerdings auch nicht befriedigende — ersetzt: „Was dagegen weiterhin (sc. in der ,Kr. d. r. V . ' ) von dem scholastischen Grundsatze: Quodlibet ens est unum, verum, bonum (s. perfectum) — gesagt wird, daß ihm die Kategorien der Einheit, Vielheit und Allheit zum Grunde liegen, dürfte wohl der Sache nicht angemessen sein. Denn jener Grundsatz hat eigentlich den Sinn: Jedes Ding ist nur das, was es ist, (unum) und zwar in der Tat (verum) und vollständig (bonum s. perfectum). Er sagt also nichts über die Quantität der Erkenntnisgegenstände aus, sondern ist bloß eine Exposition des logischen Prinzips der Identität . . Vgl. ζ. B. Columbanus Roesser (OSB, aus Banz b. Bamberg, Professor in Würzburg), Institutiones metaphysicae, Würzburg 1776, § 1 1 , S. 14/15: „Haec quidem omnino plana esse, facile largior; sed quid ad sapientiam conferant, non aequo intelligo. Haec sane notiones transcendentes id incommodi habent, ut vim ac potestatem verborum perturbent, et logomachiis locum faciant."

4

Einleitung

Kants Transzendentalphilosophie die Ontologie nicht in eine Analytik des reinen Verstandes umgeformt worden? Die Neukantianer neigten im allgemeinen zur Bejahung dieser Fragen 8 . Im Gegensatz dazu gibt es seit einigen Jahrzehnten Versuche, Kants Philosophie ontologisch zu interpretieren. Diese Versuche haben die neue Ontologie zur Voraussetzung. Nicolai Hartmann, wohl der berühmteste Vertreter einer neuen Ontologie, versuchte unter Anknüpfung an Christian Wolffs Ontologie „die alte Ontologie in ihrem Problembestande wiederzugewinnen"9. Er gesteht jedoch, daß ihn die kantische Neugestaltung der Erkenntnistheorie für alle Zeiten von der alten Ontologie trenne (ibid.). Vom Kernstück der alten Ontologie, von der Transzendentalienlehre, finden sich bei Hartmann nur Andeutungen; er glaubt, dieses alte Lehrstück ablehnen zu müssen10. Dieser Wegfall der alten Transzendentalienlehre ist den Vertretern der neuen Ontologie kaum aufgefallen, aber auch von den neuscholastischen Kritikern nicht genügend beachtet und in seinen Folgen nicht genügend bedacht worden. Es fragt sich nämlich, ob eine solche Ontologie mit der alten, die das ens transcendentale zum Gegenstand hatte, nicht überhaupt bloß noch den Namen gemeinsam hat. Die alte Transzendentalienlehre mag im 18. Jahrhundert dunkel und entstellt gewesen sein. Vielleicht waren nur diese Dunkelheiten der Grund, weshalb die alte Ontologie durch Kant eine Umwandlung, nicht bloß eine Weiterentwicklung erfahren hat. Die der alten Transzendentalienlehre entsprechenden Lehrstücke der Ontologie Wolffs sind noch zu wenig untersucht, als daß sich sagen ließe, in ihnen seien wichtige Punkte der alten Lehre übersehen; ebensowenig läßt sich bereits sagen, wer das Erbe der alten Transzendentalphilosophie und Ontologie besser verwaltet habe: die kantische bzw. neukantianische Transzendentalphilosophie oder aber die neuere Ontologie, die — wenigstens soweit damit die Ontologie Nicolai Hartmanns gemeint ist — unter Rüdegriff auf die Ontologie Wolffs, doch ohne transzendentale Grundlegung konzipiert ist. Es kann darauf hingewiesen werden, daß das Interesse an der alten Transzendentalienlehre bei den Neukantianern mindestens nicht ganz erloschen war: Emil Lask 11 bringt sie in Verbindung mit der in der sogenannten Südwestdeutschen Schule erarbeiteten Unterscheidung von reflexi8

9 10 11

Eine Ausnahme macht hierbei Rudolf Zocher, und zwar besonders mit den zwei Büchern: „Die philosophische Grundlehre. Eine Studie zur Kritik der Ontologie" (Tübingen 1939) und „Kants Grundlehre. Ihr Sinn, ihre Problematik, ihre Aktualität." (Erlangen 1959). Vor allem im zuletzt genannten Buch versucht Zocher zu zeigen, daß Kant an einer Ontologie festgehalten habe, diese aber in der ihr vorgeordneten Transzendentalphilosophie fundiert habe. Vgl. N. Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, 3. Aufl. Meisenheim 1948, S. XII. S. „Zur Grundlegung . . . " S. 62/63. E. Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, (1910), abgedruckt in: Ges. Sehr., hrsg. von Eugen Herrigel, 2. Bd., Tübingen 1923, bes. S. 223—243.

Über die alte Ontologie

5

ven und konstitutiven Kategorien, und Hinrich Knittermeyer befaßt sich — angeregt von Hermann Cohen und Paul Natorp — in einer terminologiegeschichtlichen Untersuchung12 mit der Transzendentalienlehre der großen Meister des Mittelalters und der Vertreter der Renaissancephilosophie und der neuzeitlichen Schulmetaphysik. Zu einem eingehenden Studium des Verhältnisses zwischen alter und neuer, an Kant orientierter Transzendentalphilosophie kam es dabei allerdings nicht. Das Interesse an der alten Transzendentalphilosophie wachgehalten zu haben ist in erster Linie das Verdienst der Neuscholastik. Die Neuscholastiker leisteten dies bei der systematischen Darstellung ihrer Ontologie 13 , aber auch durch historische Untersuchungen. Zu letzteren gehören der Überblick über die Geschichte der Transzendentalienlehre von Günther Schulemann14, sowie eine Reihe von Arbeiten über die Transzendentalienlehre einzelner mittelalterlicher Denker: So über die Lehre Philipps des Kanzlers 1S , über die des Alexander von Haies 16 , über die Alberts des Großen 17 , über die des Thomas von Aquin 18 , über die des Duns Scotus 19, sowie über die des Petrus Aureoli 20 . Angesichts dieser und zahlreicher anderer Publikationen über die Transzendentalienlehre kann ein neuer Versuch, die Geschichte dieser Lehre zu schreiben, allzu leicht als nicht lohnenswert erscheinen. Wenn wir nun trotzdem damit anfangen, diese Geschichte neu darzustellen, tun wir dies natürlich in der Meinung, daß sich dieses Unternehmen sehr wohl lohnen und daß es zu neuen Ergebnissen führen könnte. Für diese Meinung lassen sich zwei Gründe anführen: Knittermeyer, Der Terminus .transzendental' in seiner historischen Entwicklung bis Kant. Phil. Diss. Marburg 1920. " Es sei verwiesen auf die Ontologie- bzw. Metaphysikbücher von Georg Hagemann, Konstantin Gutberiet, Albert Stöckl, Carl Frick, Alfons Lehmen, Josef Donat, Josef Gredt, Ludwig Baur, Daniel Feuling, Louis de Raeymaeker, Fernand Van Steenberghen, Caspar Nink, J. B. Lötz, u. a. M G . Schulemann, Die Lehre von den Transzendentalien in der scholastischen Philosophie, Leipzig 1929 (Forschungen zur Geschichte der Philosophie und Pädagogik, Bd. I V , H e f t 2). 15 H . Pouillon, Le premier Traite des Proprietes transcendentales. La ,Summa de bono' du Chancelier Philippe, in: Revue neosc. de Phil., T. 42 (1939) p. 40—77. 16 J. Fuchs, Die Proprietäten des Seins bei Alexander von Haies. Beitrag zur Geschichte der scholastischen Seinslehre. München 1930. 17 H . Kühle, Die Lehre Alberts des Großen von den Transzendentalien, in: Philosophia perennis, Festgabe für J. Geyser, Regensburg 1930, Τ. I, S. 1 2 9 — 1 5 7 . 18 U. a.: L. Oeing-Hanhoff, Ens et unum convertuntur. Stellung und Gehalt des Grundsatzes in der Philosophie des hl. Thomas von Aquin. Münster 1953. 19 Α . B. Wolter, The Transcendentals and their Function in the Metaphysics of Duns Scotus, New York 1940. 20 R. Lay, Zur Lehre von den Transzendentalien bei Petrus Aureoli. Phil. Diss. Bonn 12

1964.

6

Einleitung

ι . Die größeren Untersuchungen zur Geschichte der Transzendentalienlehre stammen von Vertretern der Neuscholastik, stehen also in ihren Gesichtspunkten, von denen sie bei der Darstellung und Bewertung ihres Gegenstandes ausgehen, der einen oder anderen Richtung der mittelalterlichen Metaphysik (ζ. B. dem Thomismus oder dem Scotismus) nahe. Es wäre immerhin möglich, daß eine solche Bindung nicht die Distanz aufkommen läßt, die zu einer Würdigung der verschiedenen Positionen innerhalb der alten, vorkantischen Transzendentalphilosophie (ζ. B. der verschiedenen Positionen innerhalb der deutschen Schulmetaphysik) erforderlich ist. Diese Distanz und neue Bewertungsgesichtspunkte dürften dort eher zu erwarten sein, wo neben der Kenntnis der mittelalterlichen, vielfach mit Metaphysik gleichzusetzenden Transzendentalienlehre auch eine Kenntnis der einen oder anderen Form der neuen, zunächst noch metaphysikfreien Transzendentalphilosophie vorhanden ist. 2. Es herrscht bei den Kennern der mittelalterlichen Transzendentalienlehre im allgemeinen Klarheit darüber, daß die Anfänge dieser Lehre in der Antike zu suchen sind: ζ. T . bei Boethius und Augustinus, ζ. T . auch bei Plotin, ζ. T . aber auch schon bei Aristoteles oder gar schon bei Piaton; doch die Einzelheiten dieser Anfänge liegen noch im Dunkel. Einige (ζ. B. oben genannte) Arbeiten zur mittelalterlichen Transzendentalienlehre enthalten zwar wertvolle Hinweise auf die Entstehung dieser Lehre in der Antike, aber meistens beschränken sie sich dabei auf eine oder zwei Quellen (also ζ. B. auf den Augustinismus oder den griechischen Neuplatonismus oder den Aristotelismus). Selten werden (auch nur kurze) Berichte über die Anfänge in der aristotelischen Ontologie einerseits und über die in der neuplatonischen bzw. augustinischen andererseits nebeneinander gestellt. Noch weniger wird versucht, diese beiden wichtigsten Anfangsstücke (nämlich das aristotelische und das augustinische) auf ihre Vereinbarkeit hin zu prüfen. Völlig fehlt noch eine Gesamtdarstellung des von Aristoteles in der Transzendentalienlehre Geleisteten — oder genauer: eine Untersuchung all der Stellen des C A , die sich auf die Transzendentalienlehre beziehen lassen. Darüberhinaus müßten die an diesen Stellen des C A vertretenen Positionen aber auch noch auf ihre Vereinbarkeit miteinander hin überprüft werden. Es wäre ja immerhin möglich, daß die eine oder andere Dunkelheit, die der mittelalterlichen Transzendentalienlehre trotz der zahlreichen Untersuchungen immer noch anhaftet, in Diskrepanzen der aristotelischen Lehrpunkte ihren Ursprung hat. Das bisherige Fehlen einer eingehenden Untersuchung aller einschlägigen Stellen des C A ist das Hauptmotiv für diesen neuen Anlauf, die Geschichte der alten Transzendentalienlehre zu erforschen. Vorgelegt wird hiermit zunächst nur die Darstellung und Kritik der Positionen des C A .

Problematik der Transzendentalienlehre

2. E i n f ü h r u n g i n d i e P r o b l e m a t i k Transzendentalienlehre

7 der

Bei der Darstellung der Geschichte der alten Transzendentalienlehre halten wir uns — wenigstens vorläufig — nur an die sogenannten einfachen Transzendentalien: ens, unum, verum, bonum 21 . Als einfache pflegen diese bezeichnet zu werden, weil jedes allein schon mit dem ebenfalls transzendentalen ens konvertibel ist (ζ. B. ist der Satz „Omne ens est unum" umkehrbar in: „Omne unum est ens"), während, im Gegensatz zu diesen die sogenannten disjunktiven Transzendentalien nur als Gegensatzp dabei steht der Ausdruck „των εναντίων" hier parallel zu „της αντιφάσεως" dort, so daß mit „άντίφασις" nicht nur das negativ charakterisierte Glied des Gegensatzes gemeint sein dürfte 125 . Noch eher dürfte der Vergleich des obigen Grundsatzes mit I X 5, 1048 a 8/9 überzeugen: „. . . έκείναι (sc. at δυνάμεις . . . μετά λόγου) δέ των εναντίων, ώστε α μ α ποιήσει τ ά ε ν α ν τ ί α * . . . " β) In I X 8, 1050 b 24—34> wird die immer wirkliche Kreisbewegung der Himmelskörper unterschieden von der „Bewegung" des Vergänglichen, die auf einer δύναμις της αντιφάσεως (b 25) beruhe, ,,άντίφασις" kann hierbei nur die beiden Glieder eines Gegensatzes meinen, nicht bloß das negative, weil die δύναμις της αντιφάσεως des Vergänglichen nur ein Doppelvennögen sein kann, nicht bloß ein Vermögen zum negativen, zum Nichtsein und Nichttun. Die Vermögen, die zu einer άντίφασις tendieren, werden verstanden als Vermögen, die so wirken können oder auch nicht so (b 30—34). Zu b) Die meisten Stellen, in welchen gewisse Prozesse als μεταβολαί κατ' άντίφασιν ο. ä. bezeichnet werden, finden sich im V . Buch der Physik 126. Grund für diese Bezeichnung ist die Tatsache, daß bei Entstehungsprozessen der Ausgangspunkt als Nichtsein des Endpunktes 127 und bei Vergehensprozessen der Endpunkt als Nichtsein des Ausgangspunktes 128 verstanden wird. Ausgangs- und Endpunkte stehen einander nicht wie affirma124

Z.B. Met. IX 8, 10^0 b 8: πδσα δύναμις αμα της άντιφάσεώς έστιν· Die beiden (b 9; 19/ 20 ) εναντία werden im folgenden noch näher besdirieben als πράγμα und als στέρησις (b 8/9), das positive als υπάρχον, als das unmittelbar Intendierte ( 11—13; καΰ'αντό), das negative als das erst durch eine Negation (b 13/14; άποφάσει, άποφορφ) Vermittelte. 126 V 1, 224 b 28—29; 225 a 10—16; parallel dazu und wohl davon abhängig; Met. IX 11, 1067 b 19—23; Phys. V 1, 22^ a 34 — b 1; V 3, 227 a 7—10; — ferner: VI ß, 235 b 13—17; 235 b 16—17; b 29—30; VIII 7, 261 b 7—9. 137 22ß a if—16: έκ μή λευκοϋ ε'ις λευκόν . . έ κ τοΰ μή δ ντο ς άπλώς είς ούσίαν γένεσις άπλώς, . . . 235 b 13—14. 128 225 a 17—19; ή δ'έξ υποκειμένου είς ούχ ύποκείμενον φθορά, άπλώς μεν ή έκ της οΰσίας είς τό μή είναι, τις δέ ή είς τήν άντικειμένην άπόφασιν,...

125

250

Vom Seienden und vom Einen

tive und negative Urteile gegenüber, sondern nur wie ein positiver Inhalt und dessen Anderes (στέρησις) (bzw. umgekehrt). Ein beliebiger (positiver) Inhalt und sein bloß durch ein Nicht-so-Sein charakterisierter Gegenpol bilden demnach eine άντίφασις. Da Phys. V mit seiner Einteilung der Prozeßtypen und der Gegensätze, in denen Prozesse stehen können, aus verschiedenen Gründen ζ. T. der „Topik" nahesteht129, dürfen wir dieses Buch für einen relativ frühen Text halten und können daher Eiders zustimmen, der den in der aristotelischen Prozeßtheorie sich findenden Gebrauch von „άντίψασις" dem Gebrauch in der Urteilslogik zeitlich vorangehen läßt130. Diese Bedeutung von „άντίφασις" deckt sich zwar noch nicht mit dem Begriff des Widerspruchs, des sich selbst widersprechenden und sich daher aufhebenden Urteils, in welchem ein beliebiger Inhalt, ein beliebiges Etwas (z.B.: A) gleichgesetzt, identifiziert würde mit seinem Anderen, mit dem Nicht-dies-Seienden (z.B.: non-A), doch ist dazu kein großer Schritt mehr erforderlich. Dieser Schritt ist getan in De Interpr. cap. 14. 3) In D e I n t e r p r . 14 1 3 1 kann mit ,,άπόφασις" und mit ,,άντίφασις" bereits das negative Urteil gemeint sein, und zwar das negative Urteil in einem ganz bestimmten Sinn: nämlich als das Urteil, das eine Positivbestimmtheit gerade derselben Positivbestimmtheit selbst abspricht, also für das ein Identitätsurteil negierende Urteil (z.B. „Das Gute ist nicht gut") 132 . Die Bedeutung, die dem Identität surteil und dessen Verneinung in diesem Kapitel zukommt, macht dieses Kapitel für unseren Zusammenhang erst interessant. Denn zunächst (23 a 27 ff.) wird eine unwichtig erscheinende Frage aufgeworfen: Ist einem bestimmten affirmativen Urteil das dieses Urteil aufhebende, negierende Urteil oder aber ein anderes affirmatives Urteil konträr entgegengesetzt? In Beispielen: Lautet zu dem Urteil „Jeder Mensch ist gerecht" das konträr entgegengesetzte Urteil „Kein 129

siehe H. Wagner, Aristoteles. Physikvorlesung, S. 275 u. 378. Leo Elders, Aristotle's Theory of the One, p. 55: „To summarize the results . . it is very probable that at first »negation' had an jontological' meaning only. Ά ν τ ί φασις was created to signify the relation between positive and negative terms in the process of becoming. Later ^legation' got an exclusively .logical' meaning while άντίφασις came to denote the opposition between two propositions." 131 Zur Frage nach der Echtheit dieses Kapitels s.: Heinrich Maier, Die Syllogistik des Aristoteles, Τ. I, Tübingen 1896, S. 150, und ds., Die Echtheit der aristotelischen Hermeneutik, in: Arch. f. Gesch. d. Phil. 13 (1899/1900), S. 25 fl. 132 Doch wäre es audi möglidi, daß beide Termini (άπόφασις und άντίφασις) nur die Bedeutung von „Negativbestimmtheit" haben (z.B. nicht-gut). Mit Sicherheit läßt sich dies nidit entscheiden, da es sich hierbei um Verneinungen von Identitätsurteilen handelt und es der sprachlichen Gestalt solcher Verneinungen nidit anzusehen ist, ob sie Ausdruck einer verneinenden, aufhebenden Synthesis sind, (wo das Moment der Negation also mit der Synthesis selbst verbunden ist) oder ob sie Ausdrude einer Gleichsetzung einer Positivbestimmtheit mit deren Negativbestimmtheit sind. 130

„άντίφασις" in anderen Sdiriften des C A

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Mensch ist gerecht" oder „Jeder Mensch ist «»gerecht" ? Ebenso: Lautet zu dem Urteil „Kallias ist gerecht" das konträr entgegengesetzte „Kallias ist nicht gerecht" oder „Kallias ist ««gerecht"? Diese Fragestellung mit ihrer Unterscheidung von verneinender Prädikation (δόξα της αποφάσεως oder της αντιφάσεως) und Prädikation des Gegenteils (ή τοΰ έναντίου δόξα oder ή τό έναντίον είναι δοξάζουσα) ist ausschließlich an der grammatikalischen Gestalt der Urteile orientiert 133 . Doch wird nun (a 38—39) nebenbei auch der logische Gesichtspunkt der Wahrheit ins Spiel gebracht, indem die Frage so formuliert wird: Welches wahre Urteil ist einem falschen konträr entgegengesetzt: das verneinende oder das das Gegenteil behauptende134? Der Interpret fragt sich: Welches affirmative Urteil wird hier als ein falsches angesetzt und welche entgegengesetzten (indem sie verneinen oder indem sie das Gegenteil behaupten) als wahre? Ist etwa das vorher genannte affirmative Urteil „Alle Menschen sind gerecht" (bzw. das andere „Kallias ist gerecht" ) mit dem falschen gemeint und die ihnen gegenüberstehenden „Kein Mensch ist gerecht" und „Alle Menschen sind ungerecht" (bzw.: „Kallias ist nicht gerecht" und „Kallias ist ungerecht") mit den wahren? Dies könnte nur dann der Fall sein, wenn das Gerechtsein für etwas gehalten würde, das keinem Menschen erreichbar wäre. Ist diese Vorstellung vom Gerechtsein jedoch zurückzuweisen, dann darf die zuletzt gestellte Frage nicht durch das erste der vorher genannten Beispiele exemplifiziert werden, weil sonst bei jenem Beispiel sowohl das affirmative Urteil („Alle Menschen sind gerecht") wie auch die beiden diesem gegenüberstehenden („Kein Mensch ist gerecht" und „Alle Menschen sind ungerecht") falsch sind. Mit jenem Beispiel könnte nur dann diese Frage hier (a 38—39) erklärt werden, wenn a) die Frage dahingehend abgeändert würde, daß sie nicht mehr fragt, welches von den beiden aufhebenden (wahren) Urteilen dem affirmativen (falschen) konträr entgegengesetzt sei, sondern·, welches von den beiden Urteilen, die dem (affirmativen) falschen gegenüberstehen, wahr sei 135 ; und b) die Termini „άπόίρασις" und „εναντίον" ausgerechnet in diesem Satz eine andere Bedeutung hätten als in den vorausgehenden und in den nachfolgenden Sätzen: nämlich ,,άπόφασις" die Kontradiktion (wie z.B. in 1 0 , 2 0 a27) und „τό έναντίον" die von Kontrarium. Scheut man einen solchen Eingriff in den Text und die Annahme eines Bedeutungswandels, dann läßt 133

134

135

Es wird lediglich der Gegensatz das eine Mal mit der Negationspartikel ού, das andere Mal mit dem „ a privativum" ausgedrückt. a 3 8 — 3 9 : ώστε σκεπτέον ποία δόξα αληθής ψευδεϊ δόξη εναντία, πότερον ή της αποφάσεως ή ή τό έναντίον είναι δοξάζουσα. Also statt: . . . ποία δόξα άληθής ψευδεϊ δόξη εναντία . . . müßte die Frage etwa so lauten: . . . ποία δόξα εναντία ψευδεϊ δόξη αληθής . . . Die Wörter „αληθής" und „έναντία" müßten ihre im Text überlieferten Stellen vertauschen oder der Ausdruck «ψευδεϊ δόξη έναντία" müßte ersatzlos gestrichen werden.

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Vom Seienden und vom Einen

sich die Frage nicht mehr auf den vorangehenden Text beziehen, sondern nur noch auf den folgenden. Doch müßte auch für diese Beziehung die Frage anders lauten, und zwar entweder so: ποία δόξα ψευδής άληθεΐ δόξτ] εναντία . . . oder wenigstens so: ποία δόξα έναντία . . . Ein Bedeutungswandel von ,,άπάψασις" und von „εναντίον" braucht dabei nicht erwogen zu werden. Läßt sich der Interpret dadurch (und trotz einer Textkorrektur) dazu bestimmen, die Frage auf das Folgende zu beziehen, dann muß er freilich eine ernstzunehmende Zäsur in der Gedankenführung dieses Kapitels zugestehen. Zu diesem Zugeständnis zwingt auch noch ein weiterer, wichtiger Punkt: Im folgenden Textstück wird von einem Identität surtetl („Das Gute ist gut") ausgegangen und dazu der konträre Gegensatz gesucht. Selbst wenn dabei richtig vorgegangen werden sollte, würde sich daraus nichts beweisen lassen für das Urteil (das keineswegs ein Identitätsurteil ist) „Alle Menschen sind gerecht" und dessen konträren Gegensatz. Wie groß nun auch die Zweifel an der Einheitlichkeit des Kapitels und an der Meinung, daß Aristoteles selbst das Kapitel an diese Stelle gesetzt haben soll, sein mögen, so darf doch das, was im folgenden Textstück über die Verneinung (άπόφασις, άντίφασις) des Identitätsurteils gesagt wird, im Rahmen unserer Untersuchimg der aristotelischen άντίφασις-Lehre ausgewertet werden. Es wird also im folgenden Textstück (wenigstens von a 39 an) die Frage diskutiert: Lautet zu dem (Identitäts-) Urteil „Das Gute ist gut" der konträre Gegensatz „Das Gute ist nicht gut" (d. i. δόξα της αποφάσεως oder: αντιφάσεως) oder „Das Gute ist schlecht" (d. i. δόξα τοΰ εναντίου) ? Die Antwort geht aus von der These, das Gute sei an sich (καθ5 αυτό) gut und nur nebenbei, vermittelterweise (κατά συμβεβηκός) (nämlich erst auf dem Umweg über eine Verneinung) sei es auch „nicht schlecht" (b 1 5 — 1 7 ) . Wahrer sei nun jedesmal die Prädikation des An-sich-Zutretenden als die des Nur-vermittelterweise-Zutreflenden und daher auch irriger die, die das Gegenteil (d. i. die Negation) des An-sich-Zutreilenden behaupte, als die, die das Gegenteil des Nur-vermittelterweise-Zutrefienden behaupte (b 1 7 — 1 8 ) . So sei es also auch irriger zu sagen, das Gute sei nicht gut: d. h. vom Guten seine Negation (άπόφασις) zu prädizieren, als zu sagen, das Gute sei schlecht: d.h. vom Guten die gegenteilige Bestimmtheit (τό εναντίον) zu prädizieren (b 1 7 — 2 1 ) . Am meisten täusche sich über etwas, wer davon (statt der wahren) die (konträr) entgegengesetzte Meinung habe (έναντία δόξα); einander (konträr) entgegengesetzt seien aber diejenigen Bestimmtheiten (oder Urteile), die in Bezug auf dasselbe am weitesten von einander entfernt seien (b 21—23). Wenn nun von jenen zwei Urteilen („Das Gute ist nicht gut" und „Das Gute ist schlecht") nur eines konträr entgegengesetzt sei (zu dem Urteil „Das Gute ist gut"), mehr entgegen-

„άντίφασις" in anderen Schriften des C A

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gesetzt aber immer das widersprechende Urteil (ή της αντιφάσεως) sei, sei dieses letztere („Das Gute ist nicht gut") auch das konträr entgegengesetzte Urteil (zu: „Das Gute ist gut") (b 23—25). Damit wird auf die obige Frage eine Antwort gegeben, die nicht erwartet werden konnte, weil sie nicht die in Kapitel 7 (17 b 16 ff.) und 10 (20 a 16 ff.) gemachte Unterscheidung zwischen Widerspruch (άντιφασις, αντιφατικούς άντικεϊσίΚχι) und Kontrarietät (έναντίως αντίκειται) beachtet, sondern gerade das Sich-widersprechende für das Konträre ausgibt. Wie ist dies zu erklären? Hier handelt es sich nicht um eine beliebige Urteilsform und um deren kontradiktorischen und konträren Gegensatz, wie in Kapitel 7 und 10, sondern um die des Identitätsur teils. Ein Identitätsurteil kann nur wahr sein (hier heißt es: es ist an sich wahr), nicht wie andere Urteile: wahr oder falsch. Also muß das es aufhebende, ihm widersprechende Urteil falsch sein. Und da der Autor das Wahrsein und das Falschsein für steigerungsfähig hält, erkennt er dem an-sich-wahren Identitätsurteil („Das Gute ist gut") einen höheren Wahrheitsgrad zu als dem nur-vermittelterweise-zutreffenden („Das Gute ist nicht schlecht") und dem das erstere verneinenden („Das Gute ist nicht gut") einen höheren Grad von Unwahrheit als dem, welches dem letzteren entgegengesetzt ist („Das Gute ist schlecht"). Auf diese Weise ergibt sich ein größerer Abstand zwischen dem an-sichwahren Identitätsurteil und dem es verneinenden Urteil als zwischen dem nur-vermittelterweise-wahren und dessen Gegenteil. Dieser größere Abstand, der lediglich ein kontradiktorischer Gegensatz ist (freilich in Bezug auf ein Identitätsurteil), ist für Identitätsurteile zugleich der größtmögliche und wird daher hier auch als konträrer Gegensatz ausgegeben. Was heißt demnach hier: „konträrer Gegensatz"? Die in 23 b 22/23 vorgelegte Definition 136 enthält eine unklare Stelle: aus dem Ausdruck „περί τό αυτό" ist nicht mit Sicherheit zu entnehmen, ob dieses τό αυτό ein den beiden Gegensatzgliedern zugrundeliegendes Drittes ist, wie die — in anderen Definitionen konträrer Eigenschaften geforderte — zugrundeliegende Gattung der Eigenschaften137 oder der zwei konträren Urteilen (ζ. B. „Alle Menschen sind gerecht" — „Kein Mensch ist gerecht") gegenüberstehende Gegenstand (d. 1. das wirkliche Stehen aller Menschen unter dem Gegensatz „gerecht — ungerecht"). Sollte auch hier in 23 b 22/23 m i t dem τό αυτό ein Drittes gemeint sein, dann ist entgegenzuhalten, daß bei Identitätsurteilen und deren Verneinung keine dritte Größe mehr zugrundeliegt: denn das Gegensatzpaar „gut — nicht gut" wird dabei nicht auf eine gemeinsame Gattung — etwa: Qualität überhaupt — bezogen, sondern nur auf eines der beiden Glieder selbst, und die beiden Urteile („Das Gute ist 136

τ ά γάρ εναντία τ ω ν πλείστον διαφερόντων περί τό αυτό . . .

137

Vgl. 2. Β. Cat. 6,6 a 17/18 oder Met. V 10, 1018 a 25—31.

Vom Seienden und vom Einen gut" — „Das Gute ist nicht gut") sind auch nicht auf einen von ihnen verschiedenen Sachverhalt zu beziehen, weil die einzige inhaltliche Bestimmtheit, von der sie überhaupt handeln (nämlich: das Gute), durch das zweite Urteil („Das G u t e ist nicht gut") wieder völlig vernichtet wird. Diesen Versuchen gegenüber, im τό αυτό ein Drittes zu sehen, ist zu erwägen, ob hier nicht mit dem τό αυτό die Positivbestimmtheit „das G u t e selbst" und mit den Gegensatzgliedern die Prädikate „gut" und „nicht gut" gemeint sein könnten. Sollte dies zutreffen — und es spricht vieles dafür — , dann sind allerdings die hier als έναντία bezeichneten Gegensatzglieder noch nicht als konträre Gegensatzglieder im strengen Sinne (von Kap. 7 und 10) verstanden worden. Der Gebrauch von „εναντίον" (bzw. „έναντία") deckt sich dann weitgehend mit dem platonischen Gebrauch dieses Terminus 138 . W i r dürfen aus solchem Gebrauch von „εναντίον" entnehmen, daß D e Interpr. 14 in ein frühes Stadium der Entstehung der aristotelischen Gegensatzlehre gehört. Man darf (aus anderen Gründen) annehmen, daß auch die diesem Kapitel zugrundeliegenden Vorstellungen vom Urteil früh sind, am Anfang der Entstehung der aristotelischen Urteilslehre stehen: im Mittelpunkt dieses Kapitels steht ja das Identitätsurteil, und diesem wird in der Geschichte der Logik zuerst (nämlich schon bei den Eleaten) Geltung zuerkannt. Piaton (Soph. 251 b — c ) und Aristoteles (ζ. B. Met. V 29, 10024 b 32 ff.) bekämpfen zwar eine solche Beschränkung des Urteilsbereichs, bleiben aber in ihrer eigenen Urteilstheorie (freilich nicht im Vollzug von Urteilen) (zunächst jedenfalls) bei der Wesensprädikation und damit beim affirmativen Urteil stehen 139 . So liegt ζ. B. nach der aristotelischen Kategorienschrift ein κατηγορεΐν nur vor beim Prädizieren der Artbestimmtheit, einer Gattungsbestimmtheit (sei es der nächsten oder einer höheren) oder der spezifischen Differenz. Demnach ist ein Urteil, das eine Wesensbestimmtheit verneinen würde, von vornherein falsch, ja sogar unmöglich. Den Ausschluß jeglichen negativen Urteils hat dieser enge Urteilsbegriff immer noch mit der (der Eleatik und dem Antisthenes zugeschriebenen) Beschränkung des Urteisbereiches auf Identitätsurteile gemeinsam. In beiden Bereichen (in dem der Identitätsurteile und in dem der Wesensuteile) ist das einem affirmativen Urteil (z.B. „Das G u t e ist gut"; „Der Mensch ist ein Lebewesen") gegenübergestellte negative Urteil mindestens falsch, so daß dafür der Grundsatz formuliert werden kann: „Das Verneinen ist falsch". A b e r mindestens 138 Vgl. 2. B. Phaid. 102 d—105 b; s. dazu auch: Lewinsohn, Gegensatz und Verneinung, S. 18—.59; ferner ds., Zur Lehre von Urteil und Verneinung bei Aristoteles, in: Ardi. f. Gesch. d. Phil. 24 (1911), S. 198 ff. 139 Was Piaton betrifft, s. Lewinsohn, Gegensatz . . S . 33, und ds., Zur Lehre von Urteil . . S . 203—206; bezüglich Aristoteles s. ebenfalls diese Abhandlung und Cat. 2 und wo das κατηγορεΐν eingeschränkt ist auf das Prädizieren von Wesensbestimmtheiten.

„άντίφασις" in anderen Schriften des CA

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für den Bereich der Identitätsurteile muß darüberhinaus auch noch gesagt werden: es ist nicht einmal möglich, dem affirmativen ein negatives Urteil (z.B. „Das Gute ist nicht gut") gegenüberzustellen, weil in diesem Falle nicht mehr beide Urteile Urteile über denselben Gegenstand wären; denn die Positivbestimmtheit, die in beiden Urteilen als Subjekt zu fungieren hätte, wird ja durch das negative Urteil gerade wieder aufgehoben, vernichtet. Daher läßt sich bei Beschränkung des Urteilsbereiches auf den der Identitätsurteile nicht nur der Grundsatz aufstellen „Das Verneinen ist falsch", sondern auch der folgende „Das Verneinen ist unmöglich" und damit zugleich auch dieser: „Das Widersprechen ist unmöglich". In der Form „ουκ εστίν άντιλέγειν" schreibt Aristoteles diesen Grundsatz dem Antisthenes zu (direkt in Top. I n , 104 b 20/21, indirekt in Met. V 24, 1024 b 32 ff.). Auch Piaton spricht in „Euthydemos" (285 d — 286 b) über diesen Grundsatz — freilich ablehnenderweise. Dieser Grundsatz („Das Widersprechen ist unmöglich") könnte zunächst als eine Absurdität der eleatischen Dialektik betrachtet werden, die durch das psychische Vermögen, einander widersprechende Urteile aufzustellen, hinreichend widerlegt zu sein scheint. Doch so leicht ist er nicht abgetan: nicht etwa deswegen, weil außer Identitätsurteilen keine anderen mehr möglich wären, sondern weil — unabhängig von dieser Urteilsauffassung — dabei der Begriff des Widerspruchs etwas anderes beinhalten kann, als dies im bekannten „Prinzip des Widerspruchs" der Fall ist (wonach der Widerspruch zwischen Urteilen wie „A ist B" und „A ist nicht B" zu vermeiden ist): weil der Terminus „Widerspruch" (άντίφασις, άντιλέγειν) dabei die Bedeutung haben kann „Verneinung eines Identitätsurteils" (άπόφασις) (so tatsächlich ζ. B. hier in De Interpr. 14). Denn bei dieser Bedeutung von „Widerspruch" (ζ. B. „A ist non-A") beinhaltet das „Prinzip des Widerspruchs" die Unmöglichkeit (bzw. das Verbot) der Verneinung eines jeden Identitätsurteils (in obigem Beispiel: „Es ist unmöglich, daß Α zugleich auch non-A ist"). So verstanden ist das „ουκ εστίν άντιλέγειν" 140 in seiner Geltung unabhängig von der Meinung, nur Identitätsurteile seien möglich. Indem es die Verneinung von Identitätsurteilen verbietet, garantiert es gewiß nur die Geltung von Identitätsurteilen (wie dies auch durch das positiv gehaltene und erst viel später formulierte Identitätsprinzip „A ist A " geleistet wird), aber in dieser Funktion ist es doch — als Garant der Eindeutigkeit eines jeglichen Inhalts — eine fundamentalere Geltungsbedingung für einen jeglichen Gedanken als jenes Prinzip, das den Widerspruch zwischen einem beliebigen setzenden Urteil (ζ. B. „A ist B") und dessen Aufhebung („A ist nicht B") verbietet.

140

ούκ ϊστιν: es ist unmöglich; άντιλέγειν: von A zugleidi audi non-A zu prädiaeren.

2j>6

Vom Seienden und vom Einen

Da das Kapitel 14 von D e Interpr. als ein verhältnismäßig frühes Stück des C A zu betrachten ist (auch der Gebrauch von „εναντίον" spricht für Frühansatz), legt die darin sich findende Verwendung von „άντίφασις" im Sinne von „άπόφασις", „Verneinung", und zwar im Sinne von „Verneinung eines Identitätsur teils", die Frage nahe, ob der Terminus „άντίφασις" nicht auch noch in anderen frühen Stücken des C A nur die Bedeutung „Verneinung der Identität (z.B. einer Positivbestimmtheit mit sich selbst)" hat. Beim Studium von Met. I V 4 stießen wir auf einige Passagen, denen ein solcher Sinn von „άντίφασις" mindestens zugrundeliegt. Im Folgenden werden wir in einem Exkurs auf einige spätere Definitionen bzw. Auslegungen der „Kontradiktion" bzw. des Kontradiktionsprinzips verweisen, die ebenfalls nur eine Verneinung der Identität bzw. ein Verbot einer solchen Verneinung zum Ausdruck bringen. Diese Definitionen sind gewiß nicht alle unter ausdrücklicher Berufung auf Aristoteles (Met. I V ) aufgestellt worden. Dennoch erhöht ein Vergleich dieser Definitionen mit den einschlägigen Formulierungen in Met. I V 3 — 7 sowie mit den Bedeutungen von „άντίφασις" in Phys. V und in De Interpr. 14 das Gewicht jener Argumente, die schon aus dem Studium von Met. I V gewonnen werden konnten für die These, daß auch schon in Met. I V das unbedingte, erste, sicherste Prinzip das negativ formulierte Identitätsprinzip zum Inhalt hat und so die Funktion des transzendentalen, mit dem Seienden als Seiendem konvertiblen Einen zum Ausdruck bringt. Selbst ein eventuelles Schwanken bei dem oder jenem Denker zwischen dem Widerspruchsprinzip dieses Inhalts und derjenigen Formel, welche den Widerspruch zwischen einem beliebigen affirmativen Urteil und dem ebendieses Urteil wieder aufhebenden negativen Urteil verbietet, kann — bei der Autoritätsgebundenheit vieler Vertreter der Schulphilosophie — seinen Grund bereits in einem diesbezüglichen Schwanken innerhalb des C A haben. Zusatz·. W i r haben uns zuletzt beschränkt auf denjenigen Begriff des Widerspruchs, der die Verneinung eines Identitätsurteils beinhaltet. Ist diese Beschränkung berechtigt? Müßte nicht audi noch bei der Verneinung eines Definitionsurteils, einer Wesensbestimmung, von Widerspruch gesprochen werden, zumal nach Cat. 2 und 5 nur Prädikationen von Wesensbestimmtheiten Urteile im eigentlichen Sinn sein sollen und solche Prädikationen immer affirmativ sein müssen? Nach der platonischen und aristotelischen Meinung über das Gegebensein von Wesensbestimmtheiten müßte dies sehr wohl geschehen, weil diese (platonische und aristotelische) Meinung nicht einmal für das Vorliegen derjenigen Wesenheiten, die ganz offenbar bereits komplexe Gefüge von Bestimmtheiten darstellen, eine spontane apriorische Synthesis verantwortlich macht, sondern nur ein schlichtes Hinnehmen eines Inhalts, der für so „einfach" gehalten wird wie das nur vom Identitäts-

„άντίφασις" in anderen Schriften des CA

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prinzip geformte Etwas überhaupt. Da diese Meinung unhaltbar ist, kann die Aufhebung eines Definitionsurteils nicht denselben Widerspruch bedeuten wie die Aufhebung eines Identitätsurteils. Die Negation eines Definitionsstückes, d. i. einer Gattungsbestimmtheit oder der spezifischen Differenz, steht zwar im Widerspruch zur Wesensaussage, aber keine Wesensaussage ist mit der gleichen logischen Notwendigkeit ausgezeichnet wie die Identitätsurteile, die — anders als die Wesensaussagen — gegenüber jeglichem besonderen Inhalt noch gleichgültig sind und es nicht gestatten, aus ihnen — etwa wie aus Wesensaussagen — Prädikationen von Inhaltslere« (J^tftmüonsstücken) abzuleiten. Doch ist der Irrtum, der in der (gewiß unausgesprochen gebliebenen) platonischen und aristotelischen Gleichstellung der Definitionsur teile mit den Identitätsur teilen vorliegt, in der Philosophiegeschichte lange nicht durchschaut worden. So wurde die Verneinung eines Definitionsurteils lange der Verneinung eines Identitätsurteils gleichgestellt und schon für „Widerspruch" im strengen Sinne gehalten. Greifbar wird diese (nicht ausdrücklich gemachte) Gleichstellung überall dort, wo der Wesensbegriff — anstelle des Identitätsbegriffs — zum Kriterium erhoben wird für das, was innerlich möglich oder unmöglich, widerspruchsfrei oder sich widersprechend ist. Aber auch diese Widerspruchsauffassung ist in unserem Zusammenhang noch beachtenswert, weil sie zusammen mit der an den Identitätsbegriff gebundenen Widerspruchsauffassung den Begriff des sogenannten inneren Widerspruchs ausmacht (dem der Begriff des sogenannten äußeren Widerspruchs, d. i. des Widerspruchs zwischen verschiedenen Urteilen wie „A ist B" und „A ist nicht Β", gegenübersteht) und die Frage nahelegt, ob nicht wenigstens dieser Begriff des inneren Widerspruchs am (aristotelischen) Anfang der Geschichte der Widerspruchslehre gestanden hat. Sollte dies zutreffen, so wäre damit die vorherrschende Auslegung der ,,άντίφασις" in Met. IV im Sinne des Widerspruchs zu einem beliebigen Urteil unvereinbar 141. 141

Ist freilich einmal die Gleichstellung von Identitätsurteil und Wesensurteil eingeräumt und wird der Widerspruchsbegriff in erster Linie vom WesensbegriflE her bestimmt (wenn also der Widerspruch als Unverträglichkeit mit, als Widerspruch zum Wesen aufgefaßt wird), dann läßt sich auch eine Entstehung des Widerspruchsbegriffs von De Interpr. 6—8 aus diesem hier annehmen (freilidi nicht als geschichtliches Faktum nachweisen). Nach De Interpr. 6—8 (ζ. B. 17 b 16—20) liegt ein Widerspruch vor, wenn einem allgemein bejahenden Urteil (ζ. B. „Jeder Mensch ist bleich") ein partiell verneinendes Urteil (z.B. „Nicht jeder Mensch ist bleich", d.h. „Einige Menschen sind nicht bleich) gegenübergestellt wird oder einem allgemein verneinenden Urteil (z.B. „Kein Mensch ist bleich") ein partiell bejahendes (z.B. „Ein bestimmter Mensch ist bleich"). Als Ursache für diese Erweiterung des Bereichs möglichen Widerspruchs könnte zunächst angenommen werden, es habe Versuche gegeben, die Allgemeinheit der Ausgangsurteile („Jeder Mensch ist bleich" — „Kein Mensch ist bleich") für eine schlechthinnige Allgemeinheit zu halten und auf Wesens-

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Vom Seienden und vom Einen

Exkurs über die nacharistotelische Geschichte der Lehre vom sogenannten Widerspruchsprinzip Wenn wir bei der folgenden Aufzählung von Formulierungen und Interpretationen des Widerspruchsprinzips (im Sinne des negativ gewendeten Identitätsprinzips) erst mit Leibniz und Kant beginnen könnten, bestünde vielleicht eher die Gefahr, daß es eine Aufzählung von Formulierungen werden würde, die vom unbedingten Prinzip in Met. IV völlig verschieden wären142. Wir werden daher wichtige Vertreter vor allem der aristotelischen Tradition vor Leibniz zu Wort kommen lassen, von denen man annehmen darf, daß sie dem genuinen Aristotelismus noch (ziemlich) nahe stehen und von Leibniz oder Kant noch nicht „irregeleitet" sein können.

142

Verhältnisse zurückzuführen: etwa auf ein notwendiges Enthaltensein der Bestimmtheit „bleich" im Wesen „Mensch" beim affirmativen Urteil — oder auf einen notwendigen Ausschluß der Bestimmtheit „bleich" vom Wesen „Mensch" beim negativen Urteil, so daß im ersteren Falle die Negation, im letzteren die Affirmation jener Bestimmtheit „bleich" im Widerspruch zum angenommenen Wesensbegriff stünde. Die dagegengestellten Tatsachenurteile („Nicht jeder Mensch ist bleich" oder „Ein bestimmter Mensch ist bleich") darf der Interpret dann als korrigierende Aufhebungen jener verkehrten Wesensansätze betrachten: was dort als notwendig (zum Wesen gehörig) angesetzt war, wird nun als bloß möglich, und was dort als unmöglich (zum Wesen gehörig) angesetzt war, wird nun als sehr wohl möglich hingestellt. Der Sdiritt zu dem Widerspruchsbegriff in De Interpr. 6—8 wäre demnach bei der Korrektur mancher Wesensansätze gemacht worden. Man kann sich allerdings die Erweiterung auch einfacher erklären: Die Urteilsbeispiele, die in den einschlägigen Kapiteln von De Interpr. angeführt werden, sind keine Beispiele für die Prädikation von Wesensbestimmtheiten, sondern nur für die von zusätzlichen Bestimmtheiten. Es konnte also beabsichtigt gewesen sein, die Sonderstellung der Wesensaussagen und damit auch die dazugehörige Widerspruchsauffassung unangetastet zu lassen und hier nur für die Gruppe der sog. Akzidensaussagen das Widerspruchsverhältnis zu definieren. So schreibt ζ. B. Chr. Sigwart, Logik, 4. Auflage, I. Band, Tübingen 1911, S. 195/96: „Was die spätere Logik, insbesondere Leibniz und Kant, als Principium contradictionis in der Formel ,A ist nicht nonA' aufgestellt hat, ist nach Sinn und Anwendung von dem aristotelischen Satze durchaus verschieden. Der Satz des Aristoteles betrifft das Verhältnis eines bejahenden und eines verneinenden Urteils, bei ihm widerspricht ein Urteil dem andern; der spätere Satz betrifft das Verhältnis von Subjekt und Prädikat in einem einzigen Urteile, das Prädikat widerspricht dem Subjekt " — Sigwart meint (und beruft sich dabei auf Prantl), das ganze Mittelalter hindurch habe die aristotelische Formel des Principium contradictionis seine Bedeutung unverändert erhalten. — Um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen sei nodimals betont: uns geht es hier nur um die spätere Auslegung des in Met. IV behandelten Prinzips, nicht aber um die jenes Prinzips des (zwischen Urteilen zu vermeidenden) Widerspruchs, das in der Urteilslehre von De Interpr. 6—8 behandelt wird.

Vom „Widerspruchsprinzip": Exkurs

259

Mit den griechischen Kommentatoren (Alexandras, Asklepios und Syrianos) der aristotelischen „Metaphysik" können wir diese Reihe allerdings noch nicht beginnen lassen. Diese formulieren nämlich das in Frage stehende Prinzip, dem sie meistens die Titel ,,άξιωμα (περί) της άντιφάσε(ΰς" oder „αρχή της αντιφάσεως" geben143, an vielen Stellen unmißverständlich als Prinzip vom (zwischen Urteilen) zu vermeidenden Widerspruch (Alexandras verweist auch einmal auf De Interpr. und auf Soph. El.); an vielen anderen Stellen allerdings bleiben sie vage, so daß der Interpret gestehen muß, es sei wahrscheinlich ebenfalls das auf die Urteilsebene bezogene Widerspruchsprinzip gemeint. An manchen Stellen freilich (z.B. Alex. 286.9 f-ί 2 9 2 · 3 ίί·> 296.18 ff.; 301.29 ff.; 302.iff.) wäre zu prüfen, ob der Terminus ,,άντίφασις α nidit doch im Sinne vom „άπόφασις" gebraucht ist und daher das diskutierte Prinzip doch auf den Bereich der Identität surteile beschränkt ist. Da unser Überblick nicht mit dieser Prüfung belastet werden soll, beginnen wir mit Thomas ν. Α.: Nach diesem hängt das erste Prinzip am ersten Begriff, am Begriff des Seienden144, ruht es auf den Begriffen des Seienden und des Nichtseienden auf 145 . Daraus ist zu entnehmen: Für dieses Prinzip stehen nur die Begriffe des Seienden und des Nichtseienden zur Verfügung — jedoch noch nicht der einer identischen Substanz, die als Träger für einander entgegengesetzte Eigenschaften fungieren könnte; daher kann dieses Prinzip nur über die Beziehung zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden etwas ausmachen, jedoch nichts über die Beziehung zwischen einem Gegenstand und seinen Eigenschaften, nichts über das (widerspruchsfreie) Zu- oder Absprechen von Eigenschaften in Urteilen. So kann Thomas die Funktion des obersten Prinzips nur darin gesehen haben, die Identität des Seienden mit dem Seienden selbst (später so formuliert: „Ens est ens"), des Nichtseienden mit dem Nichtseienden („Non-ens est non-ens) — beides ausgedrückt durch Affirmationen — und das Verschiedensein vom Seienden und Nichtseiendem („Ens non est non-ens) — ausgedrückt durch eine Negation — zu garantieren. 143

144

145

Vor allem von Alexandtos und Asklepios wird es gerne so bezeichnet; Asklepios spricht auch einmal (258.19 ff.) vom „δόγμα τό περί της άντιφάσεως", Syrianos einmal (54*8 f·) vom „ . . . κατά τήν άντίφασιν άξίωμα" bzw. von der „ή κατά τήν άντίφασιν (sc. άρχή) (6j.2off.). In . . . Metaph., p. 168, n. 6oy. „... hoc principium, impossibile est esse et non esse simul, dependet ex intellectu entis." S. Th. I I — I , q 94, a 2, c.: „ . . . in his autem, quae in apprehensione hominum cadunt, quidam ordo invenitur: nam illud, quod primo cadit in apprehensione, est ens, cujus intellectus includitur in omnibus, quaecumque quis apprehendit; et ideo primum principium indemonstrabile est, quod non est simul affirmare, et negare, quod fundatur supra rationem entis, et non entis: et super hoc principio omnia alia fundantur . . — Ähnliches zur Ordnung des logischen Entspringens: S. Th. I, q 11, a 2, ad 4.

26ο

Vom Seienden und vom Einen

Von dieser Auslegung der Position des Thomas v. A. herkommend wird man die Lehrmeinung des Antonius Andreas146 nicht mehr als eine Ausnahme, als eine Vorwegnahme der leibnizianischen und kantischen Position betrachten können. Antonius Andreas zählt in seinem Metaphysikkommentar 147 einige (wohl nicht nur von ihm allein erhobene) Bedenken auf gegen die These, das Prinzip „impossibile est idem simul esse et non esse" sei das schlechthin erste. Dabei spricht er auch von diesem Bedenken: Bei diesem Prinzip sei der Subjektsbegriff bereits ein zusammengesetzter, nicht ein einfacher, nämlich: „idem ens", ebenso der Prädikatsbegriff („esse et non esse"). Das schlechthin erste Prinzip bestehe jedoch aus nicht weiter auflösbaren, reduzierbaren Stücken; es laute: „Ens est ens"148. — Diese Formel hat für uns ihre Sonderstellung eingebüßt; es ist nicht nötig, an ihr Kritik zu üben; es sei nur angemerkt, daß sie der überlieferten Formel nicht hätte gegenübergestellt zu werden brauchen, wenn jene nicht — statt als Prinzip der Identität und Nichtidentität — als Prinzip des (zwischen Urteilen) zu vermeidenden Widerspruchs verstanden worden wäre, so daß dadurch allein im Subjektsbegriff schon zwei Momente verbunden werden mußten: das der jeweiligen Eigenbestimmtheit und das der Identität. — An Kritik an der Prinzipienauffassung des Antonius Andreas hat es nicht gefehlt. Besieht man sich diese Kritik jedoch näher, so wird man feststellen können, daß diese sich oft nur deswegen gegen die Aufstellung einer neuen Formel wendet, weil sie mit der alten Formel schon denselben Inhalt verbunden hatte. Auf zwei recht bekannte Kritiker sei hier nur eingegangen: auf Petrus Fonseca und auf Franciscus Suarez. Fonseca (Lib. IV, cap. 3, q 1 , s 2 und 4) versucht nachzuweisen, daß das Prinzip in der überlieferten Form („impossibile est idem simul esse et non esse") den gleichen logischen Rang und Grad von Bekanntsein (nämlich den ersten, nicht einen nachgeordneten) innehat wie das von Antonius Andreas formulierte („Ens est ens"), indem er zu zeigen versucht, daß es (ebenso wie das neuformulierte „Ens est ens") im Widerspruch stehe zu dem Urteil „Ens non est ens" und daß daher sein Wahrsein ebenso bekannt sei, wie das Falschsein des letzteren Urteils („Ens non est ens") und wie das Wahrsein des neuformulierten („Ens est ens"). — Der Interpret fragt sich: Inwiefern 146

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Antonius Andreas: ein Gelehrter aus dem Minoritenorden, wohl aus der Umgebung des Duns Skotus, gestorben um 1320. Quaestiones subtilissimae super duodecim libros Metaphysicae Aristotelis (gedruckt: Venedig 1481), Lib. IV, q. V. „ . . . Si ergo quaeratur, quid est primum complexum simpliciter et primo primum, dico quod istud ,ens est ens'. Istud enim principium habet terminos primo primos et ultimo ultimos et per consequens qui non sunt resolubiles in aliquos priores, immo omnis resolutio conceptuum stat ad conceptum entis ut ad simpliciter p r i m u m inter conceptus quiditativos."

Vom „Widerspruchsprinzip": Exkurs

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soll das überlieferte Prinzip („Impossibile est idem simul esse et non esse") dem Urteil „Ens non est ens" widersprechen? Dieses Prinzip bestreitet doch nur das Zugleich-Wahrsein von Urteilen wie „ A ist B" und „A ist nicht B " , entscheidet aber doch nicht darüber, welches der beiden Urteile falsch ist, verbietet daher auch nicht das negative Urteil „A ist nicht B" und widerspricht daher auch nicht diesem negativen Urteil. Man kann die Argumentation Fonsecas nur akzeptieren, wenn man das überlieferte Prinzip so auslegen darf: es ist -unmöglich, daß etwas zugleich identisch mit sich selbst sei und auch nicht sei (A est Α et non-A). Nur mit diesem Inhalt widerspricht das überlieferte Prinzip dem Urteil „Ens est non ens" und nur so ist von ihm zu sagen, daß es ebenso bekannt sei wie das Identitätsurteil „Ens est ens". Unverständlich bleibt freilich, warum Fonseca die neue Formel mit Mängeln behaftet sieht, die für ihn Gründe zu deren Ablehnung sind, während er an der überlieferten Formel solche Mängel nicht entdeckt. Identitätsurteile wie „Ens est ens" entbehren nach ihm der Wissenschaftlichkeit (artis expertes), sind überflüssig (nugatoriae), in den Wissenschaften nicht zugelassen und nicht der Grund, auf den alle wissenschaftlichen Beweise zurückgeführt werden. Diese Mängel bestehen doch nur, wenn das eine Identitätsprinzip verwechselt wird mit einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Identitäts urteilen·. Identitätsurteile bringen gewiß keinen Erkenntnisfortschritt, sind gewiß überflüssig, usw.; aber das eine Identitätsprinzip, das die Identität jeglichen Gedankens mit sich selbst, die Eindeutigkeit jeglichen Inhalts garantiert, ist keineswegs überflüssig, kommt freilich auch nicht als ein Urteil unter anderen Urteilen einer wissenschaftlichen Abhandlung vor, aber das gilt doch auch für das Prinzip des Widerspruchs (mit dem Inhalt „A ist Α und nicht non-A") 149 . Der Grund schließlich, auf den alle Beweise zurückgehen 150 , ist — mindestens bei allen Beweisen aus Wesensbegriffen — gewiß das Prinzip des „Widerspruchs"; aber dieses Prinzip ist doch nur das negativ formulierte Identitätsprinzip (A ist Α und nicht non-A). So ist Fonsecas Polemik gegen die Prinzipienlehre des Antonius Andreas unverständlich; man darf sich durch sie nicht täuschen lassen darüber, daß das von Fonseca verteidigte oberste Prinzip sich nur in seiner sprachlichen Gestalt von dem von Antonius Andreas formulierten Prinzip 149

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Dies gilt aber audi für das Prinzip des zu vermeidenden Widerspruchs; auch dieses ist nur eine Bedingung für die richtige Verbindung von Urteilen, nicht selbst ein Urteil neben anderen. Und auch dieses Widerspruchsprinzip kann nicht als letzter Beweisgrund gegen das Identitätsprinzip ausgespielt werden, weil auch es (zusammen mit dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten) allenfalls der Grund jeglichen indirekten Beweisens ist, nicht jeglichen Beweisens überhaupt, und weil alles Beweisen — wie alles Denken — ohne das Prinzip der Identität ebenfalls unmöglich wäre. Fonseca denkt hierbei an Aristoteles, Met. IV 3, 1005 b 32—34.

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Vom Seienden und vom Einen

unterscheidet, daß auch das von ihm verteidigte Widerspruchsprinzip nur das negativ gewendete Identitätsprinzip ist — nicht aber das Prinzip des zwischen Urteilen zu vermeidenden Widerspruchs. Ähnlich ist die Stellungnahme des Franciscus Suarez zu Antonius Andreas zu beurteilen (Disp. Metaph. I I I , s 3, η ί ο — 1 1 ) . A u d i Suarez dürfte mit dem Prinzip, dessen Vorrangstellung gegenüber allen anderen Prinzipien er verteidigt, keinen anderen Inhalt verbinden als den des negativ formulierten Identitätsprinzips, sonst könnte er nicht sagen, die Wahrheit des Prinzips gründe in der Natur des Seins selbst, das von sich aus das Nichtsein ausschließe 151 . Noch deutlicher wird dies, w o er eine Formulierung eben dieses Prinzips mit noch „einfacheren" Begriffen versucht; „Nullum ens est et non ens". Hinter dieser Formel kann sich nicht mehr das Prinzip des (zwischen Urteilen) zu vermeidenden Widerspruchs verbergen, weil dort die Affirmation als solche keinen Vorrang vor der Negation haben kann. Nur hier beim negativ formulierten Identitätsprinzip wird die Negation (als Negation der Identität des als identisch Gesetzten) von vornherein zurückgewiesen. — Suarez räumt also — ebenso wie Fonseca — indirekt, wider eigenen Willen ein, daß das von ihm gegenüber der Position des Antonius Andreas verteidigte erste Prinzip („Impossibile est idem simul esse et non esse") keinen anderen Inhalt hat als das negativ gewendete Identitätsprinzip. Von den Vertretern der deutschen Schulmetaphysik vor Leibniz soll hier nur einer zu Wort kommen, und zwar einer von jenen Denkern, denen nachgesagt wird, daß sie nicht der scholastischen Metaphysiktradition gefolgt seien, sondern Aristoteles selbst: es ist Ernst Soner aus Altdorf 1 5 2 . Soner gibt dem überlieferten Prinzip verschiedene Wendungen, um anzudeuten, daß es nicht bloß eine negative Gestalt habe. Dabei zeigt sich, daß eben dieses überlieferte Prinzip — wenigstens nach dem Verständnis Soners — nicht die gleichzeitige Affirmation und Negation desselben Prädikats von irgendeinem Subjekt verbietet (also: „A ist Β und nicht B"), sondern daß es die Negation desselben Prädikats (Sein) von demselben Subjekt (Sein) (also: „A ist nicht A " ) und die Affirmation desselben Prädikats (Sein) vom entgegengesetzten Subjekt (Nicht-Sein) (also „non-A ist A " ) verbietet 153 . 151

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. . licet tota Veritas ejus (sc. illius principii) fundetur in natura ipsius esse, q u o d

per se excludit non esse . . Vgl. dazu: Ernst Lewalter, Spanisch-jesuitische und deutsch-lutherische Metaphysik des 17. Jahrhunderts, S. 44 fl. In iibros X I I Metaphysicos Aristotelis Commentarius, ed. a Μ. J. P. Felwinger, Jena 1657, p. 246 (Lib. IV, cap. 3): „Praeterea notandum est, hoc principium non esse mere negativum, sed partim negativum, partim affirmativum. Namque quod dicitur, .Impossibile esse, ut id, quod est, simul non sit', aequipollet affirmant! huic: JNfecessarium esse, ut id, quod est, sit'. Rursum quod dicitur, ,Impossibile esse, ut non ens sit', aequipollet illi: ,Necessarium esse, ut non ens non sit'."

Vom „Widerspruchsprinzip": Exkurs

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Das erste Prinzip hat demnach die Identität des Seins mit sich selbst und die des Nichtseins mit sich selbst zu garantieren. Als weiterer, von Leibniz unabhängiger Zeuge für die Auslegung des überlieferten Widerspruchsprinzips mit Hilfe des Identitätsprinzip sei John Locke zitiert, der im IV. Buch seines „Essay concerning Human Understanding", im V I I . Kapitel („Of Maxims"), Nr. 4 über die obersten Grundsätze handelt, die nach ihm lauten: „Whatsoever is, is" und „It is impossible for the same thing to be, and not to be". Den ersteren versteht Locke als Affirmation der allgemeinen Seinsidee von dieser selbst 154 , den letzteren als Verneinung, Unterscheidung der Idee des Seins von der des Nichtseins 155. Die zwei Grundsätze sind für Locke Formeln für die Identität und die Andersheit 156 . Auch hier wird also das überlieferte Widerspruchsprinzip" ausgelegt als Garant des Andersseins von Α und non-A, nicht als Verbot von gleichzeitiger Affirmation und Negation desselben Prädikats in Bezug auf irgendein Subjekt. Bei G. W. Leibniz sind die beiden Widerspruchsbegriife nicht klar unterschieden. Auf die Bestimmung des Widerspruchsprinzips im Bereich der Urteile läßt Leibniz Beispiele folgen, die nur den Begriff des Widerspruchs im Sinne der Andersheit illustrieren 157 . Hat man aber zur Kenntnis genommen, daß schon mehrere Scholastiker vor Leibniz das Widerspruchsprinzip als Verbot der Gleichsetzung von Α und non-A verstehen, wird man nicht mehr — wie Sigwart — sagen, bei Leibniz lasse sich der Übergang der einen Fassung in die andere deutlich sehen158. Und wenn in der Schulphilosophie zwischen Leibniz und Kant die beiden Widerspruchsbegriffe ohne

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„ . . . whether the general idea of being be affirmed of itself, as in this proposition, ,Whatsoever is, is'; or a more particular idea be affirmed of itself, as, ,Α man is a man', or ,Whatsoever is white, is white'." 155 „ . . . or whether the idea of being in general be denied of not being, whidi is the only (if I may so call it) idea different from it, as in this other proposition, ,It is impossible for the same thing to be, and not to be' . . — Locke's Absicht, nachzuweisen, daß die Einsicht in diese Grundsätze der allgemeinsten Ideen des Seins und des Nichtseins nicht bedürfe, kann in unserem Zusammenhang hier übergangen werden. 156 „These two general maxims, amounting to no more, in short, but this, that ,the same is the same', and ,same is not different', are truths known in more particular instances, as well as in these general maxims, . . . " 157 ζ. B. in Nouveaux Essais, Buch IV, Kap. 2, § 1. — Vgl. die Darstellung Sigwarts in: Logik, 4. durchges. Aufl., bes. v. Η. Maier, Bd. 1, Tübingen 1 9 1 1 , S. 195, Anmerkung. 158 Sigwart behauptet zwar nicht, daß erst bei Leibniz die neue Fassung auftauche — er gesteht, diesen Zeitpunkt nicht zu wissen —, meint aber doch, daß insbesondere mit Leibniz und Kant die Widerspruchslehre der „Späteren" angefangen habe.

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Vom Seienden und vom Einen

klare Unterscheidung nebeneinanderstehen, setzt sich damit nur eine ältere Tradition fort — nicht erst ein Gedanke Leibnizens159. Es ist freilich nicht zu verkennen, daß in der Zeit Kants die Auffassung des Widerspruchsprinzips als Andersheitsprinzips die Oberhand bekommt. Auch Denker, die vielleicht noch von Kant unabhängig sind, mögen dazu beigetragen haben160, auf jeden Fall aber Kant (wie den einschlägigen Texten späterer Autoren zu entnehmen ist). Kant bezeichnet das im Sinne der Andersheit verstandene Widerspruchsprinzip und das Identitätsprinzip gerne mit einem Terminus·. „Satz des Widerspruchs und der Identität (principium contradictionis und identitatis)"161 oder bloß „principium identitatis"162; bisweilen behält er auch die überlieferte Termini bei. Wichtiger aber ist, daß er ganz unmißverständlich und unübersehbar den Widerspruch als Widerspruch zwischen dem Prädikat und dem Subjekt desselben Satzes, 159 Ich verweise nur auf ein paar Denker: Während Chr. Wolff (und noch mancher seiner Anhänger: z.B. F. Chr. Baumeister) als die Prinzipien der Ersten Philosophie das Prinzip des Widerspruchs im Sinne des zwischen Urteilen zu vermeidenden Widerspruchs und das Prinzip des zureichenden Grundes hinstellt und dabei glaubt, den Begriff des Möglichen (possibile) und den des Seienden im allgemeinen durch das Freisein von einem solchen Widerspruch definieren zu müssen, stellt A. G. Baumgarten neben das Widerspruchsprinzip (Metaphysica, § 7) das „principium positionis seu identitatis" (Met. § 11: „Omne possibile A est A, seu, quicquid est, illud est, seu, omne subjectum est praedicatum sui") und legt so die Interpretation des Widerspruchsprinzips von diesem Identitätsprinzip her nahe; Josef Frantz zählt in seinem Lehrbuch der Metaphysik für Kaiser Josef II. (herausgegeben v. Thomas M. Wehofer, Paderborn 1895) unter den „veritates generales, quae claram ideam Entis comitantur" neben dem Identitätsprinzip („Quodvis Ens est id, quod est") drei Grundsätze auf, die nur als verschiedene Formulierungen des Widerspruchsprinzips im Sinne des Andersheitsprinzips betrachtet werden können: „Quodvis Ens non est aliud ab eo, quod est;" „Quodvis Ens non est id, quod non est;" „Idem Ens nequit simul esse et non esse". 160 z.B. ].G.E.Maaß, Grundriß der Logik, Halle 1793, S. 8—10, § 11: „Grundsatz: A, welches nicht Α wäre, ist Nichts. Anmerkung: Wenn A , welches nicht Α wäre, gesetzt wird, so heißt das ein Widerspruch; und der aufgestellte Grundsatz wird der Satz des Widerspruchs genannt. § 12 ... Zusatz: Der Satz des Widerspruchs drückt das schlechterdings erste Gesetz des Denkens aus . . . § 13. Grundsatz: Α ist A ; und was nicht Α ist, das ist nicht A . Anmerkung: Dieser Grundsatz, welcher der Satz der Einerleiheit (principium identitatis) genannt wird, kann audi aus § 11 hergeleitet werden. Α ist A; denn widrigenfalls wäre es A, welches nicht Α wäre; gegen § n . " 161 I. Kants Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, (zuerst) hrsg. v. G. B. Jäsche, 3. Auflage, neu hrsg. v. W. Kinkel, Leipzig 1904, S. 58. 162 Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio, 1755, (Kant's Ges. Sehr., Bd. I, Berlin 1910, S. 388—91) s.I.: De prineipio contradictionis, Prop. II: Veritatum omnium bina sunt prineipia absolute prima, alterum veritatum affirmantium, nempe propositio: quicquid est, est, alterum veritatum negantium, nempe propositio: quicquid non est, non est. Quae ambo simul vocantur communiter principium identitatis . . . " .

Vom „Widerspmchsprinzipe: Exkurs

nicht zwischen dem Prädikat des einen Urteils und dem eines anderen Urteils (mit identischem Subjekt) definiert und daß er den Satz vom Widerspruch (principium contradictionis) als Verbot eines "Widerspruchs innerhalb eines Urteils, zwischen Subjekt und Prädikat auffaßt 163 . — Gebietet so das Widerspruchsprinzip die Wahrung der Identität zwischen Subjekt und Prädikat, garantiert es so die rein formale Identität, Eindeutigkeit eines jeden Denkinhalts, so kann es dort als einziges, oberstes Denkprinzip, als Wahrheitsgrund mißverstanden werden, wo man — wie im Platonismus — isolierte Wesensinhalte durch eine Ideenschau gegeben wähnte und alles Denken nur in einem Analysieren der Wesensinhalte gemäß dem Widerspruchsprinzip aufgehen lassen wollte. Kant erkennt den Vorrang der Synthese vor dem der Analyse an. So behält für ihn das Widerspruchsprinzip nur im Bereich der Begriffsanalyse, der analytischen Urteile, den obersten Rang und die Stellung eines hinreichenden Wahrheitskriteriums m . Auch Kants Zurückweisung jener Formel des „Widerspruchsprinzips", die die Zeitverhältnisse berücksichtigt, die „durch die Bedingung der Zeit afficirt" ist, setzt voraus, daß dieses Prinzip den Widerspruch zwischen Subjekt und Prädikat verbietet (d. h. auch: daß es verbietet die Verbindung von Sichausschließendem: von Α und non-A), während jene Formel den Widerspruch zwischen Urteilen verbietet: zwischen Urteilen, die demsel-

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I.Kants Vorlesungen über die Metaphysik. Zum Druck befördert v. d. Hersg. d. Kantischen Vorlesungen über die phil. Religionslehre . . . Erfurt 1821 (Nachdruck d. Wiss. Buchges. Darmstadt 1964), S. 23—24: „Das Principium contradictionis heißt: nulli subiecto competit praedicatum ipsi (von mir hervorgehoben) oppositum. Diesem Principio wird subordiniert oder coordiniert das Principium identitatis. Dieses heißt: omni subiecto competit praedicatum ipsi (von mir hervorgehoben) identicum. — . . . Der Satz oder das Principium der Identität gilt ebenso von den bejahenden Sätzen, wie der Satz der Contradiction von den verneinenden Sätzen gilt. Im Grunde kann man diese beiden Principia als eins betrachten; denn wenn ich das eine setze, so folgt aus diesem audi schon das andere. Das Principium identitatis ist schon in dem Principio contradictionis mit begriffen." — Kr. d. r. V., Akademie—Ausg. Band 3, Berlin 1911, S. 141—143: „ . . . Der Satz nun: Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm (von mir hervorgehoben) widerspricht, heißt der Satz des Widerspruchs . . Kant's Vorlesungen . . . , S. 23: „Alle analytischen Urteile müssen vom Principio contradictionis abgeleitet werden. . . . " — Kr. d. r. V., S. 141—43: „ . . . Denn wenn das Urteil analytisch ist, . . . so muß dessen Wahrheit jederzeit nach dem Satze des Widerspruchs hinreichend können erkannt werden. Denn von dem, was in der Erkenntnis des Objekts schon als Begriff liegt und gedacht wird, wird das Widerspiel jederzeit richtig verneint, der Begriff selber aber notwendig von ihm bejaht werden müssen, darum weil das Gegenteil desselben dem Objekte widersprechen würde. Daher müssen wir audi den Satz des Widerspruchs als das allgemeine und völlig hinreichende Principium aller analytischen Erkenntnis gelten lassen; . .

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ben Gegenstand zur selben Zeit entgegengesetzte, sich widersprechende Bestimmungen beilegen könnten165. Der kantischen Auffassung vom Widerspruchsprinzip schließen sich an Kants Schüler L. H. Jakob166 und W. T. Krug167. Für die weit verbreitete Auffassung des Widerspruchsprinzips im Sinne der Andersheit ließen sich noch viele Beispiele anführen. Dieser Widerspruchsbegriff liegt zugrunde in J.G. Ficbtes „Satz des Gegensetzens" ( — Α nicht = A)168 und ist Hegel bekannt169 und Logikern wie A. D. Ch. Τwesten m, H. Ulrici171 und Hermann Loize172. 165

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Kr. d. r. V., Akademie-Ausgabe, S. 142—143: „ . . . Der Mißverstand kommt bloß daher: daß man ein Prädicat eines Dinges zuvörderst von dem Begriffe desselben absondert und nachher sein Gegenteil mit diesem Prädicate verknüpft, welches niemals einen Widerspruch mit dem Subjecte, sondern nur mit dessen Prädicate, welches mit jenem synthetisch verbunden worden, abgibt und zwar nur dann, wenn das erste und zweite Prädicat zu gleicher Zeit gesetzt werden. . . . " Grundriß der allgemeinen Logik, Halle 1788, S. 28—29; § 46—48. ζ. B. System der theoretischen Philosophie, I. Teil: Denklehre, 4. verb. u. verm. Aufl., Königsberg 1825, § 18, S. 44—51. Krug formuliert dieses Prinzip allerdings etwas um („Setze nichts Widersprechendes, sondern nur Einstimmiges!") und gibt ihm noch einen anderen Namen: „Grundsatz der Setzung (principium positionis, άρχή της θέσεως)". Doch sagt er dazu in der Anmerkung: „Das Prinzip der These hängt mit dem Prinzipe der Identität notwendig zusammen. Da nämlich A = A ist, so kann Α nicht auch = Nicht-A sein. . . . Man kann daher das Prinzip der These erstlich auch so ausdrücken: Keinem Dinge kommen widersprechende Merkmale zu, und es in dieser Hinsicht den Satz des Widerstreits oder Widerspruchs (principium repugnantiae s. contradictionis) nennen, wiewohl dieser Ausdrude nicht eben passend ist, da ja durch jenen Satz der Widerstreit nicht gesetzt, sondern vielmehr dessen Entfernung aus dem Begriffe eines jeden Diges gefordert wird. Man sollte also lieber Satz des Nicht-Widerspruchs sagen . . . Der Satz des Widerstreits oder Widerspruchs also . . . ist offenbar nichts anders als das in ein Prinzip der These verwandelte Prinzip der Identität, wodurch die Setzung des Widersprechenden als unstatthaft dargestellt wird. Denn Α ist nur darum nicht Nicht-A, weil Α = A ist, . . . " . — Nicht zu folgen vermag ich Krug, wenn er die in der Wölfischen Ontologie überlieferte und von ihm kritisierte Formel („Fieri non potest, ut idem simul sit et non sit") in Aristoteles, Met. I V 3, die kantische (von ihm verteidigte) Formel dagegen in Cat. cap. 6 (6 a 4: ουδέν Sua τά έναντία έπιδέχεται) zu finden glaubt. J.G.Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Teil I, § 2 (Leipzig 1794). G . W . F. Hegel, Wissenschaft der Logik, II. Teil; hrsg. v. G. Lasson, Leipzig 1948, S. 3 1 : „Der andere Ausdruck des Satzes der Identität: Α kann nicht zugleich Α und Nicht-A sein, hat negative Form; er heißt der Satz des Widerspruchs." A. D. Ch. Twesten, Die Logik, insbesondere die Analytik, Schleswig 1825, S. 16: „Das Gesetz der Identität (principium identitatis) drücken wir am einfachsten in der Formel aus: Α ist A; das Gesetz des Widerspruchs (principium contradictionis; genauer, des zu vermeidenden Widerspruchs,) in der Formel: Α ist nidht Nicht-A." H. Ulrici, Das Grundprinzip der Philosophie . . . , I I . Teil: Speculative Grundlegung des Systems der Philosophie . . . Leipzig 1846, S. 30—31: „Der Satz des Widerspruchs ist in ähnlicher Art die Kehrseite des Satzes der Identität, wie die Denkunmöglichkeit nur die Kehrseite oder das Correlatum der Denknotwendigkeit ist. Weil es schlechthin notwendig ist, das Gedachte auch als Gedachtes und damit als

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Genannt zu werden verdienen noch zwei andere Denker des 19. Jahrhunderts: Chr. H. Weiße und I. H. Fichte. Weiße verficht besonders scharf die Einerleiheit von „Widerspruchsprinzip" und Identitätsprinzip und meint, auch in dem von Aristoteles behandelten unbedingten Prinzip nur das Identitätsprinzip entdecken zu können173. — I. H. Fichte vertritt ebenfalls die Meinung, es gebe Anzeichen dafür, daß Aristoteles das Identitätsprinzip mit dem „Widerspruchsprinzip" gleichgesetzt habe 174 .

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sich selber gleich zu denken, ist es schlechthin unmöglich, das Gedachte als nicht Gedachtes und somit als sich selber ungleich, d. h. als nicht das, als was es gedacht wird, zu denken. . . H. Lotze, Logik, Leipzig 1874, S. 76: „ . . . Durdi die Formel Α = Α drücken wir dies erste Denkgesetz, den Grundsatz oder das Princip der Identität bejahend aus; die verneinende Formel Α nicht = N o n A bezeichnet es als Princip des Widerspruchs gegen jeden Versuch, Α = Β zu setzen." — ds., Grundzüge der Logik und Enzyklopädie der Philosophie, Auflage, Leipzig 1912, S. 25: „Die übliche Form des Satzes: Α = Α' (Satz der Identität) und die negative: Α nicht = N o n A ' (Satz des Widerspruchs) drücken beide diese einfache Wahrheit aus, daß jeder denkbare Inhalt sich selbst gleich und verschieden von jedem anderen sei". Chr. H. Weiße, Uber die philosophische Bedeutung des logischen Grundsatzes der Identität, in: Zeitschr. f. Phil. u. spek. Theol., hrsg. v. I. H. Fichte, IV. Band, Bonn 1839, S. 1—29; bes. S. 1—2: „ . . . Zuvörderst bemerke ich, daß ich unter dem »Grundsätze der Identität' denselben und keinen anderen verstehe, den die Logiker gemeiniglich als ,Satz des Widerspruchs' zu bezeichnen pflegen. Die Einerleiheit beider Sätze hat mit Recht Kant in seiner Logik ausdrücklich ausgesprochen, nachdem er zuvor in der .Kritik der reinen Vernunft* sich zwar nur des negativen Ausdrucks bedient, aber indem er ihn als .obersten Grundsatz aller analytischen Urteile' bezeichnete, deutlich zu verstehen gegeben hatte, wie er sich nicht einfallen ließ, daß es neben dem ,S. d. W.' noch einen davon verschiedenen ,S. d. I.' geben könne. Die Trennung beider angeblichen Sätze, die sich freilich auch jetzt noch durch die im alten Stil bearbeiteten Logiken fortschleppt, ist ursprünglich nichts, als ein schlechter Einfall Baumgarten's, welcher in der hölzernen Manier der Wolff'schen Schule die Verschiedenheit des Ausdrucks für eine Verschiedenheit des Seins nahm. Weil die Alten sich aus Gründen, die sich uns bald von selbst ergeben werden, vorzugsweise des negativen Ausdrucks zu bedienen pflegten, meinte man, sie hätten den positiven gar nicht gekannt, und freute sich desselben als einer neuen Entdeckung . . . " — Nach dem auf S. 9—11 von Weiße Gesagten zieht Aristoteles den Satz der Identität aus der Umhüllung der Ideenlehre, in die ihn sein Vorgänger hineingebildet hatte, hervor und macht ihn in seiner Allgemeinheit ausdrücklich zum Prinzip des wissenschaftlichen Erkennens. Durch dieses Prinzip allein werde ein Festhalten der Allgemeinbegrifie und ein Bestimmen oder Definieren derselben möglich. De principiorum contradictionis, identitatis, exclusii tertii in logicis dignitate et ordine dissertatio, Bonn 1840; s. bes. S. 5—7: „ . . . Iam enim ab Aristotele, praeeunte Piatone, comprobatur, esse aliquid, quod per se certissimum demonstratione neque egeat, neque eam admittat, idque in eo versari, ut res unaquaeque et notio ab omni parte secum congruere dobeat, neque sibi contrarium continere possit. Quibus verbis simul iudicat Aristoteles, se identitatis principium vere pro uno eodemque habere cum contradictionis praecepto, quod quam verum sit deinde demonstrabimus . .

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Gewiß ließen sich noch viele andere Denker nennen, die das Widerspruchsprinzip ebenso ausgelegt haben; aber auch Gegner dieser Auslegung können angeführt werden: ζ. B. Fr. Ueberweg175 und der oben schon zitierte Chr. Sigwart176. Ueberweg und Sigwart sind auch der Auffassung, auch Aristoteles habe mit dem in Met. IV behandelten Prinzip nur jenes Prinzip gemeint, das den Widerspruch zwischen zwei Urteilen verbietet. Ihnen kann jedoch wiederum die Lehrmeinung bekannter Vertreter der Neuscholastik entgegengehalten werden, die ebenfalls das Widerspruchsprinzip lediglich für eine negative Formulierung des Identitätsprinzips halten und die dies ζ. T. auch von den auf Aristoteles zurückgehenden Formulierungen dieses Prinzips sagen. Es sei hier nur verwiesen auf die Abschnitte über die Prinzipien in den Lehrbüchern der Erkenntnistheorie bzw. der Ontologie von Constantin GutberietΏ1, Albert Stöckl178, Josef Gredtl79, J. Donat180 und L. de Raeymaeker181. 175 176 177

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Fr. Ueberweg, System der L o g i k , . . . 3. verm. u. verb. Aufl., Bonn 1868, S. 186—204. Chr. Sigwart, Logik, 4. Aufl. Tübingen 1914, § 23, S. 191—202. C. Gutberiet, Allgemeine Metaphysik, 4. verm. u. verb. Aufl., Münster 1906 (1. Aufl. 1879), S. 39: „Da das Sein der höchste aller Begriffe ist, so müssen auch die Prinzipien, welche nichts Bestimmteres als das Sein (und dessen Negation) in sich enthalten, nicht bloß die höchsten der Ontologie, sondern schlechthin die allgemeinsten und letzten sein. Es sind aber drei Sätze, welche aus der Betrachtung des Seins sich immittelbar ergeben: i° Das Prinzip der Identität: Was ist, ist; 20 das des Widerspruchs: Dasselbe kann nicht zugleich sein und nicht sein; 30 Alles ist entweder oder ist nicht: Prinzip des ausgeschlossenen Dritten . . . Das Erste, was der Verstand bei der Betrachtung des Seins wahrnimmt, ist, daß es i s t . . . . In derselben Weise denken und urteilen wir auch vom Nichtsein, daß es nicht ist, d.h. daß es nicht anders, nicht Sein sein kann. Aus beiden Urteilen setzt sich das Prinzip des Widerspruchs zusammen: Dasselbe kann nicht zugleich sein und nicht sein. Möglicherweise kommt der Geist auch durch unmittelbare Vergleichung des Seins mit dem Nichtsein zur Erkenntnis, daß das Sein nicht Nichtsein ist und nicht sein kann, womit dann das Prinzip des Widerspruchs unmittelbar gegeben ist." A. Stöckl, Grundzüge der Philosophie, Mainz 1892, S. 62: „Das erste Denkgesetz, das Gesetz der Identität und des Widerspruchs tritt, wie der Name schon anzeigt, in einer doppelten Form auf, in positiver und in negativer Form, a) In seiner positiven Form wird es in folgender Formel ausgedrückt: A est A (Idem est idem). . . b) In seiner negativen Form dagegen lautet es folgendermaßen: A non est non A (Idem nequit simul ac sub eodem respectu esse et non esse idem). . . Elementa philosophiae Aristotelico-Thomisticae, Vol. II: Metaphysica/Ethica, Ed. quinta em., Freiburg (Br.) 1929, p. 31—32: „Principium contradictionis est principium, quod formulatur ex comparatione entis cum non-ente et enuntiatur: Ens non est nonens; idem sub eodem respectu non potest simul esse et non esse. . . . (Prolatur:) . . . Principium, quod immediate habetur ex comparatione entis cumnon-ente, est principium, quod immediate sequitur conceptum entis; conceptus enim non entis immediate sequitur conceptum entis; quare iudicium, quod ex comparatione horum conceptuum formulatur, est iudicium seu principium, quod immediate sequitur conceptum entis. Atqui principium contradictionis est principium, quod habetur immediate ex comparatione entis cum non-ente; acquisito enim conceptu

Vom „Widerspruchsprinzip": Exkurs

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In auffallender Weise wird von diesen Denkern die überlieferte (meistens lateinische) Übersetzung des in Mt. I V 3 formulierten Prinzips mit dem Prinzip der Identität und der Nichtidentität (von Sein und Nichtsein bzw. von ens und non-ens) gleichgesetzt. W i e ist dies zu erklären? Von Kant und dessen Schülern dürften diese Vertreter der Neuscholastik dabei wohl kaum beeinflußt gewesen sein. Eher könnten Beziehungen zur Wölfischen Schulphilosophie angenommen werden. Aber dort findet sich jene Gleichsetzung nicht in solcher Bestimmtheit ausgesprochen. So bleibt nur die Annahme, daß diese Denker, die sich die Pflege der aristotelisch-thomistischen Philosophie zur Aufgabe gemacht haben, auch in der Auffassung vom „Widerspruchsprinzip" Exponenten einer Tradition sind, die weiter zurückreicht als bis zu Kant oder Leibniz. So dürfte es schwer werden, an der Meinung Sigwarts (s. Anm. 1 4 2 ) festzuhalten, wonach erst die spätere Logik, insbesondere Leibniz und Kant, für das Widerspruchsprinzip die Formel „A ist nicht non-A" aufgestellt hätten. Wir haben all diese Denker an uns vorbeiziehen lassen, weil sie in ihrer Systematik das oberste Prinzip, meistens „principium contradictionis", „Widerspruchsprinzip" genannt, dem Verhältnis von Sein und Nichtsein, genauer besehen: dem von Identität und Nicht-Identität, zuordnen (oder doch wenigstens dem Verhältnis zwischen den wesentlichen und außerwesentlichen Bestimmungsstücken). Besondere Beachtung verdienen dabei diejenigen Denker, die im allgemeinen bestrebt sind, mit der Philosophie

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entis et non-entis, intellectus statim percipit habitudinem oppositionis seu contradictionis, quae viget inter ens et non-ens, ac proinde iudicat ens non posse esse non ens, quod est principium contradictionis . . Summa philosophiae christianae, II., Critica, Ed. oct., Innsbruck 1937, p. 157: „Principium contradictionis enuntiari solet: quod est, non potest non esse, vel: idem non potest simul esse et non esse. (Simile est principium identitatis: quod est, est. Sed nihil dicit, quod non clarius et fortius principio contradictionis enuntietur.)" — Summa phil. christ., III., Ontologia, Ed. oct. emend., Innsbruck 1935, p. 35—37: „Principium contradictionis hoc est: ens non potest esse non-ens, seu: quod est, non potest non esse; vel, si logice exprimitur: nequit de eodem affirmatio et negatio vera esse. Plerumque cum Aristotele longiore hac formula enuntiatur: idem non potest simul esse et non esse, ut exprimatur, ens sub eodem respectu, sub quo est, et tamdiu, quamdiu est, non posse esse oppositum . . Metaphysica generalis, Tom. I, Ed. altera . . . recog., Löwen 1935, p. 98—100: „I. Principium identitatis. Formula sequens est: ,ens est ens', seu ,quod est, est', ,quod non est, non est', ,non-ens non est' . . . II. Principium contradictionis (vel melius non contradictionis). Formula sequens est: ,ens non est non-ens', vel ,idem non potest simul esse et non-esse', vel ,ηοη est simul affirmare et negate'. Mentis nostrae est lex, quod objectum alteri oppositum melius cognoscitur. Etiam entis notionem a non-ente distinguendo ratio clarius perspicit. Quare formula principium identitatis terminis positivis enuntiante (quod est, est) et formula idem negativis terminis enuntiante (quod non est, non est) collatis, principium contradictionis enuntiatur: ,quod est, non est quod non est' . .

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des Aristoteles in Übereinstimmung zu bleiben, vor allem aber die, welche zum Ausdruck bringen, Aristoteles selbst habe auch das oberste Prinzip so verstanden. Diese Aufzählung kann mithelfen, Bedenken gegen die von uns oben vorgelegte Interpretation von IV 3—7 aufzuheben. Auch durch das Studium anderer άντίφασις-Stellen des CA sollten derartige Bedenken ausgeräumt werden. Wenn wir unsere Auslegung des unbedingten Prinzips im Sinne des (negativ formulierten) Identitätsprinzips als gesichert betrachten, so halten wir es auch für entschieden, daß dieses Prinzip den Begriff desjenigen Einen, das dem Seienden als solchem notwendigerweise zukommt, expliziert. Als solche Explikation des transzendentalen Einen gehört es dann selbst zum transzendentalen Bereich und sagt, nachdem an seiner Charakterisierung als Denkprinzip nicht mehr gezweifelt werden kann, etwas sehr Wichtiges über das Seiende als solches: Das Seiende steht notwendigerweise unter der Denkform der Identität mit sich selbst. Es steht noch nicht unter einer Erkenntnisform: daher kann es noch nicht den Bestimmtheitsgrad eines Artwesens haben, noch weniger den eines real existierenden Individuums182; es hat also weder den Rang einer „Zweiten Substanz" noch den einer „Ersten Substanz". Mithin können Substanzen, und zwar auch individuelle, real existierende „Erste Substanzen", nicht eher, nicht mit mehr Recht für seiend gehalten werden als anhaftende Qualitäten oder Bezogenheiten. Nicht erst durch die Vermittlung der „Ersten Substanzen" sind Eigenschaften seiend in dem Sinne des Seienden als Seienden, weil letzteres auch noch jenseits dieses Gegensatzes (Substanz-Akzidens) liegt. So schließt sich unsere Auslegung des unbedingten Prinzips im Sinne des Identitätsprinzips (IV 3—4) zusammen mit der Auffassung der Lehre vom Seienden als Seiendem und vom Einen (IV 2): die von jenem Prinzip gestiftete Identität mit sich selbst kann nur dem Etwas überhaupt, nur dem Seienden bloß als Seiendem zukommen — nicht dem Seienden als Substanz; als das mit sich identische ist das Seiende gedacht als das Eine im transzendentalen Sinne, als das mit sich selbst Eine, nicht als ein sich selbst gegenüber Verschiedenes. Nicht nur die in IV 2 nur vage vorgetragene These vom transzendentalen, mit dem Seienden als Seiendem konvertiblen Einen ist von der Lehre vom unbedingten Prinzip her verständlich zu machen, sondern auch die von den akademischen Prinzipienpaaren „Eines — Mannig182 Wollte man z.B. eine bestimmte Biene nur „als Seiendes" betrachten, müßte man von allen inhaltlichen Bestimmtheiten absehen, die diese Biene zu dieser Biene, ja sdion zu einer Biene, auch schon zu einem Insekt, sogar schon zu einem Tier usw., zu einem real Existierenden usw. machen; das Ergebnis dieses Abstraktionsganges wäre dasselbe, wie wenn man ζ. B. einen Berg oder Baum nur „als Seiendes" betrachtete.

Die Lehre im übrigen CA

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faltiges" bzw. „Identität — Andersheit". Die Lehre vom Seienden als Seiendem ist in Met. I V verbunden mit der spätplatonischen bzw. akademischen Prinzipien-, Gegensatztheorie, jedoch nicht mit der — sonst als aristotelisch bekannten — Vorstellung von einem Vorrang der Substanzen vor den Eigenschaften. Diese Punkte gilt es festzuhalten, wenn wir nun an die Auslegung der anderen Stellen des CA gehen, die ebenfalls von einem mit dem Seienden konvertiblen Einen handeln oder wenigstens Anspielungen auf eine solche Lehre enthalten. Sollte sich herausstellen, daß die Position von Met. IV im übrigen CA nicht uneingeschränkt als eigene Position vertreten wird, so sollte dies noch nicht von vornherein als ein Argument gegen die oben vorgelegte Interpretation von Met. IV gewertet werden, sondern es sollte stattdessen geprüft werden, ob nicht auch noch andere Differenzen zwischen jenen Stellen und Met. IV bestehen. Vielleicht wird man nicht umhinkönnen, diesem Buch I V der „Metaphysik" eine Sonderstellung im CA einzuräumen (s. Anhang I). IV. D i e L e h r e v o m S e i e n d e n u n d v o m E i n e n i m übrigen CA Nach der so ausführlichen Behandlung der in Met. IV 1 — 2 dargelegten Lehre vom Seienden als Seiendem, genauer: vom „Wissen" des Seienden als Seienden, und der Auffassung vom Verhältnis des Seienden zum Einen, und nach der Untersuchung über das in IV 3—7 behandelte unbedingte Prinzip, das sich als eine Explikation des mit dem Seienden notwendigerweise verbundenen Einen erwies, können wir nun darangehen, auch die anderen Stellen des CA zu studieren, die ebenfalls das Verhältnis zwischen dem Seienden und dem Einen zum Gegenstand haben. Gemeint sind damit zunächst alle die Stellen, die ausdrücklich von einer Wechselbeziehung (oder gar von einem Identitätsverhältnis) zwischen dem Seienden und dem Einen sprechen, dann aber auch diejenigen, die das Eine dem Seienden in irgendeiner Hinsicht gleichstellen (nicht: gleichsetzen), und schließlich auch die Stellen, die dem Einen den Rang eines Prinzips für alles Seiende zuerkennen oder wenigstens von einer derartigen Lehrmeinung als von einer fremden berichten. Vorneweg läßt sich sagen, daß sich solche Stellen nur in der „Topik" (einschließlich der Schrift „Von den sophistischen Trugschlüssen"), in der „Physik" und in der „Metaphysik" finden lassen. In dieser Reihenfolge und unter Respektierung der überlieferten Ordnung der „Bücher" der „Metaphysik" sollen nun die einschlägigen Stellen durchgegangen werden. Ein Vergleich der hierbei gewonnenen Ergebnisse mit den beim Studium von Met. IV erzielten wird jedesmal nebenbei erfolgen.

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T o p i k . — In der „Topik" wird dreimal über dieses Verhältnis gesprochen, und zwar im IV. Buch, das sich mit dem Genus-Spezies-Verhältnis beschäftigt. — Ein Charakteristikum des Genus-Spezies-Verhältnisses besteht darin, daß die als Spezies auftretenden Bestimmtheiten an ihrem Genus teilhaben, jedoch nicht umgekehrt das Genus an den Spezies, d. h.: die Gattungsbestimmtheit ist in den Artbestimmtheiten enthalten, nicht umgekehrt (IV i , i 2 i a ί ο — 1 4 ) . Es ist also beim Aufsuchen eines Gattungsbegriffes zu prüfen, ob dieser nicht an einer seiner Arten teilhat (a 1 4 — 1 6 ) . So würde sich, wenn einer ζ. B. auch noch für das Seiende und das Eine eine Gattung ansetzte, ergeben, daß die Gattung an der Art teilhätte; denn das Seiende und das Eine würden von allen Seienden prädiziert, so daß auch ihre Bestimmtheit in allen anderen Bestimmtheiten enthalten sei183. Das würde also bedeuten, daß auch die jenseits des Seienden und des Einen angesetzte Gattung am Seienden und am Einen teilhaben würde. Daraus soll gefolgert werden, daß jenseits des Seienden und des Einen keine Gattung mehr angesetzt werden kann, daß das Seiende und das Eine keine Arten sein können. Über das zwischen dem Seienden und dem Einen waltende Verhältnis läßt sich daraus nichts entnehmen, wohl aber über die Verhältnisse zwischen diesen beiden (allumfassenden) Bestimmtheiten einerseits und allem sonstigen Seienden andererseits: diese beiden Bestimmtheiten, d. h. das Wesen (λόγος) des Seienden und des Einen, sind demnach in allen anderen Bestimmtheiten, im Wesen eines jeden beliebigen Seienden als Teilinhalte enthalten. Der Interpret muß es offenlassen, ob das Seiende und das Eine hier überhaupt für zwei wohlunterschiedene Bestimmtheiten gehalten werden, kann aber darüber keine Zweifel hegen, daß hier das Seiende und das Eine als eine oder zwei oberste Gattungen betrachtet werden, wenn deren Wesen in allen anderen Wesen wiederkehren soll (bzw. sollen). Eine solche Verwechslung der Transzendentalien mit obersten Gattungen, mit Kategorien darf als ein Zeichen dafür gewertet werden, daß diese Stelle der platonisch-akademischen Lehre vom Seienden und Einen und auch der in Met. I V 2 erhaltenen Konzeption ziemlich nahesteht. Die zweite Stelle findet sich ebenfalls noch in Topik I V 1. Sie bringt die These, daß von zwei Bestimmtheiten, die gleichen Umfang haben, d. h. von gleichvielen und denselben Fällen prädiziert werden können, nicht die eine die Gattung der anderen sein könne, und exemplifiziert diese These an den Bestimmtheiten, die jeglichem Seienden zukommen, näherhin: am Seienden und am Einen. Da das Seiende und das Eine einem jeglichen Seienden zukommen, also den gleichen Umfang haben, kann keines von beiden die Gat183

121 a 1 6 — 1 9 : οίον εί τις τοϋ δντος ή τοϋ ένός γένος τ ι άποδοίη· συμβήσεται γαρ μετέχειν τό γένος τοΰ είδους· κατά π ά ν τ ω ν γάρ τ ω ν όντων τό ον και τό §ν κατηγορείται, ωστε καΐ ό λόγος αυτών.

Topik

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tung des anderen sein m . — Auch hier ist über das Verhältnis zwischen dem Seienden und dem Einen nicht viel gesagt: es ist nur negativ charakterisiert durch die Abhebung vom Gattungs-Art-Verhältnis; gegenüber jeglichem beliebigen Seienden sind jenes Seiende und Eine gleichgestellt: sie „folgen" jeglichem Seienden, d. h. sie sind in jeglichem Seienden enthalten, sie sind eine Bedingung für jegliches Seiende. Daß sie dies im Sinne von obersten Gattungen seien, kann dieser Stelle nicht mit Sicherheit entnommen werden. An der dritten Stelle (IV 6, 127 a 26—38) werden die Versuche abgewehrt, eine von den alles Seiende begleitenden Bestimmtheiten als die Gattung der anderen (a 26—34) oder als eine spezifische Differenz einer anderen zu betrachten (a 34—38). Auf ersteres könnte jemand verfallen mit der Begründung, daß diese Bestimmtheiten von allem anderen Seienden prädiziert würden; so werde ζ. B. „das Seiende" von allem prädiziert und müßte so Gattung von allem sein, während ein jegliches beliebige Seiende eine Art von ihm wäre. Auch das Eine wäre dann eine Art des Seienden. Doch würde sich daraus ergeben, daß auch die Art (d. i. hier: das Eine) von all dem prädiziert würde, von dem die Gattung prädiziert werde, da ja das Seiende und das Eine schlechthin von allem prädiziert werden können. Es sei jedoch notwendig, daß die Art einen geringeren Umfang (als die Gattung) habe l85. Der Schluß ist so zu Ende zu führen: also kann das Eine nicht eine Art des Seienden sein, und auch keine andere der alles Seiende begleitenden Bestimmtheiten ist einer anderen derartigen Bestimmtheit als Art untergeordnet. — Viel ist auch aus dieser Stelle nicht zu gewinnen. Es wird zwar festgehalten an einer Gruppe von Bestimmtheiten, die alles Seiende begleiten, aber von dem Verhältnis (bzw. den Verhältnissen) zwischen den einzelnen Gliedern dieser Gruppe wird wiederum nur gesagt, was es nicht ist (bzw. sie nicht sind): es ist nicht das zwischen Gattung und Art. Welches Verhältnis liegt dann vor, wenn doch — wie es hier wenigstens den Anschein hat — diese Bestimmtheiten voneinander ebenso prädiziert werden wie von jedem beliebigen Dies-oder-Jenes-Seienden? Oder ist es vielleicht falsch, eine dieser Bestimmtheiten von einer anderen, ζ. B. das Seiende vom Einen, zu prädizieren? Für den Autor unserer Stelle dürfte Unklarheit bezüglich des Verhältnisses zwischen jenen transzendentalen Bestimmtheiten geherrscht ha184

185

1 2 1 b 4 — 8 : πάλιν εί έπ' ίσων τό εΐδος και τό γένος λέγεται, οίον εΐ των πασιν έπομένων τό μέν είδος και τό γένος τεθείη; καθάπερ τό δν και τό ?ν· παντί γάρ τό δν και τό £ν· ωστ' οΰδέτερον ουδετέρου γένος, επειδή έπ' ίσων λέγεται. 127 3 — 3 4 : · · · εί οδν τό δν γένος άποδέδοκε, δήλον δτι πάντων δν εΐη γένος, έπειδή κατηγορείται α υ τ ώ ν κατ' ούδενός γάρ τό γένος άλλ' ή των είδών κατηγορείται. ώστε και τό εν είδος αν εΐη τοϋ οντος. συμβαίνει ουν κατά πάντων ών τό γένος κατηγορείται και τό είδος κατηγορεΐσθαι, έπειδή τό δν καΐ τό Εν κατά πάντων άπλώς κατηγορείται, δέον έπ' ^λαττον τό είδος κατηγορεΐσθαι.

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ben, die ζ. T. wenigstens schon in einer Unklarheit bezüglich der Funktion der Transzendentalien gegenüber allem Dies-oder-Jenes-Seienden begründet war. Denn über diese Funktion wird hier nichts angedeutet — es sei denn dies, daß die transzendentalen, alles Seiende begleitenden Bestimmtheiten von allem Seienden prädiziert werden. Darunter ist vielleicht zu verstehen, daß sie die obersten Gattungen für alles andere Seiende sind. Ausgeschlossen ist letzteres jedenfalls noch nicht mit dem Ausschluß des Gattungs-Art-Verhältnisses für den Bereich der transzendentalen Bestimmtheiten. Die Unsicherheit des Aristoteles in der Frage, wie nun die Verhältnisse der Transzendentalien zueinander positiv zu bestimmen wären, offenbart auch die Stelle aus dem letzten Buch der „Topik", d. i. aus der Schrift „Über die sophistischen Trugschlüsse". Demnach ist es schwierig, Bestimmtheiten wie das Seiende, das Eine und die Identität auseinanderzuhalten186. Das Eingeständnis dieser Schwierigkeiten erinnert an eine Parenthese in Met. IV 2 (1003 b 25—26) und an so manchen Hinweis auf Versuche in der Akademie, das Seiende mit dem Einen völlig gleichzusetzen. Die Position der „Topik" (und der Schrift „Über die sophistischen Trugschlüsse") in der Transzendentalienlehre läßt sich so zusammenfassen: a) Es wird festgehalten am Ansatz von transzendentalen Bestimmungen; b) die Beziehungen zwischen diesen transzendentalen Bestimmtheiten decken sich auf keinen Fall mit dem Gattungs-Art-Verhältnis, eher noch mit dem puren Identitätsverhältnis; c) die Funktion der transzendentalen Bestimmtheiten für das Dies-oderJenes-Seiende wird am ehesten noch als die einer obersten Gattung betrachtet. Vergleicht man diese Position mit der von Met. IV, so läßt sich mindestens eine Verträglichkeit der beiden miteinander feststellen187. P h y s . I. — Die „Physik" ist eine Theorie desjenigen Seienden, das durch Prozeßhaftigkeit bestimmt ist; sie untersucht daher die Prinzipien, Kategorien dieses Gegenstandsbereichs. Als eine solche Kategorienlehre kann sie natürlich nicht zugleich auch noch eine Theorie von kategorienjenseitigen, für alles Seiende — also auch für die prozeßfreien mathematischen Gegenstände — geltenden Prinzipien sein. Aristoteles grenzt in dieser Schrift auch nirgends die vorgelegte Kategorienlehre ausdrücklich von einer Theorie der 186

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Soph. El. 7 , 1 6 9 a 24/25: ενια γάρ ούκ εΰπορον διελεΐν, οίον τό §ν και τό δν καΐ τό ταύτόν . . . Sollte es Texte im C A geben, die eine soldhe Verträglichkeit nicht mehr erkennen lassen, •würde dies bedeuten, daß Met. I V und die „Topik" (wenigstens Buch IV) ungefähr zu gleicher Zeit entstanden sein könnten; da die „Topik" meistens für ein frühes Werk des Aristoteles gehalten wird, dürfte dann auch Met. I V als eine frühe Arbeit des Aristoteles betrachtet werden.

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den Kategorien vorausgehenden transzendentalen Prinzipien ab. Er spricht gewiß einmal (I 2, 185 a 1 — 3 ) von einer „anderen Wissenschaft", von einer allen Einzelwissenschaften gemeinsamen, die auch die Prinzipien dieser Einzelwissenschaften noch zu vintersuchen habe, und wenigstens zweimal spricht er von der Ersten Philosophie, die das Formprinzip (I 9, 19 2 a 35/36: ή κατά τό είδος αρχή) bzw. das von Materie unabhängige Wesen (II 2, 194 u 1 4 / 1 5 : τό χωριστόν και, τι έστι) zum Gegenstand habe. Jede dieser Formeln kann man mit transzendentalen Prinzipien in Verbindung bringen. Doch ist es schwer, eine solche Verbindung zu begründen. Mit diesem Eingeständnis könnte man sich in diesem Zusammenhang begnügen: es wäre also gegenüber dem aus Met. I V Erarbeiteten nichts zu gewinnen, aber auch nicht zu verlieren — wenn diese Schrift nicht eine Auseinandersetzung mit der Lehre der Eleaten enthielte! Diese Auseinandersetzung (I 2, 184 b 25 — 187 a 11) verdient nicht nur deswegen Beachtung, weil darin einmal (185 b 6) die Vieldeutigkeit des Terminus ,das Eine selbst' neben die des Terminus ,das Seiende' gestellt wird (was eventuell auf das Zugrundeliegen der Konvertibilitätsthese bezüglich des Seienden und des Einen schließen ließe), sondern viel mehr noch deswegen, weil sie mit der Ablehnung einer den Eleaten zugeschriebenen Alleinheitsthese eventuell zugleich auch die These von der Konvertibilität des Seienden und des Einen zurückweist. Aristoteles stellt an den Anfang seiner Kritik der eleatischen Lehre die These von der Vieldeutigkeit des Terminus „das Seiende"188 und fragt von da her, in welchem Sinne die Vertreter der Alleinheitsthese 189 vom Sein (des Alls) sprachen: ob sie meinten, das A l l bestehe nur als Substanz oder nur als quantitative Bestimmtheit oder nur als qualitative Bestimmtheit. Falls sie meinten, es sei Substanz: soll es dann ein Mensch sein oder ein Pferd oder eine Seele? Oder ist es eine Qualität wie „weiß" oder „warm" oder eine andere? In jedem Falle ergebe sich Unmögliches: sei das Seiende nämlich Substanz und Qualität und Quantität — ob nun isoliert voneinander oder nicht — , dann sei es schon eine Mannigfaltigkeit; sei es aber eine Qualität oder eine Quantität — wobei dahingestellt bleiben soll, ob es auch noch eine Substanz gebe — , dann behaupte man Ungereimtes, ja Unmögliches, da kein anderes (d. h. nichtsubstantielles) Seiendes losgelöst von der Substanz bestehen könne (a 22—32). Zur Position des Melissos, das Seiende sei „άπειρον" meint Aristoteles, dafür sei vorausgesetzt, daß es ein Quantum sei; und dafür wiederum, daß es Substanz sei; damit aber sei das Seiende schon wieder eine Zweiheit, nicht mehr eine Einheit (a 32 — b 5).

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185 a 21: π ο λ λ α χ ώ ς λέγεται τό δν.

189

ol λέγοντες είναι §ν τά πάντα.

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Bezüglich der aristotelischen Kritik erhebt sich die Frage: Kann die These der Eleaten nur so ausgelegt werden, wie sie von Aristoteles verstanden wird, nämlich so, daß das dabei behauptete Einessein des Seienden ein Vorkommen in der Einzahl bedeute? Konnte das Einessein von den Eleaten nicht im transzendentalen Sinne gemeint gewesen sein? Hätte Aristoteles bei seiner Auseinandersetzung diese Frage nicht stellen müssen? Die Unterlassung dieser Frage läßt bezweifeln, ob der diese Auseinandersetzung betreibende Aristoteles sich über den Unterschied von transzendentaler und kategorialer Einheit im klaren war. Diese Zweifel werden noch genährt durch die undifferenzierte Art und Weise, mit der er der Eleatenthese seine eigene von der Vieldeutigkeit des Terminus „das Seiende" gegenüberstellt. Der von ihm — zu Recht oder zu Unrecht — den Eleaten nachgesagten Auffassung, das Seiende sei der Zahl nach eines und damit auch nur mit einem einzigen Prädikat bestimmbar, setzt er entgegen die eigene Auffassung, wonach das Seiende immer schon in eine Mannigfaltigkeit von Bedeutungen, Prädikaten, Kategorien auseinandergelegt sei. Er unterläßt es dabei, das allen Kategorien vorausliegende Seiende als solches zu berücksichtigen, es auch nur zu erwähnen. Er deutet nicht im geringsten an, daß sein Hinweis auf die kategoriale Mannigfaltigkeit fehl am Platz sein würde, falls die Eleatenthese dies transzendentale Einessein des Seienden als solchen im Auge haben sollte. Denn das transzendentale Eine und eine Mannigfaltigkeit von Kategorien schließen sich nicht gegenseitig aus. Für den Fall, daß die Eleaten mit ihrer These das transzendentale Einessein des Seienden als solchen (d. h. das Identischsein des Seienden als Seienden mit sich selbst) zum Ausdruck hatten bringen wollen, war das Dagegensetzen der Vieldeutigkeitsthese unangebracht. Daß Parmenides viel eher an das transzendentale als an das kategoriale Einssein gedacht haben dürfte, läßt sich allerdings nur mit Wahrscheinlichkeitsargumenten dartun, wie ζ. B. mit dem Hinweis, daß Parmenides nur von einem gedachten Seienden sprechen wollte, oder mit dem Gedanken, daß die These vom numerischen Einssein des Seienden so unsinnig ist, daß man sie kaum dem so viel gerühmten Parmenides aus Elea zutrauen kann. Sollten die Eleaten aber nun doch wirklich das Seiende als ein numerisch Eines und damit zugleich auch als eine einzige Kategorie ausgegeben haben, dann käme der Widerlegungsversuch des Aristoteles noch schlechter weg, weil er dann darauf hinausliefe, den Eleaten erst einmal das Zugeständnis des Gegenteils, nämlich der Vieldeutigkeitsthese, abzuringen, dann ihnen zuzumuten, sich auf eine unter mehreren angebotenen Kategorien festzulegen, um sich so widerlegen zu lassen. Wenn die Alleinheitsthese der Eleaten wirklich als eine Beschränkung des Seienden auf eine einzige Kategorie verstanden werden müßte, kann nicht so gegen sie argumentiert werden, wie es von Aristoteles hier geschieht, weil dies eine petitio principii bedeuten

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würde. Die eventuellen Vertreter einer solchen Alleinheitslehre würden ein jegliches positiv Andere leugnen und nicht einräumen, daß das eine (einzige) von ihnen in Ansatz gebrachte Seiende durch seine Identität (mit sich selbst) allein und ohne jeglichen Bezug auf ein positiv Anderes, ohne Unterscheidung von einem positiv Anderen, bereits ein bestimmter Inhalt sein kann, daß es höchstens alle Inhalte ungeschieden, zugleich wäre: d. h. daß es nichts wäre. Sie müßten daher in ähnlicher Weise widerlegt werden wie die Gegner des unbedingten Prinzips in Met. IV 4: sie müßten sich, wenn sie ernstgenommen werden wollen, bereitfinden, wenigstens ein Wort zu sagen oder sonst ein Zeichen zu geben mit dem Anspruch, daß dieses Wort oder Zeichen eine Bedeutung, einen bestimmten Inhalt haben soll. Sodann müßte der Widerlegende gemeinsam mit dem Gegner auf die logischen Prinzipien eines jeden bestimmten Inhalts reflektieren. Es müßte angestrebt werden, den Gegner davon zu überzeugen, daß der von ihm angezeigte, gemeinte Inhalt dieser bestimmte Inhalt nur sein kann, weil er nicht bloß einer (im transzendentalen Sinne), identisch mit sich selbst ist, sondern zugleich auch unterschieden ist von einem ebenso positiv bestimmten Anderen (auch wenn dieses mit einem negativen Terminus bezeichnet sein mag), ja von einer unendlichen Mannigfaltigkeit anderer Inhalte. Die Position des Melissos versucht Aristoteles zu widerlegen, indem er voraussetzt, daß das άπειρον dabei bereits das quantitativ Unbegrenzte sei, statt es zunächst einmal als das kategorial noch Unbestimmte, erst zu Bestimmende zu denken. So hat er es leicht, die einem solchen άπειρον zu Grunde liegende Kategorie der Quantität und weiterhin die auch noch für die Quantität vorausgesetzte der Substanz vorzurücken und auf diese Weise schon auf eine Zweiheit des Seienden zu kommen, die er gegen das von Melissos behauptete Einssein des Seienden ausspielen zu können glaubt. Aristoteles versucht die eleatische Lehre vom Einssein des Seienden nicht nur mit der These von der Vieldeutigkeit des Terminus „das Seiende", sondern auch mit der von der Vieldeutigkeit des Terminus „das Eine selbst" (185 b 5—7) zu widerlegen190. Demnach sei das Eine entweder das Zusammenhängende (τό συνεχές) oder das Unteilbare (to άδιαίρετον) oder das (trotz Namensverschiedenheit) im Wesensbegriff Übereinstimmende (ών ο λόγος ό αυτός και εις . . .) (b 7—9)· Als kontinuierlich Zusammenhängendes sei es Vieles, weil es als solches ins Unendliche teilbar sei (b 9 — 1 1 ) . Als Unteilbares könne es weder quantitativ noch qualitativ bestimmt sein, ja nicht einmal unbegrenzt (άπειρον) oder endlich (πεπερασμένον) sein (b 1 6 — 1 9 ) . 190

Aristoteles sagt an dieser Stelle jedoch nicht — wie in Met. X 2 — , daß „das Eine" genau ebensoviele Bedeutungen (ίσαχώς λέγεται) habe wie das Seiende; er ordnet hier nicht jeder Seinskategorie eine bestimmte Bedeutung des Terminus „das Eine" zu. Dieser Unterschied zu Met. X 2 ist zu beachten, um die Besonderheit der Position von Met. X 2 nicht zu übersehen. S. dazu unten S. 336 ff.

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Wenn das Eine (und damit zugleich auch das Seiende) das im Wesensbegriii Ubereinstimmende sei, dann ergebe sich daraus die Position des Heraklei tos, wonach das Wesen des Guten identisch sei mit dem des Nicht-Guten, auch das des Menschen mit dem des Pferdes, das des Qualitativen mit dem des Quantitativen (überhaupt von allem mit allem), so daß die These der Eleaten nicht mehr das Einssein von allem Seienden zum Inhalt hätte, sondern das Nichtssein (b 19—25). Deckt sich eine der drei aufgezählten Bedeutungen des Terminus „das Eine" mit dem transzendentalen Einen? Gewiß nicht die erste, wenn dadurch das Eine als Kontinuum bereits in die Kategorie der Quantität oder in die der Qualität verwiesen wird und seine Teil£wkeit (in quantitativer Hinsicht) oder DifferenzierWkeit (in qualitativer Hinsicht) mit dem wirklichen Geteiltsein oder Differenziertsein in eine quantitative Mannigfaltigkeit von Teilen oder Unterarten ineins gesetzt wird. Auch die zweite Bedeutung, d. i. die des Unteilbaren, kann nicht die des transzendentalen Einen sein, weil das Unteilbare191 im Gegensatz steht zum Teilbaren und als solches — zusammen mit dem Teilbaren — ein Konstituens von Zahlen und Größen ist: also den kategorialen Bereich nicht übersteigt. Was schließlich die dritte Bedeutung, nämlich die Übereinstimmung im Wesensbegriff, betrifft, so handelt es sich dabei um eine Einheit, um eine Übereinstimmung zwischen wenigstens zwei oder auch mehr Größen, die von einem anderen Grunde her auch unterschieden sind. Die Auslegung der eleatischen Lehre vom Einssein des Seienden mit Hilfe dieses Einheitsbegriffs muß zu der unsinnigen Vorstellung führen, daß das Seiende, von dem die Eleaten das Einssein prädizieren, auch zunächst als ein in sich wohlunterschiedenes Mannigfaltiges gegeben sei, daß dann aber durch die Prädikation des Einen die bestehenden Unterschiede verwischt und das Mannigfaltige zu einem unterschiedslosen Einerlei gemacht würde. Ob den Eleaten eine derartig unsinnige Vorstellung nachgesagt werden kann, soll hier nicht weiter untersucht werden. Wichtig ist hier nur die Feststellung: Auch mit dieser dritten Bedeutung des Terminus „das Eine" konnte und wollte Aristoteles nicht das transzendentale Eine meinen, weil dem transzendentalen Einen kein in sich unterschiedenes und gegliedertes Mannigfaltiges vorausgehen kann, und zwar deswegen nicht, weil jegliche Differenzierung des Mannigfaltigen immer schon Kategorien verdankt ist, das Eine aber den Kategorien vorausgeht. — Keine der drei von Aristoteles aufgezählten Bedeutungen des Terminus „das Eine" deckt sich also mit dem transzendentalen Einen. Dies muß nachdenklich stimmen; denn es ist recht unwahrscheinlich, daß es Aristoteles bei sei191

Es kann hier nur das „Unteilbare" gemeint sein, nicht das Ungeteilte (was grammatikalisch durchaus möglich wäre), da sonst diese Bedeutung nicht unterschieden wäre von der ersteren, d. i. vom Kontinuum.

Met. I

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ner Auseinandersetzung mit der eleatischen Einheitsthese unterlassen haben würde, das von den Eleaten gemeinte „Eine" zu vergleichen mit dem transzendentalen Einen (oder eventuell mit einem für eine höchste Gattung gehaltenen Einen), wenn er zu dieser Zeit eine Theorie vom transzendentalen Einen gehabt, anerkannt hätte. — Auch im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung mit der Position des Parmenides (3, 186 a 22 ff.) wird der Begriff des transzendentalen Einen nicht ins Spiel gebracht. Es wird wieder nur der parmenideischen Einheitsthese die eigene Vieldeutigkeitsthese entgegengesetzt (186 a 24—25). Der unzutreffende Vergleich des Seienden mit dem, was als „weiß" bezeichnet werden kann (186 a 25—32), führt zu der irrigen Meinung, als zerfalle das Seiende als Seiendes ebenso wie das Seiende als "Weißes immer schon in Substanzen und in Eigenschaften; es wird nicht dabei bedacht, daß das Kategorienpaar „Substanz—Eigenschaft" zwar der Bestimmtheit „weiß" — nicht aber dem kategorienjenseitigen Seienden als Seienden vorausliegen kann. Auch die Gleichsetzung des Seienden mit dem wesenhaften Seienden (τό οπερ δν) und des Einen mit dem wesenhaften Einen (τό οπερ εν) und die daraus sich ergebende Ineinssetzung mit dem schlechthin Nichtseienden (186 a 32 — b 12) wird nur herbeigeführt durch die Vorwegnahme des Kategorienpaares „Substanz—Eigenschaft". — So sucht man also in dieser Auseinandersetzung des Aristoteles mit der eleatischen These vom Einssein des Seienden vergeblich nach einer Spur von anerkannter Transzendentalienlehre; es wird von Aristoteles dabei immer nur mit Begriffen von Kategorien operiert. Werden sich dieser „Physik"-Partie weitere Partien der „Metaphysik" anreihen lassen, die ebenfalls die Lehre von der Konvertibilität des Seienden und des Einen ignorieren, obwohl man, wenn man von Met. IV herkommt, mit ihr darin rechnet? Met. I. — Nach einer Aufzählung verschiedener Erkenntnisstufen in Kapitel 1 wird in Kapitel 2 über die σοφία gesprochen. Wir sind auf diesen σοφία-Begriff bereits oben S. 147 ff. eingegangen bei der Behandlung der Frage, ob in der aristotelischen „Metaphysik" Ontologie und Theologie unterschieden werden. Sofern diese σοφία charakterisiert ist als das allgemeinste Wissen und ihr das Allgemeinste, „irgendwie alles" als Gegenstand zugewiesen wird, ist mit ihrem Begriff die Lehre vom kategorienjenseitigen (also auch über quantitative Mannigfaltigkeit erhabenen) Seienden schlechthin und vom Einen immerhin verträglich. Wahrscheinlich war damit die Vorstellung verbunden, das Seiende und das Eine seien höchste Gattungen. Doch wider Erwarten werden dann zu Beginn von Kapitel 3 die bekannten vier Typen von Gründen (Formalgrund: ουσία, τό τί ήν είναι; Materialgrund: υλη, υποκείμενο ν; Prozeßquelle: ή αρχή της κινήσεως; Prozeßziel: τό ου ενεκα, τάγα-θόν) als Gegenstände der (gesuchten?) Wissenschaft hingestellt; zugleich wird auf die Behandlung dieser vier Gründetypen in der

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„Physik" verwiesen. Allein schon die Tatsache, daß diese vier Gründetypen I 4, 985 b 22) und vom Formalgrund, über den die Pythagoreer und Piaton auch in der „Physik" (Buch II) behandelt werden, läßt die Frage stellen, ob solche Gründe dann noch die Gründe des Seienden als Seienden sein können. Können sie nicht vielmehr Gründe nur für eine bestimmte Seinsgattung sein: nämlich für das Seiende, sofern es prozeßhaft ist? Kann die Wissenschaft von ihnen noch identisch sein mit der vom Seienden als Seienden? Es wird sich im weiteren Textverlauf dieses Buches (I.) eine Antwort auf diese Frage finden lassen. Zunächst skizziert Aristoteles die Vorgeschichte seiner Lehre vom Materialgrund (I 3, 983 b 6 — 984 a 16), vom Prozeßquell (I 3, 984 a 16 — einiges erarbeitet haben sollen (I 5 — 6 , 985 b 23 — 988 a 17). Das Kapitel 7 faßt zusammen: die früheren Denker kennen nur solche Typen von Gründen, welche zu den in der „Physik" behandelten gehören; der Typus „Prozeßziel" sei allerdings nur vage angedeutet: so würden ζ. B. gewisse Denker das Eine oder das Seiende zwar mit dem Guten gleichsetzen und dieses für einen Seinsgrund halten, es jedoch nicht als Ziel (οΰ ενεκα) definieren (I 7, 988 b 8—16). Das Kapitel 8 bringt dann eine Kritik der Gründelehre der Vorsokratiker, das lange Kapitel 9 eine Kritik der Ideenlehre Piatons und das kurze Kapitel 10 wiederum eine Zusammenfassung. — Wichtig für unseren Zusammenhang sind a) das Referat jener von Aristoteles in die Vorgeschichte der Lehre vom Formalgrund verwiesenen Lehrstücke der Pythagoreer und Piatons, die dem Einen eine Begründungsfunktion für alles Seiende zusprechen, weil dies eventuell eine Konvertibilität des Einen mit dem Seienden bedeuten könnte, und b) diejenigen Textstücke, die eine Kritik der pythagoreischen und platonischen (bzw. akademischen) Seinsbzw. Prinzipienlehre enthalten und daraufhin untersucht werden sollen, ob sie nicht zugleich auch die Seinslehre von Met. IV kritisieren oder gar ablehnen. Nach Aristoteles (Met. I 5) lehrten die Pythagoreer, daß in jedem Naturbereich die „Zahlen" das Erste seien, daß ihnen das Wirkliche nachgebildet sei und so die Elemente der „Zahlen" die Elemente alles Seienden seien (bes. 985 b 25—26; 986 a 1—2). Als Elemente der „Zahlen" wird das Gegensatzpaar „Gerade-Ungerade" genannt, das sich decken soll mit dem Gegensatzpaar „Begrenztes-Unbegrenztes". Aus dem „Geraden und Ungeraden" soll dasjenige εν entspringen, aus dem sich die „Zahl" aufbaue. — Diese Vorstellungen von den „Zahlen" kommen uns heute sonderbar vor. Dies hängt aber ζ. T. daran, daß wir uns durch Aristoteles zu sehr haben verleiten lassen, unter diesen pythagoreischen „Zahlen" rein Quantitatives zu verstehen und die Quantität für die erste oder gar einzige Kategorie der pythagoreischen Seinslehre zu halten.

Met. I

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Für die Pythagoreer hatten diese „Zahlen" vielleicht eine symbolische Bedeutung (etwa in Verbindung mit den Spekulationen über „figurierte Zahlen") oder vielleicht einen nicht-quantitativen Sinn, zumal von einer pythagoreischen Gegensatztafel berichtet wird (986 a 22—26), die neben dem Elementenpaar „Gerade-Ungerade" noch neun weitere Paare nennt, die keineswegs alle als Elemente von Quantitativem verstanden werden können. Unsere Quellen reichen wohl für eine befriedigende Erklärung dieses pythagoreischen terminus technicus „αριθμός" nicht aus. Es sei nur angedeutet, daß damit auch unsicher ist, ob die Elemente dieser „Zahlen" — unbeschadet ihrer mathematischen Namen — als Elemente von Quantitativem verstanden werden dürfen. Wie wichtig dies ist, zeigt sich erst, wenn man nun in Met. I 5 (987 a 1 3 — 1 9 ) auch noch liest, daß die Pythagoreer das ε ν selbst zu einem der beiden, nämlich zum positiven Gegensatzglied gemacht haben, daß sie dieses εν selbst, für sich, ohne Verbindung mit einem StofE, ohne daß es Anzahl von etwas wäre, als ουσία behandelt haben und daß sie die aus ihm und dem zweiten Prinzip, dem άπειρον, entspringende „Zahl" für die ουσία alles übrigen Seienden gehalten haben. Man wird also nicht vorschnell dieses als Prinzip fungierende εν als Zahl „Eins" auslegen dürfen. — Dies gilt noch mehr in Bezug auf die (I 6) Piaton zugeschriebene Prinzipienlehre. Vertraut man dem Bericht des Aristoteles 192 , so stimmt Piaton mit den Pythagoreern in drei Punkten überein: 1) Er setzt — wie diese — die Ideen oder „Zahlen" (s. nächste Anmerkung: 193) an als Gründe für alles übrige Seiende (ζ. B. 987 b 1 8 — 1 9 ; 2 4 — 2 5 ) ; — 2) auch für ihn sind daher die Elemente der Ideen bzw. der „Zahlen" zugleich die Elemente alles Seienden (ζ. B. 987 b 1820) — 3) auch nach ihm ist das eine der beiden fundamentalen Gegensatzglieder, nämlich das positive, das Eine (τό εν) (987 6 2θ bis 22); und dieses Eine ist selbst schon für sich genommen, also nicht erst sofern es noch etwa anderes ist, Wesen (ουσία) (b 22—24). Nach demselben Bericht weicht Piaton in zwei anderen Punkten von der pythagoreischen Lehre ab: 1) das andere, negative, der beiden fundamentalen Gegensatzglieder nennt Piaton nicht einfach „άπειρον", sondern „das-Große-und-dasKleine" (987 b 25—27); — 2) während die Pythagoreer die „Zahlen" mit dem Wirklichen selbst (αυτά τά πράγματα) gleichsetzen, stellt Platon das Eine (b 29) und die „Zahlen" (b 27; 29) neben das sinnlich Wahrnehmbare (b 27: παρά τά αισθητά) bzw. neben das Wirkliche (b 30: παρά τά πράγματα); die mathematischen Gegenstände bilden für Platon ein Zwischen192

Wenn Aristoteles diese Prinzipienlehre mit Recht Platon selbst (nicht etwa erst dessen Schülern Speusippos und Xenokrates) zuschreibt, dürfte er sich dabei auf die sog. esoterische Lehre Piatons beziehen; denn aus den erhaltenen Dialogen Piatons läßt sich eine solche Prinzipienlehre nicht vollständig entnehmen; doch finden sich in einigen Spätdialogen immerhin Andeutungen einer solchen Konzeption.

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reich zwischen den Ideen (bzw. „Zahlen")193 einerseits und dem sinnlich Wahrnehmbaren andererseits (b 14—18), während dies von den Pythagoreern nicht gelehrt wird (b 28—29). — Die Namen der beiden fundamentalen Gegensatzglieder lassen in diesen zwei Gliedern viel eher Prinzipien für mathematische, näherhin: für geometrische Gebilde vermuten als Prinzipien für alles Seiende. Vielleicht sollen sie letzteres nur vermittelterweise sein, indem sie Prinzipien der mathematischen Zahlen und erst diese wiederum Prinzipien alles übrigen Seienden sein 193

Zu entnehmen aus b 27—29. — Es mag ungewohnt sein, wenn in unserer Auslegung hier die „Zahlen" (oi άριθμοί) nicht mit den mathematischen Gegenständen (τά μαθηματικά), sondern mit den Ideen gleichgesetzt werden. Doch letztere Gleichsetzung ergibt sich aus dem Gebrauch von „ol άριθμοί" in 987 b 22; 24; 27; 29/30; denn an diesen Stellen könnte es genausogut durch „τά είδη" ersetzt werden; vgl. ζ. B.: b 24/25 mit b 18/19. Alexandras (53.6—11 und 56.2 ff.) und Asklepios (48.15—18) erklären diese Stellen durch die Gleichsetzung von άριθμοί, είδητικοί άριθμοί und ϊδέαι bzw. είδη. Wir werden daher in Anhang II („Über die sog. Idealzahlen") auf sie zurückkommen. Wir müssen hier freilich gestehen, daß die Textgestalt der zuerst genannten Stelle (987 b 22) umstritten ist. Uberliefert ist der Text (auch bei Alexandras) so: „έξ εκείνων (sc. τό ,μέγα και τό μικρόν) γαρ κατά μέθεξιν τοϋ ένός τά είδη είναι τους αριθμούς". Man erwog die Streichung von „τά είδη" (Zeller) oder von „τους αριθμούς" (Jaeger), aber auch die Ersetzung von „τους άριθμούς" durch „τά ώς άριθμούς" (Jackson) oder schließlidi durch „και τούς άριθμούς" (Ph. Merlan, „Aristotle, Met. A 6, 987 b 20—25 and Plotinus, Enn. V 4, 2, 8—9" in: Phronesis, Vol. IX, 1964, p. 45—47). Fur „καΐ τούς άριθμούς" kann sich Merlan auf Asklepios (48.14—18) berufen, und man muß einräumen, daß diese Lesart am wenigsten in den überlieferten Text eingreift. Doch gibt es Bedenken dagegen: Damit würden „die Ideen" und „die Zahlen" «efoweinander gestellt (die Zahlen wären demnach mathematische Zahlen) und sowohl für die Ideen wie auch für die Zahlen würde der Hervorgang aus dem fundamentalen Prinzipienpaar „das Eine — das Groß-Kleine" behauptet. Wie sollten sich aber die Ideen und die Zahlen dann noch unterscheiden? Und wie sollten die Zahlen, die dann doch zu den μαθηματικά gehören würden, nodi eine Zwisdienstellung zwischen den Ideen und den αίσθητά einnehmen können? Warum sollte hier auch auf den Ursprung der mathematischen Zahlen eingegangen werden, wo es lediglich darum geht, die Prinzipien für dasjenige anzugeben, das selbst wieder Grund für alles übrige Seiende sein soll und das von den Pythagoreern „Zahlen" und von Piaton „Ideen" (oder audi: „Zahlen"?) genannt wird? Schließlich darf noch auf einige Parallelstellen in Met. X I I I (6, 1080 b 6—8; 7, 1081 a 14—16) und X I V (1, 1087 b 7—9) verwiesen werden, wonach Piaton (bzw. seine Nachfolger) audi nur den Ursprung der „Zahlen" aus jenen Prinzipien gelehrt haben soll (bzw. sollen), besonders aber auf einen Bericht des Simplikios (In Arist. Phys. 503, 10—18, ed. Diels) über eine Stelle aus „Περί τάγαθοΰ": και έν τοις νοητοϊς τό έκεΐ μέγα και μικρόν, 8περ έστιν ή άόριστος δυάς, άρχή καΐ αύτή οίσα μετά τοΰ ένός παντός άριθμοΰ και πάντων των όντων άριθμοί καΐ αϊ Ιδέαι (abgedruckt in: Konrad Gaiser, Piatons ungeschriebene Lehre. Anhang: Testimonia Platonica, Quellentexte zur Schule und mündliche Lehre Piatons, Stuttgart 1963, S. 530). — Angesichts dieser Bedenken dürfte sich die Lesart Zellers (Streichung von „τά είδη") oder die von Jackson („τά ώς άριθμούς") eher empfehlen als die von Merlan im Änschluß an Asklepios vorgeschlagene (καί τούς άριθμούς).

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sollen. Wie sollten aber die mathematischen Zahlen dies leisten können? So bleibt noch die Annahme, die Terminologie oder deren Überlieferung durch Aristoteles sei nicht präzise: anstelle des kategorienjenseitigen ετερον sei hier bereits ein Konstituens für eine bestimmte kategoriale Ebene (nämlich das „Groß-Kleine") genannt worden (vielleicht erst von Aristoteles). Doch das positive Gegensatzglied, das Eine, braucht nicht als Zahl „Eins" ausgelegt werden; auch seine Charakterisierung als ουσία (ohne Verbindung mit einem anderen ύποκείμενον) muß nicht bedeuten, daß hier die Zahl „Eins", die wie alle Zahlen äußerst unselbständig zu sein scheint, verselbständigt, substanzialisiert wird, sondern kann eine gute Begründung haben: das allen Kategorien vorausgehende Eine kann noch gar nicht als Bestimmtheit (ζ. B. als Maß- oder als Ordnungsfaktor) an einem Material (wie Feuer oder Wasser o. ä.) auftreten, weil dieses immer schon durch Kategorien geformt wäre, sondern kann nur die einzige Form am Seienden als Seiendem und daher nicht schon ein „ετερόν τι" sein. Insofern würde die Auffassung vom Einen hier übereinstimmen mit der in Met. IV. Auch der Rückgang in den Seinsprinzipien auf ein einziges Paar 194 deckt sich mit einigen Partien in Met. I V 2 und ist vereinbar mit der Meinung, es gebe (in irgendeiner Weise) ein Wissen von allem Seienden, vom Seienden als Seiendem, weil das Wissen von jenem „ersten" Paar von Prinzipien für alles Seiende zugleich auch schon ein „Wissen" um alles Seiende (freilich immer nur sofern es seiend ist) sein würde. Es interessiert daher die Stellungnahme des Aristoteles: Wird er bei seiner Kritik der platonischen Ideenlehre in I 9 wenigstens den Ansatz von Prinzipien für das Seiende als Seiendes und den Gedanken eines „Wissens" von allem Seienden unangetastet lassen? Diese Fragen werden mit „Nein" zu beantworten sein. Nach vielen ζ. T. kaum verständlichen Argumenten gegen die Ideenlehre, wobei die als „Zahlen" bezeichneten Ideen meistens für mathematische Zahlen gehalten werden, bestreitet Aristoteles die Möglichkeit, das Eine selbst als Prinzip zu denken, mit dem Hinweis auf die Vieldeutigkeit des Terminus „εν" (992 a 6—10), kritisiert er die Versuche Piatons, auf die Kategorien der mathematischen Größen zu reflektieren (992 a 10—24), vermißt er bei der Aufzählung der Gründe für das sinnlich Wahrnehmbare die Nennung der Prozeßquelle und des Prozeßzieles, tadelt er die angebliche Trennung des Formalgrundes vom Begründeten und die allzu mathematische Charakterisierung des Materialgrundes; zudem sei das, was da als Materie ausgegeben werde, viel eher nur ein Paar von Eigenschaften an einer Substanz oder Materie (992 a 24—b 7). 194

Hierbei ist allerdings der im transzendentalen Wahrsein und im transzendentalen Gutsein bestehende Bezug des Seienden als Seienden auf ein Ich überhaupt nicht ausdrücklich gemacht.

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Nun weist er auch noch den Gedanken eines Wissens vom Seienden als Seiendem mit zwei Argumenten zurück: 1) Es sei unmöglich, die Prinzipien (στοιχεία) für das Seiende zu finden, wenn man nicht die verschiedenen Bedeutungen des Wortes „das Seiende" auseinanderhalte, und zwar gerade dann, wenn man diejenigen Prinzipien, Elemente suche, aus welchen das Seiende sei; denn das, woraus ζ. B. das Tun oder das Leiden oder auch das Geradesein sei, sei wohl kaum zu fassen, höchstens das, woraus die Substanzen seien; daher sei es unrichtig, die Prinzipien alles Seienden zu suchen oder zu glauben, man habe sie schon (992 b 18—24). — 2) Es erhebe sich die Frage, wie man die Prinzipien alles Seienden erkennen könne; denn es sei offensichtlich, daß in diesem Falle der Lernende unmöglich „vorher" schon irgend etwas wissen könne; wie aber der die Geometrie Studierende einiges andere schon „vorher" wissen könne, freilich nicht die Gegenstände ebendieser Wissenschaft und das, was er zu lernen sich vorgenommen habe, so verhalte es sich auch bei den anderen Wissenschaften. Daher dürfte, wenn es — wie einige behaupteten — eine bestimmte Wissenschaft von allem Seienden geben sollte, der sie Studierende wohl in keiner Weise „vorher" schon etwas wissen. Und doch komme alles Lernen aus einem „früheren" Wissen — sei es von allem, sei es von einem Teil. Sollten wir jedoch im Falle des „Wissens von allem Seienden" mit einem ursprünglichen (σύμφυτος) „Wissen" ausgestattet sein, so wäre es doch recht verwunderlich, daß wir im Besitz der besten (κρατίστη) Wissenschaft sein sollten, ohne etwas davon zu merken (992 b 24 — 993 a 2). Außerdem sei fraglich, was hier als Element gelten solle (a 2—7), und es würde sich ergeben, daß man in den Elementen von allem Seienden auch die von jeglichem Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren kennen würde, und zwar auch dann, wenn einem der betreffende Sinn abgehe — was doch unmöglich sei (993 a 7—10). Zu 1) Aristoteles stellt den platonischen Versuchen, die Prinzipien des Seienden zu erforschen, wieder seine These von der Vieldeutigkeit des Terminus „das Seiende" gegenüber und hält ein Eingehen auf die verschiedenen Bedeutungen bei der Erforschung der Prinzipien für unumgänglich. Was soll der Interpret dazu sagen? a) Hätte Aristoteles, als er diesen Passus schrieb, von der Unterscheidung zwischen dem kategorienjenseitigen Seienden als Seiendem und der in der Vieldeutigkeits these gemeinten Mannigfaltigkeit der Kategorien gewußt, dann hätte er nicht verlangt, bei der Erforschung der Prinzipien des Seienden (womit allerdings nur das Seiende als Seiendes gemeint sein kann) die Vieldeutigkeit des Terminus „das Seiende" zu beachten. — b) Nun, da er auf diese Vieldeutigkeit aufmerksam macht, bleibt zu fragen: Sollte etwa auch der Gedanke einer bloßen Namengleichheit zwischen manchen Bezeichnungen erwogen werden, nachdem das „πολλαχώς

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λέγεα-θαι" hier nicht eingeschränkt ist? Wenn ja, dann würde die Reflexion darauf immerhin zu folgender Einsicht führen: Der Gedanke einer puren Namengleichheit des Seienden widerspricht sich selbst, denn er setzt voraus, daß die angeblich total verschiedenen Bedeutungen bezogen bleiben auf einunddasselbe Wissen; als so gewußte unterliegen sie denselben, gemeinsamen Bedingungen; sie weisen also eine (freilich minimale) Gemeinsamkeit auf, die im Terminus „das Seiende als Seiendes" zum Ausdruck gebracht wird und durch die Vieldeutigkeitsthese nicht angetastet werden kann 195 . Es kann nicht bestritten werden, daß die Untersuchung der Prinzipien auch des so abstrakten Seienden immer noch eine Aufgabe ist, deren Berechtigung nicht einmal durch den Gedanken einer bloßen Namengleichheit von verschiedenen „Seienden" in Frage gestellt werden kann. — Dürfen wir dann annehmen, daß Aristoteles die Erwägung dieses Gedankens seinen Lesern (bzw. Hörern) gar nicht zumuten wollte, sondern es nur vergessen hat, den Bezug der verschiedenen Seinsbedeutungen auf ein erstes Seiendes hier eigens zu erwähnen? Der Fortgang des Textes spricht zwar für das letztere, doch ist dies bei Aristoteles nicht immer so: wenigstens in E E I 8, 1 2 1 7 b 33—35 führt die Vieldeutigkeitsthese zu dem Ergebnis, daß es vom Seienden (wie auch vom Guten) kein eine Einheit bildendes Wissen gebe 196. Nun, hier in Met. I 9 hat sich Aristoteles nicht so weit von der in Met. IV vertretenen Position entfernt: er scheint alles übrige Seiende als abhängig von den Substanzen anzusetzen, somit das Wissen von den Gründen des Seienden in erster Linie, zunächst und zuerst für ein Wissen von den Prinzipien der Substanzen zu halten und auf diese Weise dem Seinswissen seine Einheit retten zu wollen. Eine solche Abhängigkeit des übrigen Seienden von den Substanzen wird zwar im folgenden Satz nicht ausdrücklich behauptet, aber es wird doch immerhin von einem Vorzug der Substanzen gesprochen: nur in Bezug auf sie soll es möglich sein zu fragen, woraus, aus welchen Elementen das übrige Seiende besteht, jedoch nicht in Bezug auf das Tun oder auf das Erleiden oder auf das Geradesein. Es spricht einiges für die Meinung des Alexandros (128—129) und des Asklepios (108—109), daß Aristoteles diese Elemente (d. i. das Eine und das Groß-Kleine) gleichgesetzt hat mit dem, was er unter den Typen des Formal- und des Materialgrundes verstan195

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Wollte jemand freilich einwenden, dieses so abstrakte Gemeinsame wolle man mit der Vieldeutigkeitsthese auch garnicht in Frage stellen, sondern das Seiende, um welches es in dieser These gehe, sei etwas Bestimmteres, so müßte er zugeben, daß mit dem Zugeständnis jenes abstraktesten Gemeinsamen das angeblich bestimmtere Seiende das Gewicht verloren hat, von dem die Vieldeutigkeitsthese gerade ausgeht. E E I 8, 1 2 1 7 b 33—35: ωσπερ ουν ούδέ τό δν εν τί, έστι παρά τά ε'ιρημένα, ούτως ούδέ τό άγαθόν, ούδέ επιστήμη έσχΐ μία οΰτε τοϋ 8 ντο ς οΰτε τοΰ άγαθοΰ.

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den hat. Dies würde also bedeuten, daß Aristoteles hier sagen möchte, einen Formal- und einen Materialgrund haben nur die Substanzen; daher ist es unmöglich, solche Gründe für alles Seiende, für jegliches Seiende zu untersuchen oder gar zu glauben, diese schon zu kennen w . Man wird dies Aristoteles zugestehen müssen, wenn man ihm vorher zugestanden hat, α) die These von der Mannigfaltigkeit der Seinsbedeutungen, der Kategorien (die fragwürdige Substanz-Akzidens-Lehre miteingeschlossen), gegen den Gedanken vom kategorienjenseitigen Seienden als Seiendem auszuspielen und ß) die Prinzipien des Einen und des Groß-Kleinen, die auch eine transzendentale Deutung zulassen, im Sinne seiner (verdinglichenden) Auffassung vom Formal- und vom Materialgrund auszulegen. Die aristotelische Lehre von den vier Typen von Gründen macht es unmöglich, noch von Gründen für das Seiende als Seiendes zu sprechen. Die Diskrepanz zu Met. I V ι — 2 ist also nicht zu übersehen. Zu 2) Die Diskrepanz bleibt auch bestehen, wenn nun im zweiten Argument versucht wird, vom Erkennen der Prinzipien für alles Seiende auszugehen. Schon ein solches Gegenüberstellen von Erkennen und Seinsprinzipien ist äußerst problematisch (vgl. oben S . 2 1 4 — 2 1 6 die Auslegung von Met. I V 3). Das Wissen von allem Seienden (d. h. vom Seienden als Seiendem) wird von Aristoteles hier in Frage gestellt, weil das Erkennen, das Sichaneignen des Wissens von den Seinsprinzipien, auf unüberwindbare Hindernisse stoße. Es soll — wie jede andere Wissensaneignung — gebunden sein an ein „Vorherwissen"198. Wie ist dieses „Vorher-wissen" gemeint? Als ein zeitlich vorhergehendes Wissen? So kann es nicht gemeint sein, denn dieses vorhergehende Wissen soll nicht schon ein Wissen, eine Kenntnis des jeweils vorgenommenen, erst noch zu erforschenden Gegenstandes sein (992 b 2 7 — 2 8 ) ; es kann aber auch nicht ein Wissen von irgend etwas sein, das mit dem vorgenommenen Gegenstand gar nichts zu tun hat, weil sonst nicht einzusehen ist, warum es vor dem vorgenommenen Gegenstand bekannt sein soll199. An ein zeitliches Vorher (-Wissen) kann auch deswegen nicht gedacht sein, weil es doch keinen Zweifel daran geben kann, daß man 197

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Es ist audi nicht recht einzusehen, wie Aristoteles die Typen „Prozeßquell" und „Prozeßziel" als Typen von Gründen betrachten konnte, die alles Seiende bestimmen würden. Mit 992 b 30—33 ist zu vergleichen Anal. Post. I 1, 71 a 1 ff.; II 19, 99 b 28—30; E N V I 3, 1139 b 26 ff. Die Anspielung in 992 b 32—33 auf das Kennen der Definitionsstücke vor dem der Definition kann man nicht als eine befriedigende Erklärung des „Vorher-Wissens" gelten lassen, weil damit für alles Definieren ein regressus in infinitum gefordert würde, was Aristoteles gewiß ferne gelegen hat.

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vor (im zeitlichen Sinn) dem Inangriffnehmen der Erforschung der Seinsprinzipien sehr wohl schon einiges wissen kann. An die Stelle eines zeitlichen Vorher ist also ein logisches Vorher, ein Vorher im Sinne eines Besitzes von Erkenntnis&ei/mg«»ge« zu setzen (freilich nur von Erkenntnisbedingungen — nicht von bewußten Erkenntnissen). Als Besitz von „Er\znntwsbedingungen" aber bereitet das beispielsweise für das Geometriestudium geforderte „Vorher-Wissen" ebensoviel Verständnisschwierigkeiten wie auch dasjenige „Vorher-Wissen", das für die Erforschung der Seinsprinzipien unentbehrlich sein soll. Schon im Falle der Einzelwissenschaften muß das „Vorher-Wissen" als ein „ursprüngliches Wissen" (σύμφυτος επιστήμη) verstanden werden — wenn man nicht audi dort jegliche Wissenaneignung, jeglichen Erkenntnisfortschritt leugnen will. Ist aber hier einmal ein ursprüngliches Wissen zugestanden, kann es auch im Bezug auf die Erforschung der Seinsprinzipien nicht mehr in Frage gestellt werden. Doch meldet hier Aristoteles sein bekanntes Bedenken gegen die platonische Aprioritätslehre an: wenn wir dieses höchste „Wissen" besäßen, würden wir auch darum wissen, würden wir etwas davon merken (992 b 33 — 993 a 2; vgl. auch Anal. Post. I I 19, 99 b 26 ff.). Er versteht also dabei das „Vorher" im zeitlichen Sinne und damit auch das „Wissen" als ein explizites, volles Wissen, nicht als Besitz von bloßen Wissens Bedingungen. Er hatte richtig erkannt, daß ein Sichaneignen des Wissens von den Prinzipien alles Seienden ein Ausgehen von einem absoluten Nullpunkt bedeuten würde und daher ausgeschlossen ist. Den Ausweg, den sich Piaton mit seiner Anamnesislehre gesucht hatte200, wollte er (als Autor von Met. I 9) nicht beschreiten — obwohl er einer „Entmythologisierung" jener Lehre ziemlich nahe war (wie übrigens schon Piaton im „Theaitetos"). Die Gründe für dieses Zurückschrecken vor dem Aprioritätsgedanken sind hier nicht zu eruieren (vielleicht war die ihm bekannt gewordene Fassung der Anamnesislehre schuld daran). Hier sei nur aufmerksam gemacht auf den notwendigen Zusammenhang zwischen dem „Wissen" um die Prinzipien alles Seienden (um das Seiende als Seiendes) und der Apriorität der obersten Erkenntnisbedingungen (genauer wäre: De«£bedingungen) — d.h. auf der Ebene der Reflexion: auf den notwendigen Zusammenhang zwischen der Lehre vom Seienden als Seienden und dem Aprioritätsgedanken. Ferner muß festgehalten werden: Hier in Met. I 9 lehnt Aristoteles eine Wissenschaft von den Prinzipien alles Seienden, d. h. eine Wissenschaft vom Seienden als Seienden ζ. T. deswegen ab, weil er den dazu erforderlichen Aprioritätsgedanken ablehnen zu müssen glaubt; in Met. IV 3 dagegen wird das unbedingte Prinzip gerade als ein apriorischer Wissensbesitz charakterisiert. 200

Man erinnert sich an „Menon" 80 e — 81 e.

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Met. III. — Das Buch I I kann in diesem Zusammenhang übergangen werden, da es keine Äußerung über das Seiende und das Eine enthält201. Doch wichtig ist das Buch III. Hier werden vierzehn Aporien, Schwierigkeiten, diskutiert. Unter Auswertung von Meinungen früherer Denker wird das Für und das Wider dargelegt, jedoch kein Problem einer endgültigen Lösung zugeführt. Viele Interpreten sind der Meinung, daß in den folgenden Büchern der „Metaphysik" wenigstens einige dieser Probleme wieder aufgegriffen und dort zu einer positiven Entscheidung gebracht würden. Auch das Buch IV beantworte einige der aufgeworfenen Fragen. Diese Meinung läßt erwarten, daß das Buch I I I einiges sagt über das Seiende und über das Eine sowie über deren Verhältnis zueinander, aber auch zu jeglichem Seienden, ferner über das (eine Einheit bildende) Wissen um das Seiende und das Eine. Es soll nun nicht nur untersucht werden, ob sich diese Erwartung erfüllt, sondern darüberhinaus auch noch geprüft werden, ob das hier über die genannten Punkte Gesagte übereinstimmt mit dem in Buch IV Gelehrten. Die Notwendigkeit dieser Prüfung ist in der bisherigen Forschung vielleicht noch nicht gesehen worden, ergibt sich jedoch aus der Feststellung, daß einige Thesen, die in Buch I I I den Piatonikern zugeschrieben und — mehr oder weniger deutlich — abgelehnt werden, sich sehr eng berühren mit gewissen Positionen in Buch IV. Die Prüfung darf sich nicht beschränken auf das, was in Buch I I I über die genannten Punkte ausdrücklich gesagt wird, sondern hat auch auf die unausgesprochen den Problemstellungen zugrundeliegenden Voraussetzungen einzugehen, um die Grundtendenz des Buches herauszustellen zu können. Differiert diese Grundtendenz von der des Buches IV und setzt sich diese differierende Grundtendenz in den anderen Büchern der „Metaphysik" fort (Buch I ging dabei in etwa bereits voraus — wenigstens in seinem Kapitel 9), so erscheint die in Buch IV vorgelegte Seinslehre (ihrem Inhalt nach) als ein platonisch-akademisches Lehrstück (vielleicht aus der frühesten Lehr- oder Forschungszeit des Aristoteles), dessen Sonderstellung infolge der redaktionellen Verbindung mit den anderen Texten zur „Metaphysik" allzu leicht übersehen werden konnte, so daß sich die „Metaphysik"-Rezeption der Spätantike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit vor schwierigen Harmonisierungsaufgaben gestellt sah. Unter den in Met. I I I behandelten Aporien ist die elfte für unseren Zusammenhang am wichtigsten (übrigens auch nach der Meinung des Aristoteles), weil sie das Verhältnis des Seienden selbst und des Einen selbst zum übrigen Seienden zum Thema hat. Da aber auch vorher schon das Seiende 201

Sofern in Kapitel 2 die Lehre von den vier Gründen zugrundeliegt (es wird nachzuweisen versucht, daß der Rückgang auf keinen dieser vier ersten Gründe ein unendlicher sein könne), könnten eventuell Zweifel angemeldet werden, ob dieses Kapitel mit der in Met. I V vorgelegten Theorie vom Seienden und dessen Gründen verträglich ist.

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und das Eine ein paarmal erwähnt werden und auch gewisse unausgesprochene Voraussetzungen der Problemstellungen untersucht werden sollen, gehen wir alle Aporien nacheinander durch: 1. Aporie (III 1, 995 b 4 — 6 ; 2, 996 a 18 — b 26). Ist die Untersuchung aller Gattungen von Gründen Sache einer einzigen Wissenschaft oder von mehreren? Daß diese Untersuchung Sache einer einzigen Wissenschaft sei, wird angezweifelt mit zwei Argumenten: a) Die Gründe sind keine Gegensatzpaare (996 a 20—21). b) Vieles Seiende ist nicht von allen Typen von Grund (gemeint sind die vier bekannten) zugleich abhängig (996 a 22 ff.). Wenn freilich der Gesamtheit der Gründe mehrere Wissenschaften zuzuordnen seien, und zwar jedem Typus von Grund eine andere, erhebe sich die Frage, welche von diesen die gesuchte Wissenschaft sei (996 b iff.). Zu a). Dieses Argument widerspricht I V 2, 1004 b 27 ff. (s. oben Seite 191), wonach die Prinzipien für alles Seiende Gegensatzpaare sind. Zu b). Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen von Grund ist nur einem Wissen möglich, das zugleich auch um den Zusammenhang dieser Typen weiß. Und mag auch nicht für jedes bestimmte konkrete Seiende eine Abhängigkeit gemäß allen Typen von Grund angesetzt werden können, so ist doch immer noch alles Seiende in dem einheitlichen Wissen verbunden, das um sein Begründetsein weiß. Aller Differenzierung der Gründe und des Begründeten liegt ein eine Einheit ausmachendes Wissen um das Grundsein überhaupt und um das Begründetsein überhaupt zugrunde. Wer dies übersieht, sucht die Erste Philosophie freilich nicht mehr als die wirklich letztbegründende Wissenschaft, sondern als eine neben anderen, als die Wissenschaft von einem bestimmten Grund (oder Typus von Grund) neben anderen Wissenschaften von anderen Gründen (oder Typen von Gründen). Sofern Aristoteles hier das eine Grundwissen übersieht und eine unverbundene Mannigfaltigkeit von Wissenschaften von Gründen anzusetzen geneigt ist, kann er nicht die eine Wissenschaft vom Seienden als solchem und dessen Prinzipien vertreten. 2. Aporie (III 1, 995 b 6—10; 2, 996 b 26 — 997 a 15): Ist das Bedenken der ουσία und ihrer ersten Gründe einerseits und das Bedenken der „Beweisprinzipien" andererseits Sache einer einzigen Wissenschaft? Als Argumente gegen die Bejahung dieser Frage führt Aristoteles an: a) dann wäre die Erörterung der „Beweisprinzipien" nicht mehr Sache einer bestimmten Wissenschaft, weil kein Grund mehr dafür angeführt werden könnte, warum sie ζ. B. eher der Geometrie als irgendeiner anderen

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Wissenschaft zugewiesen werden müßte (996 b 33 ff.); — k) diese „Beweisprinzipien" seien ohnedies bekannt und — c) sie könnten nicht selbst wieder Gegenstand einer beweisenden Wissenschaft (αποδεικτική) sein, α) weil sonst für diese Wissenschaft (wie für jede andere beweisende Wissenschaft) wiederum Grundsätze (αξιώματα) vorausgesetzt werden müßten, aus denen sie ihre Beweise zu führen hätte und die nicht selbst erst wieder bewiesen werden müßten (so daß also erst diese Grundsätze den Rang echter, erster Beweisprinzipien einnähmen) und ß) weil die Beweisprinzipien als solcher Wissensgegenstand alle möglichen Beweisgegenstände (δεικνύμενα) zu einer einzigen Gattung vereinigen würden, da sie selbst von allen Wissenschaften als Beweisprinzipien verwendet würden (997 a 2 — 1 1 ) . — Für die Bejahung obiger Frage soll jedoch folgender Gedanke sprechen: Würde man die Beweisprinzipien und die ουσία zwei verschiedenen Wissenschaften zuordnen, erhöben sich die Fragen: a) Welche der beiden Wissenschaften hat den Vorrang gegenüber der anderen? — b) Welche Wissenschaft hätte dann die Beweisprinzipien, die doch Prinzipien von allem und die allgemeinsten seien, zu untersuchen, wenn dies nicht Sache der Philosophie sein würde (997 a 1 1 — 1 5 ) ? — Der Meinung vieler Interpreten, diese Aporie werde in IV 3 wieder aufgegriffen und gelöst, kann entgegengehalten werden, daß hier (in III 2) einander gegenübergestellt werden das Wissen von der ουσία und deren Gründen einerseits und das von den Beweisprinzipien andererseits — in IV 3 dagegen das Wissen von der ουσία allein und das von den Beweisprinzipien (genauer jedoch: Denkprinzipien), daß außerdem dort auch die hier gegen die Bejahung gemachten Einwände widerlegt werden müßten — was doch vom Einwand (b) gewiß nicht gesagt werden kann. Denn während hier Aristoteles sich scheut, diesen „Beweisprinzipien" eine gemeinsame Gattung von Prinzipiata zuzuordnen (trotz der Rede von der ουσία und trotz dem Zugeständnis von der Geltung dieser Prinzipien für alles), werden dort diese Prinzipien deutlich als solche des Seienden als Seienden charakterisiert. Es wäre ferner zu prüfen, ob die „Beweisprinzipien" (άποδεικτικαί άρχαί) in jeder Stelle von III 2 als ebenso allgemein angesetzt werden wie die sogenannten Axiome" in IV 3, nämlich als allgemein schlechthin, als ebenso allgemein wie das Seiende als Seiendes — oder ob damit nicht vielmehr die den Einzelwissenschaften spezifischen Beweisprinzipien gemeint sind2u2. Darüberhinaus erweckt die Formulierung der Aporie hier sogar den Verdacht, daß sie gerade eine gegen IV 3 gerichtete Position vorbereiten möchte; denn verständlich wird diese Formulierung (und auch die sich anschließende Dis202

Für letzteres spricht mindestens die Aufzählung der drei Beweisgrößen (γένος ύποκείμενον — πάθη — άξιώματα), die aus Anal. Post. I 7 und 10 bekannt sind, ferner die Fassung dieser Aporie in XI 1, 1059 a 23—26, sowie die Fragestellung des Eudemos (nach Simpl., In Ar. Phys. p. 47—48).

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kussion) am ehesten, wenn man annimmt, es Hege folgende Auffassung zugrunde: Die gesuchte Wissenschaft ist auf jeden Fall die Wissenschaft von der ουσία; die ουσία kommt aber immer schon in einer Mannigfaltigkeit vor und ist, soweit sie überhaupt abhängig ist, abhängig gemäß einem der vier bekannten Typen von Grund — ist jedoch als Seiendes nicht abhängig von den Prinzipien des Wissens; daher ist nicht jegliches Wissen um die ουσία und deren Gründe eo ipso, notwendigerweise, zugleich auch schon ein Wissen um die „Beweisprinzipien", um die Denkprinzipien, so daß dieser Zusammenhang zu einem Problem wird. Für diesen Zusammenhang spricht einiges: z.B. die allumfassende Geltung der sogenannten Beweisprinzipien. Was kann seiner ausdrücklichen Betonung im Wege stehen, wenn nicht die Bedenken gegen den Ansatz des allumfassenden, quantitätsjenseitgen Seienden als Seienden und gegen die Konzeption eines einheitlichen Wissens um das Seiende und dessen Gründe? Es dürfte also gerade die Grundtendenz des Buches IV hier in dieser Aporie in Frage gestellt sein. 3. Aporie (III 1 , 995 b 1 0 — 1 3 ; 2, 997 a 15—25). Ist die Allheit der ούσίαι Gegenstand einer einzigen oder mehrerer Wissenschaften? — Wenn sie nicht Gegenstand einer einzigen ist, ist zu fragen: Die Theorie welcher ουσία ist die hier gesuchte Wissenschaft? Doch ist es unwahrscheinlich (ουκ εΰλογον), daß alle ούσίαι Gegenstand einer einzigen Wissenschaft sind203. — Die Erörterung dieser Aporie läßt keinen Raum für eine allumfassende Seinswissenschaft, sondern höchstens für eine Theologie, da zwar offengelassen ist, daß die Wissenschaft einer bestimmten ουσία die gesuchte Wissenschaft sein könnte, jedoch ausgeschlossen wird, daß eine einzige Wisenschaft alle ούσίαι zum Gegenstand haben könnte (obwohl dies doch gegeben ist, wenn die ουσία als ούσία, das ov als öv betrachtet wird). Die Aporie bleibt hier nicht unentschieden, sondern es wird eine Entscheidung mindestens vorbereitet: nämlich die zugunsten einer Mehrzahl von ούσία-Wissenschaften. Wieder vermißt der Interpret eine Reflexon darüber, wie die Unterscheidung mehrerer ούσίαι möglich sein soll ohne ein sie alle umfassendes Wissen. Für ein solches Wissen ist nach der aristotelischen Meinung, die nur noch mehrere ούσία-Wissenschaf ten anstelle einer einzigen zulassen möchte, kein Raum mehr (obwohl schon diese Meinung über die verschiedenen ούσία-Wissenschaf ten selbst keine von diesen sein kann). Damit ist hier auch schon Stellung bezogen gegen die in IV versuchte Konzeption der einen Seins Wissenschaft. 203 Dig nun folgenden Zeilen (a 18—2.y. καί γάρ . . . έκ τούτων μία) enthalten nach meiner Meinung keine Begründung für diese These. Mit Sdiwegler, III. Bd., S. 123, nehme ich an, daß dieser Passus in die Erörterung der nächsten Aporie gehört, und zwar vielleicht an deren Ende: 997 a 34.

292 5. Aporie™

Vom Seienden und vom Einen (III 1 , 995 b 18—27; 2, 997 a 25—34):

Handelt diese gesuchte Wissenschaft nur von den ούσίαι oder zugleich auch von deren Bestimmtheiten (συμβεβηκότα)? Aristoteles räsoniert so: Wenn es Sache derselben Wissenschaft ist, die ουσία und die der ουσία zukommenden Bestimmtheiten zu untersuchen, wie dies ζ. B. bei den mathematischen Disziplinen der Fall ist, dann dürfte auch das Wissen von der ουσία ein beweisendes Wissen sein; doch vom Wesen (τί εστίν) scheint es keinen Beweis (άπόδειξις) zu geben; nimmt man dagegen an, das Wissen von den Bestimmtheiten sei ein anderes als das von der ουσία bzw. den ούσίαι, so fragt sich, welche Wissenschaft dann die Bestimmtheiten zu untersuchen habe. Am ehesten könnte man noch von dieser Aporie annehmen, sie werde in Buch IV (nämlich in 1004 a 3 1 — b 17) wieder aufgegriffen und gelöst, zumal dort auch auf das Aporienbuch zurückverwiesen wird. Aber auch diesmal fällt auf, daß der angeblichen Lösung (in IV 2) keine Widerlegung der hier gemachten Einwände vorausgeschickt ist. Doch vielleicht wichtiger als diese Feststellung wäre die Prüfung, ob die Aporie so, wie sie hier formuliert ist, nicht doch auch wieder — freilich in einer anderen Hinsicht als die vorausgehenden Aporien •— die allumfassende Einheit des prinzipiellen Wissens und damit dann auch die der reflektierenden Ersten Philosophie in Frage stellt. Denn da nicht nur die ούσίαι, sondern immerhin auch die συμβεβηκότα für echte Wissensgegenstände gehalten werden (was dagegen in V I 2 nicht geschieht), besteht die Gefahr einer unüberwindlichen Kluft zwischen dem Wissen um die ούσίαι und dem um die συμβεβηκότα, und zwar vor allem deshalb, weil zu den in Frage stehenden συμβεβηκότα auch transzendentale Bestimmungen (wie ζ. B. Identität und Anderssein) gehören. Und auch diesmal wieder sind Bedenken schon gegen die Fragestellung selbst anzumelden. Kann denn ernsthaft in Frage gestellt werden, daß ein Wissen um irgendein Wesen nur möglich ist, wenn dieses Wesen als mit sich selbst identisch und von anderem verschieden gesetzt wird; daß ein Wesen nur durch Vergleich mit anderen gewußt werden kann? Die obige Aporie bedeutet bereits, daß man die durchgängige Isolierung des angeblichen Wissens von jeglichem Wesen einerseits, vom Wissen um συμβεβηκότα andererseits für möglich hält — es würde darüberhinaus bedeuten, daß man die Isolierung des Wissens um das Seiende als Seiendes vom Wissen um dessen Einessein, Identischsein und Anderssein in Erwägung zieht. Wie würde dann das Seiende überhaupt noch gedacht werden können, wenn es nicht immer schon als Identisches usw. gedacht würde? Und wie sollte eine Verbindung zwischen dem Wissen vom Seienden als Seiendem und dem Wissen um des204

Mit dieser Zählung richte ich mich nach der ersten Aporienaufzählung in I I I 1 , die auch Ross in seinem Kommentar zugrundelegt.

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sen Einessein noch hergestellt werden können? — Also auch die Fragerichtung dieser Aporie ist nur schwer vereinbar mit den Hauptgedanken des Buches IV. 4. Aporie

( I I I 1, 995 b 1 3 — 1 8 ; 2, 997 a 34 — 998 a 19):

Gibt es neben den sinnlich wahrnehmbaren ούσίαι noch andere? ·— Aristoteles polemisiert hier gegen den (platonischen) Ansatz von Ideen und gegen den Ansatz des Mathematischen als eines Zwischenreiches. Man vermißt jedoch jeden Hinweis auf ein göttliches Wesen 205, allerdings auch einen auf den Gedanken vom Seienden als Seiendem. 6. Aporie

(III 1 , 995 b 2 7 — 2 9 ; 3, 998 a 20 — b 14):

Sind als Prinzipien (στοιχεία και άρχαί) die Gattungen oder eher die ins Prinzipiatum eingegangenen Elemente anzusehen? — Aristoteles meint, die Gattungen seien wohl kaum die Gründe für das Seiende, schon eher seien es die aufbauenden Elemente; die Gattungen kämen als Bedingungen des Definierens in Frage. Und sofern das Erkennen des mannigfaltigen Seienden im Erkennen der Arten, der Ideen (είδη), nach welchen das gegebene Seiende benannt sei, bestehe, seien die Gattungen natürlich die Gründe der Arten. Wie Gattungen würden einige, die das Seiende oder das Eine oder das Groß-Kleine für Elemente des Seienden halten, auch diese Elemente behandeln (998 b 9 — 1 1 ) . Doch könne man die Prinzipien des Seienden weder als Gattungen noch als Elemente auslegen. •—• Die Gegenüberstellungen von γένη und ένυπάρχοντα, von der Aristoteles hier ausgeht, ist nicht recht verständlich, da auch die Gattungsbestimmtheiten als Aufbauelemente betrachtet werden können. Aber vielleicht hat bei dieser Gegenüberstellung die Meinung Pate gestanden, die Gattungen könnten Prinzipien nur sein für Gewußtes, für Definiertes, während die Aufbaulemente Prinzipien seien für Seiendes, ohne Rücksicht darauf, ob es erkannt ist oder nicht. Sollte diese Vermutung zutreffen, wäre das prinzipielle Bezogensein des Seienden auf das Bewußtsein in Frage gestellt und damit auch das allumfassende Wissen vom Seienden als Seiendem. — Aus der Art und Weise, wie Aristoteles hier nebenbei auch auf die Lehre vom Seienden und Einen zu sprechen kommt, läßt sich nicht entnehmen, daß er sich selbst zu den Vertretern dieser Lehre zählt. Mindestens gehört er nicht zu jenen Leuten, die das Seiende, das Eine und das Groß-Kleine wie Gat205

Die Parallelfassung in X I 1, 1059 a 38—b 14, läßt die Sudie nach einem göttlichen Wesen eher anklingen, indem sie am Mathematischen die Unselbständigkeit, am Sinnlich-Wahrnehmbaren die Vergänglichkeit herausstellt.

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tungen behandeln. Allerdings schließt dieser Satz noch nicht aus, daß Aristoteles sich eine modifizierte Lehre vom Seienden und Einen zugeschrieben haben könnte. 7. Aporie (III 1, 995 b 29—31; 3, 998 b 14 — 999 a 23): Falls in erster Linie die Gattungen die Prinzipien für das Seiende sein sollten, erhebt sich die Frage: Sind es eher die allgemeineren oder die besonderen Gattungen? — Wenn die allgemeineren Gattungen eher als Prinzipien zu btrachten sind, gilt dies erst recht für die obersten, ersten Gattungen, die von allem Seienden prädiziert werden. Demnach wären das Seiende und das Bine Prinzipien und ούσίαι (für alles Seiende) (998 b 19 ff.). Doch kann weder das Eine noch das Seiende eine Gattung des Seienden sein (998 b 19 ff.). Denn notwendigerweise ist jede spezifische Differenz (jeder beliebigen Gattung) immer schon und ist sie immer schon Eines, unmöglich aber können die Gattungen oder die Arten einer Gattung von den betreffenden Differenzen prädiziert werden (was sich hier jedoch ergeben würde); und so würde keine spezifische Differenz sein und Eines sein, wenn das Seiende oder das Eine Gattungen wären. Wenn das Seiende und das Eine aber keine Gattungen sind, sind sie auch keine Prinzipien, falls nur die Gattungen Prinzipien sind. Wenn jedoch auch noch die unteren Gattungen Prinzipien wären, dann gäbe es unendlich viele Prinzipien. Einiges spricht zwar dafür, die Arten als Prinzipien anzusetzen. Doch muß ein Grund immer neben (παρά) den von ihm begründeten Gegenständen bestehen und von diesen abgetrennt werden können. Für einen solchen Grund könnte man das von allem prädizierbare Allgemeine halten, so daß man wieder die ersten Gattungen als Prinzipien ausgeben könnte. — Die eine Auslegung der (wohl platonisch-akademischen) Gleichsetzung von Gattungen und Prinzipien, nämlich die Gleichsetzung der obersten Gattungen mit den Prinzipien, versucht Aristoteles fragwürdig zu machen, indem er den angeblich höchsten Gattungen, nämlich dem Einen und dem Seienden, den Gattungscharakter abspricht. Letzteres ist ihm gewiß gelungen: das Eine und das Seiende können nicht Gattungen im strengen Sinne sein. Sie können (da sie konvertibel sind) nicht sich gegenseitig ausschließende und bestimmende Gattungen von Inhalten sein: das sind erst die Kategorien. Und gewiß sind die Kategorien, die Urprädikate, Prinzipien in einem ausgezeichneten Sinne: nämlich Prinzipien für die Erkenntnis vom Seienden. Damit ist aber noch nicht ausgeschlossen, daß auch das Seiende und das Eine Prinzipien sind: freilich Prinzipien in einem anderen Sinne: nämlich Prinzipien für das vorprädikative Gegeben- und Gedachtsein eines jeglichen Seienden. — Wiedereinmal hat der Interpret festzustellen: Selbst wenn die platonisch-akademische Lehre vom Gattungscharakter der Prinzi-

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pien nicht genügend differenziert war, hätte Aristoteles die nötige Differenzierung nachgeholt oder wenigstens in Aussicht gestellt, wenn ihm selbst die Unterscheidung von Kategorien und Transzendentalien vertraut gewesen wäre. Welche Funktion konnte er dem Einen und dem Seienden überhaupt noch zugedacht haben, nachdem er ihnen jeglichen Prinzipiencharakter abzusprechen versuchte? Konnte er von seinem Boden aus (von seiner Gründe-, Kategorien- und Substanzlehre aus) überhaupt noch solche transzendentale Bestimmungen oder Prinzipien wie das Seiende als Seiendes oder das Eine in Ansatz bringen? Hatte er über sie nicht bloß noch als über platonischakademische Auffassungen zu berichten? — Diese Fragen sind nicht wegzuwischen mit dem Hinweis auf das, was am Schluß der Aporie über das Allgemeine als eines selbständigen, vom Begründeten abtrennbaren Grundes gesagt wird. Denn was da von Aristoteles ventiliert wird, hat er selbst an vielen Stellen bekämpft. 8. Aporie (III 1 , 995 b 31—36; 4, 999 a 24 — b 24): Ist neben der ΰλη noch ein anderer, für sich bestehender Grund anzusetzen? Gibt es neben den Einzelgegenständen noch ein Allgemeines, das sie wißbar macht? — Neben den unendlich vielen Einzelgegenständen müßte es ein identisches Eines geben, das, sofern es allgemein ist, alles wißbar (νοητόν) machen würde. Man würde meinen, dazu seien Gattungen notwendig. Doch erwies sich im Vorausgehenden der Ansatz solcher Gattungen als unmöglich. Wenn es aber neben dem nur sinnlich Wahrnehmbaren auch noch ein Wißbares (νοητόν) geben soll, muß etwas neben den Einzelgegenständen bestehen; auch muß es neben dem Vergänglichen ein Unvergängliches geben, ein Ungewordenes, ein Abschließendes (πέρας) und eine Form (μορφή, είδος). Doch da erheben sich schon wieder die Fragen, ob denn neben allen Gruppen von Einzelgegenständen ein solches identisches Eine anzusetzen wäre — neben Artefakten, z.B. einem Haus, dürfte es doch wohl kaum möglich sein — und ob durch einen solchen Ansatz nicht wieder das Mannigfaltige zu einer einzigen ουσία würde. Aristoteles weist also unter Berufung auf früher Gesagtes den Ansatz von Allgemeinem, von Gattungen zurück, obwohl er etwas fordert, das das sinnliche Mannigfaltige wißbar machen soll. Welche Vorstellungen hat er da von den Erkenntnisgründen? Er sucht nach einem unvergänglichen Grund für das Vergängliche, nach einem identischen Ziel für alle Prozesse, nach einem einheitlichen Wesensgrund. Was er dagegen einwendet (Ausklammerung der Artefakte; Befürchtung, es könnte alles eins werden), wiegt nicht schwer dagegen. Denn es verhindert nicht den Ausbau seiner Gründelehre, die die platonisch-akademische Ideen- und Prinzipienlehre ersetzen soll und auf den Ansatz eines ersten Seienden hinausläuft, das die Funktion eines

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ersten Wesens-, Wirk- und Zielgrundes in sich vereinigen soll. Lassen sich aber damit die anfangs aufgeworfenen Fragen beantworten? Inwiefern kann ein erster Wesensgrund, der für ein Seiendes neben anderem Seienden gehalten wird, und zugleich Wirk- und Zielgrund sein soll, ein Wissen von allem ermöglichen? Mit dieser Wendung in der Suche nach den Erkenntnisbedingungen in Richtung auf ein erstes Seiendes, auf das Göttliche, wird eine Abkehr von der platonisch-akademischen Prinzipienlehre, die immerhin eine Interpretation als Darstellung echter Denk- und Erkenntnisbedingungen bis zu einem gewissen Grade zuläßt, vollzogen. Mit dieser Wendung ist auch die Lehre vom Seienden als Seiendem und vom unbedingten Prinzip wohl kaum noch vereinbar. 9. Aporie Da die erste Formulierung dieser Aporie in III 1, 996 a 1 — 2 , an der zweiten Stelle, d. i.. III 4, 999 b 24 — 1000 a 4, nicht mehr aufgenommen wird, übergehen wir sie hier und beschränken uns auf die zweite Formulierung. Aber auch diese ist schwer zu verstehen; so kann hier nur ein Interprctationsversucb vorgelegt werden. Dieser Versuch geht von der Meinung aus, hier werde einmal probeweise (mit den Piatonikern) angenommen, die Prinzipien (άρχαί) seien durch ein bestimmtes Einssein charakterisiert und es sei nun zu fragen, ob ein solches Einssein im Prinzipienbereich a) ein Einssein, Übereinstimmen in der Gestalt (εΐδει) (bei Unbegrenztsein in der Anzahl) bedeuten soll oder aber b) ein Einssein der Zahl nach (αριθμώ). Gegen jede der beiden möglichen Auffassungen werden nun Argumente angeführt. Zu a): Ein Einssein der Gestalt nach läge vor, wenn es zwar mehrere oder auch nur eine Gestalt von Elementen gäbe, aber kein Element bloß einmal vorkäme, sondern vielleicht unendlich oft; daraus würde sich aber ergeben, α) daß es dann das Eine selbst (αυτό τό εν) und das Seiende (τό δν) nicht geben könnte und ß) daß kein Wissen von den vielen Prinzipiata mehr möglich wäre, weil es kein (sie begreifenlassendes) Eines neben diesen allen gäbe. — Zu b) Ein Einssein der Zahl nach wäre gegeben, wenn jeder Grund (besser: jedes Element, zumal im Folgenden der Vergleich mit einem verdinglichen Baustein nahe liegt) nur ein einziges Mal vorkäme; in diesem Fall könnte es neben dem betreffenden Element nichts mehr (etwa sonst noch von ihm Aufgebautes) geben. Denn nähme man ζ. B. an, es existiere von jedem Buchstaben des Alphabets nur eine beschränkte Anzahl von Exemplaren, so würde daraus mit Notwendigkeit folgen, daß der Umfang der gesamten Literatur durch das Produkt aus der Anzahl der Glieder des Alphabets sowie aus der Anzahl der Exemplare der verschiedenen Buchstaben völlig ausgemessen wäre, da (in der Gesamtliteratur) kein Buchstabenexemplar zweimal oder noch öfter vorkommen würde. —

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Falls dieser Interpretationsversuch den aristotelischen Gedankengang trifft, darf folgende Kritik angebracht werden: 1) Es besteht der Verdacht, daß die in Frage stehende These durch ein MißVerständnis zustande gekommen ist: daß nämlich nicht das Einssein des Prinzips, sondern das Prinzipsein des Einen von den betreffenden Gegnern oder Vorgängern behauptet worden war. 2) Falls mit dem „Einssein" in der diskutierten These das kategorienjenseitige Eine gemeint war, konnte es nicht durch die Alternative „eines der Gestalt nach — eines der Zahl nach" ausgelegt werden. 3) Aus dem Einssein der Gestalt nach und dem Unbegrenztsein der Zahl nach kann sich noch nicht das Ausgeschlossensein des Einen selbst und des Seienden selbst ergeben, weil weder das Eine selbst nodi das Seiende selbst an das Vorkommen in der Einzahl gebunden sind; denn in ihrer Kategorienjenseitigkeit unterliegen sie noch nicht der Alternative, „eines — oder vieles der Zahl nach" zu sein. — Sollte der Platz, den dieses Argument für das Eine und für das Seiende freihält, der einzige sein, den Aristoteles bei Abfassung des Aporienbuches sich dafür ausdenken konnte, müßte daraus gefolgert werden, daß Aristoteles zu dieser Zeit den Gedanken von wirklich kategorienjenseitigen Bestimmungen oder Prinzipien nicht kannte. 4) Das Argument a) ß) vermag nicht, das die Erkenntnis des Mannigfaltigen ermöglichende Allgemeine in der einen Gestalt selbst zu sehen; was da als ein der Zahl nach eines neben der Allheit der Exemplare gesucht wird, wird auch wieder nur als ein Exemplar betrachtet, so daß der Weg zum sogenannten „τριτος-ανθρωπος-Argument" nicht mehr weit ist. 5) Das Argument b) behandelt Gründe (άρχαι, στοιχεία) wie Dinge. Ein solcher Begriff von Grund verhindert auch die Erkenntnis von transzendentalen Gründen. 10. Aporie (III 1, 996 a 2 — 4 ; 4, 1000 a 5 — 1001 a 3): Sind die Gründe für das Vergängliche und die für das Unvergängliche dieselben? — Wenn die Gründe für das Vergängliche und die für das Unvergänglichedieselben sind, erhebt sich die Frage, warum das eine Begründete vergänglich ist und das andere unvergänglich. Sind es jedoch nicht dieselben, bleibt zu fragen, ob sie unvergänglich oder vergänglich sind. Als vergängliche müßten sie auf weitere zurückgeführt werden. Falls sie aber alle unvergänglich sind, ist es geradezu unmöglich, daß die einen von ihnen Vergängliches hervorbringen und die anderen Unvergängliches. — Ein Zusammenhang dieser Aporie mit der Lehre vom Seienden und Einen ist zwar nicht ausgedrückt, aber doch nicht zu übersehen. Zunächst darf angenommen werden, daß Aristoteles hiermit die platonische These vom Grundsein der (unvergänglichen) Ideen in Frage stellen wollte. Die

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platonischen Ideen werden wie unveränderliche Dinge behandelt. Denn nur wenn die Gründe für Dinge gehalten werden, kann es als unmöglich erscheinen, daß von den nämlichen Gründen so Verschiedenes wie das Vergängliche und das Unvergängliche abhängig sein soll. Und nur eine solche Gleichsetzung von Gründen und Dingen kann den Gedanken ventilieren lassen, das vergängliche Seiende könnte bloß vergängliche Gründe haben. Die Art der Einwände gegen diesen Gedanken befriedigt ebensowenig wie die derjenigen Einwände, die gegen den Ansatz von nur unvergänglichen Gründen vorgebracht werden. Die Aporie bleibt für eine Untersuchung dieser Art unlösbar, weil sie bei ihrem In-Frage-Stellen nicht radikal genug fragt, weil sie die dieser Aporie zugrundeliegende Gleichsetzung der Gründe mit Dingen nicht selbst wieder in Frage stellt. Und dies scheint deswegen nicht zu gelingen, weil das Seiende ohne jeglichen Bezug auf das Denken angesetzt wird; so verfehlt die Suche nach den Gründen des Seienden die Richtung auf das Denken und Erkennen und damit die Richtung auf Geltendes (das immer schon jenseits des Gegensatzes „Vergänglich-Unvergänglich" steht). So will es Aristoteles nicht gelingen, an der Identität der Gründe für die verschiedenen Seinsbereiche festzuhalten. Ist aber der Gedanke von der Identität der Gründe einmal aufgegeben, dann können weder die verschiedenen Gründebereiche noch die verschiedenen Seinsbereiche noch Gegenstand des nämlichen Wissens sein. Damit besteht auch für den Ansatz eines eine Einheit bildenden Wissens vom Seienden keine Möglichkeit mehr. So ist auch die Frageweise dieser Aporie wohl kaum verträglich mit der Grundtendenz des Buches IV. 11. Aporie

(III 1, 996 a 4—9; 4 , 1 0 0 1 a 4 — b 25):

Sind das Seiende und das Eine ούσίαι für alles Seiende, ohne daß ihnen selbst etwas anderes zugrundeliegt? — Ehe wir auf das eingehen, was Aristoteles dafür und dagegen anzuführen hat, eine Bemerkung zur Formulierung der Aporie: Der Ausdruck „ούσίαι των όντων", mit dem das Seiende und das Eine in der — wohl von den Piatonikern — aufgestellten und hier nun fragwürdig gemachten These charakterisiert werden, dürfte — wenigstens wenn man den Genitiv „των δντων" gebührend mitberücksichtigt — so zu verstehen sein, daß damit dem Seienden und dem Einen eine Funkttion für alles Seiende zugesprochen wird: nämlich die, „ούσίαι" zu sein für alles Seiende, womit irgendeine Prinzipienfunktion gemeint sein dürfte, und zwar wahrscheinlich die des Formprinzips Trifft dies zu, dann meint 206

Im ούσία-Kap. (d. i. Kap. 8) von Met. V werden u. „ουσία" genannt, die dem Formprinzip entsprechen: was als Grund für das „Sein" ein Bestandteil von z.B. die Seele im Lebewesen (1017 b 14—16); 2.)

a. auch drei Bedeutungen von 1.) „ουσία" kann das meinen, selbständig Seiendem ist, wie es kann ferner solche Bestim-

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„ουσία" hier nicht sosehr die selbständige Existenz; daher d ü r f t e es irreführen, w e n n hier v o n Aristoteles unterstellt w i r d , das E i n e u n d das Seiende würden in der W e i s e f ü r selbständig gehalten, d a ß jedes der beiden f ü r sich schon ein Einzelgegenstand sei, ohne auf ein ύποκείμενον, auf eine Materie angewiesen zu sein. H i e r d ü r f t e Aristoteles also ein Mißverständnis bezüglich des platonischen (bzw. akademischen) Gebrauchs v o n „ουσία" unterlaufen sein, das es ihm fast immöglich macht, der vorgenommenen pythagoreischen und platonischen b z w . akademischen T h e s e noch einen brauchbaren Sinn abzugewinnen. D i e M e i n u n g des Aristoteles ( 1 0 0 1 a 9 — 1 2 ) , in jener These w ü r d e sowohl das Seiende w i e auch das Eine, o h n e auch noch etwas anderes z u sein (d. h. ohne jeglichen Bezug auf ein anderes), f ü r eine ουσία gehalten, steht so da, als w ü ß t e sie nichts über das notwendige Bezogensein des Seienden und des Einen aufeinander (wobei das E i n e f ü r das Seiende eine andere Funktion — nämlich eine A r t F o r m f u n k t i o n — haben m u ß als das Seiende f ü r das Eine). Sollten die Platoniker über diese Wechselbeziehung zwischen dem Seienden und dem Einen wirklich nichts gesagt haben, w ü r d e man wenigstens eine Feststellung dieses Mangels erwarten, w e n n Aristoteles selbst eine Theorie v o m Seienden selbst u n d v o m Einen selbst, d. i. v o m transzendentalen Seienden als Seiendem und v o m Einen, zur Zeit der A b f a s s u n g dieses T e x t e s gehabt hätte. D o c h den B e z u g des Seienden und des Einen auf alles Seiende bringt jene T h e s e unübersehbar zum Ausdruck. Wenigstens dies hätte Aristoteles davon abhalten können, jene These so zu interpretieren, als o b sie dem Seienden allein schon und auch dem Einen allein schon eine Selbständigkeit, w i e sie nur konkreten, dies oder jenes seienden Einzelgegenständen zukommen kann, einräumte. N u n steht diese Interpretation einmal da: W i r d Aristoteles das darin Vorgebrachte kritisieren v o m Standpunkt einer in sich stimmigen T h e o r i e des Transzendentalen? — Betrachten w i r zunächst die A r g u m e n t e , d i e er für jene These anzuführen w e i ß : a) W e n n das Eine nicht eine bestimmte ουσία ist u n d auch das Seiende nicht, dann ist auch kein anderes (weniger) Allgemeines eine ουσία; denn das Eine und das Seiende sind die allgemeinsten G r ö ß e n ( 1 0 0 1 a 1 9 — 2 4 ) . b) W e n n das Eine nicht den Rang einer ουσία hat, dann kann audi die Zahl kein selbständiges Prinzip (κεχωρισμένη τις φύσις) des Seienden sein; denn

• •· a a

mungsstücke meinen, deren Aufhebung die Aufhebung des ganzen Gebildes bedeuten würde, wie ζ. B. die Aufhebung der Ebene zugleich die des Dreidimensionalen wäre — wie „einige Leute" (wohl Platoniker) sagen — und die Aufhebung der Linie die der Ebene; überhaupt scheint die „Zahl" manchen Leuten eine solche unerläßlidie Bedingung für alles Seiende zu sein (1017 b 17—21); 3.) außerdem wird audi die Wesensbestimmung (τό τί ήν είναι), die in der Definition ihren Ausdruck findet, „ουσία" genannt (1017 b 21—23). — Die hier unter 2.) genannte Bedeutung dürfte auch in der oben zur Diskussion gestellten These gemeint sein.

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die Zahl besteht aus Einsen (μονάδες), die Eins aber ist eine bestimmte Weise des Einen selbst (δπερ εν τι) (a 24—27). — Will Aristoteles mit diesen beiden Argumenten eigene Lehrmeinungen wiedergeben oder bekannte Positionen der Vertreter jener These (etwa um wenigstens die Konsequenz jener Lehre zu prüfen)? Gegen ersteres sprechen mehrere aristotelische Texte, gegen letzteres wenigstens einige Zweifel: Haben die Pythagoreer bzw. die Platoniker das Allgemeine wirklich für ein selbständiges Seiendes ausgegeben, wenn sie es als „ουσία" bezeichnet haben? Dabei konnte doch der Terminus „ουσία" den gleichen Sinn haben, wie ζ. B. in Met. V 8, 1 0 1 7 b 1 7 — 2 1 (s. Anm. 206), nämlich den eines einwohnenden Formmoments (μόριον ένυπάρχον), ohne daß damit eine selbständige Existenz verbunden sein müßte. Entsprechendes gilt für das Argument b): Haben die Pythagoreer oder die Platoniker wirklich die mathematische Zahl im Auge? Und haben sie die Zahl wirklich für ein abgetrenntes, selbständiges Prinzip gehalten? Die Charakterisierung der Zahl als ουσία könnte doch ebenfalls auf den Gebrauch von ουσία zurückzuführen sein, welcher in V 8, 1 0 1 7 b 1 7 — 2 1 (besonders 20/21) beschrieben wird; demnach kann auch die Zahl eine ουσία im Sinne eines μόριον ένυπάρχον sein: was doch gewiß nicht heißt, daß sie, in diesem Sinne genommen, eine Selbständigkeit hat wie konkrete Einzelgegenstände. In dem Maße, in welchem die Zweifel an der richtigen Auswertung platonischer Lehrmeinungen in den Argumenten a) und b) am Platze siiid, darf auch bezweifelt werden, daß mit ebendiesen Argumenten soll dargetan werden können, daß das Seiende und das Eine, und zwar jedes für sich allein schon, als ούσίαι im Sinne von „selbständig Seiendem" existierten. Wird es um die Qualität der Gegenargumente besser bestellt sein? Werden sie einer mit guten Gründen zu vertretenden Auffassung vom transzendentalen Seienden und Einen entspringen? Oder wird sich Aristoteles damit begnügen, die platonischen und die sonstigen akademischen Theorien über das Seiende und das Eine abzulehnen, ohne (auch nur) einen Ersatz dafür als notwendig zu erachten? Letzteres würde annehmen lassen, daß er selbst gar keine Transzendentalienlehre als eigene Position gekannt habe. Aristoteles geht also davon aus, daß es nach der Auffassung der Pythagoreer und Platoniker ein Eines selbst und ein Seiendes selbst gebe 207 und daher das Eine wie auch das Seiende eine ουσία seien, und wendet dagegen ein: 207

1001 a 27—29. — Das „xi" (in a 27 und 30) verrät, daß hierbei das Eine selbst und audi das Seiende selbst für inhaltliche Bestimmtheiten neben anderen gehalten werden, nicht aber für die Bedingungen jeglicher Bestimmtheit. Hatten diesen Fehler schon die Platoniker begangen — oder erst Aristoteles? Wir wissen es nicht. Aristoteles läßt sich bei den folgenden Argumenten jedenfalls von diesem Verständnis leiten.

Met. III

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a) Wie sollte es dann neben diesen beiden noch etwas anderes geben? Wie sollte es da noch mehr Seiendes geben können als nur ein einziges? Denn das Andere des Seienden wäre doch dann nicht möglich; es ergäbe sich die These des Parmenides: alles Seiende wäre ein einziges und dieses wäre das Seiende selbst (a 29 — b 1). b) Ob nun das Eine οΰσία-Rang hat oder nicht: in keinem Fall ergibt sich ein ούσία-Rang der Zahl. Daß die Zahl nicht ουσία ist, wenn es das Eine nicht ist, wurde schon gezeigt (s. oben Arg. b.) S. 300). Und wenn das Eine ουσία ist, kann außer dem Einen selbst keine andere Eins mehr sein (also keine Vielheit, keine Zahl) (b 1—6). c) Das Eine ist als Unteilbares — nach Zenon — nichts, weil es, wenn es (als solches Unteilbares) zu anderen Dingen hinzugefügt oder davon weggenommen wird, diese nicht größer bzw. kleiner werden lassen kann (seiend wäre demnach nur ein dreidimensionales Continuum) (b 7 — 1 3 ) . Diese Ansicht Zenons ist freilich unwissenschaftlich, und es kann sehr wohl Unteilbares existieren; fraglich bleibt jedoch, wie aus dem Einen, dem Unteilbaren, ein Ausgedehntes werden soll (b 13—19). d) Wie soll aus demselben Prinzipienpaar — nämlich aus dem Einen und dem Nicht-Einen, Anderen — so Verschiedenes wie Zahlen und Größen entstehen (b 19—25)? Was ist zu diesen Argumenten des Aristoteles zu sagen? Alle diese Argumente setzen voraus, daß das Eine bereits durch die Kategorie der Quantität bestimmt ist, daß es ein der Zahl nach Eines, also eine Eins, oder ein der Ausdehnung nach Eines, also ein Ungeteiltes, ist. Sie würden daher ins Leere treffen, wenn sie gegen die Lehre vom transzendentalen, kategorienjenseitigen, Einen gerichtet sein sollten. Falls in der hier zu diskutierenden pythagoreischen, platonischen oder akademischen Lehre vom Einen selbst und Seienden selbst das „Eine" wirklich quantitativen Sinne gehabt haben sollte, hätte Aristoteles gerade dies gerügt und sich nicht mit den erwähnten Widerlegungsversuchen begnügt, wenn er selbst den Begriff eines transzendentalen, kategorienjenseitigen Einen gekannt hätte. Es fällt ferner auf, daß in den Gegenargumenten des Aristoteles das Seiende kaum eine Rolle spielt; das Seiende wird dabei höchstens als eine Folge des „Einen" betrachtet, es scheint in einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis zum „Einen" zu stehen, jedoch nicht dem „Einen" in einer Wechselbeziehung gleichrangig zu sein, für es Bedingung zu sein. Wie ist dies verträglich mit der Meinung, jedes von ihnen, das Seiende wie das Eine, habe den Rang einer ούσία? Mußte sich das Abhängigkeitsverhältnis nicht erst aus der quantitativen Auslegung des „Einen" ergeben, durch die das „Eine" bereits einen bestimmten Inhalt erhält? Bei der transzendentalen Auslegung hätte der rein formale Charakter des Einen die Funktion des Seienden als einer Bedingung, auf die das Eine angewiesen ist, nicht übersehen lassen.

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Vom Seienden und vom Einen

So dürfte das in den erwähnten Argumenten (pro et contra) festzustellende Schweigen über das Seiende selbst ein Zeichen dafür sein, daß der Autor dieser Argumente, also Aristoteles selbst, keine Theorie vom kategorienjenseitigen Seienden und Einen akzeptiert und vorgetragen hat. Schließlich noch ein kurzer Vergleich dieser n . Aporie mit Met. IV 2: Wenn man den Genitiv „των όντων" in der Formulierung der Aporie ernst nimmt und die in Frage gestellte These so versteht, als charakterisiere sie das Eine und das Seiende als Gründe für alles Seiende, dann läßt sich eine gewisse Übereinstimmung mit einigen Stellen in IV 2 feststellen, wo ebenfalls das Eine (zusammen mit dem Mannigfaltigen) und das Seiende (zusammen mit dem Nicht-Seienden) als Gründe für alles Seiende ausgegeben werden (vgl. ζ. B. 1004 b 27—29). Auf die hier in I I I 4 (1001 a 4 — b 25) vorgebrachten Einwände wird jedoch mit keinem Wort eingegangen. Daraus ist mindestens dies zu entnehmen, daß IV 2 nicht nach I I I 4 entstanden ist und daß es sich nicht zur Aufgabe macht, diese (wenn überhaupt eine!) in Buch I I I aufgeworfene und diskutierte Frage zu beantworten. Die drei übrigen Aporien sind zwar auch platonischen bzw. akademischen Lehrmeinungen entsprungen208 und ihre Erörterungen tendieren auch zu antiplatonischen Antworten, doch stehen sie nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Lehre vom Seienden als Seiendem und vom Einen; daher ist es nicht notwendig, hier auf sie einzugehen. — Blickt man auf die referierten Erörterungen der ersten elf Aporien zurück, so kann man drei Tendenzen angedeutet finden, die dem Ansatz des transzendentalen Seienden als Seienden und des Einen zuwiderlaufen: 1) Es besteht die ziemlich stark ausgeprägte Neigung, das „Eine" bereits als Eins, also als bereits quantitativ bestimmt zu denken (Aporie 9 und 1 1 ) ; schon von daher (aber wohl nicht von daher allein) dürfte es zu erklären sein, warum sich in diesem Aporien-Buch kein stichhaltiges Argument für den Ansatz des transzendentalen Einen und Seienden findet; — 2) Die auf den Transzendentalien beruhende Einheit des Wissens um jegliches Seiende droht übersehen zu werden, vor allem auch die Bedeutung der Einheit des Wissens für die Einheit, für den Zusammenhang des Seienden, für den Zusammenhang der Seinsarten, -bereiche miteinander, wie auch für den Zusammenhang der Gründe und für den Zusammenhang zwischen Wesen und Bestimmtheit u. a. (s. Aporie 1 ; 2; 3; 5; 10); — 3) Es wird gesucht nach dinglichen, erkenntnisindifferenten Ursachen statt nach Gründen des Denkens und Er208

14. Aporie (III 1, 996 a 1 2 — 1 7 ; 5> 1001 b, 26—6, 1002 b 32): Sind die Zahlen und die geometrischen Größen οΰσίαι? Und sind neben dem sinnlichen und dem mathematischen Bereich Ideen anzusetzen? — 13. Aporie (III i, 996 a 10—12; 6, 1002 b 32 — a 5): Sind die Prinzipien nur der Möglichkeit nach? — 12. Aporie (III i , 996 a 9—10; 6 , 1 0 0 3 a 5 — 1 7 ) : Sind die Prinzipien allgemeine Größen oder individuelle?

Met. XI ι—2 kennens, eben nach allgemeinen und schließlich transzendentalen Bestimmungen (ζ. B. Aporie 6; 8; io). — Met. XI ι—2. Sind diese Tendenzen auch in der parallelen Fassung der Aporiendarstellung, nämlich in X I ι—2, feststellbar? Es gibt Grund genug, diese Frage zu bejahen. a) Für den Ansatz des Seienden und des Einen wird nur ein einziges Argument vorgebracht: Da jede Wissenschaft Allgemeines zum Gegenstand habe, könne die gesuchte Wissenschaft vom Allgemeinsten, von den schlechthin ersten Gattungen handeln; diese dürften das Seiende und das Eine sein, weil von diesen angenommen werden könne, daß sie alles Seiende umfassen und am ehesten Prinzipien glichen, sofern sie der Natur nach das Erste seien; ihre Aufhebung würde nämlich die Aufhebung alles übrigen (Seienden) nach sich ziehen; denn ein jegliches sei (seiend) und eines (XI 1 , 1059 b 24—31). Das Seiende und das Eine werden hier also als oberste Gattungen, als das Erste der Natur nach eingeführt (freilich nur im Potentialis). Es folgt jedoch sogleich ein Gegenargument: das Seiende und das Eine können keine Gattungen sein, weil sonst ihre spezifischen Differenzen (von denen eine jede seiend und eines ist) von ihnen prädiziert werden könnten (b 31 bis 34). Das soll auch schon gegen ihren Ansatz als Prinzipien sprechen (b 33—34). — Die zweite Stelle, die vom Seienden und vom Einen handelt, ist die Parallele zur 1 1 . Aporie (in III), nämlich X I 2, 1060 a 36 — b 12. Hier wird der Gedanke, das Seiende und das Eine als erste, prozeßfreie Prinzipien anzusetzen, von vornherein distanziert behandelt und gefragt: Wie sollten sie (d. i. das Seiende und das Eine) selbständig und für sich existieren, wenn nicht jedes von beiden ein Dies-da und eine Substanz sei? Denn in den ewigen und ersten Gründen suchen „wir solches, das selbständig und für sich existiert". Wäre aber das Seiende und auch das Eine ein Dies-da und eine Substanz, so müßte auch ein jedes Seiende eine Substanz sein, denn das Seiende werde von allem prädiziert, das Eine von manchem; es sei aber nicht wahr, daß jedes Seiende eine Substanz sei (1060 a 36 — b 6). — Prinzipien können demnach das Seiende und das Eine nicht sein, wenn sie nicht selbständig existierende, fürsichseiende Substanzen seien; wären sie jedoch solche Substanzen, dann ergäbe sich das Unzutreffende, daß es nur noch Substanzen gäbe. Ist das noch eine nur aporetische Erörterung der These, das Seiende und das Eine seien die ersten Prinzipien? Diese Passage wird nicht einmal mit einer Frage eingeleitet, noch weniger kann man von ihr sagen, sie bringe nur Argumente für und wider die aufgestellte These und lasse die Entscheidung offen; denn hier wird nur widerlegt: es wird die These widerlegt, daß das Seiende und das Eine Prinzipien

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seien209. Es muß außerdem vermerkt werden, daß hier das Eine nicht einmal als eine alles Seiende umfassende Bestimmtheit anerkannt wird; es soll nur von manchem gelten (b 5). Das Reststück (1060 b 6 — 1 2 ) stellt nur noch ein paar Fragen zur pythagoreischen bzw. platonisch-akademischen Lehre von der Ableitung der „Zahl" aus einem Urprinzipienpaar; diese Fragen sind keine echten, sondern nur rhetorisdie; sie verlangen nicht nach einer Prüfung, sondern bedeuten bereits eine Ablehnung der referierten Position. Außerdem wird audi hier die quantitative Auslegung des „Einen" stillschweigend zugrundegelegt: das „Eine" scheint nur als Prinzip der Zahl betrachtet zu werden. Noch weniger also als von Buch III läßt sich von den Kapiteln 1 — 2 des Buches X I sagen, es sei noch Raum gelassen für den Ansatz des Seienden und des Einen als transzendentale Prinzipien. b) Auch die Wichtigkeit der Einheit des Wissens scheint hier nicht mehr gesehen zu werden; denn die gegen eine solche Einheit sprechenden Argumente sind stärker und sorgfältiger formuliert als die dafür sprechenden; diese weisen nicht darauf hin, daß mit der Aufhebung der Wissenseinheit jegliches Wissen über die betreffenden Gegenstände, ja selbst jegliche Einheit auf der Seite der Gegenstände aufgehoben wäre, sondern gestehen immer eine kleine Verlegenheit darüber, welche der eventuell verschiedenen, nebeneinanderstehenden Wissensabteilungen der gesuchten Wissenschaft einverleibt werden soll (vgl. ζ. B. die Behandlung der vier ersten Aporien: X I 1, 1059 a 20—34). Ein solches Tendieren zur Auflösung der Einheit des Grundwissens, nämlich des Wissens um das Seiende als Seiendes210, wäre nicht möglich, wenn eine intakte Transzendentalienlehre vorläge; freilich gilt auch das Umgekehrte: wenn die Einsicht in die alles umfassende Einheit des ursprünglichen Seinswissens vorläge, wäre auch die Transzendentalientheorie in Ordnung. c) Nicht besser ist es in X I 1 — 2 mit dem Begriff des Grundes bestellt. Hier wird der gesuchten Wissenschaft nicht die Aufgabe gestellt, allgemeine Gründe, nämlich die (transzendentalen) Gründe des Denkens und die (kategorialen) des Erkennens von Seiendem zu untersuchen — trotz des eingeräumten Zusammenhangs des Wissens mit Allgemeinem — , sondern nur die, für das (wohl für erkenntnisindifferent gehaltene) Seiende, und zwar sowohl für das vergängliche wie für das unvergängliche Seiende, eine einzige Ursache zu suchen, die selbst ein Seiendes neben dem anderen Seienden wäre, freilich ein ausgezeichnetes: nämlich ein ewiges (άΐδιον, μένον), von Die Parallelfassung in Buch I I I enthält immerhin noch zwei Argumente (freilich nicht sehr überzeugend vorgetragen) für die These und wahrt so wenigstens den Anschein einer nur aporetischen Erörterung. 210 Diese Tendenz kann freilich immer nur zu Fehlern in der Auslegung des Grundwissens, in der reflektierenden Seinswissenschaft führen, jedoch nicht in dem auch dafür noch als Voraussetzung fungierenden ursprünglichen Seinswissen. 209

Met. V

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der Körperwelt unabhängiges, für sich existierendes (ουσία χωριστή και καθ' αυτήν) (z.B. 1059 b 1 2 — 1 4 ; 1060 a 7 — τ 3 > Ι 9 — 3 ^ ; b ι — y y 1 9 — 2 3 ) . Eine solche Vorstellung von Grund, die den prinzipiellen Erkenntnisbezug alles Seienden völlig ignoriert, verlangt nicht mehr nach einer Transzendentalienlehre, die das Seiende (in dessen Wahrsein und Gutsein) auf ein Subjekt bezogen sein läßt und von da her seine Identität mit sich selbst und sein Anderssein erklärt. Von keiner der beiden Aporienabhandlungen läßt sich also sagen, sie enthalte ein Bekenntnis zur Transzendentalienlehre, nicht einmal zu einem Teil, d. h. zur Lehre vom Seienden und Einen. Es wird zwar einigemale über das Seiende selbst und über das Eine selbst gesprochen, aber doch immer nur so distanziert wie über eine fremde Lehre; zweimal (III 1, 996 a 6 und I I I 4, 1001 a 910) wird den Pythagoreern und Piaton eine bestimmte Lehrmeinung über das Seiende und das Eine ausdrücklich zugeschrieben, es fehlt aber jeglicher Anhaltspunkt dafür, daß der Autor (bzw. die Autoren) ζ. Z. der Abfassung dieser Aporien-Texte selbst eine eigene Theorie über das kategorienjenseitige Seiende und Eine zu vertreten gehabt hätte (bzw. hätten). Met. V. — In Buch V , das in 30 Kapiteln die Bedeutungen von 30 philosophischen Termini aufzählt, könnten das Kapitel (6) über den Terminus „εν" und das Kapitel (7) über den Terminus ,,τό δν" Hinweise auf die Lehre vom transzendentalen Seienden als Seiendem und vom transzendentalen Einen enthalten. Doch nur mit Mühe ist in diesen Kapiteln eine Spur jener Lehre zu entdecken. — Von den Bedeutungen des Terminus „εν" wird zunächst die des „εν κατά συμβεβηκός", d. i. die durch Verknüpfungsbegriffe (wie: „Eigenschaft von") vermittelte Einheit in Urteilen, behandelt (1015 b 17—34) 2 1 1 . Es folgt die Aufzählung der Weisen des ,,καίΓ αυτό εν λέγεσθαι" (1015 b 34 — ι ο 16 b 6). Ein solches unmittelbares Einssein liegt vor in allen Formen des Zusammenhängens (τω συνεχή είναι) (1015 b 36 — 1016 a 17), in der Einheitlichkeit des sinnlich gegebenen Materials (τω τό υποκείμενο ν τω εΐδει ε'ιναι άδιάφορον) ( ι ο ι 6 a 1 7 — 2 4 ) , in der Dieselbigkeit der Gattung (ών τό γένος εν) ( ι ο ι 6 a 2 4 — 3 2 ) und in der Identität, Unteilbarkeit des Wesens und des Wesensbegriffes (1016 a 3 2 — b 6) 212 . — Nun folgt eine Zusammenfassung des bisher in V 6 Gesagten: b 6 — 8 bezieht sich 211

m

Es wurde darauf schon einmal bei der Interpretation von Met. I V 2 eingegangen: siehe oben S. 169 ff. Was die genaue Textgestalt und den Sinn der Zeilen 1016 a 32—b 1 betrifEt, so gestehe ich, weder eine der bisher angebotenen Lösungen für zufriedenstellend halten zu können, noch selbst eine zufriedenstellende vorschlagen zu können; vielleicht hilft beim Verständnis des Verhältnisses zwischen τό τί ήν είναι und τό πράγμα (b 3 3 — 3 4 ) : D e Anima I I I 4, 429 b 10—22, bes. 11—12, weiter.

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auf den Begriff des „εν κατά συμβεβηκός", b 8 — i i auf die drei Weisen des „εν καθ' αυτό": nämlich auf die Einheit durch Zusammenhang, auf die Einheitlichkeit des Aussehens und auf die Übereinstimmung im Wesensbegriff. In manchen Fällen — so merkt der Autor noch an (b n — 1 7 ) — spricht man jedoch erst dann von Einheit, wenn die verschiedenen Stücke nicht bloß äußerlich zusammenhängen, sondern wenn sie zu einem Ganzen gestaltet sind. Bis hierher war vom transzendentalen Einen noch nicht die Rede, nicht einmal, als von den Weisen der unmittelbaren Einheit gesprochen wurde; denn jede dieser Weisen setzt bereits das System von sich unterscheidenden Kategorien voraus: die Einheit durch Zusammenhang ζ. B. wird durch die Quantitätskategorie ermöglicht, die Einheitlichkeit des Aussehens durch die Qualitätskategorie; eine Übereinstimmung im Wesensbegriif kann nur vorliegen, wo sich eine Bestimmtheit positiv von einer anderen abhebt, wo wenigstens eine oberste Gattung, Kategorie, von einer anderen positiv unterschieden ist. — Doch nun folgt ein Absätzchen ( 1 0 1 6 b 1 7 — 3 1 ) , das dem Wesen des Einen selbst (τό ένί είναι) gewidmet ist. Wenn unser Kapitel überhaupt noch eine Andeutung über die Lehre vom transzendentalen Einen enthalten soll, kann diese sich nur in diesem Absätzchen finden; denn die sich ( 1 0 1 6 b 31 — 1 0 1 7 a 3 ) anschließende Aufzählung von Weisen der Einheit (Einheit der Zahl nach, der Art nach, der Gattung nach und analoge Einheit) enthält nichts Einschlägiges; ebensowenig die Erwähnung von einigen Formen der Mannigfaltigkeit ( 1 0 1 7 a 3—6). Leider ist die Textgestalt des Einleitungssatzes (1016 b 1 7 — 1 8 ) des infragestehenden Absätzchens umstritten213. Die Frage nach der ursprünglichen Textgestalt hat gewiß ihre Wichtigkeit, doch stellt sich in unserem Zusammenhang eine philosophisch wichtigere. Bei aller Diskrepanz der bisher vorgeschlagenen Les213

Ζ. B. in Ross' Ausgabe lautet der Satz so: „Τό δέ ένί είναι άρχη τινί έστιν άριθμοΰ είναι", in Jaegers Ausgabe jedoch so: „τό δέ ένί είναι άρχή ς αληθές ov) gegenübergestellt wird unter den Titeln ,,τό κυρίως" (b 31), ,,τό λοιπόν γένος του οντος" (1028 a 1—2), ,,εξω οΰσά τις φύσις τοΰ δντος"^ 2)217 „τό δν αυτό . . . fj ov" (a 3—4) miteinander identisch sein soll. Die Bejahung dieser Frage, vor allem sofern dabei eine Identität des Seienden als Seienden mit einer ,,εξω ούσά τις φύσις τοΰ οντος" zum Ausdruck gebracht wird, bereitet dem Schwierigkeiten, der beim Studium von Buch IV hat feststellen müssen, wie dort das Seiende als Seiendes immer gerade als Gegenstand eines Wissens betrachtet wird: also nicht als ein außerhalb des Wissens, unabhängig von jeglichem Wissen Bestehendes. Wird sich mit dieser Gleichsetzung hier eine Wende in der Auffassung des Seienden als Seienden anbahnen? Man erinnert sich ferner an die zu Beginn von V I 2 genannten vier Bedeutungen des Terminus ,,τό δν" (das Zufällige, das Wahre, die Aussageweisen und das Wirkliche) und fragt: Ist nun am Ende von V I 4 das Wirkliche wieder vergessen oder ist es auch gleichzusetzen mit der angeführten Gruppe? Am ehesten könnte man noch die Gleichsetzung des Seienden 217

„eine der Außenwelt angehörende, vom Denken unabhängige Seins-Natur"; Natorps Auslegung von „'έξω" im Sinne von „außer diesem Genannten" dürfte nicht akzeptabel sein: s. dazu Ross, Metaph. I, p. 366.

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selbst, als Seienden, mit den ,,τά κυρίως (οντα)" verstehen, wenn man damit die zu Beginn von I V 2 genannten „σχήματα της κατηγορίας" wiederaufgenommen denken darf, zugleich aber sich auf die für jene Mannigfaltigkeit von „κυρίως (οντα)" bzw. von „σχήματα της κατηγορίας" (d. h. von obersten Gattungen, Kategorien) geltende logische Form der An-sich-Bestimmtheit (des καθ' αυτό) beschränken darf. Dem An-sich-Bestimmten als solchem, das zunächst unter den Formen der Identität mit sich selbst und der Andersheit steht, kann mit gutem Grund das bloß Zufällige (ώς συμβεβηκός δν) und auch das nur vermittelterweise (κατά συμβεβηκός), das nur durch eine συμπλοκή (bzw. διαίρεσις) Bestimmte gegenübergestellt werden. Und wenn der Text in diesen letzten Zeilen von V I 4 nicht völlig verderbt ist, kann der Interpret annehmen, der Autor habe wirklich das vom bloß Zufälligen und vom bloß Vermittelten abgehobene δν αυτό . . . η öv gleichgesetzt mit dem, was er kurz vorher (b 31) dem in συμπλοκή und διαίρεσις Bestehenden gegenüberstellt als „τά κυρίως" und das er durch Ausdrücke wie ,,τί έστιν", „ποιόν", „ποσόν", also durch Namen von Kategorien, zu exemplifizieren sucht. Der Interpret möchte glauben, er dürfe von da auf die am Anfang von V I 2 erwähnten σχήματα της κατηγορίας und auf die in V 7 (1017 a 22—30) behandelten καθ5 αυτά (λεγόμενα), die dort eben auch mit den σχήματα της κατηγορίας gleichgesetzt werden, zurückgreifen und aus der in V I 4, 1028 a 2 — 4 gemachten Ankündigung entnehmen, daß nun im folgenden Buch über die verschiedenen Kategorien so gesprochen wird, daß deren volle Gleichrangigkeit, Gleichwertigkeit, die eben auf dem An-sich-Bestimmtsein beruht, unangetastet bleibt. Denn was aus der Kategorienmannigfaltigkeit allenfalls herausgehoben werden könnte als die Form des An-sich-Bestimmtseins überhaupt, kann nicht selbst wieder eine Kategorie sein, sondern nur das kategorienjenseitige, transzendentale Seiende als Seiendes, bestimmt durch das transzendentale Eine. Die so erwartete Kategorienabhandlung wäre, auch wenn sie nicht eigens auf die Lehre vom transzendentalen Seienden und Einen verweisen würde, immerhin mit dieser Lehre vereinbar. Erfüllt das Buch V I I diese Erwartung? Nein. Das Kapitel 1 beginnt mit der bekannten Vieldeutigkeitsthese. Als unterschiedene Bedeutungen werden erwähnt: τί έστι και τόδε τι, ποιόν, ποσόν (ιο28 a 1 1 — 1 2 ) . Die zuerst genannte erweckt auf Grund des „τόδε τι" bereits den Verdacht, nicht die allgemeine, transzendentale Form aller Kategorien zu sein, sondern ein individuelles Dies-da, das einen Vorrang in der Existenz haben soll. Diesen Vorrang spricht der nächste Satz unüberhörbar aus: Unter diesen verschiedenen Bedeutungen nimmt den Rang des ersten Seienden das τί έστιν, die ουσία ein, während alle anderen Seinsweisen auf dieses erste Seiende bezogen sind als dessen Größen- bzw. Zahlbestimmtheiten (ποσότητες) oder als dessen qualitative Bestimmtheiten (ποιότητες) usw. (a 13—20). Man könne sogar fragen, ob solche Bestimmtheiten wie

Met. VII

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„Gehen", „Gesundsein", „Sitzen" überhaupt Seiendes seien, da keine von ihnen ein Für-sich-Bestehendes (καθ' αυτό πεφυκός) sei, noch von der ουσία losgelöst werden könne (χωρίζεσθαι δυνατόν της ουσίας) (a 20—24). Eher gehöre noch das Gehende, das Sitzende und das Gesunde zum Seienden, aber auch nur deswegen, weil das Substrat, das in solchen Ausdrücken immer mitgemeint sei, ein Bestimmtes (ώρισμένον) sei, nämlich die Substanz (ουσία) und das Einzelne (τό καθ' εκαστον) (a 2 4 — 2 7 ) . Erst durch die Vermittlung der Substanz sei eine jede von jenen Bestimmtheiten ein Seiendes; daher dürfte die Substanz das erste Seiende sein, und zwar nicht ein eingeschränktes, sondern das Seiende schlechthin (a 2 9 — 3 1 ) . In einem dreifachen Sinne sei die Substanz das Erste: dem Begriff nach (λόγω), der Erkenntnis nach (γνώσει) und der Zeit nach (χρόνφ) (a 3 1 — 3 3 ) . Denn keine der anderen Kategorien könne selbständig (χωριστόν) sein (d. h. jeglichem anderen in der Zeit vorausgehen), sondern nur die Substanz allein (a 33—34). Dem Begriff nach sei sie das Erste, weil ihr Begriff im Begriff eines jeden anderen Seienden notwendigerweise enthalten sei (a 34—36). Dem Wissen nach sei sie das Erste, weil wir dann ein jedes am ehesten kennen würden, wenn wir z . B . angeben könnten, was der Mensch oder das Feuer in seinem Wesen sei, eher als wenn wir um die Qualität oder die Quantität oder den Ort des Menschen bzw. des Feuers wüßten; denn auch eine jede von diesen konkreten Bestimmtheiten würden wir erst dann erkennen, wenn wir das Wesen der quantitativ oder qualitativ so bestimmten Substanz kennen würden (oder: wenn wir das Wesen der Quantität selbst oder der Qualität selbst kennen würden) (a 36 — b 2). Und so sei die alte und immernoch moderne Frage nach dem Seienden (τί τό δν;) identisch mit der Frage nach der Substanz (τίς ή ουσία;); denn mit den Thesen, das Seiende sei eines, oder: das Seiende sei vieles, das Seiende sei der Anzahl nach begrenzt, oder: das Seiende sei unbegrenzt, sei immer die Substanz gemeint; daher müsse zuerst das Wesen des als Substanz Seienden untersucht werden (b 2 — 7 ) . — In diesem Kapitel werden also die verschiedenen Kategorien nicht als gleichrangige Bestimmtheiten behandelt, es wird nicht nach dem τί έστι einer jeden von ihnen selbst gefragt und daher auch nicht auf die ihnen gemeinsame Form des Seienden als solchen, d. h. auf das transzendentale Eine, reflektiert. Stattdessen werden die Kategorien nur betrachtet, sofern sie bereits eingeschränkte Bestimmungen von realen, konkreten Einzelgegenständen sind. Dabei wird jedoch nicht ihre gerade bestimmende, bedingende Funktion für ebendiese, durch sie erst konkret werdenden, Einzelgegenstände gesehen, sondern sie werden — offensichtlich auf Grund einer oberflächlichen Orientierung am sinnlichen Eindruck — in erster Linie als unselbständiges, von der Substanz nicht abtrennbares Seiendes charakterisiert. In ihrer Existenz wie in ihrem Erkanntwerden sollen sie von der Substanz

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abhängig sein 218 . Die Substanz dagegen ist angeblich abtrennbar, d. h. unabhängig von ihnen. Der Vorrang der Substanz ihnen gegenüber soll ein dreifacher sein: der Zeit nach, dem Begriff nach und der Erkenntnis nach. Es fällt jedoch schwer, diese drei Prioritäten in einem und demselben Seienden vereinigt zu denken. Denn was dem Begriffe nach einen Vorrang hat vor einem anderen, muß allgemeiner sein als dieses andere (das erst durch es definiert wird); doch die Substanz als ein Selbständiges und als Träger von fest bestimmten Eigenschaften usw. dürfte Aristoteles wohl kaum zugleich auch für ein Allgemeines (etwa für eine Gattung) gehalten haben. Das in der Zeit Vorausgehende, von Aristoteles charakterisiert als das allein Abtrennbare, Selbständige, dürfte für ihn ein realexistierender, individuierter Gegenstand sein; denn einem Allgemeinen würde er wohl kaum eine zeitliche Priorität zugesprochen haben. Der Interpret fragt: Wie soll etwas ein konkretes, individuiertes Dies-da sein, wenn es eben als solches zugleich auch noch indifferent sein soll gegenüber den unter die anderen Kategorien fallenden Bestimmtheiten? Was schließlich die Priorität in der Erkenntnis betrifft, so dürfte es sich dabei wieder nur um ein Allgemeines handeln: denn das τί έστι, das angeblich zuerst erkannt wird, kann nur ein Allgemeines sein gegenüber dem, das durch eine besondere Quantität oder Qualität bereits näher bestimmt ist 219 . Vielleicht hat es eine akademische Position gegeben, die das Verhältnis zwischen dem Seienden als Seiendem und den Kategorien als ein GattungsArt-Verhältnis darzustellen versuchte. Daraus würde sich zwar auch eine Gleichstellung aller Kategorien ergeben, aber es wäre nicht die von der Endpartie von V I 4 her erwartete und allein zu rechtfertigende, die darin bestände, daß alle Kategorien als καθ5 αύτό-Bestimmtes, als An-sich-Bestimmtes angesetzt würden, ohne daß ihnen die Form der καθ3 αύτό-Bestimmung als eine Gattung vorgeordnet würde. Keineswegs aber kann die Prioriät der ουσία dem Begriff nach und der Erkenntnis nach, die immer nur die Priorität 218 In b 2 könnte mit dem τί έστι allerdings audi nach dem Wesen von Quantität oder Qualität selbst gefragt sein, also nicht nach dem Wesen der diese Bestimmtheiten tragenden konkreten Einzelsubstanz, so daß man meinen könnte, es gehe um den Vorrang der allgemeinen Bestimmtheit vor den konkreten Besonderungen, um die Unabhängigkeit des Allgemeinen (z.B. der Farbe überhaupt) in der Bestimmtheit von den Besonderungen (ζ. B. von der Bestimmtheit dieser oder jener besonderen Farbe). Vgl. dazu auch meine Abh. „Zur Entstehung der aristotelischen SubstanzAkzidens-Lehre" in: Arch. f. Gesch. d. Phil., 50 (1968), S. 196—253, bes. S. 238 f. — Aber diese Fragestellung ist im Rahmen dieses Kapitels nicht zu erwarten: sie verträgt sich nicht mit der hier vorgenommenen Heraushebung der Einzelsubstanz. 219

Ein Allgemeines ist das τί έστι audi dann, wenn mit dem „τί έστι" in 1028 b 2 nicht das Wesen der betreffenden Substanz, des betreffenden Gegenstands gemeint sein sollte, sondern das der betreffenden besonderen Quantitäts- oder Qualitätsbestimmtheit selbst.

Met. VII

eines Allgemeinen gegenüber dessen Besonderungen sein kann, als ein Charakteristikum der Einzelsubstanz, als eine Weise des Vorrangs der Einzelsubstanz gegenüber ihren Eigenschaften hingestellt werden. Die Charakterisierung der Einzelsubstanz als erstes Seiendes, als Seiendes schlechthin (ov απλώς), kann höchstens von der naiven Dingvorstellung ausgehen und so eine gewisse Unabhängigkeit eines Gegenstandes von dieser oder jener besonderen Quantitäts- oder Qualitätsbestimmtheit oder dergleichen (keinesfalls aber von allen Bestimmtheiten) konstatieren. Träfe diese Charakterisierung der Einzelsubstanz als erstes Seiendes, als Seiendes schlechthin zu, wäre die Rede vom kategorienjenseitigen Seienden als Seiendem und vom (ebenfalls kategorienjenseitigen) Einen nur noch leeres Gerede: es ließe sich mit den Termini „das Seiende" und „das Eine" kein Sinn mehr verbinden; das Seiende als Seiendes und das Eine könnten keine Funktion mehr haben für dieses und jenes Seiende: weder für die Substanz, weil diese die ihr zugeschriebene Unabhängigkeit nicht erst dem — jenseits der Alternative von „selbständig—unselbständig" stehenden — Seienden als solchem zu verdanken hätte, noch für die angeblich von der Substanz (und wohl nur von der Substanz) abhängigen Bestimmtheiten. Nicht einmal mehr als ein Gemeinsames für Substanz und Eigenschaft konnte der Autor dieses Kapitels das Seiende als Seiendes angesetzt haben, denn die Eigenschaft ζ. B. bezieht er nur auf die Substanz; ihr Sein scheint für ihn im Bezug auf die Substanz aufzugehen; die Betrachtung des Seienden, sofern er nur seiend ist (nicht schon Substanz oder Eigenschaft), scheint dem Autor dieses Kapitels unbekannt zu sein. Dabei hätte er nur einzuräumen brauchen, daß jede Quantitäts-, Qualitätsbestimmtheit usw. einer Substanz zunächst auch als ein Ansich-Bestimmtes betrachtet werden kann. Einzelne Stellen kommen einem solchen Zugeständnis freilich nahe, besonders der letzte Satz des Kapitels; denn die darin ausgesprochene Gleichsetzung von τό ov und ή ουσία dürfte wohl kaum als eine Gleichsetzung des Seienden mit einer Einzelsubstanz zu verstehen sein, sondern viel eher als die Gleichsetzung des Seienden mit dem An-sich-Bestimmten; und die Frage der Alten, ob das Seiende eines oder mannigfaltig, endlich oder unendlich sei, dürfte viel eher die Frage gewesen sein, ob das Seiende als das An-sich-Bestimmte in nur einer Kategorie oder in mehreren, in endlichvielen oder unendlichvielen Kategorien auftritt. Audi das, was nach V I I 2 (1028 b 16—27) die Platoniker als ουσία ausgegeben haben, nämlich die Begrenzungen des Kontinuierlichen (Linie, Fläche, Körper) sowie „Zahlen", Ideen, das Körperliche als solches, oder das, was Speusippos in einer mit dem Einen beginnenden Folge ansetzte etwa als Zahlen, Größen, Sichbewegendem (ψυχή), oder wieder andere als „Zahlen" (die Ideen) und Dimensionen, dürfte von diesen nicht als Einzelsubstanzen, sondern viel eher als gewisse Weisen des An-sich-Bestimmten gemeint gewesen sein.

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Vom Seienden und vom Einen

Neben dieser Diskrepanz zwischen dem in V I 4 Angekündigten und hier in V I I 1 Vorgelegten, die darin besteht, daß in V I 4 eine Gleichstellung aller Kategorien unter dem Titel von κυρίως δντα wenigstens angedeutet wird, während in V I I 1 der Einzelsubstanz ein Vorrang vor den anderen Kategorien eingeräumt wird, kündigt sich nun noch eine weitere an: Nach V I I 1 ist das erste Seiende, das Seiende schlechthin, die Einzelsubstanz; damit scheint die Einzelsubstanz die Stelle des Seienden als Seienden einzunehmen. An diese Position wird sich der Interpret zu erinnern haben, wenn er an einer späteren Stelle, nämlich in V I I 16, das ov und das εν für allgemeine Bestimmungen ausgegeben sehen wird, und er wird nach der Vereinbarkeit der zwei Positionen zu fragen haben. — Doch vorher noch eine Bemerkung zu der kurzen Erwähnung der Lehre vom Einen und vom Seienden gegen Ende von V I I 4 (1030 b 9—12). Der Interpret gesteht, den dieser Erwähnung vorausgehenden Text nicht zu verstehen, somit auch den Grund für diese Erwähnimg nicht angeben zu können. Schon Natorp220 klagt über „nicht geringe Schwierigkeiten" beim Verstehen dieses Kapitels und nimmt an, „daß die erste Hälfte von c. 4 durch starke Interpolationen entstellt ist". Bezüglich der zweiten Hälfte scheint auch schon Ps.-Alexandras (473—75) seine Not gehabt zu haben, da er den Text an einigen Stellen umzustellen oder zu korrigieren versucht. Aus der Partie, die jener Erwähnung der Lehre vom Einen und Seienden vorausgeht (1030 a 17 — b 9), läßt sich soviel herausheben: Es wird ein ursprünglicher (πρώτως, άπλώς) und ein abgeleiteter (επομένως, πώς) Sinn der τί-έστι-Frage unterschieden, und zwar unter Berufung auf einen solchen Unterschied in der Aussage des „εστίν" (a 17—27). Unklar bleibt dabei, worauf die τί-έστι-Frage im ursprünglichen Sinn zielt: a) Auf die Bestimmung der Einzelsubstanz als Träger weiterer zufälliger Bestimmtheiten? Oder aber b) auf die An-sich-Bestimmtheiten als solche, d. h. auf Bestimmtheiten, sofern sie — gleichgültig in welcher Kategorie auch immer — unmittelbar sind, nur auf sich selbst bezogen sind: in Definitionsurteilen (streng genommen: in Identitätsurteilen)? Ist es also z.B. die Frage nach dem Wesen des Gesunden, der Gesundheit selbst? Oder aber zielt sie c) auf die reine Form von Bestimmtheit überhaupt, die lediglich als Form allen bestimmten Inhalten, allem Kategorialen als Transzendentale „vorausgeht"? Aus dieser Unklarheit ergibt sich die weitere bezüglich des τί έστιν im abgeleiteten Sinn: Ist es a) gleichzusetzen mit den an den sogenannten Sekundär kategorien sich orientierenden Fragen nach irgendeiner zufälligen, wechselnden Bestimmtheit an einer Ewze/substanz, also ζ. B. mit den Fra220

P. Natorp, Thema und Disposition der aristotelischen Metaphysik, in: Phil. Monatshefte, Bd. 24 (1888), S. 37—65; 240—74; bes. S . 5 6 3 .

Met. VII

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gen nach deren Größe (πόσος) oder nach deren Beschaffenheit (ποιος)? Oder ist es b) zu verstehen als (ebenfalls an den Sekundärkategorien sich orientierende) Frage nach zusätzlichen Bestimmtheiten eines An-sich-Bestimmten (z.B. des Gesunden, der Gesundheit selbst) oder vielleicht eines nur vermittelterweise so Bestimmten (ζ. B. der Gesichtsfarbe)? Oder ist es c) die Frage nach dem eigenen Wesen, der eigenen Bestimmtheit der (Sekundär-)Kategorien, z.B. der Quantität selbst, der Qualität selbst usw., sofern eine jede von ihnen an sich selbst bestimmt ist? Eine Entscheidung für eine dieser drei Auslegungsmöglichkeiten dürfte schwer fallen. Für die Auffassung a) spräche das ,,τόδε τι" (in 1030 a 19), das die vorhergenannte ουσία als EzVzzeisubstanz charakterisieren dürfte, gegen sie könnte man anführen, daß das in 1030 b 3 erwähnte εν, das als identischer Bezugspunkt für ein Mannigfaltiges von (abgeleiteterweise) Bezeichnetem fungieren und ebendiesem Mannigfaltigen eine Einheit zwischen Homonymie und Synonymie verleihen soll, wohl kaum als eine Einzelsubstanz, sondern nur als ein an sich bestimmter Inhalt (als solcher) angesetzt worden sein dürfte. Gegen die Auslegung c) ist geltend zu machen, daß die im Text so stark betonte Unterscheidung von „ursprünglich" (πρώτως, άπλώς) und „abgeleitet" (επομένως, ούχ άπλώς, πώς) nicht anwendbar ist auf das Verhältnis zwischen der transzendentalen Form der Bestimmtheit überhaupt und den an sich bestimmten Inhalten; denn eine Abstufung oder volle Abhängigkeit liegt hier nicht vor. Es bleibt noch am ehesten die Auslegungsmöglichkeit b) übrig. Diese würde durch ihre Gegenüberstellung von An-sich-Bestimmtheit und zusätzlicher Bestimmtheit immerhin die Möglichkeit bieten, die Form der An-sich-Bestimmtheit als soldier und damit das transzendentale Eine (zugleich damit auch das transzendentale Seiende) zu denken. Doch diese Brücke schlägt der Autor zur Lehre vom Einen und Seienden nicht. Er überträgt vorher (a 27 — b p ) den Unterschied „ursprünglichabgeleitet" auch auf den Bereich des ορισμός und des τό τί ην είναι: im ursprünglichen Sinn soll es einen ορισμός und ein τό τί ην εϊναι nur von den οΰσίαι geben, im abgeleiteten Sinn jedoch auch vom anderen Seienden. Diese Erweiterung des Bereichs des ορισμός und des τό τί ην εϊναι über die ούσίαι hinaus auf das andere Seiende überrascht, zumal erst in 1030 a 7 — 1 4 eine Einschränkung auf Wesensbegriffe, die aus einer Gattungs- und einer Differenzbestimmtheit bestehen, ausgesprochen worden ist. Was beinhaltet demnach ζ. B. der ορισμός der Quantität? Das Wesen von Quantität überhaupt? Wenn ja, dann liegt kein „abgeleiteter", kein zweitrangiger ορισμός vor. Sollte aber jener ορισμός nur ein Urteil sein, in welchem einem Gegenstand eine quantitative Bestimmtheit zugesprochen wird, dann läge kein Unterschied mehr zum Urteilsbegriif vor. Außerdem wäre dann der nachfolgende Satz (b 7 — 1 2 ) noch weniger verständlich; denn der „bestimmte λόγος" (b 8), mit dem der ορισμός übereinstimmen soll, soll ja der λόγος

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Vom Seienden und vom Einen

von etwas sein, dessen Einheit nicht erst die eines Kontinuums (συνεχεΐ) oder eines Zusammengefügten (συνδέσμφ) ist, sondern die eines ursprünglich221 Einen, also eines wesenhaft Einen. Solche ursprüngliche Weisen des Einen sollen in den den Bedeutungen des „Seienden", den Seinskategorien, entspechenden Weisen des Einen zu finden sein (b 8 — 1 2 ) . Der Zusammenhang dieser Erwähnung der Lehre vom Einen und vom Seienden mit dem Vorausgehenden ist also nicht befriedigend aufzuklären. Die Erwähnung selbst offenbart nicht viel über den Inhalt dieser Lehre. Sie läßt lediglich die Annahme zu, daß im Zeitpunkt ihrer Niederschrift eine Parallelität der Bedeutungen des Terminus „ov" und der des Terminus „εν" gelehrt wurde. Daß diese Parallelität einen guten Sinn haben kann, wird sich bei der Behandlung von X 1 — 2 zeigen lassen. Vom transzendentalen Seienden und Einen ist wieder die Rede in V I I 16, und zwar in 1040 b 1 6 — 2 7 . Es wird von der Parallelität des Einen und des Seienden ausgegangen, dann zunächst vom Einen gezeigt, daß es, wenn es ουσία wäre, eine ουσία wäre und daher auch der Zahl nach eines, und daraus gefolgert, daß weder das Eine noch das Seiende die ουσία des Vorhandenen sein könne — was auch vom Elementsein selbst oder Prinzipsein selbst gelte; vielmehr frage man, welche (unter den bekannten ούσίαι) das Prinzip sei (1040 b 1 6 — 2 1 ) . — Man wird einwenden: Warum könnte das Eine — wie übrigens auch das Seiende — nicht ουσία sein, wenn es der Zahl nach eines wäre? Dafür läßt sich jetzt schon ein Grund angeben: Der Autor verbindet mit dem Terminus „ουσία" die Vorstellung von der fö«ze/substanz und folgert daher aus der Charakterisierung des Einen als ουσία das zahlenmäßige Einssein des Einen; zugleich aber versucht er diejenige Bedeutung von „ουσία" zu berücksichtigen, die dem Ausdruck „ουσία . . . των πραγμάtojv" (b 18/19) entnommen werden muß, nämlich die Bedeutung: „Grund" m . Die Auslegung des als Einzelsubstanz angesetzten Einen als Grund alles Vorhandenen wäre noch diskutabel — wenigstens für einen Aristoteliker 223 , wenn dieses Grundsein von Aristoteles — was er allerdings an dieser Stelle nicht ausspricht — nur nicht als Elementsem verstanden und damit die gewiß absurde Vorstellung verbunden würde, es könnte dann nur noch Einsen geben, ja, überhaupt nur eine einzige Eins: das den Eleaten zugeschriebene εν.

221

222 223

Sdiweglers Vorschlag, II, 63/4, in 1030 b 10 hinter dem „δσαχώς" ein „πρώτως" einzufügen, nachdem schon Ps.-Alexandras (475.35) τό κυρίως ϊν schreibt, ist wohl zu akzeptieren. Vgl. dazu III 4, 1001 a 6 den Ausdruck „ουσία των όντων" und das oben S. 298 f. Gesagte. Aristoteles verfidit schließlich in Buch XII, besonders am Ende von Kapitel 10, das Emssein des ersten Grundes.

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Zu kritisieren ist an dieser Charakterisierung des Einen natürlich dies, daß sie das allgemeinste, allen Kategorien — auch der Quantitätskategorie — „vorausgehende" Eine nun doch der Quantitätskategorie unterwirft und schließlich die Zahlbestimmtheit „eins" für die einzige inhaltliche Bestimmtheit hält. Wenn nun Aristoteles diese unsinnigen Konsequenzen dadurch zu vermeiden sucht, daß er die Charakterisierung des Einen als ουσία aufgibt, besteht die Gefahr, daß er damit auch das aufgibt, was die von ihm hier kritisierten Vertreter der Lehre vom Einen und Seienden mit dem Ausdruck „ουσία των πραγμάτων" sagen wollten: die Meinung nämlich, das Eine und das Seiende seien in irgendeiner Weise Grund für alles Dies-oder-JenesSeiende. Wird dem Einen und dem Seienden aber jegliches Grundsein für das bestimmte Seiende abgesprochen, verlieren sie (d. i. das Eine und das Seiende) jegliche Funktion, jegliche Bedeutung; sie werden eigentlich für überflüssig gehalten, wenn sie auch unter dem Titel „κοινά" weiterhin im Gespräch bleiben. Denn mit der aristotelischen Einteilung des Seienden in Einzelsubstanzen und in (wesentliche oder zufällige) Bestimmtheiten an Einzelsubstanzen wird das Erscheinende als in sich ruhend und als unabhängig vom Denken angesetzt; die jeglichen Gedanken von etwas und auch jegliche Wahrnehmung von etwas mitbedingenden transzendentalen Faktoren des Einen und des Seienden dagegen bleiben — gerade in ihrem Bedingungs-, Ermöglichungscharakter — unbedacht; sie werden übersehen und verschwiegen. Aristoteles ist davon überzeugt, daß das Eine und das Seiende Allgemeines sind, daß sie — wie jedes Allgemeine — vielen Exemplaren zugleich zukommen; daraus folgert er, daß sie — wie jedes andere Allgemeine — nicht auch noch neben den Einzelsubstanzen existieren können und daß sie keine ούσίαι sein können, weil eine ουσία keinem anderen Seienden zukommen könne (1043 b 21—27). Das Allgemeine ist demnach dadurch ausgezeichnet, daß es vielen Exemplaren zugleich zukommen kann. Leistet es in solchem Zukommen etwas für die vielen Exemplare? Bedingt, konstituiert es etwa dadurch das Einzelne? Aristoteles sagt nichts davon. Er betont nur, daß es kein selbständig Existierendes sei, und sieht offensichtlich darin ein Minus. Mit dieser verschwommenen Meinung über jegliches Allgemeine, die auch noch den Unterschied zwischen dem transzendentalen Allgemeinen und dem kategorialen zu übersehen scheint, höhlt Aristoteles (wenn er selbst der Autor dieser Partien ist) die — wohl von den Platonikern entwickelte — Lehre vom Einen und Seienden aus und macht sie bedeutungslos. Noch eine weitere Schwierigkeit muß herausgestellt werden. Nach V I I 16 ist das öv (ebenso wie das εν) ein κοινόν; es hat keine Existenz neben den

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Vom Seienden und vom Einen

Einzelgegenständen; es hat nicht den Rang einer ουσία224. Ist dies so zu verstehen, daß das Seiende allem — Substanzen wie Akzidentien — in gleicher Weise gemeinsam ist oder kommt es den Substanzen in erster Linie zu, den Akzidentien aber nur auf dem Umweg über die Substanzen oder kommt es etwa gar nur den Substanzen zu? Der Text äußert sich nicht zu diesem Problem. Der Ausdruck „κοινόν" läßt die Annahme zu, daß ein Zukommen in völlig gleicher Weise gemeint sei. Doch ein gleiches Zukommen würde die Univokation, die Synonymie des Seienden als solchen bedeuten, die doch an mehreren Stellen (ζ. B. in IV 2 und in V I I 4) negiert wird und durch ein „προς εν λέγεσϋαι" ersetzt wird. Mit dem Theorem, das ov sei ein προς εν λεγόμενον, ist es vereinbar zu sagen, die eine Gruppe — etwa das An-sich-Bestimmte oder die Einzelsubstanzen — sei seiend im ursprünglichen Sinne, die andere im abgeleiteten, vermittelten Sinne. Angenommen, das εν, auf das alles andere Seiende bezogen ist, sei die Einzelsubstanz (die Position von V I I 1 und 4 kann so ausgelegt werden), dann wäre es mit dem προς εν λέγεσθαι immer noch vereinbar, die Einzelsubstanz als das ,,πρώτως ov", als das „ov άπλώς" zu bezeichnen (wie es in V I I 1 geschieht). Wenn dagegen als das εν, als gemeinsamer Bezugspunkt für alles Seiende, die reine Form der An-sich-Bestimmung eingesetzt wird (was übrigens allein sinnvoll ist), kommt als πρώτως öv, als δν απλώς nur das mit jener reinen Form der An-sich-Bestimmung konvertible Seiende (als Seiendes) in Frage. Da dieses noch ohne jeglichen Inhalt ist, da es transzendental ist, ist es gegenüber den obersten Inhalten, den Kategorien, kein Gemeinsames, sondern nur deren Form. Noch weniger vermag es gegenüber den (in Urteilssynthesen) vermittelten, außerwesentlichen Bestimmungen als ein Gemeinsames zu fungieren, sondern nur als eine Bedingung (neben anderen). Weder bei dieser Auslegung des προς εν λέγεσθαι noch bei der mit dem Begriff der Einzelsubstanz operierenden gerät man in die Verlegenheit, auch noch über ein Seiendes etwas sagen zu müssen, das allem sonstigen Seienden gemeinsam sein soll, also auch dem „ursprünglichen", „vorrangigen" Seienden, d. i. der Substanz, zukommen soll. Doch der Vergleich von V I I 16, wo das Seiende als ein κοινόν bezeichnet wird, mit V I I 1, wo die Einzelsubstanz den Rang des πρώτως ov, des ov άπλώς, zugesprochen erhält, führt zu dieser Verlegenheit; er führt zu der Frage: In welchem Verhältnis steht demnach das „gemeinsame Seiende", das keine ουσία ist, zum „Seienden schlechthin, zum Seienden im ursprünglichen Sinn", das gerade ουσία ist, und zwar wohl 224

Wie oben S. 299 bereits erwähnt, werden in III 4, 1001 a 19 das δν und das 8v als „καθόλου μάλιστα πάντων" bezeichnet; bei der Behandlung von X 2 werden wir wieder auf diese Bezeichnung stoßen, ja sogar auf den Terminus „κοινόν". Vielleicht gilt das Folgende auch im Bezug auf jene zwei Stellen; der Text von VII 16 (mit der Betonung des Zukommens) zusammen mit dem von V I I 1 fordert jedoch am stärksten zu den hier vorgetragenen Bedenken heraus.

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Einzelsubstanz? Der Begriff des „Seienden im ursprünglichen Sinne", der den eines „Seienden im abgeleiteten Sinne" fordert, verträgt sich doch nicht mit dem eines „gemeinsamen Seienden". Ferner ist unverständlich, warum nicht das „gemeinsame Seiende" als öv απλώς bezeichnet wird und die Substanz als τι öv, w o doch gerade das „gemeinsame Seiende" dasjenige ist, welches noch nicht näher bestimmt ist zu einem τί Öv, während die Substanz, sofern es neben ihr auch noch Akzidentien gibt, doch bereits ein eingeschränktes, näher bestimmtes Seiendes (also ein τί öv) ist. Es ist nicht zu rechtfertigen, das öv für ein κοινόν auszugeben und zugleich ihm gegenüber einem bestimmten, eingeschränkten Seienden, nämlich der ουσία, das Plus einzuräumen, das Seiende schlechthin (δν απλώς) zu sein. Was mag der Grund sein, daß Aristoteles so Unvereinbares nebeneinandergestellt hat? W i r wissen es nicht. Doch dürfte folgende Annahme große Wahrscheinlichkeit für sich haben: Aristoteles hat bei Piaton bzw. dessen Nachfolgern in der Akademie eine Lehre vom ov f| öv kennengelernt; ohne diese Lehre völlig zu verwerfen, vertritt er selbst die Meinung vom Vorrang der Einzelsubstanz; er prüft nicht, ob sich die Lehre vom Öv — oder wenigstens der von ihm festgehaltene Restbestand jener Lehre — mit seiner eigenen Substanz- und Kategorienlehre vereinbaren läßt. Da beide Konzeptionen miteinander nicht zu vereinen sind, hätte er entweder die vom ov und εν ganz (auch in Worten) aufgeben müssen oder die eigene vom Primat der Einzelsubstanz nicht entwickeln dürfen. Die Reflexion auf die Bedingungen des Denkens und Erkennens hätte ihn zur Beibehaltung der Lehre vom öv und εν geführt, hätte freilich auch manche Präzisierungen und Korrekturen daran gefordert. Met. VIII. — Buch V I I I enthält nur eine kurze Partie über das Seiende und das Eine, und zwar im 6. Kapitel (1045 a 36 — b 7). In diesem Kapitel wird — unter Anknüpfung an V I I I 3, 1043 b 32 — 1044 a 14 — die Frage nach dem Einheitsgrund der Wesenheiten behandelt. Es wird gefragt nach dem Grund, der aus zwei Bestimmtheiten, wie der Gattungsbestimmtheit „Lebewesen" und der Differenzbestimmtheit „zweifüßig", die eine Artbestimmtheit „Mensch" stifte (1045 a 14 ff.). Die Antwort gibt Aristoteles, indem er die dabei gestiftete Einheit vergleicht mit derjenigen, die der handelnde Handwerker bewirkt durch die Verbindung eines sinnlichen Materials mit einer Gestalt, durch die Überführung eines Möglichseienden in ein Wirklichseiendes (a 25 ff.). Auch in jedem Wesensbegriff fungiere das eine Moment als Materie (ζ. B. die Gattungsbestimmtheit „Lebewesen") und das andere als verwirklichende Form (z.B. die Differenzbestimmtheit „zweifüßig") (a 34—35). Dabei dürfte Aristoteles „Materie" im Sinne von „nichtsinnlicher Materie" (ΰλη νοητή) verstehen, wenn die an dieser Stelle (a 33 bis 34) gemachte Unterscheidung von sinnlicher (ΰλη αισθητή) und nicht-

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Vom Seienden und vom Einen

sinnlicher Materie einen Sinn haben soll. Diese Unterscheidung wohl veranlaßte Aristoteles, nun (1045 a 36 — b y ) auch noch über den Einheitscharakter von solchem zu sprechen, das frei ist von jeglicher Materie, von sinnlicher wie von nichtsinnlicher. Er sagt, jedes Materiefreie sei unmittelbar auch schon ein bestimmtes wesenhaft Eines, wie zugleich auch ein bestimmtes (wesenhaft) Seiendes, so ζ. B. die Substanz (τό τόδε), die Beschaffenheit, die Quantität; das Seiende und das Eine fungierten diesen materiefreien Bestimmtheiten gegenüber nicht als Gattung und kämen daher auch nicht in deren Wesensbegriffen vor; deshalb sei es auch nicht möglich, für die Einheit einer jeden solchen Bestimmtheit ein anderes (als sie selbst) als Grund anzusetzen. Wir erfahren also aus dieser Stelle etwas darüber, wie sich Aristoteles das Verhältnis zwischen den Kategorien einerseits und dem (transzendentalen) Seienden und dem (transzendentalen) Einen andererseits denkt: genau gesagt: wie er es sich nicht denkt: nämlich nicht als Gattungs-Art-Verhältnis. Das Eine und das Seiende sind keine Gattungen mehr für jene materiefreien Bestimmtheiten; deren Freisein von Materie besteht gerade darin, daß sie keine Gattungen mehr über sich bzw. als Materie in sich haben, daß sie folglich selbst die obersten Gattungen sind. Daß sie nun das Eine und das Seiende nicht mehr als Gattungen über sich haben können, ist gewiß richtig; doch möchte der Interpret und Geschichtsschreiber der Transzendentalienlehre gerne wissen, welche positive Bedeutung Aristoteles dabei dem Einen und dem Seienden für jene materiefreien Bestimmtheiten beimißt. Soll der Nachdruck auf dem (ευθύς) δ π ε ρ liegen und auf diese Weise gesagt sein, daß eine jede solche materiefreie Bestimmtheit zugleich auch schon von sich aus, also unmittelbar, wesenhaft eine ist — nicht erst durch Hinzukommen eines Wirklichen zu einem Möglichen? Oder liegt die Betonung auf dem τί und soll auf diese Weise zum Ausdruck gebracht werden, daß eine jede dieser Bestimmtheiten immer schon ein bestimmtes Etwas, ein bestimmter Inhalt ist, freilich zugleich auch immer durch wesenhafte, unmittelbare Einheit ausgezeichnet? Betrachtet man den Zusammenhang, in dem diese Partie über das Materiefreie steht, so neigt man eher zu ersterem, prüft man jedoch den Text dieser Partie genauer, so wird man eher das letztere akzeptieren. Denn die Ausdrücke „0 π ε ρ εν τι" und „0 π ε ρ δν τι" kommen in dieser Partie nur je einmal vor (1045 b 1); sonst ist immer nur von „εν τι" und „ov τι" die Rede. Daraus ist zu entnehmen, daß der zweite Gedanke wenigstens mitbetont werden sollte. Nun ist auch dieser zweite Gedanke, wonach jedes Materiefreie (im Sinne von: jede Kategorie) immer schon ein bestimmter einsseiender Inhalt, nicht das bloße Eine selbst ist, richtig; die Kategorien, die obersten Gattungen, müssen als Gattungen von Inhalten bereits selbst Inhalte sein. Aber auch dieser zweite Gedanke enthält ebensowenig etwas über das Eine selbst und über das Seiende selbst wie der erste. Aristo-

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teles scheint bei der Abfassung dieser ganzen Stelle dem Einen selbst und dem Seienden selbst keinerlei Bedeutung zuerkannt zu haben, sondern gegenüber einer bestimmten (wohl zeitgenössischen) Meinung über das Eine und das Seiende nur betonen zu wollen, daß selbst die einfachsten, nicht mehr in Gattungs- und Differenzbestimmtheit zerlegbaren Gehalte immer schon bestimmte «'/«seiende Inhalte, d. h. zugleich auch: immer schon bestimmtes Seiendes seien. Er gebraucht die Termini „das Seiende" und „das Eine" (ζ. B. 1045 b 3) wohl nur noch deswegen, weil andere Denker eine Lehrmeinung über das Seiende selbst und das Eine selbst hatten und weil er sich von dieser Lehre distanzieren möchte. Man kann aber nicht die Augen davor verschließen, daß ein jedes εν τι und 6v τι bei all seiner Besonderheit immer audi noch ein εν bzw. ein ov ist, daß jedem von ihnen das Einssem und das Sein als solches zukommen: freilich nicht als gemeinsame Inhalte (was bereits den Gattungscharakter bedeuten würde), sondern nur als gemeinsame Formen m . Und selbst dieses kategorienjenseitige Minimum an Gemeinsamkeit genügt, um auch noch dieses Seiende als solches und dieses Eine zum Gegenstand der Reflexion zu machen; diese Reflexion schlägt sich nieder in der Transzendentalienlehre, in der positiven Charakterisierung der Funktion des Seienden, des Einen und der anderen Transzendentalien. A n der in Frage stehenden Stelle von Met. V I I I vermißt der Interpret jedoch jegliches Anzeichen dafür, daß Aristoteles dem Einen und dem Seienden überhaupt eine Funktion für die Kategorien zugedacht hat. Met. X . — Das Buch X der „Metaphysik" ist für die Geschichte der Transzendentalienlehre mindestens ebenso wichtig und folgenreich geworden wie das Buch I V . Beim Studium dieser Geschichte und deren Darstellungen fällt nämlich auf, daß diejenigen Vertreter und Geschichtsschreiber der Transzendentalienlehre, die sich vorwiegend an diesem „Metaphysik" Buch orientieren, mit dem Terminus des transzendentalen Einen immer schon den Gedanken an Kategoriales verbinden: es wird an Einfachheit, meistens jedoch an das numerische Einssein oder an das Einssein von Ausdehnungsgrößen gedacht; die von anderen Denkern gemachte Unterscheidung zwischen dem transzendentalen Einen und dem kategorialen (numerischen, quantitativen) Einssein wird von diesen Denkern entweder ganz abgelehnt oder umgedeutet. Zu diesen Denkern gehören vor allem Duns Skotus, Wilhelm v. Ockham und — mit einigen Einschränkungen — auch Franz

225

Genau genommen ist nur das Eine eine gemeinsame Form, nämlich die der Identität mit sich selbst; das als Inhalt überhaupt fungierende Seiende als solches setzt audi noch die im Wahrsein und Gutsein beruhenden Bezüge voraus.

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Vom Seienden und vom Einen

Suarez226. Ihre Auffassungen wirken sich nachteilig auf die weitere Entwicklung der Transzendentalienlehre, speziell auf die der Lehre vom transzendentalen Einen, aus, wie sich noch beim Studium des Übergangs zur Philosophie Kants wird zeigen lassen. Hier ist zunächst zu prüfen, inwiefern die Orientierung an Met. X zu jener Verkennung des Begriffs vom transzendentalen Einen führen konnte. Es ist zu fragen, ob in diesem Text jene Unterscheidung zwischen dem kategorienjenseitigen Einen und der quantitativen Eins überhaupt ausdrücklich gemacht ist, oder ob sie wenigstens vorausgesetzt ist. Wenn sie nur vorausgesetzt ist, konnte sie von den Interpreten freilich auch leicht übersehen werden. Diese Gefahr war aber besonders dann gegeben, wenn dem Text von Met. X keine einheitliche Konzeption zugrundeliegt. Die Frage nach der Einheitlichkeit drängt sich dem Interpreten schon auf, wenn er sich nur die Themen dieses Buches vorstellt: das Eine (Kapitel ι — 2 ) ; das Viele, das Identische, Gleiche und Ähnliche; das Andere und Verschiedene (Kapitel 3); das Entgegengesetzte (εναντία) (Kapitel 4); das Verhältnis zwischen dem Gleichen und dem „Groß-Kleinen" (Kapitel 5); das Verhältnis zwischen dem Einen und dem Vielen (Kapitel 6); Diairesisprobleme (Kapitel 7); Verhältnis zwischen Gattung und Differenz (Kapitel 8); die Gegensatzpaare „männlich-weiblich" (Kapitel 9) und „veränderlich-unveränderlich" (Kapitel 10). Mindestens bezüglich der Themen der Kapitel 1 — 6 ist der Zusammenhang mit der platonisch-akademischen Prinzipienlehre nicht zu übersehen (obwohl der Name Piatons nur einmal in Kapitel 2 und nur nebenbei erwähnt wird). Dies läßt doch annehmen, dieser Text sei a) entweder eine Fassung dieser Prinzipienlehre selbst (so daß er wenigstens dem Inhalt nach platonisch-akademisch wäre) oder aber b) eine Darstellung und Kritik der platonischen Lehre durch Aristoteles oder vielleicht c) eine von Aristoteles überarbeitete Fassung eines platonischen bzw. akademischen Konzepts. Welche der drei Möglichkeiten zutrifft, wird sich beim Studium des Textes ergeben. Dabei dürfte die zuerst genannte Möglichkeit (a) verhältnismäßig leicht auszuscheiden sein: nämlich dann, wenn im Text irgendeine platonische bzw. akademische Lehrmeinung kritisiert wird. Schwieriger dürfte die Entscheidung zwischen den Möglichkeiten b) und c) werden: für die Möglichkeit c) würde es sprechen, wenn platonischakademische Lehrmeinungen ohne jegliche Distanz referiert würden und nur die eine oder andere unter ihnen (also nicht jede) kritisiert würde, wobei diese Kritik oder eine aristotelische Lehrmeinung ziemlich unvermittelt ne226

Vgl. dazu besonders das Buch von Gottfried Martin: Wilhelm v. Ockham. Untersuchungen zur Ontologie der Ordnungen, Berlin 1949, S. 1—31. Audi Martin legt in diesem Buch und auch in der „Einleitung in die allgemeine Metaphysik" (zuletzt: Stuttgart 1965) bei der Darstellung der aristotelischen Lehre von der Einheit Met. X zugrunde.

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ben platonisch-akademischen Gedanken stehen konnte. Mindestens wenn diese Möglichkeit c) zutrifft (vielleicht auch schon, wenn mit der Möglichkeit b) und mit Mängeln in der Textüberlieferung gerechnet werden muß), ist Met. X uneinheitlich. Die Uneinheitlichkeit im Bezug auf die platonischakademische Prinzipienlehre würde aber zugleich auch eine Uneinheitlichkeit in Bezug auf die Transzendentalienlehre bedeuten. Denn es hat sich bis jetzt schon zeigen lassen, daß die Lehre vom transzendentalen Einen und Seienden ihren Ursprung hat in der platonisch-akademischen Lehre vom Einen und Vielen sowie dem Seienden selbst als Prinzipien alles Dies-oder-JenesSeienden. Sowohl die unkritisiert gebliebenen Mängel dieser Lehre selbst wie auch die Mängel in der aristotelischen Kritik dieser Lehre konnten für die spätere Transzendentalienlehre Folgen haben. — Am wichtigsten für unser Thema sind die über das Eine (Χ ι — 2 ) sowie die über das Verhältnis zwischen dem Einen und dem Vielen (in X 6) handelnden Partien. I n X i (1052 a 15 — b i ) werden zunächst vier verschiedene unmittelbare (καθ5 αυτά λεγόμενα) Bedeutungen des Terminus „εν" behandelt: als „εν" wird bezeichnet, 1.) was von Natur aus zusammenhängt (συνεχές), 2.) was ein Ganzes ist und eine bestimmte Gestalt und eine einheitliche Bewegung hat, 3.) was durch eine einheitliche Anschauung als ein Einzelnes gegeben ist (to καθ' εκαστον) und 4.) was eines ist auf Grund eines allgemeinen Begriffes. Das Gemeinsame dieser vier Bedeutungen von „εν" wird darin gesehen, daß jedesmal ein Ungeteiltes (άδιαίρετον είναι) vorliege (1052 a 34 — b 1). — Der Interpret darf wohl kaum annehmen, der Autor habe das „άδιαίρετον είναι" etwa gar als Unteil^örsein verstanden, da in Bezug auf jede der vier genannten Einheitsweisen die Möglichkeit zur (quantitativen) Teilung oder (qualitativen) Analyse nicht bestritten werden kann. Der Autor wird wohl nur an ein faktisches Ungeteiltrei« gedacht haben. Noch zutreffender hätte er diese Bedeutungen von „εν" charakterisiert als Weisen der Einheit eines Mannigfaltigen. Erhebt man diese Forderung und hält daran fest, daß Unteilbarkeit nicht vorliegt, so wird man prüfen müssen, ob der Autor diese vier Bedeutungen des Terminus „εν" klar unterschieden hat von jener Bedeutung von „εν", die mit dem Seienden als solchem konvertibel ist und die er bei der Bestimmung des „τό ένί είναι" (von 1052 b an) im Auge hat. Wenn sich der Autor über das Verhältnis zwischen diesen vier Bedeutungen einerseits und der des τό ένί εΐναι andererseits gar nicht äußert, besteht die Gefahr, daß das mit dem Seienden konvertible Eine mit einer dieser synthetischen Einheitsweisen konfundiert wird. Ist es überhaupt erforderlich, im Rahmen einer Untersuchung der obersten Prinzipien über diese Bedeutungen des Terminus „εν" zu sprechen? Der Hinweis (1059 a i ß — 1 6 ) auf die frühere Behandlung solcher Bedeutungen in dem Buch über die Bedeutungsunterschiede, womit nur das Buch V gemeint sein kann (genau: Kapitel 6, 1015 b 3 6 — 1 0 1 6 b 17), läßt die Frage stellen, ob nicht der

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Vom Seienden und vom Einen

Blick auf jene Partie in V 6 überhaupt erst zur Entstehung dieser Bedeutungsaufzählung und zu deren Einfügung hier geführt hat. Diese Frage läßt sich auch nicht dadurch abweisen, daß man auf die Erwähnung der Vieldeutigkeit des Terminus „εν" in der nun (b 10—15) sich anschließenden Überleitung zum Begriff des τό ένί είναι aufmerksam macht. Diese Überleitung enthält so manches Textproblem; außerdem sucht man darin vergebens nach einer klaren Gegenüberstellung der vier genannten Einheitsweisen einerseits und der reinen Form des Einen selbst (τό ένί είναι) andererseits. Auch das angeführte Beispiel (das Element „Feuer" — das Elementsein selbst) weist nicht in die Richtung einer solchen Gegenüberstellung, die auf eine Unterscheidung zwischen dem transzendentalen Einen und verschiedenen kategorialen Einheitsweisen hinauslaufen würde, sondern viel eher auf das Verhältnis zwischen einer reinen Bestimmtheit (ζ. B. der des Elementseins selbst) und der in einem anderweitig schon bestimmten Seienden einwohnenden Bestimmtheit (ζ. B. des Elementseins im Feuer). Diese Überleitung enthält zuviel Unklarheiten, als daß sich ihr etwas Sicheres über das Verhältnis zwischen den genannten vier Bedeutungen des Terminus „εν" und dem reinen Einen selbst (τό ένί είναι) entnehmen ließe. 227. Zweifel an der zuverlässigen Überlieferung des ursprünglichen Textes bestehen auch bezüglich der Definition des τό ένί είναι (in 1052 b ff.)228. Mit

227

228

Auch der von mir in einer Besprechung des Buches von Leo Elders „Aristotle's Theory of the One" (Assen 1961) vorgelegte Erklärungsversuch (in: Arch. f. Gesch. d. Phil., Bd. 47 (1965), S. 206—2x6, spez. 210—211) für die zweite Hälfte dieser Einleitung erscheint mir heute nicht mehr akzeptabel. Während sich die Textkritik bisher nur auf einzelne Wörter der Zeilen b 16—18 (δπερ τόδε . . . άδιαιρέτφ) bezog, kann darüberhinaus bezweifelt werden, ob diese Zeilen überhaupt zum ursprünglichen Text gehört haben (schon Ps.-Alexandros, 606.18—26, haben sie Schwierigkeiten bereitet). Es lassen sich schwerwiegende Bedenken anmelden: a) Wenn diese Zeilen innerhalb der Definition des τό ένί είναι hingenommen werden müßten, würde die reine Bestimmtheit des Einen selbst zugleich so Verschiedenes sein wie ζ. B. das körperliche Einzelding ( . . . τόδε δντι καΐ Ιδίςι χωριστφ ή τόπφ) und eine bestimmte (immer aber doch allgemeine) Artbestimmtheit ( . . . χωριστφ ή εϊδει ή διανοίςι . . . ) . Als reine Bestimmtheit kann aber immer nur Eines gesetzt sein, niemals so Verschiedenes, niemals ein unvereinbares Mannigfaltiges. — b) Das Eine selbst kann als ein Kategorienjenseitiges (aber auch selbst dann, wenn es schon eine Kategorie wäre) noch nicht ein so Bestimmtes sein wie ein konkreter Einzelgegenstand oder auch nur wie eine Artbestimmtheit. Abgesehen davon bemüht sich Aristoteles weiter unten (zu Beginn von X 2) zu zeigen, daß das Eine gerade keine ουσία sei, womit er sagen möchte, daß es kein selbständig Existierendes sei, und behauptet er, daß das Eine — ebenso wie das Seiende — nur ein κατηγόρημα sei und als das Allgemeinste von allem Seienden prädiziert werde. Demnach kann das Eine selbst nicht ein Einzelgegenstand sein, ja nicht einmal die Bestimmtheit „Einzelgegenstand", weil auch diese nicht von jedem Inhalt (ζ. B. nicht von Art- und Gattungsbestimmtheiten) prädiziert werden kann. —

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ziemlich großer Wahrscheinlichkeit wird man annehmen dürfen, daß das Eine selbst (τό ένί είναι) bereits von Anfang an durch das Unteilbarsein charakterisiert war (1052 b — 16). Ganz sicher war es auch ursprünglich schon dadurch definiert, erstes Maß für jede Gattung zu sein, vorzüglich für die der Quantität (b 18—19). — Die Zuordnung zu jeder Gattung, Kategorie, läßt darauf schließen, daß hier zwar versucht wird, das Eine als kategorienjenseitig anzusetzen, daß aber infolge der Betonung der Quantitätskategorie eine irreführende Orientierung am Begriff der (quantitativen) Eins drohen mußte. Auch die Meinung, der Gedanke des Maßes sei erst von da aus auf die anderen Kategorien übertragen worden (b 19—20), wird nur die Ausdehnung des Bereichs der quantitativen Bestimmung, der Messung, im Auge haben. In diese Richtung weisen auch die folgenden Zeilen (b 20—27), die übrigens (mit einem fünfmaligen ,,γιγνώσκεται") unmißverständlich zum Ausdruck bringen, daß das Eine, sofern es Maß ist, Erkenntnisprinzip ist: „Maß ist nämlich das, wodurch das Quantitative erkannt wird; das Quantitative als Quantitatives wird aber erkannt entweder durch die (Zahl) Eins oder durch eine (andere) Zahl, jede Zahl aber wieder durch die Eins; alles Quantitative als solches wird daher (letztlich) durch die Eins erkannt und dasjenige Erste, wodurch das Quantitative erkannt wird, ist die Eins selbst; darum ist die Eins Prinzip der Zahl als Zahl. Von da ausgehend nennt man auch in den anderen Bereichen Maß dasjenige, durch welches als erstes ein jeder Gegenstand erkannt wird, und das Maß für ein jedes ist eine Eins bei Strecken, bei Flächen, bei Volumina, bei Gewichten und bei Geschwindigkeiten." — Die Tatsache, daß hier das Maß, das Eine, als Erkenntnisprinzip ausgelegt wird, soll erst an späterer Stelle (in Verbindung mit 1053 a 18 bis 24 und a 31 — b 3) ausgewertet werden. Zunächst 229 soll ein näherliegender Gedanke weiterverfolgt werden: die bei der Messung von Strecken, Flächen, Gewichten usw. als Maßstab fungierende Eins ist nicht eine abstrakte und so in den verschiedenen Bereichen gleiche Größe, sondern hat jedesmal schon einen bestimmten Inhalt. Der Autor sagt, der Maßstab sei immer schon ein „εν τι", ζ. Β. für Strecken selbst eine Strecke, nämlich die von ein Fuß Länge (1052 b 3 1 — 3 3 ) , für Bewegungen die einfachste und

229

c) Der in diesen Zeilen zum Ausdruck gebrachte Gedanke, das Eine selbst sei das Ein-Dieses-Sein und bedeute daher eine räumliche Trennung des einen von jedem anderen oder doch wenigstens ein Unterschiedensein der Art nach, wird im weiteren Verlauf der Kapitel 1 und 2 nicht mehr aufgegriffen; er ist audi gar nicht verträglich mit dem übrigen Inhalt dieser Kapitel. — Aus diesen Gründen ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß diese Zeilen als Zusammenfassung der Partie 1052 a — b 1 erst von einem Redaktor hierher gesetzt worden sind. Die Zeilen 10^2 b 2 7 — 3 1 : „τό γαρ βάρος . . . . κουφοτέρου" dürften erst später eingeschoben worden sein und können im Rahmen dieser Untersuchung übergangen werden.

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schnellste Bewegung, d. i. in der Astronomie die des Fixsternhimmels (1053 a 8 — 1 2 ) , für den Bereich der Musik der Viertelton und für den der Sprache der Buchstabe (a 1 2 — 1 3 ) . Diese inhaltliche Bestimmtheit des jeweiligen Mäßstabes macht es unmöglich, das Eine als ein gemeinsames für alle Bereiche, Gattungen, anzusetzen (a 1 3 — 1 4 : ούχ ώς κοινόν τι τό εν). — Und noch ein damit zusammenhängender Punkt sei hier schon angefügt (obwohl er erst in 1053 a 2 4 — 3 0 genannt wird): Maßstab und Gemessenes sind homogen, gehören der gleichen Gattung an; für Strecken ζ. B. ist das Maß selbst eine Strecke, für Flächen selbst eine Fläche, für Laute selbst ein Laut, für Gewichte selbst ein Gewicht, für Zahlen jedoch nicht wieder eine Zahl, sondern die Eins 230. Geht man die referierten Thesen über das Eine durch, so fällt es schwer, darin Anhaltspunkte für eine Theorie vom transzendentalen Einen zu finden. Vielmehr scheint alles dafür zu sprechen, daß hier eine Betrachtung der quantitativen Eins und ihrer Maßfunktion in den verschiedenen Dimensionen vorliegt, zumal das erste Maß für das Quantitative, nämlich die Zahl Eins, auch als „αυτό εν" bezeichnet wird (1052 b 23) 231 . Auch die These, daß das Eine jedesmal schon ein bestimmter Inhalt sei, wird mit Beispielen zu belegen versucht, die alle dem Bereich des Quantitativen entnommen sind; insofern ist es nicht verständlich, warum verneint wird, daß das Eine ein Gemeinsames sei (1053 a 1 3 — 1 4 ) . — Es läßt sich jedoch nun auch auf einige Stellen von X 1 hinweisen, die diese Betonung des Quantitativen mindestens noch verträglich machen mit dem Gedanken, das Eine werde vom Autor doch zunächst als das transzendentale Eine gemeint. Das Eine wird nämlich hingestellt als das Maß für jede Gattung (1052 b 18); es ist gewiß in erster Linie (κυριώτατα) das des Quantitativen (b 19), aber es wird doch nicht gesagt, daß es dies ausschließlich sei; es ist Maß für alles (1053 a 1 8 — 1 9 ) , wenn auch zunächst für das Quantitative, so doch nachher auch für das Qualitative (b 5 — 6 ) ; es ist das Unteilbare entweder in quantitativer oder in qualitativer Hinsicht (b 6 — 7 ) . Diese Zuordnung des Einen zu jeder Kategorie, wenigstens aber zur Quantität und zur Qualität (hier ist das Eine der einfachste, nicht mehr 230 231

Die Eins wird in der griechischen Mathematik nicht für eine Zahl gehalten. Eiders hat in seinem Kommentar zu Met. X „Aristotle's Theory of the One", Assen 1961, p. 80 bereits auf das Vorherrschen der quantitativen Betrachtungsweise in X 1 aufmerksam gemacht und festgestellt: „The scholastics would say that the chapter is a study of the ,unum non transcendent ale'". In meiner Besprechung des Buches (Arch. f. Gesch. d. Phil., 47 (1965), 206—216) konnte ich Eiders in diesem Punkte nicht widersprechen. Nach weiterem Studium des Textes meine ich nun doch Spuren einer Theorie vom Transzendentalen audi in X 1 zu finden, zumal diese in X 2 nicht mehr zu übersehen sind.

Met. Χ weiter reduzierbare Inhalt), impliziert — bei aller Verschiedenheit des Inhaltes — doch noch ein Gemeinsames: wenigstens die Form, die Funktion des Einen, sein Maßsein, muß in allen Kategorien noch die gleiche sein, sonst wäre eine solche Zuordnung zu jeder Kategorie gar nicht mehr möglich. Auch die Bezeichnung des Einen als Maß für alles" (πάντων μέτρον) ließe sich nicht mehr aufrecht erhalten, wenn das Eine nicht selbst auch noch ein Minimum an Einheit, an Gemeinsamkeit bei allem Verschiedensein der Maßbeziehungen, aufzuweisen hätte. Ein Minimum an gemeinsamer Form, gemeinsamer Funktion in allen möglichen Beziehungen zwischen dem Einen selbst und jedem beliebigen Seienden ist vorausgesetzt, wenn das Eine allein (also nicht etwa zusammen mit einem anderen Prinzip) der Allheit des Seienden gegenübergestellt wird. Eine minimale Gemeinsamkeit im Form- und Maßstabcharakter genügt aber schon, um die Berechtigung einer transzendentalen Auslegung des Einen aufzuzeigen. — Das Kapitel 2 wird weitere Anhaltspunkte für eine transzendentale Auslegung liefern. Wir können uns daher mit dem Gesagten vorerst begnügen und uns der Meinung zuwenden, das Eine sei Erkenntnisprinzip. Es wurde schon vermerkt, daß in 1052 b 20—27 das Eine, wenigstens sofern es Maß für das Quantitative ist, als Erkenntnisprinzip betrachtet wird. Demnach wird das Quantitative als solches durch die Zahl und letztlich durch die Eins erkannt. Aber auch in den anderen Kategorien sei das Maß, d. h. das jeweilige Eine, dasjenige Prinzip, durch welches ein jeder Inhalt der betreffenden Kategorie erkannt werde (10^2 b 24—2^); das Eine sei das Maß von allem, weil wir nur im Rückgang auf das quantitativ Eine (d. i. die Eins) oder auf das qualitativ Eine die Aufbaustücke eines Gegenstandes erkennen würden (1053 a 18—20). Was ergibt sich nun aus dieser Einstufung des Einen (wenigstens soweit es bereits kategorial betimmt ist) als eines Erkenntnisprinzips für das Verhältnis der Erkenntnis zum Sein? Ist damit die als griechisch überlieferte Auffassung verträglich, daß die Erkenntnis sich nach dem Sein zu richten habe, daß das Sein das Maß für die Erkenntnis sei? Darauf muß gesagt werden: Es ist miteinander unvereinbar, zu erklären, das Eine sei das Maß und Prinzip der Erkenntnis — und zugleich: das Sein sei das Maß der Erkenntnis. Zur Begründung läßt sich folgendes anführen: Wenn das Sein Maßstab wäre, könnte das Eine nicht gegenüber dem von ihm gemessenen Mannigfaltigen einen Vorrang eingeräumt bekommen, da das Mannigfaltige mindestens im gleichen Grade seiend ist wie das Eine; einen Vorrang des Einen vor dem von diesem Einen mitkonstituierten Mannigfaltigen, eine Maßstabsfunktion des Einen kann es nur in der Erkenntnis geben. Ferner: Wenn das Sein als das Maß für die Erkenntnis ausgegeben wird, so ist damit sicher gemeint, die Erkenntnis solle mit dem Sein übereinstimmen. Gegen diese Meinung läßt sich bekannt-

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lieh einwenden: die Erkenntnis könnte sich niemals einer solchen eventuellen Übereinstimmung mit einem von ihr völlig unabhängigen Sein vergewissern, ohne sich völlig selbst aufzugeben und dieses Sein selbst zu werden. Die gegenteilige These, wonach die Erkenntnis das Maß für das Sein wäre, entgeht jenem Einwand leicht. Außerdem ist sie mindestens vereinbar mit der Auslegung des Einen als eines Maßes, als eines Ersten; denn das Maß, das Erste für die Erkenntnis des jeweiligen Mannigfaltigen, kann dies (Maß) nur sein, weil das Maß, das Erste, selbst schon eine Erkenntnis ist, und zwar eine „frühere". Diese „frühere" Erkenntnis des Einen ist also schon ein Maß. Aber Maß wofür? Für Seiendes oder nur für eine andere Erkenntnis? Nun, wenn für Erkenntnis, dann gewiß für Erkenntnis von Seiendem. Insofern wäre die Erkenntnis (des Einen) wenigstens vermittelterweise das Maß für Seiendes. Das würde bedeuten, daß in diesem Kapitel das Gegenteil vorausgesetzt wäre zu der — immer wieder den Griechen zugeschriebenen — Auffassung vom Gemessenwerden der Erkenntnis durch das Sein. Mit diesem Ergebnis können wir zur Diskussion der dritten hier einschlägigen Partie von Χ ι übergehen ( X i , 1053 a 31 — b 3). Hier heißt es: „Wir nennen das Wissen Maß der Dinge und die Wahrnehmung ebenfalls, weil wir eben etwas durch sie (d. i. Wissen und Wahrnehmung) erkennen." Damit scheinen also die Konsequnzen aus der These, das Eine sei Maß alles Seienden, gezogen und das Gegenteil einer für typisch griechisch gehaltenen Meinung über das Verhältnis von Wissen und Sein vertreten zu werden. Dieser Satz steht da, ohne — wie man es von der Philosophiehistorie her erwartet — dem Protagoras zugeschrieben zu werden; vielmehr zählt der Autor zunächst sich selbst zu den Vertretern dieses Gedankens (λέγομεν). Man ist daher geneigt anzunehmen, daß sich Aristoteles dabei noch zu den Piatonikern rechnet. Denn mit Piatons Philosophie, speziell mit seiner auch für das Verhältnis von Wissen und Wißbarem geltenden Relationslehre, ist der Gedanke vom Wissen als Maß der Dinge sehr wohl vereinbar — ausgenommen jedoch die darin enthaltene Gleichstellung der Wahrnehmung (αισθησις) mit dem Wissen. Die so folgenreiche Gleichstellung von Wahrnehmung und Wissen würde Piaton niemals zugestanden haben, wie seine Auseinandersetzung mit der Position des Protagoras (z.B. Theait. 161 c5.) beweist. Wessen Meinung mit dieser These von Wissen und Wahrnehmung als Maß der Dinge wirklich wiedergegeben wird, läßt sich also nicht mit Sicherheit ausfindig machen. Der Autor selbst, der sich zunächst wenigstens mit dieser These zu identifizieren scheint (λέγομεν), distanziert sich mit dem folgenden Satz wieder: „Aber sie (d. i. Wissen und Wahrnehmung) werden viel eher gemessen, als daß sie messen würden; denn es ergeht uns dabei so, wie wenn wir erkennen würden, wie groß wir sind, indem ein anderer uns

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mißt und die Elle soundsooft an uns anlegt."232 — Diese distanzierende Stellungnahme enthält einige Unklarheiten. Sie könnte auf den ersten Blick als Zurückweisung eines befürchteten Subjektivismus erscheinen, kann aber auch selbst als Subjektivismus ausgelegt werden. Es drängen sich mindestens zwei Fragen auf: a) Liegt nicht auch hier ein subjektivistischer Begriff vom Wissen zugrunde, wenn versucht wird, das Gemessenwerden des Wissens mit dem Gemessenwerden unserer Körper zu beweisen? — b) Wenn unsere Körper gemessen werden, wissen wir, wie groß „wir" sind; im Wissen um Gegenstände (πράγματα) wissen wir aber zunächst um anderes, als wir sind; nun die Frage: Möchte uns der Autor mit seinem Vergleich vom Gemessenwerden sagen, daß wir im Wissen nicht ein objektives Wissen von Gegenständen haben, sondern immer nur ein Wissen um eigene Zustände (πηλίκοι ε σ μ έ ν)? Infolge der Knappheit des überlieferten Textes werden sich diese Fragen nicht beantworten lassen. Rätsel gibt auch der weitere Verlauf des Textes auf. Wahrend die soeben diskutierte Stellungnahme zur μέτρον-These ebendiese μέτρον-These (unausgesprochen) mit der Position des Protagoras auf eine Stufe zu stellen scheint, wird nun im folgenden Satz doch ein Unterschied zu machen versucht: „Protagoras aber sagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge, als ob er sagte, der Wissende sei es oder der Wahrnehmende, und zwar diese, weil der eine Wahrnehmung hat und der andere Wissen: also das hat, was nach unserer Meinung die Maßstäbe, Kriterien für die zugrundeliegenden Gegenstände sind" (1053 a 35 — b 3). Hier wird also zwischen der Position des Protagoras und der vorher vorgetragenen „eigenen" These folgender Unterschied gemacht: nach Protagoras ist der Einzelmensdi, der neben anderen auch Wahrnehmung oder Wissen besitzt, das Maß aller Dinge — nach der „eigenen" Meinung dagegen sind das Wissen selbst und die Wahrnehmung selbst die Kriterien für das Dasein von Gegenständen. Es sieht also so aus, als würde dieser Satz den vorausgehenden, mit dem sich der Autor von der „eigenen" μέτρον-These wieder distanziert, nicht voraussetzen, als würde an dem, was vorher als eigene Meinung über das Wissen als Maß hingestellt worden war, noch festgehalten. Auch der nächste Satz enthält keinerlei Selbstkritik, sondern nur eine Kritik an 232

Bei dieser Ubersetzung gehe ich jedoch davon aus, daß die Wörter „έπεί" und „άλλά" vertauscht werden sollten. An der überlieferten Stelle belassen, läßt sidi zwar das „έπει" verteidigen, wenn man es konzessiv auffaßt, aber doch nicht mehr das „άλλά". Denn wozu soll der άλλά-Satz dann noch einen Gegensatz bilden, wenn doch die μέτρον-These schon entschärft ist durch einen konzessiven έπείSatz? Den eigentlichen Gegensatz zum μέτρον-Satz bildet doch die im überlieferten έπεί-Satz ausgesprochene Meinung, Wissen und Wahrnehmung würden viel eher gemessen usw., während der überlieferte άλλά-Satz einen Begründungsversuch für diese Meinung darstellt. Aus diesem Grund schlage ich die Vertauschung von έπεί und άλλά vor.

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Protagoras oder dessen Anhang233. Und so scheint auch dieses Sätzchen geschrieben worden zu sein, ohne den Satz, mit welchem sich der Autor von der eigenen μέτρον-These wieder distanziert. Der distanzierende Satz dürfte demnach erst bei einer Bearbeitung eingefügt worden sein 234. Noch wichtiger aber ist dies: Die These, daß das Wissen das Maß der Dinge sei, von der sich der Bearbeiter (vielleicht war es sogar Aristoteles selbst) distanzieren zu müssen glaubt, ist zusammen mit der von der allumfassenden Maßfunktion des Einen ein idealistischer Gedanke. Durch die Distanzierung hier und durch die Kritik am Begriff des Einen im folgenden Kapitel wird dieser Gedanke entstellt und schließlich unkenntlich. Dies hat Folgen für die Geschichte der Transzendentalienlehre. Zu Beginn von Kapitel 2 wird — unter Hinweis auf das Aporien-Buch — die Frage gestellt, wie das Eine anzusetzen sei: ob es selbst, für sich, schon eine ουσία sei, wie es früher die Pythagoreer gemeint hätten und später Piaton, oder ob ihm vielmehr erst eine sonstwie bestimmte Wesenheit zugrundeliegen müsse, so daß man eher wie die alten Naturphilosophen über es sprechen müsse, von denen der eine gelehrt habe, das Eine sei die Liebe, ein anderer, es sei die Luft, wieder ein anderer, es sei das Unendliche (1053 b 9 — 1 6 ) . — Der Hinweis gilt sicher der 11. Aporie in Buch III (1, 996 a 233

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1053 b 3: ούθέν δή λέγοντες περιττόν φαίνονται (σοφόν) τι λέγειν. „Während sie nichts Genaues (d.i. etwas Ungenaues) sagen, erwecken sie den Anschein, als sagten sie etwas Gescheites". — Die textkritischen Apparate der neueren Ausgaben verzeichnen nur die Varianten „λέγων" und „φαίνεται", die beide vom Sinn her auch noch akzeptabel sind. Aber sowohl mit diesen Varianten wie auch in der besser überlieferten Form (λέγοντες — φαίνονται) kann der Satz noch nicht für vollständig gehalten werden: ob man nun das „περιττόν" auf „ούθέν" oder auf „τι" bezieht, in jedem Fall muß ein Analogon zu ihm ergänzt werden, denn weder kann Protagoras und seinen Anhängern nachgesagt werden, daß sie gar nichts sagen und ebendadurch etwas Besonderes oder Überflüssiges (περιττόν) zu sagen scheinen, noch auch, daß sie in Wirklichkeit nichts Besonderes sagten und ebendadurch etwas bloß zu sagen scheinen. Träfe ersteres zu (d. h. sagten die Protagoreer wirklich gar nichts) läge auch nichts vor, gegen welches irgendwie positiv oder negativ Stellung genommen werden könnte; träfe dagegen letzteres zu (d. h. sagten sie nichts Besonderes), sagten sie immerhin wirklich etwas und erweckten nicht bloß den Anschein, etwas zu sagen. Die Ergänzung von σοφόν bietet sich an, weil Ps.-Alexandros (611.24) den Satz so umschreibt oder erläutert: „ουδέν ουν λέγων περιττόν καΐ σοφόν δοκεϊ σοφόν τι λέγειν*. Eine solche Distanzierung liegt auch in X 6, 1057 a 7 — 1 2 vor, indem die Lehrmeinung, das Wissen sei das Maß und das Wißbare das Gemessene, umgekehrt wird zu der Meinung, das Wissen werde durch das Wißbare gemessen, und zwar mit der Begründung, jedes Wissen sei auf ein Wißbares bezogen, doch nicht jedes Wißbare auf ein Wissen. — Zur Textgestalt: Ich nehme an, daß in a 10 vor έπιστητόν und in a 11 vor έ πιστή μην ein „προς" zu ergänzen ist, nachdem in a 5 (πρός τι Ινια) und in a 8 (πρός τό έπιστητόν) die Präposition „πρός" schon vorkommt; stattdessen wären auch die Genitivformen „επιστητού" (in a 10) und „έπιστήμης" (in· a 11) zu erwägen.

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4 — 9 ; 4, ι ο ο ι a 4 — b 25; s. oben S. 298 fi.). Dort (996 a 7 und 1001 a 6) findet sich bei der Wiedergabe der pythagoreischen und platonischen Lehrmeinung immerhin noch der Ausdruck „ουσία των δντων", aus dem man entnehmen kann, daß nach jener Lehre das ουσία-Sein des Einen (wie auch des Seienden) als eine Funktion für alles Seiende verstanden worden war. Aristoteles vermerkt dies allerdings an jener Stelle nicht ausdrücklich; an dieser Stelle kommt nicht einmal mehr der Genitiv „των δντων" vor, so daß der Eindruck entsteht, die Pythagoreer und Piaton hätten mit ihrer Meinimg vom ουσία-Sein des Einen nur über das Eine für sich allein, ohne jeglichen Bezug auf anderes, etwas sagen wollen, nämlich wenigstens dies: das Eine sei schon allein, für sich genommen, ein eigener, bestimmter Inhalt. Als Alternative bietet Aristoteles eine Meinung an, die er glaubt, bei den alten Naturphilosophen zu finden. Nach dieser Meinung liegt dem Einen immer schon etwas, ein bereits irgendwie Bestimmtes zugrunde. Das Eine könnte nach dieser Meinung mindestens nicht allein, ohne einen ihm zugrundeliegenden Inhalt gedacht werden. Dem Interpreten drängt sich eine Zwischenfrage auf: Hat demnach das Eine immer den nämlichen Inhalt oder etwa einen von Kategorie zu Kategorie verschiedenen? Hat es den nämlichen, so kann es kein Kategorienjenseitiges mehr sein, nicht mehr Maß von allem, weil ein jeglicher Inhalt bereits unter eine Kategorie fällt; hat es dagegen einen nach Kategorien differenzierten Inhalt, so muß es trotzdem noch eine, wenn auch minimale Einheit sein, sonst ließe sich über es überhaupt nichts mehr denken und sagen; dann ist aber diese minimale Einheit — es mag eine Einheit bloß der Form sein — so fundamental, daß sie durch die Verschiedenheit im inhaltlichen Bestimmtsein gar nicht angetastet werden kann; folglich ist es in Bezug auf das Eine selbst mindestens irreführend zu betonen, daß ihm immer schon ein bestimmter Inhalt zugrundeliege. Die von Aristoteles gestellte Alternativfrage kann also bezüglich des kategorienjenseitigen Einen nicht gestellt werden; denn mit dem Ausscheiden des zweiten Gliedes der Alternative verliert auch das erste Glied seinen Sinn. Es könnten aber Zweifel angemeldet werden daran, ob diese Alternativfrage zutreffend ausgelegt ist. W i r d nicht vielmehr gefragt: Ist das Eine selbst, allein für sich, schon eine selbständige Substanz oder bedarf es dazu eines Stoffes als Grundlage? Für diese Auslegung der Alternativfrage spricht das unmittelbar sich anschließende Textstück (1053 b 1 6 — 2 4 ) , für die zuerst vorgetragene jedoch das darauffolgende (1053 b 24 — 1054 a 9). Zunächst (b 1 6 — 2 4 ) wird nämlich dem Einen (wie auch dem Seienden) der ούσία-Charakter abgesprochen, und zwar mit der Begründung, daß kein Allgemeines den Rang einer ουσία habe, das Seiende und das Eine würden aber als das Allgemeinste von allem und jedem prädiziert; daher seien sie unmöglich ούσίαι in dem Sinne einer bestimmten Einheit, die neben dem

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davon abhängigen Mannigfaltigen für sich existieren könnte, sondern vielmehr nur ein Prädikat (κατηγόρημα μόνον)235. Hier kann also mit „ουσία" nicht mehr bloß ein bestimmter Denkinhalt gemeint sein, weil sie als ein Inhalt immer noch ein Allgemeines sein könnte, sondern nur ein Solches, das selbständig und individuiert existiert, während ein jeglidies Allgemeine (erst recht das Allgemeinste: wie z.B. das Seiende und das Eine) nur ein bloßes „κατηγόρημα" sein soll. Diese Gegenüberstellung von selbständig Existierendem, d. i. von Einzelgegenständen einerseits und bloß in Gedanken oder Worten Bestehendem, Allgemeinem andererseits mag dem sogenannten gesunden Menschenverstand zunächst als unbedenklich, als akzeptabel erscheinen. Sie kann aber nicht hingenommen werden: einmal nicht wegen des damit verbundenen Nominalismus, der eine unüberwindbare Kluft aufreißt zwischen dem als ουσία Existierenden einerseits und dem bloß gedachten bzw. gesprochenen κατηγόρημα, welches gleichwohl jenes unabhängig Existierende erkennen soll, andererseits. Wenn man davon absieht, könnte man bei der Prädikation eines Allgemeinen, das noch in den kategorialen Bereich fällt (also ζ. B. des Artbegriffs oder eines niederen oder höheren Gattungsbegriffs), immer noch einräumen, daß immerhin ein (gedachter) Inhalt auf den zu erkennenden Gegenstand bezogen wird. Dies trifft dagegen nicht mehr zu, wenn man die transzendentalen Bestimmungen „das Seiende" und „das Eine", die zwar die allgemeinsten „Prädikate", aber keine Gattungen mehr sind (1053 b 20—23), von den angeblich allein wirklich existierenden Einzelgegenständen zu prädizieren versucht. Denn welchen Sinn kann es noch haben, von einem X , das von vornherein bereits als wirklich existierend angesetzt ist und dessen Konstitution in der Erkenntnis nicht im geringsten untersucht wird, auch noch zu sagen, es sei ein Seiendes? Damit wäre etwas Blasseres, Abstrakteres (eben etwas, das als ein bloßes Wort abgetan wird) gesagt, als in der wirklichen Existenz bereits gesetzt ist (bzw. nach der Meinung des gesunden Menschenverstandes: hingenommen wird), so daß diese Prädikation mindestens überflüssig (wenn nicht gar irreführend) wäre. Wo die wirkliche Existenz von Gegenständen fraglos hingenommen wird und deren Bedingungen nicht in der Erkenntnis gesucht werden, kann auch dem im Terminus des Seienden als Seienden gemeinten logischen Minimum kein positiver Sinn mehr beigelegt werden. Der Raum, der für das Seiende noch ausgespart zu sein scheint mit dem Titel eines κατηγόρημα, ist keinesfalls der eines Konstituens, sondern höchstens der einer späteren, überflüssigen Zutat. Entsprechendes gilt auch für die transzendentale Bestimmung „das Eine" im Bezug auf diese (nominalistische) Konzeption. Wenn nämlich da235

Mit dem Titel „ol περί ουσίας και περί τοϋ οντος λόγοι" ist sehr wahrscheinlich das Buch V I I gemeint, hier näherhin Kapitel 16 (s. oben S. 3 1 8 ff.)·

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von ausgegangen wird, daß nur Einzel gegenstände existieren und jegliches Allgemeine nur den Rang eines bloßen κατηγόρημα hat, daß außerdem die Existenz der Einzelgegenstände nur hingenommen zu werden braucht und nicht auf bestimmte Erkenntnis- und Denkleistungen zurückgeführt zu werden braucht, dann kann die Bedeutung des (ursprünglich transzendentalen) Einen nur noch darin bestehen, das bereits als Einzelnes angesetzte Existierende auch noch — und gewiß überflüssigerweise — als „Eines" zu bezeichnen, wobei das transzendentale Eine meistens mit dem Begriff der Einzahl verwechselt wird. Das transzendentale Eine kann dann nicht mehr verstanden werden als eine für jeglichen Inhalt — sei er nun individuiert oder allgemein — konstitutive Denkleistung, in welcher jeder Inhalt als mit sich selbst identisch und als verschieden von jedem anderen gesetzt wird. So büßen das Seiende und das Eine ihre transzendentalen Funktionen ein und sinken zu nachträglichen, überflüssigen Zutaten herab, wenn ihnen nur noch der Charakter eines bloßen κατηγόρημα zugesprochen wird und sie damit vom wirklich Existierenden abgetrennt werden. Es ist unschwer einzusehen, daß das hier in Met. X 2 (1053 b 16—24) über das Seiende und Eine Gesagte nicht der Anfang der Transzendentalienlehre sein kann, daß damit vielmehr zu einer anderen, früheren Auffassung vom Seienden und Einen Stellung genommen wird, nämlich zu einer Konzeption, die das Seiende und das Eine noch nicht als bloß Gedachtes bzw. Gesagtes vom Existierenden abgetrennt hat. Es ist allerdings auch möglich, daß diese Textpartie (1053 b 16—24), in der das Seiende und das Eine zum Allgemeinen gezählt werden und zugleich damit als ein bloß Gedachtes bzw. Gesagtes der selbständig existierenden ουσία gegenübergestellt werden, erst durch einen Redaktor an diese Stelle gesetzt worden ist; denn die vorher (1053 b 9—16) formulierte Frage und der auf diese Partie folgende Text können auch so verstanden werden, als gehe es dem Autor nur darum, zu zeigen, daß das Seiende und zugleich damit das Eine immer eines Anderen,nämlich eines Inhalts, bedürfen, um auch nur denkbar zu sein — nicht jedoch schon darum, zu sagen, daß das Seiende und das Eine bereits ein existierendes Substrat brauchen, um überhaupt erst in Funktion treten zu können (und sei diese Funktion auch nur so gering wie die eines bloßen κατηγόρημα). Für diese Vermutung spricht auch Folgendes: In der diskutierten Partie (1053 b 16—24) wird bestritten, daß das Seiende (und damit auch das Eine) ein bestimmtes Wesen (εν τι) neben dem (von ihm konstituierten) Mannigfaltigen (παρά τά πολλά) sein könne; im nachfolgenden Text wird zwar vom Einen gesagt, daß es immer schon ein εν τι sei, aber als ein solches bleibt es dann doch neben dem (von ihm mitkonstituierten) Mannigfaltigen bestehen und wird nicht zu einem bloß Gedachten bzw. Gesagten abgestempelt. Im nachfolgenden Text (ab 1053 b 24) wird also nicht — wie vorher in b 16—24 — versucht, das Eine als ein

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Allgemeines abzutun, sondern nur das jeweilige Verbundensein des Einen mit einem Inhalt behauptet. Damit schließt sich dieser Text — wenigstens dem Gedankengang nach — viel eher an die in b 9 — 1 6 gestellte Einleitungsfrage an als an die diskutierte Partie (b 16—24). Doch nun zu dem in Frage stehenden Textstück (1053 b 24 — 1054 a 9)! Das Seiende und das Eine verhalten sich notwendigerweise im Bezug auf alle Gattungen in völlig gleicher Weise; beide haben gleichviel Bedeutungsbereiche236. Nachdem im Bereich des Qualitativen das Eine bereits etwas Bestimmtes, ein bestimmter Inhalt ist und dies ebenso für den Bereich des Quantitativen zutrifft, ist offensichtlich, daß auch schlechthin gefragt werden muß, was das Eine sei — übrigens auch, was das Seiende selbst sei — da es nicht genügt, einfach zu sagen, dies selbst (d. h. das das-Eine-Sein) sei sein Wesen 237. Vielmehr ist das Eine im Bereich der Farben selbst eine Farbe, etwa „weiß", wenn es sich nämlich zeigt, daß die anderen Farben aus dieser und der schwarzen konstituiert sind, die schwarze aber nur eine „Beraubung" der weißen ist (d. h. nur durch die Abhebung von der weißen bestimmt ist), wie ja auch die Finsternis nur eine „Beraubung" des Lichtes ist (b 28—32). Und so wäre die Allheit des Seienden, wenn sie mit der Allheit der Farben identisch wäre, eine bestimmte Zahl. Aber Zahl wovon? Natürlich von Farben. Und das Eine wäre ein schon bestimmtes Etwas, Eines, etwa das Weiße (b 32—34). Ebenso gilt: Wenn die Allheit des Seienden mit der der Töne identisch wäre, wäre sie zwar eine Zahl, jedoch von Viertel tönen; und das Wesen der Töne wäre nicht eine bloße Zahl und das Eine wäre ein Etwas, dessen Wesen nicht das (abstrakte) Eine selbst wäre, sondern eben der Viertelton (1053 b 34 — 1054 a I ) · Das Gleiche wäre zu sagen von den Lauten: Wenn die Allheit des Seienden identisch wäre mit der der Laute, so wäre die Allheit des Seienden eine Zahl von Lautelmenten (d.i. Buchstaben) und das Eine ein (bestimmtes Lautelement (1054 a 1 — 2 ) . Und wenn die Allheit des Seienden identisch wäre mit der der geradlinigen Figuren, wäre sie eine Zahl von Figuren und das Eine wäre das Dreieck (a 3—4). Dasselbe Verhältnis gilt auch für die anderen Gattungen 236 237

10^3 b 24—2y, der Satz dürfte nur unvollständig überliefert sein. b 25—28; auch hier hege ich Zweifel daran, ob der Text, vor allem im οτι-Satz, richtig überliefert ist: wenn nämlich der siteljiEQ-Satz (b 25—27) und der ώς-Satz (b 28) zutreffend erhalten sein sollten, erwartet man im δτι-Satz (b 27—28) ungefähr folgenden Inhalt: (es ist klar) daß jedesmal (d. h. im Bezug auf den Bereich jeder einzelnen Kategorie) eigens gefragt werden muß, was nun (hier) das Eine sei. E s ist aber kaum möglich, dem οτι-Satz in der überlieferten Form diesen Sinn zu entnehmen — wenn nicht anstelle von „δλως" ein anderes Wort einzusetzen wäre (etwa ein „έκάστοτε" oder dergleichen); das „όλως" weist viel eher in die Richtung jenes Einen (oder jener Form des Einen), das (bzw. die) aus den verschiedenen maßgebenden Inhalten (εν τι) eben »zugebende (εν) macht; dieses alle Kategorien übergreifende Eine wird jedoch in diesem Absatz außer Acht gelassen.

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( a 4—5). Wenn nun in den Bereichen der Zustände, des Qualitativen, des Quantitativen und des Prozesses, die Allheit jedesmal eine Zahl ist und jedesmal auch ein Eines vorliegt, die Zahl aber jedesmal Zahl von etwas ist und das Eine jedesmal ein bestimmtes Etwas ist, nicht aber es selbst als sein eigenes Wesen fungiert, dann muß dies in völlig gleicher "Weise auch für die Substanzen (επί των ουσιών) gelten; denn dieses Verhältnis gilt für alle Gattungen (a 5—9). Soweit die Paraphase des zu diskutierenden Abschnittes. Zwei Punkte, die jedoch eng miteinander verbunden sind, verdienen hier Beachtung. 1.) der Nachdruck, mit dem das inhaltliche Bestimmtsein des jeweiligen in der betreffenden Gattung als Maßeinheit fungierenden Einen eingeschärft wird, und 2.) die doch ziemlich unerwartete und in Bezug auf einen aristotelischen Text ungewohnte Tatsache, daß hier eingeräumt wird, die Allheit des Seienden (τα οντα) sei eine Zahl (αριθμός). ι.) Die Bereiche, die hier als Beispiele für das inhaldiche Bestimmtsein des jeweiligen Maßstabes angeführt werden, nämlich die Gattungen von Farbe, Ton, Laut und Figur, sind nicht der Quantitätskategorie unterzuordnen, während dies bei der Mehrheit der in X 1 (1052 b 1 5 ff.) angeführten Beispiele der Fall war. Das als Maßstab fungierende εν kann also hier noch weniger als dort als die Zahl Eins ausgelegt werden. Das Einssein (im Sinne der Zahl Eins) kann nicht diesen verschiedenen Ausgangs-, Maßbestimmtheiten gemeinsam sein. Es läßt sich überhaupt kein Inhalt mehr angeben, der ihnen noch gemeinsam wäre. Lediglich die Funktion, Ausgangs-, Maßbestimmtheit zu sein, ist ihnen noch gemeinsam: und damit natürlich auch dies, überhaupt bestimmt zu sein, ein Dieses-Eine zu sein und nicht zugleich auch Nicht-Dieses. Darüber, ob dem jeweiligen εν, der jeweiligen Maßbestimmtheit, noch ein Prinzip gegenüberstehe, mit dem zusammen erst das εν etwas, ein geordnetes Mannigfaltiges konstituieren würde, ist nur aus dem Beispiel von der Gattung Farbe etwas zu entnehmen. Demnach wäre wenigstens in Bezug auf die Farbkonstitution diese Frage zu bejahen: aus der Farbe Weiß und deren „Beraubung" „Schwarz" werden alle anderen Farben konstituiert. Wie das jeweils als Maßstab einer Gattung fungierende, inhaltlich bereits bestimmte εν ermöglicht (d. h. nicht: voll konstituiert) wird durch das transzendentale εν, durch die Form der Bestimmtheit überhaupt, durch das Prinzip des Mit-sich-identisch-Seins, des Dies-, nicht Nicht-dies-Seins, so ist auch das dem εν jeweils gegenüberstehende, homogene, mitkonstituierende Prinzip („Beraubung") ermöglicht durch die transzendentale Mannigfaltigkeit, Bestimmbarkeit überhaupt, Andersheit. — Im paraphrasierten Abschnitt (1053 b 24 — 10^4 a 9) ist freilich weder das transzendentale Eine noch das transzendentale Mannigfaltige ausdrücklich erwähnt; doch schließt das dabei herausgestellte inhaltliche Bestimmtsein des jeweiligen, immer schon zu einer Gattung ge-

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hörenden εν den Ansatz eines über den Gattungen stehenden, transzendentalen εν auch nicht aus. Die Unterscheidbarkeit zwischen den kategorialen Maßbestimmtheiten einerseits und dem transzendentalen Maß, εν, andererseits bleibt gewahrt; das Gleiche gilt für das Verhältnis zwischen dem Bestimmbaren in den verschiedenen Kategorien einerseits und dem transzendentalen Prinzip des Bestimmbaren überhaupt. 2.) Unerwartet kommt die Bezeichnung des Seienden als „Zahl". Diese Bezeichnung des Seienden, diese Verwendung des Terminus „αριθμός" ist vom aristotelischen Gedankengang (inhaltliches Bestimmtsein des jeweiligen Einen) her nicht erforderlich und auch nicht erklärbar; sie kann nur auf den Einfluß anderer Denker zurückgeführt werden: sie paßt nur in das Konzept der Pythagoreer oder pythagoreisierenden Platoniker, die Aristoteles in diesem Kapitel schon einmal erwähnt hat. Nur ein Zugeständnis an eine solche Konzeption und Terminologie kann es sein, wenn hier (1053 b 32/33) gesagt wird: „Wenn die Allheit des Seienden mit der Allheit der Farben identisch wäre, wäre die Allheit des Seienden eine Zahl..." usw. Aber Aristoteles macht dieses Zugeständnis nur unter zwei einschränkenden Bedingungen: a) das Seiende muß so etwas wie Farbe, Ton, Laut der Figur sein, d. h. also: es muß inhaltlich bestimmt sein, b) die Zahl muß dabei immer schon „Zahl von etwas"' sein; sie kann also dabei nicht abstrakte, bloß mathematische Zahl bleiben, sondern muß irgendwie Anzahl von etwas werden. — Die Einschränkung jenes Zugeständnisses durch diese zwei Bedingungen wird nur verständlich, wenn man annimmt, Aristoteles sei dabei von der Voraussetzung ausgegangen, bei seinen (pythagoreisierenden) Gegnern aus der Akademie heiße „άριθμός" in solchen Zusammenhängen immer nur „arithmetische Zahl", d. h. Zahl, die durch Addition von Einsen gebildet ist. Wahrscheinlich versteht er die Gegner dabei falsch. Der Terminus „αριθμός" hatte bei den Pythagoreern eine weitere Bedeutung, wie schon deren Theorien von sogenannten Flächen-, Körperzahlen, „harmonischen Zahlen" usw., zu entnehmen ist. Selbst die überlieferten άριθμός-Definitionen brauchen nicht unbedingt in diesem engen Sinn ausgelegt zu werden, da auch die Termini „εν", „μονάς", „μέτρον", „πλήθος" dabei in einer weiteren Bedeutung gebraucht sein konnten 238. Aber ganz gewiß konnte bei den in X 2 an238

Vgl. ζ. B. die Definitionen von άριθμός in Aristoteles Met. X 1 , 1 0 5 3 a 30; X 6, 1 0 5 7 a 3 ; X I I I 9, 1085 b 22; X I V 1 , 1088 a 4 — 6 und Eucl. El. V I I Def. 2 (Dieses V I I . Buch der „Elemente" des Eukleides bringt nach allgemeiner Auffassung der Mathematikhistoriker eine pythagoreische Zahlenlehre); Beziehungen zur pythagoreischen Ontologie dürften bei der Def. 1 im Spiele sein: Μονάς έστιν, καθ'ήν εκαστον των όντων εν λέγεται. Eine andere pythagoreische Definition von „άριθμός" als „μονάδων σύστημα" (überliefert von Nikomachos v. Gerasa in seiner „Introductio arithmetica", I 7, ed. Hodie 13.7) ist ebenfalls für eine weite Auslegung offen.

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geführten Beispielen (Farbe, Töne, Laute, Figuren) weder das εν als arithmetische Eins noch der durch das betreffende εν (mit-)konstituierte άριθμός als eine rein arithmetische Mannigfaltigkeit gemeint gewesen sein. Denn die Farbe Weiß wird nicht dazu als εν angesetzt, um mit ihr eine Mannigfaltigkeit von weißen Gegenständen abzuzählen, nicht einmal dazu, um die anderen Farben als Farben abzuzählen, sondern um aus ihr und der Farbe Schwarz alle anderen Farben als andere hervorgehen zu lassen. Es kann also zwischen ihr, sofern sie Ausgangsbestimmtheit (εν) ist, und der Mannigfaltigkeit der „Zahl" der anderen Farben nicht ein arithmetisches Verhältnis (im engeren Sinne), wie es ζ. B. zwischen den Zahlen Eins und Vier vorliegt, gegeben sein. Die Konstitution der anderen Farben dürfte wohl kaum als eine Summierung oder Multiplikation der Ausgangsbestimmtheit Weiß (eventuell mit Schwarz) verstanden worden sein. In jener pythagoreischen oder akademischen Theorie kann weder die Ausgangsbestimmtheit Weiß mit der Zahl Eins gleichgesetzt, noch der Fortgang zu den anderen Farben als Addition von Einsen aufgefaßt worden sein. „Αριθμός" dürfte dabei viel eher eine Bedeutung haben wie: ,,πεπερασμένον", also den Sinn von: „das aus einem Formartigen und einem Materieartigen Konstituierte", wobei die kategoriale Differenzierung nicht zu übersehen ist. Aristoteles nun möchte das inhaltliche (jedoch nicht bloß quantitative) Bestimmtsein des „εν" und des entsprechenden „αριθμός" eigens zum Ausdruck bringen, indem er ζ. B. seinem Zugeständnis „ . . . αριθμός τις τά οντά" (ιο^3 b 33) e i n fragendes „άλλα τίνων;" anfügt und darauf antwortet ,,δήλον δή δτι χρωμάτων". Doch was darunter zu verstehen ist, ist mindestens ebenso schwer zu erklären wie das mit dem (akademischen) Terminus „άριθμός είδητικός" Gemeinte. Denn was heißt hier ζ. B.: „Zahl von Farben"? Doch gewiß nicht: „Anzahl von Farben". Wenn als „εν" die Farbe Weiß angesetzt wird, sind die anderen Farben noch lange nicht als Vielfache davon gedacht — es sei denn, die Farbe Weiß würde selbst als eine quantitative Bestimmtheit angesetzt, etwa bereits als eine bestimmte Wellenlänge. Aber letzteres dürfte selbst den Pythagoreern und den Piatonikern, gewiß aber Aristoteles noch fern gelegen haben. Wenn die Pythagoreer und die Platoniker sagten, die Farbe Weiß fungiere im Bereich der Farben als Maß (εν), so wollten sie wahrscheinlich von dieser Farbe als von einer bestimmten optischen Qualität ausgehen und die übrigen Farben in einer bestimmten Ordnung auf einer Skala folgen lassen bis hin zur Farbe Schwarz. Eine solche qualitative Ordnung konnten sie als „αριθμός" bezeichnen, vor allem, wenn sie — um Verwechslungen mit der arithmetischen Zahl (im engeren Sinne) zu vermeiden — das Attribut „είδητικός" hinzufügten. Und was konnte Aristoteles mit seinen Ausdrücken „αριθμός χρωμάτων", „άριθμός διέσεων", „άριθμός στοιχείων" und „άριθμός σχημάτων" anderes meinen als άριθμοί ε'ιδητικοί? Denn auch diese aristotelischen Termini lassen keine rein quanti-

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tative Auslegung zu, sondern nur eine qualitative. Die Gefahr der Verwirrung ist bei diesen Termini sogar größer als bei den akademischen, weil sie die qualitative Bedeutung des Terminus „αριθμός" nicht so leicht erkennen lassen: besonders die Frontstellung des Aristoteles gegen die akademischen Prinzipien- und Kategorienauffassungen (bzw. „Zahlen"-Lehren) erschwert diese Einsicht 239 . Aus den in X 2 sich findenden Gegenüberstellungen von „εν" und „αριθμός" darf also nicht entnommen werden, daß das εν für den Akademiker lediglich oder bereits eine quantitative Bestimmtheit ist. A l l den mit verschiedenen Inhalten erfüllten Monaden, Maßeinheiten, ist gewiß etwas gemeinsam: jedoch kein Inhalt, sondern nur die Form, auf Grund welcher eine jede von ihnen eben eine Maßeinheit, Ausgangsbestimmtheit ist. Diese — allen Gattungen, „Zahlen", gemeinsame — Form von „Maßeinheit" ist kategorienjenseitig, transzendental. Aristoteles legt allerdings allen Nachdruck auf das inhaltliche Bestimmtsein und Verschiedensein (ausgedrückt durch das „εν τ ι " und „αριθμός τ ι ν ώ ν " , so daß er die Gemeinsamkeit der „Form", die Transzendentalität des εν nicht eigens erwähnt oder gar übersieht. Eine Maßeinheit (εν) und eine dadurch (mit-)konstituierte Mannigfaltigkeit (αριθμός) sollen sich auch in allen anderen Gattungen gegenüberstehen (1054 a 4 — 5 ) . Und wenn nun Gattungen wie „πάθη", ,,ποιά", „ποσά" und „κίνησις" genannt werden, so wird man annehmen dürfen, daß Aristoteles unter diese Gattungen die vorher behandelten Beispiele einordnen möchte; ganz sicher stellt er diesen Gattungen die Gattung „Substanz" (ούσία) an die Seite oder — wohl eher — voran (a 5 — 9 ) . Das ist ziemlich problematisch. Denn welchen Inhalt soll diese Gattung „ουσία" neben den vorher aufgezählten haben? Soll „ουσία" hier das tragende, selbständige Seiende sein, so daß die vorhergenannten Gattungen unselbständiges und also einer ουσία inhärierendes Seiendes wären? Nur dieser ουσία-Begriff ließe es (vorläufig wenigstens) rechtfertigen, eine eigene Gattung ουσία anzusetzen. Nun fragt sich aber: Stimmt dieser Gebrauch des Terminus „ουσία" im Sinne von „selbständig Seiendes" überein mit dem in 1053 b 35 — 1054 a t, wo gesagt wird, nicht „Zahl" sei die ουσία der Tönemannigfaltigkeit und nicht das „Eine" die ουσία des Vierteltones? Offensichtlich hat hier „ουσία" doch die Bedeutung von „Wesen", „Inhalt". Ferner erhebt sich die Frage: Ist die — gewiß von Aristoteles auch sonst gelehrte — Abhängigkeit der anderen Gattungen von einer eigenen Gattung „ουσία" verträglich mit der vorher (wohl den Pia tonikern eingeräumten) Rückführbarkeit einer jeden Mannigfaltigkeit auf eine homogene Maßbestimmtheit (εν) — ζ . Β. der anderen Farben 239

Über die Bedeutung dieser Stelle von X 2 für das Verständnis der Idealzahlenlehre s. auch noch Anhang II.

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auf die Farbe Weiß — ? Wie verhalten sich diese zwei Abhängigkeitsweisen zueinander? Es regen sich also Zweifel, ob die Übertragung des εν-άρι·θμόςVerhältnisses auf eine ουσία-Gattung nicht erst nach (im zeitlichen Sinne) der Anwendung auf die Gattungen der Farben, Töne, Laute und Figuren und ohne Übereinstimmung damit vorgenommen und eingefügt worden ist. Aber abgesehen von dieser Diskrepanz bleibt immer noch die Frage: Was soll nun innerhalb der Gattung der ούσίαι als εν fungieren? Eine Antwort auf diese Frage wird im Text selbst nicht gegeben. Sie ist auch nicht — mit einiger Sicherheit — herauszufinden, zumal die genaue Bedeutung, die „ουσία" hier hat, auch nicht ganz sicher zu ermitteln ist. Es lassen sich nur Vermutungen anstellen. Nachdem in EE I 8, 1217 b 25—33 und in EN I 6, 1096 a 23—29 das durch alle Kategorien des Seienden hindurchgehende „αγαθόν" auf der Ebene der ουσία (bzw. des ti) zum θεός oder νοϋς wird und in De Anima I 2, 404 b 22 das Eine als νους bezeichnet wird, ist es nicht ausgeschlossen, daß auch das εν innerhalb der Gattung der ούσίαι von Aristoteles als νοΰς angesetzt ist. Würde dies zutreffen, bliebe natürlich immer noch die Frage offen, ob der (göttliche?) νοΰς in gleicher Weise Maßbestimmtheit, Prinzip, und zwar Erkenntnisprinzip für alle anderen ούσίαι sein soll und sein kann wie etwa die Farbe Weiß für die anderen Farben. Weitere Fragen bleiben auch offen bei der Interpretation des Schlußsatzes (1054 a 9 — 1 9 ) des Kapitels. Das erste Stück (a 9 — 1 3 ) bringt eine Zusammenfassung des vorausgehenden, eben diskutierten Abschnitts (1053 b 24 — 1054 a 9): „Es ist klar, daß also das Eine in jeder Gattung ein bestimmtes Wesen (φύσις) ist und daß für keine dieser Maßeinheiten das Eine selbst als Wesen fungiert, sondern wie im Bereich der Farben als das Eine selbst (αυτό τό εν) eine bestimmte Farbe gesucht werden muß, so auch im Bereich der Substanzen (έν ουσία) eine einzige ganz bestimmte Substanz (ούσίαν μίαν)". — Wir wissen auch hier nicht genau, welche „ουσία" als Maß (εν) für den Bereich der ουσία vom Autor angesetzt worden ist. Ferner fällt auf, daß nun der (platonische) Ausdruck ,,αύτό to εν" gebraucht wird — allerdings nicht für einen bestimmten, einmaligen Inhalt, auch nicht für eine kategorienjenseitige Form, sondern für die von Kategorie zu Kategorie verschiedene Maßbestimmtheit. Ist dieser Gebrauch von ,,αύτό τό εν" anders zu erklären als von dem Bestreben her, die εν-Lehre der Platoniker abzuändern? Ernstzunehmen ist freilich auch der Ausdruck ,,έν απαντι γένει" (in a 9/10): es soll also hier vom Einen nur insofern gesprochen werden, als es schon kategorial determiniert ist, als es schon einen bestimmten, unter einer Kategorie stehenden Inhalt hat. Das ganze Interesse des Autors gilt dem, was am Einen von Kategorie zu Kategorie verschieden ist: dem Inhalt, nicht aber dem, was in jeder Kategorie gleich ist: der Form. Es sieht so aus, als wüßte der Autor nur von einem Ausgerichtetsein des Einen an den Kategorien, von einem Unterworfensein unter die Kategorien, nicht auch von einem

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Übersteigen, von einem Hinausragen über die Kategorien, zumal er gerade dem Einen, sofern es unter einer Kategorie steht, den Titel „αυτό to εν" zuerkennt. Verwunderlich ist diese Meinung über das Eine vor allem deshalb, weil im zweiten Teil (a 1 3 — 1 9 ) des Schlußsatzes von X 2 mit drei Argumenten versucht wird, eine gewisse Identität des Einen mit dem Seienden, und damit — wie sich zeigen wird — gerade die Kategorienjenseitigkeit des Einen zu beweisen: Daß aber der Terminus „das Eine" irgendwie dasselbe bedeutet wie der Terminus „das Seiende" erhellt (1.) daraus, daß das Eine die Kategorien in völlig gleicher Weise (wie das Seiende) begleitet und es seine Stelle in keiner von ihnen hat — ζ. B. weder in der Kategorie „Substanz" noch in der Kategorie „Qualität", sondern sich (in diesem Punkte) ebenso verhält wie das Seiende—, und (2.) daraus, daß nichts (kein weiterer Inhalt) hinzuprädiziert wird, wenn man statt „Mensch" (genau: „die Bestimmtheit .Mensch'") sagt: „ein Mensch" (genau: die eine Bestimmtheit ,Mensch ") 240 — wie ja auch das Sein (είναι) kein weiterer Inhalt ist neben der Kategorie ,Wesen' oder neben der ,Qualität' oder neben der ,Quantität' — und ferner (3.) daraus, daß das wesenhafte Eine identisch ist mit jeder beliebigen Bestimmtheit, sofern sie nur Bestimmtheit ist (d.h.: mit der Form jeder beliebigen Bestimmtheit)241. Nicht eine völlige, sondern nur eine 240

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Noch weniger kann am prädikativen Charakter des hinzugefügten „εις" gezweifelt werden, wenn man annehmen darf, daß die in dem von Ps.-Alexandros (614.15—26) behandelten Einwand gebrachten Sätze „εστίν ό άνθρωπος είς" bzw. „τό ζωον εν εστίν" eine Grundlage in dem dem Ps.-Alexandros vorliegenden „Metaphysik-Text" hatten. (io_54 a 13—19) Mit meiner Obersetzung des dritten Arguments folge ich also der Textgestalt, die Ross vorschlägt. Einige Zweifel an der Richtigkeit auch dieses Textes sind freilich nicht zu unterdrücken: Läßt sich der von Ross vorgeschlagene Einschub (τώ είναι) rechtfertigen? Müßte nicht statt des ziemlich einhellig überlieferten „ένί" vielmehr „εν" gelesen werden? Hatte nicht Ps.-Alexandros (614.26— 28) einen anderen, ausführlicheren Text, der es ihm ermöglichte, diesen dritten Punkt als einen Teil des zweiten zu interpretieren? Aber bei aller Reserve gegenüber der von Ross vorgeschlagenen Textgestalt dürfen vielleicht doch auch Bedenken gegen den von Jaeger gemachten Vorschlag „και τό ένί είναι τοϋ έκάστω είναι" angemeldet werden: Der Genitiv „τοϋ . . . d ü r f t e von Jaeger nur aufgrund einer Orientierung am Genitiv „τοϋ ,άνθρωπος'" in der vorausgehenden Zeile eingeführt worden sein; „τοϋ ,άνθρωπος'" ist aber abhängig von „Ιτερόν τι" und dieses wiederum von „μή προσκατηγορεΐσθαι"; ein μή προσκατηγορεΐσθαι, wie es bei der Hinzufügung des „είς" zu „άνθρωπος" vorliegt, ist aber durch das „τό ένί είναι" gegenüber dem „τό έκάστω είναι" nicht gegeben. — In meiner Auslegung des dritten Punktes folge ich jedoch nicht Ross, der sich der Erklärertradition anschließt, indem er das „τό έκάστφ είναι" als Ausdrude für das Individuiertsein versteht („to be the particular thing it is"; nodi deutlicher Elders, a.a.O., S. 92: „ . . . the last clause says that ,to be one' is to be an individual thing"). Eine solche Gleichsetzung des Einen mit dem Individuierten, Vereinzelten, wäre ziemlich fragwürdig, weil sie a) nicht verträglich wäre mit dem 1. Argument, weil doch mindestens die unter die

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eingeschränkte (πως) Identität zwischen dem Einen und dem Seienden soll (in a 13—19) bewiesen werden. Die Behauptung einer völligen Identität ginge freilich zu weit (das Bezogensein des Seienden als wahres auf ein Bewußtsein und als gutes auf ein Stellungnehmen würde dabei übersehen), aber die Einschränkung sollte auch nicht so vage bleiben, wie es hier geschieht (durch: „πως"). Die Argumente 1 und 2 zeigen zunächst zwei gemeinsame Charakteristika des Einen und des Seienden auf: Argument 1: das Eine und das Seiende gehen durch alle Kategorien hindurch und sind nicht eingeschränkt auf die eine oder andere Kategorie; Argument 2: das Eine und das Seiende sind selbst keine Inhalte; ihre Prädikation bedeutet keine weitere Bestimmung des angesetzten Inhalts; sie stehen also noch jenseits der obersten Inhaltsgattungen, der Kategorien. Mit diesen beiden gemeinsamen Charakteristika (aus Argument 1. Hindurchgehen durch alle Kategorien, aus Argument 2: ohne eigenen Inhalt—und daher kategorienjenseitig) ist noch keine völlige Identität gegeben, aber doch eine völlige Umfangsgleichheit und d. h.: Konvertibilität. Denn das Hindurchgehen durch alle Kategorien bedeutet das Gelten von jedem möglichen Inhalt — unter welche Kategorie er auch immer fallen mag: jeder mögliche Inhalt ist ein öv und zugleich auch ein εν; wo ein ov vorliegt, liegt auch ein εν vor, und umgekehrt. Auch aus dem Fehlen eines eigenen Inhalts (Argument 2) ergibt sich die Kategorien jenseitigkeit und eine Funktion (wenn aus der Inhaltslosigkeit sog. Sekundärkategorien fallenden Bestimmtheiten in der Kategorienlehre nicht als individuierte behandelt werden; — weil b) dadurch das transzendentale Eine als solches völlig funktionslos und überflüssig wäre; (es würde ersetzt durch die Kategorie der Individualität) und weil außerdem Mannigfaltiges, das es doch auch gibt, nicht als Mannigfaltiges seiend genannt werden könnte; und weil c) bezweifelt werden muß, daß der Ausdruck ,,τό έκάστω είναι" von dem anderen „καθ' Ικαστον" her ausgelegt werden darf; ich finde diesen Ausdruck nur noch in Met. V I I 6 einige Male, wo er dem „εκαστον" ebenso gegenübergestellt wird wie das „τό άνθρώπψ είναι" dem , άνθρωπο ς": er scheint eine Verallgemeinerung der reinen Bestimmtheiten wie „τό άνθρώπω είναι" usw. auszudrücken und seine Vorgänger in gewissen Formeln von Piatons „Phaidon" zu haben, wie „8 τυγχάνει εκαστον ov" (65 e 1), „αύτό εκαστον" (e 3), „αύτό καθ' αύτό ειλικρινές εκαστον" (66 a 2—3)» »αύτό Ικαστον δ ϊστι" (γ8 d 3—4)1 »αυτών ϊκαστον 8 Ιστι" (d 5) u · ä., die sich auf das Unterschiedensein jeder Idee von allen anderen beziehen. Wäre die Auslegung von „τό έκάστφ είναι" mit „Vereinzeltsein" die einzig mögliche, so bliebe nur noch die Annahme, daß dieses 3. Argument ein späterer Zusatz wäre, da es dann mit den Argumenten 1 und 2 nicht mehr verträglich sein würde. Wird so diese Auslegung ausgeklammert, so vergrößert sich damit audi die Wahrscheinlichkeit meines obigen Vorschlages, wonach das Eine hier gleichgesetzt würde mit der Bestimmtheit als solcher (d.h. mit der Form jeglicher Bestimmtheit); da die Bestimmtheit als solche (τό έκάστω είναι) die Form des Seienden als Seienden ist, wäre auf diese Weise eine Beziehung zwischen dem Einen und dem Seienden hergestellt — freilich nicht eine völlige Gleichsetzung vollzogen. Doch bleibt an dieser Auslegung noch manches ungewiß; daher soll das Argument 3 bei der Auswertung von 1054 a 13—19 ausgeklammert werden.

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nicht die Nichtigkeit gefolgert werden soll) des Einen und des Seienden für alle Inhalte. Wodurch sollte der Geltungsumfang auch eingeschränkt werden können, ohne daß das Eine und das Seiende zu Kategorien und damit zu bestimmten Inhalten herabsinken würden? Und universaler, unendlicher Geltungsumfang bedeutet auch wieder: Konvertibilität und Transzendentalität. Die Analyse der Schlußpartie von X 2 (1054 a 1 3 — 1 9 ) führt also zu dem Ergebnis, daß der Autor dieser Partie die Konvertibilität des Einen mit dem Seienden mit Hilfe der Kategorienjenseitigkeit zu beweisen versucht. Wie verträgt sich aber mit diesem Überzeugtsein von der Kategorienjenseitigkeit des Einen die vorhergehende (1053 b 24 — 1 0 5 4 a 13) Betonung des Immerschon-inhaltlich-Bestimmtseins (des Einen) gemäß einer Kategorie und das Schweigen über die Kategorienjenseitigkeit? Wie ist die These von der Inhaltslosigkeit des Einen und des Seienden, vom „Nichts-hinzu-Prädizieren" (μή προσκατηγορείσθαι ετερόν τι) (Argument 2) vereinbar mit der Meinung, das Eine und das Seiende seien nur Prädikate (1053 b τ9—20: κατηγόρημα μόνον), und zwar die allgemeinsten (b 20—21)? Besagt das ,,μή κροσκατηγορεΐσ·θ·αι" nicht, daß das Eine und das Seiende überhaupt keine Prädikate sind: folglich auch nicht „nur Prädikate" und auch nicht die allgemeinsten? Liegt nicht wenigstens eine Verschiebung des Gesichtspunktes vor, wenn am Anfang des Kapitels die Position der Pythagoreer und Piatons angezweifelt wird mit der Frage, ob dem Einen nicht eine bestimmte Natur (φύσις) zugrundeliege, während nun am Ende des Kapitels gerade das Nichteingeschränktsein auf eine bestimmte Inhaltsgattung und die Inhaltslosigkeit des Einen und des Seienden betont werden? — Als Niederschlag einer einheitlichen Konzeption kann man dieses Kapitel gewiß nicht betrachten. Der Zweifel an der pythagoreisch-platonischen Lehre vom Prinzipiencharakter des Einen, die Degradierung des Einen und des Seienden zu einem BloßGesagten oder -Gedachten, aber auch die einseitige Betonung des — von Kategorie zu Kategorie verschiedenen — inhaltlichen Bestimmtseins lassen sich kaum vereinbaren mit der am Schluß des Kapitels stehenden These von einer gewissen Identität (genauer: von der Konvertibilität) des Einen mit dem Seienden, die hauptsächlich mit dem Hindurchgehen durch alle Kategorien begründet wird. Die Uneinheitlichkeit des Kapitels läßt sich zunächst betrachten als eine uneinheitliche Stellungnahme zur platonischen Prinzipienlehre: Auf den Zweifel am ουσία-Charakter (d. h. am Prinzipiencharakter) des Einen folgt eine radikale Entwertung des für die Platoniker so fundamentalen Prinzips zu einem bloßen Prädikat, indem Aristoteles den platonischen Terminus „ουσία" unkritisch mit dem Begriff der selbständig existierenden Einzelsubstanz verbindet und so die platonische Position für unannehmbar halten muß; die sich anschließende einseitige Herausstellung des von Kategorie zu

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Kategorie verschiedenen Determiniertseins des Einen scheint die universale Funktion, das Prinzipsein des Einen für alle möglichen Inhalte zu übersehen; erst die These von einer gewissen Identität des Einen mit dem Seienden auf Grund eines gleichen Hindurchgehens durch alle Kategorien ist wieder vereinbar mit der akademischen Lehre vom Einen als eines Prinzips für alles Seiende, wobei die Universalität des Einen freilich nicht die einer obersten Gattung ist (aber es ist auch fraglich, ob die Akademiker wirklich dieser Meinung waren). Die uneinheitliche Stellung unseres Kapitels zur akademischen Prinzipienlehre hat nun auch Folgen für die Transzendentalienlehre. Daß das Eine, das in einer gewissen Weise mit dem Seienden identisch ist, weil es wie dieses durch alle Kategorien hindurchgeht, das transzendentale Eine ist, war auch den mittelalterlichen Interpreten klar. Auch die eine oder andere Diskrepanz zwischen dem Schlußsatz von X 2 und den vorausgehenden Partien wurde von ihnen diskutiert — aber doch wegdiskutiert242. Einerseits hat die Übernahme der aristotelischen Kritik, das Eine sei keine ουσία, sondern nur ein κατηγόρημα, dazu geführt, den Bedingungsdiataktet des Einen (und des Seienden) für das Gegebensein und Gedachtwerden eines jeglichen Inhalts, eines jeglichen Seienden zu verkennen; als bloßes Prädikat geriet es in die Gefahr, aufgefaßt zu werden als ein bloß gedankliches Gebilde über ein unabhängig von jeglichem Denken schon vorhandenes Seiendes — und

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Z.B. wird von Thomas ν. Α., In . . . Metaph. p.471, nach der Vereinbarkeit zwischen den Argumenten 2 der Schlußpartie (das Eine fügt keinen neuen Inhalt hinzu . . . ) und der 2. Partie (das Eine und das Seiende sind keine Substanzen, sondern die allgemeinsten Prädikate) gefragt. Er glaubt, beide Stellen harmonisieren zu können, indem er annimmt, in der 2. Partie vorne werde von Aristoteles nur bestritten, daß das Eine und das Seiende Substanzen im Sinne der „Ersten Substanzen" (der Kategorienschrift) seien, während sie im 2. Argument des Sdilußsatzes als Substanzen im Sinne der „Zweiten Substanzen" (der Kategorienschrift) betrachtet würden — nicht als Akzidentien — und daher das betreffende Wesen selbst meinten — nicht eine zusätzliche Bestimmtheit: „ Postmodum vero ostendit quod (sc.: unum et ens) significant naturam eorum de quibus dicuntur, et non aliquid additum sicut accidentia . . . " — Thomas hält es also für möglich, daß das Eine und das Seiende selbst die betreffenden Wesensinhalte, wie ζ. B. „Mensch", seien, daß sie aber, von anderem prädiziert, keine Inhalte hinzufügen könnten und daher keine Akzidentien seien. Dagegen steht im aristotelischen Text: das Eine und das Seiende fügen zu Inhalten, Wesenheiten, keine weitere inhaltliche Bestimmung hinzu; es heißt jedoch nicht, daß sie selbst schon die Wesenheiten, Inhalte seien. Der Harmonisierungsversuch verleitet also den Aquinaten zu einer falschen Auslegung des 2. Arguments — ein Beispiel von vielen für die mittelalterlichen Versuche, mit den Diskrepanzen der „Metaphysik" und gar einzelner Kapitel fertigzuwerden. Ein Versuch wie dieser muß es dem Aquinaten schwer machen, das transzendentale Eine und das transzendentale Seiende gerade in ihrer Transzendentalität zu erfassen.

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gerade die Prädikation des Einen wurde nur zu oft als eine pure Tautologie abgetan. Andererseits hat die allzu unkritische Hinnahme der (pythagoreischen oder doch akademischen) Charakterisierung des Einen als Maß die Vermengung des transzendentalen Einen mit der bereits kategorial — und zwar quantitativ — determinierten Eins gefördert. Beitragen wird zu dieser Vermengung auch das 6. Kapitel (des Buches X), das das Verhältnis zwischen dem Einen (εν) und dem Mannigfaltigen zum Thema hat. Dieses Verhältnis wird schon einmal zu Beginn des 3. Kapitels (des Buches X) vorgenommen. Es gibt demnach verschiedene Weisen, dieses Verhältnis zu denken: eine davon ist die, das Eine als das Unteilbare (άδιαίρετον) und das Mannigfaltige als das Teilbare (διαιρετόν) anzusetzen (1054 a 20—23). Der Interpret fragt sich, warum unter den angeblich verschiedenen Weisen der Gegenüberstellung ausgerechnet diese Weise nur genannt wird. Nachdem in den zwei vorausgegangenen Kapiteln das Eine als das Unteilbare (oder wenigstens Ungeteilte) bestimmt worden ist und kein Zweifel darüber bestehen kann, daß mit diesem Einen das der platonischen Prinzipienlehre wenigstens anvisiert ist, wird man annehmen dürfen, daß hier mit der Heraushebung des άδιαίρετον-διαιρετόν-Verhältnisses unter den verschiedenen Weisen des εν-πολλά-Verhältnisses der platonische Fundamentalgegensatz „εν - πολλά" gemeint wird. Aber gerade von daher wird es schwer verständlich, daß im Anschluß daran (1054 a 23—29) von vier Arten des Gegensatzes (at αντιθέσεις τετραχώς) gesprochen wird (wenn unser Text richtig überliefert ist, werden nur drei ausdrücklich genannt), daß das Verhältnis zwischen dem άδιαίρετον und dem διαιρετόν als eines zwischen έναντία ausgegeben wird, und vor allem dies, daß vom Unteilbaren, das doch nach X 1 als Erkenntmsprinzip fungiert, hier gesagt wird, es werde erst vom Mannigfaltigen (πλήθος), Teilbaren her offenbar und das Mannigfaltige sei dem Begriff nach (τφ λόγω) „früher" als das Unteilbare. — Dieser Passus ist wohl kaum mit dem zu vereinbaren, was in X 1 — 2 über das Eine gelehrt wird. Aber auch in X 3 unterbricht er den Gedankengang. Der nachfolgende Satz (a 29—32) knüpft offensichtlich wieder an dem Begriff vom Einen an, der dem ersten Satz des Kapitels zugrundeliegt, und bezeichnet — unter Hinweis auf die Schrift „Über die Einteilung der Gegensätze" — das Identische, das Gleiche und das Ähnliche als zum Bereich des Einen gehörig, dagegen das Andere, das Ungleiche und das Unähnliche als zu dem des Mannigfaltigen gehörig. Wir brauchen die sich anschließende Behandlung dieser Begriffe und nachher die des Konträren nicht mehr zu verfolgen; für uns ist aus diesem Satz ersichtlich, daß das Paar „εν-πλήθος", von dem hier gesprochen wird, nur das platonische Paar der Fundamentalprinzipien sein kann. Anzumerken ist lediglich, daß die Unterordnung des rein logischen Paares ,,ταύτόν-ετερον" unter das nur allzu leicht in das Quantitative hin-

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übergleitende Paar „εν - πλη-θος" jenem Prinzipienpaar nicht gerecht werden konnte und irreführen mußte 24 \ Von der Behandlung der dem Mannigfaltigkeitsprinzip zugeordneten Gegensatzweisen aus (X 3, 1054 b 13 — 1055 a 2) geht der Autor mit Kapitel 4 zur Untersuchung der größten DifEerenz (μεγίστη διαφορά), d. i. des Gegensatzes (έναντίωσις) über. Als größte Differenz soll wohl jene anvisiert werden, die nicht mehr innerhalb einer und derselben Kategorie liegt, sondern die allein zwischen den Kategorien, den obersten Gattungen, waltet: dies dürfte das transzendentale Verhältnis der Andersheit sein. Dies darf man auch daraus entnehmen, daß Aristoteles am Ende des Kapitels (1055 b 26—29) auf das erste Gegensatzpaar (τό εν και τά πολλά) zu sprechen kommt, auf welches alle anderen Paare zurückgeführt werden 244. Hier wird gesagt, das eine der beiden Gegensatzglieder werde in der Weise einer „Beraubung" (also mit einem Ausdruck, der ein „a privativum" enthält) bezeichnet. Nachdem der Ansatz von εν und πολλά als erstes Gegensatzpaar und als Grund aller anderen Gegensatzpaare hier so dasteht, als wäre er eine eigene Lehrmeinung des Autors — obwohl er nach X I V 1 eine fremde, zur platonisch-akademischen Prinzipienlehre gehörende ist — , ist der Interpret versucht, die Bezeichnung des einen Gegensatzgliedes als „Beraubung" mit jenem Ansatz (von εν - πολλά als erstes Gegensatzpaar) in Einklang zu bringen, indem er annimmt, damit werde vorausgesetzt, die betreffenden Gegensatzglieder seien völlig gleichwertig und gleichursprünglich und seien nicht selbst noch rückbezogen auf ein noch höheres Prinzip: also nicht etwa auf ein gemeinsames Substrat. Doch was der Text des Kapitels 4 über dieses transzendentale Verhältnis vorträgt, ist zu unklar, als daß der Interpret es als eine Bestätigung seiner Annahme betrachten könnte. Es ist schwer zu entscheiden, inwieweit die bei der Bestimmung jenes transzendentalen Abschlußverhältnisses in X 4 verwandten Termini έναντίωσις (bzw. έναντιότης, εναντία), άντίφασις und στέρησις bereits jene spezifisch aristotelischen Bedeutungen, wie sie etwa greifbar sind in Cat. 10, haben. Wichtig wäre vor allem dies: Wird auch für jenes ausgezeichnete, „vollkommene" (τελεία) εξις-στέρησις-Verhältnis, das den ersten Gegensatz (nämlich den zwischen 243 N a c h 1054 b 18 ff. ist jedes Seiende gegenüber jedem anderen Seienden — was eben immer seiend und eines ist — ein verschiedenes oder ein identisches. Demnach schlössen sich also Anderssein und Identischsein gegenseitig aus (Identischsein würde in diesem Falle bedeuten: Übereinstimmen mit einem bestimmten anderen Seienden, Anderssein: Nichtübereinstimmen mit demselben anderen Seienden). Als solche sich gegenseitig ausschließende Bestimmtheiten können sie freilich nicht jedem Seienden zugleich zukommen, können sie nicht transzendental sein: transzendental sind sie nur, wenn das Identischsein als Identischsein mit sich selbst, also als Bezogensein auf sich selbst, verstanden wird und das Anderssein als Bezogensein auf jedes beliebige andere. 244

τά γαρ δλλα [sc. εναντία] etg ταΰτα άνάγεται.

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dem εν und dem πλήθος) bildet (105^ a 33—38), zurückverwiesen auf ein Zugrundeliegendes (1055 k 1 1 δεκτικόν, υλη)? Wenn diese Frage bejaht werden müßte — und es spricht einiges dafür — , dann wäre hier der platonisch-akademische — im Grund idealistische — Ansatz von Fundamentalgegensätzen (der an manchen Stellen, z.B. 1055 b 26—29, sogar wie eine eigene Auffassung wiedergegeben ist) bereits durch die Rückbindung an ein nicht aufweisbares, den alten Naturphilosophen und dem gemeinen Verstand aber als notwendig erscheinendes ύποκείμενον verdorben245. So wenig die im Text noch enthaltenen Stücke der platonisch-akademischen Prinzipienlehre als fremdes Gedankengut gekennzeichnet sind, ebensowenig ist auch die auf typisch aristotelischen Theoremen beruhende Aushöhlung jener platonisch-akademischen Lehrmeinungen deutlich zum Ausdruck gebracht. Dies gilt auch für das Kapitel Dieses ist der Frage gewidmet: Wie ist das Gleiche dem Groß-Kleinen entgegengesetzt (1055 b 30—32)? An einigen anderen Stellen schreibt Aristoteles Piaton oder „gewissen Denkern" die These zu, das Groß-Kleine seien Prinzipien bzw. das eine Materialprinzip neben dem Einen bzw. Gleichen 246. Hier jedoch wird der Name Piatons nicht erwähnt. Es wird lediglich nebenbei einmal davon gesprochen, daß einige Leute sagen, das Ungleiche sei eine Zweiheit (1056 a 1 0 — 1 1 ) . Aristoteles (oder wer sonst der Autor oder Redaktor unseres Textes von Met. X sein mag) läßt uns also im unklaren darüber, ob auch er selbst dem Verhältnis zwischen dem Gleichen und dem Groß-Kleinen Prinzipienrang zuerkannt hat. Es läßt sich jedoch schwer vorstellen, daß über dieses Verhältnis auch dann hier gesprochen worden wäre, wenn diesem nicht — entweder vom Autor selbst oder doch wenigstens von Zeitgenossen — Prinzipiencharakter zugesprochen worden wäre. Zu prüfen bleibt nur, ob das hier über dieses 245 Parallelstellen für eine solche Rückbindung der Fundamentalgegensätze finden sich in Phys. I 4 und 9, bes. aber im noch zu behandelnden Kapitel 1 von Met. X I V . 246

Met. I 6, 987 b 2 0 — 2 1 ; I 7, 988 a 2 3 — 2 6 ; Phys. I 4, 1 8 7 a 1 5 — 2 0 ; Phys. I I I 4, 203 a — 1 6 ; Met. I I I 3, 998 b 9 — 1 1 ; vgl. auch Phys. I 9, 192 a 6—7. — Entsprungen dürfte diese Fassung der Lehre von den Prinzipien (der Bestimmtheit und des Unbestimmten, Bestimmbaren) — ebenso wie die Lehre von der μεσότης zwischen υπερβολή (od. υπεροχή) und ελλειψις in der aristotelischen Ethik — der griechischen Mathematik sein, und zwar gewissen Versuchen, ein irrationales geometrisches Mittel anzunähern entweder durch Einschieben von Brüchen (zwischen die Ausgangsgrößen), bei welchen die Diagonalzahlen als Zähler und die Seitenzahlen als Nenner verwendet werden, oder durch fortwährendes Einschieben des jeweiligen arithmetischen und des jeweiligen harmonischen Mittels. In beiden Approximationsverfahren erhält man Näherungswerte, von denen abwechselnd der eine jeweils größer, der andere aber kleiner als der Grenzwert ist. Vgl, dazu meine Diss.: Der Analogiebegriff bei den griechischen Mathematikern und bei Piaton, Phil. Diss. Würzburg 1 9 5 7 (Maschinenschrift), S. 1 4 6 — 1 5 1 .

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Verhältnis Gesagte auch noch verträglich ist mit einem eventuellen Ansatz (dieses Verhältnisses) als eines abschließenden, transzendentalen Prinzips. Diese Prüfung führt zu einem negativen Ergebnis. Das Verhältnis zwischen dem Gleichen einerseits und dem Großen und dem Kleinen andererseits, wird zwar als privative Negation (άπόφασις στερητική) bezeichnet (es könnte so noch als bloßes Andersheitsverhältnis ausgelegt werden), aber doch als ein Alternatiwerhältnis verstanden, und zwar nicht als eines, das notwendigerweise für jedes Seiende gilt, sondern als ein solches, das noch eine bestimmte Physis voraussetzt, die es erst ermöglicht, klein, groß oder gleich zu sein 247. Damit ist dieses Verhältnis bereits eingeschränkt auf eine bestimmte Kategorie, nämlich auf die Quantitätskategorie; die vorausgesetzte Physis ist die Dimension als solche. — Diese Einschränkung kommt dem Interpreten, der sich an den schlichten Sinn der Termini hält, nicht unerwartet, zumal auch die Herkunft der Termini aus der Mathematik eine solche Einschränkung nahelegt. Würde mit diesen Termini das transzendentale Verhältnis zum Ausdruck gebracht, so wäre eine Bindung der unterschiedenen Glieder an eine gemeinsame, zugrundeliegende Physis nicht möglich. Daß die transzendentale Fassung des Verhältnisses zwischen dem Gleichen einerseits und dem Groß-Kleinen andererseits hier in X 5 unterblieben ist, braucht nicht kritisiert zu werden; doch muß es festgestellt werden, und zwar vor allem deswegen, weil sich in der Piaton zugeschriebenen Prinzipienlehre hinter diesen Termini dasselbe Verhältnis verbirgt wie hinter den Paaren πέρας - άπειρον oder εν-πολλά (πλήθος) oder εν-αόριστος δυάς: nämlich das denkbar weiteste, das kategorienjenseitige. Wird auch das Verhältnis zwischen dem εν und den πολλά in X 6 in die Kategorie der Quantität verwiesen werden? Wenn ja, konnte dies Folgen haben für die Transzendentalienlehre, weil diese in ihrer Terminologie am platonisch-akademischen Terminipaar „εν - πολλά" anknüpfen wird. Das Kapitel 6 geht zunächst auf die Gefahr ein, daß bei schlichter Entgegensetzung von εν und πολλά aus dem Einen (εν) ein Weniges (ολίγον oder ολίγα) werden könnte (weil das Mannigfaltige [πολλά] dem Wenigen entgegengesetzt sei und die Zwei schon ein Mannigfaltiges sei, müßte das Eine zum Wenigen werden) (1056 b 4—9). Dann könnte man aber auch sagen, das Eine selbst sei schon ein Mannigfaltiges (πλήθος), weil das Mannigfaltige (πολλά) ein Viel (πολύ) sei, das Viele (πολύ) und das Wenige (ολίγον) aber immer schon ein Mannigfaltiges (πλήθος) seien, wie ja auch das Lange (μακρόν) und das Kurze (βραχύ) immer schon Länge (μήκος) habe (1056 b 9—14). Aber die schlechthinnige Gleichsetzung des Mannigfaltigen (πολλά)

247

1056 a ij—24: . . . ού στέρησις δέ έξ ανάγκης· ού γάρ παν ίσον δ μή μείζον ή £λαττον, άλλ' έν οίς πέφυκεν εκείνα.

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mit dem Vielen (πολύ) ist nicht zulässig, da ein Mannigfaltiges (πολλά) Mannigfaltiges immer nur von Diskreta ist, während das Viele (πολύ) jedesmal ein Vieles eines Kontinuums — wie ζ. B. eine Wassermenge — ist (b 1 4 — 1 7 ) . So bleiben als Bedeutungen des Terminus „πολλά" in Bezug auf Diskreta zwei übrig: 1.) „Menge, die ein Übermaß aufweist, sei es schlechthin oder in Beziehung auf etwas Bestimmtes" und 2.) „Zahl". Und nur als Zahl ist das Mannigfaltige (πλήθος, πολλά) dem εν entgegengesetzt (1056 b 16 bis 20). Die zuletzt genannte (2.) Bedeutung ist gemeint, wenn man der Eins (εν) weitere Einsen (ενα) folgen läßt oder einem weißen Gegenstand (λευκόν) (weitere) weiße Gegenstände (λευκά) oder dem Maß das Gemessene (μεμετρημένα) oder das Vielfache (πολλαπλάσια); denn ein Mannigfaltiges ist jede Zahl deswegen, weil sie (mehrere) Einsen (ενα) umfaßt und durch die Eins (εν) gemessen werden kann und weil sie der Eins (εν), nicht dem Wenigen entgegengesetzt ist (b 19—2^) 248 . Im Bereich der Zahlen ist also das Eine (εν: hier eigentlich: Eins) dem Mannigfaltigen wie das Maß dem Gemessenen (oder Meßbaren) entgegengesetzt; dabei sind die Gegensatzglieder zwar Relata, aber nicht in dem Sinne, daß ihr Wesen im Bezogensein aufginge (1056 b 32—34). Anderswo wurden zwei Weisen des Bezogenseins unterschieden: die eine Weise bezieht Gegensatzglieder (εναντία) (wechselseitig) aufeinander (sie ist konstitutiv für das Wesen der Relata), die andere liegt vor in (einseitigen) Beziehungen, ähnlich der des Wissens auf das Wißbare, wo (allerdings gerade) das andere Glied (das Wißbare) nach dem Ausgangsglied (d. i. das Wissen) bezeichnet wird (1056 b 34 — 1057 a 1). Das Mannigfaltige ist gleichsam die der Zahl übergeordnete Gattung; denn die Zahl ist ein Mannigfaltiges und zwar ein solches, das durch die Eins gemessen (meßbar) wird. Und es stehen sich die Eins und (jede) Zahl irgendwie gegenüber: freilich nicht als Gegensatzglieder (εναντία; gemeint sind jedoch: Korrelate), sondern — wie gesagt — als Glieder einer (einseitigen) Beziehung; denn sie stehen einander in der Weise gegenüber, daß das eine Glied Maß ist und das andere Gemesse-

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Weniger wichtig für unser Thema sind die folgenden Zeilen, in Bezug auf deren Reihenfolge Zweifel angemeldet werden können, b 2 5 — 2 8 (οΰτω . . . πρώτον) und b 3 1 — 3 2 (έπεί . . . δύο): Die Zwei ist zwar schon eine Menge, aber keine, die ein Übermaß aufweist, sondern die erste; sie ist einfach ein Weniges, weil sie die erste Menge ist, die einen Mangel aufweist. — Die dazwischenstehenden Zeilen b 2 8 — 3 1 (διό . . . άπειρα) über einen Satz des Anaxagoras dürfen hier übergangen werden, zumal sie in ihrer Stellung und in ihrem Inhalt fragwürdig sind. — Angeschlossen sollten nun werden die Zeilen 1 0 5 7 a 1 — 2 (τό δέ iv . . . όλίγον): Daß die Eins kleiner (d. i. weniger) ist als eine andere Zahl, ζ. B. als die Zwei, dem steht nichts im Wege; denn wenn es kleiner ist, ist es deswegen noch nicht ein Weniges. — W i r können mit der Paraphrasierung von X 6 für unser Thema wieder bei 1056 b 3 2 einsetzen, dürfen jedoch 1 0 5 7 a 1 — 2 auslassen.

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nes 249. Daher gehört nicht zu jedem εν ein αριθμός — z . B . nicht zu demjenigen, das ein „εν" im Sinne eines Unteilbaren ist250. Der Autor faßt schließlich seine Auffassung vom Verhältnis des Einen zum Mannigfaltigen zusammen: Das Mannigfaltige ist dem Wenigen überhaupt nicht entgegengesetzt — diesem als der jeweils kleineren Menge ist das Viele als die größere Menge entgegengesetzt — und dem Einen auch nicht so einfachhin; man muß vielmehr unterscheiden: das Mannigfaltige (πλήθος) ist entweder das Teilbare (schlechthin); insofern ist es dem Einen als dem (schlechthin) Unteilbaren als (Korrelat) entgegengesetzt; oder es ist Zahl: dann steht es dem Einen (genau: der Eins) als dem Maß in einer einseitigen Beziehung (in der nur es abhängig ist) gegenüber (1057 a 1 2 — 1 7 ) . Die an den Anfang des Kapitels gestellte Diskussion der Frage, ob das Mannigfaltige nicht dem Wenigen gegenüberstehe, können wir übergehen; sie ist wahrscheinlich dadurch veranlaßt, daß in einer bestimmten Fassung der platonisch-akademischen Prinzipienlehre das Materialprinzip, das Mannigfaltigkeitsprinzip (auch) als die Zweiheit „Viel - Wenig" (πολύ - ολίγον, 249

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a 2—6; in a 5 dürfte der von Casaubonus vorgeschlagene Einschub eines „τό μέν" vor „μέτρον" nicht zu umgehen sein, obwohl Ross und Jaeger in ihren Apparaten nichts anmerken; Ps.-Alexandras (631.7—8) paraphrasiert die Stelle so: fj γάρ έστι τό Εν μέτρον ό δέ άριθμός μετρητόν, ταύτη αντίκεινται. a 6—7; den Text der 1. Satzhälfte (διό . . . έστίν) halte ich für nicht richtig überliefert: die Eins und die Zahl sind in den vorausgehenden Zeilen so sicher unterschieden, daß der Autor nun nicht sagen kann, es liege nicht immer ein Identitätsverhältnis zwischen ihnen vor; nachdem aber vorher das Verhältnis zwischen Maß und Gemessenem als eine einseitige Beziehung hingestellt worden ist (was freilich nicht akzeptiert werden kann), kann der Autor jetzt nur die Anwendung auf das gv — άριθμός-Verhältnis meinen: nicht immer, wenn ein εν vorliegt, muß auch schon ein άριθμός vorliegen (wohl aber umgekehrt: wenn eine Zahl vorliegt, muß auch eine Eins vorliegen). — Die 2. Satzhälfte (οίον έστιν) halte ich mindestens für überflüssig und irreführend (es dürfte sich um einen späteren Einschub handeln), da nach dem Vorausgehenden das Ιν-άριθμός-Verhältnis als solches schon einseitig ist ixnd so das Iv nicht auf die Beziehung zu einem άριθμός angewiesen sein soll; dem „εν" als „Unteilbarem" steht jedoch — so wenigstens wird man den Anfang von Kapitel 3 und das Ende von Kapitel 6 zu verstehen haben — das Teilbare in einer wechselseitigen Beziehung gegenüber, die für das Wesen der beiden Glieder konstitutiv ist und sie zu gleichrangigen „εναντία" macht. — In a 7—12 wird nochmals auf das Verhältnis zwischen επιστήμη und έπιστητόν eingegangen: auch dieses Verhältnis ist nach der Meinung des Autors ein einseitiges, doch wird der Vorrang, die Unabhängigkeit, die Maßstabsfunktion nicht dem Wissen zuerkannt, sondern dem Wißbaren. Vgl. dazu oben S. 329 ff. die Behandlung der Parallelstelle in X 1. — Ein Widerspruch dieser Stelle (a 7—12) zu 1056 b 36 — 1057 a 1, wonach das Wissen deswegen auf das Wißbare bezogen sein soll, weil das andere, d. i. das Wißbare, nach ihm bezeichnet sei, braucht nicht angenommen zu werden. Eine Erklärung für die verwirrenden Definitionen hier dürfte in V 15, 1021 a 29 ff. zu finden sein. Vgl. dazu meinen Aufs. „Zur Entstehung der . . . Substanz-Akzidens-Lehre", S. 225 f.

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bzw..' πλήθος ύπερέχον - πλήθος ύπερεχόμενον) angesetzt worden war (vgl. ζ. Β. X I V i , 1087 b 16). Wichtiger ist nun, daß dann das quantitative Verhältnis (also ein kategoriales) zwischen Eins und Zahl als Verhältnis zwischen Maß und Gemessenem in den Mittelpunkt gerückt wird. Dabei wird dieses Verhältnis nicht als eine Wechselbeziehung angesetzt, die für das Wesen der beiden Beziehungsglieder konstitutiv wäre, sondern nur als eine einseitige Beziehung. D. h. also: nur das eine Glied (gemeint ist damit die Zahl, das Gemessene) ist auf die Beziehung angewiesen, das andere aber (nämlich die Eins, das Maß) ist gleichgültig gegen die Beziehung, unabhängig von ihr. W i e soll das möglich sein? Ist nicht der Begriff des Maßes notwendig bezogen auf den des Meßbaren oder des Gemessenen? Und kann etwas Maß sein, ohne Maß für etwas oder von etwas zu sein? Ist die Zahl Eins denkbar ohne die Zwei? Der Autor begründet sein (unverständliches) Sichbegnügen mit dem Ansatz einer einseitigen Relation nicht. Er verweist zwar darauf, daß er an einer anderen Stelle zwei Weisen des Bezogenseins unterschieden habe, doch ist im C A keine Stelle mit einer solchen Unterscheidung zu finden251. Dies läßt Zweifel aufkommen mindestens bezüglich der Echtheit dieser Stelle — wenn nicht gar bezüglich der des ganzen Buches X . Erst in den letzten Zeilen des Kapitels wird erwähnt, daß mit dem Terminipaar „εν - πολλά" auch das Verhältnis zwischen dem Unteilbaren und dem Teilbaren gemeint sein kann; doch ist keine Rede davon, daß dieses Gegensatzpaar das schlechthin fundamentale sei oder auch nur, daß ihm eine besondere Bedeutung zukomme. Betrachtet man das Kapitel für sich allein, könnte man in ihm eine bloße Zusammenstellung der verschiedenen Bedeutungen der Termini „πολλά" oder „πλήθος" sehen. Erst der gleichzeitige Blick auf die Kapitel 1 — 5 legt die Annahme nahe, daß auch das Thema des Kapitels 6 durch die Thematik der platonisch-akademischen Prinzipienlehre vorgegeben war. Aus dem Anfang von Kapitel 3 wird man schließen dürfen, daß die Heraushebung der Bedeutungen „Unteilbar - Teilbar" aus den verschiedenen Bedeutungen des Terminipaares „εν - πολλά" kein bloßer Zufall sein dürfte, daß wahrscheinlich damit die wichtigsten und fundamentalsten Bedeutungen gemeint sein sollen. Ganz sicher geht aus dem Versuch in Kapitel 3, die Begriffe der Identität, der Gleichheit und der

251

Es ist an einigen Stellen der Begriff der Wechselbeziehung greifbar, an anderen der der einseitigen Beziehung. Nirgends aber werden beide Beziehungsbegriffe als gültige, wohl zu beachtende, wenn auch zu unterscheidende nebeneinandergestellt; vielmehr wird dort, w o tatsächlich über beide gesprochen wird, nämlich in Cat. 7 (bes. 8a 28—35), diejenige Definition, die wir heute als die der Wechselbeziehung verstehen, als nicht ausreichend hingestellt und durch eine andere ersetzt, die wir als die der einseitigen Beziehung auslegen. Vgl. dazu meinen Aufsatz „Zur Entstehung der aristotelischen Substanz-Akzidens-Lehre", a.a.O., S. 2 1 1 — 2 3 0 .

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Ähnlichkeit auf den des Einen, die der Andersheit, der Ungleichheit und der Unähnlichkeit auf den des Mannigfaltigen zurückzuführen, und aus dem Ende von Kapitel 4, wo das Gegensatzpaar „εν - πολλά" als das erste bezeichnet wird, hervor, daß mindestens jene Kapitel ihrer Thematik nach, ζ. T. aber sogar ihrem Inhalt nach, der platonisch-akademischen Prinzipienlehre entstammen. Hier in Kapitel 6 dagegen ist der Zusammenhang mit jener platonisch-akademischen Konzeption nicht so leicht zu erkennen. Man liest hier nichts von einem fundamentalen Vorrang der Gegensatzpaare „Unteilbar - Teilbar" oder „Eines - Mannigfaltiges" vor allen anderen Gegensatzpaaren, nichts von einer Prinzipienfunktion dieser — oder eines dieser — Gegensatzpaare für alles Seiende und auch nichts von einer Konvertibilität mit dem Seienden (als solchem). Stattdessen sieht man das Verhältnis „εν - αριθμός" in den Mittelpunkt gerückt. Ist dies verträglich mit den verschiedenen Fassungen der platonisch-akademischen Prinzipienlehre? Wir wissen es nicht, weil wir jene verschiedenen Fassungen nur — und nur ζ. T. — rekonstruieren können aus den Berichten des Aristoteles (besonders Met. I, X I I I und XIV) und späterer Schriftsteller. Es ist durchaus möglich, daß die eine oder (die) andere Fassung bereits der Gefahr einer Vermengung des fundamentalsten, ersten Prinzipienpaares mit dem Gegensatzpaar „Eins Zahl" erlegen war. Auch der Autor von X 6 ist dieser Gefahr nicht entkommen. Er vermeidet es freilich, ein bestimmtes Gegensatzpaar deutlich als erstes herauszustellen — während sich jene Fassungen vor allem nach dem jeweils an den Anfang gestellten Paar unterscheiden. — Würde hier in X 6 (und überhaupt im ganzen Buch X) eine klare Auseinandersetzung mit jener platonisch-akademischen Prinzipienlehre angestrebt, so würde auch einmal berichtet, welches Prinzipienpaar in der betreffenden Fassung als erstes angesetzt war, sodann eine Kritik vorgebracht. Stattdessen werden einzelne Stücke so vorgetragen, als ob sie eigene Lehre wären; andere Stücke wiederum scheinen verändert worden zu sein, ohne daß man heute noch das Ausmaß der Veränderung angeben kann. Folgen für die Geschichte der Transzendentalienlehre ergaben sich vor allem aus dem unklar gebliebenen Verhältnis zwischen dem ersten Prinzipienpaar und dem Paar „εν - αριθμός". Schon in X 1 und 2 kamen einige Stellen der Gleichsetzung von kategorienjenseitigem Einen und kategorialer, nämlich quantitativer Eins mindestens sehr nahe. Und so manche mittelalterliche Auslegung dieser Kapitel führte zu einer Verwischung des Unterschiedes von „unum transcendentale" und „unum numerale". Noch größer mußte diese Verwischungsgefahr werden durch die Rezeption des Kapitels 6, weil hier auch noch ein Mannigfaltigkeitsprinzip untergebracht werden mußte, für das — vor allem auf Grund der neuplatonischen Einflüsse auf die mittelalterliche Transzendentalienlehre — nur schwer eine Stelle im transzendentalen Bereich auszumachen war. Konnten sich die mittelalter-

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liehen Denker unter der „transzendentalen Mannigfaltigkeit" gar nichts anderes denken als nur den Begriff der Anzahl, sofern er auf das Reich der reinen Geister angewandt war, so mußte diese Tendenz zur quantitativen Auslegung des „Mannigfaltigen" auch auf die Auslegung des „Einen" zurückwirken. Darüberhinaus bot der Text von Met. X 6 einige Klippen, die selbst einem Interpreten, der um eine Unterscheidung zwischen transzendentaler und quantitativer Mannigfaltigkeit bemüht war, zum Verhängnis werden konnten. Es handelt sich einmal um 1056 b 19—20, wonach dem εν als Mannigfaltiges nur die Zahl gegenüberstehen soll, sodann um 1057 a 2—3, wo das Mannigfaltige (es dürfte damit das transzendentale Prinzip gemeint sein) als quasi-Gattung der Zahl hingestellt wird. Daß Met. X 6 (und ζ. T. auch schon X 3) tatsächlich diese Folgen für die mittelalterliche Transzendentalienlehre gehabt hat, mag hier nur ein Blick auf die einschlägigen Partien des Kommentars des Aquinaten zeigen. Thomas v. A. gehört zu den wenigen mittelalterlichen Denkern, die sich um eine Unterscheidung zwischen unum transcendentale und unum numerale, sowie zwischen multitudo (bzw. pluralitas) transcendentalis und multitudo numeralis bemüht haben. Man sieht dies leicht aus seinen Bemerkungen zum Ende von Met. X 6, wenn er das Gegensatzpaar „Unteilbar-Teilbar" als das transzendentale Paar Eines-Mannigfaltiges herauszustellen sucht 252. Doch nimmt Thomas die Bezeichnung des transzendentalen Mannigfaltigen als quasi-Gattung der Zahl hin253; er hält zwar noch daran fest, daß das transzendentale Mannigfaltige noch nicht auf eine bestimmte Gattung eingeschränkt ist, läßt sich aber doch dazu verleiten, diese pluralitas vel multitudo transcendentalis bereits als eine quantitative Mannigfaltigkeit auszulegen, wenn er meint, sie bedeute „entia divisa". Auch schon bei der Kommentierung von X 3, 1054 a 26—29, läßt Thomas auf die transzendentale Unterscheidung (divisio), — die nach ihm eine Bedingung für das transzendentale, mit dem Seienden konvertible Eine ist und von der quantitativen Teilung 252

253

Thomas, In . . . Metaph., p. 493, n. 2096: . . pluralitas non uno modo opponitur uni, sed dupliciter. Uno modo, sicut supra dictum est, opponitur ei ut divisibile indivisibili. Et hoc si aeeipiatur communiter unum quod convertitur cum ente, et pluralitas ei correspondens. — Alio modo opponitur pluralitas uni ut ad aliquid, sicut scientia ad scibile. Et hoc dico si aeeipiatur pluralitas quae est numerus, et unum quod habet rationem mensurae, et est prineipium numeri." p. 492/3, n. 2090: „Sciendum vero est, quod pluralitas sive multitudo absoluta, quae opponitur uni quod convertitur cum ente, est quasi genus numeri; quia numerus nihil aliud est quam pluralitas et multitudo mensurabilis uno. Sic igitur unum, secundum quod simpliciter dicitur ens indivisibile, convertitur cum ente. Secundum autem quod aeeipit rationem mensurae, sie determinatur ad aliquod genus quantitatis, in quo proprie invenitur ratio mensurae." — Thomas weiß zwar, daß hier der Terminus ,genus' mit Vorsicht gebraucht werden muß, meint aber doch, daß hier immer noch ein Allgemeines vorliege, ohne jedoch dieses Allgemeine klar und deutlich vom Gattungsallgemeinen zu unterscheiden (siehe: n. 1092).

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unterschieden wird — und auf das transzendentale Eine ein Mannigfaltiges folgen, das bereits aus Einheiten bestehen soll 254. Thomas entgeht es, daß er damit schon wieder quantitative Mannigfaltigkeit denkt. Met. XII. — Das Buch X I I enthält in den Kapiteln 6—9 (ζ. T. in Anlehnung an Phys. VIII) die Lehre von der prozeßfreien Substanz, vom unbewegten Beweger, also die aristotelische Theologie. Im Kapitel 10 bringt es — in knapperer Form als Buch XIV — eine Kritik der platonisch-akademischen Prinzipienlehre, da diese Lehre der eigenen (aristotelischen) Auffassung von den Gründen, besonders der vom ersten Prozeßgrund und vom Prozeßziel, dem Guten, im Wege steht. Die Kapitel 1—5 handeln — nach der Einteilung der Substanzen in Kapitel 1 — von den Prinzipien der sinnlichen prozeßhaften Substanzen (ουσία αισθητή μεταβλητή)255. Bei aller Dunkelheit, die diesen Kapiteln immer anhaften wird, wird man sagen dürfen, es werde in ihnen versucht, eine Konzeption von drei Elementen (στοιχεία) (Positiv- und Negativbestimmtheit und Zugrundeliegendes) mit einer solchen von vier Gründen und mit der Auslegung des Werdens als Übergang von der Möglichkeit in die Wirklichkeit zu verbinden. Wichtig für unsere Untersuchung sind nur die Kapitel 4 und sofern darin die Frage diskutiert wird, ob die Gründe (bzw. Elemente) für alle Gattungen des Seienden (die Beschränkung auf die sinnlichen Substanzen scheint also vorübergehend aufgehoben zu sein) dieselben sind oder ob sie von Gattung zu Gattung verschieden und nur auf Grund einer Analogie die gleichen sind. Der Autor entscheidet sich für das letztere (XII 4, 1070 a 31—33). Er begründet seine Meinung, daß die Prinzipien und Elemente der Substanzen, der Beziehungen (τά πρός τι) und auch der anderen Kategorien unmöglicherweise identisch sein könnten, mit folgenden drei Argumenten: 1.) Es gibt nichts, das der Substanzkategorie und den anderen Kategorien gemeinsam wäre und sich neben die (ja vor die) Kategorien setzen ließe; das Element ist aber immer „früher" als das von ihm Aufgebaute (1070 b 1—3), — 2.) Aber auch die Substanz selbst ist nicht Element der Beziehungen, wie 254

255

p.476, n. 1996—98: . . . Divisio autem quae praesupponitur ad rationem unius, secundum quod convertitur cum ente, non est divisio quantitatis continuae Sed est divisio quam causat contradictio, prout hoc ens et illud dicuntur divisa, ex eo quod hoc non est illud. — Sic ergo primo in intellectu nostro cadit ens, et deinde divisio; et post hoc unum quod divisionem privat, et ultimo multitudo quae ex unitatibus constituitur. . . . Quamvis etiam nihil prohiberet dici rationem multitudinis dependere ex uno, secundum quod est mensurata per unum, quod iam ad rationem numeri pertinet. Wenn es eine nicht bloß rein äußerliche Verbindung zwischen den Kapiteln 1 — 5 und den Kapiteln 6—10 gibt, dann besteht diese darin, daß die prozeßfreie Substanz, der unbewegte Beweger, als einer der Gründe, und zwar wohl als der wichtigste Grund der sinnlichen Substanzen betrachtet worden ist.

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auch keine von diesen Element der Substanz ist (b 3—4). — 3.) Wie sollte es auch möglich sein, daß die Elemente für alles dieselben seien? Keines der Elemente kann identisch sein mit dem, was aus den Elementen zusammengesetzt ist — so ζ. B. kann der Buchstabe Α oder der Buchstabe Β nicht identisch sein mit der Silbe Ba —;denn keines von den Elementen könnte bereits die Substanzkategorie oder die Relationskategorie sein; dies wäre aber (in diesem Falle) notwendig (da keine inhaltliche Bestimmtheit denkbar ist, die nicht eine dieser Kategorien wäre oder unter eine dieser Katgorien fiele); also können die Elemente für alles Seiende nicht dieselben sein (b 4—6; 8—10). Demnach können die verschiedenen Kategorien nicht mehr auf gemeinsame Elemente — oder ein gemeinsames — zurückgeführt werden: weder auf eines (bzw. solche), das (bzw. die) den Kategorien vorausginge(n), noch auf eines, das selbst eine Kategorie (Substanz oder Beziehung) wäre; ferner würde der Ansatz eines Elements für die Kategorien auf eine Gleichsetzung des Elements mit dem daraus Aufgebauten hinauslaufen, weil als Element immer wieder nur eine Kategorie in Frage käme — jedoch nichts, das noch nicht inhaltliche Bestimmtheit im Sinne einer Kategorie wäre, nichts also, das kategorienjenseitig wäre. Wahrscheinlich weist Aristoteles damit die eine oder andere Fassung der akademischen Prinzipienlehre zurück: vor allem mit dem Argument 2.), wo er der Beziehung ein eventuelles Elementsein gegenüber der Substanz abspricht und damit wohl den Prinzipienrang des „Groß-Kleinen" bestreitet. Verwunderlich ist freilich, daß auch die Substanz nicht den Rang eines Elements gegenüber der Beziehung und den anderen Kategoien haben soll. Man fragt sich: Kann dann die Substanz überhaupt noch einen Vorrang vor den anderen Kategorien haben? Doch muß ein Vorrang der Substanz damit noch nicht völlig ausgeschlossen sein, sondern eben nur ein solcher, der auf dem Elementsein beruhen würde. Ein Blick zurück auf das 1. Argument, wo die Substanz allen anderen Kategorien gegenübergestellt wird, und auf eine Stelle in X I V 1 (1088 a 30 ff.) läßt wenigstens die Annahme zu, daß auch hier schon von einem Vorrang der Substanz ausgegangen wird. Sollte dies jedoch nicht zutreffen, wäre damit noch Raum gelassen für den Ansatz von kategorienjenseitigen Bedingungen für eine jegliche Kategorie (also audi für die Substanzkategorie). Es ist auch noch diese Frage zu stellen: Ist mit der Zurückweisung eines Ansatzes von Elementen für die Kategorien nicht auch schon ein jeglicher Ansatz von irgendwelchen Minimalbedingungen für die Kategorien — und damit also audi der Ansatz der Transzendentalien — abgelehnt? Auch diese Frage muß verneint werden, da die Transzendentalien nicht im Sinne von Elementen, von inhaltlichen Bestandteilen, den Kategorien vorausgehen, sondern lediglich im Sinne von formalen Bedingungen.

Met. X I I

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In diese Richtung weist nun jene Parenthese, die in den Zeilen 1070 b y—8 enthalten ist256. Hier heißt es: „Auch nichts aus dem Bereich des bloß Denkbaren — wie ζ. B. das Eine und das Seiende — ist ein Element; denn diese kommen jedem Zusammengesetzten zu!" Gemeint ist damit wohl Folgendes: das bloß Denkbare — wie ζ. B. das Eine und das Seiende — kommt in solcher Weise jedem Seienden, jedem Zusammengesetzten zu, daß es mit ihm identisch wird (während ein echtes Element nicht mit dem von ihm Mit-Aufgebauten identisch sein kann: s. 1070 b 5—6); eine solche Identität (mit dem Zusammengesetzten) macht es aber unmöglich, daß das bloß Denkbare — wie das Eine und das Seiende — den Charakter eines Elements haben kann; wenn es aber überhaupt nicht Element ist, dann auch kein identisches gegenüber dem Mannigfaltigen, dem es zukommt. — Wie gut der Einschub dieser Zeilen auch immer gerechtfertigt werden mag (etwa als genuin aristotelisch), er bekommt hier doch erst dann einen Sinn, wenn angenommen werden darf, was allerdings nicht ausdrücklich im Text steht: eben dies, daß das „Zukommen" (υπάρχει .. . έκάστω) als ein — freilich nicht erklärbares — Identischsein ausgelegt werden soll. Wenn man sich zu dieser Annahme durchringt, würden diese Zeilen (7—8) gegenüber den Zeilen 4—6 und 8 — 1 0 mindestens dies zum Ausdruck bringen, daß die Ablehnung eines Ansatzes von Elementen für die Kategorien noch keine Ablehnung des Ansatzes des Einen und des Seienden bedeuten muß. Die fragwürdige Überlieferung dieser Zeilen und die Notwendigkeit jener ebenfalls fragwürdigen (weil kaum verstehbaren) Annahme hindern freilich den Interpreten, diesen Zeilen eine größere Bedeutung beizumessen. Noch ein weiterer, freilich ebenfalls fragwürdiger Anhaltspunkt wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels dem Interpreten für die Annahme gegeben, Aristoteles habe nach der Ablehnung des Ansatzes identischer Elemente und Prinzipien für alles Seiende immerhin noch Raum gelassen für den Ansatz gemeinsamer formaler Bedingungen für die verschiedenen Kategorien: die Elemente der verschiedenen Kategorien seien zwar in einer gewissen Hinsicht verschieden, in einer gewissen anderen Hinsicht aber dieselben; insofern entsprechen sie einander in analoger Weise (1070 b 10 bis 18). Problematisch wird es jedoch schon wieder, wenn Aristoteles die Zahl der analog übereinstimmenden Prinzipien bzw. Elemente mit drei angibt: είδος, στέρησις, υλη (b 1 8 — 1 9 ) , da mit dieser Dreiheit, zumal darin die Gewichte so verschieden verteilt sind, der transzendentale Bereich bereits wieder verlassen ist. Im transzendentalen Bereich ist nur Raum für zwei völlig gleichgewichtige Prinzipien, wie es die Identität und die Andersheit sind, 256

Daß es sich um eine Parenthese oder Randglosse handelt, wird seit Bonitz (p. 480) nicht mehr bezweifelt, während Ps.- Alexandras, Thomas, ja auch noch Schwegler diese Zeilen mit den Zeilen b 4—6 und 8—10, also mit dem 3. Argument zu verbinden suchen: jedoch ohne überzeugenden Erfolg.

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3*8

jedoch nicht mehr für ein drittes, ihnen zugrundeliegendes Prinzip. Noch problematischer ist aber dies, daß als drittes, zugrundeliegendes Prinzip nicht die für Positiv- und Negativbestimmtheit gemeinsame Gattung (also ζ. B. die Farbe überhaupt für Weiß und Schwarz) angesetzt wird, sondern bereits eine Größe aus einer anderen Kategorie, nämlich aus der Substanzkategorie; denn es wird als υλη für Weiß (είδος) und Schwarz (στέρησις) die — einen sinnlichen Körper begrenzende — Oberfläche (έπιφάνεια) angegeben und als ΰλη für Licht (εΐδος) und Finsternis (στέρησις) die Luft. Dieser Übergang in eine andere Gattung macht — auch nach einer analogisierenden Verallgemeinerung — eine Transposition dieses Prinzipienverhältnisses in den transzendentalen Bereich unmöglich. Läge ein solcher Übergang nicht vor, könnte hier ein kleines Plus gegenüber Χ ι — 2 registriert werden: während dort immer nur gesagt wird, das Eine, das Maß, sei überhaupt nicht identisch, sondern von Gattung zu Gattung verschieden (in der Gattung „Farbe" sei es die Bestimmtheit Weiß, in einer anderen Gattung jedoch wieder eine andere), wird hier immerhin von einer Analogie, von einer analogen Gleichheit der Prinzipien in den verschiedenen Kategorien gesprochen, also auch von einer Analogie des — hier als „είδος" bezeichneten — Maßprinzips; denn es soll die Proportion gelten: weiß: = Licht: = είδος:

schwarz : Finsternis: στέρησις :

Oberfläche Luft ΰλη

Aber auch dieser Feststellung einer Analogie kann für die Transzendentalienlehre keine große Bedeutung zukommen: wegen der ΰλη-Lehre, die auf die Lehre von der Substanz, und zwar auf die Lehre von dem — mit der Transzendentalienlehre nicht mehr zu vereinbarenden — Vorrang der Substanz vor den anderen Kategorien verweist. In Kapitel 5 werden dann auch wirklich die Gründe der Substanzen als die Gründe, und zwar als die identischen Gründe, für alles Seiende ausgegeben — mit der Begründung, ohne die Substanzen gäbe es keine Zustände und keine Prozesse, und mit der Aufhebung der Substanzen würde auch alles andere Seiende aufgehoben (1070 b 36 — 1071 a 2; a 34—35). Eine derartige Abhängigkeit des übrigen Seienden von den Substanzen und damit auch von den Gründen der Substanzen macht eine Abhängigkeit von transzendentalen Bedingungen überflüssig, ja, unmöglich. Wenigstens in Bezug auf das nichtsubstantielle Seiende würde sich dann ein Rückgang auf transzendentale Bedingungen erübrigen; es würde nicht mehr nach den Bedingungen für die Erleb- und Denkbarkeit eines jeden beliebigen Inhalts — sei es nun ein substantieller oder nicht — gefragt, sondern nur danach, woran ein Inhalt erscheint, existiert. Aber auch in Bezug auf das Woran, d. h. die Substanz, wird nicht nach den transzendentalen Bedingungen der

Met. XII

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Erleb- bzw. Denkbarkeit gefragt, sondern lediglich dessen Individualität behauptet und dann als Grund für es einfach ein anderes Individuum der gleichen Art gefordert (vgl. ζ. B. 1 0 7 1 a 20—24). Immer dann, wenn in der Kategorienlehre an die Stelle der Gleichrangigkeit eine Abhängigkeit der übrigen Kategorien von der Substanz gesetzt wird und wenn in der Gründelehre an die Stelle der Denk- und Erkenntnisbedingungen sogenannte Seinsgründe, Ursachen gesetzt werden, — ist der Rückgang zu den transzendentalen Bedingungen verbaut. Mindestens in X I I 5 geschieht dies. In X I I 4 müßte zwar die Ablehnung eines Ansatzes von Elementen für die Kategorien noch nicht als eine Zurückweisung aller möglichen kategorienjenseitigen Bedingungen ausgelegt werden, zumal — wenigstens in einer Parenthese (1070 b 7—8) — dem Einen und dem Seienden ein derartiger Elementcharakter ausdrücklich abgesprochen wird, doch ist die Zurückweisung der Transzendentalien mit der von Elementen für die Kategorien sehr wahrscheinlich mitgemeint, da die Lehre von der ΰλη in der zweiten Hälfte des Kapitels bereits mit der Substanzlehre zusammenhängt und jene Parenthese in ihrer Echtheit angezweifelt werden kann und außerdem mit der so schwer erklärbaren Meinung belastet ist, das Eine und das Seiende sei mit jedem zusammengesetzten Seienden identisch. Die Kapitel 6—9 des X I I . Buches enthalten die aristotelischen Vorstellungen vom „Ersten Beweger", vom Gott. Das 6. Kapitel lehnt sich z.T. an Phys. V I I I an; für die Kapitel 7 und 9 kennen wir keinen derartigen Hintergrund; für manches Rätsel, das diese Kapitel aufgeben, ist man verleitet, in De Anima I I I 4—8 eine Lösungshilfe zu suchen. Leider gelingt das nicht. Die Dunkelheiten dieser Kapitel sind groß und ob das, was den Interpreten als klar erscheint, auch wahr, gültig ist, läßt sich ein wenig bezweifeln. Für die Behandlung der Transzendentalienlehre ist es nicht erforderlich, solche Einwände aufzuzählen und zu diskutieren. Es wäre höchstens die Frage zu stellen: Wie verhält sich nach Aristoteles die Lehre vom „Ersten Beweger" zur Lehre von den allgemeinsten Bestimmungen, d. i. vom Seienden und vom Einen? Ist Aristoteles a) der Meinung, daß diese allgemeinsten Bestimmungen auch noch vom Ersten Seienden, vom Ersten Beweger gelten, daß also die Transzendentalien als oberste Denk- und Erkenntnisbedingungen auch noch die Gottesvorstellung mitermöglichen würden? Oder nimmt er b) etwa eine Identität zwischen dem Ersten Seienden, Beweger und dem allgemeinsten Seienden an, so daß sich Transzendentalienlehre und Gotteslehre decken würden? Oder meint er c) gar, die Lehre vom Ersten Beweger, von einer selbst seienden, und zwar im eminenten Sinne seienden Ursache für das Sein — oder doch wenigstens für die Prozeßhaftigkeit — alles übrigen Seienden, habe die Lehre vom Transzendentalen zu ersetzen? Auf keine dieser Fragen kann eine sichere, nicht anfechtbare Antwort gegeben werden, da diese Kapitel die Transzendentalien mit

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Vom Seienden und vom Einen

keinem Wort erwähnen. Bedenkt man jedoch ebengerade dieses Schweigen, ferner einige Grundzüge der in X I I 6 — 9 angedeuteten Gottesvorstellung und außerdem die Zurückweisung der platonisch-akademischen Prinzipienlehre in X I I 10, so dürfte die zuletzt genannte Möglichkeit (c) auf die in X I I 6—9 formulierte Position am ehesten zutreffen. Träfe eine der zwei zuerst genannten Möglichkeiten (also a oder b) zu, hätte die platonisch-akademische Auffassung von der Konstitution alles Seienden aus Fundamentalgegensätzen (wenigstens soweit diese auf den transzendentalen Gegensatz zwischen Identität und Anderheit zurückgehen), aus Erkenntnisbedingungen, nicht abgelehnt werden dürfen, sondern sie hätte beibehalten und ihre Vereinbarkeit mit dem Gottesbegriff aufgezeigt werden müssen. Stattdessen kritisiert Aristoteles die platonisch-akademische Auffassung und meint, die darin gefundenen Mängel seien in seiner eigenen Position, in der Lehre von dem das Beste schauenden νοϋς als „Ersten Beweger" alle beseitigt (vgl. XII 10). Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß die aristotelische Gottesvorstellung, die doch ein Wesen zum Gegenstand haben soll, das von der Welt unabhängig ist, aber dennoch der Welt gegenübersteht und in nicht ermüdender, reiner Schau, in einem Denken seiner selbst seine Wirklichkeit hat, daß also diese Gottesvorstellung aus einer nur unzureichenden Abänderung des Begriffs von einem Minimalsubjekt (d. h. vom transzendentalen Subjekt) entstanden ist. Dieser Gott ist ein Seiendes neben anderem Seienden, eingeschränkt durch anderes Seiendes; eine gewisse Unabhängigkeit wird ihm eingeräumt mit der Meinung, daß er bei seinem Wirken keine Rückwirkung erleide. Erreicht soll letztere dadurch werden, daß er nur als Geliebtes bewegt — nicht als Liebendes, Handelndes. So kann er aber nur bewegen, wenn ihm ein bereits beseeltes — nämlich ein erkennendes und liebendes — Weltall gegenübersteht. Damit ist er in einer gewissen Hinsicht nun doch wieder zu einem Möglichen herabgesunken. Soll ihm dennoch eine reine Wirklichkeit verbleiben, kann dies am ehesten noch diejenige sein, die in der Nichthintergehbarkeit des Denkens überhaupt besteht. Das Denken des νους, das zugleich ein Sichselbstdenken ist, ist vielleicht nur das transzendentale Denken als Haben des reinen, bloßen Etwas überhaupt. Das Hingerichtetsein auf das Beste ist vielleicht nur das nichthintergehbare Stellungnehmen überhaupt, das (ohne hinreichende Begründung) nur auf das positive Alternativglied eingeschränkt ist, dann aber keine Erklärung des Übels in der Welt mehr ermöglichen kann. Doch eine gründliche Prüfung dieser Vermutung von der Herkunft der aristotelischen Gottesvorstellung aus den Vorstellungen von einem Minimalsubjekt kann hier nicht geleistet werden, weil dies eine ausführliche Diskussion über die nun einmal dargebotene Lehre (einschließlich des Beweises) von Gott voraussetzen würde. Aristoteles glaubt, mit seinen Vorstellungen von Gott seine Vorstellungen vom Guten dargelegt zu haben, die akademi-

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sehen dagegen ablehnen zu müssen, die das Gute zusammen mit dem Übel als ein Paar von Fundamentalprinzipien betrachteten. Ausführlicher spricht Aristoteles darüber in X I V 4. Wir haben uns mit der akademischen Auffassung und mit der aristotelischen Kritik oben S. 98 ff. auseinandergesetzt. Hier nur eine kurze Bemerkung zur aristotelischen Zurückweisung der akademischen Auffassung in X I I 10, 1075 a 28—32. Nach der Feststellung, daß alle Denker alles aus Gegensätzen entstehen ließen, wendet Aristoteles ein, 1.) es stimme nicht, daß alles entstehe, und 2.) stimme auch nicht, daß alles aus Gegensätzen entstehe, 3.) werde nicht angegeben, wie das, was aus Gegensätzen entstehe, nun wirklich entstehe; denn die Gegensätze würden nichts von einander erleiden können (also nicht direkt aufeinander einwirken) ; die Lösung bringe erst die eigene Position durch die Einführung eines Dritten (das zwischen den Gegensätzen vermitteln soll). — In Punkt 1) denkt Aristoteles wohl an solches Seiendes, das er für unentstanden und für unvergänglich hält (wofür dann also keine Ursachen gesucht zu werden brauchen): etwa die Himmelskörper oder die Sphärenbeweger. Vielleicht mißversteht er dabei seine Gegner: vielleicht dachten diese, als sie allem eine Genesis zuschrieben, an die logische Genesis eines jeglichen Inhalts aus Denk- und Erkenntnisprinzipien (Gegensatzpaaren) (auch ein Begriff wie „Himmeskörper" ist ein solcher Inhalt, der auf Denk- und Erkenntnisprinzipien zurückgeführt werden muß). — Mit Punkt 2) hält Aristoteles eine Genesis für denkbar, die nicht als eine Genesis aus einem Gegensatzpaar gedacht zu werden brauche, d. h. also: er meint, es sei auch ein Entstehen als Entstehen aus einer einzigen, isolierten Bedingung denkbar. Dazu muß die Frage gestellt werden: Kann unter Zugrundelegung einer einzigen Bedingung überhaupt noch etwas erklärt werden? Wird da noch erklärbar, warum dieses Eine aus dem nichtwirkenden, nichterzeugenden Zustand in den wirkenden, erzeugenden übergeht? Ein Verzicht auf eine solche Erklärung kann nicht gefordert werden mit der Behauptung, es gebe nun einmal unbezweifelbar ein Werden und dieses könne nur aus einem Einzigen entsprungen sein, ohne Rücksicht darauf, ob man es sich erklären könne oder nicht. Denn das Werden und sein Ursprung sind selbst wieder nur Inhalte, die nur soweit gelten und Beachtung verdienen, so weit sie auf Denk- und Erkenntnisbedingungen zurückgeführt, soweit sie ausgewiesen, erklärt werden können. Der Rekurs auf Denk- und Erkenntnisbedingungen aber ist immer ein Rekurs auf Gegensätze. Insofern läßt sich mit der platonisch-akademischen These vom Ursprung alles Seienden, aller Inhalte, aus Gegensätzen ein guter Sinn verbinden, während die aristotelische Kritik den Verdacht erweckt, die Notwendigkeit des Rückgangs auf die Denk- und Erkenntnisbedingungen jedes Inhalts übersehen zu haben, sich mit der Annahme von Seinsgründen, von Ursachen begnügt zu haben. Ist dieser Verdacht gerechtfertigt (etwa aus der Ablehnung der These vom Ursprung alles Seienden aus

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Gegensätzen), dann steht auch fest, daß eben jene Zurückweisung der Rückführung alles Seienden auf Gegensätze zugleich eine Absage an jegliche Transzendentalienlehre bedeutet, daß den Transzendentalien keine Funktion für irgendein Seiendes mehr zuerkannt wird, mag auch da oder dort noch über sie geredet werden. — Der Punkt 3) läßt sich auf Punkt 2) zurückführen, da das von Aristoteles herbeigerufene Dritte, das zwischen den Gegensätzen vermitten soll, als isolierte Größe in seinem Wirken, in seinem Übergang vom Noch-nicht-Wirken zum Wirken unerklärbar bleibt. Und schließlich: Wenn Gegensätze gar nicht aufeinander wirken könnten, dann könnte auch das Dritte, das dem ersteren Paar doch selbst als ein Neues gegenübertntt, nicht auf sie einwirken. Der aristotelische Rekurs auf ein Drittes liefert also keine Erklärung des Werdens. Ebensowenig zu akzeptieren und mit der Transzendentalienlehre zu vereinbaren ist die Kritik, der Aristoteles in X I V 1 — 2 die platonisch-akademische Prinzipienlehre unterzieht. Met. X I V 1 — 2 . — Wir gliedern Kapitel 1 in folgende Abschnitte: A): 1 0 8 7 3 2 9 — b 4 B): 1087 b 4 — 3 3 C): 1087 b 33 — 1088 a 14 D ) : 1088 a 1 5 — b 13. A.) Nach 1087 a 29 — b 4 kann kein Gegensatzglied oder -paar Prinzip für alles sein, weil 1.) jeder Gegensatz ein Substrat voraussetzt und 2.) nicht selbständig ist und weil 3.) der ουσία, dem Selbständigen, nichts entgegengesetzt ist. Dem ist also als aristotelische Lehrmeinung dies zu entnehmen: das Prinzip von allem muß das Erste sein und darf nichts mehr voraussetzen, ferner muß es selbständig sein, ουσία-Rang haben. Der Interpret fragt zu 1.): Setzt wirklich jeder Gegensatz ein Substrat voraus? Steht ein Paar von bloßen Richtungsgegensätzen (die also nicht auf die Extreme fixiert sind) nicht jeweils für die ganze Dimension und fungiert so selbst als eine Art von Substratum? Es geht hier doch nicht um den Übergang von einem Gegensatzglied zu einem anderen, so daß dafür ein Substrat gefordert werden müßte, sondern um ein Zugleichsein, um ein Sich-wechselseitig-Bestimmen der Gegensatzglieder. — Zu 2.): Braucht das Selbständige, Substantielle, das hier so selbstverständlich als Prinzip angesetzt wird, nicht mehr auf Erkenntnis- und Denkbedingungen zurückgeführt zu werden? Oder meint Aristoteles mit dem Substantiellen etwa gar schon das Denken selbst? Dann wären aber die Termini ,,χωριστόν" und „ουσία" irreführend. Aber auch abgesehen davon gibt es im C A zu viele Stellen, die eine Abhängigkeit des Denkens vom Sein, d. h. vom substantiellen Sein, behaupten. — Zu 3.): Hat diese These, daß der ουσία nichts entgegengesetzt sei, nicht selbst ihren Ur-

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sprung in der platonischen Prinzipienlehre? Sofern die ουσία aus der Konkreszenz des Urprinzipienpaares πέρας (dafür später der Titel: εν) und άπειρον (dafür später: πλήθος, bzw. die Richtungsgegensätze μάλλον - ήττον und dergl.) entsprungen ist (s. Piaton, Phil. 27 b 7—9), steht ihr natürlich kein Glied des Urprinzipienpaares und auch keines des Richtungsgegensatzes mehr gegenüber. (Piaton) Philebos 24 d 4 — 5 sowie (Aristoteles) Cat. 5 , 3 b 24—32 und 6. 5 b 11 ff. lassen vermuten, daß jene aristotelische Meinung über den Substanzbegriff diesen platonischen Ursprung hat. — Keiner der Gründe, die Aristoteles hier gegen den platonisch-akademischen Prinzipienansatz ins Feld führt, ist also durchschlagend. B.) In 1087 b 4 — 3 3 klagt Aristoteles darüber, daß das dem Einen (εν), der Form (μορφή), entgegengesetzte Glied so viele Namen hat, daß es von den einzelnen Vertretern der Akademie so verschieden bezeichnet wird: υλη, τό ανισον, τό πλήθος, τό μέγα και τό μικρόν, τό πολύ και το ολίγον, τό ύπερέχον και τό ύπερχόμενον. Aber was als dieses Gegensatzglied auch angesetzt werden mag: nach seiner (d. i. des Aristoteles) Meinung sind einige Folgen bei jedem dieser Ansätze gleich; eine Ausnahme bilde lediglich der Ansatz des Übertreffenden und Übertroffenen: diesem werde, weil er allgemein sei, der Vorzug gegeben vor dem des Großen und Kleinen; konsequenterweise müßte aber dann auch die Zahl (eben weil sie allgemein ist) vor der Zwei aus den Elementen entspringen; doch gerade dies würden jene Denker nicht lehren. Ferner könne eigentlich dem Einen (εν) nur das Mannigfaltige (πλήθος) gegenübergestellt werden; was jene jedoch (so quasi im selben Atemzug) nennen: nämlich das Andere (ετερον, αλλο) und das Ungleiche, sei vielmehr dem Identischen bzw. dem Gleichen entgegengesetzt. Nehme man nun den (immerhin diskutablen) Gegensatz „EinesMannigfaltiges" her, so sei auch da noch etwas auszusetzen: es ergebe sich dabei, daß das Eine zum Wenigen (ολίγον) werde, weil dem Vielen (τό πολύ) das Wenige entgegengesetzt sei 257. — Wenn die Akademiker dem dem Einen entgegengesetzten Glied so verschiedene Namen gaben, mußte dies freilich verwirren. Offensichtlich vermengten sie da mit dem transzendentalen Prinzip der Andersheit negative Gegensatzglieder aus verschiedenen kategorialen Bereichen. Doch kann mit diesen Fehlern innerhalb der verschiedenen Fassungen der akademischen Prinzipienlehre nicht ein jeglicher Ansatz von Prinzipien (von transzendentalen und kategorialen, d. h. von Denk- und Erkenntnisprinzipien) zurückgewiesen werden. C.) (1087 b 33 — 1088 a 14) Nach dieser Kritik an der Fassung des Materieprinzips bringt Aristoteles nun etwas über das Formprinzip: Das 257

Dieser Einwand wird in X 6, 1056 b 5 ff. (s. oben S. 349; 351) zurückgewiesen. Die Frage nach der Echtheit der beiden Stellen bzw. nach deren Entstehungsfolge kann hier nicht diskutiert werden.

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Eine (εν), die Form, habe die Funktion des Maßes (μέτρον); es sei das Unteilbare der Qualität oder der Quantität nach; es gehöre immer schon in eine Gattung (steht also nicht jenseits der Gattungen, Kategorien) und habe einen je nach Gattung verschiedenen Inhalt; es sei nicht für sich schon eine Wesenheit, sondern Maß einer immer schon irgendwie bestimmten Mannigfaltigkeit; das Maß sei immer von der gleichen Art wie das gemessene Mannigfaltige: für Menschen sei es ein Mensch, für Pferde: ein P f e r d . — Was Aristoteles hier mit „Maß" meint, ist Maß für die quantitative Bestimmung, ist Ausgangspunkt für die Zählung (1088 a 4 — 6 ) . Auch der Mensch soll als Maßstab dienen bei der Zählung einer Mannigfaltigkeit von Menschen und das Pferd bei der Zählung einer Mannigfaltigkeit von Pferden. Dieser Auslegung von „εν" und „πλήθος" durch Aristoteles kann eine andere an die Seite gestellt werden, nämlich die qualitative: das Eine könnte jedesmal auch als die reine Artbestimmtheit aufgefaßt werden und das Mannigfaltige als jenes dadurch zu bestimmende Material, das durch den Bezug auf die reine Artbestimmtheit überhaupt erst zu einer artgleichen und so erst zu einer abzählbaren Mannigfaltigkeit wird. Von dieser qualitativen Auslegung her drängt sich dann auch der Gedanke auf an das Formprinzip als solches, an die Bestimmtheit überhaupt, also an jenes Formmoment, das noch jeglicher kategorialer Differenzierung vorausliegt: d. i. der Gedanke an das kategorienjenseitige, transzendentale Eine (wie auch an das transzendentale „Mannigfaltige", an die Andersheit). Doch man sucht hier vergeblich eine Äußerung darüber. Hier wird nämlich — ebenso wie in X 1 — 2 — einseitig das je nach Gattung Verschiedensein des Maßes betont, dagegen die für alle Gattungen gleiche Form des Maßes übersehen. Aristoteles möchte wohl damit zum Ausdruck bringen, daß ein Eines, das noch jenseits der Gattungen, Kategorien, liegen und noch nicht von einem Gattungsinhalt mitbestimmt sein würde, gar nicht angesetzt werden könne; daß also — soweit es das Formprinzip betrifft — von einem einzigen Urprinzipienpaar nicht gesprochen werden kann, sondern immer nur von einem Paar für die betreffende Gattung, von gattungsbestimmten Paaren. Damit aber ist auch das transzendentale Eine ignoriert. D.) In 1088 a 15 — b 13 befaßt sich Aristoteles nun wieder mit der platonisch-akademischen Konzeption des dem Einen entgegengesetzten Prinzips: Wer das Ungleiche oder das Groß-Kleine als (Material-)Prinzip ansetze, sage etwas Unwahrscheinliches, ja Unmögliches; denn Gegensätze wie Viel-Wenig, Groß-Klein, usw. seien viel eher Zustände (πάθη) und Akzidentien (συμβεβηκότα) als Substrate der Zahlen und Größen. Außerdem seien derartige Gegensätze Bezogenes (πρός τι); das Bezogene sei aber am wenigsten eine bestimmte Natur oder Substanz unter den (anderen) Kategorien; denn es komme erst nach dem qualitativen und quantitativen Bestimmtsein;

Met. XIV ι — 2 es sei nur ein Zustand des Quantitativen, aber nicht dessen Materie; das Bezogene sei — ebenso w i e das qualitativ und quantitativ Bestimmte — zunächst immer schon ein anderes (nämlich zunächst einmal eine Substanz). W i e weit das Bezogensein v o m Substanzsein entfernt sei, sei auch daraus zu entnehmen, daß es für das Bezogensein kein Werden gebe. Immer müsse die Materie das, was daraus werden solle, schon dem Vermögen nach sein: dies gelte auch für die Materie der Substanz; das Bezogene sei aber weder dem Vermögen nach noch der Wirklichkeit nach Substanz. Es sei aber unmöglich, als Element für die Substanz und als der Substanz vorausgehend etwas anzusetzen, was selbst nicht Substanz sei; alle anderen Kategorien seien aber der Substanz nachgeordnet. — Aristoteles weist also wiederum den platonischakademischen Ansatz des Materieprinzips zurück. Das zuerst angeführte Argument deckt sich ζ. T . mit dem im Abschnitt Α gelieferten: die Gegensätze, die die Stelle des Materieprinzips innehaben, haben keinen Substanzcharakter (was — nach des Aristoteles Meinung — notwendig wäre, wenn sie das Materieprinzip sein sollen), sondern nur Zustandscharakter. Als Zustände aber sind sie auf ein Substrat angewiesen; daher können sie nicht Prinzipien sein. — W a s an dieser Argumentation des Aristoteles auszusetzen ist, wurde schon oben S. 362 f. bei der Kritik des A b schnitts Α vorgebracht. — Das darauf folgende Argument macht aus den, jeweils für eine ganze Dimension stehenden, Richtungsgegensätzen Bezogenes und hält das Bezogensein für eine Kategorie minderen Ranges, die immer schon die Substanzkategorie voraussetze und daher niemals Materialprinzip für die Substanz sein könne. Und wieder steht die These da, die Prinzipien der Substanzen könnten wiederum nur Substanzen sein. Das bedeutet aber: Die Substanz als solche soll unbegriffen bleiben, soll nicht mehr von Bedingungen her erklärt werden. D e r Interpret fragt sich: Versucht Aristoteles nicht doch auch selbst eine Erklärung der Substanz, wenn er von Form und Materie spricht? Doch Aristoteles denkt die Form w i e auch die Materie nicht als unselbständige, notwendigerweise aufeinander bezogene Momente, die erst in ihrem Wechselbezug selbständiges (und zwar nur relativ selbständiges) Seiendes konstituieren, erklärlich machen, sondern spricht bald der Materie, bald der Form, manchmal auch beidem Substanzcharakter zu — und fragt nicht mehr nach deren Bedingungen. Mit seinem Verzicht auf eine Erklärung der Substanz, auf eine Untersuchung von deren Bedingungen, verzichtet Aristoteles zugleich auf den Rückgang zu den Denk- und Erkenntnisbedingungen. Und mit den Denkbedingungen werden die Transzendentalien ignoriert. — D i e von Aristoteles hier vorgebrachte Kritik an der platonisch-akademischen Prinzipienlehre läßt also keinen Raum mehr für die Transzendentalienlehre. Auch die in X I V 2 vorgetragene Kritik wird sich so zur Transzendentalienlehre verhalten.

366 Met. X I V schnitte Α.): B.): C.):

Vom Seienden und vom Einen 2 (bis 1090 a 2). — Wir gliedern dieses Kapitel in die Abio88 b 14—28 1088 b 28—35 1088 b 35 — 1090 a 2

Α.) In diesem Abschnitt versucht Aristoteles wiederum, die Lehre von der Konstitution zeitloser "Wesenheiten (αΐδια) (womit die Platoniker die Ideen — also zeitlose, weil geltende Gehalte — gemeint haben dürften) aus Elementen, deren Erklärung aus Bedingungen, zurückzuweisen: diesmal indem er Einiges aus seiner Theorie vom Werden unkritisch auf die logische Genesis, auf die Konstitution von Inhalten, überträgt. Das aus Elementen Konstituierte — ob es nun „immerseiend" ist oder geworden — enthält nach ihm bereits „Materie" (ΰλη) im Sinne des Vermögenden (δυνάμει δν). Dieses Vermögende wird von ihm unbedenklich dem Unmöglichen (αδύνατον) gegenübergestellt und mit dem Bloß-Möglichen (d. h. mit dem nur logisch Möglichen, mit dem nur Denkbaren) gleichgesetzt. Dieses BloßMögliche sei gleichgültig gegenüber Wirklichsein und Nicht-wirklich-Sein259, könne also auch nichtsein — ob es nun ein Wesen von eintägiger, mehrjähriger oder unbegrenzter Dauer sei. Als Bloß-Mögliches kann es — wiederum nach Aristoteles — nicht zeitlos sein, wenigstens dann nicht, wenn der Satz gelte, daß das, was die Möglichkeit habe, auch nichtzusein, nicht zeitlos sei. So folgert Aristoteles: keine zeitlose Substanz (ουσία άΐδιος) ist aus Elementen aufgebaut. — Damit glaubt Aristoteles die platonisch-akademische Lehre von der Konstitution von (gedanklichen) Inhalten ablehnen zu können. Er verbaut sich damit den Rückgang auf die Denk- und Erkenntnisbedingungen und ignoriert auf diese Weise auch den transzendentalen Bereich. Das konnte er hier nur tun, weil er Zusammensetzung, Aufbau aus Momenten, Rückgang auf Bedingungen, gleichsetzt mit „Materie-haben", „Vermögen-haben", „Vermögend-sein" und dieses wiederum mit „Bloßmöglich-sein". Die erste Gleichsetzung übersieht den Unterschied zwischen logischen Bedingungen und faktischen Bedingungen, die zweite den zwischen dem Vermögenden, das die Tendenz zur Erfüllung aller übrigen — für die Konkretion noch ausstehenden — Bedingungen hat, und dem Bloß-Möglichen, das nur als logisches Minimum, als das zunächst Bloß-Denkbare-überhaupt angesetzt ist. Mit diesen beiden (nicht zu rechtfertigenden) Gleichsetzungen muß auch die darauf beruhende Kritik an der akademischen Konstitutionslehre zurückgewiesen werden.

258

Das Vermögende dagegen steht nicht in solcher radikaler Indifferenz; denn es ist — durch diejenigen Bedingungen, die bereits erfüllt sind — auf das Wirklichsein hin wenigstens ausgerichtet und kann nicht mehr ins völlige Nichtsein zurückfallen.

Met. XIV ι — 2

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Β.) (io88 b 2 8 — 3 5 ) . Dieser kleine Abschnitt unterbricht den Gedankengang dieses Kapitels. Er dürfte viel eher — wie auch schon Christ (im Apparat seiner Ausgabe der „Metaphysik": in der 2. Auflage, Leipzig 1906, p. 302) meinte — zu Kapitel 1 gehören. Die Frage, wie dieser Abschnitt an diese Stelle geraten ist, wird sich wohl kaum beantworten lassen; sie ist hier audi nicht wichtig, weil der Inhalt dieses Abschnitts belanglos für unser Thema ist. C.) (1088 b 35 — 1090 a 2). Nun kritisiert Aristoteles den platonischakademischen Ansatz des zweiten Prinzips (τό μή δν oder τό πλήθος usw.). Zu diesem Ansatz seien die Platoniker gekommen auf Grund ihrer Ablehnung der Alleinheitslehre des Parmenides; aus dem Seienden (Einen usw.) und diesem zweiten Prinzip (τό μή δν, πλήθος usw.) soll nach ihrer Meinung die Mannigfaltigkeit des Seienden entspringen (1088 b 35 — 1089 a 6). Aristoteles fragt zunächst: Welche Form von Monismus soll damit vermieden werden: etwa einer, der behauptet, die Substanzen machten alles Seiende aus oder die Zustände seien es oder eine andere Gattung (a 7 — 1 1 ) ? In jedem dieser Fälle würde die kategoriale Mannigfaltigkeit (also das Nebeneinander von Substanz, Qualität, Quantität usw.) aufgehoben (es gäbe nur eine Gattung von Seiendem: entweder nur Substanzen oder nur Zustände) (a 1 1 — 1 2 ) . Es sei jedoch ungereimt und unmöglich, daß — wie nun die Platoniker meinten — eine einzige Natur (d. i. eben jenes zweite Prinzip neben dem Seienden, Einen) schon für die Konstitution der Mannigfaltigkeit der Kategorien ausreiche (a 1 2 — 1 5 ) . — Außerdem verweist Aristoteles darauf, daß der Terminus „das Nichtseiende" ebenso vieldeutig sei wie der „das Seiende"; er fragt, in welcher Bedeutung nun dieser Terminus genommen sei bei dem Ansatz des Nichtseienden als zweites Prinzip (a 15—19) 2 5 9 · Er unterscheidet folgende Bedeutungen von „nichtseiend": 1.) die jeder einzelnen Kategorie entsprechende Bedeutung; — 2.) die im Sinne von Irrtum (ψευδός) und 3.) die im Sinne von „erst dem Vermögen nach dies oder jenes seiend" (κατά δύναμιν). Lediglich das Nichtseiende in der zuletzt genannten Bedeutung (3) spielt — nach Aristoteles — eine Rolle beim Werden: es ist jeweils das, woraus etwas wird; so entsteht ζ. B. ein Mensch aus etwas, das zwar Nicht-Mensch, aber doch dem Vermögen nach Mensch ist, und das Weiße entsteht aus dem, was zwar nicht-weiß, aber doch dem Vermögen nach weiß ist (1089 a 2 6 — 3 1 ) . Entsprechendes gelte auch für das Entstehen von sonstigen Einheiten und Mannigfaltigkeiten. Man dürfe sich ja nicht be259

Aristoteles behauptet von einem anderen Denker — und damit kann nur Piaton gemeint sein (s. Soph. 237 a und 240) — , daß dieser das Nichtseiende, welches zusammen mit dem Seienden Grund ist für die Mannigfaltigkeit des Seienden, gleichgesetzt habe mit dem Irrtum (ψεϋδος). Dagegen hat Ross (II, 476) schon darauf hingewiesen, daß Piaton jenes Nichtseiende nicht mit dem Irrtum gleichgesetzt, sondern als eine Voraussetzung dafür betrachtet habe.

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gnügen mit der Untersuchung der Frage, wie Mannigfaltigkeiten von Substanzen entstehen, und sich die Frage nach dem Mannigfaltigkeitsgrund in Bezug auf Qualitäten und Quantitäten dagegen sparen (a 3 1 — 3 5 ) . Denn die sogenannte Unbestimmte Zweiheit oder das Groß-Kleine könne nicht Grund sein für das Entstehen von zwei weißen Gegenständen oder von vielen Farben oder Säften oder Figuren: sonst wären auch diese bloß Zahlen und Einheiten; die Platoniker hätten eigentlich einen analogen Grund (für jede Gattung) ansetzen müssen (a 35 — b 4). Stattdessen setzten sie bei ihrer Suche nach dem Gegensatz zum Seienden und Einen — dieses Gegensatzpö^r hielten sie für den Grund alles Seienden — einfach das Bezogene (τά πρός τι) und das Ungleiche (τό ανισον) an, obwohl diese Bestimmtheiten gar nicht der Gegensatz oder die Verneinung von jenen (d. i. vom Seienden und vom Einen) seien, sondern jede ein bestimmter Gehalt sei wie die Substanz- und die Qualitätskategorie auch (b 4—8). Sie redeten zwar von vielen, recht verschiedenen (Richtungs-)Gegensätzen (z.B.: viel-wenig, groß-klein, lang-kurz usw.), die den Platz des zweiten Prinzips einnehmen sollen, versäumten es aber, anzugeben, wie diese Mannigfaltigkeit aus der einen Kategorie „das Bezogene" entspringe (b 8—15). Man müsse also jedesmal das zugrundelegen, was bereits dem Vermögen nach das Betreffende sei (was das Vermögen habe, das Betreffende zu werden) (b 1 5 — 1 6 ) . Jener (d. i. wohl Piaton) habe gemeint, das Bezogene sei dem Vermögen nach Substanz. E r hätte stattdessen ebensogut das Qualitative nennen können; denn auch dieses sei weder dem Vermögen nach das Eine oder das Seiende oder die Verneinung davon, sondern bereits ein bestimmter Gehalt (1089 b 16—20). Überhaupt gehe es nicht um den Grund für das Mannigfaltige in einer und derselben Kategorie, sondern um den Grund für die Mannigfaltigkeit der Kategorien selbst (b 20—24). Die Mannigfaltigkeit innerhalb der verschiedenen Sekundärkategorien könnte man noch auf die Mannigfaltigkeit ihrer Substrate zurückführen, aber das Hauptproblem sei das der Mannigfaltigkeit der Substanzen (b 24—32). Wenn Substanzen und Quantitatives unterschieden werden müßten, würde von jener Prinzipientheorie nur der Grund für die Mannigfaltigkeit von Quantitativem angegeben, jedoch nicht der für die Entstehung und für die Mannigfaltigkeit von Substantiellem (b 32 — 1090 a 2). Die wichtigsten Punkte in der von Aristoteles hier vorgetragenen Kritik an der platonisch-akademischen Lehre vom zweiten Prinzip sind folgende: 1.) Die (vermeintliche) Alleinheitslehre des Parmenides, die doch vor allem die Mannigfaltigkeit der Kategorien ignoriert, ist nicht schon durch den Ansatz eines zweiten Prinzips — also mit einem Prinzipien/?^?· — zu überwinden, weil ein einziges Paar noch nicht die Mannigfaltigkeit der Kategorien erzeugen kann. 2.) Das von den Platonikem angesetzte Prinzipienpaar vermag höchstens eine rein quantitative Mannigfaltigkeit zu konstituieren, jedoch nicht ein

Met. XIV ι—2

3.)

zu

zu

zu

369

wohl unterschiedenes Mannigfaltiges innerhalb einer anderen Kategorie — am allerwenigsten in der wichtigsten Kategorie: in der Substanzkategorie. Was die Platoniker als zweites Glied ihres Urprinzipienpaares ansetzen, ist nicht der eigentliche Gegensatz des ersten Gliedes (d.i.: des Seienden, des Einen) und auch nicht so allgemein wie das erste Glied (d. h.: nicht kategorienjenseitig wie dieses), sondern bereits eine bestimmte Kategorie (nämlich die des Bezogenen). Zugleich soll diese eine Kategorie so Verschiedenes sein wie die verschiedenen Richtungsgegensätze (viel-wenig, groß-klein, lang-kurz usw.). Gegen diese Kritik läßt sich einiges einwenden: 1.) Dieser Vorwurf ist nur dann berechtigt, wenn die Platoniker das Urprinzipienpaar für das konstitutive Prinzip aller Inhalte, aller Kategorien gehalten haben, jedoch nicht, wenn sie es als ein bloß reflexives Prinzip betrachtet haben, das die Richtung für das gedankliche Durchlaufen der Kategorien angibt und verschiebbar ist, also einen Zusammenhang, eine Analogie zwischen den verschiedenen Kategorienebenen stiftet. Für letzteres gibt es immerhin einige Anhaltspunkte. 2.) Aristoteles hält sich hier an die Termini, die gewiß zunächst auf den Bereich des Quantitativen verweisen und ein Eingeschränktsein des Urprinzipienpaares auf diesen Bereich annehmen lassen. Es ist jedoch zu prüfen, ob diese Termini, die zunächst eine mathematische Bedeutung zu haben scheinen, nicht bloß ein pythagoreisches Erbe sind und inzwischen — bei den Piatonikern — für ein allgemeineres, eben ein kategorienjenseitiges Prinzipienpaar stehen, so daß sie auch für Substantielles gelten würden. 3.) Aristoteles wird der platonisch-akademischen Position nicht gerecht, wenn er das zweite Prinzip selbst bereits einer Kategorie, nämlich der Relationskategorie zuordnet. Die Platoniker sind allerdings daran nicht unschuldig, weil sie — wenigstens in den erhaltenen Texten — nirgends den Unterschied zwischen dem zweiten Prinzip selbst und den verschiedenen, durch es mitermöglichten Richtungsgegensätzen genau angeben. Der Gegensatzcharakter (im Bezug auf das Eine und das Seiende) braucht ebensowenig vermißt zu werden wie der Charakter der höchsten Allgemeinheit, der Kategorienjenseitigkeit. Für unsere Untersuchung wichtig ist wiederum die Tatsache, daß auch nach dieser Stelle das Eine und das Seiende nur in der Lehre der Gegner aus der Akademie eine wichtige unabdingbare Rolle zu spielen scheinen, daß sie nämlich demnach dort als das eine, positive Glied des Urprinzipienpaares betrachtet werden. Es ist kaum auszudenken, daß Aristoteles die Begriffe des Einen und des

37°

Vom Seienden und vom Einen

Seienden überhaupt in seine eigene Ontologie hereingeholt haben und mit ihnen noch etwas Sinnvolles verbinden konnte, nachdem er den ursprünglichen Ort dieser Begriffe, nämlich die platonischakademische Prinzipienlehre, abgelehnt hatte.

SCHLUSS ι.

Zusammenfassung

Die Transzendentalienlehre ist das wichtigste Stück der alten Ontologie. Ihr kommt große Bedeutung zu, wenn es gilt, die Beziehungen der alten Ontologie zur neueren, mit Kant beginnenden Transzendentalphilosophie und zu manch anderer Strömung des neuzeitlichen Denkens zu bestimmen. Voraussetzung für eine Bestimmung dieser Beziehungen ist die genaue Kenntnis der alten Transzendentalienlehre selbst. Obwohl der alten Ontologie — wie der übrigen alten Philosophie — die (relative) Beständigkeit einer Schultradition eigen war, ist ihre genaue Kenntnis nur möglich als Kenntnis ihrer Geschichte: als Kenntnis ihrer Entstehung im Rahmen der Philosophie Piatons und Aristoteles', als Kenntnis ihrer Überlieferung und eventuellen Umgestaltung im Neuplatonismus, sowie als Kenntnis ihrer Rezeptionen und Weiterbildungen in der Metaphysik der Hochscholastik und in der protestantischen Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts. Wer es nun unternimmt, die Hauptetappen der Geschichte der Transzendentalienlehre darzustellen und zu beurteilen, steht vor der Frage: Was kann als gesicherter Kern dieses Lehrstücks betrachtet werden? Erst die Beantwortung dieser Frage ermöglicht es ihm, das Dazugehörende aus dem überlieferten Gedankengut der verschiedenen Epochen bzw. Denker zu erkennen, herauszuarbeiten und zu prüfen. In unserer Untersuchung wurde diese Frage so entschieden: Auszugehen ist von denjenigen Lehrmeinungen, die den meisten Denkern, die sich zwischen dem 12. und dem 18. Jahrhundert damit befaßt haben, gemeinsam waren und die sich zugleich auch als in sich widerspruchsfrei und als verträglich mit dem sonst bereits Gesicherten erweisen. Es handelt sich hierbei vor allem um folgende Punkte: Das Seiende als Seiendes, auf das sich die übrigen Transzendentalien irgendwie beziehen, übersteigt alle Kategorien, jegliche kategoriale Differenzierung; mit ihm konvertibel (d.h. umfangsgleich) ist jedes der sogenannten einfachen Transzendentalien, nämlich das Eine, das Wahre und das Gute; als wahres ist das Seiende bezogen auf einen Verstand, als gutes auf einen Willen. Aus diesen Thesen folgt: Das Seiende kann, sofern es nur als Seiendes und in strenger Kategorienjenseitigkeit anzusetzen ist, noch nicht die geringste inhaltliche, d. h. unter Kategorien stehende Bestimmtheit sein bzw. haben (weshalb es auch nicht als Substrat der anderen Transzendentalien — manchmal „passiones entis" ge-

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Sdbluß

nannt — gedacht werden darf); jedes der anderen, einfachen Transzendentalien hat, sofern es allein mit dem Seienden konvertibel ist, keinen Gegensatz (in der deutschen Schulmetaphysik wird dies öfters betont); mit der Konvertibilität zwischen dem Einen, dem Wahren und dem Guten, die sich ergibt aus der Konvertibilität eines jeden dieser einfachen Transzendentalien mit dem Seienden, ist nicht vereinbar die immer wieder behauptete Rangordnung zwischen diesen einfachen Transzendentalien und die manchmal vorausgesetzte Abhängigkeit der übrigen Transzendentalien vom Seienden; das Seiende als Seiendes, das in seiner Kategorienjenseitigkeit nur noch das logische Minimum sein kann, kann als Wahres nicht schon auf den unendlichen Verstand Gottes bezogen sein (wie es im Mittelalter gerne angenommen wurde), sondern nur auf ein mögliches Erleben, auf ein Bewußtsein überhaupt, und als Gutes auch noch nicht auf den göttlichen Willen, sondern nur auf ein allgemeinstes, noch undifferenziertes Stellungnehmen, Interesse; das Eine, das mit dem kategorienjenseitigen Seienden konvertibel sein soll, kann noch nicht unter die Quantitätskategorie fallen. Die aufgezählten Grundsätze und Folgerungen bezüglich des Seienden und die sogenannten einfachen Transzendentalien sind auch bei der Untersuchung der einschlägigen Stellen des CA im Auge zu behalten. Während sich viele Denker der Hoch- und der Spätscholastik sowie des 17. Jahrhunderts in ihrer Transzendentalienlehre auf bestimmte Stellen der aristotelischen „Metaphysik" und der „Nikomachischen Ethik" berufen haben, werden in der neueren Forschung immer wieder Zweifel an der Berechtigung solcher Berufungen geäußert. Hier sind die Hauptergebnisse unserer diesbezüglichen Untersuchungen. Die Lehre von der transzendentalen Wahrheit glaubten die alten Transzendentalphilosophen in Met. I I 1 (933 b 23—31) und in den im CA (besonders in Met. IX 10 und in De Anima I I I 6) greifbaren Vorstellungen von einem irrtumsfreien, immer wahren Erkennen zu finden. Doch in Met. II 1 werden sehr wahrscheinlich nur die verschiedenen Seinsweisen auf die verschiedenen Geltungsweisen zurückgeführt. Es wird also das Seiende als bereits unter Kategorien stehend betrachtet. Als solches ist es aber nicht mehr konvertibel mit dem (transzendentalen) Wahren, sondern steht unter der Alternative, wahr oder falsch zu sein. Die Konvertibilität zwischen dem kategorienjenseitigen Seienden und dem transzendentalen Wahren ist dafür nur eine Voraussetzung. Doch ist der einschlägige Text in Met. I I 1 zu knapp, als daß er diese beiden Ebenen unterscheiden würde. Eine Hilfe für das Verständnis der Lehre von der transzendentalen Wahrheit des Seienden als solchen bietet der Text nicht. — Die irrtumsfreie Beziehung zwischen der Sinneswahrnehmung (αΐσθησις) und dem Wahrnehmbaren (αίσθητόν), wie auch die irrtumsfreie Beziehung zwischen dem Denken (νοεΐν, νοΐς) und dem Denkbaren (νοητόν), bzw. der Be-

Zusammenfassung

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stimmtheit (τί έστιν), haben mit der transzendentalen Wahrheit gewiß die Gegensatzlosigkeit gemeinsam, doch kann die Wahrnehmungsbeziehung wohl kaum mit der transzendentalen Wahrheit gleichgesetzt werden, weil der Bereich des Wahrnehmbaren — für Piaton und wohl auch für Aristoteles — kleiner war als der des Seienden; und auch die Denkbeziehung kann nur dann für die transzendentale Wahrheit eingesetzt werden, wenn das Denkbare nicht dem Wahrnehmbaren gegenübergestellt war, sondern als das schlechthin Allgemeine angesetzt war, so daß es auch noch jegliches Wahrnehmbare, ja jegliches Seiende (als Seiendes) umfaßte. Eine Stelle, die die Konvertibilität des Denkbaren mit dem Seienden als Seiendem unmißverständlich zum Ausdruck brächte, sucht man im CA vergebens. Doch kann die Analyse der in der zweiten Hälfte von Met. IX ι ο formulierten Position zur Konvertibilitätsthese vordringen. — Ein Grund dafür, daß über diese Konvertibilität und damit auch über die transzendentale Wahrheit im CA so wenig zu finden ist, liegt wahrscheinlich darin, daß der Position von Met. IX io zusammen mit der νοϋς-Lehre von De Anma I I I 6, der sie sehr nahekommt, in De Anima I I I 4 der Boden entzogen sein dürfte mit der These, daß der νους nur ein νους „in Möglichkeit" sei und von sich aus keine Inhalte habe. Vielleicht ging die Position von Met. IX 10 und De Anima I I I 6 insofern zu weit, als sie an Stelle des rein formalen Denkbaren überhaupt bereits eine Mannigfaltigkeit von Inhalten auf das schlichte, irrtumsfreie νοεΐν bezog; vielleicht war in diesem Punkte die Konzeption von einem νους ποιητικός, soweit sie in De Anima I I I 5 greifbar ist, besser: vielleicht handelte sie gerade von jener irrtumsfreien Wechselbeziehung zwischen dem Denken überhaupt und dem Denkbaren überhaupt, und zwar nur von dieser Wechselbeziehung — und von den transzendentalen Prinzipien (νοΰς αρχών), die das Denkbare zu einem Mit-sich-Identischen machen. Aber der Text von De Anima I I I 5 ist so knapp, daß die Auslegung des „νοΰς ποιητικός" als Beziehung auf das bloß Denkbare überhaupt — und damit als transzendentale Wahrheit — nicht zufriedenstellend begründet werden kann. — Ein anderer Ansatzpunkt für die Lehre von der transzendentalen Wahrheit ist in Met. IV 2 gegeben, sofern darin gesprochen wird über das „eine Wissen" um das Seiende, um Identität (mit sich selbst) und um Andersheit. Doch ist dieser Ansatzpunkt von den mittelalterlichen und späteren Vertretern der Transzendentalienlehre nicht beachtet und nicht ausgewertet worden. Ein Grund für dieses Vorbeigehen an Met. IV 2 darf wohl darin gesehen werden, daß sich im CA keine zusammenhängende und einigermaßen umfassende Darstellung der Lehre von der transzendentalen Wahrheit findet. Ähnlich spärlich und rätselhaft sind diejenigen Texte des CA, die sich auf die Lehre vom transzendentalen Guten beziehen lassen. Viele Vertreter der Transzendentalienlehre meinen, Aristoteles trage in EN I 6, d. h. im

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Sdiluß

Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den platonischen bzw. akademischen Auffassungen vom Guten, die These von der Konvertibilität des Guten mit dem Seienden als eigene These vor. Eine genauere Untersuchung dieser Partie der EN und der Parallelstücke in den MM und in der EE führt jedoch zu dem Ergebnis, daß a) an der vermeinten Stelle nur ein Auftreten des Guten in allen Kategorien angesetzt wird, jedoch nicht eine volle Umfangsgleichheit, Konvertibilität des Seienden und des Guten, und daß b) selbst dieser Ansatz des Guten zunächst und vornehmlich als Lehrmeinung der Gegenseite, also als eine These Piatons, bzw. seiner Nachfolger in der Akademie, vorgetragen wird. Dem Lehrgut der Akademie entstammt auch die in der EE kritisierte Meinung vom Verknüpftsein (oder vom Identischsein) des Guten und des Einen, die annehmen läßt, daß demnach dem Guten eine Funktion gegenüber allem Seienden zugedacht war. Die gleiche Funktion gegenüber allem Seienden mußte das Gute auch nach jener Auffassung vom Verhältnis des Guten zum Einen haben, die in Met. X I I 10 und X I V 4 ebenfalls als eine der Akademie entstammende Lehrmeinung referiert und zurückgewiesen wird. Die Konzeption vom Guten, die Aristoteles dieser akademischen entgegensetzt, ist höchstens noch eine vom Gutsein (im Sinne von Zweckbestimmtsein) der Naturgegenstände, jedoch nicht mehr von einem (nämlich dem transzendentalen) „Gutsein" eines jeglichen Denkgehalts als solchen, da Aristoteles den mathematischen Größen ein jegliches Gutsein abspricht. Mit der Einschränkung des Bereichs des Guten auf den Bereich der Naturgegenstände verläßt Aristoteles die transzendentale Ebene. Und audi die Beziehung, in der — für ihn — dieses Gutsein der Naturgegenstände besteht, ist nicht eine transzendentale, sondern eine metaphysische, weil sie diese Gegenstände auf das metaphysische Erste Gute bezieht, und zwar in ausschließlich positiver Weise — jedoch nicht auf ein bloßes, schlichtes Stellungnehmen, Interesse. Damit leitet Aristoteles bereits zur mittelalterlichen Auffassung über, die das Gutsein des Seienden als Übereinstimmung mit dem göttlichen (Schöpfer-)Willen auslegt, während die von Aristoteles zurückgewiesenen akademischen Ansätze eher auf die Lehre vom bloß transzendentalen Gutsein des Seienden als Seienden hingeführt hätten. Erst die für die Lehre vom transzendentalen Einen einschlägigen Partien des CA gehen etwas mehr auch auf das Verhältnis dieses Einen zum Seienden ein 1 . Da diese Stücke (besonders Met. IV, in etwa auch Met. X) mehr oder weniger deutlich erkennen lassen, daß sie der Niederschlag einer eigenen philosophischen Disziplin oder wenigstens des Kerns einer eigenen Dis1

An der erwähnten — oder zu erschließenden — Gleichrangigkeit des Einen und des Seienden ist manchmal überhaupt erst zu erkennen, daß das transzendentale Eine und das transzendentale Seiende gemeint sein könnten.

Zusammenfassung

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ziplin, ja sogar der erstrangigen, der „Ersten Philosophie" sind, erhebt sich die Frage: In welchem Verhältnis steht diese Erste Philosophie als Wissenschaft vom Seienden als Seiendem zur Theologie (etwa des X I I . Buches der „Metaphysik")? Im Gegensatz zu den verschiedenen Versuchen, dieses Verhältnis und das zwischen dem Seienden als Seiendem und dem Göttlichen unter Berufung auf Met. V I ι und X I 7 als ein Identitätsverhältnis zu bestimmen, kann gezeigt werden, daß V I 1 uneinheitlich und X I 7 von V I 1 abhängig ist und daß daher beide Texte nicht als Belege für jene Identitätsthese dienen können 2 . So erscheint es als gerechtfertigt, die Seinslehre von IV 1 — 2 ohne Rücksicht auf V I 1, X I 3 — 7 und X I I 6 — 1 0 (Theologie) zu untersuchen. (Auch die sogenannten „Substanzbücher" [VII und V I I I ] wurden bei der Interpretation des Buches I V nicht herangezogen, obwohl sie einige ähnlich lautende Passagen aufweisen). Es besteht daher — aber auch aus anderen Gründen — keine Notwendigkeit mehr, das in I V 2 behandelte „erste Seiende" als Substanz (im Sinne der Einzelsubstanz) oder gar als ranghöchste Einzelsubstanz (etwa als das Göttliche) auszulegen. Dieses Seiende ist dann nichts anderes mehr als das Seiende, sofern es nur als Seiendes gesetzt ist und noch nicht als ein unter einer Kategorie (auch nicht unter der Wirklichkeitskategorie) stehendes, sofern es nur mit dem Einen konvertibel ist, d.h. nur unter der Form der Identität steht; es ist also das bloße Etwas überhaupt, das Denkbare überhaupt. Auch die ihm „nachfolgenden" ούσίαι sind keine Einzelsubstanzen, sondern Kategorien: nämlich das Quantitative als solches und das Qualitative als solches. Zu entnehmen ist dies den diesen ούσίαι zugeordneten Einheitsweisen (Gleichheit und Ähnlichkeit). Es kann zwar der Einwand erhoben werden, daß im Text von Met. IV 2 auch der Plural „δντα rj δντα" vorkomme und daß daher die obige Auslegung vom „ersten Seienden" unhaltbar sei, doch kann nachgewiesen werden, daß der Gebrauch dieser Pluralform sich nicht rechtfertigen läßt. Eine Rechtfertigung dafür ist auch nicht in der — einigemale in IV 2 ausgesprochenen — Meinung zu erhalten, wonach alles Seiende sich ableite aus einem einzigen obersten Prinzipienpaar, bezeichnet mit den Termini „Sein-Nichtsein" oder „Eines-Mannigfaltiges", denn diese Meinung erweist sich uns als unhaltbar 3 . Der Plural von „Seiendes als Seiendes" läßt sich auch nicht mit dem Argument verteidigen, daß ohne ihn die Rede vom „einen Wissen" um das Seiende unverständlich bliebe; denn der Sinn dieser Rede kann (und sollte) sich darin erschöpfen, 2 3

Auch XI ι — 2 erweist sich als abhängig, nämlich von Buch III, ebenso XI 3 von IV 1—2 und XI 4—6 von IV 3—8. Die Tatsache, daß hier die Lehre vom Seienden als Seiendem in Verbindung gebracht wird mit derartigen, sonst Piaton oder seinen Anhängern zugeschriebenen Ableitungstheorien, läßt vermuten, daß auch die Lehre vom Seienden als Seiendem selbst platonischen bzw. akademischen Ursprungs ist.

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Schluß

zu betonen, daß das „Wissen" vom Seienden (als solchem) zugleich audi schon verbunden ist mit dem „Wissen" um das (transzendentale) Eine (d. i. die Identität selbst) und audi mit dem um das (transzendentale) Mannigfaltige (d. i. die Andersheit selbst) und daß es als dieses eine, identische „Wissen" das Seiende immer schon weiß als eines, d. i. als ein mit sich selbst identisches, als ein nicht von sich verschiedenes — mit anderen Worten also: daß das „Wissen" um das Seiende als solches unabtrennbar ist von der Funktion der (tranzendentalen) Prinzipien der Identität und der Andersheit. So verstanden ist die Rede vom „einen Wissen", von der Einheit, Identität des Wissens, und zwar des Wissens um das Seiende, um das Eine und um das Andere eine Formel für ein Stück akzeptabler Transzendentalienlehre, eine Formel für ein wichtiges Ergebnis der Reflexion auf die transzendentalen Bedingungen jeglichen Denkens, jeglichen Sichrichtens auf irgendeinen Gehalt. Mit dieser Auslegung der Rede vom „einen Wissen" schließt sich das in IV 3—4 über das unbedingte Prinzip Vorgetragene zusammen. Denn auch von diesem Prinzip läßt sich zeigen, daß es ein transzendentales Prinzip ist, weil es nichts anderes beinhaltet als dies, daß ein jeglicher Gehalt unter der transzendentalen Form der Identität steht. Nicht das formallogische Prinzip vom (zwischen Urteilen, wie ζ. B. „A ist B" und „A ist nicht B") zu vermeidenden Widerspruch, das ζ. B. in De Interpret. 6—8 behandelt wird, wird hier in Met. IV 3—4 formuliert und apagogisch bewiesen, sondern das Prinzip der Identität (freilich negativ gewendet und später so formuliert: Α ist nicht Nicht-A), das die Identität jedes Gehalts mit sich selbst garantiert, indem es das Verschiedensein von sich selbst ausschließt. Für diese Auslegung von Met. IV 3—4 spricht insofern audi der Inhalt von Met. IV 7, als er nicht vom ausgeschlossenen Dritten (neben Setzung oder Aufhebung eines beliebigen Prädikats in Bezug auf denselben Gegenstand) handelt, sondern vom ausgeschlossenen Mittleren (zwischen Positiv- und Negativbestimmtheit, also ζ. B. zwischen Α und non-A), sowie der Gebrauch von ,,άντίφασις" im Sinne von „Negativbestimmtheit" oder „Verhältnis zwischen Positiv- und Negativbestimmtheit" in einigen Textstücken des CA, die sehr wahrscheinlich in einem frühen Stadium des aristotelischen Denkens entstanden sind; ferner können viele Denker angeführt werden, die — ζ. T. sogar unter Berufung auf Met. IV — unter dem obersten Prinzip, obwohl oft „Widerspruchsprinzip" (bzw. „principium contradictionis") genannt, doch nur das Identitätsprinzip (freilich oft negativ formuliert) verstehen. Halten wir nach dem Studium von Met. IV Ausschau nach weiteren Texten des CA, die als Niederschläge von Reflexionen auf die Bedingungen des Denkbaren überhaupt, des Seienden als Seienden, betrachtet werden könnten, sofern sie also ebenfalls wenigstens von der unabdingbaren Kon-

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vertibilität zwischen dem Seienden als solchem und dem Einen (Mit-sichIdentischen) handeln (wenn schon nicht von der Konvertibilität auch mit dem Wahren und dem Guten), so werden wir feststellen können, daß an den anderen irgendwie einschlägigen Stellen entweder die Wichtigkeit dieser Gedanken nicht zum Ausdrude gebracht wird oder daß ein Hinweis auf sie vermißt wird oder daß diese Thesen gar als ein zu kritisierendes und zu korrigierendes Stüde der platonisch-akademischen Prinzipienlehre behandelt werden. So wird die These von der Konvertibilität zwischen dem Einen und dem Seienden in der „Topik" zwar noch als bekannt vorausgesetzt und auch noch akzeptiert, aber es wird kein Wort bezüglich ihrer Bedeutung für die Logik verloren. — In „Physik" I hinterläßt die Auseinandersetzung des Aristoteles mit der Eleatik den Eindruck, daß Aristoteles in der Zeit der Niederschrift dieses Textes die These von der Konvertibilität des Seienden mit dem Einen nicht gekannt oder wenigstens nicht akzeptiert hat, sonst hätte er die Eleatenthese mit dieser Konvertibilitätsthese entweder zu interpretieren oder zu korrigieren versucht. — Auch hinter den einschlägigen Stellen aus den übrigen Büchern der „Metaphysik" steht meistens eine reservierte, wenn nicht gar ablehnende Haltung zur Seinslehre. In Kapitel 2 des Buches I wird die σοφία zwar so charakterisiert, daß sie auch als Bedingung für das Wissen von allem und jedem Seienden noch verstanden werden kann, in Kapitel 6 findet man dann aber einige Punkte, die mit dem Inhalt von IV 2 sehr eng zusammenhängen, unter dem, was als (Prinzipien-)Lehre Piatons referiert wird; so ζ. B. die These, daß das Eine ein Prinzip für alles Seiende sei (woraus sich bereits die Konvertibilitätsthese ergibt); in Kapitel 9 schließlich wird — im Zuge der Kritik an der Prinzipien- und Ideenlehre Piatons — der Gedanke des Wissens von den Prinzipien alles Seienden abgelehnt: damit ist doch der das Buch I V beherrschende Gedanke des Wissens um das Seiende als Seiendes abgelehnt! — In Buch III, dem Aporienbuch, werden fast durchweg platonische bzw. akademische Themen diskutiert; dabei wird in mehreren Fällen eine Entscheidung gegen die platonische Position (mindestens) vorbereitet. Dies gilt vor allem für die 11. Aporie bezüglich des οΰσί,α-Charakters des Seienden und des Einen. Die Frage, ob das Seiende und das Eine (selbständige) Substanzen seien, konnte Aristoteles nur stellen und diskutieren, wenn nach seinem eigenen Konzept das Seiende (als solches) und das Eine keine Prinzipienfunktion gegenüber allem Seienden mehr hatten, wenn sie nicht den Rang von (transzendentalen) Bedingungen für alles Denkbare mehr hatten; denn dann konnte Aristoteles der Gefahr erliegen, die platonische Lehre vom Seienden und Einen im Sinne der obigen Frage mißzuverstehen. — Im ούσία-Kapitel des Buches V lassen sich immerhin Spuren vom Begriff des transzendentalen Einen entdecken, sofern darin das Eine als Prinzip, als „erstes Maß" und als Erkennt-

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nisprinzip im Bereich jeder Gattung bestimmt ist; es sind allerdings nur Andeutungen: sie lassen die Wichtigkeit dieses Begriffes kaum ahnen und unterscheiden das transzendentale Eine nicht deutlich genug von der unter der Quantitätskategorie stehenden Eins. — In den Büchern VII und VIII, den sogenannten „Substanzbüchern", werden die Begriffe des Einen und des Seienden ein paarmal erwähnt; doch ist es mit dem Vorrang, der dort (besonders in V I I i) der Einzelsubstanz vor allem anderen Seienden zugeschrieben wird, unvereinbar, audi noch eine Prinzipienfunktion des kategorienjenseitigen Seienden und des Einen gegenüber allem (kategorial bestimmten) Seienden in Ansatz zu bringen. Aristoteles vermeidet (in diesen Büchern) entweder die direkte Gegenüberstellung der zwei mit Prinzipienanspruch auftretenden Größen (Substanz einerseits, Transzendentalien andererseits) (so in V I I i) — oder er betrachtet das Seiende und das Eine als bloßes Allgemeines (dem er kaum eine Prinzipienfunktion gegenüber dem Darunterfallenden einräumen dürfte). Aber selbst noch diese letztere Auffassung läßt sich kaum vereinbaren mit der Meinung vom Vorrang der Einzelsubstanz; außerdem vermag sie nicht, die unabdingbare Funktion des Seienden und des Einen gegenüber allem Seienden auch nur anzudeuten, vielmehr erweckt sie den Eindruck, als rede sie vom Seienden und vom Einen nur noch deswegen, weil diese Begriffe bei anderen Denkern eine große Rolle spielen. — Das Buch X, das wenigstens in seiner Thematik von einer platonischen oder einer später in der Akademie entstandenen Fassung der Prinzipienlehre abhängig zu sein scheint, ist in seinem Verhältnis zur Lehre von der Transzendentalität des Seienden und des Einen nicht einheitlich. Neben Partien, die die quantitative Auffassung des Einen nahelegen (ζ. B. in Kapitel i , wo das Eine als erstes Maß vor allem für die Gattung des Quantitativen charakterisiert wird und in Kapitel 6, wo das quantitative Verhältnis zwischen Eins und Zahl in den Mittelpunkt gerückt wird), stehen andere, die annehmen lassen, daß der Autor das transzendentale Eine im Auge habe: so wenn er es als Maß für jede Gattung, als Maß für alles und als Erkenntnisprinzip bezeichnet (siehe besonders Kapitel ι und 2) und wenn er die Konvertibilität mit dem Seienden (Kapitel 2) beweist. Nicht zu vergessen ist freilich auch jene Passage in Kapitel 2, wo dem Seienden und dem Einen der ουσία-Rang abgesprochen und nur die Seinsweise von bloßen allgemeinen Prädikaten zugestanden wird. Gewiß können das Seiende und das Eine keine Einzelsubstanzen sein; aber das wird auch wohl kaum die Meinung der Platoniker gewesen sein, als sie das Seiende und das Eine als οχισίαι bezeichneten, sondern viel eher die, daß es sich hierbei um Prinzipien für alles konkrete, bestimmte Seiende handle. Über eine solche Prinzipienfunktion für alles Seiende ist aus jener Passage nichts mehr zu entnehmen: es entsteht der Eindruck, daß über das Seiende und das Eine nur deswegen gesprochen wird, weil andere Denker sehr viel darüber sprechen. Wenn

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Aristoteles selbst jene Passage verfaßt und dort eingefügt haben sollte, kann er nicht mehr als der Urheber der Transzendentalienlehre betrachtet werden, sondern höchstens als ein Kritiker derselben. — Buch XII enthält im Kapitel 4 nur eine allzu knappe Erwähnung des Seienden und des Einen, und zwar bei der Diskussion der Frage, ob die Gründe (bzw. Elemente) für alle Gattungen des Seienden dieselben sind. Diese Erwähnung ist schwer zu interpretieren; und die Diskussion führt nicht zu einem ausdrücklichen Ansatz kategorienjenseitiger Bedingungen. Die theologischen Kapitel (6—9) bringen keinen Hinweis auf die Transzendentalienlehre. In Kapitel 10 kritisiert Aristoteles — zur Rechtfertigung seiner eigenen Auffassung vom Ersten Guten — die platonische bzw. akademische Prinzipienlehre. — Diese Kritik findet sich ausführlicher formuliert in Buch XIV. Besonders in den Kapiteln 1 und 2 weist Aristoteles die platonische bzw. akademische Lehrmeinung vom Ursprung alles Seienden aus Gegensatzpaaren und vor allem den Ansatz eines ersten Gegensatzpaares „Eines-Mannigfaltiges" zurück. — Vielleicht waren diese Konzeptionen der Gefahr erlegen, das Eine und das Mannigfaltige als oberste Gattungen oder nur als Prinzipien des Quantitativen anzusetzen. Dann hätte Aristoteles diesen Konzeptionen aber den Gedanken von echten transzendentalen Bedingungen, d. i. von nur formalen, die Kategorien übersteigenden Bedingungen für alles Seiende (auch für die Kategorien) gegenübergestellt, wenn er einen solchen Gedanken gekannt hätte. Aristoteles operiert stattdessen mit den Vorstellungen, die Substanzen hätten einen Vorrang vor dem anderen Seienden, seien also insofern Gründe für das andere Seiende und als Gründe für die Substanzen könnten selbst wieder nur Substanzen angesetzt werden — nicht aber Zustände und Relatives, wie es (nach seiner Interpretation) in den platonischen und akademischen Konzeptionen geschehe. Diese Entgegnung läßt nicht mehr die Annahme zu, Aristoteles habe bei der Abfassung dieses Buches gewußt, daß Seiendes sich nur im Rückgang auf Erkenntnisbedingungen, d. i. Kategorien, m d auf Denkbedingungen, die die Kategorien übersteigen, begründen lasse. Die Prinzipien, die die Platoniker untersuchen, sind mindestens Erkenntnisprinzipien; da und dort (ζ. B. in Piatons Sophistes) wird sogar versucht, noch allgemeinere (also: kategorienjenseitige) Bedingungen davon zu unterscheiden. Daher können Piaton und seine Nachfolger in der Akademie mit mehr Recht als die Väter der Transzendentalienlehre betrachtet werden als Aristoteles; die Äußerungen des Aristoteles über das Seiende und das Eine haben die platonische Prinzipienlehre zur Voraussetzung.

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Scfcluß

2. W i c h t i g e T h e m e n f ü r d i e F o r t s e t z u n g der U n t e r s u c h u n g Da nun das Studium der mit der Transzendentalienlehre zusammenhängenden Partien des CA zu dem Ergebnis geführt hat, daß die unterschiedliche Einstellung dieser Partien zur platonischen bzw. akademischen Prinzipien- und Kategorienlehre zugleich auch eine unterschiedliche, ja, z.T. sogar eine widersprüchliche Einstellung zur Transzendentalienlehre bedeutet, ist es klar, daß die Darstellung und Kritik der weiteren Geschichte dieser Lehre nicht mehr darauf verzichten kann, auch die Folgen jener Diskrepanz der einschlägigen Stellen des CA zu studieren. Vor allem in den Positionen derjenigen Denker, die bewußt wieder an Aristoteles anknüpfen wollten, wird sich so manche Unstimmigkeit eher erklären lassen. Die vorgelegte Untersuchung dürfte auch einige Voraussetzungen geschaffen haben für die Beantwortung zweier Fragen, die sich die Geschichtsschreiber der Transzendentalienlehre in Zukunft werden stellen müssen: a) Wie sind die neuplatonischen Verabsolutierungen des Guten, sowie die des Seienden und des Wahren mit der Transzendentalienlehre vereinbar? b) Trifft es zu, daß die (mittelalterliche) Transzendentalienlehre beigetragen hat zu der für die Neuzeit charakteristischen Verbindung von Wissenschaft und Technik, zur Entwicklung des „Willens zur Macht" über die Natur? Zu a) Gewiß sollten auch die — ζ. T. schon von Merlan aufgeworfenen — Fragen nach dem Verhältnis der aristotelischen Metaphysik zur neuplatonischen weiter diskutiert werden, wie ζ. B.: Hat die (indirekte) Gleichsetzung des Seienden mit dem Göttlichen in Met. VI ι und X I 7 den Neuplatonismus vorbereitet? Hat die Ersetzung des platonischen Begriffs des Guten durch den des metaphysischen, göttlichen Guten in Met. X I I und XIV die neuplatonische Verabsolutierung des Guten angebahnt? Ist übersehen worden, daß nach Met. IV 2 das Eine bezogen ist auf ein bestimmtes Wissen, und ist so die neuplatonische Verabsolutierung des Einen eingeleitet worden? Doch zu welchen Ergebnissen diese Diskussion auch immer führen mag — für die Historie der Transzendentalienlehre ist wichtiger die Frage nach der Verträglichkeit der bei Plotin u. a. nun einmal nachweisbaren Verabsolutierungen des Einen, des Guten, des Seienden und des Wahren mit der Transzendentalienlehre. In Plotins Schriften ist die Setzung des Einen und des Guten — d. h. zugleich auch: des Grundes von allem — in einem Losgelöstsein von allem, in einer Jenseitigkeit gegenüber allem Seienden (ζ. Β. Enn. V 4, 2.39 ff.) und allem Erkennbaren (z.B. VI 9, 4.1 ff.), ja, zu allem geistigen Leben (ζ. B. I I I 8, 1 1 ; V 6, 2.18 ff.) nicht zu übersehen. Können dieses Eine und

Themen für die Fortsetzung

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dieses Gute noch echte Transzendentalien sein? Das Seiende dagegen und die Identität zählt Plotin zu den Kategorien der intelligiblen Sphäre, die durch die Korrelation Intellekt-Intelligibles (νοϋς-νοητόν) konstituiert sein soll (VI 2). Das Seiende steht also nach Plotin noch in einer Wechselbeziehung mit dem Denken; fraglich bleibt dann nur noch, ob Plotin dieses Seiende als schlechthin universal ansetzt, so daß es auch noch das Sinnliche umgreift. Wenn ja: Ist dann etwa dieser intelligible Bereich der transzendentale? Nun, andere Denker gehen noch weiter als Plotin und versetzen auch noch das Seiende und das Wahre in das Jenseits, in das Plotin schon das Eine und das Gute gestellt hatte. Diesen W e g zu einer gewissen „Erweiterung" der verabsolutierten Sphäre beschreiten vor allem zwei christliche Denker: Marius Victorinus und Augustinus 4 . Marius Victorinus unterscheidet das (erste) Sein (esse, τό είναι) als Gott, als den Grund alles Seienden (fons et origo omnium quae sunt, id est των όντων πάντων) vom Seienden und rückt es in die jenseitige Sphäre (ζ. B. in: Contra Arium, I I 4 und I V 19). Angesichts dieser Unterscheidung ist die Frage zu stellen (die Marius Victorinus allerdings nicht stellt): Auf welche Seite gehört dann das Seiende, sofern es nur als Seiendes gesetzt ist? Auf die des Seins, des Grundes? Wenn ja, dann könnte es nicht mehr wahr im transzendentalen Sinne sein, weil es nicht mehr bezogen wäre auf einen transzendentalen νους, sondern höchstens in geheimnisvoller Weise auf einen göttlichen, jenseitigen; jeglichem menschlichen Bewußtsein bliebe es unzugänglich. Entsprechendes gälte für die Beziehung des transzendentalen Gutseins. Ins Jenseits kann also das (transzendentale) Seiende als solches nicht gehoben werden. Auf der Seite der οντά kann es aber auch nicht gesucht werden, weil es dann abhängig wäre vom jenseitigen Sein und insofern unter der Kausalitätskategorie stünde: also nicht mehr kategorienjenseitig wäre. Das transzendentale Seiende kann (als transzendentales) nicht Erzeugtes (bzw. „Gezeugtes") oder Geschaffenes oder Gemachtes sein, sondern es kann nur einfachhin das (gleichrangige) Korrelat bloßen Bewußtseins überhaupt und des schlichtesten Interesses, Stellungnehmens sein. Es ist auch nicht vorstellbar, wie das reine, erste Sein in seinem Unbezogenein, Absolutsein, in seiner Jenseitigkeit, der Grund sein können soll für die Mannigfaltigkeit des diesseitigen Seienden. Nicht weniger problematisch ist die Verabsolutierung des Wahren, die vor allem von Augustinus vorgenommen wird, indem er die Sphäre des Intelligiblen so radikal in die Transzendenz, in das Jenseits erhebt, daß aus 4

Marius Victorinus und Augustinus tun dies im Rahmen ihrer Spekulation über die göttliche Trinität, indem sie die Entscheidung des Konzils von Nicäa bezüglich der Gleichwesentlichkeit (όμοουσί,α) der zweiten Hypostase, also des νοΰς, mit der ersten Hypostase, dem Urgrund und „Vater", akzeptieren und aus ihrem neuplatonischen Erbe den sog. Subordinationismus zu eliminieren versuchen.

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dem Intelligiblen geradezu das Unbegreifliche wird 5 . Dieses Intelligible ist nur noch auf den göttlichen Intellekt bezogen, nicht mehr auf den transzendentalen; in seiner Einfachheit, die die Negation jeglichen Unterschiedenseins bedeutet, steht es nicht mehr unter dem transzendentalen Prinzip der Andersheit. Was die transzendentale Wahrheitsbeziehung für das menschliche Erkennen leistet, wird von Augustinus einer göttlichen Einstrahlung zugeschrieben. Und während das menschliche Erkennen das von Gott geschaffene Seiende nur hinnehmen kann, schafft — nach Augustinus — das göttliche Erkennen gerade als Erkennen dieses Seiende sogar6. Das Seiende gründet demnach ausschließlich im schöpferischen Verstand Gottes; jegliche Beziehung auf einen menschlichen Verstand und Willen scheint für dieses Seiende völlig irrelevant zu sein. Kann es so überhaupt noch Korrelat in den transzendentalen Beziehungen sein? Besonders die von da an bis ins 18. Jahrhundert so oft erwähnte (und meistens auch akzeptierte) Vorstellung von einem schöpferischen Verstand Gottes muß auf ihre Vereinbarkeit mit der Lehre von der transzendentalen Wahrheit hin überprüft werden; denn das Verhältnis zwischen Verstand und Seiendem ist hier kein Wechselverhältnis mehr, sondern ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Inwiefern kann hier überhaupt noch von einem „Erkennen" gesprochen werden? In der Geschichte der Transzendentalienlehre wurde zwar oft versucht, gerade diese Abhängigkeit des (geschaffenen) Seienden vom schöpferischen Verstand Gottes, die Übereinstimmung mit diesem Verstand, als „transzendentale" (oder: „ontologische") Wahrheit des Seienden auszugeben, aber dies kann aus verschiedenen, ζ. T. bereits oben angeführten Gründen nicht akzeptiert werden. Diesen Versuchen, an die Stelle der transzendentalen Beziehungen metaphysische Beziehungen, Beziehungen zum Transzendenten zu setzen, hat der Historiker (der Transzendentalienlehre) jene Ansätze zu einer echten Transzendentalienlehre gegenüberzustellen, die sich bei den nämlichen Denkern finden lassen, um so zu zeigen, daß selbst diese Denker sich nicht mit ihrer Metaphysik begnügt haben und daß auch von ihnen — trotz ihrer oft anders lautenden Selbstinterpretation — Denkbedingungen anerkannt worden sind, für die sie keinen metaphysischen Ursprung angeben, angeben konnten. Zu b) Die Meinung, die mittelalterliche Transzendentalienlehre sei mitschuld an der die Neuzeit bestimmenden Verbindung von Wissenschaft, Technik und Industrie, am neuzeitlichen „Willen zur Macht" wird α) (in5

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Ausführlicheres über die Radikalisierung des Transzendenzgedankens durdi Plotdn, Marius Victorinus und Augustinus findet sich bei: Gerhard Huber, Das Sein und das Absolute. Studien zur Geschichte der ontologisdien Problematik in der spätantiken Philosophie, Basel 1955 (Studia Philosophica, Suppl. 6). Vgl. z.B. De Trinitate XV, 13: „ . . . Universas creaturas et spirituales et corporales non quia sunt ideo novit Deus, sed ideo sunt quia novit . .

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direkt wenigstens) dort vertreten, wo dem von G. Vico formulierten und mit der Transzendentalienlehre verknüpften Grundsatz „verum et factum convertuntur" nachgesagt wird, er sei „immer mehr in einer Weise betont und zur Geltung gebracht" worden, „die den Menschen als homo faber zum Herrn der Natur und damit zugleich der Geschichte macht"7; ß) oben genannte Meinung wird auch vertreten in Bezug auf den Grundsatz „Omne ens est bonum". Zu α) Vico behandelt den Grundsatz von der Konvertibilität des Wahren und des Gemachten besonders in seiner Schrift „De antiquissima Italorum sapientia", und zwar in Buch 1 , Kapitel 1. Er beruft sich dabei auf die alten Weisen Italiens, stellt aber audi die Verbindung mit der Transzendentalienlehre der Scholastik her, indem er auf den in der Transzendentalienlehre so wichtigen Ausdruck „convertuntur" zurückgreift8 und seinen Grundsatz mit der scholastischen These von der Konvertibilität zwischen dem Wahren und dem Guten gleichsetzt9. Er bezieht diesen Grundsatz (im Sinne der augustinisdb-thomistischen Tradition) zunächst auf die göttliche Erkenntnis, und zwar zuerst auf die im gezeugten inner-göttlidien Wort und dann auf die im Geschaffenen (§ 1). Von Gott geschaffen sei die die Naturgegenstände umfassende Welt; daher sei diese Welt nur für Gott voll erkennbar; das menschliche Wissen verfüge in entsprechender Wese nur über die von ihm selbst konstruierten mathematischen Gegenstände (§ 2). Löwith schreibt, der Grundsatz Vicos finde sich (dem Inhalt nach) schon bei Francis Bacon, aber auch bei Thomas Hobbes und Descartes und werde von diesen Denkern auch auf die Naturwissenschaften bezogen, ja, von Hobbes sogar auf die Philosophie und die Politik (a. a. O. S. 19—25). Auch Kant 10 , Hegel und Marx werden von Löwith in diesem Zusammenhang genannt (S. 25—32). Alle diese Denker sollen im Sinne des Grundsatzes von der Konvertibilität des Wahren und des Selbstgemachten gewirkt haben und so ihren Teil beigetragen haben zur neuzeitlichen Einschätzung des 7

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Zitiert aus: K. Löwith, Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen. Heidelberg 1968 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie d. Wiss., Phil.-Hist. Kl., Jg. 1968, 1. Abh.), S. 19. Löwith erwähnt allerdings in dieser Abhandlung die alte Transzendentalienlehre selbst nicht. Im Rahmen einer Untersuchung zur Geschichte der Transzendentalienlehre behandelt den von Vico formulierten Grundsatz jedoch V. Riifner in seinem Aufsatz „Ens et verum convertuntur — factum et verum convertuntur", in: Phil. Jahrb., Bd. 60 (1950), S. 406—437. Buch 1, Kap. 1, § 1: „Latinis ,verum' et factum' reciprocantur, seu, ut Scholarum vulgus loquitur, convertuntur". § 2: „Et ut uno verbo absolvam, ita verum cum bono convertitur, si quod verum cognoscitur, suum esse a mente habeat quoque a qua cognoscitur; . . Löwith verweist auf die einigemal in Kants Schriften stehende These, daß die Vernunft nur das einsehe, was sie selbst nach ihrem Entwurf hervorbringe.

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Schluß

Leistungs- und Herrschaftswissens und insofern auch zum neuzeitlichen Verhältnis zwischen der Naturwissenschaft und der technisch-maschinellen Form der Güterproduktion, das zu einer erfolgreichen, aber auch gefährlichen Herrschaft über die Natur geführt habe. Ist diese neuzeitliche Entwicklung wirklich eine Folge der mittelalterlichen Transzendentalienlehre, genauer: eine Folge der These von der Konvertibilität des Wahren und des Guten, wie es nach Vicos Gleichsetzung seines Grundsatzes mit dieser Konvertibilitätsthese angenommen werden könnte? Dieser Frage kann der Historiker der Transzendentalienlehre nicht mehr ausweichen. Viele Einzelfragen wird er sich stellen müssen, wie: Welche Transzendentalienauffassungen sind Bacon, Hobbes und Descartes bekannt geworden? Haben solche Auffassungen diese Denker auch wirklich beeinflußt? Sind sie bestimmend gewesen für die Lehre von der Umkehrbarkeit des Wahren und des Selbstgemachten? Inwiefern ist zu dieser Denkergruppe auch Vico zu zählen? Ist Vico mit der Meinung, die sich in jenem Grundsatz niederschlägt, abhängig von einer bestimmten scholastischen Version der Transzendentalienlehre? Oder stellt erst er die Verbindung zu dieser Lehre her, indem er das Wort „convertuntur" gebraucht und indem er seinen Grundsatz mit der scholastischen These von der Konvertibilität des Wahren und des Guten gleichsetzt? Wird diese Verbindung von Vico zu Recht hergestellt? Hier sollen nur in Bezug auf die zuletzt gestellte Frage einige Zweifel geäußert werden: Wahr (d.i.: rückführbar oder zurückgeführt auf seine Elemente, Gründe) ist nach Vico alles das (aber auch nur das), was nur aus vom Verstand selbst gesetzten Gründen, Elementen aufgebaut, konstruiert ist, was nur durch (mathematische) Operationen erzeugt ist. Nun ist aber schon dies fraglich, ob die Meinung vom Nur-erzeugt-Sein wenigstens für das Mathematische gilt; noch fragwürdiger ist die Ausdehnung auch auf die Gegenstände der anderen Wissenschaften; ausgeschlossen ist es jedenfalls, daß dieser Wahrheitsbegriff gar für das Seiende als solches gelten könnte, daß das Seiende als solches konvertibel sein könnte mit dem so definierten, eingeschränkten Wahren. Ist aber dann, wenn die Konvertibilität mit dem Seienden ausscheidet, noch die mit dem Guten möglich? Denn nach scholastischer Auffassung ist das Wahre mit dem Guten deswegen konvertibel, weil jedes von ihnen mit dem Seienden konvertibel ist. Dieser Auffassung scheint Vico nicht zu sein. Er definiert stattdessen das Gute als das, was sein Sein dem es erkennenden Verstand verdankt ( . . . suum esse a mente habeat quoque a qua cognoscitur...) und glaubt, so die Konvertibilität des Wahren und des Guten behaupten zu können. Aber dabei wird auch das Gute — ähnlich wie vorher schon das Wahre — lediglich als ein Produziertes, nur als ein vom Verstand Abhängiges angesetzt: also nicht als das, was interessiert und zu dem Stellung genommen wird, nicht als ein {gleichrangiges) Kor-

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relat des Interesses bzw. des Ichs, sondern nur als ein vom Verstand abhängiges Relatum. Als solches kann es nicht mehr das transzendentale, mit dem Seienden (als Seiendem) konvertible Gute sein. Kann dieser Ansatz des Guten akzeptiert werden? Wohl kaum! Kann er — ebenso wie Vicos Begriff des Wahren — zur richtigen Transzendentalienlehre gehören oder ihr entsprungen sein? Das ist ausgeschlossen. Nicht auszuschließen ist jedoch eine Abhängigkeit von der augustinisdi-thomistischen Tradition: nämlich von deren Vorstellung eines schöpferischen Verstandes Gottes und einer menschlichen Entsprechung dazu. Wir verweisen hier nur auf einige Stellen bei Thomas ν. Α., in welchen sich folgende Meinung von der Wahrheit ausgesprochen findet: An sich (per se) ist eine Sache auf denjenigen Intellekt bezogen, von dem sie in ihrem Sein abhängt, nur vermittelterweise (per accidens) ist sie bezogen auf einen Intellekt, wenn sie von diesem nicht abhängt, wenn sie für diesen (nur) erkennbar ist. So ist ζ. B. ein Haus an sich bezogen auf den Intellekt des Erbauers, doch nur vermittelterweise auf einen Intellekt, von dem es nicht abhängt. Da aber das Urteil über eine Sache sich nicht nach dem richtet, was dieser Sache nur vermittelterweise zukommt, sondern nach dem, was ihr an sich zukommt, wird eine jede Sache als wahr im absoluten Sinne bezeichnet, sofern sie bezogen ist auf denjenigen Intellekt, von dem sie abhängt. Daher werden die Artefakte als wahr bezeichnet, sofern sie von unserem Verstand abhängen, und die Naturgegenstände, sofern sie übereinstimmen mit den Ideen im Geiste Gottes 1 1 . Wahr schlechthin, an sich, wesenhaft bezogen auf einen Verstand ist demnach das von diesem (insofern praktischen) Verstand Abhängige, also das durch ihn Gemachte, während das Seiende als Erkennbares nur vermittelterweise auf einen Verstand bezogen und gleichgültig gegen eine Erkenntnis sein soll. Gerade im Hinblick auf die Wahrheit wird hier dem praktischen Verstand der Vorzug gegeben vor dem theoretischen, und zwar nicht nur ein gradueller Vorzug, sondern sogar ein we·

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S. Th. I, q 16, a 1, c: „ Res autem intellects ad intellectum aliquem potest habere ordinem vel per se, vel per accidens. Per se quidem habet ordinem ad intellectum, a quo dependet secundum suum esse: per accidens autem ad intellectum, a quo cognoscibilis est Unde unaquaeque res dicitur vera absolute secundum ordinem ad intellectum, a quo dependet " — Ungefähr das gleiche (bloß mit anderen Termini) sagt Thomas in De Verit., q 1, a 2, c: Das Bezogensein der Dinge auf den praktischen Intellekt bedeutet ein Gemessenwerden der Dinge durch den Intellekt, das Bezogensein auf den spekulativen Intellekt ein Gemessenwerden des Intellekts durch die Dinge; der göttliche Verstand gibt den Naturgegenständen ihr Maß, während unser Verstand nur den Artefakten ihr Maß gibt, von den Naturgegenständen dagegen selbst gemessen wird; daher hat die Hinordnung der Dinge auf den göttlichen Verstand den Vorrang vor der auf den menschlichen: auch wenn der menschliche Verstand nicht wäre, würden die Dinge immer noch als wahr bezeichnet auf Grund ihrer Hinordnung auf den göttlichen.

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sentlicher. Ist dies möglich? Betrachten wir zunächst das über den sogenannten menschlichen Verstand Gesagte: Das Wahrsein im absoluten Sinne wird gleichgesetzt mit dem Gemachtsein, Erfundensein durch den praktischen Verstand. Aus dem angeführten Beispiel ist zu entnehmen, daß dabei das Erfundensein bloß der Formen für Artefakte gemeint sein kann. Ist das Schaffen solcher Formen unabhängig von der Erkenntnis der Verhältnisse, zu deren Bewältigung die Werkzeuge und dergleichen entworfen werden, und unabhängig von der Erkenntnis des für das betreffende Artefakt (ζ. B. Werkzeug) erforderlichen Materials, das doch immer schon mindestens ein Naturstück ist und als Naturstück — nach der Meinung des Aquinaten — in der Erkennnis hingenommen werden muß? Wenn diese Frage mit „nein" beantwortet werden muß, können das Schaffen und das Erkennen im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Wahrheit einander nicht so gegenübergestellt werden, wie es hier bei Thomas geschieht. Das Entwerfen der Formen der Artefakte läßt sich nicht isolieren von jeglicher Theorie; nicht bloß die erfundenen, geschaffenen Formen sind abhängig (vom praktischen Verstand), sondern auch der sie schaffende (praktische) Verstand ist bei diesem Schaffen abhängig: nämlich von Erkenntnissen. Der Intellekt könnte nicht praktisch sein, wenn er nicht auch theoretisch wäre, wenn er nicht auch erkennen würde. — Ein weiterer Einwand läßt sich gegen jene Isolierung erheben: Die Produkte welcher „artes" des praktischen Intellekts haben nach jener Meinung des Aquinaten den Vorzug, wahr im absoluten Sinne zu sein? Etwa nur die Produkte der sogenannten „artes serviles"? Oder auch die von „freien Künsten": z.B. die der Rhetorik? Vielleicht auch die Produkte derjenigen Künste, die wir heute als die „bildenden" bezeichnen? Und wie steht es mit den Wissenschaften, die im Mittelalter zu den „Septem artes liberales" gezählt wurden? Thomas gesteht doch zu, daß selbst im theoretischen Bereich Operationen vorkommen 12 . Sind demnach auch die von Verstandesoperationen (opera rationis) abhängigen Gegenstände der „freien Künste" bzw. der Wissenschaften als an sich wahr zu betrachten? Sind demnach auch alle mathematischen Gegenstände völlig abhängig vom Verstand, von Verstandesoperationen? Da diese Fragen wohl kaum verneint werden können, wird die Fragwürdigkeit obiger Gegenüberstellung des praktischen und des theoretischen Verstandes noch offenkundiger. Wahrscheinlich hat Thomas jene Position nicht erst formuliert, nachdem er sich mit solchen Fragen auseinandergesetzt und dabei zu ihr sich durchgerungen hatte, sondern hat er sich dabei lediglich (oder doch in erster Linie) 12

S. 1Ή. I I — I , q 57, a 3, ad 3: „ etiam in ipsis speculabiübus est aliquid per modum cujusdam operis; puta constructio syllogismi, aut orationis congruae, aut opus numerandi vel mensurandi; et ideo quicumque ad hujusmodi opera rationis habitus speculativi ordinantur, dicuntur per quamdam similitudinem artes, scilicet liberales,

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leiten lassen von seiner Vorstellung vom göttlichen Erkennen und Schaffen. Demnach ist die Welt (als mögliches Gegenüber) erst von Gott geschaffen; sie braucht also nicht im Erkennen von Gott hingenommen zu werden; ein solches Hinnehmenmüssen wäre unvereinbar mit Gottes Unabhängigkeit von ihr. Doch die dahinterstehende Meinung, das Erkennen mache den Erkennenden abhängig von einem zuvor schon Vorhandenen und gegen das Erkennen Gleichgültigen, ist verkehrt, und die Meinung, es sei auch ein Schaffen bzw. Wollen denkbar, das noch nicht (oder: nicht mehr) ein Stellungnehmen zu etwas wäre, ist geheimnisvoll und unverständlich. Man muß sich klarmachen: Das Wollen und Schaffen als Stellungnehmen zu etwas bedeutet ebensowenig eine Einschränkung von Freiheit und Unabhängigkeit wie das Erkennen von etwas, und zwar wenigstens dann nicht, wenn dieses Etwas in beiden Beziehungen das Ich selbst ist — nur müssen dann jene beiden Beziehungen als Beziehungen auf das Ich allein bestimmt werden. Die äußerst problematische Auffassung des Aquinaten vom göttlichen Schaffen der Natur und vom menschlichen Schaffen der Artefakte und Erkennen der Naturgegenstände sind also viel eher als die Transzendentalienlehre für die Position Vicos, die sich im Grundsatz „verum et factum convertuntur" niedergeschlagen hat, bestimmend gewesen. Daher ist die Anknüpfung Vicos an die Transzendentalienlehre nicht zu akzeptieren. Zu ß) Der Lehrsatz „omne ens est bonum" wird von M. Scheler betrachtet als eine metaphysische Voraussetzung für die europäische Wertschätzung eines auf positiver Fachwissenschaft und technischen Zielsetzungen beruhenden Weltbildes, „durch das die Welt beherrschbar und lenkbar wird" 13 . Und dieser Lehrsatz ist audi gemeint, wenn in der Nietzsche-Interpretation M. Heideggers14 und E. Finks 15 von der Auslegung des Seins als Wert in der von Nietzsche vorgefundenen Metaphysik gesprochen wird. Fink sagt (S. 142), Nietzsche kämpfe zwar gegen diese Seinsauslegung, bleibe aber selbst noch in der „Bahn der Gleichsetzung: ens = bonum". Und so denke dann Nietzsche das Gutsein aller Dinge aus der Bezogenheit aller Dinge auf den Menschen, d.h. er bestimme es als Wert; Werte aber würden — nach Nietzsche — als die ,Erhaltungs- und Steigerungsbedingungen' des Willens zur Macht von diesem vorentworfen, vorausgesetzt (S. 186). — Kann für das von Scheler beschriebene neuzeitliche europäische Weltbild und für die Lehre Nietzsches vom Willen zur Macht der alte Lehrsatz „omne ens est bonum" eine Bedingung gewesen sein? Er könnte es dann gewesen sein, wenn das „bonum" dieses Lehrsatzes immer nur als das (positive) natür13 14

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M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926, S. 189 f. Vgl. ζ. Β.: M. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot", in: Holzwege, Frankfurt 1950, S. 193—247, bes. S. 238—243. E. Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart i960, S. 1 4 2 und 185/6.

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liehe Gute verstanden wurde und wenn der so verstandene Lehrsatz nicht bloß ein Satz der Schule, eine rein akademische Angelegenheit war, sondern eine Jahrhunderte währende Lebenshaltung zum Ausdruck brachte. Zu klären, ob dies der Fall war, bleibt weiteren — ζ. T. geistesgeschichtlichen — Untersuchungen vorbehalten.

ANHANG I

Über die S o n d e r s t e l l u n g von Met. IV Ein Teil der hier aufzuzählenden Punkte wurde im Verlauf unserer Abhandlung da oder dort schon erwähnt. Um einen Überblick zu geben, werden diese hier nochmals genannt; weitere Punkte, die für eine gewisse Sonderstellung von Met. IV innerhalb des CA sprechen, werden angefügt. Diese Zusammenstellung wird hier aus folgenden Gründen vorgelegt: a) um nochmals den oben öfters zum Ausdruck gebrachten Gedanken zu unterstützen, sich bei der Interpretation von Met. IV nicht allzu stark von anderen Texten des CA, nicht einmal von den anderen Büchern der „Metaphysik" leiten zu lassen, und b) um für eventuelle weitere Untersuchungen über die Entstehung der uns erhaltenen „Metaphysik" und des gesamten CA einiges Material bereitzustellen, das bis jetzt kaum oder doch nicht genügend beachtet worden sein dürfte. Für ein abschließendes Urteil über die Echtheit, über die Herkunft des Gedankenguts, das den Autor beinflußt haben mag, sowie über den Zeitraum der Entstehung bzw. Redaktion dieses Buches IV der „Metaphysik" reicht dieses Material freilich noch nicht aus. Wenn hier überhaupt eine diesbezügliche Andeutung gewagt werden kann, dann — in aller Vorsicht freilich — diese: Einige Stücke dieses Buches IV stehen — im Gegensatz zu den meisten anderen Büchern der „Metaphysik" — der Lehre Piatons und der der Alten Akademie, besonders der platonischen Lehre von den Ersten Prinzipien, sehr nahe; da sich nach unserer obigen Interpretation von Met. IV Spuren einer gewissen Uneinheitlichkeit nicht übersehen lassen, wäre zu fragen, ob die platonnahen Stücke Überreste einer bereits von Aristoteles erstellten Erstfassung des Buches sind, Aristoteles also in der Zweitfassung (die in dem uns erhaltenen Text vorliegen mag) eine eigene frühere Konzeption leicht abgeändert und überarbeitet hat — oder ob die Anzeichen der Uneinheitlichkeit so ernstzunehmen sind, daß nicht mehr auf die Identität des Autors der Erstfassung mit dem der Zweitfassung und vor allem mit dem Autor anderer „Metaphysik"-Texte, die die platonisch-akademische Prinzipienlehre kritisieren (ζ. Β. XIV ι—2), geschlossen werden kann. Diese Fragen lassen sich noch nicht beantworten; es war auch für obige Unter-

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Anhang I suchung nicht erforderlich, sie zu beantworten. Daher kann vorläufig nur von einer gewissen Sonderstellung des Buches IV innerhalb der „Metaphysik" und innerhalb des übrigen CA gesprochen werden. Die gefundenen Punkte, die diesem Buch eine Sonderstellung geben, gliedern wir in drei Gruppen: A) in solche, die sich ergeben aus dem Vergleich dieses Buches Met. IV mit den anderen Schriften des CA unter dem Gesichtspunkt einer einheitlichen Seins- und Prinzipienlehre, B) in Anhaltspunkte, die Met. IV in die Nähe der Lehre Piatons und der der Älteren Akademie rücken, C) in Spuren, die auf eine gewisse Ferne zum Gedankengut des Peripatos hinweisen.

Α) i) Keine andere Schrift des CA läßt den Gedanken zu, ihr Autor habe jemals eine Lehre vom Seienden bloß als Seiendem vertreten. Die Parallelfassung XI 3—6 kann nicht dagegen ausgespielt werden, weil auf dieses Kapitel ein Text (XI 7) folgt, der — unter Anlehnung an VI 1 — eine Vermengung der Seinslehre mit der Gotteslehre bringt. Damit scheiden also auch die Kapitel VI 1 und XI 7 als Belege einer reinen „Ontologie" aus. Kein anderes Buch der „Metaphysik" und keine andere Schrift des CA — auch nicht die sonst für eine frühe Schrift gehaltene „Topik" — bieten noch Anhaltspunkte dafür, daß Aristoteles einmal eine Theorie vom Seienden nur als solchem hatte, die nicht bereits umgebogen war in eine Lehre von der Substanz überhaupt (im Gegensatz stehend zu den Akzidentien) oder von der göttlichen Substanz. 2) Es gibt mindestens einen Beleg in der doch für echt und für früh gehaltenen „Eudemischen Ethik" dafür, daß Aristoteles einmal sogar der Meinung war, eine einheitliche Wissenschaft vom Seienden sei gar nicht möglich, weil das Seiende keine eigene Bestimmtheit neben den Kategorien sei \ Offensichtlich wird an dieser Stelle davon ausgegangen, daß es ein einheitliches Wissen von einer Mannigfaltigkeit nur in der Weise eines Gattungsbegriffes gebe. Damit tritt die EE in diesem Punkt in einen Gegensatz zu Met. IV 2 , wo die Einheit des Wissens um das Seiende gelehrt wird mit der 1

2

EE I 8, 1217 b 33—35: βσπερ otv ούδέ τό δν 8v τί έστι παρά τά είρημένα, οΰτοος ουδέ τό Αγαθόν, ούδέ επιστήμη έστί μία οΰτε τοΰ δντος οΰτε τοΰ άγαθοϋ. Statt des überlieferten „περί" in b 34 lese ich mit Victorius „παρά": dies verlangt der Sinn der Stelle wie audi ein Blick auf den Gebrauch der beiden Präpositionen „περί" und »παρά" im CA. Die „Große Ethik" und die „Nik. Eth." bestreiten an ihren Parallelstellen die Wissenseinheit nur bezüglich des nach den Kategorien differenzierten Guten, jedoch nicht — jedenfalls nicht ausdrücklich — die bezüglich des Seienden.

Sonderstellung von Met. I V

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Begründung, daß es ein einheitliches Wissen nicht bloß von dem gebe, was sich unter einem strengen Gattungsbegriff vereinigen läßt (καθ' εν λέγεσθαι), sondern auch von dem, welches — wie ζ. B. alles Seiende — auf ein gewisses Eines bezogen ist (προς εν λέγεσθαι). 3) Eng hängt damit zusammen der Gedanke, dessentwegen Met. I 9 wohl kaum noch mit Met. IV zu vereinbaren ist: während das Wissen um das Seiende nach Met. IV ein Wissen um alles Seiende ist, wird in I 9 die Möglichkeit eines Wissens um alles Seiende bestritten mit der Begründung, daß einem solchen Wissen kein anderes Wissen mehr vorhergehen würde, wie dies doch bei allem sonstigen Erkennen der Fall sei, und ein stattdessen etwa angenommenes ursprüngliches Wissen nicht angesetzt werden dürfe, da wir von einem solchen ursprünglichen, immer schon mitgegebenen Wissen nichts merken (992 b 18 — 99332; s. oben S. 284 und 286 f.). B) Wir nennen zuerst zwei Punkte, die eine Verbindung zu zwei bekannten Lehrmeinungen Piatons herstellen, doch an anderen Stellen des CA ausdrücklich abgelehnt werden; anschließend (Nr. 3 — 5 ) sollen ein paar Punkte angeführt werden, deren Platon-Nähe wir erst aus den griechischen Kommentaren zur aristotelischen „Physik" und „Metaphysik" erfahren. 1) Die Rückführung alles Seienden auf Fundamentalgegensätze. In Met. I V 2, besonders 1004 b 27 — 1005 a 5, wird eine solche Ableitung alles Seienden von fundamentalen Gegensatzpaaren (wie: Seiendes-Nichtseiendes oder Eines-Mannigfaltiges) als eigene Meinung vorgetragen (also nicht etwa als fremde Lehre) (s. oben S. 191). Nach Met.I 6 (besonders 987 b 18 ff.) hat Piaton die Ideen, die Gründe für alles Diesseitige, aus einem solchen Prinzipienpaar abgeleitet 3 . Nach Met. X I I 10 (besonders 1075 a 25 ff.) und X I V 1 — 4 wird der Gedanke einer Ableitung aus Gegensatzpaaren Denkern der Akademie (wobei Piaton nicht ausdrücklich ausgeschlossen wird) zugeschrieben und ziemlich radikal abgelehnt (s. oben S. 362 ff.). 2) Keine Zweifel am platonischen Ursprung bestehen bezüglich des Aprioritätsgedankens (mag letzterer auch z . T . verquickt gewesen sein mit der Vorstellung von einem zeitlich früheren Wissen, wie ζ. B. in der Anamnesislehre des „Phaidon"). Apriorität ist aber in Met. IV 3 (besonders 1005 b 2 — 1 7 ) für das unbedingte Prinzip vorausgesetzt, wenn dort gesagt wird, jenes Prinzip müsse notwendigerweise haben, immer schon mitbringen, wer auch nur irgend etwas erkennen wolle (s. oben S. 212 f.). Doch der Ansatz selbst dieses apriorischen Minimums ist nicht mehr vereinbar mit der radi3

Dieser Gedanke wird zwar als ein zentrales Lehrstück der sog. esoterischen Philosophie Piatons betrachtet und könnte so — zusammen mit allem sonst noch als esoterisch Angesehenen — für unecht gehalten werden, doch hängt dieses Stück so eng mit der im „Philebos" sich findenden Theorie von dem Prinzipienpaar πέρας — άπειρον zusammen, daß nicht mehr bezweifelt werden kann, audi Piaton habe ihn vertreten.

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Anhang I

kalen Ablehnung des Aprioritätsgedankens in Met. I 9 (besonders 992 b 24 — 993 a 2) (s. oben S. 284 und 286 f.) und in Anal. Post. I I 19 (besonders 99 b 26—32), eine Ablehnung, die in der Philosophengeschichte immer als ein wichtiger Punkt der aristotelischen Lehre betrachtet worden ist. 3) Während die Seinslehre, die Met. IV uns bietet, an anderen Stellen der Metaphysik mit der Gotteslehre verquickt (z. B. in Met. V I 1 und X I 7) oder ganz abgelehnt (ζ. B. in Met. I 9 und in E E I 8) oder in Frage gestellt wird, soll nach dem Kommentar des Asklepios (74.5—10) zu Met. I 9 Piaton jene Wissenschaft der Wissenschaften besessen haben, die auch alles Seiende, sofern es nur seiend ist, zum Gegenstand habe 4 . Bei aller Reserve gegenüber dem, was Neuplatoniker Piaton zuschreiben, wird man sich in diesem Fall vor einer vorschnellen Ablehnung doch hüten, wenn man an eine Stelle wie Soph. 257 a 1 ff. denkt, wo über das Seiende selbst (τό δν αυτό) gesprochen wird. 4) In Met. I V 2 und 3 erscheint die dort behandelte Wissenschaft ein paarmal (z.B. 1003 b 2 1 / 2 2 ; 1004 a 2—9; 1005 a 29 — b 2) als erste innerhalb einer geordneten Gruppe von Wissenschaften oder von philosophischen Disziplinen; ihr Gegenstand trägt die Titel „τό δν η δν", ,,τό καθόλου", ,,ή πρώτη ουσία" (womit noch nicht die „erste Substanz" im Sinne von Cat. 5 oder die göttliche Substanz gemeint sein muß). Gewiß ist auch noch, daß dieser ersten Wissenschaft oder Philosophie — nach der Meinung des Autors — mindestens eine, wahrscheinlich sogar zwei Wissenschaften bzw. philosophische Disziplinen folgen, strittig ist jedoch in der Forschung, ob an der zweiten Stelle die Mathematik steht oder die Physik oder die Astronomie. Da einiges dafür spricht, daß dieser zweite Platz der Mathematik zugewiesen war (s. oben S. 162), liegt es nahe, einen Vergleich mit den Wissenschaftsordnungen anzustellen, die Piaton in der „Politeia" (ζ. B. 510 bis 5 1 1 ; 533—534) beschreibt, indem er dem auf Naturgegenstände und Artefakte gerichteten δόξα-Wissen die mathematischen Wissenschaften überordnet und diesen wiederum die Dialektik. Auch sofern diese Wissenschaft der Dialektik als Rückgang zum Unbedingten charakterisiert ist (ζ. B. 5 1 1 b), hat sie etwas gemeinsam mit der in Met. IV 2 behandelten höchsten Wissenschaft, da diese auch das unbedingte Prinzip des Denkens zum Gegenstand hat. Piaton gebraucht zwar (in den Dialogen) nicht den Titel „Erste Philosophie" für die Dialektik, kennzeichnet sie aber doch deutlich als die höchste Wissenschaft (z.B. 534 e 2ff.). Ob Piaton im mündlichen Unterricht, in der sogenannten esoterischen Philosophie, die Dialektik als Erste Philosophie bezeichnet hat, wissen wir nicht. Theophrastos berichtet aber, 4

Askl., In . . . Met. 7 4 . 5 — 1 0 : . . . δ δέ ήμέτερος φιλόσοφος (d. i.: Ammonios) Ιφασκεν οτι ό Πλάτων ού περί της τοιαύτης επιστήμης εϊρηκεν άλλα περί της άύλου καΐ καθόλου, ήτις έστι τέχνη τεχνών και έπιστήμη έπιστημών, ήτις και πάντα απλώς τά δντα οίδεν, η δντα έστί, και τά έσόμενα και τά μέλλοντα, . . .

Sonderstellung von Met. IV

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Piaton habe sich der Ersten Philosophie am meisten gewidmet (in zweiter Linie dann allerdings auch der Naturphilosophie)5. Damit ist zwar noch nicht gesagt, daß Piaton selbst diesen Terminus verwendet habe, aber doch immerhin dies, daß nach den Vorstellungen des Theophrastos, des Mitarbeiters des Aristoteles, die (mindestens) nachher als Erste Philosophie bezeichnete philosophische Disziplin für Piaton die wichtigste war. Theophrastos hat also um die enge Verbindung zwischen der Prinzipien- und Ideenlehre Piatons und der Ersten Philosophie des Aristoteles gewußt. — Nun könnte man freilich einwenden, der Terminus „Erste Philosophie" werde im CA nicht eindeutig gebraucht6, daher dürfe die „Erste Philosophie" Piatons nicht ohne weiteres mit der Seinslehre in Met. IV in Verbindung gebracht werden; sie könne auch auf die Theologie bezogen werden. Dies erscheint jedoch ziemlich unwahrscheinlich, wenn man die Partien in der „Politeia", die von der höchsten Wissenschaft handeln, vergleicht mit Met. IV. Daher darf dem Hinweis des Theophrastos auf die intensive Beschäftigung Piatons mit der „Ersten Philosophie" sehr wohl entnommen werden, daß die eben-

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Simpl., In Phys., 26. 7 — 1 1 : ό μέντοι Θεόφραστος τους δλλους προΐστορήσας „τούτοις, φησίν, επιγενόμενος Πλάτων, . . . την πλείστην πραγματείαν περί της πρώτης φιλοσοφίας ποιησάμενος, έπέδωκεν έαυτόν και τοις φαινομένοις άψάμενος της περί φύσεως Ιστορίας' . . Im Sinne von „abschließender Seinswissenschaft" wird „πρώτη φιλοσοφία", „φιλοσοφία", „πρώτη επιστήμη" in Met. IV 2 (1004 a 3 ff.), in X I 3 (1061 b 5; 25; 30) und in X I 4 (1061 b 17—19) gebraucht, ebenso wohl auch noch in V I 1, 1026 a 24 und parallel dazu in X I 7, 1064 b 13—14, sofern da das Allgemeine als ihr Gegenstand angesetzt wird. Doch erfolgt in V I 1 die Verquickung der πρώτη φιλοσοφία mit der Theologie, indem ihr die prozeßfreie Substanz als Gegenstand zugewiesen wird (1026 a 16; 30) und für sie auch der Terminus „θεολογική" verwendet wird (1026 a 19; X I 7, 1064 b 3). Wissenschaft von (dem Ursprung) der Bewegung im Kosmos (also Theologie) ist die πρώτη φιλοσοφία nach De Caelo I 8, 277 b 10, Wissenschaft von Abtrennbarem (und zwar wohl im Sinne von: „selbständige Bewegungsursachen", von: „seelische, geistige Substanzen") nach De Anima I 1, 403 b 15—16. An den bisher genannten Stellen hat „πρώτη φιλοσοφία" also entweder die Bedeutung von „(abschließender, grundlegender) Seinswissenschaft" oder die von „Theologie". Schwerer fällt die Entscheidung zugunsten des einen oder des anderen Gliedes dieser Alternative an den zwei Stellen der „Physik": in I 9, 192 a 35/36 werden das Formprinzip (ή κατά τό είδος άρχή), in II 2, 194 b 14/15 das Selbständige und das Wesen (τό χωριστόν και τί έστι) der Ersten Philosophie als Gegenstände zugewiesen. Wahrscheinlich ist an beiden Stellen dasselbe gemeint: das, was — nach der Meinung des Aristoteles — als reines, von jeglicher Materie losgelöstes, ihr gegenüber selbständiges Formprinzip existiert. Trifft dies zu, ist auch hier die πρώτη φιλοσοφία Theologie, Lehre von den reinen Bewegern. Es ist freilich — besonders bezüglich I 9 — nicht ganz auszuschließen, daß damit die pure Denkform, also das transzendentale Eine gemeint sein könnte. Dann freilich wäre auch hier die πρώτη φιλοσοφία „abschließende, grundlegende Seinswissenschaft".

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Anhang I

falls von der Ersten Philosophie handelnde Schrift Met. IV dem Philosophieren Piatons nahesteht. In Met. IV 2 spielt das zwischen Univokation und Äquivokation stehende (einseitige) „Bezogensein eines Mannigfaltigen auf eine Einheit" (προς εν bzw. άφ5 ένος λέγεσθαι) eine wichtige Rolle: es — und nur es — ermöglicht (nach IV 2) überhaupt erst ein (einheidiches) Wissen von den mannigfaltigen Bedeutungen des Terminus „seiend". Nach Simplikios7 waren die Freunde Piatons — ebenso wie Aristoteles — der Meinung, daß das Seiende selbst von einem einheitlichen Punkt her allem Seienden zukomme, und kannte Piaton audi jenen anderen Begriff von Gattung, der es ihm auch noch ermöglichte, von Gattungen des Seienden zu sprechen, obwohl die unter diesen „Gattungen" stehenden Bestimmtheiten nicht in der gleichen Ebene liegen, sondern auf verschiedenen, und obwohl die „Gattung" nicht in völlig gleicher Weise in ihnen anwesend ist. — Damit werden zwei für Met. IV 2 sehr wichtige Begriffe, der des προς εν (bzw. άφ5 ενός) λέγεσθαι und der laxere Begriff von der „Gattung" (wonach diese also die Stellung jenes εν einzunehmen vermag) zwar Aristoteles nicht abgesprochen, aber doch immerhin schon Piaton und seinem Kreis zugeschrieben. Dies bedeutet wiederum, daß Met. IV dem Philosophieren Piatons und dem seiner Schule besonders nahesteht. Nun könnte man diesen Hinweis des Simplikios zu übergehen versuchen mit der Bemerkung, wir kennten die diesbezüglichen Quellen des Simplikios nicht. Daher dürfte es gut sein, auf die wichtigsten einschlägigen Stellen in den Schriften Piatons und im CA kurz einzugehen. Man sucht in den Dialogen Piatons vergeblich nach einer Stelle, an der Synonymie (Univokation) und Homonymie (Äquivokation) einander in denselben Termini gegenübergestellt würden wie in Met. IV 2 und wo ebenfalls zwischen diese beiden Verhältnisse das mit dem Ausdruck „προς εν λέγεσθαι" gemeinte hineingestellt würde. Für die pure, zufällige Namengleichheit, Äquivokation gebraucht Piaton nicht den Terminus „Homonymie" (όμωνύμως λέγεσθαι), sondern andere Ausdrücke8. Piaton spart sich diesen Terminus für die Bezeichnung des Verhältnisses zwischen Abbild und Original9, vor allem aber für das Verhältnis zwischen den teilhabenden 7

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In Phys. 405. 7 — 1 6 : δπερ καΐ öl τοϋ Πλάτωνος όμολογοΰσι φίλοι ώς άφ'ένός καΐ αύτοί τό δν πάσι τοις ουσι έφήκειν λέγοντες, ωσπερ καΐ 'Αριστοτέλης, διό καΐ δλλο μέν έστι τοΰτο τοϋ γένους σημαινόμενον τό είς είδη διαιρούμενον έπ'ίσης μετέχοντα τοϋ γένους, . . . δλλο δέ έστι τοϋ γένους σημαινόμενον, καθ'δ γένη τοϋ δντος 6 Πλάτων καλεί τά διά πάντων των έφεξής διήκοντα, « δ ν μή έπ'ΐσης μηδέ κατά τήν αύτήν Ιδιότητα πασιν υπάρχη τοις έξης. Z . B . : „τοΰνομα μόνον εχομεν κοινή" oder „τοΰνομα μόνον συνωμολογήσθαι": in Soph. 2 1 8 c und 2 2 1 b. So in Soph. 2 3 4 b 6 — 7 : . . . μιμήματα καϊ όμώνυμα των δντων . . . Auch in Cat. 1 , i a 2 — 3 wird das Abbildverhältnis noch als ein Beispiel für Homonymie angeführt.

Sonderstellung von Met. I V

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Dingen und ihrer Idee 10 . Dieser Gebrauch von „ομώνυμος" fällt besonders auf in den Berichten über die platonische Ideenlehre in Met. I 6 (987 b 9) und I 9 (990 b 6) (ferner parallel dazu inXIII 4, 1079 a 2). Alexandres stellt dies in seinem Kommentar heraus (zu I 6, 987 b 9: 50.19 — 51.25; zu I 9, 990 b 6: 77.11 ff) und meint, hier stehe ,,όμώνυμον" für ,,συνώνυμον". Doch Syrianos (108.26—29) korrigiert ihn da in seinem Kommentar zu X I I I 4 , 1079 a 2. Daß nun Piaton und seine Leute — trotz dieses von Met. IV 2 abweichenden Gebrauchs von „ομώνυμος" — mit ihrer Ideenlehre den für Met. IV 2 so wichtigen Begriff des „προς εν λεγεσ-θαι" vorbereitet haben, ist aus den Argumenten für den Ideenansatz zu entnehmen, die uns Alexandras — die Frühschrift des Aristoteles „Περί ιδεών" exzerpierend — in seinem Kommentar zu Met. I 9, 990 b 1 1 ff. (79.1—11) erhalten hat 11 . Demnach ergab sich für die Platoniker ein Argument für den Ideenansatz aus der Reflexion auf das den jeweiligen Bereich konstituierende Verfahren der Wissenschaften und Fertigkeiten, das immer im Bezug einer Mannigfaltigkeit auf eine identische Leitidee besteht12. Es ist also ein mit dem platonischen Ideenansatz verbundener Gedanke, der das ermöglicht, was in Met. IV 2 als Beispiel für das προς εν λέγεσθαι angeführt wird: daß aus bestimmten Gegenständen „gesunde" werden durch den Bezug auf die Gesundheit selbst bzw. „medizinische" —.durch den Bezug auf die Heilkunde selbst. Gerade das Verhältnis der Teilhabe (wenigstens das der ungleichen Teilhabe) zwischen einer Idee und dem an ihr Teilhabenden, das im „Parmenides" und in den Diskussionen über die Ideenlehre in Met. I und X I I I als Homonymie bezeichnet wird, ist es, das in Met. IV 2 als ,,άφ' ενός λέγεσθαι" erscheint. Dies bestätigt auch Asklepios in seinem Kommentar zu Met. I 6 und zu I 9, indem er das von Piaton als Homonymie bezeichnete Verhältnis zwischen den Sinnendingen und den Ideen gleichsetzt mit dem des άφ* ενός και προς εν λέγεσθαι13, aber auch das Verhältnis zwischen Urbild und Abbild und das zwischen reiner Idee und in Materie einwohnender Gestalt 14 . Selbst wenn sich Asklepios für diese seine Gleichsetzungen nur auf die Tradition der platonischen Schule sollte berufen können, so läßt sich in Anbetracht der 10 11

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So 2. B. in Parm. 1 3 3 d 2 — 3 : . . . τά δέ παρ' ήμΐν ταΰτα όμώνυμα 8ντα έκείνοις . . . Diese sog. Ideenbeweise wurden schon oben S. 1 6 3 f. für die Erklärung von Met. I V 2 ausgewertet. 79. β—6: . . . εΐ πάσα έ πιστή μη πρός Εν τι καΐ τό αύτό έπαναφέρουσα ποιεί τό αύτής Ιργον καΐ πρός οΰδέν των καθ'^καστον, . . . ähnlich auch 79· χ 9 2 · 46.20—22: . . . έκείνου (sc. Πλάτωνος) όμωνύμους λέγοντος τάς Ιδέας ώς τά άφ'ένός καΐ πρός ϊ ν . . . γτ. ίο—14: καθ'ϊκαστον είδος, φησίν, ϊστι και Ιδέα δμώνυμος ώς τά άφ'ένός καΐ πρός ihr, έπειδή πολλφ κρείττων ή Ιδέα τοϋ άνθρωπου αυτοί τοϋ άνθρωπίνου είδους· ώσπερ και έπΐ τοϋ Σωκράτους καί της εΙκόνος τοϋ Σωκράτους ούκ Ιστιν όμωνυμία, άλλ'ώς τά άφ'ένός καί πρός !ν, έπεί πολλφ κρείττόν έστι τό παράδειγμα της εΙκόνος καί ή Ιδέα τοϋ είδους. — Ferner: Askl. 8 2 . 2 8 — 8 3 . 2 .

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Anhang I

von Alexandras überlieferten Ideenbeweise doch immerhin die Verträglichkeit dieser Gleichsetzungen mit der Lehre Platons und der Älteren Akademie konstatieren. Auch das oben S. 394 angeführte Zitat aus Simplikios' Physikkommentar, wonach der Begriff des „προς εν λέγεσθαι" auch den Freunden Platons eigen war, erhält nun einen Hintergrund, der seine Glaubwürdigkeit erhöht. Simplikios nennt an der betreffenden Stelle neben den Freunden Platons allerdings auch Aristoteles. Wenn dies uneingeschränkt gelten würde, könnte im Bezug auf das „προς εν λέγεσθαι" nicht mehr von einer Sonderstellung der Schrift Met. IV innerhalb des CA gesprochen werden. Doch allzu oft ist der Begriff des ,,άφ' ενός-" oder „προς εν λέγεσθαι" im CA nicht anzutreffen. Die wichtigsten Stellen sind MM II 11, 1209 a 18 if. (terminologisch interessant) und parallel dazu EE V I I 2, 1236 b 14 ff., wo mit Hilfe dieses Begriffs das Verhältnis zwischen den drei Weisen der Freundschaft als ein solches bestimmt wird, das zwischen völliger Deckung und völligem Anderssein liegt. Nach EN I 6, 1096 b 25—31 hält dieser Begriff auch den Weg offen für einen einheitlichen Begriff vom Guten. Die größte Bedeutung kommt ihm jedoch ohne Zweifel in Met. IV 2 zu, weil er da als Garant für ein einheitliches Wissen von allem Seienden betrachtet wird. Man wird dies eher verstehen, wenn man sich daran erinnert, daß dieser Begriff dem platonischen Methexisbegriff entsprungen ist; denn dann erinnert man sich auch der platonischen Lehre von jenem Wissen, das die Erkenntnis des Teilhabenden an das Wissen um das Anteilgebende, an das Wissen um die Idee knüpft: also an die Lehre von der Anamnesis. Die im „προς εν λέγεσθαι" bestehende Einheitlichkeit des Wissens um die nachbenannten, abhängigen Stücke (προς εν λεγόμενα) und zugleich um den einheitlichen Bezugspunkt (εν) ist keine andere als die in der sogenannten Wiedererinnerung bestehende, als die darin vorliegende notwendige Verknüpftheit des Wissens um das Teilhabende und des Wissens um die Idee. Dieses Rückbezogensein auf die platonische Anamnesislehre macht es schon unwahrscheinlich, daß Aristote les, der doch ziemlich bald die Ideen- und die Anamnesislehre aufgegeben haben dürfte, immer am Begriff des „προς εν λέγεσθαι" und der damit verbundenen Einheitlichkeit des Wissens festgehalten hat. Ζ. B. in Met. I 9 und in EE I 8 bestreitet Aristoteles die Wissenseinheit in Bezug auf das Seiende. Das konnte er nur, wenn er vorher den Begriff des „προς εν λέγεσθαι" und der damit gegebenen Wissenseinheit aufgegeben hatte. So ergibt sich auch in diesem Punkt eine Sonderstellung von Met. IV. C.) Nach dieser Aufzählung von einigen Punkten aus Met. IV, die als Zeichen einer gewissen Nähe von Met. IV zur Philosophie Platons und der Älteren Akademie gewertet werden können, folgt nun ein Hinweis, der bei der chronologischen Einordnung dieser Schrift ebenfalls nicht übersehen werden sollte: Es ist uns keine Schrift, kein Buchtitel und kein Fragment

Sonderstellung von Met. I V

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von den älteren Peripatetikern erhalten, aus der (bzw. dem) mit Sicherheit entnommen werden könnte, daß sich diese älteren Peripatetiker — zustimmend oder ablehnend — mit Met. IV auseinandergesetzt hätten und daß sie dieses Buch als irgendwie charakteristisch für das Philosophieren des Aristoteles, als einen wichtigen Niederschlag dieses Philosophierens betrachtet hätten. — Zu diesem Ergebnis gelangt man nicht nur, wenn man die von Wehrli 15 erstellte Fragmentsammlung durchsucht, sondern auch beim Studium der kleinen — wohl nur unvollständig überlieferten — metaphysischen Schrift, die uns von Theophrastos erhalten ist. Theophrastos hat ganz sicher die Schrift Met. X I I für ein wichtiges Werk des Aristoteles gehalten, weil er sich an mehreren Stellen mit der aristotelischen Lehre vom Grund der Bewegung des Weltalls auseinandersetzt. Er lehnt — wie Aristoteles — die Auffassung der Akademiker vom Prinzipiencharakter des Mathematischen für das Wahrnehmbare ab. Damit sucht er, ebenso wie Aristoteles, Seinsgründe gegen Erkenntnisgründe auszuspielen. Die von ihm gar nicht erwähnte Seinslehre von Met. IV ist mit seiner Metaphysik ebenso schwer zu vereinbaren wie mit der Theologie des Aristoteles, weil jene Seinslehre doch eine Lehre von den obersten Bedingungen des Denkens und Erkennens von Seiendem ist — nicht aber eine Lehre von Seinsgründen, die Seiendes unabhängig von jeglichem Denken und Erkennen verursachen sollen. Nun kann man aus dem Nichterhaltensein eines peripatetischen Hinweises auf Met. IV gewiß noch nicht auf ein völliges Unbekanntsein dieser Schrift schließen. Man darf aber nach einem Vergleich der peripatetischen Buchtitel und Fragmente mit den Titeln des CA mindestens dies annehmen, daß die Mitglieder des Alten Peripatos sich mit der Seinslehre kaum beschäftigt haben, daß sie diese Konzeption mindestens für uninteressant, wenn nicht gar für überholt gehalten haben. Es liegt die Frage nahe: Hat eine derartige Verschiebung des Interesses oder gar ein Wandel in der Bewertung bei den Schülern ihren Grund etwa bereits in einer Verschiebung des Interesses oder in einem Wandel in der Bewertung beim Lehrmeister Aristoteles? Neben diese Frage, die auf eine Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles abzielt, läßt sich noch eine andere, für die Geschichte der alten Transzendentalphilosophie wichtigere Frage stellen: Durch wen ist die Aufmerksamkeit wieder auf Met. IV gelenkt worden? War es Andronikos v. Rhodos durch seine Neuausgabe der dem Aristoteles damals zugeschriebenen Schriften? Oder mußten erst neuplatonische Kommentatoren kommen, die die (innere) Verwandtschaft dieses Textes mit dem Gedankengut der platonischen Tradition, besonders mit der platonischen Prinzipien- und 13

Die Schule des Aristoteles. Texte und Kommentar, hrsg. v. F. Wehrli, 10 Bde., Basel 1944—59.

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Anhang I

Kategorienlehre, erkannten und ihm so neues Gewicht verliehen? Ein Vergleich der Kommentare von Asklepios und Syrianos mit dem des Alexandras, vor allem ein Vergleich unter dem Gesichtspunkt der Terminologie, wäre zur Beantwortung dieser Frage erforderlich. Es wäre aber auch möglich, daß die Transzendentalienlehre — wohl mit Verbindungen zur Theologie — in der Spätantike und im Frühmittelalter zunächst nur innerhalb der platonischen Tradition weitergereicht worden ist und daß sie, indem sie die „Metaphysik"-Interpretation der Araber und der Lateiner im Westen beeinflußt hat, erst im Mittelalter dem Buch IV der „Metaphysik" und überhaupt der aristotelischen Seinslehre zu neuem Glanz und Ansehen verholfen hat.

ANHANG I I Zur a k a d e m i s c h e n L e h r e von den s o g e n a n n t e n Idealzahlen Auch das hier Zusammengetragene reicht nicht aus für ein abschließendes Urteil. Eine nach allen Seiten abgesicherte Interpretation der Lehre von den sogenannten Idealzahlen, wie sie von Aristoteles u. a. antiken Schriftstellern Piaton und der Älteren Akademie zugeschrieben wird, hätte sich mit einer stattlichen Reihe von Publikationen auseinanderzusetzen. Ein Referat und eine Kritik der bisher vorgelegten Interpretationen sowie die Unterbreitung eines eigenen, hinreichend begründeten Interpretationsversuchs würden allein schon von ihrem Umfang her den Rahmen eines bloßen Anhanges sprengen. Was hier vorgelegt werden kann, sind lediglich einige Hinweise, die z.T. bei dem mit dieser Arbeit verbundenen Quellenstudium gesammelt werden konnten, und einige Fragen, die sich von einigen Punkten dieser Untersuchung her aufdrängen. Wenn es gewagt wird, sie trotz ihrer Vagheit hier vorzulegen, so deswegen, weil sie z.T. auf dem Hintergrund dieser Untersuchung eher verständlich werden könnten und weil sie immerhin schon geeignet sein könnten, künftige Interpreten dieser dunklen oder doch schlecht überlieferten Idealzahlenlehre in eine andere Fragerichtung zu weisen. Um das Problem anzudeuten: Fast alle der bisher anzutreffenden Interpretationen sehen in den Idealzahlen doch immer noch etwas Quantitatives, Zahlenartiges, das durch rätselhafte Operationen aus den ebenfalls als Zahlen ausgelegten Prinzipien „Eines-Unbestimmte Zweiheit" entstanden sein und in einem kaum angebbaren Verhältnis zu den als akzeptabler erscheinenden Ideen stehen soll. Dieser Auffassung gegenüber müssen Zweifel angemeldet werden. Wir nennen ein paar Gründe für diese Zweifel und ein paar Punkte, die eine andere Auslegung nahelegen: i) Eine gewisse Gleichsetzung von „Zahlen" (im Sinne der „Idealzahlen") und Ideen wird Piaton bereits von Aristoteles an einigen Stellen zugeschrieben (z.B. De An. I 2, 404 b 18—27 und Met. X I V 4, 1092 a 8). Aber auch noch für Alexandros scheint es eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein, daß die aus dem Prinzipienpaar „Eines-Unbestimmte Zweiheit" konstituierten „Zahlen" nidit als quantitative Bestimmtheiten, sondern als

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Anhang II

„Ideen" aufzufassen seien; diesen Eindruck erwecken jedenfalls seine Erläuterungen zu Met. I 6, 987 b 2 0 — 2 2 1 und zu 987 b 3 3 — 3 5 (55.26 bis 56.5). 2) Die quantitative Auslegung der sogenannten Idealzahlen muß in Frage gestellt werden, wenn sich auch die Einengung des Prinzipienpaares „Eines-Unbestimmte Zweiheit" auf den mathematischen Bereich als unzulässig erweisen sollte, wenn dieses Prinzipienpaar — wenigstens nach der einen oder anderen Stelle — als die transzendentalen Prinzipien „Bestimmtheit überhaupt" — „Bestimmbares überhaupt" fungieren. Daran kann aber nach dem oben S. 183 f. Gesagten kein Zweifel mehr bestehen. 3) Auch die von Theophrastos2 Piaton zugeschriebene Einordnung der sogenannten Idealzahlen zwischen die Prinzipien und die Ideen (είδη), aber auch die Ansiedlung dieser Idealzahlen vor allem Seienden, auch vor den Ideen, spricht gegen jede quantitative Auslegung. So beruft sich Syrianos (125.19—26.27) bei seiner Kritik an Met. X I I I 7, 1081 a 1 2 — 1 7 auf die pythagoreische und die platonische Tradition, wenn er gegen die Verwechslung der „Idealzahlen" mit den mathematischen Zahlen durch Aristoteles angeht, wenn er an dem Vorrang dieser „Zahlen" vor den Ideen festhält (besonders 126.17), den Ideen dagegen den Vorrang vor allem Seienden, besonders den vor den Gattungen des Seienden abspricht (126.18—20). Daraus geht mindestens dies hervor, daß die sogenannten Idealzahlen mit einem den Ideen ähnlichen Inhalt angesetzt waren; da nicht nur der Vorrang der „Zahlen", sondern auch der der „Gattungen des Seienden" vor den Ideen betont wird, wird damit bereits die Frage nahegelegt, ob die „Zahlen" nicht im gleichen Sinn „früher", allgemeiner sind wie die „Gattungen des Seienden", ob sie nicht mit diesem identisch sind? 4) Die Verwendung von „αριθμός" in Met. X 2, 1053 b 32 ff. (s. oben S. 337 ff.) kann nur auf einem Zugeständnis beruhen, das Aristoteles an eine platonische oder akademische Vorlage oder Terminologie gemacht hat mit der Einschränkung, es müsse immer der betreffende Bereich (Farbe, Töne usw.) mitangegeben werden; es genüge nicht, einfach von „Zahl" zu sprechen. Aristoteles muß hier eine akademische Vorlage oder Terminologie im Auge haben, nach der jeder der genannten Bereiche als durch eine bestimmte „Zahl" konstituiert gedacht war; dabei konnte der Terminus „Zahl" („αριθμός") nicht im mathematischen Sinne gemeint gewesen sein, sondern viel eher in einer Bedeutung wie „eine höhere oder höchste Gattung (neben 1

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53.6—11: „ . . . είδητικούς γάρ αριθμούς τάς Ιδέας λέγουσιν . . . in gleicher Weise äußert sich Asklepios (48.15—18) — wohl in Abhängigkeit von Alexandras. Metaph., ed. Ross — Fobes, 6 b 11—15: Πλάτων μεν ουν έν τφ άνάγειν είς τάς άρχάς δόξειεν αν ίύιτεσΦαι των άλλων εϊ,ς τάς Ιδέας άνάπτων, ταύτας δ' είς τους άριθμούς, έκ δέ τούτων ε'ις τάς άρχάς, είτα κατά τήν γένεσιν μέχρι των είρημένων . . .

Von den sog. Idealzahlen

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anderen, gleichgeordneten Gattungen)". Aristoteles verlangt wahrscheinlich deswegen die Mitangabe des betreffenden Bereiches, weil dies in der vorgefundenen Konzeption fehlte — wegen der nichtmathematischen Verwendung des Terminus — und weil er (Aristoteles selbst) mit dem Terminus „αριθμός" nur den Begriff der sogenannten mathematischen Zahl verbinden konnte. 5) Die Bedeutung „Gattungsbestimmtheit" — nicht: mathematische Zahl — dürfte „αριθμός" auch in jener Seelendefinition haben, die Aristoteles in De An. I 2, 404 b 27—30 überliefert und die (von Plutarchos in „De Animae Procreatione . . .") Xenokrates 2ugeschrieben wird. Nach dieser Definition ist die Seele die sich selbst bewegende „Zahl". Die dieser Stelle unmittelbar vorausgehenden Zeilen (b 8—27) geben selbst einige Fingerzeige für das Verständnis dieser Definition. Dort wird gesprochen von der Konstitution der Gegenstände (πράγματα) des Kosmos, der Welt im Ganzen (αυτό τό ζωον), aus der Idee des Einen, aus der Idee der Länge (τό πρώτον μήκος), der Breite und der Tiefe, sowie von einer Zuordnung dieser Ideen zu den Erkenntnisfunktionen νοΰς, επιστήμη, δόξα, αΐσθησις. Wenn dann noch von einer Gleichsetzung von Ideen, Prinzipien und „Zahlen" berichtet wird, liegt doch nichts näher als die Annahme, in jener Konzeption seien die konstitutiven Prinzipien der Gegenstände wie des Erkennens auch als „Zahlen" bezeichnet worden. Die Seele ist also im Hinblick auf ihre Erkenntnisfunktionen bereits durch bestimmte „Zahlen" charakterisiert: warum konnte sie dann nicht auch im Hinblick auf ihr Bewegungs-, ihr Handlungsvermögen als eine „Zahl" charakterisiert werden, eben als diejenige „Zahl", die die Kategorie der Selbstbewegung, der Handlung, ist? Durch die Hinzufügung von „sich selbst bewegend" sollte doch wohl die Gefahr abgewehrt werden, in dieser „Zahl" immer noch eine quantitative Bestimmtheit zu sehen3. 6) In Met. X I I I 6 — 7 berichtet Aristoteles, nach gewissen Denkern bestünden die Idealzahlen aus nichtkommensurablen (άσύμβλητοι) Einheiten. Er setzt bei seiner ablehnenden Kritik voraus, daß es sich bei den „Idealzahlen" immer noch um mathematische Zahlen handelt. Hält man von dem kritisierten Gedanken jedoch nur dies fest, daß die Inkommensurabilität der

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Doch scheint gerade Aristoteles dieser Gefahr erlegen zu sein, da seine Kritik an dieser Definition (in Top. IV 3, 123 a 23—26 und V I 3, 140 b 2—5) nur verständlich wird, wenn man annimmt, er habe dabei den Terminus „αριθμός" im mathematischen Sinne verwendet. Einmal (123 a 23—26) sagt er nämlich, die Seele, die an der Gattungsbestimmtheit „Leben" teilhabe, könne nicht auch noch eine Art der Zahl sein, weil keine Zahl fähig sei zu leben — das andere Mal (140 b 2—5) meint er: das Definitionsstück „Zahl" sei überflüssig und könne weggelassen werden, weil die Seele nach Piaton schon allein durch das Sich-selbst-Bewegen definiert sei.

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Aufbaustücke (Monaden) zur Folge hat, daß keine Idealzahl auf eine andere oder auf ein mehreren Idealzahlen gemeinsames Moment zurückgeführt werden kann, so wird man dabei daran erinnert, daß auch die Kategorien als oberste Gattungen nicht mehr aufeinander oder auf eine übergeordnete Größe zurückgeführt werden können. Man wird sich daher fragen müssen, ob diese Gemeinsamkeit eine rein zufällige ist 4 . 7) Eine weitere Gemeinsamkeit weisen die Idealzahlen (besonders nach Met. X I I I 8, 1 0 8 4 a 1 2 — b 2) und die Kategorien (wenigstens nach den Aufzählungen in der „Kategorienschrift" und in der „Topik") auf: die geheimnisvolle Zehnzahl. Bezüglich der Idealzahlen wird als Begründung lediglich das Vollkommensein der Zehnzahl angegeben (1084 a 2 9 — 3 0 ) , bezüglich der Kategorien findet sich im C A gar keine Begründung. Im letzteren Fall muß sie nach der Meinung der griechischen Kommentatoren (ζ. B. Simpl., In Cat. 1 3 und 67 f.) zurückgeführt werden auf die Zehnzahl derjenigen obersten Gattungen, die der Pythagoreer Archytas in seiner Kategorienabhandlung (als Titel werden manchmal überliefert: „Περί των καθόλου λόγων ή περί τοΰ παντός" oder: „περί γενών") behandelt habe. Doch ob Archytas wirklich eine derartige Schrift verfaßt hat, ist nicht sicher5. Ziemlich sicher ist jedoch, daß die Zehnzahl der aristotelischen Kategorientafel pythagoreischen Ursprungs ist. Für die Pythagoreer war die Zehn die vollkommene Zahl; in Met. I 5 (986 a 22 ίί.) wird den Pythagoreern eine Zehnertafel mit fundamentalen Gegensatzpaaren zugeschrieben. Auch bei

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Man könnte versucht sein, auch von dem Verhältnis des „Früher und Später", in dem gerade die Idealzahlen — nicht die mathematischen Zahlen — nach Met. X I I I 6, 1080 b 1 1 — 1 6 (vgl. dazu den Kommentar des Alexandras: 745, 20 ff.) zueinander stehen, zu dem „Früher und Später", in welchem die Kategorie» zueinander — vor allem die Substanzkategorie zu den anderen — stehen (ζ. B. nach Met. V I I 1 und X I I 1 , 1069 a 19 ff.), eine Verbindung herzustellen, zumal in EN I 6, 1096 a 17—23 aus dem Fehlen einer gemeinsamen Idee von allem, das — wie die Zahlen — im Verhältnis des „Früher und Später" zueinander steht, auch auf das Fehlen eines gemeinsamen Begriffs von dem sich nach den Kategorien differenzierenden Guten geschlossen wird. Doch steht einem solchen Versuch einiges im Wege: Die Zahl, die sonst im CA (ζ. B. Cat. 6, 5 a 23—33 und 12, 14 a 29—35) durch das „Früher und Später" ihrer Glieder charakterisiert wird, ist die mathematische Zahl·, und audi in der erwähnten Stelle aus EN I 6 dürfte die mathematische Zahl gemeint sein. Wenn in Met. X I I I 6 gerade den Idealzahlen — nicht den mathematischen Zahlen — das Verhältnis des „Früher und Später" reserviert wird, so ist dies mit dem, was ζ. B. an den genannten Stellen der Kategoriensdirift gesagt wird, sowie mit anderen Charakterisierungen der Idealzahlen wohl kaum zu vereinbaren. Was die antiken Kommentatoren als Stücke davon ausgeben, dürfte von Schriften des 1. Jh. v. Chr. stammen; vgl. F. Schulte, Archytae qui ferebantur de notionibus universalibus et de oppositis libellorum reliquiae, Phil. Diss. Marburg 1906; und G. Hartenstein, De Archytae Tarentini fragmentis philosophicis dissertatio, Lipsiae 1833.

Von den sog. Idealzahlen

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dem in Met. X I I I 8 gegebenen Hinweis auf die Vollkommenheit der Zehnzahl dürften pythagoreische Vorstellungen Pate gestanden haben. In beiden Fällen dürfte die Zehnzahl eine gemeinsame Wurzel haben. Kündigt sich damit nicht eine noch größere Gemeinsamkeit, ja, vielleicht gar eine Identität zwischen Idealzahlen und Kategorien (die nicht dieselben zu sein brauchen wie die als aristotelisch überlieferten) an? Es gibt ein paar antike Texte, die durch ihr Eingehen auf die Zehnzahl eine Gleichsetzung von Idealzahlen und Kategorien mindestens nahelegen: a) Das ist einmal die — gewiß ziemlich dunkle — Stelle in Met. X I I I 8, 1084 a 12 ff., wo Aristoteles sagt, bei der Beschränkung auf die Zahl Zehn würden die Ideen nicht ausreichen, nicht einmal für die Arten von Lebewesen. Daraus ist doch zu entnehmen, daß auch Aristoteles noch die zehn Idealzahlen mit zehn Gattungsbegriffen, -ideen, in Verbindung gebracht hat. b) Sodann wird ebenfalls in Met. X I I I 8 (1084 a 32 ff.) etwas von einer Konzeption angedeutet, nach welcher den zehn Idealzahlen zehn Bestimmtheiten entsprachen, wie: das Leere, die Verhältnisgleichheit, das Ungerade, Bewegung, Ruhe, Gutes, Böses, also Bestimmtheiten, die bei den Pythagoreern sehr wahrscheinlich alle den Rang von Kategorien einnahmen6. c) Simplikios berichtet in' seinem Kommentar zur Kategorienschrift 7 , Archytas habe in pythagoreischer Manier versucht, den Grund dafür anzugeben, daß es nur zehn Prinzipien gebe. Archytas habe die Ordnung und das Begrenztsein jedes Gegenstandsbereichs auf die Zahl zurückgeführt. Dabei sei die Zehn für ihn die alles umfassende Zahl. So werde dann auch billigerweise alles in jeweils zehn (Gattungen) gegliedert, die Allheit der Ideen soll in zehn (Bereichen) bestehen und Idealzahlen soll es auch zehn geben; ferner hätten die äußeren Gliedmaßen des (menschlichen) Körpers zehn Teile und die Elemente der ganzen Sprache (oder des ganzen Denkens) seien ebenfalls zehn der Zahl nach. — Daraus kann wieder entnommen werden, daß die Beschränkung der Anzahl der Idealzahlen wie auch die der Kategorien (τά στοιχεία τοΰ παντός λόγου) auf zehn eine gemeinsame Wurzel hat: nämlich die pythagoreische Würdigung dieser Zahl als einer heiligen; doch kann hieraus noch nicht auf eine völlige Identität von Idealzahlen und Kategorien geschlossen werden.

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Dunkel ist dabei freilich, warum der eine Teil dieser Gruppe (ζ. B. Bewegung und Ruhe, Gutes und Böses) den Prinzipien, der andere den „Zahlen" zugeordnet wird. 68.22—28 (ed. Kalbfleisch): 'Αρχύτας δέ Πυθαγορικώς έπιχειρών έπί τάς άρχάς δγει πάσας των δντων τήν αίτίαν τοΰ των δέκα άριθμοΰ. τέχνην γάρ πδσαν καί έπιστήμην φησιν τεταγμένον τι είναι καί ώρισμένον πράγμα· τό δέ τοιούτον έν άριθμφ άφορίζεσθαι· τον δέ σύμπαντα αριθμόν δεκάδα είναι, καί εΐκότως δρα τά πάντα είς δέκα διηρησθαι καί τά είδη πάντα δέκα είναι καί τούς είδητικούς άριθμούς δέκα ύπάρχειν, ίτι δέ και τά άκρωτήρια τοϋ σώματος Ιχειν δέκα μέρη· καί τά στοιχεία ουν του παντός λόγου δέκα είναι.

404

Anhang I I

d) Ebenfalls Simplikios schreibt in seinem Kommentar 2x1 De An. I 2 8 bezüglich gewisser Denker pythagoreischer und platonischer Herkunft, sie hätten die Ideen „Zahlen" genannt, da diese die ersten Ausgliederungen aus der unteilbaren Einheit seien, und die Allheit der Ideen hätten sie durch die Zehnzahl dunkel anzudeuten versucht. — Demnach haben jene Denker die (Ideal-) Zahlen mit den Ideen gleichgesetzt und geglaubt, die Allheit der Ideen werde durch zehn Idealzahlen repräsentiert. Für eine quantitative Auslegung der Idealzahlen wird also kein Anhaltspunkt geliefert. Den Versuch, die Allheit der Ideen durch zehn Idealzahlen repräsentiert sein zu lassen, kann man sich nur so erklären, daß dabei die zehn Idealzahlen für die zehn höchsten, das All der Ideen unter sich aufteilenden Ideen standen. Die Gleichsetzung der Idealzahlen mit den Kategorien wird zwar nicht ausgesprochen, ist aber doch involviert. e) Nikomachos v. Gerasa kommt in seiner „Einführung in die Arithmetik" (ed. Hoche, 122.11 ff.) bei der Aufzählung von zehn Formen der Analogie auch auf die pythagoreische Meinung zu sprechen, nach der die Zehn die vollkommenste Zahl sei; er fügt hinzu, von dieser Zahl hätten sowohl die Formen der Analogie wie auch die sogenannten Kategorien ihre Mengenbestimmung erhalten9. Jamblichos gebraucht in seinem Kommentar dazu10 statt „κατηγορίαι" den Ausdruck „01 των δντων απάντων λόγοι", womit die Nähe zu den Idealzahlen als den obersten Ideen schon eher angedeutet ist u . Noch weiter geht schließlich Boethius in seiner Schrift „Institutio arithmetica" (die sich ebenfalls eng an die Schrift des Nikomachos anschließt) n : in der Beschreibung der zehn Prädikamente durch Aristoteles und vorher durch Archytas könne man offensichtlich die pythagoreische Zehnzahl finden, zumal auch Piaton, der eifrigste Erforscher der pythagorei8

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ed. Hayduck, 28. 22—24: . . . άριΦμούς λέγοντες τά είδη ώς πρώτα διακεκριμένα της άμερίστου ένώσεως . . . χό μέν παντελές των ειδών πλήθος διά της δεκάδος ήνίττοντο. Nikomachos, Introductio . . . , 122.11 ff.: . . συμπληροϋντες τόν δέκατον άριϋμόν κατά τό τοις Πυθαγορικοΐς δοκοϋν ώς τελειότατον, καθ'δν καΐ at δέκα σχέσεις ώφθησαν ήμΐν πρό βραχέος ποσότητα λαμβάνουσα^ και at δέκα λεγόμενοι κατηγορίαι . . A u s f ü h r l i c h e r e s dazu kündigt er (123. 2—3) zwar an, doch ist ungewiß, ob uns der betreffende Text erhalten geblieben ist. In Nicomachi arithmeticam introductionem, ed. H. Pisteiii, Leipzig 1894; 118. 9—15. Einen ähnlichen Ausdruck gebraucht Jamblichos in: „Protreptikos* (ed. Pistelli, Leipzig 1888, 19. 18 ff.), nämlich: Βτό τοϋ παντός λόγου σύστημα"; dieses System soll umfassen: τά είδη πάντα τών δντων καΐ αί σημασίαι . . . των όνομάτων τε καΐ βημάτων. ed. Friedlein, Leipzig 1867, p. 139: Inde etiam in Aristotelica atque Archytae prius decern praedicamentorum descriptione Pythagoricum denarium manifestum est inveniri; quandoquidem et Plato, studiosissimus Pythagorae disciplinae, secundum eandem disputationem (oder: dispositionem) dividit, et Archytas Pythagoricus ante Aristotelem, licet quibusdam sit ambiguum, decern haec praedicamenta constituit.

Von den sog. Idealzahlen

sehen Lehre, nach derselben Gliederung eingeteilt habe und der Pythagoreer Archytas schon vor Aristoteles — was allerdings manche anzweifelten — diese zehn Prädikamente zusammengestellt habe. — Hier wird also eine enge Verbindung zwischen der Zehnergliederung der Prädikamente bei Archytas und der bei Aristoteles sowie einer bestimmten Zehnergliederung bei Piaton gesehen. Doch welche Zehnergliederung bei Piaton ist gemeint? Man wird mindestens soviel annehmen dürfen, daß Boethius jene meint, die als Entsprechung der dem Aristoteles wie audi der dem Archytas zugeschriebenen Kategorientafeln betrachtet werden kann: also eine Zehnergliederung der Ideen. Und da die Zehnzahl bei Piaton nur in der Idealzahlenlehre eine Rolle spielt, dürfte — für Boethius — jene der aristotelischen Kategorientafel entsprediende Zehnergliederung der Ideen identisch sein mit der Zehnzahl der Idealzahlen. Es sei zum Schluß nochmals betont, daß mit dieser Zusammenstellung von Texten zur Idealzahlenlehre das Verhältnis zwischen den Idealzahlen und den Kategorien noch nicht als hinreichend geklärt — und als endgültig im Sinne einer Identität entschieden — betrachtet werden kann.

LITERATURVERZEICHNIS ι) Benutzte Textausgaben von Schriften des CA und konsultierte Kommentare zur „Metaphysik" Aristotelis Categoriae et Liber De Interpretatione Recognovit brevique adnotatione critica instruxit L. Minio-Paluello. Oxford 1949. Aristotle's Prior and Posterior Analytics A revised text with introduction and commentary by W. D. Ross. Oxford 1957 (First Edition: 1949). Aristotelis Topica et Sophistici Elendii Recensuit brevique adnotatione critica instruxit W. D. Ross. Oxford 1958. Aristotle's Physics A revised text with introduction and commentary by W. D. Ross. Oxford 1936. Aristotelis De Caelo libri quattuor Recognovit brevique adnotatione critica instruxit D. J. Allan. Oxford 1936. Aristotle, De Anima Edited, with introduction and commentary, by Sir David Ross. Oxford 1961. Aristotle's Parva Naturalia A revised text with introduction and commentary by Sir David Ross. Oxford 1955. Aristotle's Metaphysics A revised text with introduction and commentary by W. D. Ross. V o l . I — I I . Oxford 1953 (First Edition: 1924). Aristotelis Metaphysica Recognovit brevique adnotatione critica instruxit W. Jaeger. Oxford 1963 (First published 1957). Aristotelis quae feruntur Magna Moralia Recognovit F. Susemihl. Leipzig 1883. [Aristotelis Ethica Eudemia] Eudemi Rhodii Ethica Adiecto De Virtutibus et Vitiis Hbello recognovit F. Susemihl. Ed. stereotypa, Amsterdam 1967 (Nachdruck der 1. Auflage von 1884). Aristotelis Ethica Nicomachea Recognovit brevique adnotatione critica instruxit I. Bywater. Oxford 1949 (First published 1894). Alexandras v. Aphrodisias. — Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria . . . ed. Michael Hayduck, Berlin 1891 (Commentaria in Aristotelem Graeca . . . , Vol. I).

4o8

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Namenregister Akademie (alte), akademisch 19, 26, 8z f., 88, 90 ff., 149 f., 153, 156, 163 ff., 184 ft., 191 ff·, 2 7 1 1 , 280 f., 288, 294—300, 302, 324 f., 338 ff., 345, 348, 352 f., 355 f., 360—370, 374, 375 Anm. 3, 377 ff., 389 ff., 399 ff. Albertus Magnus 19 Anm. 1, 104 Anm. 28,188, 202 Anm. 79, 213 Anm. 88 Alexandras v. Aphrodisias 25, 26 Anm. 7, 27, 63, 64 Anm. 70, 161, 163 f., 188, 213 Anm. 88, 259, 282 Anm. 193, 285, 395 f-, 399 f·, 402 Anm. 4 Alexandras (d. i. Pseudo-Alexandras) 125 Anm. 22, 130 Anm. 26, 143 Anm. 44, 146 Alexander v. Haies 19 Anm. 1 Andronikos v. Rhodos 20, 397 f. Antisthenes 255 Antonius Andreas 260 ff. Archytas (d. i. Pseudo-Archytas) 402 ff. Aristoteles, aristotelisch s. Inhaltsverzeichnis Aristoxenos 82 Anm. 6, 96 Arnim, Hans von 83 Anm. 10, 135 Arnisaeus, Henning 202 Anm. 79 Asklepios 26 Anm. 7, 125, 188, 259, 282 Anm. 193, 285, 392, 395 f., 398, 400 Anm. 1 Augustinus 19, 77, 381 f. Averroes 27, 36 Anm. 24, 62 Anm, 65, 188 Avicenna 1, 125 Bacon, Francis 383 f. Baumgarten, A.G. 3, 264 Anm. 159 Boethius 6, 19 Anm. 1, 77, 404 f. Bonitz, H. 48, 62, 128 Anm. 24, 214 Anm. 89 Brentano, Franz 36 Anm. 24, 62 f., 67 Anm. 76 Buddeus, J . Fr. 111

Cassirer, Heinrich 36 Anm. 24, 40 Anm. 30, 62 Anm. 65, 67 Anm. 76 Cohen, H. 5 Decarie, V. 1 9 1 Descartes 383 f. Dirlmeier, Fr. 83 Anm. 10 Donat, J . 268 Duns Scotus 7, 323 Elders, L. 1 1 2 f., 250 Anm. 130, 326 Anm. 227, 328 Anm. 231, 342 f. Anm. 241 Eleaten 275 ff. Eukleides von Megara 78 Fichte, J. G . 2 66 Fichte, I. H. 267 Fink, E. 387 Fonseca, Petrus 2, 25 Anm. 6, 27, 55, 124 f., 179 Anm. 67, 188, 202 Anm. 79, 260 ff. Frantz, J . 264 Anm. 159 Göckel, R. 15 Anm. 31, 34 Anm. 18 Gohlke, Paul 55, 135 f. Gredt, Josef 268 Gutberiet, Constantin 268 Hamlyn, D. W. 37 Anm. 26 Hartenstein, G. 402 Anm. 5 Hartmann, Nicolai 4, 15 Anm. 30 Hegel 266, 383 Heidegger, Martin 387 Herakleitos 219 Anm. 95, 278 Hessen, Johannes 13 Hobbes, Thomas 383 f. Huber, Gerhard 382 Anm. 5 Jaeger, Werner 110, Anm. 24, 134 f. Jakob, L. H. 266

112,

122 f.,

128

Namenregister

4i4 Jamblidios 404 Javellus, Chrysostomus 2 Anm. 2

Parmenides 48 f., 78, 196, 279, 301 Peiipatos, Peripatetlker (ältere) 390,

Kant 2 ff., 69 Anm. 77, 71 Anm. 81, 258,

Philipp, der Kanzler 19 Anm. 1 Philoponos 36 Anm. 24, 58 f. Piaton, platonisch 6, 10, 19, 23 ff., 28£., 4 3 , 46 f-, 49, 55, 58 f., 6 3 , 65 Anm. 7 1 , 68 f. Anm. 7 7 , 7 1 , 78 ff., 82 f., 88, 90 ff.,

264 ff., 269, 3 8 3

Knittermeyer, Hinridi 5 Krug, W. T. 3 Anm. 6, 266 Kurfeß, H. 62 Anm. 68 Kynast, Reinhard 54 Anm. 44 Lask, Emil 4 Lauer, C. 13 Anm. 27 Leibniz 258, 263 f., 269 Lewalter, Ernst i n Anm. 2, 262 Anm. 152 Lewinsohn, Willi 214 Anm. 89, 223 Anm. 98, 254 Anm. 1 3 8 u. 1 3 9 Locke, John 263 Löwith, Karl 383 Lötz, J. B. 12 Anm. 26 Lotze, Hermann 218 Anm. 94, 266 Maaß, J. G. E. 264 Anm. 160 Maier, Heinrich 48, 214 Anm. 89, 223 Anm. 98, 2 5 0 Anm. 1 3 1 Mansion, Augustin 1 1 2 , 1 3 6 Marius Victorinus 381 Martin, Gottfried 204 Anm. 81, 324 Anm. 226

Martini, Cornelius 33 Anm. 18 Martini, J. 34 Anm. 18 Marx, K. 383 Maurus, Silvester 36 Anm. 24, 188, 213 Anm. 88 Melanchton, Philipp 2 Melissos 275, 277 Merlan, Philip 1 1 2 f., 136 f., 1 9 1 , 282 Anm. 1 9 3 , 380 Muskens, G. L. 1 1 2 f. Natorp, Paul

5 , 1 1 2 , 1 2 8 Anm. 2 4 , 1 3 3 f.,

241, 316

Neukantianer (hier: Südwestdeutsche Schule) 4 f. Neupiatonismus 10, 380 Neuscholastik 5 f., 9, 11 ff., 268 f. Nietzsche, Fr. 387 Nikomachos v. Gerasa 404 Nink, C. 1 2 Anm. 26 Oehler, Klaus 47 Anm. 39, 48, 55 Owen, G. E. L. 1 1 3 Anm. 9 Owens, Joseph 1 1 2 f.

396 ff.

96 ff., 1 0 5 , 1 2 6 , 1 4 8 ff., 1 5 3 , 1 8 4 ff., 1 9 3 , 1 9 6 , 2 1 3 f., 2 5 4 ff., 280 ff., 287 f., 2 9 3 — 3 0 0 , 3 0 2 , 3 2 4 f., 3 3 0 , 3 3 2 f., 3 3 8 ff., 344 ff.,

165 f., 2 7 1 f., 3 0 7 f.,

352 f., 355, 360—371, 373 f-, 375 Anm. 3, 377 ff·» 389 ff·. 397 ff· Plotinos 6, 149, 380 f. Protagoras 330 ff. Pythagoreer, pythagoreisch 280 ff., 299, 3 3 2 f., 3 3 8 ff., 3 4 4 f., 402 ff. Raeymaeker, L. de 268 Rees, D. A. 61 Anm. 63 Rintelen, J. von 13 Anm. 27 Rodier, G. 36 Anm. 24 Roesser, Columbanus 3 Anm. 7 Ross, Sir David 34 Anm. 20, 35, 45 Anm, 3 3 , 48, 62 Anm. 64, 7 7 , 1 2 4 , 1 3 0 , 135y 2 1 4 Anm. 89, 342 f. Anm. 2 4 1 Routila, Lauri 1 1 3 Anm. 9 Rüfner, Vinzenz 383 Anm. 7 Ryan, Eugene E. 77 Sagittarius, Thomas 15 Anm. 31 Scharf, J . 15 Anm. 31 Scheibler, Chr. 15 Anm. 31 Scheler, Max 13, 387 Schulmetaphysik (Schulphilosophie), deutsche 6, 9 ff., 25 Anm. 6, 70 Anm. 79^ 202 Anm. 79, 263 f. Schulte, F. 402 Anm. 5 Schwegler,A. 48, 122 ff., 188 Sigwart, Chr. 258, 263 Anm. 157 u. 158, 268 f. Simpükios 36 Anm. 24, 393 Anm. 5, 394,. 396, 402 ff. Soner, Ernst 262 f. Sophonias 36 Anm. 24, 65 Anm. 70 Sperlette, J. i j Anm. 31 Speusippos 81, 97 f., 102 f., 152 f., 193, 204

Steinbüchel, Theodor 13 Anm, 27 Stöckl, Albert 9 Anm 22, 11 Anm. 25,. 268

Namenregister

415

Suarez, Frandscus ι Anm. 1, 2, 7, 9 Anm. 22, 25 Anm. 6, 202 Anm. 79, 204 Anm. 82, 324 Syrianos 188, 259, 395, 398

Ueberweg, Fr. 268 Ulrici, H. 266

Tetens, Joh. Nie. 70 Anm. 79 Themistios 36 Anm. 24, 62 Anm. 68, 65 Anm. 70 Theophrastos 62 Anm. 68, 104 Anm. 28, 392 ff., 397, 400 Thomas von Aquin 2 f., 8 f., 11 ff., 19 Anm. 1, 25 Anm. 6, 27, 36 Anm. 24, 63, 65 Anm. 70, 77, 95, 104 Anm. 28, 125, 179 Anm. 67, 188, 191, 202, 204 Anm. 81, 213 Anm. 88, 259, 345 Anm. 242, 354 f 7 385 ff· Thomasius, Jakob m Timpler, Clemens 15 Anm. 31, 202 Anm. 79 Trendelenburg, A. 36 Anm. 24, 62 Anm. 65 Twesten, A. D. Ch. 266

Wagner, Hans 54 Anm. 45, 141 Anm. 41, 250 Anm. 129 Walter, Julius 62 Wehrli, Fr. 397 Weiße, Chr. H. 267 Wiele, J. van de 77 Wilhelm von Moerbeke 125 Anm. 19 Wilhelm von Ockham 323 Wilpert, Paul 62 Anm. 68 Wolff, Christian 2, 4, 264 Anm. 159 Wundt, Max 1 Anm. 1, 2 Anm. 3, 13 Anm. 27, 14, 15 Anm. 31, 34 Anm. 18

Vico, G. B. 383 ff. Vries, J. de 9 Anm. 22

Xenokrates

81, 401

Zimmermann, Albert 111 Anm. 1 Zocher, Rudolf 4 Anm. 8