Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft im europäischen Zivilprozessrecht: Allgemeine Lehren, Anwendung im Patent- und Kartelldeliktsrecht 9783161536694, 9783161536649

Die Auslegung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft im europäischen Zivilprozessrecht wirft vor dem Hintergrund de

155 79 5MB

German Pages 400 [402] Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Cover
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
A. Anlass und Ziel der Untersuchung
B. Abgrenzung zu früheren Untersuchungen
C. Themeneingrenzung
D. Gang der Untersuchung
1. Teil: Allgemeine Lehren
Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
A. Methodische Vorüberlegungen
B. Anwendung des klassischen Auslegungskanons auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
I. Die historische Begründung des Konnexitätserfordernisses
II. Keine systematische Einordnung bei Art. 28 EuGVVO oder Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO
1. Vermeintliche Eignung wegen des ähnlichen Wortlauts
2. Tatsächliche Untauglichkeit aufgrund der unterschiedlichen Funktion
a) Funktionaler Abgleich mit Art. 28 EuGVVO
b) Funktionaler Abgleich mit Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO
III. Telos des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
1. Primärziel: Entscheidungsharmonie
2. Sekundärziel: Prozessökonomie
IV. Ergebnis
C. Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts
I. Die restriktive Auslegung der besonderen Gerichtsstände
1. Herleitung für das europäische Zuständigkeitsrecht
a) Wortlaut
b) Systematik
c) Historie
d) Sinn und Zweck
e) Fazit
2. Verwendung in der Rechtsprechung des EuGH
3. Auswirkungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf die Beklagtenrechte
4. Ergebnis zur restriktiven Auslegung
II. Das Gebot der Vorhersehbarkeit der besonderen Gerichtsstände
1. Herleitung für das europäische Zuständigkeitsrecht
2. Verwendung in der Rechtsprechung des EuGH
a) Zeitpunkt der Beurteilung der Vorhersehbarkeit
b) Unterprinzipien
3. Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft
4. Ergebnis zum Gebot der Vorhersehbarkeit
D. Ergebnis
Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen
A. Die Gefahr widersprechender Entscheidungen
I. Beurteilungsgrundlage der Prüfung der Widerspruchsgefahr
1. Die Beziehung zwischen Anker- und Annexklage
2. Irrelevanz von Einwendungen der Beklagten
3. Fazit
II. Dieselbe Sach- und Rechtslage in der Judikatur des EuGH
1. Dieselbe Sach- und Rechtslage
2. Sprunghafte Konkretisierung derselben Rechtslage
a) Die materiell-rechtliche Qualität der Rechtsgrundlagen
aa) Aussagekraft der Entscheidung Réunion européenne?
bb) Klarstellung mit der Entscheidung Freeport
b) Die nationale Herkunft der Rechtsgrundlagen
aa) Restriktive Konkretisierung durch die Entscheidung Roche Nederland
bb) Aufgabe der Einschränkung durch die Entscheidung Painer
3. Verwirrende Vorgaben zu derselben Sachlage
4. Verbleibende Unklarheiten in der Rechtsprechung des EuGH
III. Eigenständige Konkretisierung der einheitlichen Sach- und Rechtslage
1. Vorüberlegungen
a) Die prospektive Beurteilung des Widerspruchs
b) Die einheitliche Sach- und Rechtslage als Gleichung mit zwei Unbekannten
c) Grundannahme zur einheitlichen Sachlage
2. Die einheitliche Rechtslage
a) Spannungsverhältnis zur europäisch-autonomen Auslegung
b) Vollharmonisierte Rechtsgebiete
c) Teilharmonisierte Rechtsgebiete: Notwendigkeit einer konkreten Gefahrenprognose?
aa) Unklare Position des EuGH
bb) Abstrakte Widerspruchsgefahr des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
cc) Fortwirkung der einheitlichen Sachlage in die Rechtslage
dd) Ausnahme für nur unwesentlich harmonisierte Rechtsgebiete
d) Nicht harmonisierte Rechtsgebiete
3. Die einheitliche Sachlage
a) Teilidentische Tatsachengrundlage
b) Zusammenhang der Lebensverhältnisse
4. Zusammenfassung der Vorgaben zur einheitlichen Sach- und Rechtslage
IV. Ergebnis zur Gefahr widersprechender Entscheidungen
B. Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten
I. Notwendigkeit zur Einführung des Kriteriums
II. Unklare Position des EuGH
III. Abstrakte Definition des streitgenössischen Kontakts
IV. Keine unbillige Benachteiligung des Klägers
V. Zusammenfassung der Vorgaben zum streitgenössischen Kontakt
C. Konnexität und gemeinsame Haftung
I. Die Gesamtschuld als Paradebeispiel von Konnexität?
1. Garantie der Identität der Sach- und Rechtslage
2. Nachteile des Rückgriffs auf das materielle Recht
a) Vorverlagerung der Begründetheitsprüfung in die Zulässigkeit
b) Spannungsverhältnis zur europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
3. Notwendigkeit zur eigenständigen Prüfung des streitgenössischen Kontakts
II. Übertragung auf andere Fallgruppen der gemeinsamen Haftung
D. Ergebnis
Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung
A. Die Anforderungen an die Ankerklage
I. Prüfungsstandort: Konnexität, Missbrauchsvorbehalt oder eigenständiges Tatbestandsmerkmal?
1. Nachteile der Verortung beim Missbrauchsvorbehalt
2. Vorteile der Einführung eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals
II. Die Erfolgsaussichten der Ankerklage
1. Erfolgsaussichten in der Zulässigkeit
a) Die Entscheidung Reisch Montage
b) Analyse der Entscheidungsbegründung
aa) Zur Argumentation des EuGH mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit
bb) Zur Argumentation des EuGH mit dem Gebot der europäisch-autonomen Auslegung
c) Die vorzugswürdige Lösung
2. Erfolgsaussichten in der Begründetheit
a) Ausgangspunkt: Die Gefahr der Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft
b) Verifizierung der Rechtsausführungen des Klägers
aa) Ansätze aus der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung und Literatur
(1) Deutschland
(2) England
(3) Irland
(4) Frankreich
bb) Eigene Konkretisierung der Prüfungsintensität
c) Verifizierung der vom Kläger behaupteten Tatsachen
aa) Die den Sachzusammenhang begründenden Tatsachen: Einfach oder doppelrelevant?
bb) Ansätze aus der mitgliedstaatlichen Literatur und Rechtsprechung
(1) Deutschland
(2) England
(3) Frankreich
(4) Österreich
cc) Eigene Konkretisierung der Prüfungsintensität
d) Vereinbarkeit mit der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
aa) Vereinbarkeit mit dem effet utile des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
bb) Keine entgegenstehende Auffassung des EuGH
3. Ergebnis
III. Die Rechtshängigkeit der Ankerklage
1. Anwendbarkeit des Grundsatzes der perpetuatio fori auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
2. Perpetuatio fori auch bei Rücknahme der Ankerklage
3. Nachträgliches Entfallen der Zuständigkeit nur bei offensichtlich missbräuchlicher Klagerücknahme
IV. Hierarchie der Klagen: Der Ankerbeklagte als key defendant?
V. Zusammenfassung der Anforderungen an die Ankerklage
B. Der subjektive Missbrauchsvorbehalt
I. Aussagen des EuGH
II. Echo in der Literatur
III. Ablehnung eines subjektiven Missbrauchsvorbehalts
1. Methodische Defizite bei der Herleitung des Missbrauchsvorbehalts
a) Keine analoge Anwendung des Art. 6 Nr. 2 Hs. 2 EuGVVO
b) Allgemeines Missbrauchsverbot im europäischen Zivilprozessrecht?
2. Inhaltliche Bedenken bei der Anwendung des Missbrauchsvorbehalts
3. Praktische Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Missbrauchsvorbehalts
IV. Fazit zum subjektiven Missbrauchsvorbehalt
C. Ergebnis
Kapitel 4: Wohnsitz der Streitgenossen und Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO
A. Wohnsitz der Streitgenossen
I. Internationale Wohnsitzgleichheit der Streitgenossen
1. Vollständige internationale Wohnsitzgleichheit
2. Partielle internationale Wohnsitzgleichheit
II. Drittstaatensachverhalte
III. Ausblick
B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO
I. Sonderkompetenzregime der Abschnitte 3–5
1. Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Annexbeklagten
a) Arbeitsvertragsstreitigkeiten
aa) Die Entscheidung Glaxosmithkline
bb) Bewertung der Entscheidung
cc) Überwindung des Wortlauts des Art. 18 Abs. 1 EuGVVO?
b) Versicherungssachen
c) Verbrauchersachen
2. Tauglichkeit von Ankerbeklagten zur Verfahrenskonzentration
3. Ergebnis
II. Auswirkungen von Gerichtsstandsvereinbarungen
1. Vereinbarung mit dem Annexbeklagten
a) Der vereinbarte Gerichtsort liegt in einem Mitgliedstaat
b) Der vereinbarte Gerichtsort liegt in einem Drittstaat
aa) Zulässigkeit der Derogation der Gerichtsstände der EuGVVO
bb) Herleitung der Derogationswirkung – anwendbare Vorschriften?
cc) Keine Ausnahme für die Derogation des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft
2. Vereinbarung mit dem Ankerbeklagten
3. Ergebnis
Kapitel 5: Zusammenfassung des allgemeinen Teils
A. Die Rechtsprechungslinie des EuGH zum Gerichtsstand der Streitgenossenschaft
B. Die eigene Auffassung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
2. Teil: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Patentrecht
A. Einführung
B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage
I. Europäisches Bündelpatent
1. Differenzierung zwischen konzentrierten und parallelen Patentverletzungen
2. Konzentrierte Verletzung des europäischen Bündelpatents
a) Die Entscheidung Solvay
b) Zulässigkeit der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei konzentrierten Patentverletzungen
c) Fazit
3. Parallele Verletzung des europäischen Bündelpatents
a) Die Entscheidung Roche Nederland
b) Unvereinbarkeit der Roche Nederland- Entscheidung mit der Konkretisierung der einheitlichen Rechtslage
c) Keine Rechtfertigung der Sonderbehandlung des europäischen Bündelpatents durch das Territorialitätsprinzip
d) Praktische Notwendigkeit zur Verfahrenskonzentration
e) Fazit
4. Ergebnis zum europäischen Bündelpatent
II. Nationale Patente
III. Ausblick: Das europäische Patent mit einheitlicher Wirkung
1. Hintergrund
2. Wirkung des Einheitspatents
3. Aufbau der Europäischen Patentgerichtsbarkeit
4. Regelung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft im EPGÜ
5. Fazit zum europäischen Patent
IV. Ergebnis
C. Verletzungshandlung – Die einheitliche Sachlage
I. Identische Ausführungsformen
1. Herleitung der Voraussetzung
2. Abstraktheit der angegriffenen Ausführungsform
II. Keine identischen Benutzungshandlungen
III. Ergebnis
D. Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten
I. Notwendigkeit der Einführung des Kriteriums
II. Analyse typischer Verletzerbeziehungen
1. Gemeinschaftliches Vorgehen
a) Widersprüchliche Mindestanforderung in Bezug auf parallele Verletzungsklagen
b) Hinreichende, nicht aber notwendige Form des streitgenössischen Kontakts
2. Konzernsachverhalte
a) Untauglichkeit der spider in the web-Doktrin zur Einschränkung der Konzentration paralleler Verletzungsklagen
b) Eigener Ansatz
aa) Anwendung der Vorgaben zum streitgenössischen Kontakt auf den klassischen Unterordnungskonzern
bb) Vor- und Nachteile der hier vertretenen Lösung
3. Vertragsbeziehungen
4. Verletzerketten
a) „Echte“ Verletzerketten
b) „Unechte“ Verletzerketten
aa) Handeln auf derselben Marktstufe
bb) Betroffenheit verschiedener Splitter eines europäischen Bündelpatents
III. Zusammenfassung zur Verletzerbeziehung
E. Ergebnis
Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht
A. Einleitung
I. Einführung in die Thematik
II. Fokus auf follow on-Verfahren wegen der Verletzung des EU-Kartellverbots durch Hardcore- Kartelle
III. Gang der Untersuchung
B. Der einfache Fall: Sämtliche Beklagte sind Adressaten der Bußgeldentscheidung (follow on-Verfahren i.e.S.)
I. Klage gegen am Kartellverstoß unmittelbar beteiligte Adressaten
1. Gefahr widersprechender Entscheidungen
a) Einheitliche Sach- und Rechtslage kraft einheitlichen Kartellverstoßes?
b) Betrachtung der einheitlichen Sach- und Rechtslage losgelöst von den haftungsrechtlichen Verhältnissen im Kartell
c) Betrachtung der einheitlichen Sach- und Rechtslage unter Berücksichtigung der haftungsrechtlichen Verhältnisse im Kartell
aa) Herleitung der gesamtschuldnerischen Haftung von Kartellmitgliedern
bb) Auswirkungen der gesamtschuldnerischen Haftung von Kartellmitgliedern
(1) Das Bleichmittelverfahren vor dem LG Dortmund
(2) Identität der Sach- und Rechtslage
(a) Identische Sachlage
(b) Identische Rechtslage
d) Zulässigkeit des Rückgriffs auf das nationale Haftungsrecht
e) Fazit
2. Streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten
3. Ergebnis
II. Klage gegen am Kartellverstoß nicht unmittelbar beteiligte Adressaten
1. Ausgangspunkt: Funktionaler Unternehmensbegriff der europäischen Kartellrechtspraxis
2. Gefahr widersprechender Entscheidungen
a) Gleichlauf von bußgeldrechtlicher Adressatenstellung und zivilrechtlicher Passivlegitimation kraft Bindungswirkung?
aa) Verbindliche Feststellung des Kartellverstoßes
bb) Verbindliche Feststellung auch des Verschuldens?
b) Auswirkungen des fehlenden Gleichlaufs auf die Prüfung der Widerspruchsgefahr
3. Streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten
4. Ergebnis
C. Die komplizierten Fälle: Einzelne Beklagte sind keine Adressaten der Bußgeldentscheidung (follow on-Verfahren i.w.S.)
I. Problemaufriss
II. Klage gegen Muttergesellschaften von Adressaten
1. Gefahr widersprechender Entscheidungen
a) Kartelldeliktische Verantwortlichkeit von Muttergesellschaften im Konzern
aa) Eigenständiger Kartellverstoß
bb) Haftung für den Verstoß einer Tochtergesellschaft (Zurechnung „von unten nach oben“)
(1) Die Aufzugskartell-Entscheidung des OGH
(2) Das Konzept der wirtschaftlichen Einheit aus dem Bußgeldrecht
(3) Übersetzung des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit in die Kategorien des Haftungsrechts
(4) Zurechnung des Verschuldens?
(5) Reichweite der Haftung
cc) Fazit
b) Auswirkungen auf die Prüfung der Widerspruchsgefahr
2. Streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten
3. Ergebnis zur Klage gegen Muttergesellschaften
III. Klage gegen Tochtergesellschaften von Adressaten
1. Gefahr widersprechender Entscheidungen
a) Kartelldeliktische Verantwortlichkeit von Tochtergesellschaften im Konzern
aa) Eigenständiger Kartellverstoß
bb) Haftung für den Verstoß der Muttergesellschaft (Zurechnung „von oben nach unten“)
(1) Der Ansatz des High Court
(a) Die Entscheidung Provimi
(b) Die Entscheidung Cooper Tire
(c) Die Entscheidung Toshiba
(d) Fazit
(2) Bewertung des vom High Court vertretenen Ansatzes
(a) Keine Vorgaben aus der bußgeldrechtlichen EuGH-Rechtsprechung
(b) Zulässigkeit der Zurechnung „von oben nach unten“
(c) Voraussetzungen der Zurechnung „von oben nach unten“
(d) Reichweite der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Tochtergesellschaft
cc) Ergebnis
b) Auswirkungen auf die Prüfung der Widerspruchsgefahr
aa) Die Tochtergesellschaft ist die Ankerbeklagte
bb) Die Tochtergesellschaft ist die Annexbeklagte
2. Streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten
a) Die Tochtergesellschaft ist die Ankerbeklagte
b) Die Tochtergesellschaft ist die Annexbeklagte
3. Darlegung der Erfolgsaussichten einer gegen die Tochtergesellschaft erhobenen Ankerklage
a) Die Ankerklage wird auf einen eigenständigen Kartellverstoß der Tochtergesellschaft gestützt
aa) Der Ansatz des Court of Appeal
(1) Die Entscheidung Cooper Tire
(2) Die Entscheidung Toshiba
bb) Würdigung der Rechtsprechung des Court of Appeal
cc) Notwendigkeit der Spezifizierung und Substantiierung des eigenständigen Kartellverstoßes der Tochtergesellschaft
b) Die Ankerklage wird auf den Kartellverstoß der Muttergesellschaft gestützt
4. Ergebnis zur Klage gegen Tochtergesellschaften
IV. Ergebnis
D. Derogation des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO durch Zuständigkeitsvereinbarungen
I. Gerichtsstandsvereinbarungen
1. Hintergrund
2. Zulässigkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen
3. Sachliche Reichweite allgemein gehaltener Gerichtsstandsvereinbarungen
a) Das für die Auslegung maßgebliche Recht
b) Rechtslage in Deutschland
aa) Bisheriger Meinungsstand
bb) Anwendung der Auslegungsgrundsätze
(1) Auslegungsbedürftige Klausel
(2) Wille der Parteien
(3) Keine Einschränkung für Ansprüche aus vorsätzlicher Deliktsbegehung
(4) Keine Besonderheiten bei AGB
c) Rechtslage in England
d) Fazit
4. Vereinbarkeit der Derogationswirkung mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz
II. Geltung der Erkenntnisse für Schiedsvereinbarungen
E. Ergebnis
3. Teil: Schluss
Kapitel 8: Zehn Thesen zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO
Literaturverzeichnis
Sachregister
Recommend Papers

Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft im europäischen Zivilprozessrecht: Allgemeine Lehren, Anwendung im Patent- und Kartelldeliktsrecht
 9783161536694, 9783161536649

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 320 Herausgegeben vom

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:

Jürgen Basedow, Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann

Nils Lund

Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft im europäischen Zivilprozessrecht Allgemeine Lehren, Anwendung im Patent- und Kartelldeliktsrecht

Mohr Siebeck

Nils Lund, geboren 1987; Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg und Sydney; 2007–2013 Stipendiat der Stiftung der Deutschen Wirtschaft; 2012–2014 wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Augsburg; 2014 Promotion; derzeit Rechtsreferendar am Oberlandesgericht Frankfurt am Main.

e-ISBN PDF 978-3-16-153669-4 ISBN 978-3-16-153664-9 ISSN 0720-1141 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2014  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­ tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elek­ tronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­ papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

Meinen Eltern & Sade

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2014 von der juristischen Fakultät der Universität Augsburg als Dissertation angenommen. Für die Druckfassung wurden Rechtsprechung und Literatur bis August 2014 berücksichtigt. Die Erkenntnisse der Arbeit gelten auch für die bereits verabschiedete Neufassung der EuGVVO, wobei ich auf die wenigen Änderungen im Zuständigkeitssystem an entsprechender Stelle hinweise. Der Abschluss des Werkes gibt Anlass, mich von Herzen bei allen zu bedanken, die zu seinem Gelingen beigetragen haben. Mein akademischer Lehrer Professor Dr. Wolfgang Wurmnest, LL.M. (Berkeley) hat mich als Doktorand und Mitarbeiter von Beginn an in vielfältiger Weise fachlich und persönlich unterstützt. Er hat in zahlreichen Gesprächen hilfreiche Anregungen gegeben. Gleichzeitig hat er mir durch sein Vertrauen in das Gelingen der Arbeit allen erdenklichen wissenschaftlichen Freiraum gewährt. Professor Dr. Raphael Koch, LL.M. (Cambridge), EMBA hat nicht nur das Zweitgutachten sehr zügig verfasst, sondern auch wertvolle Hinweise erteilt, die ich bei Veröffentlichung der Arbeit gerne berücksichtigt habe. Die passenden Antworten auf viele meiner Fragen zu Beginn der Bearbeitung des Themas hatte Professor Dr. Christian Heinze, LL.M. (Cambridge). Die Begeisterung für die Wissenschaft hat Professor Dr. Anatol Dutta, M. Jur. (Oxford) während meiner Zeit als wissenschaftliche Hilfskraft am Max-Planck-Institut in Hamburg geweckt. Das Interesse für das internationale Privat- und Zivilverfahrensrechts geht auf den spannenden Schwerpunktbereich von Professor Dr. Karsten Thorn, LL.M. (Georgetown) zurück. Wertvolle Hinweise aus der Praxis haben mir Dr. Ulrich Börger und Dr. Rüdiger Lahme von Latham & Watkins LLP sowie Dr. Carsten Krüger, LL.M. (UEA) von Cartel Damage Claims gegeben. Bei der Formatierung der Druckversion hat mich Frau Ingeborg Stahl hervorragend unterstützt. Schließlich möchte ich mich bei zahlreichen Freunden und Familienmitgliedern bedanken, ohne deren Unterstützung ich diese Abhandlung nicht hätte zu Papier bringen können. Alexander Sekunde hat das lange Manuskript der Arbeit mit kritischem Blick gelesen und in langen Gesprächen entscheidende Hinweise zur Verbesserung des Textes erteilt. Patrick Hauser hat wertvolle Kommentare zum Patentrechtsteil der

VIII

Vorwort

Arbeit geliefert. Mit Max Finkelmeier und Michael Schulz habe ich viele Gespräche mit engerem und weiterem Bezug zum Thema während der gemeinsamen Zeit in den Frankfurter Bibliotheken geführt. Meinen Eltern Dagmar und Nils-Christian Lund, Ute Lund, Frederike Lund und Sade Reimann gilt für weit mehr als nur ihr unermüdliches Korrekturlesen mein tief empfundener Dank. Den äußeren Rahmen zur Entstehung der Arbeit hat zum einen das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg geschaffen, wo ich als Gast stets freundlich empfangen wurde und auf zahlreiche ausländische Quellen zurückgreifen konnte. Seinen Direktoren danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe. Zum anderen ist die Arbeit in der deutschen Nationalbibliothek entstanden, die mir in Frankfurt am Main einen umfassenden Zugang zur deutschsprachigen Literatur eröffnete. Die Stiftung der Deutschen Wirtschaft hat mich durch ein ideelles und finanzielles Promotionsstipendium unterstützt. Die Studienstiftung ius vivum hat mir einen großzügigen Druckkostenzuschuss gewährt, wofür ich Professor Dr. Haimo Schack, LL.M. (Berkeley) sehr dankbar bin.

Frankfurt am Main im September 2014

Nils Lund

Inhaltsübersicht Inhaltsverzeichnis ................................................................................ XI Abkürzungsverzeichnis .................................................................... XXV Einleitung............................................................................................... 1 A. B. C. D.

Anlass und Ziel der Untersuchung .................................................. 1 Abgrenzung zu früheren Untersuchungen ....................................... 7 Themeneingrenzung ....................................................................... 8 Gang der Untersuchung ................................................................ 11

1. Teil: Allgemeine Lehren.................................................................. 13 Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO .................................................................... 14 A. B. C. D.

Methodische Vorüberlegungen ..................................................... 14 Anwendung des klassischen Auslegungskanons auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ............................................................................. 17 Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts...... 27 Ergebnis ....................................................................................... 43

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen ..................... 45 A. B. C. D.

Die Gefahr widersprechender Entscheidungen .............................. 45 Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten ..................... 75 Konnexität und gemeinsame Haftung ........................................... 82 Ergebnis ....................................................................................... 91

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung ............. 93 A. B. C.

Die Anforderungen an die Ankerklage .......................................... 94 Der subjektive Missbrauchsvorbehalt ......................................... 134 Ergebnis ..................................................................................... 141

X

Inhaltsübersicht

Kapitel 4: Wohnsitz der Streitgenossen und Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO .............................................. 142 A. B.

Wohnsitz der Streitgenossen ....................................................... 142 Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO .............. 154

Kapitel 5: Zusammenfassung des allgemeinen Teils.......................... 176 A. B.

Die Rechtsprechungslinie des EuGH zum Gerichtsstand der Streitgenossenschaft ................................................................... 176 Die eigene Auffassung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ........................ 178

2. Teil: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ................................. 181 Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Patentrecht .................................................................................... 182 A. B. C. D. E.

Einführung .................................................................................. 182 Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage ................ 184 Verletzungshandlung – Die einheitliche Sachlage....................... 209 Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten ................................................................... 214 Ergebnis ..................................................................................... 233

Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht .............................................................................. 235 A. B. C. D. E.

Einleitung ................................................................................... 235 Der einfache Fall: Sämtliche Beklagte sind Adressaten der Bußgeldentscheidung (follow on-Verfahren i.e.S.) ...................... 241 Die komplizierten Fälle: Einzelne Beklagte sind keine Adressaten der Bußgeldentscheidung (follow on-Verfahren i.w.S.) ...... 268 Derogation des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO durch Zuständigkeitsvereinbarungen .................................................... 318 Ergebnis ..................................................................................... 338

3. Teil: Schluss .................................................................................. 341 Kapitel 8: Zehn Thesen zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ............................. 342 Literaturverzeichnis ........................................................................... 348 Sachregister........................................................................................ 369

Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis .................................................................... XXV

Einleitung ........................................................................................... 1 A. B. C. D.

Anlass und Ziel der Untersuchung .................................................. 1 Abgrenzung zu früheren Untersuchungen ....................................... 7 Themeneingrenzung ....................................................................... 8 Gang der Untersuchung ................................................................ 11

1. Teil: Allgemeine Lehren ........................................................ 13 Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ..................................................................... 14 A. B.

Methodische Vorüberlegungen ..................................................... 14 Anwendung des klassischen Auslegungskanons auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ............................................................................. 17 I. Die historische Begründung des Konnexitätserfordernisses ..................................................... 17 II. Keine systematische Einordnung bei Art. 28 EuGVVO oder Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO ............................. 18 1. Vermeintliche Eignung wegen des ähnlichen Wortlauts ........................................................................ 19 2. Tatsächliche Untauglichkeit aufgrund der unterschiedlichen Funktion ............................................. 20 a) Funktionaler Abgleich mit Art. 28 EuGVVO ........... 20 b) Funktionaler Abgleich mit Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO............................................................... 22 III. Telos des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO............................................ 23 1. Primärziel: Entscheidungsharmonie ................................ 23 2. Sekundärziel: Prozessökonomie ...................................... 25 IV. Ergebnis ................................................................................ 26

XII C.

D.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts...... 27 I. Die restriktive Auslegung der besonderen Gerichtsstände ....................................................................... 27 1. Herleitung für das europäische Zuständigkeitsrecht ........ 28 a) Wortlaut ................................................................... 28 b) Systematik ................................................................ 28 c) Historie .................................................................... 30 d) Sinn und Zweck ....................................................... 32 e) Fazit ......................................................................... 34 2. Verwendung in der Rechtsprechung des EuGH .............. 35 3. Auswirkungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf die Beklagtenrechte .............................................................. 36 4. Ergebnis zur restriktiven Auslegung ............................... 38 II. Das Gebot der Vorhersehbarkeit der besonderen Gerichtsstände ....................................................................... 38 1. Herleitung für das europäische Zuständigkeitsrecht ........ 38 2. Verwendung in der Rechtsprechung des EuGH .............. 39 a) Zeitpunkt der Beurteilung der Vorhersehbarkeit ...................................................................... 39 b) Unterprinzipien ........................................................ 40 3. Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft ................................................................ 42 4. Ergebnis zum Gebot der Vorhersehbarkeit ...................... 43 Ergebnis ....................................................................................... 43

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen ..................... 45 A.

Die Gefahr widersprechender Entscheidungen .............................. 45 I. Beurteilungsgrundlage der Prüfung der Widerspruchsgefahr .............................................................. 46 1. Die Beziehung zwischen Anker- und Annexklage .......... 46 2. Irrelevanz von Einwendungen der Beklagten .................. 48 3. Fazit ............................................................................... 50 II. Dieselbe Sach- und Rechtslage in der Judikatur des EuGH .............................................................................. 50 1. Dieselbe Sach- und Rechtslage ....................................... 50 2. Sprunghafte Konkretisierung derselben Rechtslage ........ 51 a) Die materiell-rechtliche Qualität der Rechtsgrundlagen ..................................................... 51 aa) Aussagekraft der Entscheidung Réunion européenne?....................................................... 52

Inhaltsverzeichnis

B.

XIII

bb) Klarstellung mit der Entscheidung Freeport ...... 54 b) Die nationale Herkunft der Rechtsgrundlagen .......... 56 aa) Restriktive Konkretisierung durch die Entscheidung Roche Nederland ......................... 56 bb) Aufgabe der Einschränkung durch die Entscheidung Painer .......................................... 57 3. Verwirrende Vorgaben zu derselben Sachlage ................ 59 4. Verbleibende Unklarheiten in der Rechtsprechung des EuGH ....................................................................... 60 III. Eigenständige Konkretisierung der einheitlichen Sach- und Rechtslage ............................................................ 61 1. Vorüberlegungen ............................................................ 61 a) Die prospektive Beurteilung des Widerspruchs ........ 61 b) Die einheitliche Sach- und Rechtslage als Gleichung mit zwei Unbekannten ............................. 62 c) Grundannahme zur einheitlichen Sachlage ............... 63 2. Die einheitliche Rechtslage ............................................. 64 a) Spannungsverhältnis zur europäischautonomen Auslegung .............................................. 64 b) Vollharmonisierte Rechtsgebiete .............................. 65 c) Teilharmonisierte Rechtsgebiete: Notwendigkeit einer konkreten Gefahrenprognose? .................. 65 aa) Unklare Position des EuGH ............................... 66 bb) Abstrakte Widerspruchsgefahr des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO .................................................. 67 cc) Fortwirkung der einheitlichen Sachlage in die Rechtslage .................................................... 68 dd) Ausnahme für nur unwesentlich harmonisierte Rechtsgebiete .............................. 69 d) Nicht harmonisierte Rechtsgebiete ........................... 69 3. Die einheitliche Sachlage ................................................ 71 a) Teilidentische Tatsachengrundlage ........................... 71 b) Zusammenhang der Lebensverhältnisse ................... 72 4. Zusammenfassung der Vorgaben zur einheitlichen Sach- und Rechtslage ...................................................... 73 IV. Ergebnis zur Gefahr widersprechender Entscheidungen ..................................................................... 74 Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten ..................... 75 I. Notwendigkeit zur Einführung des Kriteriums ...................... 76 II. Unklare Position des EuGH................................................... 78 III. Abstrakte Definition des streitgenössischen Kontakts ........... 79

XIV

C.

D.

Inhaltsverzeichnis

IV. Keine unbillige Benachteiligung des Klägers ........................ 81 V. Zusammenfassung der Vorgaben zum streitgenössischen Kontakt .................................................... 81 Konnexität und gemeinsame Haftung ........................................... 82 I. Die Gesamtschuld als Paradebeispiel von Konnexität? ........................................................................... 83 1. Garantie der Identität der Sach- und Rechtslage.............. 83 2. Nachteile des Rückgriffs auf das materielle Recht .......... 85 a) Vorverlagerung der Begründetheitsprüfung in die Zulässigkeit ........................................................ 85 b) Spannungsverhältnis zur europäischautonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ................................................................. 86 3. Notwendigkeit zur eigenständigen Prüfung des streitgenössischen Kontakts ............................................ 89 II. Übertragung auf andere Fallgruppen der gemeinsamen Haftung ........................................................... 90 Ergebnis ....................................................................................... 91

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung .............. 93 A.

Die Anforderungen an die Ankerklage .......................................... 94 I. Prüfungsstandort: Konnexität, Missbrauchsvorbehalt oder eigenständiges Tatbestandsmerkmal? ............................ 94 1. Nachteile der Verortung beim Missbrauchsvorbehalt ...... 95 2. Vorteile der Einführung eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals ..................................................... 96 II. Die Erfolgsaussichten der Ankerklage................................... 97 1. Erfolgsaussichten in der Zulässigkeit .............................. 97 a) Die Entscheidung Reisch Montage ........................... 97 b) Analyse der Entscheidungsbegründung .................... 98 aa) Zur Argumentation des EuGH mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit ............................... 99 bb) Zur Argumentation des EuGH mit dem Gebot der europäisch-autonomen Auslegung ... 100 c) Die vorzugswürdige Lösung ................................... 101 2. Erfolgsaussichten in der Begründetheit ......................... 102 a) Ausgangspunkt: Die Gefahr der Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft ........... 103 b) Verifizierung der Rechtsausführungen des Klägers ................................................................... 105

Inhaltsverzeichnis

B.

XV

aa) Ansätze aus der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung und Literatur .......................... 105 (1) Deutschland ............................................... 105 (2) England ..................................................... 107 (3) Irland ......................................................... 110 (4) Frankreich ................................................. 111 bb) Eigene Konkretisierung der Prüfungsintensität .......................................................... 113 c) Verifizierung der vom Kläger behaupteten Tatsachen ............................................................... 115 aa) Die den Sachzusammenhang begründenden Tatsachen: Einfach oder doppelrelevant? ......... 115 bb) Ansätze aus der mitgliedstaatlichen Literatur und Rechtsprechung ......................................... 118 (1) Deutschland ............................................... 119 (2) England ..................................................... 120 (3) Frankreich ................................................. 121 (4) Österreich .................................................. 122 cc) Eigene Konkretisierung der Prüfungsintensität ............................................ 122 d) Vereinbarkeit mit der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO .................... 123 aa) Vereinbarkeit mit dem effet utile des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ................................................ 123 bb) Keine entgegenstehende Auffassung des EuGH............................................................... 124 3. Ergebnis ....................................................................... 126 III. Die Rechtshängigkeit der Ankerklage ................................. 127 1. Anwendbarkeit des Grundsatzes der perpetuatio fori auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ............................................. 127 2. Perpetuatio fori auch bei Rücknahme der Ankerklage ................................................................... 128 3. Nachträgliches Entfallen der Zuständigkeit nur bei offensichtlich missbräuchlicher Klagerücknahme ......... 129 IV. Hierarchie der Klagen: Der Ankerbeklagte als key defendant? ........................................................................... 132 V. Zusammenfassung der Anforderungen an die Ankerklage .......................................................................... 133 Der subjektive Missbrauchsvorbehalt ......................................... 134 I. Aussagen des EuGH ............................................................ 135 II. Echo in der Literatur ........................................................... 136

XVI

C.

Inhaltsverzeichnis

III. Ablehnung eines subjektiven Missbrauchsvorbehalts .......... 136 1. Methodische Defizite bei der Herleitung des Missbrauchsvorbehalts.................................................. 137 a) Keine analoge Anwendung des Art. 6 Nr. 2 Hs. 2 EuGVVO ...................................................... 137 b) Allgemeines Missbrauchsverbot im europäischen Zivilprozessrecht? ............................. 138 2. Inhaltliche Bedenken bei der Anwendung des Missbrauchsvorbehalts.................................................. 139 3. Praktische Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Missbrauchsvorbehalts.................................................. 140 IV. Fazit zum subjektiven Missbrauchsvorbehalt ...................... 140 Ergebnis ..................................................................................... 141

Kapitel 4: Wohnsitz der Streitgenossen und Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO .............................................. 142 A.

B.

Wohnsitz der Streitgenossen ....................................................... 142 I. Internationale Wohnsitzgleichheit der Streitgenossen ......... 143 1. Vollständige internationale Wohnsitzgleichheit ............ 144 2. Partielle internationale Wohnsitzgleichheit ................... 147 II. Drittstaatensachverhalte ...................................................... 149 III. Ausblick .............................................................................. 153 Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO .............. 154 I. Sonderkompetenzregime der Abschnitte 3–5 ...................... 154 1. Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Annexbeklagten ............................................................ 155 a) Arbeitsvertragsstreitigkeiten ................................... 155 aa) Die Entscheidung Glaxosmithkline .................. 156 bb) Bewertung der Entscheidung ........................... 157 cc) Überwindung des Wortlauts des Art. 18 Abs. 1 EuGVVO? ............................................ 159 b) Versicherungssachen .............................................. 161 c) Verbrauchersachen ................................................. 162 2. Tauglichkeit von Ankerbeklagten zur Verfahrenskonzentration ............................................... 163 3. Ergebnis ....................................................................... 164 II. Auswirkungen von Gerichtsstandsvereinbarungen .............. 165 1. Vereinbarung mit dem Annexbeklagten ........................ 166 a) Der vereinbarte Gerichtsort liegt in einem Mitgliedstaat .......................................................... 166

Inhaltsverzeichnis

XVII

b) Der vereinbarte Gerichtsort liegt in einem Drittstaat ................................................................ 168 aa) Zulässigkeit der Derogation der Gerichtsstände der EuGVVO ........................... 168 bb) Herleitung der Derogationswirkung – anwendbare Vorschriften? ............................... 170 cc) Keine Ausnahme für die Derogation des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft ........... 173 2. Vereinbarung mit dem Ankerbeklagten......................... 173 3. Ergebnis ....................................................................... 175 Kapitel 5: Zusammenfassung des allgemeinen Teils .......................... 176 A. B.

Die Rechtsprechungslinie des EuGH zum Gerichtsstand der Streitgenossenschaft ................................................................... 176 Die eigene Auffassung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ........................ 178

2. Teil: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ................... 181 Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Patentrecht .................................................................................... 182 A. B.

Einführung .................................................................................. 182 Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage ................ 184 I. Europäisches Bündelpatent ................................................. 185 1. Differenzierung zwischen konzentrierten und parallelen Patentverletzungen ....................................... 186 2. Konzentrierte Verletzung des europäischen Bündelpatents ............................................................... 187 a) Die Entscheidung Solvay ........................................ 187 b) Zulässigkeit der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei konzentrierten Patentverletzungen ................................................. 188 c) Fazit ....................................................................... 191 3. Parallele Verletzung des europäischen Bündelpatents ... 191 a) Die Entscheidung Roche Nederland ....................... 193 b) Unvereinbarkeit der Roche NederlandEntscheidung mit der Konkretisierung der einheitlichen Rechtslage ......................................... 194

XVIII

C.

D.

Inhaltsverzeichnis

c) Keine Rechtfertigung der Sonderbehandlung des europäischen Bündelpatents durch das Territorialitätsprinzip ............................................. 196 d) Praktische Notwendigkeit zur Verfahrenskonzentration ........................................ 199 e) Fazit ....................................................................... 199 4. Ergebnis zum europäischen Bündelpatent ..................... 200 II. Nationale Patente ................................................................ 200 III. Ausblick: Das europäische Patent mit einheitlicher Wirkung .............................................................................. 201 1. Hintergrund .................................................................. 202 2. Wirkung des Einheitspatents ......................................... 204 3. Aufbau der Europäischen Patentgerichtsbarkeit ............ 204 4. Regelung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft im EPGÜ ............................................................ 206 5. Fazit zum europäischen Patent ...................................... 208 IV. Ergebnis .............................................................................. 208 Verletzungshandlung – Die einheitliche Sachlage....................... 209 I. Identische Ausführungsformen ............................................ 210 1. Herleitung der Voraussetzung ....................................... 210 2. Abstraktheit der angegriffenen Ausführungsform ......... 211 II. Keine identischen Benutzungshandlungen .......................... 212 III. Ergebnis .............................................................................. 213 Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten ................................................................... 214 I. Notwendigkeit der Einführung des Kriteriums .................... 215 II. Analyse typischer Verletzerbeziehungen ............................. 216 1. Gemeinschaftliches Vorgehen ...................................... 216 a) Widersprüchliche Mindestanforderung in Bezug auf parallele Verletzungsklagen ................... 216 b) Hinreichende, nicht aber notwendige Form des streitgenössischen Kontakts .................................... 218 2. Konzernsachverhalte..................................................... 219 a) Untauglichkeit der spider in the web-Doktrin zur Einschränkung der Konzentration paralleler Verletzungsklagen .................................................. 220 b) Eigener Ansatz ....................................................... 222 aa) Anwendung der Vorgaben zum streitgenössischen Kontakt auf den klassischen Unterordnungskonzern ..................................... 223

Inhaltsverzeichnis

E.

XIX

bb) Vor- und Nachteile der hier vertretenen Lösung ............................................................. 224 3. Vertragsbeziehungen .................................................... 226 4. Verletzerketten ............................................................. 227 a) „Echte“ Verletzerketten .......................................... 228 b) „Unechte“ Verletzerketten...................................... 230 aa) Handeln auf derselben Marktstufe ................... 230 bb) Betroffenheit verschiedener Splitter eines europäischen Bündelpatents ............................. 231 III. Zusammenfassung zur Verletzerbeziehung ......................... 232 Ergebnis ..................................................................................... 233

Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht.............................................................................. 235 A.

B.

Einleitung ................................................................................... 235 I. Einführung in die Thematik ................................................ 235 II. Fokus auf follow on-Verfahren wegen der Verletzung des EU-Kartellverbots durch HardcoreKartelle ............................................................................... 239 III. Gang der Untersuchung ....................................................... 239 Der einfache Fall: Sämtliche Beklagte sind Adressaten der Bußgeldentscheidung (follow on-Verfahren i.e.S.) ...................... 241 I. Klage gegen am Kartellverstoß unmittelbar beteiligte Adressaten .......................................................................... 242 1. Gefahr widersprechender Entscheidungen .................... 242 a) Einheitliche Sach- und Rechtslage kraft einheitlichen Kartellverstoßes? ............................... 243 b) Betrachtung der einheitlichen Sach- und Rechtslage losgelöst von den haftungsrechtlichen Verhältnissen im Kartell ...................... 244 c) Betrachtung der einheitlichen Sach- und Rechtslage unter Berücksichtigung der haftungsrechtlichen Verhältnisse im Kartell ........... 246 aa) Herleitung der gesamtschuldnerischen Haftung von Kartellmitgliedern ....................... 247 bb) Auswirkungen der gesamtschuldnerischen Haftung von Kartellmitgliedern ....................... 249 (1) Das Bleichmittelverfahren vor dem LG Dortmund .................................................. 250 (2) Identität der Sach- und Rechtslage ............ 251

XX

C.

Inhaltsverzeichnis

(a) Identische Sachlage............................. 251 (b) Identische Rechtslage.......................... 252 d) Zulässigkeit des Rückgriffs auf das nationale Haftungsrecht ......................................................... 253 e) Fazit ....................................................................... 255 2. Streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten .......... 255 3. Ergebnis ....................................................................... 256 II. Klage gegen am Kartellverstoß nicht unmittelbar beteiligte Adressaten ........................................................... 257 1. Ausgangspunkt: Funktionaler Unternehmensbegriff der europäischen Kartellrechtspraxis ............................ 257 2. Gefahr widersprechender Entscheidungen .................... 259 a) Gleichlauf von bußgeldrechtlicher Adressatenstellung und zivilrechtlicher Passivlegitimation kraft Bindungswirkung? ........... 260 aa) Verbindliche Feststellung des Kartellverstoßes .......................................................... 260 bb) Verbindliche Feststellung auch des Verschuldens?.................................................. 262 b) Auswirkungen des fehlenden Gleichlaufs auf die Prüfung der Widerspruchsgefahr ...................... 265 3. Streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten .......... 266 4. Ergebnis ....................................................................... 267 Die komplizierten Fälle: Einzelne Beklagte sind keine Adressaten der Bußgeldentscheidung (follow on-Verfahren i.w.S.) ..... 268 I. Problemaufriss .................................................................... 268 II. Klage gegen Muttergesellschaften von Adressaten .............. 269 1. Gefahr widersprechender Entscheidungen .................... 270 a) Kartelldeliktische Verantwortlichkeit von Muttergesellschaften im Konzern ........................... 270 aa) Eigenständiger Kartellverstoß .......................... 270 bb) Haftung für den Verstoß einer Tochtergesellschaft (Zurechnung „von unten nach oben“) .............................................................. 271 (1) Die Aufzugskartell-Entscheidung des OGH .......................................................... 272 (2) Das Konzept der wirtschaftlichen Einheit aus dem Bußgeldrecht ............................... 273 (3) Übersetzung des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit in die Kategorien des Haftungsrechts .................................... 275

Inhaltsverzeichnis

XXI

(4) Zurechnung des Verschuldens? ................. 277 (5) Reichweite der Haftung ............................. 279 cc) Fazit................................................................. 281 b) Auswirkungen auf die Prüfung der Widerspruchsgefahr ............................................... 281 2. Streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten .......... 282 3. Ergebnis zur Klage gegen Muttergesellschaften ............ 284 III. Klage gegen Tochtergesellschaften von Adressaten ............ 284 1. Gefahr widersprechender Entscheidungen .................... 286 a) Kartelldeliktische Verantwortlichkeit von Tochtergesellschaften im Konzern ......................... 286 aa) Eigenständiger Kartellverstoß .......................... 286 bb) Haftung für den Verstoß der Muttergesellschaft (Zurechnung „von oben nach unten“) .... 287 (1) Der Ansatz des High Court........................ 288 (a) Die Entscheidung Provimi .................. 288 (b) Die Entscheidung Cooper Tire ............ 290 (c) Die Entscheidung Toshiba .................. 292 (d) Fazit .................................................... 294 (2) Bewertung des vom High Court vertretenen Ansatzes.................................. 294 (a) Keine Vorgaben aus der bußgeldrechtlichen EuGH-Rechtsprechung ..... 295 (b) Zulässigkeit der Zurechnung „von oben nach unten“ ........................ 297 (c) Voraussetzungen der Zurechnung „von oben nach unten“ ........................ 298 (d) Reichweite der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Tochtergesellschaft ......................................... 299 cc) Ergebnis........................................................... 301 b) Auswirkungen auf die Prüfung der Widerspruchsgefahr ......................................................... 302 aa) Die Tochtergesellschaft ist die Ankerbeklagte.................................................. 302 bb) Die Tochtergesellschaft ist die Annexbeklagte ................................................. 303 2. Streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten .......... 304 a) Die Tochtergesellschaft ist die Ankerbeklagte ........ 304 b) Die Tochtergesellschaft ist die Annexbeklagte ....... 305

XXII

D.

E.

Inhaltsverzeichnis

3. Darlegung der Erfolgsaussichten einer gegen die Tochtergesellschaft erhobenen Ankerklage ................... 305 a) Die Ankerklage wird auf einen eigenständigen Kartellverstoß der Tochtergesellschaft gestützt ...... 307 aa) Der Ansatz des Court of Appeal ....................... 308 (1) Die Entscheidung Cooper Tire .................. 308 (2) Die Entscheidung Toshiba ......................... 310 bb) Würdigung der Rechtsprechung des Court of Appeal ............................................................. 312 cc) Notwendigkeit der Spezifizierung und Substantiierung des eigenständigen Kartellverstoßes der Tochtergesellschaft .......... 313 b) Die Ankerklage wird auf den Kartellverstoß der Muttergesellschaft gestützt ............................... 314 4. Ergebnis zur Klage gegen Tochtergesellschaften .......... 315 IV. Ergebnis .............................................................................. 316 Derogation des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO durch Zuständigkeitsvereinbarungen .................................................... 318 I. Gerichtsstandsvereinbarungen ............................................. 318 1. Hintergrund .................................................................. 318 2. Zulässigkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen ............ 319 3. Sachliche Reichweite allgemein gehaltener Gerichtsstandsvereinbarungen ...................................... 320 a) Das für die Auslegung maßgebliche Recht ............. 320 b) Rechtslage in Deutschland ..................................... 323 aa) Bisheriger Meinungsstand ................................ 323 bb) Anwendung der Auslegungsgrundsätze ........... 325 (1) Auslegungsbedürftige Klausel ................... 325 (2) Wille der Parteien ...................................... 325 (3) Keine Einschränkung für Ansprüche aus vorsätzlicher Deliktsbegehung ................... 327 (4) Keine Besonderheiten bei AGB ................. 328 c) Rechtslage in England ............................................ 329 d) Fazit ....................................................................... 334 4. Vereinbarkeit der Derogationswirkung mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz ...................... 335 II. Geltung der Erkenntnisse für Schiedsvereinbarungen .......... 337 Ergebnis ..................................................................................... 338

Inhaltsverzeichnis

XXIII

3. Teil: Schluss ............................................................................. 341 Kapitel 8: Zehn Thesen zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ............................... 342

Literaturverzeichnis ........................................................................... 348 Sachregister........................................................................................ 369

Abkürzungsverzeichnis a.A. a.F. ABl. EG/EU Abs. acpc AEUV AG AGB AktG All E.R. Art. Aufl. BAG BayObLG Bd. BeckEuRS BeckOK BeckRS Begr. BG BGB BGE BGH BVerfG bzw. CA Cass. civ. Cass. c.i.c. CIP Report Clunet CMLRev Co. Cod. Iust. Corp.

andere Ansicht alte Fassung Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften/Union Absatz ancien code de procédure civile Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Die) Aktiengesellschaft Allgemeine Geschäftsbedingungen Aktiengesetz All England Law Reports Artikel Auflage Bundesarbeitsgericht Bayerisches Oberstes Landesgericht Band Beck EU-Rechtsprechung Beck’scher Online-Kommentar Beck-Rechtsprechung Begründer (Schweizerisches) Bundesgericht Bürgerliches Gesetzbuch Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts Bundesgerichtshof Bundesverfassungsgericht beziehungsweise Court of Appeal Cour de cassation, chambre civile Cour de cassation culpa in contrahendo Der Newsletter des Zentrums für Gewerblichen Rechtsschutz (Düsseldorf) Journal du droit international (Clunet) Common Market Law Review Company Codex Iustinianus Corporation

XXVI CPR d.h. D.M.F. ders. dies. ecolex EFTA EIPR E.L.Rev. EBOR ECLR EG EGBGB EGV Einl. ELR endg. EPA EPGÜ EPV

EU EuG EuGH EuGVÜ

EuGVVO

EuGVVO n.F.

EUV EuZA EuZPR EuZW

Abkürzungsverzeichnis Civil Procedure Rules das heißt Le Droit Maritime Français derselbe dieselbe(n) Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Österreich) European Free Trade Association European Intellectual Property Review European Law Review European Business Organization Law Review European Competition Law Review Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einleitung European Law Reporter endgültig Europäisches Patentamt Übereinkommen über ein einheitliches Patentgericht vom 19.2.2013 Verordnung (EU) Nr. 1257/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2012 über die Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes Europäische Union Gericht erster Instanz der europäischen Gemeinschaften/Union Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften/Union Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl.EU 2012 L 351/1 EU-Vertrag Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Europäisches Zivilprozessrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

Abkürzungsverzeichnis EWCA Civ EWHC EWiR EWS f., ff. F.S.R. FamFG FIW Fn. FS G.C.L.R. GbR GG GmbH GmbH&Co.KG GmbHR GMVO GPR GRUR GRUR Int. GRUR-Prax GWB Hg. HGB HL Hs. i.e.S. i.w.S. i.E. i.S.d. i.S.v. i.V.m. ICLQ IER IIC I.L.Pr. Inc IPRax

XXVII

Court of Appeal (Civil Division) England & Wales High Court (Civil Division) Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht folgend(e) Fleet Street Reports Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb Fußnote Festschrift Global Competition Litigation Review Gesellschaft bürgerlichen Rechts Grundgesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesellschaft mit beschränkter Haftung & Compagnie Kommanditgesellschaft GmbH-Rundschau Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Gewerblicher Rechtschutz und Urheberrecht Gewerblicher Rechtschutz und Urheberrecht Internationaler Teil Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht. Praxis im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Herausgeber Handelsgesetzbuch House of Lords Halbsatz im engeren Sinne im weiteren Sinne im Erscheinen im Sinne des im Sinne von in Verbindung mit International and Comparative Law Quarterly Intellectuele Eigendom & Reclamerecht International Review of Industrial Property and Copyright Law International Litigation Procedure Incorporated Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts

XXVIII I.R. IZVR JCDI jurisPK/BGB JZ KG KOM KomE LG Lloyd’s Rep. LMCLQ Ltd LuftVG LugÜ

m. w. Nachw. Mitt. MünchKomm-AktG MünchKomm-BGB MünchKomm-ZPO n.F. ncpc NJW NJW-RR Nr. NZA NZG OECD OGH OHG ÖJZ OLG PatG PD Q.B. R.P.C. RabelsZ RDIDC

Abkürzungsverzeichnis The Irish Reports Internationales Zivilverfahrensrecht Juris-Classeur de droit international juris Praxiskommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Juristenzeitung Kommanditgesellschaft Vorschläge und andere Rechtsakte im Rahmen eines europäischen Gesetzgebungsverfahrens Kommissionsentscheidung Landgericht Lloyd’s Law Reports Lloyd’s Maritime and Commercial Law Quarterly Limited Luftverkehrsgesetz Luganer Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 16.09.1988, BGBl 1994 II, S. 2660 mit weiteren Nachweisen Mitteilungen deutscher Patentanwälte Münchener Kommentar zum Aktiengesetz Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung neue Fassung nouveau code de procédure civile Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift RechtsprechungsReport Zivilrecht Nummer Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Organisation for Economic Co-operation and Development Oberster Gerichtshof (Österreich) Offene Handelsgesellschaft Österreichische Juristenzeitung Oberlandesgericht Bundesgesetz über die Erfinderpatente Practice Directions, abgedruckt in White Book CPR (England) Queen’s Bench Division, High Court of Justice Reports of Patent Cases Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Revue de droit international et de droit comparé

Abkürzungsverzeichnis RDPI Rev. crit. dr. int. priv. RIW Rn. Rs. RSC RZ S. SEK Slg. sog. SWD SZ SZIER Trib. gr. inst. u.a. UKHL v v. vgl. WM WRP WuW WuW/E KR Int.

z.B. Zak ZEuP ZHR ZPO ZRvgl ZVglRWiss ZWeR ZZP ZZPInt. ZZZ

XXIX

Revue du droit de la propriété intellectuelle Revue critique de droit international privé Recht der Internationalen Wirtschaft Randnummer(n) Rechtssache Rules of the Supreme Court (England) Österreichische Richterzeitung Seite, Satz Arbeitsdokumente der Kommissionsdienststelle (jetzt SWD) Sammlung der Rechtsprechung des EuGH und des EuG sogenannte(n) Arbeitsdokumente und gemeinsame Arbeitsdokumente der Dienststellen Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofes in Zivilsachen Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht Tribunal de grande instance und andere United Kingdom House of Lords versus von, vom vergleiche Wertpapier-Mitteilungen Wettbewerb in Recht und Praxis Wirtschaft und Wettbewerb Wirtschaft und Wettbewerb, Entscheidungssammlung zum Kartellrecht, Europäische Union zum Beispiel Zivilrecht aktuell Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für das gesamte Handels- und Wirtschaftsrecht Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Wettbewerbsrecht Zeitschrift für Zivilprozeß Zeitschrift für Zivilprozeß International Schweizerische Zeitschrift für Zivilprozess- und Zwangsvollstreckungsrecht

Einleitung A. Anlass und Ziel der Untersuchung A. Anlass und Ziel der Untersuchung

Die internationale Zuständigkeit ist die „Kardinalfrage“1 bei der Planung eines grenzüberschreitenden Zivilprozesses. Die Zuweisung der Rechtsstreitigkeit an die Gerichte eines Staates bestimmt nicht nur das im Verfahren maßgebliche nationale Prozessrecht, das zur Anwendung gelangende Kollisionsrecht, die Dauer des Verfahrens, dessen Kosten und die räumliche Entfernung der Parteien zum Gerichtsort.2 Auch schwerer zu fassende Faktoren wie das durch die Rechtstradition, die Rechtskultur und die Juristenausbildung geprägte „Rechtsklima“ werden durch den jeweiligen Gerichtsstaat bedingt.3 Insbesondere in wirtschaftsrechtlichen Streitigkeiten, die aufgrund der zunehmenden Verflechtung der Volkswirtschaften und der voranschreitenden europäischen Integration immer öfter Bezüge zu mehreren Jurisdiktionen aufweisen, stellt die Wahl des zuständigen Forums häufig schon die Weichen für den Ausgang des Verfahrens. So sind die niederländischen Gerichte dafür bekannt, den einstweiligen Rechtsschutz von Patentinhabern mithilfe der zügigen Durchführung des kort geding-Verfahrens zu verbessern,4 wobei der Erlass eines extraterritorialen Verletzungsverbots zugleich die Verteidigung gegen die außerhalb der Niederlande begangenen Patentverletzungen sicherstellt.5 Das englische Prozessrecht erleichtert etwa die Durchsetzung kartelldeliktischer Ansprüche, wenn die Beklagten im disclosure-Verfahren (vormals discovery-Verfahren) zur Offenlegung aller für den Prozess 1

Kropholler, in: Max-Planck-Institut (Hg.), Handbuch IZVR, Bd. 1, Kap. III, Rn. 16. 2 Zu diesen Aspekten im Einzelnen Schack, IZVR, Rn. 253 ff. 3 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 1926. 4 Zu den Modalitäten des kort geding-Verfahrens siehe nur Brinkhof, GRUR Int. 1993, 387 ff. 5 Eingehend zu den grenzüberschreitenden Verfügungen der niederländischen Gerichte Bertrams, IIC 1995, 618 ff. Aktuelles Beispiel bei Sujecki, GRUR-Prax 2012, 498.

2

Einleitung

relevanten Beweismittel verpflichtet werden. 6 Genannt sind damit nur zwei der zahlreichen Unterschiede zwischen den Justizsystemen der EUMitgliedstaaten, die für die Effektivität der Rechtsverteidigung eine Rolle spielen. In Europa hat man auf die Bedeutung der Gerichtsstandsregeln für die grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzung im Binnenmarkt mit der Schaffung eines einheitlichen Zuständigkeitssystems in Zivil- und Handelssachen reagiert. Das vor über 40 Jahren in Brüssel zwischen den EWG-Staaten unterzeichnete EuGVÜ7, das mit Wirkung vom 1.3.2002 in einen Rechtsakt der Gemeinschaft, die EuGVVO8, überführt wurde, regelt, gemeinsam mit dem beinahe gleichlautenden LugÜ 9 , die internationale und zum Teil auch örtliche Entscheidungszuständigkeit gegenüber den in den Mitgliedstaaten der EU 10 und der EFTA 11 ansässigen Personen.12 In naher Zukunft wird die EuGVVO durch ihre Ende 2012 beschlossene Neufassung abgelöst.13

6 Danov, Jurisdiction and Judgments in Relation to EU Competition Law Claims, 53; Mäsch, IPRax 2005, 509, 510. Zur „disclosure of documents“ im englischen Kartellprozess Scott/Simpson, in: Gotts (Hg.), The Private Competition Enforcement Review, 87, 101 ff. 7 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968, ABl.EG 1972 L 299/32. 8 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilund Handelssachen, ABl.EG 2001 L 12/1. 9 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 16.9.1988, ABl.EG 1989 L 319/9. Inzwischen gültig in der revidierten Fassung v. 30.10.2007, ABl.EU 2009 L 147/5. 10 Dänemark wird zwar nicht unmittelbar durch die EuGVVO gebunden, vgl. Art. 1 Abs. 3 EuGVVO. Die Regelungen der EuGVVO werden aber durch ein Parallelübereinkommen auf Dänemark erstreckt (Abkommen v. 19. Oktober 2005 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl.EU 2005 L 299/62). 11 Liechtenstein ist dem LugÜ allerdings bis dato nicht beigetreten. 12 Ohne Rücksicht auf den Wohnsitz der Parteien legen darüber hinaus die Art. 22 EuGVVO und Art. 22 LugÜ bestimmte ausschließliche Gerichtsstände fest. 13 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 v. 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl.EU 2012 L 351/1. Die Neufassung der EuGVVO gelangt gemäß Art. 66 EuGVVO n.F. auf Prozesse zur Anwendung, die am oder nach dem 10.1.2015 eingeleitet werden. Die ausschließlichen Gerichtsstände der Art. 24 und Art. 25 EuGVVO n.F. gelten unabhängig vom Wohnsitz der Parteien.

A. Anlass und Ziel der Untersuchung

3

Der detaillierte Katalog von Gerichtsständen der Art. 2–24 EuGVVO14 greift als Ergebnis einer differenzierten Abwägung von Partei-, Gerichts-, und Ordnungsinteressen auf eine Vielzahl kompetenzbegründender Anknüpfungspunkte zurück. Der in dieser Arbeit beleuchtete Gerichtsstand der Streitgenossenschaft trägt zuvörderst dem Bedürfnis mitgliedstaatlicher Entscheidungsharmonie Rechnung, indem die gemeinsame Verhandlung in Zusammenhang stehender Klagen am allgemeinen Gerichtsstand eines Beklagten ermöglicht wird.15 In den etwas sperrigen Worten des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO16, „[kann] eine Person, die ihren Wohnsitz in einem der Mitgliedstaaten hat, […] auch verklagt werden, wenn mehrere Personen zusammen verklagt werden, vor dem Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.“ Der europäische Gerichtsstand der Streitgenossenschaft ist im Ursprung der nationalen Regelung der Streitgenossenzuständigkeit im französischen code de procédure civile entlehnt,17 die zuvor bereits die Prozessordnungen diverser kontinentaleuropäischer Staaten inspirierte,18 was erklärt, warum die meisten EU-Mitgliedstaaten der Konzentration konnexer Klagen auf Zuständigkeitsebene aufgeschlossen gegenüber-

14

Das Zuständigkeitssystem der EuGVVO wird nahezu unverändert in die Art. 4–26 EuGVVO n.F. übernommen, wobei sich durch die Einfügung der erläuternden Art. 2 und 3 EuGVVO n.F. die Nummerierung der Gerichtsstände verschoben hat. Nachstehend wird bei der erstmaligen Zitierung einer Vorschrift der EuGVVO daher ihr jeweiliges Pendant in der Neufassung genannt. Auf die wiederholende Nennung der neu nummerierten Artikel wird dagegen verzichtet, um den Lesefluss nicht über Gebühr zu beeinträchtigen. Die Unterschiede zwischen der EuGVVO und ihrer Neufassung werden an entsprechender Stelle ebenfalls kenntlich gemacht. 15 Vgl. Erwägungsgrund (15) der EuGVVO: „Im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege müssen Parallelverfahren so weit wie möglich vermieden werden, damit nicht in zwei Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen […]“. 16 Die Regelung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wird wortgleich in Art. 8 Nr. 1 EuGVVO n.F. überführt. 17 Seit dem 1.1.1976 geregelt in Art. 42 Abs. 2 ncpc: „S’il y a plusieurs défendeurs, le demandeur saisit, à son choix, la juridiction du lieu où demeure l’un d’eux“. 18 Der wortgleiche Art. 54 Abs. 4 acpc von 1806 diente den Rechtsordnungen der Niederlande, Luxemburgs, Belgiens und Italiens zum Vorbild (Otte, Umfassende Streitentscheidung, 679, Fn. 1032).

4

Einleitung

stehen. 19 In der ZPO sucht man nach einem Gerichtsstand der Streitgenossenschaft derweil vergebens. 20 Die Väter der Reichscivilprozeßordnung brachten dem Kriterium des Sachzusammenhangs nämlich zu viel Skepsis entgegen, um ihm allgemeine kompetenzrechtliche Bedeutung beizumessen, 21 nachdem die Beratungen der Hannoverschen Prozeßkommission zu dem Schluss gekommen waren, dass „der Begriff der Konnexität, obwohl geeignet, als legislatives Motiv für besondere Normen über Gerichtszuständigkeit zu dienen, seiner Unbestimmtheit wegen doch ganz ungeeignet [ist], um darauf generell einen Gerichtsstand zu gründen.“22 Vor dem Vorwurf einer vagen Unbestimmtheit ist auch das Kriterium der engen Beziehung der Klagen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO nicht gefeit. Obschon die rechtssichere Konkretisierung dieses normativ stark aufgeladenen Tatbestandsmerkmals den EuGH als Einheitsgaranten des europäischen Zivilprozessrechts auf den Plan ruft, vermögen die Richter in Luxemburg den Bedeutungsgehalt des Konnexitätserfordernisses bislang nicht recht zu erfassen. Vielmehr zählt die inzwischen neungliedrige Entscheidungskette des Gerichtshofs 23 so viele Unklarheiten 19 Eine im Auftrag der Europäischen Kommission durchgeführte, rechtsvergleichende Studie zum nationalen Zuständigkeitsrecht in grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten kommt zu dem Ergebnis, dass eine Streitgenossenzuständigkeit 20 Mitgliedstaaten der EU bekannt ist (Nuyts, General Study on Residual Jurisdiction, Rn. 66). 20 Passive Streitgenossenschaften wirken nur in Ausnahmefällen zuständigkeitsbegründend: §§ 603 Abs. 2, 605a ZPO (Klage gegen mehrere Wechsel- oder Scheckverpflichtete), 232 Abs. 3 Nr. 2 FamFG (Unterhaltsklage des Kindes gegen beide Eltern), 440 Abs. 2 HGB (Klage gegen Frachtführer und -beförderer), § 56 Abs. 2 LuftVG (Klagen gegen Luftfrachtführer und -beförderer). 21 Vgl. Hahn/Mugdan, Gesamte Materialien, 155. 22 Schubert, Protocolle der Commission [1863], 575. Pessimistisch zuvor bereits Planck, Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten, 531: „Es scheint mir, daß das Prinzip eines solchen Gerichtsstands wegen seiner vagen Allgemeinheit ganz untauglich ist zu einer wissenschaftlichen Entwicklung“. 23 EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565; EuGH v. 27.10.1998, Rs. C-51/1997 (Réunion européenne/Spliethoff’s Bevrachtingskantoor und Kapitän des Schiffes „Alblasgracht V002“), Slg. 1998, I6511; EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827; EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535; EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319; EuGH v. 22.5.2008, Rs. C462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 33; EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182; EuGH v. 12.7.2012, Rs. C-616/2010 (Solvay/Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), EuZW 2013, 837; EuGH v. 11.4.2013, Rs. C645/2011 (Land Berlin/Sapir u.a.), EuZW 2013, 503.

A. Anlass und Ziel der Untersuchung

5

und Widersprüche, dass dem Rechtsanwender nicht einmal mehr eine grobe Richtschnur zur Auslegung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft verbleibt.24 In der Folge bringt die Judikatur der Mitgliedstaaten zunehmend eigenwilligere Lesarten der Norm hervor, die sich mitunter weniger an den Grundprinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts als an den rechtspolitischen Interessen der angerufenen Jurisdiktion orientieren. Nicht zuletzt wohnt der Zuständigkeitsfrage nämlich auch eine wirtschaftspolitische Dimension inne, wenn grenzüberschreitende Zivilprozesse, die mit ihren hohen Streitwerten beträchtliche Einnahmen für die Staatskasse und den heimischen Juristenstand generieren, in Konkurrenz zu anderen Jurisdiktionen vor die inländischen Gerichte gelockt werden.25 So fühlte sich der englische High Court jüngst zur umfassenden zivilrechtlichen Aufarbeitung des europaweit agierenden „Gummikartells“26 berufen, da die englische Tochtergesellschaft eines der Kartellmitglieder geringfügige Verkäufe der betroffenen Kautschuksorten in England getätigt hatte.27 Zu diesem Zweck wurde den geschädigten Abnehmern des Kartells die gebündelte Geltendmachung ihrer Ersatzforderungen am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft gestattet, und zwar hinsichtlich sämtlicher kartellbedingter Schäden, die durch das Umsetzungsverhalten der insgesamt 24 Beklagten europaweit verursacht worden waren. Ausführungen zum Beklagtenschutz oder zur Vorhersehbarkeit des Gerichtsortes enthält die Entscheidung nicht, dafür aber den Hinweis, die Erhebung der Klage in England aus rein taktischen

24 H. Roth, FS Kropholler 2008, 885: „Die Rechtsprechung des EuGH ist kaum an einem anderen Punkt so uneinheitlich wie bei Art. 6 Nr. 1 EuGVVO.“ Briggs, LMCLQ 2006, 447, 453: „[I]t is fair to ask what the Court of Justice has done to improve this corner of the sound administration of justice [Article 6]. It […] has show[n] a regrettable predisposition to be unhelpful. […] It appears to be working from a secret text which only it may read.“ Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution, Rn. 248: „En presence d’une jurisprudence chaotique, l’article 6-1 (C et R) dont l’existence est pourtant indispensable, sera trop souvent une source d’incertitude et il faut espérer que tant les recherchés doctrinales que la jurisprudence future de la CJCE amélioreront la situation“. 25 Mäsch, IPRax 2005, 509, 511; Coester-Waltjen, FS Kropholler 2008, 747, 748. 26 KomE v. 29.11.2006, COMP/F/38.638 (Butadiene Rubber and Emulsion Styrene Butadiene Rubber), ABl.EG 2008 C 7/11. 27 Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm). Für den in Berufung gegangenen Teil der Beklagten bestätigt durch Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864.

6

Einleitung

Gründen stehe der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO nicht entgegen.28 Angesprochen ist damit das Problem des forum shopping. Die berechnende Auswahl eines Gerichtsstands nach den Vorteilen des anwendbaren Verfahrens- und Kollisionsrechts erfolgt aus nachvollziehbaren Motiven des Klägers,29 ist im europäischen Zuständigkeitssystem jedoch rechtspolitisch unerwünscht.30 Besonders nachteilig für den einheitlichen Justizraum ist forum shopping, wenn nicht nur die bestehenden Differenzen nationaler Regelungen ausgenutzt werden, sondern die großzügige Interpretation einzelner Gerichtsstände der EuGVVO zum Anlass für die Klageerhebung in einer bestimmten Jurisdiktion genommen wird. Gerade der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft setzt aber beträchtliche Anreize für ein solches Vorgehen, da die gebündelte Geltendmachung der Ansprüche gegen mehrere Prozessgegner dem klägerischen Justizgewährungsanspruch bestens zur Geltung verhilft. Die aufkommenden Diskrepanzen in der mitgliedstaatlichen Judikatur vermögen vor dem Hintergrund des aktuellen Stands der EuGH-Rechtsprechung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO kaum zu überraschen. Fehlende oder widersprüchliche Vorgaben des Gerichtshofs laden die nationalen Richter nachgerade ein, eigene Maßstäbe anzulegen. Aufhalten lässt sich die voranschreitende Nationalisierung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft im europäischen Zivilprozessrecht nur durch die Entwicklung eines kohärenten Konzepts zur Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, auf dessen Grundlage die einheitliche und vorhersehbare Anwendung der Vorschrift zukünftig sichergestellt werden kann. Damit ist zugleich das Ziel der vorliegenden Untersuchung umschrieben.

28

Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 35: „Counsel for the Dow Defendants said that it was plain that the three Defendants domiciled in England […] had been selected as a tactical device (‘Anchor Defendants’) to establish jurisdiction. This does appear likely. No other explanation was suggested by counsel for the Claimants. However, the question for the Court is whether it is a tactic which has succeeded in establishing jurisdiction over the Dow Defendants“. 29 Vgl. etwa GA Mengozzi, Schlussanträge v. 24.5.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 53: „Einer Person, die eine Klage innerhalb des ‚europäischen Rechtsraums‘ erheben will, [kann] nicht verboten werden […], die ihr von dieser Regelung eröffneten Möglichkeiten zu gebrauchen, um unter Beachtung der darin aufgestellten Regeln das Gericht auszuwählen, das ihr am besten passt“. 30 Kritisch etwa Kropholler, FS Firsching 1985, 165 ff.; Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit, 487 ff.; Pontier/Burg, EU Principles, 107.

B. Abgrenzung zu früheren Untersuchungen

7

B. Abgrenzung zu früheren Untersuchungen B. Abgrenzung zu früheren Untersuchungen

Wenngleich bereits eine Handvoll Abhandlungen im deutschen Schrifttum existieren, die den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft im europäischen Zivilprozessrecht schwerpunktmäßig untersuchen, 31 und zahlreiche weitere Monographien die Regelung innerhalb eines weiter oder anders gefassten Kontextes beleuchten,32 kann von einer erschöpfenden wissenschaftlichen Durchdringung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bisher bei weitem nicht gesprochen werden. Gegenwärtig liegt dies in erster Linie daran, dass die Rechtsprechung des EuGH zur Vorschrift erst in den letzten Jahren in Bewegung geraten ist, sodass die Mehrzahl der Entscheidungen des Gerichtshofs vom Großteil der früheren Arbeiten nicht berücksichtigt werden konnte. Ferner schafft die dynamische Entwicklung derjenigen Rechtsgebiete, auf denen die Verfahrenskonzentration gegenüber mehreren Beklagten von besonderer Bedeutung ist, das Bedürfnis einer neuerlichen Auseinandersetzung mit Art. 6 Nr. 1 EuGVVO: Im Patentrecht hat das prominente Entscheidungspaar des EuGH Roche Nederland und GAT33 das bis Juli 2006 bestehende System der Durchsetzung von Patentverletzungsklagen in Europa aus den Fugen gerissen; das Kartelldeliktsrecht trifft als noch „relativ junger Spross der europäischen Rechtswissenschaft“ 34 erstmals auf die Regelungen des europäischen Zivilprozessrechts. Schließlich speist sich die Existenzberechtigung der vorliegenden Studie aus der bei ihrer Erstellung verwendeten Methodik. Während 31 Albicker, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, passim; Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, passim; Geier, Streitgenossenschaft, passim. 32 Teilweise wird der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft innerhalb umfassenderer Betrachtungen von Sachzusammenhängen im Verfahrensrecht untersucht: Otte, Umfassende Streitentscheidung, 591 ff.; Rohner, Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs, 80 ff.; Banniza von Bazan, Der Gerichtsstand des Sachzusammenhangs im EuGVÜ, 165 ff.; Winter, Der Gerichtsstand des Sachzusammenhangs, 17 ff. Andere Autoren analysieren die Regelung als einen von mehreren Gerichtsständen auf einem bestimmten Rechtsgebiet. Aus dem Immaterialgüterrecht siehe Bukow, Verletzungsklagen, 135 ff.; Ebner, Markenschutz, 197 ff.; Heinze, Europäisches Immaterialgüterrecht, 235 ff.; Hölder, Durchsetzung, 49 ff.; Lüthi, System, Rn. 847 ff.; Schauwecker, Extraterritoriale Patentverletzungsjurisdiktion, 78 ff., 371 ff.; Zigann, Entscheidungen, 120 ff. Aus dem Kartelldeliktsrecht siehe Maier, Marktortanknüpfung, 167 ff.; Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße, 126 ff.; Zimmer, Konkretisierung des Auswirkungsprinzips, 293 ff. 33 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535; EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-4/2003 (GAT/LuK), Slg. 2006, I-6509. 34 Plastisch Wurmnest, EuZW 2013, 933.

8

Einleitung

vorherige Arbeiten den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft entweder allgemein betrachten oder dessen Anwendung in ausgesuchten Rechtsgebieten in den Fokus rücken, werden dem Leser nachstehend Ergebnisse präsentiert, die im Wege der sich wechselseitig befruchtenden Auseinandersetzung mit dem Gerichtsstand der Streitgenossenschaft aus abstrakter wie konkreter Perspektive gewonnen wurden. Die Tauglichkeit der für die Auslegung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft entwickelten Leitlinien wurde an Hand spezieller Anwendungsfälle unmittelbar überprüft. Umgekehrt ließen sich Fragen der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO unter Rückgriff auf ein fundiertes Grundverständnis der Norm beantworten.

C. Themeneingrenzung C. Themeneingrenzung

In Ansehung des dargelegten Erkenntnisinteresses klärt die Arbeit allgemeine Auslegungsfragen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO und untersucht die Anwendung der Vorschrift auf den Gebieten des Patent- und Kartelldeliktsrechts. Andere Instrumente der EuGVVO zur Abstimmung der mitgliedstaatlichen Rechtspflege streift die Arbeit dagegen nur am Rande, da nicht die Bedeutung von Sachzusammenhängen im europäischen Zivilprozessrecht allgemein, sondern schwerpunktmäßig der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft untersucht wird. Ausgeklammert werden die übrigen Zuständigkeiten der Verordnung, die der Konnexität von Klagen kompetenzrechtliche Bedeutung zumessen, namentlich der Gerichtsstand der Gewährleistungs- und Interventionsklage, der Widerklage und der Immobiliargeschäfte (Art. 6 Nr. 2–4 EuGVVO 35 ) 36 sowie die Annexzuständigkeit für konnexe Ansprüche an den übrigen besonderen Gerichtsständen37. Die Konnexitätsregel des Art. 28 Abs. 3 EuGVVO38 und die Anerkennungsversagung kollidierender Entscheidungen gemäß Art. 34 35

Zukünftig Art. 8 Nr. 2–4 EuGVVO n.F. Dazu Winter, Der Gerichtsstand des Sachzusammenhangs, 60 ff., 101 ff., 131 ff. Aus der Kommentarliteratur siehe Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 18 ff.; Rauscher/Leible, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 11 ff.; Stein/Jonas/ G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 46 ff. 37 Dazu Geimer, FS Kropholler 2008, 777, 791 ff. 38 Zur Koordination von Parallelverfahren im Anwendungsbereich der EuGVVO ausführlich jüngst Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 123 ff.; Schmehl, Parallelverfahren und Justizgewährung, 93 ff.; grundlegend zuvor Otte, Umfassende Streitentscheidung, 341 ff. Die Konnexitätsregel findet sich zukünftig in Art. 30 Abs. 3 EuGVVO n.F. 36

C. Themeneingrenzung

9

Nr. 3, 4 EuGVVO 39 werden lediglich im Kontext der Diskussion beleuchtet, ob im Rahmen der systematischen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO die Orientierung an einer der beiden Vorschriften sinnvoll ist. Die Regelungen zur Verfahrenskoordination im deutschen Zivilprozessrecht erfahren ebenfalls kaum Beachtung, da ihnen keine Relevanz für die Ermittlung der internationalen Zuständigkeit zukommt. Ausdrücklich zu nennen sind hier das Bestimmungsverfahren des § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO, das die Zuweisung eines für mehrere Klagen zuständigen Gerichts durch das nächsthöhere Gericht erlaubt, ohne dabei aber die internationale Zuständigkeit zu begründen, 40 die Hinzuziehung eines Dritten zu einem Rechtsstreit mithilfe der parteierweiternden Widerklage gemäß § 33 ZPO, aus der sich ebenfalls allein die örtliche Zuständigkeit des Gerichts ergeben kann, 41 und die Prozessverbindung im Falle der Streitgenossenschaft gemäß §§ 59, 60 ZPO, bei der die Prozessvoraussetzungen für jeden Streitgenossen gesondert zu prüfen sind. 42 Konsequenterweise werden auch keine rechtspolitischen Erwägungen in Hinblick auf eine Einführung eines allgemeinen Gerichtsstands der Streitgenossenschaft in die ZPO angestellt.43 Die Ausführungen zur Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Patentrecht beziehen sich auf Patentverletzungsklagen als bedeutendste Patentstreitsache. Im Fokus der Untersuchung steht die Zulässigkeit der Konzentration von Verletzungsklagen aus nationalen Patenten und europäischen Bündelpatenten. Eine kursorische Betrachtung erfährt zudem die Regelung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft im neuen Übereinkommen über ein einheitliches Patentgericht (EPGÜ) 44 , wobei

39 Im Einzelnen Otte, Umfassende Streitentscheidung, 144 ff. Auch in Zukunft kann der Schuldner die Versagung der Anerkennung einer unvereinbaren Entscheidungen gemäß Art. 45 Abs. 1 lit. c), d) EuGVVO n.F. beantragen (dazu von Hein, RIW 2013, 97, 109 f.). 40 Eingehend dazu Albicker, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, 67 ff. 41 Nach Auffassung der Rechtsprechung ergibt sich die internationale Zuständigkeit des Gerichts für die Widerklage gegen einen am Verfahren bisher nicht beteiligten Ausländer nicht bereits aus § 33 ZPO (siehe nur BGH v. 20.5.1981, NJW 1981, 2642). In der Literatur wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass nicht einmal die örtliche Zuständigkeit gegenüber dem Dritten auf § 33 ZPO gestützt werden kann, sondern ein anderer Gerichtsstand bestehen muss (zum Streitstand MünchKommZPO/Patzina, § 33 ZPO, Rn. 27 ff.). 42 Siehe nur MünchKommZPO/Schultes, § 59 ZPO, Rn. 11. 43 Dafür plädiert etwa Albicker, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, 143 ff. 44 Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht v. 19.2.2013, ABl. EU 2013 C 175/1.

10

Einleitung

der Zeitpunkt der Ratifikation und der Geltungsbereich des Übereinkommens derzeit noch ungewiss sind. Hinsichtlich des Kartelldeliktsrechts wird die Rechtsdurchsetzung in follow on-Verfahren beleuchtet, denen die behördliche Offenlegung der Verletzung des EU-Kartellverbots durch ein Hardcore-Kartell vorausgegangen ist.45 Die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands erfolgt, um den in der Praxis häufigsten Anlass für die Erhebung kartelldeliktischer Schadensersatzklagen ausführlich erörtern zu können. Im Vergleich zu anderen Wettbewerbsbeschränkungen schaffen HardcoreKartellverstöße, die durch Unternehmen derselben Marktstufe begangen wurden, regelmäßig einen größeren finanziellen Anreiz für die Beschreitung des zivilen Rechtswegs: Zum einen zählen die aufgezählten Verhaltensweisen sämtlich zu Verhaltensweisen, die – vereinfacht ausgedrückt – per se als Wettbewerbsbeschränkung anerkannt sind, was den Kläger von der schwierigen Ermittlung der gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen entbindet. 46 Zum anderen gehen die Wettbewerbsbehörden mit besonderem Eifer gegen diese außerordentlich missbilligenswerte Form der Wettbewerbsbeschränkung vor, sodass im Zivilverfahren häufiger an die behördlichen Feststellungen zum Kartellverstoß angeknüpft werden kann. 47 Nach der Offenlegung und Sanktionierung des wettbewerbswidrigen Verhaltens durch die Kartellbehörden genießt der Inhaber eines privaten Schadensersatzanspruchs den Vorteil, dass das mitgliedstaatliche Gericht an die Feststellungen der Wettbewerbsbehörden zum Kartellverstoß gebunden ist. Reine stand alone-Verfahren, d.h. Verfahren, in denen der Verstoß gegen das Kartellverbot vor den Zivilgerichten durch einen Privatmann eigenständig nachgewiesen werden muss, haben im Bereich horizontaler Wettbewerbsbeschränkungen dagegen kaum eine praktische Bedeutung. Dem privaten Marktteilnehmer ist es nämlich mangels der erforderlichen Ermittlungsbefugnisse kaum möglich, eine Verletzung des Kartellverbots aus eigener Kraft nachzuweisen.48

45

Zu dem Begriff follow on-Verfahren eingehend noch auf S. 239 f. Basedow, EuZW 2006, 97, der beispielhaft darauf hinweist, dass die Einschätzung vertikaler Wettbewerbsbeschränkungen unter anderem von dem Konzentrationsgrad des betroffenen Marktes abhängen soll, was die schwierige Ermittlung der Marktanteile sämtlicher Unternehmen voraussetze. 47 Maier, Marktortanknüpfung, 63. 48 Zu dieser Einschätzung gelangt etwa die Untersuchung von Scott/Simpson, in: Gotts (Hg.), The Private Competition Enforcement Review, 87, 89 f. Vgl. auch Weitbrecht, NJW 2012, 881. Zu den beweistechnischen Schwierigkeiten bei der Durchsetzung kartelldeliktischer Ansprüche in einem stand alone-Verfahren Ellenrieder, Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes, 13 ff. 46

D. Gang der Untersuchung

11

D. Gang der Untersuchung D. Gang der Untersuchung

Das skizzierte Untersuchungsprogramm wird in drei Teilen durchschritten. Im ersten Teil der Arbeit werden die allgemeinen Lehren des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO betrachtet. Eingangs sind die Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung der Vorschrift zu bestimmen (Kapitel 1), um darauf aufbauend den Bedeutungsgehalt des Konnexitätserfordernisses (Kapitel 2), die Bekämpfung der missbräuchlichen Zuständigkeitserschleichung (Kapitel 3) und das Kriterium des Wohnsitzes der Streitgenossen sowie das Zusammenspiel mit anderen Gerichtsständen der EuGVVO zu erörtern (Kapitel 4). Abschließend werden die allgemeinen Lehren des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft in einem Zwischenergebnis festgehalten (Kapitel 5). Der zweite Teil der Arbeit untersucht die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in den ausgewählten Rechtsgebieten, um die entwickelten Leitlinien zur Auslegung der Vorschrift auf konkrete Fragestellungen zu übertragen. Zunächst wird die Durchsetzung nationaler Patente und des europäischen Bündelpatents am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft in diversen Konstellationen eingehend analysiert (Kapitel 6). Sodann wird die Konzentration kartelldeliktischer Schadensersatzklagen wegen der Verletzung des EU-Kartellverbots durch ein Hardcore-Kartell beleuchtet, wobei unterschieden wird zwischen Verfahren, in denen sämtliche Beklagte Adressaten der vorausgegangenen Bußgeldentscheidung sind, und Verfahren, in denen einzelne Beklagte mit diesem Personenkreis lediglich in einer konzernrechtlichen Verbindung stehen (Kapitel 7). Die Arbeit schließt im dritten Teil mit der Präsentation der zu den allgemeinen Lehren und der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gewonnenen Ergebnisse (Kapitel 8).

1. Teil

Allgemeine Lehren

Kapitel 1

Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO A. Methodische Vorüberlegungen A. Methodische Vorüberlegungen

Der Inhalt der Bestimmungen der EuGVVO richtet sich nicht etwa nach dem jeweiligen nationalen Verständnis der in der Verordnung verwendeten Begriffe, sondern wird, sofern nicht ausdrücklich auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (zurück-)verwiesen wird,1 europäisch-autonom bestimmt. 2 Ziel der europäisch-autonomen Auslegung ist die Vermeidung einer „Renationalisierung“ der geschaffenen Zuständigkeitsordnung, um die grenzüberschreitende Rechtsanwendungsgleichheit im europäischen Justizraum zu gewährleisten.3 Der EuGH hat sich daher bereits in seiner frühen Judikatur zum EuGVÜ für die einheitliche Interpretation der Regeln des europäischen Zivilprozessrechts stark gemacht, indem er dem Rechtsanwender aufgab „zum einen die Ziele und den Aufbau des Übereinkommens und zum anderen die sich aus der Gesamtheit der nationalen Rechtssysteme ergebenden allgemeinen Grundsätze“ zu berücksichtigen.4 Im Ursprung speist sich die europäisch-autonome Auslegung also aus zwei Quellen, von denen die eine im auszulegenden Rechtsakt selbst entspringt, die andere dagegen auf der Ebene der nationalen Prozessrechte angesiedelt ist. Die heutige Urteilspraxis des Gerichtshofs wird jedoch klar durch die Auslegung nach der inneren Systematik und der jeweiligen Zwecksetzung des Gemeinschaftsrechts

1 So z.B. für den Begriff des (Wohn)Sitzes gemäß Art. 59, 60 EuGVVO (zukünftig Art. 62, 63 EuGVVO n.F.). 2 Siehe nur Rauscher/Staudinger, EuZPR, Einl. Brüssel I-VO, Rn. 36. 3 Hess, IPRax 2006, 348, 352. 4 EuGH v. 14.10.1976, Rs. C-29/1976 (LTU/Eurocontrol), Slg. 1976, 1541, Rn. 5; EuGH v. 21.4.1993, Rs. C-172/1991 (Sonntag/Waidmann u.a.), Slg. 1993, I1963, Rn. 18; zur EuGVVO siehe EuGH v. 23.4.2009, Rs. C-533/2007 (Falco Privatstiftung und Rabitsch/Weller-Lindhorst), Slg. 2009, I-3327, Rn. 20.

A. Methodische Vorüberlegungen

15

dominiert, wohingegen die Ergebnisse konkreter Rechtsvergleichung nur vereinzelt zur Entscheidungsbegründung bemüht werden.5 Der Bedeutungsverlust der vergleichenden Betrachtung einzelner nationaler Regelungen in der EuGH-Rechtsprechung ist auf diverse Ursachen zurückzuführen. Zunächst verkompliziert die wachsende Zahl von Mitgliedstaaten naturgemäß den Prozess der Rechtsvergleichung und verringert die Chance auf Gemeinsamkeiten zu stoßen. 6 Innerhalb einer weit verstandenen rechtsvergleichenden Methodik tritt zudem der reichhaltige Fundus mitgliedstaatlicher Rechtsprechung und Doktrin zu den unionsrechtlichen Bestimmungen in den Vordergrund.7 Schließlich lässt sich zur Auslegung der EuGVVO inzwischen auf allgemeine Prinzipien zurückgreifen, die unmittelbar aus dem europäischen Zivilprozessrecht und dessen Einbettung in das System des Gemeinschaftsrechts gewonnen werden können.8 Bei der Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, dessen einheitliche Anwendung wesentlich vom Bedeutungsgehalt des normativen Tatbestandsmerkmals der engen Beziehung der Klagen abhängt, ist daher zum einen auf die Vorschrift selbst zu blicken: Die historischen Wurzeln, die systematische Stellung innerhalb der Verordnung und der Sinn und Zweck geben Hinweise, was unter der Konnexität der Klagen zu verstehen ist. Zum anderen setzen die Grundprinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts – insbesondere der Grundsatz der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände und das Gebot der Vorhersehbarkeit – den Rahmen für die Konkretisierung des Sachzusammenhangs der Klagen.9 Weniger aufschlussreich ist hingegen die Betrachtung der nationalen Streitgenossenzuständigkeiten der Mitgliedstaaten, da die Regelungen zu unterschiedlich ausgestaltet sind, als dass sich eine ge-

5

Hess, IPRax 2006, 348, 358 ff.; Coester-Waltjen, in: Kieninger/Remien (Hg.), Europäische Kollisionsrechtsvereinheitlichung, 77, 85 f.; Rauscher/Staudinger, EuZPR, Einl. Brüssel I-VO, Rn. 36. 6 Coester-Waltjen, in: Kieninger/Remien (Hg.), Europäische Kollisionsrechtsvereinheitlichung, 77, 85 f. 7 Vgl. Hess, IPRax 2006, 348, 353, Fn. 82, der die Beobachtung anführt, dass „die Argumentation vor dem EuGH heute deutlich von der Anwendungspraxis nationaler Gerichte zum EuGVÜ und weniger von der Präsentation nationaler Regelungskonzepte geprägt ist“. Zu den Gegenständen der Rechtsvergleichung siehe Kropholler/von Hein, EuZPR, Einl. EuGVO, Rn. 79. 8 Audit, Clunet 131 (2004), 789, 802 ff.; Pontier/Burg, EU Principles, 74; Hess, IPRax 2006, 348, 351. 9 Zur prinzipiengeleiteten Interpretation des europäischen Prozessrechts eingehend Pontier/Burg, EU Principles, 5 ff.; Hess, IPRax 2006, 348, 358 ff.

16

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

meinsame Vorstellung von Konnexität auf die europäische Regelung übertragen ließe.10 So knüpfen einige Prozessordnungen wie Art. 6 Nr. 1 EuGVVO an den allgemeinen Gerichtsstand an, 11 wohingegen andere den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft unabhängig vom inländischen Wohnsitz mindestens eines Beklagten eröffnen. 12 Während mancherorts die Beklagten vor der zweckwidrigen Verfahrenskonzentration durch spezielle Einschränkungen geschützt werden, 13 wird anderswo allein dem Kriterium des Sachzusammenhangs die Aufgabe zugewiesen, den Regelungsbereich der Zuständigkeit zu determinieren.14 Ob der bestehenden Divergenzen der nationalen Streitgenossenschaftszuständigkeiten unterscheidet sich der Umgang mit dem Konnexitätserfordernis häufig schon im Ausgangspunkt, was den Erkenntnisgewinn der Rechtsvergleichung erheblich schmälert; im schlechtesten Fall führt der Vergleich der einzelstaatlichen Regelungen den Rechtsanwender gar in die Irre.15 10

Vgl. Nuyts, General Study on Residual Jurisdiction, Rn. 67: „There is a great deal of divergences as to the exact nature and extent of such requirement [the connection between the claims], and it is delicate to draw general conclusions from the national reports“. Zuvor bereits Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 83: „Zwar enthält die überwiegende Zahl der Prozeßrechte in Europa einen Mehrparteiengerichtsstand, jedoch lassen sich durch die Rechtsvergleichung keine bestimmten Auslegungsgrundsätze für Art. 6 Nr. 1 EuGVVO herleiten“. 11 So etwa der französische Art. 42 Abs. 2 ncpc: „S’il y a plusieurs défendeurs, le demandeur saisit, à son choix, la juridiction du lieu où demeure l’un d’eux”. 12 In England erlaubt CPR 6.36 i.V.m. 3.1 (3) der PD 6b die zuständigkeitsbegründende service out of jurisdiction gegenüber dem Annexbeklagten unabhängig vom englischen Wohnsitz des Ankerbeklagten (Dicey, Morris & Collins, Conflict of Laws, Rn. 11-162 ff., Rn. 11-315; Briggs/Rees, Civil Jurisdiction and Judgments, Rn. 4.57). 13 Beispielsweise fordert die englische Rechtsprechung für die Zuständigkeitsbegründung gegenüber mehreren Beklagten, dass die Ankerklage ein gewisses Maß an Erfolgsaussichten aufweist (sog. real issue-Erfordernis, dazu ausführlich S. 107 ff.), versteht den Sachzusammenhang der Klagen im Gegenzug aber tendenziell großzügig (Dicey, Morris & Collins, Conflict of Laws, Rn. 11-315; Fawcett, ICLQ 1995, 744, 747 f.). 14 Entsprechend ist die Konnexität der Klagen auf klar umrissene Fälle umgrenzt. So wird in Österreich etwa die materielle (notwendige) Streitgenossenschaft gemäß § 11 Abs. 1 ÖZPO verlangt, die formelle (einfache) Streitgenossenschaft gemäß § 11 Abs. 2 ÖZPO dagegen nicht für ausreichend erachtet (Fasching/Konecny/Simotta, § 93 JN, Rn. 1; König, RZ 1997, 240; Otte, Umfassende Streitentscheidung, 665). 15 Für eine ausführliche rechtsvergleichende Untersuchung der nationalen Gerichtsstände der Streitgenossenschaft siehe vor allem Otte, Umfassende Streitentscheidung, 654 ff. Siehe auch Albicker, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, 34 ff. Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 70 ff.; Donzallaz, La Convention de Lugano, Rn. 5441; Rohner, Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs, 84 ff.;

B. Anwendung des klassischen Auslegungskanons auf Art. 6 Nr. 1 EuGVO

17

Im Folgenden sollen die Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO daher rechtsaktbezogen gelegt werden. In einem ersten Schritt werden in Anwendung des klassischen Auslegungskanons die historischen Wurzeln des Konnexitätserfordernisses freigelegt, die Möglichkeiten zur systematischen Einordnung der Vorschrift in die EuGVVO diskutiert und die Ziele der Verfahrenskonzentration benannt (dazu unter B.). Danach ist auf die bei der Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu beachtenden allgemeinen Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts einzugehen, weshalb der Grundsatz der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände und das Gebot der Vorhersehbarkeit in den Fokus rücken (dazu unter C.).16

B. Anwendung des klassischen Auslegungskanons auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO B. Anwendung des klassischen Auslegungskanons auf Art. 6 Nr. 1 EuGVO

I.

Die historische Begründung des Konnexitätserfordernisses

Wenngleich das Tatbestandsmerkmal der engen Beziehung der Klagen im Wortlaut der Vorgängervorschrift des Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ noch nicht angelegt war, forderte schon der Jenard-Bericht die Einschränkung des ansonsten uferlosen Anwendungsbereichs des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft.17 Es verwundert daher nicht, dass der EuGH das Konnexitätserfordernis bereits in seiner ersten Entscheidung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ verbindlich machte.18 Dem Kläger des Ausgangsfalls, Herrn Kalfelis, waren von der Luxemburger Dependance eines Frankfurter Bankhauses verlustreiche Börsentermingeschäfte vermittelt worden, woraufhin er beschloss, die Beteiligten vor dem LG Frankfurt am Main gemeinsam auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen. 19 Da die Zuständigkeit gegenüber der luxemSchröder, Internationale Zuständigkeit, 558 ff.; Schurig, FS Musielak 2004, 493, 506 ff. 16 Das bedeutet jedoch nicht, dass die vergleichende Betrachtung der nationalen Gerichtsstände der Streitgenossenschaft nicht zur Konkretisierung einzelner Einschränkungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wie z.B. der Erfolgsaussichten der Ankerklage herangezogen werden sollte. 17 Jenard-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/26. 18 EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565. 19 Zu den Beklagten zählte auch ein in Frankfurt wohnhafter Prokurist des Bankhauses, gegenüber dem die Zuständigkeit auf Art. 2 Abs. 1 EuGVVO i.V.m. § 13 ZPO gestützt wurde.

18

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

burgischen Niederlassung nur mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ begründet werden konnte, fragte der letztinstanzlich mit der Klärung der Zuständigkeitsfrage betraute BGH den Gerichtshof, ob zwischen den Klagen gegen die verschiedenen Beklagten ein Zusammenhang bestehen müsse und, sofern das der Fall sei, wie dieser Zusammenhang zu konkretisieren sei.20 Der Gerichtshof bestätigte das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Konnexität der Klagen mit der Begründung, dass eine Klage gegen mehrere Beklagte nicht allein zu dem Zweck erhoben werden dürfe, „einen dieser Beklagten der Zuständigkeit der Gerichte seines Wohnsitzstaats zu entziehen.“21 Zur Konkretisierung der Konnexität griff der Gerichtshof auf die Formulierung des Art. 22 Abs. 3 EuGVÜ (inzwischen Art. 28 Abs. 3 EuGVVO) zurück, wonach der Zusammenhang der Klagen bestehe, „wenn eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, daß in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten“.22 Bei der Überführung des Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ in die EuGVVO wurde das Konnexitätserfordernis auf Vorschlag der Kommission in den Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO aufgenommen.23 II. Keine systematische Einordnung bei Art. 28 EuGVVO oder Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO Für die systematische Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO sind diejenigen Normen der EuGVVO in Betracht zu ziehen, die gleichfalls der geordneten Rechtspflege innerhalb Europas dienen. Dazu gehört zum einen der soeben erwähnte Art. 28 EuGVVO, der den mitgliedstaatlichen Gerichten die Aussetzung oder Abweisung des Verfahrens erlaubt, sofern eine in Zusammenhang stehende Klage bereits bei dem Gericht eines anderen Mitgliedstaates anhängig ist. Zum anderen gehört dazu Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO, demzufolge der Entscheidung eines anderen mitgliedstaatlichen Gerichts die Anerkennung ausnahmsweise versagt 20 EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 4. 21 EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 9. 22 EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 11 f. So bereits GA Darmon, Schlussanträge v. 15.6.1988, Rs. C189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 11 f. 23 Vorschlag der Kommission v. 14.7.1999, KOM(1999) 348 endg., 15, abrufbar unter: .

B. Anwendung des klassischen Auslegungskanons auf Art. 6 Nr. 1 EuGVO

19

werden darf, wenn sie mit einer gegenüber denselben Parteien zuvor ergangenen Entscheidung unvereinbar ist. Während die erstgenannte Vorschrift also die Verfahrenskoordination durch die Berücksichtigung des Prioritätsprinzips befördert, 24 fungiert die letztgenannte als „Notbremse“ im Rechtsbehelfsverfahren gegen die Anerkennung.25 Das deutlich großzügigere Verständnis von Konnexität erlaubt die systematische Orientierung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO an Art. 28 EuGVVO.26 Die Rechtsprechung des Gerichtshofs fordert für das Vorliegen einer „unvereinbaren Entscheidung“ i.S.d. Art. 34 Abs. 3, 4 EuGVVO nämlich sich gegenseitig ausschließende Rechtsfolgen,27 wohingegen diese Voraussetzung für eine „widersprechende Entscheidung“ i.S.d. Art. 28 Abs. 3 EuGVVO nicht für notwendig erachtet wird.28 Der EuGH hat bis heute offen gelassen in welchem systematischen Zusammenhang Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu lesen ist; 29 die Vorschläge seiner Generalanwälte weisen in entgegengesetzte Richtungen. 30 Nachfolgend soll aus diesem Grund überprüft werden, ob Art. 28 EuGVVO oder Art. 34 Abs. 3, 4 EuGVVO für die Interpretation der engen Beziehung der Klagen Orientierung bieten kann. 1. Vermeintliche Eignung wegen des ähnlichen Wortlauts Ihrem Wortlaut nach eignen sich beide Vorschriften zur Konkretisierung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Wie dargestellt, ist die Umschreibung der Konnexität in Art. 6 Nr. 1 EuGVVO und Art. 28 Abs. 3 EuGVVO historisch bedingt nahezu wortgleich. Demgegenüber spricht Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO zwar nicht von „widersprechenden“, sondern von „unvereinbaren“ Entscheidungen. Die englische und französische Fassung der 24

Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 28 EuGVVO, Rn. 2. Plastisch Stein/Jonas/Oberhammer, Art. 34 EuGVVO, Rn. 85. 26 GA Léger, Schlussanträge v. 8.12.2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 109 ff.; Bodson, RDIDC 2007, 447, 461 f.; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 90 f. 27 EuGH v. 4.2.1988, Rs. C-145/1986 (Hoffmann/Krieg), Slg. 1988, 645, Rn. 22. 28 EuGH v. 6.12.1994, Rs. C-406/1992 (Tatry/Maciej Rataj), Slg. 1994, I-5439, Rn. 53. 29 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 25. 30 Für Art. 34 EuGVVO GA Léger, Schlussanträge v. 8.12.2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 109. Für Art. 28 Abs. 3 EuGVVO dagegen GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 71 (wobei die Generalanwältin an Art. 6 Nr. 1 EuGVVO „etwas höhere Anforderungen“ stellen möchte als an Art. 28 Abs. 3 EuGVVO). 25

20

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

EuGVVO verwenden jedoch in allen drei Vorschriften das Wort „irreconcilable“ bzw. „inconciliable“, sodass aus den Unterschieden der deutschen Fassung kein überzeugendes Argument gewonnen werden kann.31 2. Tatsächliche Untauglichkeit aufgrund der unterschiedlichen Funktion Dessen ungeachtet sind weder Art. 28 EuGVVO noch Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO geeignete Auslegungshilfen, wie der funktionale Abgleich mit Art. 6 Nr. 1 EuGVVO offenbart. a) Funktionaler Abgleich mit Art. 28 EuGVVO Gegen die Anlehnung an Art. 28 EuGVVO spricht, dass Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu einem anderen Zeitpunkt im Verfahren eingreift, andere Personen adressiert und die Interessen der Parteien auf unterschiedliche Art und Weise tangiert. Als Teil des Systems der besonderen Gerichtsstände soll Art. 6 Nr. 1 EuGVVO dazu beitragen, die internationalen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten vor Beginn eines Verfahrens gerecht und effizient zu verteilen. Demgegenüber beabsichtigt Art. 28 EuGVVO bereits anhängig gemachte Verfahren zu koordinieren. Der Konkretisierung des Sachzusammenhangs in beiden Normen liegen somit verschiedene Prinzipien zu Grunde. Beispielsweise ist dem Gebot der Vorhersehbarkeit, welches bei der Verfahrenskoordination kaum eine Rolle spielt, im Rahmen der Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO besondere Bedeutung einzuräumen.32 Insoweit lässt sich an der Kalfelis-Entscheidung zu Recht bemängeln, dass der Konnexitätsbegriff einer Zuständigkeitsvorschrift durch die Definition einer Vorschrift zur Verfahrenskoordination ausgefüllt wurde.33 Die unterschiedliche Funktion der beiden Vorschriften spiegelt sich auch in ihrem jeweiligen Adressatenkreis wider. Während Art. 28 31 Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 132, Fn. 548 (zur englischen Fassung des EuGVÜ). Nach zutreffender Auffassung des EuGH hilft die am Wortlaut verhaftete Argumentation bei unterschiedlichen Sprachfassungen nicht weiter (EuGH v. 27.10.1977, Rs. C-30/1977 (Regina/Bouchereau), Slg. 1977, 1999, Rn. 13/14: „Die verschiedenen sprachlichen Fassungen einer Gemeinschaftsvorschrift müssen einheitlich ausgelegt werden; falls die Fassungen voneinander abweichen, muss die Vorschrift daher nach dem allgemeinen Aufbau und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört.“). 32 Diesen Unterschied betont auch Lüthi, System, Rn. 851. 33 Treffend Adolphsen, IPRax 2007, 15, 20.

B. Anwendung des klassischen Auslegungskanons auf Art. 6 Nr. 1 EuGVO

21

EuGVVO die Entscheidung über die Aussetzung und Abweisung des Verfahrens in das gerichtliche Ermessen stellt, begründet Art. 6 Nr. 1 EuGVVO einen Wahlgerichtsstand für den Kläger. Anders als das angerufene Gericht legt der Kläger seiner Entscheidung aber nicht zwangsläufig den Gedanken einer geordneten Rechtspflege zu Grunde, sondern wählt den für ihn günstigsten Gerichtsstand, wobei auch prozesstaktische Überlegungen eine Rolle spielen können, die außerhalb der hinter dem Gerichtsstand stehenden Intention des Verordnungsgebers liegen.34 Ferner passt die systematische Orientierung an Art. 28 EuGVVO nicht zu der Aufgabe, die der EuGH dem Tatbestandsmerkmal der Konnexität bei dessen Einführung zugewiesen hat. Dass der Beklagte der Zuständigkeit seiner Wohnsitzgerichte nicht ohne Grund entzogen werden darf, 35 findet bei der Abstimmung zwischen bereits bestehenden internationalen Zuständigkeiten nämlich keine Berücksichtigung.36 Selbst wenn man in der bloßen Verfahrenskoordination eine Gefahr für die Rechte des Beklagten erblickte, ist deren Realisierung keineswegs gewiss.37 Denn zum einen steht es im freien Ermessen des Gerichts, ob es untätig bleibt, das Verfahren aussetzt oder sich für unzuständig erklärt. Zum anderen begünstigt die Ermessensausübung in Richtung der beiden letztgenannten Optionen den Beklagten sogar, wenn das außerhalb des Heimatstaates des Beklagten belegene Gericht das später angerufene ist.38 Unterschiedlich ist schließlich auch das Verhältnis der beiden Vorschriften zum klägerischen Justizgewährungsanspruch: Während die extensive Auslegung der Konnexität bei Art. 6 Nr. 1 EuGVVO die Position des Klägers verbessert, erweitert sie bei Art. 28 EuGVVO den Spielraum des später angerufenen Gerichts, den Rechtsschutz (zeitweilig) zu versagen. Die systematische Einordnung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei 34

GA Léger, Schlussanträge v. 8.12.2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 93 ff. Gleichwohl weisen einige der für die Ermessensausübung des Gerichts entscheidenden Kriterien – etwa die Prozessökonomie, die Sach- und Beweisnähe des Gerichts und die Anerkennungsfähigkeit des ergehenden Urteils – in die gleiche Richtung wie die Interessen des Klägers bei der Wahl des Gerichtsstands (vgl. die umfangreiche Aufzählung der gerichtlichen Ermessenskriterien bei Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 28 Brüssel I-VO, Rn. 7). 35 EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 9. 36 Schurig, FS Musielak 2004, 493, 504 f.; Magnus/Mankowski/Muir Watt, Art. 6 Brussels I-Regulation, Rn. 7; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 24. 37 Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 472; Lüthi, System, Rn. 851. Eine ausführliche Analyse der von der Verfahrenskoordination betroffenen Interessen liefert Otte, Umfassende Streitentscheidung, 342 ff., 442 ff. 38 GA Léger, Schlussanträge v. 8.12.2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 86 f.

22

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

Art. 28 EuGVVO geht somit trotz der historisch bedingten Ähnlichkeit des Wortlauts der beiden Vorschriften fehl.39 b) Funktionaler Abgleich mit Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO Noch augenscheinlicher sind die gegenüber der Orientierung an Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO bestehenden Vorbehalte. Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft fördert die Entscheidungsharmonie präventiv, wohingegen die Anerkennungsversagung gemäß Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO Schlimmeres verhindert, wenn sich die Gefahr widersprechender Entscheidungen bereits realisiert hat. 40 Ausgangslage für die Anwendung der letztgenannten Vorschrift bildet also eine Situation, die nach dem Zuständigkeitssystem der Verordnung gar nicht erst hätte entstehen dürfen.41 Zur Auflösung dieses Dilemmas erlaubt der Verordnungsgeber den nationalen Gerichten ausnahmsweise einem mitgliedstaatlichen Urteil die Anerkennung zu versagen. Um die nachprüfungsfreie Anerkennung der Entscheidungen innerhalb Europas als eines der wichtigsten Ziele des europäischen Zivilprozessrechts nicht zu konterkarieren, ist jedoch eine extrem restriktive Handhabung der Versagungsgründe geboten. 42 Übertrüge man das dem Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO zugrundeliegende Verständnis der unvereinbaren Entscheidungen auf die Konnexität i.S.d.

39 GA Léger, Schlussanträge v. 8.12.2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 93 ff.; Adolphsen, IPRax 2007, 15, 20; Lüthi, System, Rn. 852; Magnus/Mankowski/Muir Watt, Art. 6 Brussels I-Regulation, Rn. 6; zweifelnd auch Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 24 („nicht vollständig kongruent“). Für die Orientierung an Art. 28 EuGVVO dagegen Albicker, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, 134; Althammer, IPRax 2008, 228, 230; Briggs/Rees, Civil Jurisdiction and Judgments, Rn. 2.203; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6, Rn. 85; Hölder, Grenzüberschreitende Durchsetzung, 56 ff.; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 9; Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 609; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 91 f; vgl. auch GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 71; Rauscher/Leible, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 8; Weller, ZVglRWiss 112 (2013), 89, 92 (alle drei für eine etwas restriktivere Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO). 40 Pointiert Hölder, Grenzüberschreitende Durchsetzung, 65: „[W]enn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“. 41 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 62. 42 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 62; Pontier/Burg, EU Principles, 33 ff.; Stein/Jonas/Oberhammer, Art. 34 EuGVVO, Rn. 85. Demgegenüber wiegen die Bedenken hinsichtlich der Einschränkung des Beklagtenschutzes durch Art. 6 Nr. 1 EuGVVO deutlich geringer (siehe dazu sogleich S. 28 ff.).

B. Anwendung des klassischen Auslegungskanons auf Art. 6 Nr. 1 EuGVO

23

Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, verbliebe der Vorschrift folglich kein nennenswerter Anwendungsbereich mehr. Gegenüber einer Mehrzahl von Personen, wie sie der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft auf Beklagtenseite voraussetzt, sind sich gegenseitig ausschließende Rechtsfolgen im Übrigen kaum vorstellbar;43 nur in den seltensten Fällen wäre die Verfahrenskonzentration überhaupt noch möglich.44 Da auch die Orientierung an Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO nicht sinnvoll ist,45 sollte von der systematischen Einordnung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei anderen Instrumenten der EuGVVO, die der Abstimmung der Rechtspflege der Mitgliedstaaten dienen, insgesamt Abstand genommen werden.46 III. Telos des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO Gewinnbringender ist demgegenüber die teleologische Auslegung, die im europäischen Zivilprozessrecht ohnehin einen besonders hohen Stellenwert genießt.47 1. Primärziel: Entscheidungsharmonie Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft dient in erster Linie der Entscheidungsharmonie in der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung, 48 was in der finalen Verknüpfung seiner Eröffnung mit der Vermeidung widersprechender Entscheidungen („um zu“) deutlich zum Ausdruck kommt. Zu Recht wird das Primärziel der Entscheidungsharmonie daher 43

Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 92. GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 65; Lange, GRUR 2007, 107, 109; Lüthi, System, Rn. 853. 45 A.A. GA Léger, Schlussanträge v. 8.12.2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 109; Knöfel, MR-Int 2006, 127, 131. 46 Gegen jede systematische Einordnung auch Adolphsen, ZZPInt. 11 (2006), 137, 159; ders., Europäisches Zivilverfahrensrecht, 103; Bodson, RDIDC 2007, 447, 462; Lüthi, System, Rn. 852 f.; kritisch auch Lange, GRUR 2007, 107, 109; Schurig, FS Musielak 2004, 493, 510 f.; Magnus/Mankowski/Muir Watt, Art. 6 Brussels IRegulation, Rn. 25. 47 Zur Dominanz der teleologischen Auslegungsmethode im europäischen Zivilprozessrecht siehe Basedow, in: Max-Planck-Institut (Hg.), Handbuch IZVR, Bd. 1, Kap. II, Rn. 51; Hess, IPRax 2006, 348, 353 f.; Magnus/Mankowski/Magnus, Introduction, Rn. 100; Rauscher/Staudinger, EuZPR, Einl. Brüssel I-VO, Rn. 40. 48 Siehe Erwägungsgrund (15) der EuGVVO: „Im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege müssen Parallelverfahren so weit wie möglich vermieden werden, damit nicht in zwei Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen […]“. 44

24

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

bei der Auslegung der Vorschrift durch den EuGH in ständiger Rechtsprechung bemüht. 49 Unklar bleibt aber, welchen Stellenwert die Entscheidungsharmonie im europäischen Zuständigkeitsrecht genießt und welche Bedeutung Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei ihrer Verwirklichung zukommt. Die Vermeidung widersprechender Entscheidungen der mitgliedstaatlichen Gerichte war bei der Konstruktion des europäischen Zuständigkeitssystems jedenfalls nicht das oberste Ziel. Denn der besondere Gerichtsstand der Streitgenossenschaft wäre ein ausschließlicher, wenn die Vertragsstaaten ihn aufgrund allgemeiner Interessen der Justiz für unabdingbar erachtet hätten. 50 Gleichwohl wird das schon beim Erlass des EuGVÜ erklärte Anliegen des europäischen Zivilprozessrechts, die Urteilsfreizügigkeit im Binnenmarkt zu verwirklichen, 51 empfindlich gestört, wenn kollidierenden Entscheidungen aus dem Ausland die Anerkennung versagt werden muss.52 Widersprechende Entscheidungen zerstören zudem das für die Wahrnehmung der Grundfreiheiten notwendige Vertrauen der Bürger in die mitgliedstaatlichen Gerichtssysteme. Die Justiz verliert an Glaubwürdigkeit, wenn zwei Gerichte einen zusammenhängenden Tatsachenstoff jeweils unterschiedlich ermitteln oder übereinstimmende Rechtsfragen gegensätzlich beantworten. 53 In dieser Situation werden die Parteien naturgemäß eher die Richtigkeit der ausländischen Entscheidung bezweifeln, als dem heimischen Richter zu misstrauen. Daran kann dem Verordnungsgeber aber nicht gelegen sein, fußt die Vereinheitlichung des europäischen Zivilprozessrechts doch maßgeblich auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in die mitgliedstaatlichen Rechtssysteme.54 49 Vgl nur EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 9; EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/ Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 39; EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 78. 50 Vgl. Spellenberg, IPRax 1981, 75, 77, Fn. 16 (bezüglich der Ziele des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO). 51 So die Präambel des EuGVÜ („daß es […] geboten ist, […] die Anerkennung von Entscheidungen zu erleichtern“) und der Jenard-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/42. 52 Pontier/Burg, EU Principles, 109 f., 210. 53 Schröder, Internationale Zuständigkeit, 581 (allgemein zum Interesse der umfassenden Betrachtung eines Streitstoffes). Die Bedeutung der Entscheidungsharmonie innerhalb der EuGVVO ebenfalls hervorhebend Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6, Rn. 152: „Die Vermeidung von konkurrierenden Verfahren und widersprechenden Urteilen gehört nach dem Grundverständnis der kontinentalen Prozessrechte zu den wichtigsten Zielen des Verfahrensrechts überhaupt“. 54 Vgl. nur EuGH v. 27.4.2004, Rs. C-159/2002 (Turner/Grovit u.a.), Slg. 2004, I-3565, Rn. 24.

B. Anwendung des klassischen Auslegungskanons auf Art. 6 Nr. 1 EuGVO

25

Den wirksamsten Mechanismus zur Beförderung der Entscheidungsharmonie hält Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bereit. Der als bloße Ermessensvorschrift ausgestaltete Art. 28 EuGVVO kann Entscheidungskollisionen innerhalb der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung alleine nicht verhindern.55 Einmal bestehende Widersprüche dürfen die mitgliedstaatlichen Gerichte aber nur innerhalb der engen Grenzen des Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO korrigieren. 56 Gute Gründe sprechen somit dafür, die praktische Wirksamkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei der Konkretisierung der Konnexität nicht aus den Augen zu verlieren, um die Verwirklichung des hochrangigen Ziels der Entscheidungsharmonie der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung nicht zu gefährden.57 2. Sekundärziel: Prozessökonomie Von verschiedenen Seiten wird bei der Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zudem die Beförderung der Prozessökonomie ins Spiel gebracht.58 Obgleich sich dieses Ziel nicht ohne Weiteres an den Wortlaut der Vorschrift rückkoppeln lässt, ist der gemeinsamen Verhandlung zusammenhängender Klagen die Beschleunigung des Verfahrens und die Ersparnis von Kosten geradezu immanent. Dass diese Vorteile nicht nur die Konsequenz der Verfahrenskonzentration bilden, sondern zur Rechtfertigung der Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft in 55

Otte, Umfassende Streitentscheidung, 385. GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 62; Pontier/Burg, EU Principles, 33 ff.; Stein/Jonas/Oberhammer, Art. 34 EuGVVO, Rn. 85. Die Neufassung der EuGVVO sieht zwar in Art. 39 die Abschaffung des Exequaturverfahrens vor. Der Schuldner kann jedoch weiterhin die Verweigerung der Vollstreckung beantragen, wenn einer der Anerkennungsversagungsgründe des Art. 45 Abs. 1 lit. a)–d) EuGVVO n.F. vorliegt, da ohne die Beibehaltung vor allem des odre public-Vorbehalts sich das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nicht hätte durchsetzen lassen (Pohl, IPRax 2013, 109, 113; von Hein, RIW 2013, 97, 108 f.). Zu den einzelnen Phasen Abschaffung des Exequaturs im europäischen Zivilprozessrecht allgemein Cuniberti/Rueda, RabelsZ 75 (2011), 286, 288 ff. 57 Briggs/Rees, Civil Jurisdictions and Judgments, Rn. 2.201: „The purpose behind Article 6 is […] in particular, to avoid the risk of irreconcilable judgments which would follow if co-defendants […] where tried in separate proceedings. As a result […], there would be some pressure to interpret Article 6 sensibly, which means no predisposition to be restrictive about it“. 58 Etwa GA Mengozzi, Schlussanträge v. 24.5.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/ Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 44; GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 57 mit Fn. 14; Pataut, Rev. crit. dr. int. priv. 96 (2007), 848, 849; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 84; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, Rn. 25. 56

26

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

Stellung gebracht werden dürfen, stellt auch der Gerichtshof in der Entscheidung Glaxosmithkline fest, wenn er bemerkt, Art. 6 Nr. 1 EuGVVO diene „dem allgemeinen Ziel einer geordneten Rechtspflege, das auch die Wahrung des Grundsatzes der Verfahrensökonomie einschließt“. 59 Für die praktische Wirksamkeit der Vorschrift streitet somit auch das Ziel, die Prozessökonomie der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung über die Konzentration zusammenhängender Klagen zu optimieren. Dabei sollte jedoch nicht verkannt werden, dass allein aufgrund der prozessökonomischen Vorteile der gemeinsamen Verhandlung der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nicht eröffnet werden darf. Grundvoraussetzung für die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ist nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift die Gefahr widersprechender Entscheidungen, sodass es sich bei der Beförderung der Prozessökonomie lediglich um ein in die Auslegung der Vorschrift einfließendes Sekundärziel handelt.60 IV. Ergebnis Zum Geburtshelfer der Konnexität des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft hat der EuGH Art. 22 Abs. 3 EuGVÜ (inzwischen Art. 28 Abs. 3 EuGVVO) bestimmt. Die systematische Orientierung an dieser Vorschrift bringt für die Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO jedoch keinen Mehrwert. Ebenso wenig lässt sich das Verständnis von Konnexität i.S.d. Art. 34 Abs. 3, 4 EuGVVO heranziehen. Aufschlussreich ist vielmehr die teleologische Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Primäre Stoßrichtung der Norm ist die Vermeidung widersprechender Entscheidungen in der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung. Da Justizkonflikte bestenfalls präventiv, also bereits auf Zuständigkeitsebene, verhindert werden, ist der effet utile des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei der Konkretisierung der Konnexität keinesfalls aus den Augen zu verlieren. Sekundärziel der Vorschrift ist die prozessökonomische Gestaltung der Rechtspflege der Mitgliedstaaten.

59

EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 27. 60 Ähnlich Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 84 („subsidiary aim“).

C. Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts

27

C. Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts C. Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts

Bei allem Eifer für die praktische Wirksamkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO darf nicht verkannt werden, dass die europäisch-autonome Auslegung der Vorschrift innerhalb der Grenzen zu erfolgen hat, die von den allgemeinen Grundsätzen des europäischen Zuständigkeitsrechts gesteckt werden. Die „prinzipienorientierte Rechtsfindung“61 des EuGH bemüht zur Interpretation des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft vor allen Dingen den Grundsatz der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände und das Gebot der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeiten. 62 Beide Prinzipien sollen daher im nachfolgenden Abschnitt einer näheren Betrachtung unterzogen werden. I.

Die restriktive Auslegung der besonderen Gerichtsstände

In Hinblick auf den Grundsatz der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände soll in einem ersten Schritt überprüft werden, ob der EuGVVO tatsächlich ein festes Rangverhältnis zwischen dem allgemeinen Gerichtsstand und den besonderen Gerichtsständen innewohnt (dazu unter 1.). Sodann wird die Verwendung des Prinzips als Argumentationstopos in der Rechtsprechung des EuGH analysiert (dazu unter 2.). Schließlich werden unter Berücksichtigung der besonderen Auswirkungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf die Rechte der Beklagten Vorgaben für eine differenzierte Argumentation mit dem Grundsatz der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände aufgestellt (dazu unter 3.).

61

Hess, IPRax 2006, 348, 358 f. Zu Ersterem siehe EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 8; EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 21; EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 53. Zu Letzterem siehe EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 25 ff.; EuGH v. 22.5.2008, Rs. C462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 33; EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 81. 62

28

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

1. Herleitung für das europäische Zuständigkeitsrecht a) Wortlaut Dem Wortlaut der EuGVVO lässt sich das Rangverhältnis der Gerichtsstände nicht eindeutig entnehmen. Zwar ist die Zuständigkeit am Wohnsitz des Beklagten im ersten Abschnitt des zweiten Kapitels der Verordnung geregelt, der den Titel „allgemeine Vorschriften“ trägt, wohingegen die Überschrift des zweiten Abschnitts „besondere Zuständigkeiten“ lautet. Das „Besondere“ der Art. 5 ff. EuGVVO63 liegt aber nicht zwangsläufig in einem gegenüber dem allgemeinen Gerichtsstand bestehenden Ausnahmecharakter, sondern betrifft vielmehr deren konzeptionelle Unterschiede.64 Zum einen weisen die Art. 5 ff. EuGVVO den Rechtsstreit einem konkreten Gericht zu, da sie zusätzlich zur internationalen auch die örtliche Zuständigkeit regeln. Die Verordnung bestimmt also unmittelbar, welches Gericht zuständig ist, ohne dass es eines zusätzlichen Rückgriffs auf das nationale Prozessrecht bedarf.65 Zum anderen ist ein besonderer Gerichtsstand nur für bestimmte Ansprüche eröffnet – der des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO etwa nur für solche, die mit der Ankerklage in einer engen Beziehung stehen – wohingegen Art. 2 Abs. 1 EuGVVO 66 eine Allzuständigkeit für sämtliche Ansprüche gegen den Beklagten begründet.67 b) Systematik Klar für das Regel-Ausnahme-Verhältnis der Gerichtstände spricht auf den ersten Blick der Aufbau des Zuständigkeitssystems der EuGVVO: Der allgemeine Gerichtsstand liegt am Wohnsitz des Beklagten; eine Gerichtspflicht außerhalb des Heimatstaates lässt sich gegen den Willen des Beklagten nur an den besonderen Gerichtsständen der Art. 5 ff. EuGVVO und dem ausschließlichen Gerichtsstand des Art. 22 EuGVVO68 begründen.69 63

Zukünftig Art. 7 ff. EuGVVO n.F. Buchner, Kläger und Beklagtenschutz, 5 (zum EuGVÜ). 65 Diesen Unterschied betont auch der Jenard-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/22. 66 Zukünftig Art. 4 Abs. 1 EuGVVO n.F. 67 Vgl. EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 19. 68 Zukünftig Art. 24 EuGVVO n.F. 69 Der EuGH bemüht die Systematik der Verordnung in ständiger Rechtsprechung zur Rechtfertigung der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände: EuGH v. 27.10.1998, Rs. C-51/1997 (Réunion européenne/Spliethoff’s Bevrachtingskantoor und Kapitän des Schiffes „Alblasgracht V002“), Slg. 1998, I-6511, Rn. 44; 64

C. Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts

29

Die Ausrichtung der Zuständigkeitsordnung am Wohnsitz des Beklagten entpuppt sich bei näherer Betrachtung jedoch als eine Regelungstechnik, die keine Gewichtung der Parteiinteressen zum Ausdruck bringt, sondern bloß aus einem Mangel an Alternativen gewählt wurde. Von vornherein keine Option ist nämlich, den allgemeinen Gerichtsstand am Wohnsitz des Klägers zu verorten, da die besonderen Gerichtsstände bei dieser Ausgestaltung viel zu selten zur Anwendung kämen, überwögen aus Sicht des Klägers doch regelmäßig die Vorteile der Prozessführung am eigenen Wohnsitz.70 Dieses Problem lässt sich auch nicht durch die Kombination des allgemeinen forum actoris mit einem bei Zustellung der Klage entstehenden Wahlrecht des Beklagten zwischen den besonderen Gerichtsständen umgehen, da dann bereits begonnene Verfahren auf Kosten der effektiven Rechtsfindung unnötig verzögert würden. 71 Ebenso wenig besteht die Möglichkeit, ganz auf den allgemeinen Gerichtsstand zu verzichten, d.h. ein System gleichgeordneter besonderer Gerichtsstände zu schaffen, 72 da dem Kläger im Interesse der Rechtssicherheit mindestens ein Gerichtsstand mit Gewissheit zur Verfügung stehen muss.73 Die Rechtfertigung für den Aufbau des Zuständigkeitssystems der EuGVVO liegt somit vor allem darin, dass es nicht möglich ist, das Zusammenspiel von allgemeinem Beklagtengerichtsstand und dem Wahlrecht des Klägers zwischen den besonderen Gerichtsständen umzudrehen bzw. aufzugeben, ohne das Gebot des effektiven Rechtsschutzes zu missachten.74 Wenn aber jede andere Ausgestaltung des Zuständigkeitssystems a priori ausscheidet, kann von der Verbindung des allgemeinen Gerichtsstands am Wohnsitz des Beklagten mit dem Wahlrecht des Klägers zwischen den besonderen Gerichtsständen noch nicht auf einen grundsätzlichen favor defensoris geschlossen werden.75 Vielmehr spiegelt der Aufbau des Zuständigkeitssystems der EuGVVO lediglich die Erkenntnis wider, dass der allgemeine Gerichtsstand jedenEuGH v. 19.2.2002, Rs. C-256/2000 (Besix/WABAG), Slg. 2002, I-1699, Rn. 29; EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 74. 70 Buchner, Kläger und Beklagtenschutz, 148 ff. 71 Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 601 f. 72 So aber Buchner, Kläger und Beklagtenschutz, 146, der dem allgemeinen Gerichtsstand lediglich die Rolle einer subsidiären Auffangzuständigkeit zuweisen möchte. Kritisch dazu Hau, RabelsZ 64 (2000), 437, 440 f. 73 Hau, RabelsZ 64 (2000), 437, 441; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6, Rn. 36. 74 Vgl. Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 601. 75 Grundlegend Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 601 f.

30

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

falls nicht beim Kläger angesiedelt werden kann. Aus der Systematik der Verordnung lässt sich das Gebot der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände folglich nicht ableiten. c) Historie Die Wurzeln des Gebots der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände liegen in der römischrechtlichen Maxime des actor sequitur forum rei.76 Dass der Kläger dem Gerichtsstand des Beklagten folgt, war vor knapp 2000 Jahren zwar noch kein Eckpfeiler des prozessualen Beklagtenschutzes, sondern diente vielmehr den Interessen beider Parteien gleichermaßen.77 Die Verfasser des EuGVÜ werteten die Regel dennoch als „Schutzbestimmung für den Beklagten, [der] in dem internationalen Rechtsverkehr noch größere Berechtigung zu[kommt] als in dem innerstaatlichen Recht“, da es dem Beklagten schwerer falle, „sich vor einem ausländischen Gericht zu verteidigen als vor dem Gericht einer fremden Stadt innerhalb des eigenen Landes“.78 Die starke Betonung der Interessen des Beklagten im Jenard-Bericht zum EuGVÜ regt einen vorsichtigen Umgang mit den besonderen Zuständigkeiten an,79 obschon die restriktive Auslegung der Art. 5 ff. EuGVÜ an keiner Stelle ausdrücklich gefordert wird. Vor dem Hintergrund der voranschreitenden Integration des europäischen Justizraums ist der Aussagegehalt der etwa 40 Jahre alten Ausführungen des Jenard-Berichts jedoch erneut zu bewerten, 80 wobei sich Argumente sowohl für als auch gegen die Fortgeltung der grundsätzlichen Bevorzugung des Beklagten im europäischen Zuständig76

Als ältesten Beleg der Regel nennt Fries eine Textstelle der Verordnung der Kaiser Diokletian und Maximan aus dem Jahre 293: „Iuris ordinem converti postulas, ut non actor rei forum, sed reus actoris sequatur.“ (Fries, Forum in der Rechtssprache, 31, Fn. 39 unter Hinweis auf Cod. Iust. 3, 13, 2). 77 Weil die Gerichtsherrschaft über den Beklagten nur den Magistraten seines Heimatortes (forum originis) oder seines gewöhnlichen Aufenthaltsortes (forum domicilii) innewohnte, garantierte der allgemeine Gerichtsstand im klassischen Formularprozess lediglich, dass dem Kläger überhaupt ein Forum für die Durchsetzung seiner Rechte zur Verfügung stand (Schröder, Internationale Zuständigkeit, 229 ff.; Buchner, Kläger und Beklagtenschutz, 82 f.). 78 Jenard-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/18. 79 Geimer/Schütze/Geimer, Einl. EuGVVO, Rn. 61 (Beklagtenschutz als „Ausgangspunkt“ der zuständigkeitspolitischen Erwägungen des Jenard-Berichts). A.A. Buchner, Kläger und Beklagtenschutz, 7, der dem Jenard-Bericht lediglich eine „tendenzielle Sympathie“ für die Rechte des Beklagten entnehmen will. 80 Allgemein zum Bedeutungsverlust des Jenard-Berichts für die historische Auslegung des europäischen Zivilprozessrechts Kropholler/von Hein, EuZPR, Einl. EuGVO, Rn. 76.

C. Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts

31

keitsrecht anbringen lassen. Einerseits beeinträchtigen ausländische Gerichtsverfahren die Interessen der Parteien inzwischen weit weniger stark als noch zu Beginn der siebziger Jahre, da der europäische Rechtsraum, z.B. durch die Konsolidierung wesentlicher Teile des Kollisionsrechts, fester zusammengewachsen ist.81 Die zunehmende Nutzung der Grundfreiheiten durch die Bürger der EU trägt überdies zum Abbau der Berührungsängste gegenüber den Rechtssystemen anderer Mitgliedstaaten bei.82 Andererseits wurde bei der Schaffung des EuGVÜ mit den Rechten des Beklagten auf Zuständigkeitsebene behutsam umgegangen, um auf eine separate Kontrolle zur Anerkennung der Urteile mitgliedstaatlicher Gerichte verzichten zu können.83 Mit Abschaffung des Exequaturverfahrens in der Neufassung der EuGVVO gewinnt diese Erwägung zukünftig noch an Bedeutung, da ausländische Entscheidungen vor der Vollstreckung dann keiner regelmäßigen Kontrolle mehr im Vollstreckungsstaat unterliegen. 84 Aus diesem Grund sollten die Aussagen des Jenard-Berichts zum Stellenwert des actor sequitur forum rei im EuGVÜ längst nicht als überholt betrachtet werden. Die Historie des europäischen Zuständigkeitsrechts streitet also weiterhin für die restriktive Auslegung der besonderen Gerichtsstände.

81 Die Zumutbarkeit von Auslandsprozessen wird auch durch den technischen Fortschritt erhöht, der beispielsweise die Überwindung der zum Gerichtsort bestehenden Entfernung wesentlich erleichtert (Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 12). 82 Dass die Ländergrenzen in der Europäischen Union in einer fernen Zukunft gar kein Hindernis mehr für die Beilegung zivilrechtlicher Streitigkeiten darstellen, ist erklärtes Ziel der Schaffung eines gemeinsamen Zivilprozessrechts (Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, ABl.EU 2010 C 115/15; zu den politischen Leitlinien des Programms R. Wagner, IPRax 2010, 97 ff.). 83 Hau, RabelsZ 64 (2000), 437, 440 mit Hinweis auf Jenard-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/42. Ähnlich EuGH v. 4.7.1985, Rs. C-220/1984 (AS-Autoteile Service/ Malhé), Slg. 1984, 2267, Rn. 15: „[Art. 2 Abs. 1 EuGVVO] stellt insoweit ein Gegengewicht zu den Erleichterungen dar, die das Übereinkommen hinsichtlich der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen einräumt“. Vgl. auch EuGH v. 21.5.1980, Rs. C-125/1979 (Denilauler/SNC Couchet Frères), Slg. 1980, 1553, Rn. 13: „Im Hinblick auf die dem Beklagten im Urteilsverfahren eingeräumten Garantien handhabt das Übereinkommen in seinem Titel III die Anerkennung und Vollstreckung sehr großzügig“. 84 Dem Schuldner bleibt jedoch die Möglichkeit, die Verweigerung der Vollstreckung nach Art. 45 Abs. 1 lit. a)–d) EuGVVO n.F. zu beantragen (zu dieser Lösung Pohl, IPRax 2013, 109, 112 f.; von Hein, RIW 2013, 97, 108 f.).

32

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

d) Sinn und Zweck Schließlich ist zur Herleitung des Prinzips der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände auf Erwägungen zurückzugreifen, die sich am Sinn und Zweck der EuGVVO orientieren. In den Erwägungsgründen der Verordnung ist der Vorrang des allgemeinen Gerichtsstands des Beklagten nicht ausdrücklich festgeschrieben. Zwar heißt es im ersten Halbsatz des elften Erwägungsgrundes, die Zuständigkeitsvorschriften müssten sich „grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten“. Wenn der zweite Halbsatz im Anschluss aber formuliert, dass „diese Zuständigkeit stets gegeben sein [muss], außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist“, lässt sich daraus nur die restriktive Handhabung der ausschließlichen Gerichtsstände ableiten, da die besonderen Gerichtsstände den allgemeinen Gerichtsstand nicht verdrängen, sondern ihn ergänzen.85 Im Rahmen der teleologischen Auslegung der Verordnung lässt sich jedoch ganz allgemein hinterfragen, ob nicht ein grundsätzlicher Heimvorteil des Beklagten zur Herstellung der prozessualen Waffengleichheit der Parteien vonnöten ist. Mit dem bloßen Verweis auf die mit der ausländischen Gerichtspflicht einhergehenden Schwierigkeiten ist dabei noch kein durchschlagendes Argument gewonnen, bringt die Prozessführung im Ausland doch beiden Parteien gleichermaßen Nachteile.86 Im Übrigen ist die Verteilung der Parteirollen im Prozess ohnehin zu willkürlich um als Ausgangspunkt pauschaler Gerechtigkeitserwägungen dienen zu können. Zwar ist bei einseitigen Leistungsklagen der Anspruchsinhaber grundsätzlich leicht bevorteilt, da ihm die Dispositionsbefugnis über den Zeitpunkt des Rechtsstreits innewohnt.87 Die Möglichkeit der negativen Feststellungsklage verteilt die Klageinitiativkompetenz jedoch auf beide Beteiligten eines Rechtsstreits, was die Situation für den Anspruchsgegner wieder entschärft.88 85 Siehe den Erwägungsgrund 12, demzufolge „der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden [muss]“. 86 Spellenberg, IPRax 1981, 75, 76. Zu diesen Schwierigkeiten zählen etwa die fremde Gerichtssprache, eine andere lex fori, ein anderes Kollisionsrecht, die geografische Entfernung zum Gerichtsort und das ungewohnten Rechtsklima (siehe nur BGH v. 14.6.1965, NJW 1965, 1665, 1666; zu den Aspekten im Einzelnen Schack, IZVR, Rn. 253 ff.; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 1926.). 87 Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 600. 88 Buchner, Kläger und Beklagtenschutz, 86 f.; Hau, ZZPInt. 7 (2002), 214, 215. Nach dem EuGH darf selbst der Schuldner einer Forderung aus unerlaubter Handlung

C. Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts

33

Die Befürworter einer grundsätzlichen Bevorzugung des Beklagten auf Zuständigkeitsebene argumentieren indes mit der am materiellen Recht orientierten Erwägung, dass der Kläger der „Aggressor“ sei, der die gerichtliche Veränderung des status quo anstrebe.89 Die Verteidigung des Beklagten müsse erleichtert werden, da die gegen ihn erhobene Klage womöglich unbegründet sei.90 Dem widerspricht das gegenüberstehende Lager mit dem Hinweis, erst im Prozess könne geklärt werden, welcher der von der Rechtsordnung intendierte Zustand ist, sodass die Erfolgsaussichten des Rechtsstreits die Zuständigkeitsfrage nicht beeinflussen dürften.91 Wenngleich die Argumentation mit der Bedeutungslosigkeit der materiellen Rechtslage für sich genommen durchaus überzeugend ist, geht sie doch am Kern der Aussage vorbei, die sie zu widerlegen versucht. Denn die Vorstellung vom angreifenden Kläger basiert auf dem Verständnis, dass mit der Auferlegung zusätzlicher Gerichtspflichten zurückhaltend umzugehen ist, gerade weil die Richtigkeit der erhobenen Vorwürfe noch nicht feststeht. Lieber wird dem Kläger die Klärung einer begründeten Klage an einem besonderen Gerichtsstand versagt, als dass man wegen einer unbegründeten Klage aktiv Zwang auf den Beklagten ausübt. 92 Mit anderen Worten wird die Begründung einer zusätzlichen Gerichtspflicht als hoheitlicher Eingriff in die Rechte des Beklagten begriffen, wohingegen das Unterlassen der Eröffnung einer besonderen Zuständigkeit als weniger schwerwiegende Benachteiligung des Klägers

die Vorteile des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO (zukünftig Art. 7 Nr. 2 EuGVVO n.F.) durch die Erhebung einer negativen Feststellungsklage in Anspruch nehmen (EuGH v. 25.10.2012, Rs. C-133/2011 (Folien Fischer und Fofitec/Ritrama), EuZW 2012, 950). 89 Prononciert Wolff, Private International Law, 62 f.: „[T]he defendant’s interest to be sued in a court which is easily accessible to him and his witnesses must prevail – this follows from the general maxim that a defendant can claim greater protection than his aggressor.“ Ähnlich Neuhaus, RabelsZ 20 (1955), 232, Fn. 54 „der Beklagte als der grundsätzlich bevorzugte Angegriffene“. Aus jüngerer Zeit siehe etwa Ehricke, ZZP 111 (1998), 145, 168; Schack, IZVR, Rn. 222; von Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, § 3, Rn. 40. 90 Sehr klar Stone, EU Private International Law, 53: „This preference for the defendants over plaintiffs […] reflect[s] a primordial legal assumption that complaints should be presumed to be unjustified“. 91 Pointiert Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 599.: „Welche Partei der Störenfried ist, erfahren wir erst im Prozess.“ Ähnlich Schröder, Internationale Zuständigkeit, 235; Buchner, Kläger- und Beklagtenschutz, 86 ff.; Hau, ZZPInt. 7 (2002), 214, 215; Rodriguez, Beklagtenwohnsitz und Erfüllungsort, 101 f. 92 Treffend Stone, EU Private International Law, 53: „Failure to rectify injustice is regarded as more tolerable than positive action imposing injustice“.

34

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

aufgefasst wird. Auf Grundlage dieses Verständnisses lässt sich m.E. überzeugend dafür plädieren, dass in Zweifelsfällen eine gewisse Zurückhaltung bei der Eröffnung besonderer Gerichtsstände geboten ist. Allgemeine teleologische Erwägungen streiten somit zumindest für einen leichten favor defensoris im Zuständigkeitssystem der EuGVVO. e) Fazit Die Herleitung des Prinzips der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände gestaltet sich schwieriger als zunächst gedacht. Vor allem die Entkräftung des systematischen Arguments des Regel-AusnahmeVerhältnisses der Gerichtsstände erschüttert die Überzeugungskraft des Grundsatzes merklich. Demgegenüber betont der Jenard-Bericht den hohen Stellenwert des Beklagtenschutzes im internationalen Rechtsverkehr ausdrücklich. Zudem streiten grundsätzliche teleologische Erwägungen für eine gewisse Zurückhaltung bei der Begründung von Gerichtspflichten außerhalb des Wohnsitzstaates des Beklagten. Die restriktive Auslegung der besonderen Gerichtsstände hat in der EuGVVO folglich eine gewisse Berechtigung; das Prinzip darf aber nicht als starre Maxime missverstanden werden, die bei der Auslegung der Zuständigkeitsregeln vorbehaltlos zu akzeptieren ist.93

93

Im Ergebnis ähnlich Lando, in: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hg.), Internationale Zuständigkeit und Urteilsanerkennung in Europa, 21, 24: „Ich möchte mich nicht für eine Aufgabe des actor sequitur forum rei als einer wichtigen Verfahrensregel aussprechen. Ich wäre indessen dagegen, ihm den Status eines Grundsatzes zuzubilligen, von dem nur im Notfall abgewichen werden könnte.“ Siehe auch Coester-Waltjen, FS Kaissis 2012, 91, 95: „[D]ie Legitimation des forum rei [ist] trotz kontinentaleuropäischer Tradition nur bedingt überzeugend.“ Rauscher/ Leible, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 3: „Sachliche Gründe für eine a priori restriktive Interpretation von Art 5 sind indes nicht ersichtlich.“ Spellenberg, IPRax 1981, 75, 77: „Angesichts der schwachen Rechtfertigung des allgemeinen Gerichtsstands beim Beklagten kann man dabei [der Begründung der besonderen Gerichtsstände] im übrigen relativ großzügig vorgehen.“ Kritisch auch Geimer/Schütze/Geimer, Art. 5 EuGVVO, Rn. 1; Kropholler/von Hein, EuZPR, vor Art. 5 EuGVO, Rn. 3; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6, Rn. 36; Magnus/Mankowski/Mankowski, Art. 5 Brussels I-Regulation, Rn. 13; Schlosser, EuZPR, vor Art. 5 EuGVVO, Rn. 3. Über das Ziel hinaus schießt hingegen Buchner, Kläger und Beklagtenschutz, 4 ff., 146, der dem allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten allenfalls den Rang einer Restzuständigkeit zumessen will. Für ein starres Rangverhältnis zwischen dem allgemeinen Gerichtsstand und dem besonderen Gerichtsständen dagegen BGH v. 1.12. 2005, NJW 2006, 230, 231; Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution, Rn. 172; Pontier/Burg, EU Principles, 122; Rodriguez, Beklagtenwohnsitz und Erfüllungsort, Rn. 159; Volken, SZIER 2004, 374, 376.

C. Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts

35

2. Verwendung in der Rechtsprechung des EuGH Die Schwierigkeiten bei der Herleitung des Grundsatzes der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände geben Anlass, dessen pauschale Verwendung als Argumentationstopos in der EuGH-Rechtsprechung genauer zu überprüfen. Die sprachlichen Wendungen der Urteilstexte sind dabei wenig aufschlussreich, da der Gerichtshof bei der Auslegung der Art. 5 ff. EuGVVO beinahe floskelhaft darauf verweist, dass „die Vorschriften über besondere Zuständigkeiten, […] die Ausnahmen vom allgemeinen Grundsatz der Zuständigkeit der Gerichte des Wohnsitzes des Beklagten vorsehen, eng ausgelegt werden.“94 Aussagekräftiger ist indes der bei der Argumentation angestrebte Zweck, zumal in dieser Hinsicht ein gewisser Wandel in der EuGH-Rechtsprechung zu erkennen ist. In frühen Entscheidungen zum noch jungen EuGVÜ stand der Gerichtshof in besonderem Maße vor der Aufgabe, die einheitliche Anwendung des Übereinkommens durch die autonome Auslegung seiner Anknüpfungspunkte zu garantieren. Durch die restriktive Interpretation der Art. 5 ff. EuGVÜ gewährleisteten die Richter in Luxemburg, dass den nationalen Gerichten jeweils nur eine Verständnismöglichkeit für die in den Tatbeständen verwendeten Begriffe eröffnet war.95 Zudem wurden die Zuständigkeitsregeln des Übereinkommens untereinander abgrenzt, um die Eröffnung einer unüberschaubaren Zahl von Gerichtsständen zu verhindern.96 Die Gerichtspflichtigkeit des Beklagten wurde folglich im Interesse der Rechtssicherheit und der vertragsautonomen Auslegung des EuGVÜ eingeschränkt. Spätere Judikate erheben den Vorrang des Beklagtenschutzes dagegen zum Selbstzweck. Zur Rechtfertigung der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände wird allein auf die Regel des actor sequitur 94

Vgl. nur EuGH v. 23.4.2009, Rs. C-533/2007 (Falco Privatstiftung und Rabitsch/Weller-Lindhorst), Slg. 2009, I-3327, Rn. 37. Mankowski, IPRax 2007, 404, 413 spricht treffend von „Standardformulierungen“, die der EuGH in seine Urteile „einstreut“. 95 Buchner, Kläger und Beklagtenschutz, 11; Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution, Rn. 172; Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 603, Fn. 312. 96 EuGH v. 22.11.1978, Rs. C-33/1978 (Somafer/Saar-Ferngas), Slg. 1978, 2183, Rn. 7 (Auslegung des Begriffs der Niederlassung des Art. 5 Nr. 5 EuGVÜ): „In Anbetracht der Tatsache, daß eine Anhäufung von Zuständigkeiten für einen und denselben Rechtsstreit nicht dazu angetan ist, die Rechtssicherheit und die Wirksamkeit des Rechtsschutzes im gesamten Bereich der Hoheitsgebiete zu fördern, aus denen die Gemeinschaft besteht, entspricht es der Zielsetzung des Übereinkommens, wenn eine extensive, viele Möglichkeiten zulassende Auslegung der Ausnahmen von der allgemeinen Zuständigkeitsvorschrift des Artikels 2 vermieden wird“.

36

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

forum rei verwiesen, ohne dabei andere Interessen der Ausgestaltung des Zuständigkeitssystems ins Auge zu fassen. 97 Das ist vor allem deshalb verwunderlich, weil nicht wenige Entscheidungen des EuGH die Art. 5 ff. EuGVVO durchaus extensiv auslegen.98 Die widersprüchliche Positionierung des Gerichtshofs in dieser Hinsicht lässt den Rückgriff auf das Prinzip insgesamt eher zufällig erscheinen. 99 Der Blick in die Judikatur des EuGH legt somit den Schluss nahe, dass die Argumentation mit der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände vor allem dort überzeugt, wo das Prinzip an weitere Grundsätze der europäischen Zuständigkeitsordnung gekoppelt wird. 3. Auswirkungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf die Beklagtenrechte Eine differenzierte Argumentation mit dem Grundsatz der restriktiven Auslegung setzt voraus, dass die konkreten Auswirkungen der auszulegenden Zuständigkeitsregel auf den Beklagtenschutz einbezogen wer-

97

EuGH v. 13.7.2000, Rs. C-412/1998 (Group Josi Reinsurance Company/ UGIC), Slg. 2000, I-5925, Rn. 35 ff: „Daß diese Zuständigkeitsregel ein allgemeiner Grundsatz ist – sie ist Ausdruck des Rechtssprichworts actor sequitur forum rei –, erklärt sich daraus, daß sie dem Beklagten grundsätzlich die Verteidigung erleichtert.“ Vgl. auch EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 8; EuGH v. 5.10.1999, Rs. C-420/1997 (Leathertex Divisions Sintetici/Bodetex), Slg. 1997, I-6747. 98 Besonders eindrücklich aus jüngerer Zeit EuGH v. 25.10.2011, Rs. C-509/2009 (eDate Advertising u.a./MGN), EuZW 2011, 962. In dieser Entscheidung eröffnet der Gerichtshof für Ansprüche aus Persönlichkeitsverletzung im Internet mithilfe des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO nicht nur einen Klägergerichtsstand mit umfassender Kognitionsbefugnis, sondern erachtete für Teilschäden auch die Klage in jedem Mitgliedstaat für zulässig, indem ein im Internet veröffentlichter Inhalt bestimmungsgemäß verfügbar ist oder war. Dazu treffend Heinze, EuZW 2011, 947, 949 f.: „Die Zuständigkeitsordnung kommt für den Verletzten der besten aller Welten nahe […]. [V]on einem Grundsatz ‚actor sequitur forum rei‘ oder einer engen Auslegung der besonderen Gerichtsstände kann dann keine Rede mehr sein.“ Ähnlich Kur, GRUR Int. 2012, 857, 860. Für eine extensive Interpretation der Art. 5 ff. EuGVÜ siehe zudem EuGH v. 9.12.1987, Rs. C-218/1986 (SAR Schotte/Parfums Rothschild), Slg. 1987, I-4905 (weites Verständnis des Begriffes der Niederlassung, dazu Kronke, IPRax 1989, 82 f.); EuGH v. 3.5.2007, Rs. C-386/2005 (Color Drack/Lexx International Vertriebs GmbH), Slg. 2007, I-3699 (örtliche Zuständigkeit bei mehreren Lieferorten, dazu Mankowski, IPRax 2007, 404 ff.). 99 Mankowski, IPRax 2007, 404, 413 spricht bezüglich Art. 5 EuGVVO von einer „zufällig weiten oder engen Auslegung, bei welcher der Zufall dadurch determiniert wird, wann die entsprechende Frage vor den EuGH gelangt“. Ähnlich Buchner, Kläger und Beklagtenschutz, 54; Hess, FS Lindacher 2007, 53, 55; Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 603, Fn. 312; Schack, IZVR, Rn. 298.

C. Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts

37

den, da die einzelnen besonderen Gerichtsstände die Rechte des Beklagten unterschiedlich stark tangieren.100 Mit der Anknüpfung an den allgemeinen Gerichtsstand eines der Streitgenossen trägt Art. 6 Nr. 1 EuGVVO dem Grundsatz des actor sequitur forum rei immerhin partiell Rechnung. Davon profitiert der an seinem Wohnsitz verklagte Ankerbeklagte101, der unter Umständen außerhalb seines Heimatstaates in Anspruch genommen worden wäre, hätte der Kläger einen streitgegenstandsbezogenen Gerichtsstand angerufen. Für die Annexbeklagten102 bedeutet die personenbezogene Anknüpfung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft dagegen eine besonders drastische Einschränkung ihrer Zuständigkeitsinteressen, da sie mit dem Verhandlungsort mitunter nur mittelbar, über den Ankerbeklagten, in Kontakt getreten sind.103 Zu besonderer Vorsicht bei der Auslegung der besonderen Gerichtsstände ist mit Blick auf den Beklagtenschutz zudem aufgerufen, sofern ein besonderer Gerichtsstand eine Zuständigkeit am Wohnsitz des Klägers begründen kann, liegt dem europäischen Zuständigkeitsrecht doch gewiss kein favor actoris zu Grunde. 104 Bezüglich Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gilt in dieser Hinsicht zu berücksichtigen, dass mit der Anzahl potentieller Streitgenossen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten das Risiko steigt, Klägern aus Europa eine Zuständigkeit im Heimatstaat zu eröffnen.105

100

Magnus/Mankowski/Mankowski, Art. 5 Brussels I-Regulation, Rn. 11. Der die Zuständigkeit an seinem Wohnsitz begründende Streitgenosse wird entsprechend der in der englischen Rechtsprechung gebräuchlichen Terminologie des anchor defendants im Folgenden als Ankerbeklagter bezeichnet (Vogenauer, IPRax 2001, 253, 254 „anchor defendant“; Althammer, IPRax 2006, 558 „Ankerklage“). 102 Der Begriff des Annexbeklagten wird nachstehend zur Bezeichnung der zur gemeinsamen Verhandlung am Wohnsitz des Ankerbeklagten hinzugezogenen Streitgenossen gewählt (Althammer, IPRax 2006, 558, 559 „Annexklage“). 103 Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 609. 104 So die Art. 5 Nr. 2, Art. 9 Abs. 1 b); Art. 16 Abs. 1; Art. 19 Nr. 1 EuGVVO. Deutlich EuGH v. 13.7.2000, Rs. C-412/1998 (Group Josi Reinsurance Company/ UGIC), Slg. 2000, I-5925, Rn. 35 ff., Rn. 50: „Das Übereinkommen [steht] einer Zuständigkeit der Gerichte des Wohnsitzes des Klägers eindeutig ablehnend gegenüber […]“. 105 Siehe zB die Entscheidung des High Court in Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), in der das Verfahren gegenüber 24 Beklagten aus verschiedenen Mitgliedstaaten konzentriert wurde, sodass der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft in einer Vielzahl Mitgliedstaaten potentiell eröffnet gewesen wäre, was die Chance einer Wohnsitzzuständigkeit im Heimatstaat des Klägers deutlich erhöht (zu dieser Entscheidung eingehend auf S. 290 ff.). 101

38

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

4. Ergebnis zur restriktiven Auslegung Die Betrachtung des Rangverhältnisses der Gerichtsstände der EuGVVO ergibt, dass für die restriktive Auslegung der besonderen Gerichtsstände lediglich ein leichter favor defensoris des europäischen Zuständigkeitsrechts in Stellung gebracht werden kann. Die Analyse der Verwendung des Prinzips in der Rechtsprechung des EuGH offenbart, dass die Argumentation mit der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände mitunter zufällig erscheint, sofern neben dem Beklagtenschutz nicht weitere Ziele des europäischen Zuständigkeitsrechts verfolgt werden. Die Untersuchung der Auswirkungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf den Beklagtenschutz zeigt, dass die Verfahrenskonzentration am Wohnsitz des Ankerbeklagten mit einer drastischen Einschränkung der Zuständigkeitsinteressen der Annexbeklagten einhergehen kann. II. Das Gebot der Vorhersehbarkeit der besonderen Gerichtsstände Neben dem Grundsatz der restriktiven Auslegung bemüht der EuGH in einer beachtlichen Anzahl von Fällen das Gebot der Vorhersehbarkeit zur Auslegung der besonderen Gerichtsstände. Nach einer knappen Herleitung des Prinzips (dazu unter 1.) rückt erneut dessen Verwendung in der Argumentation des Gerichtshofs in den Fokus (dazu unter 2.), bevor die besonderen Schwierigkeiten bezüglich der Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft erläutert werden (dazu unter 3.). 1. Herleitung für das europäische Zuständigkeitsrecht Das Gebot der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsregeln lässt sich an den verfassungsrechtlichen Gehalt des Rechtsstaatsprinzips rückbinden, demzufolge „die Rechtsvorschriften der Gemeinschaft […] so beschaffen sein [müssen], dass die Betroffenen unzweideutig erkennen können, was von ihnen verlangt werden kann“. 106 Als Ausprägung des allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit begünstigen klare Zuständigkeitsregeln naturgemäß das in der Präambel des EuGVÜ gesteckte Ziel des europäischen Zivilprozessrechts „innerhalb der Gemeinschaft den Rechtsschutz der dort ansässigen Personen zu verstärken“.107 Zu diesem Zweck weist der Jenard-Bericht darauf hin, dass „das Übereinkommen mit der Aufstellung gemeinsamer Zuständigkeitsvorschriften 106

Zuleeg, in: von Bogdandy/Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht, 1045,

1059. 107

Pontier/Burg, EU Principles, 69.

C. Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts

39

eine Regelung schaffen [will], die […] auf den von ihr geregelten Sachgebieten die größtmögliche Rechtssicherheit gewährleisten soll.“ 108 Damit auf einer Linie liegt die Forderung des elften Erwägungsgrundes der EuGVVO, dass „die Zuständigkeitsvorschriften […] in hohem Maße vorhersehbar sein [müssen]“. Für die Parteien bedeutet Zuständigkeitsklarheit konkret, dass zum Zeitpunkt der Vornahme des streitgegenständlichen Verhaltens der für die spätere Rechtsstreitigkeit zuständige Richter erkennbar ist. Mit anderen Worten müssen Kläger und Beklagter in der Lage sein, sich bei der Ausübung ihrer Grundfreiheiten an den Möglichkeiten zur Durchsetzung des Justizgewährungsanspruchs bzw. dem Entstehen von Gerichtspflichten zu orientieren. Damit ist die Vorhersehbarkeit potentieller Gerichtsorte als Voraussetzung vorprozessualer Verhaltenssteuerung konstitutives Element der Gewährung rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutzes.109 2. Verwendung in der Rechtsprechung des EuGH Der EuGH zieht das Gebot der Vorhersehbarkeit in einer beachtlichen Anzahl von Fällen zur Auslegung der besonderen Gerichtsstände heran.110 a) Zeitpunkt der Beurteilung der Vorhersehbarkeit Dabei scheint der Gerichtshof abhängig von den Parteirollen von unterschiedlichen Zeitpunkten des Eingreifens des Gebots der Vorhersehbarkeit auszugehen. Nehmen die Richter in Luxemburg die Perspektive des Beklagten ein, führen sie aus, dass „der Grundsatz der Rechts-

108

EuGH v. 17.6.1992, Rs. C-26/1991 (Handte/TMCS), Slg. 1992, I-3967, Rn. 18 unter Hinweis auf den Jenard-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/15. 109 Zum Gebot der Vorhersehbarkeit im Kollisionsrecht sehr klar von Hein, Günstigkeitsprinzip, 207: „[D]ie Forderung nach Rechtssicherheit, nach der Vorhersehbarkeit der Folgen des eigenen Tuns als rechtsstaatliches Postulat [bindet] das gesamte Privatrecht, [ist] also gleichsam vor die Klammer zu denken, die materielles Zivilrecht und IPR verbindet“. 110 Vgl. nur EuGH v. 17.6.1992, Rs. C-26/1991 (Handte/TMCS), Slg. 1992, I3967; EuGH v. 3.7.1997, Rs. C-269/1995 (Benincasa/Dentalkit), Slg. 1997, I-3767; EuGH v. 19.2.2002, Rs. C-256/2000 (Besix/WABAG), Slg. 2002, I-1699; EuGH v. 3.5.2007, Rs. C-386/2005 (Color Drack/Lexx International Vertriebs GmbH), Slg. 2007, I-3699; EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827; EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965; EuGH v. 16.5.2013, Rs. C-228/11 (Melzer/MF Global UK), EuZW 2013, 544.

40

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

sicherheit insbesondere [verlangt], dass die von der allgemeinen Regel des Übereinkommens abweichenden Zuständigkeitsregeln, […] so ausgelegt werden, dass ein informierter, verständiger Beklagter vorhersehen kann, vor welchem anderen Gericht als dem des Staates, in dem er seinen Wohnsitz hat, er verklagt werden könnte.“ 111 Wechselt der Gerichtshof die Seiten verlangt seine Rechtsprechung demgegenüber, dass der Kläger „ohne Schwierigkeiten festzustellen vermag, welches Gericht er anrufen kann“.112 Die unterschiedlichen Umschreibungen des Gebots der Vorhersehbarkeit deuten an, dass sich das Interesse des Klägers an der Zuständigkeitsklarheit nach Auffassung des Gerichtshofs zu einem späteren Zeitpunkt verdichtet als das des Beklagten. Während der Beklagte bereits bei der Vornahme des streitgegenständlichen Verhaltens die daraus resultierenden Gerichtspflichten abschätzen können muss, soll aus Sicht des Klägers ausreichend sein, dass dieser erst im Moment der Ausübung der Klageinitiativkompetenz Kenntnis von den potentiell eröffneten Zuständigkeiten hat.113 Zwar könnte diese Unterscheidung vor dem Hintergrund getroffen worden sein, dass der Beklagte sich einer einmal begründeten Zuständigkeit nicht mehr entziehen kann, wohingegen dem Kläger zwischen mehreren Gerichtsständen ein Wahlrecht bleibt. M.E. wird dabei jedoch verkannt, dass das Gebot der Vorhersehbarkeit den Parteien gleichermaßen Vertrauensschutz bei der Ausübung von Grundfreiheiten zusichert. Welche Gerichte zur Durchsetzung des Justizgewährungsanspruchs im Streitfall zur Verfügung stehen, muss der Kläger nach hier vertretener Ansicht daher schon bei der Vornahme der Handlung wissen können, die zum Entstehen der später einzuklagenden Forderung führt.114 b) Unterprinzipien An der Rechtsprechung des EuGH ist zudem bemerkenswert, dass der Gerichtshof bei der Argumentation mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit

111

EuGH v. 19.2.2002, Rs. C-256/2000 (Besix/WABAG), Slg. 2002, I-1699, Rn. 26. 112 EuGH v. 3.7.1997, Rs. C-269/1995 (Benincasa/Dentalkit), Slg. 1997, I-3767, Rn. 26. 113 Die Formulierungen des EuGH ebenfalls in diese Richtung interpretierend Pontier/Burg, EU Principles, 70. 114 Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 474: „Der Kläger [hat] ein nachhaltiges Interesse daran […], bereits vor Eingehung von Geschäften zu wissen, wo er bei etwa auftretenden Problemen seine Rechte gerichtlich verfolgen kann […]“.

C. Allgemeine Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts

41

unterschiedliche Zwecke verfolgt, die eine Auffächerung in drei Unterprinzipien nahelegen.115 Mithilfe des Gebots der Vorhersehbarkeit wird, erstens, die wortlautgetreue Auslegung der Zuständigkeitsnormen gerechtfertigt. Auf diese Weise soll die Anwendung der besonderen Gerichtsstände auf die ausdrücklich vorgesehenen Fälle beschränkt werden. 116 Beispielsweise wurde in der Rechtssache Handte ein nach französischem Recht bestehender Direktanspruch des Endabnehmers gegen den Hersteller (action directe) als nicht vom Vertragsbegriff des Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ erfasst angesehen, da ein informierter, verständiger Beklagter den Vertragsgerichtsstand nur vorhersehen könne, wenn er selbst die vertragliche Verpflichtung freiwillig begründet hat.117 Ferner ordnet der Gerichtshof dem eindeutigen Wortlaut einer Vorschrift im Interesse der Rechtssicherheit selbst stärkste teleologische Erwägungen unter.118 So wurde in der Entscheidung Glaxosmithkline einem Arbeitnehmer die Berufung auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO unter Hinweis auf den abschließenden Charakter des Art. 18 Abs. 1 EuGVVO versagt, obschon nicht nur die Ziele des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, sondern auch der Gedanke des Schutzes der strukturell unterlegenen Partei die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft erforderlich gemacht hätten.119 Das Gebot der Vorhersehbarkeit wird, zweitens, zur Vermeidung einer Multiplikation der Gerichtsstände der EuGVVO in Stellung gebracht.120 Im Urteil Besix lehnte der Gerichtshof etwa den Rückgriff auf Art. 5 Nr. 1 EuGVVO zur Durchsetzung von Unterlassungsansprüchen ab, weil die Pflicht zum Unterlassen einer Handlung geographisch unbegrenzt zu erfüllen sei, was überall in der EU potentielle Zuständig115 Diese Untergliederung des Gebots der Vorhersehbarkeit wird vorgeschlagen von Pontier/Burg, EU Principles, 92 ff. 116 EuGH v. 13.7.2000, Rs. C-412/1998 (Group Josi Reinsurance Company/ UGIC), Slg. 2000, I-5925, Rn. 49: „Überdies sind nach ständiger Rechtsprechung die Zuständigkeitsregeln […] keiner Auslegung zugänglich, die über die in dem Übereinkommen ausdrücklich vorgesehenen Fälle hinausginge“. 117 EuGH v. 17.6.1992, Rs. C-26/1991 (Handte/TMCS), Slg. 1992, I-3967, Rn. 18 ff. Dazu Peifer, JZ 1995, 91, 92: „Zentraler Leitgedanke für die Definition war für den EuGH die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands für den Beklagten“. 118 Treffend Pontier/Burg, EU Principles, 85: „The Court took the position that in these cases words trump principles“. 119 EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 33. 120 Die Multiplikation wird hier verstanden als Häufung der Gerichtsstände, an denen der gesamte Rechtsstreit verhandelt werden kann. Es geht also nicht um die Aufsplitterung ein und derselben Rechtsstreitigkeit in verschiedene Fragmente, die vor verschiedenen Gerichten verhandelt werden.

42

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

keiten eröffnet hätte.121 Die Entscheidung Color Drack hält den Kläger z.B. dazu an, unter mehreren Lieferorten innerhalb desselben Mitgliedstaates den Hauptlieferort zu lokalisieren, um der Vervielfachung der Vertragsgerichtsstände vorzubeugen.122 Aus dem Prinzip wird, drittens, die Notwendigkeit abgeleitet, dass „das nationale Gericht in der Lage sein muß, anhand der Normen des Übereinkommens ohne Schwierigkeiten über seine eigene Zuständigkeit zu entscheiden, ohne in eine Sachprüfung eintreten zu müssen.“123 Mit dieser Begründung hat der EuGH beispielsweise im jüngst ergangenen Urteil Melzer abgelehnt, bei der Bestimmung des Handlungsortes i.S.d. Art. 5 Nr. 3 EuGVVO an eine dem Beklagten lediglich nach dem anwendbaren Sachrecht zurechenbare Handlung anzuknüpfen.124 3. Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft weist bezüglich des Gebots der Vorhersehbarkeit ein gesteigertes Konfliktpotential auf und zwar sowohl hinsichtlich des Zeitpunkts der Beurteilung der Vorhersehbarkeit als auch hinsichtlich der von der Rechtsprechung des EuGH abgeleiteten Unterprinzipien. Die erste Schwierigkeit erwächst aus der Eigentümlichkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, als besonderer Gerichtsstand nicht an streitgegenstandsbezogene, sondern an das personenbezogene Merkmal des Wohnsitzes des Ankerbeklagten anzuknüpfen. 125 Da der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft folglich jeder Streitigkeit „gleich nahe resp. (treffender) fern“ steht,126 ergibt sich die Vorhersehbarkeit des Ortes der Verfahrenskonzentration nicht zwangsläufig aus dem vorprozessualen Verhalten der Parteien.127 Ein weiterer Konflikt des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit resultiert aus der Wandelbarkeit des für die Vorschrift gewählten Anknüpfungskriteriums: Wechselt der Anker121

EuGH v. 19.2.2002, Rs. C-256/2000 (Besix/WABAG), Slg. 2002, I-1699, Rn. 49 ff.; dazu Hau, ZZPInt. 11 (2006), 214 ff. 122 EuGH v. 3.5.2007, Rs. C-386/2005 (Color Drack/Lexx International Vertriebs GmbH), Slg. 2007, I-3699, Rn. 31 ff.; dazu Leible/Reinert, EuZW 2007, 372 f. 123 EuGH v. 3.7.1997, Rs. C-269/1995 (Benincasa/Dentalkit), Slg. 1997, I-3767, Rn. 27; dazu Pontier/Burg, EU Principles, 108 f. 124 EuGH v. 16.5.2013, Rs. C-228/11 (Melzer/MF Global UK), EuZW 2013, 544, Rn. 31. 125 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6, Rn. 85; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 84; Usunier, Compétence juridictionelle, 213 f. 126 Sehr klar Lüthi, System, Rn. 668 (allgemein zur personenbezogenen Anknüpfung im Zuständigkeitsrecht). 127 Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 609.

D. Ergebnis

43

beklagte zwischen Entstehung des streitgegenständlichen Sachverhalts und Erhebung der Klage seinen Wohnsitz, so entfällt nachträglich die Vorhersehbarkeit seines allgemeinen Gerichtsstands für den Kläger 128 und auch für die Annexbeklagten. Dass die Wandelbarkeit des Wohnsitzes nicht allein die Interessen des Klägers tangiert, ist als Konsequenz der Personenmehrheit auf Beklagtenseite eine Besonderheit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber anderen besonderen Gerichtsständen. Schließlich bereitet die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft Probleme, da die Komplexität der Beurteilung des normativ stark aufgeladenen Tatbestandsmerkmals der engen Beziehung der Klagen mit der Notwendigkeit einer überschaubaren und damit rechtssicheren Zuständigkeitsprüfung konfligiert. 4. Ergebnis zum Gebot der Vorhersehbarkeit Als spezifische Ausprägung rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutzes ist das Gebot der Vorhersehbarkeit für die Auslegung der Zuständigkeitsvorschriften von besonders hochrangiger Bedeutung. 129 Für die Parteien bedeutet Zuständigkeitsklarheit konkret, dass zum Zeitpunkt der Vornahme des streitgegenständlichen Verhaltens das für die spätere Rechtsstreitigkeit zuständige Gericht erkennbar ist. Mit dem Rückgriff auf das Prinzip rechtfertigt der EuGH die wortlautgetreue Auslegung, begrenzt die Zahl potentiell eröffneter Gerichtsstände und weist komplexe Erwägungen in der Zuständigkeitsprüfung zurück. Die Einhaltung des Gebots der Vorhersehbarkeit ist aufgrund der personenbezogenen Anknüpfung an den Wohnsitz und des normativen Tatbestandsmerkmals der engen Beziehung der Klagen eine im Rahmen der Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO schwer zu meisternde Herausforderung.

D. Ergebnis D. Ergebnis

Die Untersuchung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO mithilfe der klassischen Auslegungsmethoden hat gezeigt, dass für die extensive Interpretation der Vorschrift vor allem die Vermeidung widersprechender Entscheidungen in der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung und die Beförderung der Prozessökonomie streiten. Da Entscheidungskollisionen in der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung im System der EuGVVO bestenfalls 128

Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 474. von Hein, Günstigkeitsprinzip, 207 (bezogen auf die Auslegung von Kollisionsnormen). 129

44

Kapitel 1: Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung

schon auf Zuständigkeitsebene abgewendet werden, darf die praktische Wirksamkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft bei der europäisch-autonomen Auslegung der Vorschrift keinesfalls vernachlässigt werden. Gleichzeitig hat die Interpretation des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO aber innerhalb der Grenzen der allgemeinen Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts erfolgen. Obschon die Herleitung des Grundsatzes der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände nicht ganz einfach fällt, begründen allgemeine teleologische Erwägungen zumindest einen leichten favor defensoris im europäischen Zuständigkeitsrecht. Besonderes Augenmerk gilt es daneben auf die Einhaltung des Gebots der Vorhersehbarkeit zu legen, welches mit der personenbezogenen Anknüpfung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft in Konflikt gerät. Die Aufarbeitung der Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO offenbart somit ein Spannungsfeld gegenläufiger Zuständigkeitsinteressen: Während die gemeinsame Verhandlung zur Förderung der ordnungsgemäßen Rechtspflege in der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung naturgemäß dem Justizgewährungsanspruch des Klägers zur Geltung verhilft, wird die Gerichtspflicht des Annexbeklagten auf ein außerhalb seines Heimatstaates liegendes Gericht erweitert, mit dem er bisweilen nur mittelbar, respektive über den Ankerbeklagten, in Kontakt getreten ist.130 Der angemessene Ausgleich der kollidierenden Belange der Parteien setzt voraus, dass die mit der gemeinsamen Verhandlung verbundenen Nachteile für den Beklagten durch die tatsächliche Notwendigkeit zum Schutz der ordnungsgemäßen Rechtspflege hinreichend aufgewogen werden. Zum Programm der Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO sollte daher die von Pfeiffer formulierte Einsicht erhobenen werden, dass die Zuständigkeitskonzentration gegenüber den Streitgenossen „aus akzeptablen Gründen in den Schutzbereich der Beklagtenrechte ein[dringt], ohne das in ihnen verkörperte Prinzip aufzuheben.“131

130

Vgl. Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 610; Usunier, Compétence juridictionelle, 216. 131 Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 611.

Kapitel 2

Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen Das zweite Kapitel widmet sich der Erfassung des Bedeutungsgehalts der engen Beziehung der Klagen, die nach dem Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO besteht, wenn „eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.“ Der erste Abschnitt des Kapitels rückt die Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Gefahr widersprechender Entscheidungen in den Fokus (dazu unter A.). Danach wird das Erfordernis des streitgenössischen Kontakts der am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft in Anspruch genommenen Beklagten beleuchtet (dazu unter B.). Hierbei handelt es sich um ein zweites Element von Konnexität, das im Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zwar nicht unmittelbar angelegt ist, das aber als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal in die Vorschrift hineingelesen werden sollte. Im dritten Abschnitt des Kapitels wird auf Grundlage der über die Gefahr widersprechender Entscheidungen und den streitgenössischen Kontakt gewonnenen Erkenntnisse schließlich untersucht, ob bestimmte haftungsrechtliche Beziehungen der Streitgenossen Schlussfolgerungen auf das Bestehen des Sachzusammenhangs der Klagen erlauben (dazu unter C.).

A. Die Gefahr widersprechender Entscheidungen A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

Was unter der Gefahr widersprechender Entscheidungen i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu verstehen ist, wurde von Literatur und Rechtsprechung bislang nicht abschließend geklärt. Einigkeit besteht im Grunde lediglich im Ausgangspunkt: Damit in getrennten Verhandlungen nicht bloß voneinander abweichende, sondern sich gegenseitig widersprechende Entscheidungen ergehen können, müssen die erhobenen Klagen rechtliche und tatsächliche Gemeinsamkeiten aufweisen.1 In diesem Sin1

Treffend Bukow, Verletzungsklagen, 142: „Wo keine Gemeinsamkeit vorliegt, kann sich nichts widersprechen“. Erhellend auch die Erläuterung des Wortes „Widerspruch“ bei J. Grimm/W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 29, Sp. 1257: „Im allg.

46

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

ne formuliert der EuGH in ständiger Rechtsprechung: „Entscheidungen [können] nicht schon deswegen als einander widersprechend betrachtet werden, weil es zu einer abweichenden Entscheidung des Rechtsstreits kommt, sondern diese Abweichung muss außerdem bei derselben Sachund Rechtslage auftreten.“2 Lebhaft debattiert wird indes über die Frage, wie ähnlich die erhobenen Klagen einander sein müssen, um die Gefahr des Widerspruchs zu begründen; ob etwa die zugrundeliegende Sachund Rechtslage sich tatsächlich als dieselbe präsentieren muss. Nachstehend gilt es in einem ersten Schritt zu klären, auf welcher Beurteilungsgrundlage die Gefahr widersprechender Entscheidungen überhaupt zu prüfen ist (dazu unter I.). Sodann werden die in der Judikatur des EuGH zur Gefahr widersprechender Entscheidungen getroffenen Aussagen analysiert (dazu unter II.), um in Fortführung wie auch in Abgrenzung zur Auffassung des Gerichtshofs das eigene Verständnis des Tatbestandsmerkmals zu entwickeln (dazu unter III.). I.

Beurteilungsgrundlage der Prüfung der Widerspruchsgefahr

In Hinblick auf die Beurteilungsgrundlage der Widerspruchsgefahr stellt sich zunächst die Frage, welche Klagen bei der Prüfung miteinander in Bezug zu setzen sind, bevor im Anschluss zu erörtern ist, ob Einwendungen der Beklagten, die gegen die Begründetheit der Ansprüche des Klägers vorgetragen werden, zu berücksichtigen sind. 1. Die Beziehung zwischen Anker- und Annexklage Bisherige Urteile des EuGH thematisieren erstaunlicherweise nicht, zwischen welchen der am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erhobenen Klagen die Konnexität überhaupt bestehen muss. Mit dem Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO vereinbar erscheinen auf den ersten Blick drei Auffassungen, von denen die strengste die enge Beziehung zwischen allen erhobenen Klagen fordert,3 die großzügigste die Beziehung einer

Sprachgebrauch […] [bestimmt] fast stets der Gedanke eines zerstörten Einklanges (nicht nur des bloszen Kontrastes) die Wortwahl“. 2 Grundlegend EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./ Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 26. Siehe ferner EuGH v. 11.10. 2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 40; EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 83; EuGH v. 12.7.2012, Rs. C-616/2010 (Solvay/Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), EuZW 2013, 837, Rn. 25. 3 In diese Richtung könnte die Formulierung des EuGH zu deuten sein, dass „die Klagen gegen die verschiedenen Beklagten bei ihrer Erhebung im Zusammenhang

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

47

Klage zu irgendeiner weiteren Klage ausreichen lässt, 4 und die vermittelnde die Konnexität zwischen der Ankerklage und den Annexklagen jeweils einzeln begutachtet.5 Gegen die großzügigste Auffassung streitet das Gebot der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeiten. 6 Denn die Inanspruchnahme am konkreten Gerichtsort muss für den jeweiligen Annexbeklagten auf Grundlage des eigenen vorprozessualen Handelns erkennbar sein. Diese Voraussetzung ist jedoch nicht erfüllt, wenn die Zuständigkeit am Wohnsitz des Ankerbeklagten nur über die enge Beziehung zu einer weiteren Annexklage vermittelt wird, die ihrerseits in enger Beziehung zur Ankerklage steht (sog. „Konnexitätskette“).7 Art. 6 Nr. 1 EuGVVO würde in einer solchen Konstellation streng genommen nicht mehr an den allgemeinen Gerichtsstand des Ankerbeklagten anknüpfen, sondern an sich selbst als besonderer Gerichtsstand, der gegenüber dem als Bindeglied dienenden Annexbeklagten eröffnet ist.8 Die strengste Betrachtungsweise ist hingegen nicht mehr mit dem effet utile des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO vereinbar. In Konstellationen, in denen die Konnexität lediglich zwischen der Ankerklage und den jeweiligen Annexklagen, nicht aber zwischen den Annexklagen untereinander besteht, müsste sich der Kläger nach dieser Auffassung nämlich entscheiden, welchen Annexbeklagten er gemäß Art. 6 Nr. 1 EuGVVO dem Verfahren hinzuzieht. Anschließend wäre die Ankerklage wegen der Rechtskraftwirkung des dort ergehenden Urteils „verbraucht“; die übrig gebliebenen Annexklagen müssten getrennt verhandelt werden, was die Gefahr widersprechender Entscheidungen mit sich bringt und dem Gedanken der Prozessökonomie widerspricht. Den Parteiinteressen und den Zielen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gerecht wird folglich allein die letztgenannte Auffassung, wonach zur

stehen [müssen].“ (EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 11). 4 LG Bonn v. 14.3.2000, NJOZ 2002, 222, 242 f. 5 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 103; Börger, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 51, 57. Zuvor bereits Schurig, FS Musielak 2004, 493, 515, 522 und ihm folgend Geier, Streitgenossenschaft, 86. 6 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 88. 7 Treffend Schurig, FS Musielak 2004, 493, 522. 8 Vgl. Schurig, FS Musielak 2004, 493, 515.

48

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

Beurteilung der Gefahr widersprechender Entscheidungen die Ankerklage mit den Annexklagen jeweils einzeln in Bezug zu setzen ist.9 2. Irrelevanz von Einwendungen der Beklagten In der deutschen Literatur wird zudem die Frage erörtert, ob in die Beurteilung der Konnexität lediglich die den Klagen unmittelbar zugrundeliegenden Rechtsvorschriften und Tatsachen einfließen,10 oder ob zusätzlich die von den Beklagten gegen die Begründetheit der Ansprüche des Klägers vorgetragenen Einwendungen bei der Prüfung zu berücksichtigen sind.11 Beide Auffassungen konnten in der Vergangenheit die EuGH-Rechtsprechung zu anderen Vorschriften der EuGVVO für ihre Position beanspruchen. In den Rechtssachen Marc Rich und Gantner betont der EuGH nämlich, dass die Einwendungen des Beklagten bei der Bestimmung des für die Art. 1 Abs. 1 EuGVVO bzw. Art. 27 EuGVVO 12 maßgeblichen Streitgegenstands irrelevant seien, 13 wohingegen im Urteil GAT zur Reichweite des Art. 22 Nr. 4 EuGVVO entschieden wurde, dass die ausschließliche Zuständigkeit bereits eingreift, wenn der Beklagte im Laufe eines Verletzungsverfahrens den Einwand der Nichtigkeit des Schutzrechts im Sinne dieser Vorschrift erhebt.14 In der unlängst zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ergangenen Entscheidung Land Berlin hat sich der EuGH nun der letztgenannten Auffassung angeschlossen.15 Im zugrundeliegenden Ausgangsfall stritten die Parteien vor dem LG Berlin über die anteilige Rückerstattung eines Geldbetrags, der nach Abschluss eines Verwaltungsverfahrens zur Wiedergutmachung eines durch die Verfolgung durch das NS-Regime bedingten Eigentumsver9

Der von Basedow/Heinze bemühte Schwur der Musketiere „Einer für alle, alle für einen“ (Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63 unter Hinweis auf Dumas, Les Trois Mousquetaires I, 106) umschreibt das Prinzip der Verfahrenskonzentration trefflich, sofern der „Eine“ auch der Ankerbeklagte ist. 10 Heinze/Roffael, GRUR-Int 2006, 787, 792 f.; Heinze, Europäisches Immaterialgüterrecht, 2007, 238, Fn. 284; Knaak, GRUR-Int 2007, 381, 391. 11 Lange, GRUR 2007, 107, 110 f. 12 Zukünftig Art. 29 EuGVVO n.F. 13 EuGH v. 25.7.1991, Rs. C-190/1989 (Marc Rich/Società Italiana Impianti), Slg. 1991, I-3855, Rn. 26 ff.; EuGH, v. 8.5.2003, Rs. C-111/2001 (Gantner Electronic/Basch Exploitatie Maatschappij), Slg. 2003, I-4207, Rn. 25 ff. 14 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-4/2003 (GAT/LuK), Slg. 2006, I-6509, Rn. 25. De lege ferenda ist die Berücksichtigung des Nichtigkeitseinwands in Art. 24 Nr. 4 EuGVVO n.F. ausdrücklich normiert. 15 EuGH v. 11.4.2013, Rs. C-645/2011 (Land Berlin/Sapir u.a.), EuZW 2013, 503; zum Sachverhalt der Entscheidung ausführlich noch auf S. 149 f.

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

49

lustes an einem Grundstück irrtümlich zu viel überwiesen worden war. Klägerin war das Land Berlin, von dessen Konto die fehlerhafte Überweisung vorgenommen wurde. Zu den Beklagten zählten die Rechtsnachfolger des ursprünglichen Grundstückseigentümers. Als Rechtsgrund für die Einbehaltung der geleisteten Zuvielüberweisung trugen alle Beklagten die Einwendung vor, dass der Verkehrswert des Grundstücks ihres Erblassers im Verwaltungsverfahren zu niedrig angesetzt worden sei, sodass die Zuvielüberweisung des Landes Berlin in Wahrheit nur einen weitergehenden Wiedergutmachungsanspruch befriedige. Gegenüber den nicht in Deutschland ansässigen Beklagten sollte die internationale und örtliche Zuständigkeit mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO begründet werden. Der BGH legte dem EuGH schließlich die Frage vor, ob zwischen den am LG Berlin erhobenen Klagen die „enge Beziehung“ des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegeben sei. In seiner Antwort begründet der Gerichtshof das Vorliegen des Sachzusammenhangs der Klagen unter anderem mit dem Argument, dass das Bestehen des Rückerstattungsanspruchs des Landes Berlin von der Unbegründetheit einer gemeinsamen Einwendung der Beklagten abhinge.16 M.E. sollte die gemeinsame Einwendung der Beklagten bei der Entscheidung über die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft keine Berücksichtigung finden. 17 Gegen die Aufnahme der Einwendungen der Beklagten in die Beurteilungsgrundlage der Zuständigkeitsprüfung lässt sich zunächst der Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in Stellung bringen, der den Bezugspunkt der Konnexität nicht bei dem zu verhandelnden Prozessstoff insgesamt, sondern bei den erhobenen Klagen verortet. Für die hier vertretene Auffassung spricht zudem der auch im Anwendungsbereich der EuGVVO anerkannte Grundsatz der perpetuatio fori, 18 wonach eine Zuständigkeit nachträglich nicht mehr entfällt, wenn ihre Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Klageerhebung bestanden. 19 Schließlich erscheint es nicht sachgerecht, dass die Beklagten durch ein Verteidigungsvorbringen das Gericht in der Annahme seiner Zuständigkeit bestärken. Wird die Eröffnung des Gerichtsstands 16

EuGH v. 11.4.2013, Rs. C-645/2011 (Land Berlin/Sapir u.a.), EuZW 2013, 503, Rn. 39 ff. 17 Die nachfolgende Stellungnahme zu der vom EuGH vertretenen Auffassung basiert zum Teil auf meiner Entscheidungsrezension Lund, IPRax 2014, 140 ff. 18 Siehe nur BGH v. 1.3.2011, NJW 2011, 2515, 2517, Rn. 22 ff.; Rauscher/ Mankowski, EuZPR, Art. 2 Brüssel I-VO, Rn. 4; Kropholler/von Hein, EuZPR, vor Art. 2 EuGVO, Rn. 14. Zur Anwendbarkeit des Grundsatzes der perpetuatio fori auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO eingehend auf S. 127 ff. 19 So auch Heinze/Roffael, GRUR-Int 2006, 787, 792 f.

50

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

der Streitgenossenschaft auf gemeinsame Einwendungen der Beklagten gestützt, entsteht der Anreiz, den Beklagtenvortrag (zunächst) auf die Rüge des Fehlens der internationalen Zuständigkeit zu begrenzen. Umgekehrt wird den Beklagten die Möglichkeit geschaffen, sich durch den Vortrag verschiedener Einwendungen einer auf Grundlage des Klägervortrags bestehenden Gerichtspflicht zu entziehen. 20 Nach vorzugswürdiger Auffassung sollten die von den Beklagten vorgebrachten Einwendungen die Konnexität der Klagen also weder begründen noch zerstören können. 3. Fazit Für die Beurteilung der Gefahr widersprechender Entscheidungen sollte die Ankerklage mit den Annexklagen jeweils einzeln in Bezug gesetzt werden. Die von den Beklagten gegen die Begründetheit der Ansprüche des Klägers vorgetragenen Einwendungen haben bei der Entscheidung über die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft – entgegen der Ansicht des EuGH – außer Betracht zu bleiben. II. Dieselbe Sach- und Rechtslage in der Judikatur des EuGH Ausgangspunkt der Definition der Gefahr widersprechender Entscheidungen ist nach dem Verständnis des EuGH die in ständiger Rechtsprechung judizierte Vorgabe, dass in getrennten Verhandlungen die abweichende Bescheidung des Rechtsstreits auf Grundlage derselben Sach- und Rechtslage droht.21 1. Dieselbe Sach- und Rechtslage Dieser Vorgabe lässt sich zunächst entnehmen, dass, anders als im Schrifttum bisweilen propagiert wird, 22 das Bestehen derselben Sach20

Lange, GRUR 2007, 107, 111 weist ebenfalls darauf hin, dass die Beklagten die Zuständigkeitsentscheidung durch einen geschickten Vortrag beeinflussen können, erblickt darin aber ein für den Kläger hinzunehmendes Risiko. 21 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 34; EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 40; EuGH v. 12.7.2012, Rs. C616/2010 (Solvay/Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), EuZW 2013, 837, Rn. 25. 22 Briggs/Rees, Civil Jurisdiction and Judgments, Rn. 2.203; Fawcett/Torremans, Intellectual Property and Private International Law, Rn. 5.134; Geimer/Schütze/ Geimer, Art. 6 EuGVVO, Rn. 20; Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 8; Dasser/Oberhammer/T. Müller, Art. 6 LugÜ, Rn. 43; Schurig, FS Musielak 2004, 493, 513.

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

51

oder Rechtslage die Gefahr widersprechender Entscheidungen alleine nicht begründen kann. Vielmehr beinhaltet dieselbe Sach- und Rechtslage zwei kumulativ zu prüfende Unterkriterien.23 Dass zwei mitgliedstaatliche Gerichte bei der Beantwortung derselben Rechtsfrage basierend auf denselben Rechtsnormen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, mag unter Umständen zwar verwundern. Liegen den Entscheidungen jedoch völlig verschiedene Sachverhalte zu Grunde, würde Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zur allgemeinen Verwirklichung der einheitlichen Auslegung von Rechtsvorschriften angewendet, was weder Aufgabe der Vorschrift ist, noch von ihr geleistet werden kann. 24 Bei der Konkretisierung der Gefahr widersprechender Entscheidungen sind folglich sowohl die zur Anwendung kommenden Rechtsvorschriften als auch die zugrundeliegenden Tatsachen zu betrachten. 2. Sprunghafte Konkretisierung derselben Rechtslage Bezüglich des Kriteriums derselben Rechtslage schenkt die Judikatur des EuGH den Rechtsgrundlagen der erhobenen Ansprüche besondere Aufmerksamkeit. Zwei der vier ergangenen Entscheidungen betrafen die materiell-rechtliche Qualität der Rechtsgrundlagen;25 die beiden anderen rückten deren nationale Herkunft in den Fokus.26 a) Die materiell-rechtliche Qualität der Rechtsgrundlagen Die Bedeutung der materiell-rechtlichen Qualität der Rechtsgrundlagen für die Einheitlichkeit der Rechtslage lässt sich auf die Frage reduzieren, ob den erhobenen Klagen Ansprüche unterschiedlicher Natur (z.B. Vertrag und Delikt) zugrundeliegen dürfen oder nicht.

23 Siehe nur Althammer, IPRax 2008, 228, 230; Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution, Rn. 248; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6, Rn. 85; Lüthi, System, Rn. 865; H. Roth, FS Kropholler 2008, 885, 902; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 26. 24 Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 133 f. 25 EuGH v. 27.10.1998, Rs. C-51/1997 (Réunion européenne/Spliethoff’s Bevrachtingskantoor und Kapitän des Schiffes „Alblasgracht V002“), Slg. 1998, I-6511; EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319. 26 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535; EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/ Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182.

52

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

aa) Aussagekraft der Entscheidung Réunion européenne? Erstmals in den Fokus der Auslegung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft rückte diese Frage in der Entscheidung Réunion européenne. 27 Für die Beschädigung von Waren auf dem Transport vom australischen Melbourne ins französische Rungis verlangte die Versicherung Réunion européenne Schadensersatz von dem Verfrachter mit Sitz in Sydney, vom Seefrachtführer mit Sitz in Amsterdam und vom Kapitän des Transportschiffes mit Wohnsitz in Amsterdam.28 Vor dem Tribunal de Commerce de Créteil in Rungis sollten die beiden niederländischen Beklagten mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ gemeinsam in Anspruch genommen werden. 29 Die komplexen Rechtsverhältnisse zwischen den Parteien wurden im Rahmen der Beantwortung der ersten beiden Vorlagefragen durch den Gerichtshof zusammenfassend so bewertet: Der Anspruch von Réunion européenne gegen den australischen Verfrachter sei vertraglicher Natur; die Haftung der niederländischen Gesellschaft und des Kapitäns dagegen deliktisch zu qualifizieren.30 Wenngleich der Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft im Fall Réunion européenne von vornherein entgegenstand, dass keiner der Beklagten zum Zeitpunkt der Klageerhebung in Rungis seinen Wohnsitz hatte,31 findet sich in den Ausführungen des EuGH zu Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ eine Randnummer, die auf eine einschränkende 27

EuGH v. 27.10.1998, Rs. C-51/1997 (Réunion européenne/Spliethoff’s Bevrachtingskantoor und Kapitän des Schiffes „Alblasgracht V002“), Slg. 1998, I-6511. 28 Réunion européenne hatte die Empfängerfirma schadlos gehalten und war in der Folge in deren Rechte eingetreten. 29 EuGH v. 27.10.1998, Rs. C-51/1997 (Réunion européenne/Spliethoff’s Bevrachtingskantoor und Kapitän des Schiffes „Alblasgracht V002“), Slg. 1998, I-6511, Rn. 45. Gegenüber dem australischen Verfrachter durfte die Zuständigkeit gemäß Art. 4 Abs. 2 EuGVÜ auf autonomes französisches Prozessrecht gestützt werden. 30 EuGH v. 27.10.1998, Rs. C-51/1997 (Réunion européenne/Spliethoff’s Bevrachtingskantoor und Kapitän des Schiffes „Alblasgracht V002“), Slg. 1998, I-6511, Rn. 19. Zu den frachtvertraglichen Besonderheiten des Falls eingehend H. Koch, IPRax 2000, 186 f. 31 Diese Tatsache ist auch den Richtern der Cour de cassation nicht entgangen. Ihre Vorlagefrage zielte darauf ab, ob der Sachzusammenhang der Klagen als solcher einen Gerichtsstand der Streitgenossenschaft begründen könne (vgl. den Hinweis des Conséiller référendaire Rémery im Vorlagebeschluss, Rev. crit. dr. int. priv. 86 (1997), 101, 104 „De toute évidence, la règle de compétence de l’article 6-1° ne me paraît pas pouvoir jouer ici. […] Ne faut-il pas alors profiter de l’occasion pour s’assurer définitivement que la solution reste la même en cas d’indivisibilité, bien que l’affirmative paraisse ici s’imposer?“).

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

53

Konkretisierung der Konnexität schließen lässt: „Zwei im Rahmen einer einzigen Schadensersatzklage gegen verschiedene Beklagte gerichtete Klagebegehren, von denen das eine auf vertragliche, das andere auf deliktische Haftung gestützt wird, [können] nicht als im Zusammenhang stehend angesehen werden.“32 Zur Begründung verweist der Gerichtshof darauf, dass schon Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ keine Zuständigkeit für die Beurteilung einer Klage unter nichtdeliktischen Gesichtspunkten biete.33 In der Literatur leiteten nicht wenige Autoren aus der Entscheidungsbegründung die Vorgabe ab, dass Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ nicht zur Anwendung kommen könne, wenn die Klagen auf Rechtsgrundlagen unterschiedlicher materiell-rechtlicher Qualität beruhen.34 Andere stellten sich demgegenüber auf den Standpunkt, die Randnummer des Urteils führe lediglich aus, dass der Zusammenhang zwischen zwei auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhenden Klagen für sich genommen nicht ausreicht, um – losgelöst von Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ – einen Gerichtsstand des Sachzusammenhangs zu begründen.35 In der Folge beförderte die aus der Entscheidung resultierende Unsicherheit Divergenzen in die nationale Rechtsprechung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Während die Gerichte in Deutschland 36 , Österreich 37 und 32

EuGH v. 27.10.1998, Rs. C-51/1997 (Réunion européenne/Spliethoff’s Bevrachtingskantoor und Kapitän des Schiffes „Alblasgracht V002“), Slg. 1998, I-6511, Rn. 50. 33 EuGH v. 27.10.1998, Rs. C-51/1997 (Réunion européenne/Spliethoff’s Bevrachtingskantoor und Kapitän des Schiffes „Alblasgracht V002“), Slg. 1998, I-6511, Rn. 49 f. Vgl. auch GA Cosmas, Schlussanträge v. 5.2.1998, Rs. C-51/1997 (Réunion européenne/Spliethoff’s Bevrachtingskantoor und Kapitän des Schiffes „Alblasgracht V002“), Slg. 1998, I-6511, Rn. 71 f. 34 So etwa Geier, Streitgenossenschaft, 82, Fn. 419; Dietze/Schnichels, EuZW 1999, 549, 550. Siehe auch Briggs, LMCLQ 1999, 333, 337: „[I]t appears that only legislation can rescue courts from the mess which these ironclad rules now appear to have created“. 35 Instruktiv Schurig, FS Musielak 2004, 493, 513; vgl. auch Althammer, IPRax 2008, 228, 229 f.; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 27; H. Roth, FS Kropholler 2008, 885, 901; Scott, LMCLQ 2008, 113, 114 ff.; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 8; Magnus/Mankowski/Muir Watt, Art. 6 Brussels IRegulation, Rn. 26. 36 Der BGH verneinte unter Hinweis auf die Réunion européenne-Entscheidung die Konnexität zweier Klagen, von denen die eine auf einer vertraglichen, die andere auf einer bereicherungsrechtlichen Anspruchsgrundlage beruhte, mit der Begründung, dass in diesem Fall die rechtliche Verschiedenheit noch größer sei, da bei vertraglichen und deliktischen Schadensersatzansprüchen immerhin gemeinsame schadensersatzrechtliche Grundsätze zur Anwendung kämen (BGH v. 23.10.2001, NJW-RR 2002, 1149, 1150). 37 Dem Obersten Gerichtshof in Österreich erschien klar, dass „der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften […] zu Art 6 Nr. 1 EuGVÜ bereits die Frage

54

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

Schweden 38 die Entscheidung Réunion européenne zur Auslegung der Vorschrift heranzogen, fand das Judikat in der irischen 39 und französischen40 Rechtsprechung (zunächst) keine Berücksichtigung. In England versuchte man erfolglos, mit einer Vorlage an den EuGH mehr Licht ins Dunkle zu bringen; 41 schließlich zeigte man sich auf der Insel unbeeindruckt von den Ausführungen der Richter in Luxemburg.42 bb) Klarstellung mit der Entscheidung Freeport Für die ersehnte Klarstellung sorgte knapp zehn Jahre später die Entscheidung Freeport. 43 Dem Ausgangsverfahren lag dieses Mal ein Sachverhalt zu Grunde, der die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO grundsätzlich zuließ: Der schwedische Staatsbürger Arnoldsson hatte mit der in Großbritannien ansässigen Gesellschaft Freeport plc die Zahlung einer Provision für die Eröffnung eines Factory Outlets vereinbart. Den Anspruch sollte die nach schwedischem Recht gegründete Gesellschaft Freeport AB begleichen, die eine 100%ige Tochter der Freeport plc war. Nachdem die Zahlung ausblieb, erhob Arnoldsson Klage gegen die beiden Gesellschaften am allgemeinen Gerichtsstand der schwedischen Freeport AB. Gegenüber Freeport plc sollte daneben Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zum Zuge kommen. Die Ansprüche gegen Freeport plc beruhten auf einer vertraglichen Grundlage; gegenüber Freeport AB, die

entschieden [hat], dass ein für die Zuständigkeitsbegründung notwendiger Zusammenhang zwischen Klagen dann zu verneinen ist, wenn von zwei Klagen eine auf vertragliche Ansprüche, die andere auf deliktische Ansprüche gegründet ist.“ (OGH v. 29.6.2004, ecolex 2005, 899). 38 Der schwedische Högsta domstolen bringt in der Formulierung der ersten Vorlagefrage zur Rechtssache Freeport zum Ausdruck, dass er es für entscheidungserheblich hält, ob die Klagebegehren gegenüber beiden Beklagten als vertraglich zu qualifizieren seien oder nicht. (EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/ Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 18). 39 Daly v Irish Group Travel [2003] I.L.Pr. 38. 40 Cour de cassation v. 8.1.2002, Rev. crit. dr. int. priv. 92 (2003), 126, 127. A.A. dann aber Cour de cassation v. 19.11.2002, Rev. crit. dr. int. priv. 92 (2003), 126, 128 f.; kritisch zu dieser Entscheidung Gaudemet-Tallon, Rev. crit. dr. int. priv. 92 (2003), 129, 132 f. 41 Watson v First Choice Holidays and Flights Ltd [2001] 2 Lloyd’s Rep. 339. Die Parteien verglichen sich jedoch, bevor der Gerichtshof Antwort geben konnte (Magnus/Mankowski/Muir Watt, Art. 6 Brussels I-Regulation, Rn. 26; Stone, EU Private International Law, 118). 42 Aufbegehrend Cook J in Andrew Weir Shipping Ltd v Wartsila Uk Ltd [2004] 2 Lloyd’s Rep 377, Rn. 69: „[I]f the [ECJ’s] intention was to lay down a general principle applicable to art. 6.1, it is simply wrong“. 43 EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319.

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

55

zum Zeitpunkt der streitigen Vereinbarung noch gar nicht gegründet war, standen dagegen allenfalls (quasi)deliktische Ansprüche im Raum. Die auf die erste Vorlagefrage des Högsta domstolen ergehende Konkretisierung der engen Beziehung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO durch den Gerichtshof stellt klar, dass die am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erhobenen Klagen nicht auf Anspruchsgrundlagen derselben materiell-rechtlichen Qualität beruhen müssen. 44 Die Verschiedenheit der Rechtsgrundlagen der Klagebegehren schließt nach Auffassung des Gerichtshofs die Konnexität nicht per se aus, sondern sei lediglich als ein Gesichtspunkt bei deren Bestimmung zu berücksichtigen.45 Die ausdrückliche Aufgabe der Einschränkung durch den Gerichtshof ist zu begrüßen. 46 Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft könnte andernfalls seiner Funktion im Zuständigkeitssystem der EuGVVO nicht gerecht werden, drohen widersprechende Entscheidungen doch auch zwischen Klagen, die auf verschiedenartigen Rechtsgrundlagen fußen.47 Ohnehin besteht in Rechtsordnungen, die dem Prinzip des non cumul nicht folgen, keine ausreichend strikte Trennung zwischen vertraglichen und deliktischen Ansprüchen, um mithilfe dieses Kriteriums rechtssicher über die Eröffnung eines Gerichtsstands zu entscheiden. 48 Die Unterscheidung zwischen vertraglichen und deliktischen Rechtsgrundlagen brächte daher das Risiko der uneinheitlichen Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten mit sich.49 Dass 44

EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 40. So schon die Empfehlung der Schlussanträge von GA Mengozzi, Schlussanträge v. 24.5.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 25. 45 EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 41, 47. 46 Zustimmend Althammer, IPRax 2008, 228, 230; Coester-Waltjen, FS Kropholler 2008, 747, 752; Geimer/Schütze/Geimer, Art. 6 EuGVVO, Rn. 19; Knöfel, EWiR 2007, 749, 750; Mansel/Thorn/R. Wagner, IPRax 2009, 1, 12; H. Roth, FS Kropholler 2008, 885, 902; Scott, LMCLQ 2008, 113, 115 f.; Sujecki, NJW 2007, 3706; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 87; Usunier, Compétence juridictionelle, 215; Würdinger, ZZPInt. 12 (2007), 221, 225; ders., RIW 2008, 71. 47 Althammer, IPRax 2008, 228, 230; Scott, LMCLQ 2008, 113, 116; Stein/ Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 27. 48 Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 27. 49 Vor der Freeport-Entscheidung kritisch Gaudemet-Tallon, Rev. crit. dr. int. priv. 92 (2003), 129, 132 f.: „[L]a distinction entre la matière contractuelle et la matière délictuelle est difficile a faire et que la frontière entre les deux ne passe pas toujours dans tous le droits au même endroit.” Siehe auch Hess/Pfeiffer/Schlosser, Heidelberg Report, Rn. 225: „As far as the application of Article 6 (1) JR raises questions as to its uniform application in the Member States, it should be noted that this, to some extent, is a consequence of differences in national laws, particularly

56

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

die Klagen auf Rechtsgrundlagen der gleichen Qualität beruhen, ist folglich keine Voraussetzung der einheitlichen Rechtslage. b) Die nationale Herkunft der Rechtsgrundlagen Das zweite Entscheidungspaar der Judikatur des EuGH erörtert, wie sich die nationale Herkunft der den Klagen zugrundeliegenden Rechtsgrundlagen auf die Einheitlichkeit der Rechtslage auswirkt. aa) Restriktive Konkretisierung durch die Entscheidung Roche Nederland Im Ausgangsverfahren der Rechtssache Roche Nederland verklagten die Erfinder Primus und Goldenberg neun Gesellschaften des Roche Konzerns wegen der Verletzung mehrerer nationaler Teile eines europäischen Bündelpatents gemeinsam vor der Rechtbank Den Haag.50 Die holländischen Richter fragten den EuGH daraufhin, ob Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ den Inhaber eines europäischen Bündelpatents berechtige, ein konzentriertes Patentverletzungsverfahren gegen mehrere Gesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten wegen der parallelen Verletzung der nationalen Splitter eines europäischen Bündelpatents anzustrengen. Die Begründung der Verneinung der Vorlagefrage durch den EuGH legt den Schluss nahe, dass nach Auffassung des Gerichtshofs die Anwendung unterschiedlichen nationalen Rechts die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft ausschließt.51 Gegen die Konnexität der Klagen wendeten die Richter in Luxemburg nämlich ein, dass über die Verletzung des nationalen Splitters eines europäischen Bündelpatents gemäß

relating to the problem of coordination between different sources of liability, namely in contract and in tort“. 50 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 27 ff. Die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Patentverletzungsklagen wird im sechsten Kapitel dieser Arbeit en détail untersucht (S. 182 ff.). Die nachfolgenden Ausführungen greifen daher lediglich die allgemeinen Aussagen der Entscheidung Roche Nederland zum Konnexitätserfordernis auf. 51 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 76, Fn. 28; Bodson, RDIDC 2007, 447, 458 f.; Coester Waltjen, FS Kropholler 2008, 751, 755 f.; Heinze, Europäisches Immaterialgüterrecht, 237; Lund, RIW 2012, 377; Maier, Marktortanknüpfung, 199; Usunier, Compétence juridictionelle, 215; Wilderspin, Rev. crit. dr. int. priv. 95 (2006), 777, 791. A.A. Lüthi, System, Rn. 869, demzufolge dieser Vorgabe der Roche Nederland-Entscheidung allein im Immaterialgüterrecht Bedeutung zukommt.

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

57

Art. 64 Abs. 3 EPÜ 52 nach dem Recht des jeweiligen Erteilungsstaates entschieden wird. Da trotz der europäischen Teilharmonisierung des Patentrechts durch das EPÜ beträchtliche Unterschiede zwischen den zur Anwendung kommenden nationalen Vorschriften bestünden, könne nicht von einer einheitlichen Rechtslage ausgegangen werden.53 bb) Aufgabe der Einschränkung durch die Entscheidung Painer Auch diese Einschränkung des Konnexitätserfordernisses hielt sich nicht lange in der Rechtsprechungslinie des EuGH zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Die gemeinsame nationale Herkunft der Rechtsgrundlagen der Klagen ist nach der jüngeren Entscheidung Painer kein zwingendes Erfordernis mehr für die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft.54 Gegenstand des Ausgangsverfahrens war eine urheberrechtliche Streitigkeit, die sich an der Berichterstattung über den wohl aufsehenerregendsten Entführungsfall der österreichischen Geschichte entzündete. Nachdem die zehnjährige Natascha Kampusch im Jahr 1998 in Wien entführt worden war, rückte sie die Flucht vor ihrem Entführer nach über acht Jahren Gefangenschaft in das öffentliche Interesse. Fünf bekannte Zeitungsverlage55 veröffentlichten im Jahr 2006 in den von ihnen vertriebenen Druckerzeugnissen Porträtfotografien von Natascha Kampusch. Dabei war die Berichterstattung territorial uneinheitlich ausgerichtet: Die Tageszeitung eines Verlags erschien nur in Österreich; die übrigen Verlagshäuser gaben zusätzlich oder ausschließlich in Deutschland Druckerzeugnisse heraus. Die verwendeten Fotografien wurden vor der Entführung von der selbstständigen Fotografin Eva-Maria Painer hergestellt, die wegen der Verletzung ihrer Urheberrechte Klage am Handelsgericht Wien einreichte. Die Zuständigkeit gegenüber den vier deutschen Verlagshäusern sollte mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO begründet werden. Während die nur in Österreich veröffentlichende Ankerbeklagte nach dem Kolli52

Übereinkommen über die Erteilung europäischer Patente v. 5.10.1973, BGBl. 1976 II, 649. 53 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 29 ff.; GA Léger, Schlussanträge v. 8.12.2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 118. 54 EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182. Die nachstehende Erörterung der Entscheidung basiert teilweise auf meiner Entscheidungsrezension Lund, RIW 2012, 377 ff. 55 Standard Verlags GmbH, Axel Springer AG, Süddeutsche Zeitung GmbH, Spiegel-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co KG und Verlag M. DuMont Schauberg Expedition der Kölnischen Zeitung GmbH & Co KG.

58

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

sionsrecht der lex fori nach österreichischem Recht in Anspruch zu nehmen war,56 kam auf die anderen Klagen zusätzlich oder ausschließlich deutsches Recht zur Anwendung, das zur Begründung der Ansprüche jedoch ähnliche Voraussetzungen wie das österreichische Recht aufstellt.57 Die Richter in Wien legten dem EuGH daher die Frage vor, ob der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft eröffnet sei, wenn die Klagen wegen inhaltlich identischer Urheberrechtsverletzungen auf national unterschiedlichen, inhaltlich aber in den wesentlichen Grundzügen identischen Rechtsgrundlagen beruhen.58 Die bejahende Antwort des Gerichtshofs verweist auf den Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Da die Voraussetzung des gemeinsamen nationalen Ursprungs der Rechtsgrundlagen der Vorschrift nicht zu entnehmen sei, könne die Anwendung unterschiedlicher Rechtsordnungen die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nicht per se ausschließen. Die Herkunft der Rechtsgrundlagen der Klagen sei lediglich ein relevanter Faktor bei der Bestimmung der einheitlichen Rechtslage, zumal wenn die unterschiedlichen Rechtsgrundlagen sich als in Grundzügen identisch präsentierten.59 Den Ausführungen des Gerichtshofs ist beizupflichten.60 In teilharmonisierten Rechtsgebieten wie dem 56

Art. 8 Rom II-VO kam auf die Ersatzansprüche der Fotografin noch nicht zur Anwendung, da die Rom II-VO nach ihrem in Art. 32 festgesetzten Anwendungszeitpunkt nur auf schadensbegründende Ereignisse anwendbar ist, die ab dem 11.1. 2009 eingetreten sind (dazu näher EuGH v. 17.11.2011, Rs. C-412/10 (Deo Antoine Homawoo/GMF Assurances SA), EuZW 2012, 35). In Österreich formuliert § 34 Abs. 1 IPRG ausdrücklich die Geltung des Schutzlandprinzips: „Das Entstehen, der Inhalt und das Erlöschen von Immaterialgüterrechten sind nach dem Recht des Staates zu beurteilen, in dem eine Benützungs- oder Verletzungshandlung gesetzt wird.“ Zur Geltung des Schutzlandprinzips im deutschen Recht siehe BGH v. 2.10.1997, NJW 1998, 1395; MünchKommBGB4/Drexl, IntImmGR, Rn. 118 ff.; von Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, § 11, Rn. 44. 57 Zu den Regelungen im deutschen Recht siehe, Loewenheim/Vinck, Handbuch des Urheberrechts, § 81, Rn. 18 ff. (zum Unterlassungsanspruch nach § 97 Abs. 1 UrhG), Rn. 64 ff. (zum Bereicherungsanspruch nach §§ 102a UrhG, 812 BGB), Rn. 30 ff. (zum Schadensersatzanspruch nach 97 Abs. 2 UrhG). Zu den vergleichbaren Regelungen im österreichischen Recht siehe Loewenheim/Walter, Handbuch des Urheberrechts, § 51, Rn. 132 ff. (zum Unterlassungsanspruch nach § 81 ÖUrhG); Rn. 148 f. (zum Anspruch auf angemessenes Entgelt nach § 86 ÖUrhG); Rn. 150 ff. (zum Schadensersatzanspruch nach § 87 ÖUrhG). 58 Konkret fragte das vorlegende Gericht nach der Zuständigkeit gegenüber der Axel Springer AG, dessen Bundesausgabe der Bild-Zeitung nur in Deutschland erscheint, und gegenüber der Verlag M. DuMont Schauberg Expedition der Kölnischen Zeitung GmbH & Co KG, dessen Tageszeitung Express nur in Deutschland erscheint. 59 EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 80. 60 Lund, RIW 2012, 377, 378 f.; wohl auch Sujecki, GRUR Int. 2013, 201, 204.

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

59

Urheberrecht ist durch die unterschiedliche nationale Herkunft der Rechtsgrundlagen nämlich noch nicht ausgeschlossen, dass es in getrennten Verhandlungen nicht zur widersprüchlichen Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften kommt. 61 Im Interesse einer ordnungsgemäßen Rechtspflege muss die Verfahrenskonzentration am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft folglich unabhängig von der nationalen Herkunft der Rechtsgrundlagen möglich bleiben.62 3. Verwirrende Vorgaben zu derselben Sachlage Große Schwierigkeiten bereitet dem EuGH auch die Konkretisierung des von ihm eingeführten Kriteriums derselben Sachlage. Bereits die Wortwahl der Richter in Luxemburg ist unglücklich, da mehrere Beklagte zwar gleich oder gleichartig gehandelt haben können, denklogisch aber ausgeschlossen ist, dass verschiedene Beklagte jeweils dieselben Handlungen vornehmen. 63 Seiner missverständlichen Terminologie fällt der Gerichtshof prompt als Erster zum Opfer, wenn in der Entscheidung Roche Nederland dieselbe Sachlage mit der Begründung verneint wird, dass „verschiedene Personen verklagt werden und die in verschiedenen Vertragsstaaten begangenen Verletzungshandlungen, die ihnen vorgeworfen werden, nicht dieselben sind.“ 64 Da die Personenmehrheit auf Beklagtenseite dem Gerichtsstand der Streitgenossenschaft immanent ist, kann mit dem Verweis auf eben diese Personenmehrheit die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO nicht verneint werden.65

61 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 79 f. Mit ihren Ausführungen tritt die Generalanwältin ausdrücklich dem Ansatz des Gerichtshofs aus der Entscheidung Roche Nederland entgegen (GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 81). 62 Eingehend zur einheitlichen Rechtslage bei der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in teilharmonisierten Rechtsgebieten sogleich auf S. 65 ff. 63 Die deutsche Übersetzung geht zurück auf die Formulierung von GA Léger, Schlussanträge v. 8.12.2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 113: „même situation de droit et de fait“. Die Forderung derselben Rechtslage ist zwar ebenfalls hoch gegriffen, jedoch nicht von vornherein ausgeschlossen, da auf die Klagen tatsächlich dieselben Rechtsvorschriften zur Anwendung kommen können. 64 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 27. Siehe auch EuGH v. 12.7.2012, Rs. C616/2010 (Solvay/Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), EuZW 2013, 837, Rn. 25. 65 Zu Recht kritisch BGH v. 14.12.2006, GRUR 2007, 705, 708, Rn. 18; Thiran, J.T. 2006, 724, 725.

60

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

Klar gegen die Forderung der vollständigen Identität der den Klagen zugrundeliegenden Sachverhalte spricht zudem, dass in einem solchen Fall das Kriterium derselben Rechtslage vollständig obsolet wäre. Aufgrund der Gleichheit sämtlicher international-privatrechtlicher Anknüpfungsmerkmale kämen nämlich zwangsläufig dieselben Rechtsvorschriften auf die Klagen zur Anwendung. 66 Richtigerweise wird man dem EuGH folglich unterstellen dürfen, dass den Klagen seiner Auffassung nach nur eine gleiche oder gleichartige Sachlage zugrundeliegen muss. Entsprechend heißt es an anderer Stelle im Urteil Roche Nederland auch, „die gleiche Sachlage“ wäre gegeben, wenn die Beklagten „in derselben oder in ähnlicher Weise gehandelt haben“.67 4. Verbleibende Unklarheiten in der Rechtsprechung des EuGH Während der EuGH im Ausgangspunkt zutreffend erkannt hat, dass allein die abweichende Entscheidung eines Rechtsstreits keinen Widerspruch begründet, sondern die am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erhobenen Klagen in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht gemeinsame Bezugspunkte aufweisen müssen, hat es seine Judikatur in der Folge versäumt, klare Linien in das von ihm eingeführte Kriterium derselben Sach- und Rechtslage zu zeichnen. Nach den Entscheidungen Freeport und Painer müssen die Rechtsgrundlagen der Klagen weder von derselben materiell-rechtlichen Qualität sein, noch einen gemeinsamen nationalen Ursprung teilen. Wenngleich die Aufgabe der in den Entscheidungen Réunion européenne und Roche Nederland angedeuteten Auffassungen im Ergebnis Zustimmung verdient, wirft die vollzogene Kehrtwende des EuGH mehr Fragen als Antworten auf. Wie soll dieselbe Rechtslage zwischen zwei Klagen bestehen, von denen die eine auf vertraglicher, die andere auf deliktischer Haftung fußt?68 Wieso ist die Voraussetzung erfüllt, wenn auf die eine Klage deutsches, auf die andere österreichisches Recht zur Anwendung kommt? Verwundert zurück lässt den Rechtsanwender zudem der Blick auf das Erfordernis derselben Sachlage. Wie kann den am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erhobenen Klagen dieselbe Sachlage zugrundeliegen, wenn der gemein66 Diese Argumentation setzt freilich voraus, dass die angerufenen Gerichte dieselbe Kollisionsnorm zur Entscheidung über das anwendbare Recht befragen. Zur Abhängigkeit des Kriteriums der einheitlichen Rechtslage von den Regeln des internationalen Privatrechts sogleich auf S. 64 f. 67 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 34 (Hervorhebung durch den Verfasser). 68 H. Roth, FS Kropholler 2008, 885, 887; Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution, Rn. 248.

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

61

samen Verhandlung naturgemäß mehrere Beklagte beiwohnen? Insgesamt betrachtet deuten die bestehenden Unklarheiten in der Rechtsprechungslinie des EuGH darauf hin, dass nach Auffassung des Gerichtshofs bereits eine gleichartige Sach- und Rechtslage für die gemeinsame Verhandlung der Klagen ausreichend ist. III. Eigenständige Konkretisierung der einheitlichen Sach- und Rechtslage Die offenen Fragen in der Judikatur des EuGH geben Anlass zur eigenständigen Konkretisierung der einheitlichen Sach- und Rechtslage. Dem Kriterium wird sich zunächst mit Vorüberlegungen genähert (dazu unter 1.), bevor im Anschluss detaillierte Vorgaben zur Beurteilung der Einheitlichkeit der Sach- und Rechtslage aufgestellt werden (dazu unter 2. und 3.). 1. Vorüberlegungen a) Die prospektive Beurteilung des Widerspruchs Festzustellen, dass die Rechtsfindung zweier mitgliedstaatlicher Gerichte nicht miteinander in Einklang steht, ist ein Leichtes, sobald die konkreten Entscheidungen ergangen sind: Überprüft werden muss lediglich, ob die abweichende Bescheidung der Klagen mit den Unterschieden der zu Grunde liegenden Tatsachen und Rechtsvorschriften erklärt werden kann oder nicht. Die in Hinblick auf die Beurteilung der Widerspruchsgefahr i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu meisternde Herausforderung liegt indessen darin, auf Grundlage abstrakter Vorgaben prospektiv zu bestimmen, ob die gemeinsame Verhandlung zweier Klagen notwendig ist. Die Einheitlichkeit der Sach- und Rechtslage kann in der Zuständigkeitsprüfung nämlich immer nur ausschnittsweise beleuchtet werden, da die umfassende Ermittlung der Tatsachen- und Rechtsgrundlage der Klagen der Entscheidung über den Fall selbst gleichkäme. Dabei steigt der Umfang der Zuständigkeitsprüfung proportional zur Strenge der zu erfüllenden Vorgaben: Je restriktiver die Konkretisierung des Kriteriums der einheitlichen Sach- und Rechtslage ausfällt, desto umfangreicher muss die Tatsachen- und Rechtsgrundlage der Klagen ermittelt werden, um den geforderten Grad der Übereinstimmung festzustellen; sich derselben Sach- und Rechtslage zu vergewissern bedeutet streng genommen, auf Grundlage sämtlicher beigebrachten Tatsachen alle entscheidungserheblichen Rechtsvorschriften zu ermitteln. Beim Aufstellen von Vorgaben zur prospektiven Beurteilung der einheitlichen Sach- und

62

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

Rechtslage ist folglich darauf zu achten, dass der Umfang des in der Zuständigkeitsprüfung Leistbaren nicht gesprengt wird. b) Die einheitliche Sach- und Rechtslage als Gleichung mit zwei Unbekannten Die zweite Vorüberlegung betrifft die Wechselbezüglichkeit der Sachund Rechtslage. Dass der einer Klage zugrundeliegende Sachverhalt die zur Anwendung kommenden Rechtsvorschriften determiniert, wurde im Rahmen der Analyse der EuGH-Rechtsprechung bereits angedeutet. 69 Umgekehrt richtet sich nach den zur Lösung des Falls entscheidungserheblichen Rechtsvorschriften, welche Tatsachen für die Subsumtion des Falls heranzuziehen sind. Um bei der Konkretisierung der einheitlichen Sach- und Rechtslage nicht am Versuch zu scheitern, eine Gleichung mit zwei Unbekannten zu lösen, muss bezüglich eines der beiden Unterkriterien daher zunächst eine bestimmte Grundannahme aufgestellt werden, auf die im weiteren Verlauf der Untersuchung dann zurückgegriffen werden kann. Zu diesem Zweck geeigneter erscheint bei lebensnaher Betrachtung des Ablaufs des juristischen Falllösungsprozesses das Unterkriterium der einheitlichen Sachlage. Ausgangpunkt einer jeden gerichtlichen Verhandlung bildet nämlich die Beibringung einer bestimmten Rechtsfrage durch den Kläger, die sich aus den zwischen den Parteien vorgefallenen Geschehnissen ergeben hat. Vor der ersten richterlichen „Gedankenoperation“ – der Auffindung einer die Lösung beinhaltenden Rechtsnorm – hat sich die zugrundeliegende Sachlage also bereits auf die potentiell zur Anwendung kommenden Rechtsnormen ausgewirkt;70 die in der Klage-

69 Die Vorgabe derselben Sachlage wurde als zu restrikiv zurückgewiesen, da aufgrund der Identität der international-privatrechtlichen Anknüpfungsmerkmale zwangsläufig dieselben Rechtsvorschriften berufen wären, was das Erfordernis der einheitlichen Rechtslage obsolet machte (siehe S. 59 f.). 70 Instruktiv Weber, Die Theorie der Qualifikation, 227 f. Wenngleich die Überlegungen von Weber der Diskussion um den Qualifikationsgegenstand im internationalen Privatrecht entspringen, können sie bei der Bestimmung der einheitlichen Sach- und Rechtslage fruchtbar gemacht werden, da der Prozess der Qualifikation gleichfalls einem Wechselspiel von „Lebensverhältnis“, „Rechtsverhältnis“ und „Sachnorm“ unterliegt (zu diesen Begriffen Wendehorst, FS Sonnenberger 2004, 743, 744; Weber, Die Theorie der Qualifikation, 203 ff.; MünchKommBGB/Sonnenberger, Einl. IPR, Rn. 480 ff.).

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

63

erhebung aufgeworfene Rechtfrage bildet den Punkt, „wo faktische Geschehnisse in rechtliche Erwägungen übergehen“.71 c) Grundannahme zur einheitlichen Sachlage Im Schrifttum findet sich eine beträchtliche Zahl allgemeiner Aussagen zur einheitlichen Sachlage. Das Unterkriterium gilt als erfüllt, wenn „die Klagen sich auf denselben tatsächlichen Grund [beziehen]“72 oder „denselben Fall betreffen“73, „whenever claims […] [are] based on parallel sets of facts“, 74 wenn „gleichartige Entstehungsgründe“ 75 oder „gleichartige tatsächliche Gründe“76 vorliegen, wenn die Beklagten Handlungen „de même nature ou similaires“ begangen haben77, wenn das zugrundeliegende „Geschehen im Wesentlichen übereinstimmend ist“78 oder sich als „einheitlicher Lebenssachverhalt“ 79 darstellt oder wenn es „zumindest eine relevante Überschneidung im tatsächlichen Bereich“80 gibt. Allen Umschreibungen der einheitlichen Sachlage gemein ist die Vorstellung, dass die zur Klageerhebung führenden Geschehnisse gewisse Berührungspunkte aufweisen müssen, was der Idee der Verfahrenskonzentration geradezu immanent ist. Denn der Kläger zieht die Anrufung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft überhaupt erst in Betracht, wenn die zugrundeliegenden Sachverhalte Gemeinsamkeiten aufweisen. Ohne den Anwendungsbereich des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO nennenswert zu verkürzen, lässt sich in Hinblick auf die einheitliche Sachlage daher die Grundannahme aufstellen, dass die erhobenen Klagen auf zusammenhängenden Lebensverhältnissen beruhen, die sich zu einem (für den Kläger) bemerkenswerten Grad überschneiden.

71

Weber, Die Theorie der Qualifikation, 228. Einfach ausgedrückt beginnt die juristische Falllösung mit der Erfassung des Sachverhalts und nicht mit dem Blättern im Gesetz. 72 Schurig, FS Musielak 2004, 493, 513. 73 Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 26. 74 Magnus/Mankowski/Muir Watt, Art. 6 Brussels I-Regulation, Rn. 25a. 75 Schwander, Das Lugano-Übereinkommen, 79. 76 Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 8a. 77 Bodson, RDIDC 2007, 447, 468. 78 Lüthi, System, Rn. 883. 79 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 28. 80 Winter, Der Gerichtsstand des Sachzusammenhangs, 52 f.

64

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

2. Die einheitliche Rechtslage Auf Basis der angestellten Vorüberlegungen kann nun das Merkmal der einheitlichen Rechtslage konkretisiert werden. a) Spannungsverhältnis zur europäisch-autonomen Auslegung Das Kriterium der einheitlichen Rechtslage steht in einem natürlichen Spannungsverhältnis zur europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Mangels vollständiger Harmonisierung des materiellen Rechts in Zivil- und Handelssachen lässt sich die Frage, welche Vorschriften bei der Lösung eines Falls entscheidungserheblich werden, umfassend erst durch den Rückgriff auf das anwendbare nationale Recht beantworten. Bis zur lückenlosen Vereinheitlichung des europäischen Kollisionsrechts in Zivil- und Handelssachen ist aber nicht ausgeschlossen, dass hierfür abhängig vom angerufenen Gericht unterschiedliche Rechtsordnungen berufen werden, sodass die einheitliche Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gefährdet ist. Es sei an dieser Stelle bereits vorweg genommen, dass sich diese Problematik im Rahmen der Konkretisierung der einheitlichen Rechtslage zwar entschärfen, nicht jedoch in Gänze auflösen lässt. Ob die abweichende Beurteilung eines Rechtsstreits in unterschiedlichen Mitgliedstaaten einen Widerspruch hervorbringt, kann „nun einmal nur beantwortet werden, wenn auch das außerhalb der Zuständigkeitsregelungen anwendbare Recht berücksichtigt wird“. 81 Jedenfalls wenn in Ermangelung unionsrechtlicher Vorgaben ausschließlich nationale Rechtsvorschriften auf die Klagen zur Anwendung gelangen, wird man um die Prüfung der Regeln des internationalen Privatrechts der lex fori nicht umhin kommen. Ob der damit verbundenen Nachteile wird bei der Konkretisierung der einheitlichen Rechtslage jedoch versucht, die Zuständigkeitsentscheidung soweit wie möglich von kollisionsrechtlichen Erwägungen zu emanzipieren. Zur Entschärfung der Problematik trägt zusätzlich bei, dass die Vorbehalte gegenüber der Abhängigkeit der Zuständigkeitsentscheidung vom anwendbaren Recht im weiten Anwen81 Coester-Waltjen, FS Kropholler 2008, 747, 755; ähnlich Althammer, IPRax 2008, 228, 232; Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 127; Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 472 f.; Schack, IZVR, Rn. 409. A.A. dagegen Mankowski, der eine „zu starke normative Aufladung, dergestalt, dass erst die jeweils anwendbare Rechtslage zu ermitteln wäre,“ in der Zuständigkeitsprüfung für unangebracht hält, ohne jedoch zu erläutern, wie unter das Kriterium der einheitlichen Rechtslage andernfalls subsumiert werden kann (Mankowski, WuW 2012, 947, 950; ähnlich bereits Mankowski, IPRax 1998, 122, 123; Lüthi, System, Rn. 869).

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

65

dungsbereich der Rom I-VO und Rom II-VO an Überzeugungskraft verlieren. Unter der Prämisse, dass die Prüfung der vereinheitlichten Kollisionsnormen tatsächlich übereinstimmende Ergebnisse produziert, richtet sich die Einheitlichkeit der Rechtslage dann nämlich unabhängig vom angerufenen Gericht nach demselben Sachrecht.82 b) Vollharmonisierte Rechtsgebiete Unproblematisch erfüllt ist das Kriterium der einheitlichen Rechtslage, wenn alle auf den Sachverhalt potentiell zur Anwendung kommenden Rechtsvorschriften vollharmonisiert sind, da in diesen Fällen die widersprechende Auslegung der vereinheitlichten Vorgaben zwangsläufig droht. Der Begriff der potentiell zur Anwendung kommenden Vorschriften sollte weit verstanden werden, um auszuschließen, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte schon in diesem Punkt gegenteilige Auffassungen vertreten, was zu einer uneinheitlichen Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO führen könnte. Gemeint sind sämtliche Vorschriften, die zur Entscheidung über die Begründetheit der Klagen auf den ersten Blick von Relevanz sein können.83 Vereinfacht gesagt, darf von einer einheitlichen Rechtslage ausgegangen werden, wenn der Fall in einem vollharmonisierten Rechtsgebiet „spielt“. c) Teilharmonisierte Rechtsgebiete: Notwendigkeit einer konkreten Gefahrenprognose? Schwieriger zu beurteilen ist die Einheitlichkeit der Rechtslage im praktisch relevanten Fall, dass, wie etwa in den Rechtssachen Roche Nederland und Painer, die potentiell zur Anwendung kommenden Rechtsvorschriften lediglich teilharmonisiert sind, sodass neben harmo-

82 Mit diesem Argument wird auch an anderer Stelle in der EuGVVO der Rückgriff auf die Regeln des internationalen Privatrechts in der Zuständigkeitsprüfung verteidigt. So lässt sich beispielsweise die Auslegung der Reichweite von Gerichtsstandsvereinbarungen nach dem auf den Hauptvertrag anzuwendenden Recht damit rechtfertigen, dass aufgrund der Harmonisierung des europäischen Kollisionsrechts die einheitliche Anwendung des Art. 23 EuGVVO gewährleistet bleibt (Wurmnest, FS Magnus 2014, 567, 574; dazu eingehend auf S. 320 ff). 83 Bei einem derart weit gefassten Verständnis der potentiell zur Anwendung kommenden Rechtsvorschriften fällt es freilich schwer, ein wirklich vollharmonisiertes Rechtsgebiet zu finden. Die Kategorie des vollharmonisierten Rechtsgebiets bildet aber jedenfalls den theoretischen Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen.

66

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

nisierten Vorgaben 84 auch unvereinheitlichte nationale Bestimmungen bei der Entscheidung über die Klagen bedeutsam werden können. In solchen Fälle wird die einheitliche Rechtslage bejahen, wer bereits die abstrakte Chance der widersprüchlichen Auslegung einer harmonisierten Bestimmung für ausreichend erachtet.85 Hält man dagegen die Prognose für erforderlich, dass vereinheitlichte Rechtsvorschriften auch konkret entscheidungserheblich sind, 86 so richtet sich die Einheitlichkeit der Rechtslage nach dem jeweiligen Einzelfall. In teilharmonisierten Rechtsgebieten hängt die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft somit davon ab, ob Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ein abstraktes oder konkretes Verständnis von der Widerspruchsgefahr innewohnt.87 aa) Unklare Position des EuGH Die Position des Gerichtshofs an diesem Punkt ist unklar. Zwar lässt sich seiner ständigen Rechtsprechung der Hinweis entnehmen, dass die Gefahr widersprechender Entscheidungen von den nationalen Gerichten „nach Aktenlage im jeweiligen Einzelfall“ zu beurteilen sei,88 woraus in der Literatur vereinzelt die Voraussetzung einer realen Widerspruchsgefahr abgeleitet wird. 89 Dem diametral gegenüber steht jedoch die in einem anderen Kontext getroffene Wertung, dass die Verfahrenskon84

Zu den harmonisierten Vorgaben zählen nach dem hier zugrundegelegten Begriffsverständnis neben dem europäischen Primär- und Sekundärrecht auch Übereinkommen, wie etwa das EPÜ, oder europäische Richtlinien, auf denen beispielsweise das Urheberrecht der Mitgliedstaaten weitgehend beruht. 85 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 103; Hölder, Durchsetzung, 81 f.; Lüthi, System, Rn. 873, Fn. 4087; H. Roth, FS Kropholler 2008, 885, 893; Stone, EU Private International Law, 117; wohl auch The Bank of Tokyo-Mitsubishi Ltd And Others v Baskan Gida Sanayi ve Pazarlama AS And Others [2004] EWHC 945 (Ch), Rn. 188, 216. 86 So das Vorgehen von Lange, GRUR 2007, 107, 112, der die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Markenrecht von der Prognose abhängig machen will, ob die konkret entscheidungserheblichen Fragen mithilfe unionsrechtlicher Vorgaben beantwortet werden müssen. 87 Hölder bejaht die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in teilharmonisierten Rechtsgebieten mit der Begründung, dass „eine Gefahr […] nicht deshalb ausgeräumt [ist], weil sie sich eventuell nicht verwirklicht.“ (Hölder, Durchsetzung, 81). Da diese Aussage aber gerade nur auf abstrakte Gefahren zutrifft, entbindet sie m.E. nicht von der Pflicht zu begründen, warum Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ein solcher Gefahrbegriff zugrundeliegen soll. 88 EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 83. So bereits EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/ Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 12. 89 Thole, ZZP (122) 2009, 423, 441.

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

67

zentration sogar im Fall einer von vornherein unzulässigen Ankerklage gerechtfertigt ist, da dann nur noch bei einer gänzlich abstrakten Betrachtungsweise denkbar ist, dass es in getrennten Verhandlungen zu widersprechenden Entscheidungen kommt.90 bb) Abstrakte Widerspruchsgefahr des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO Die Entscheidungserheblichkeit der vereinheitlichten Vorschriften konkret zu prognostizieren, bringt den Vorteil mit sich, dass der Annexbeklagte vor einer überflüssigen Inanspruchnahme am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft besser geschützt ist. Ob eine getrennte Verhandlung die einheitliche Beurteilung der Klagen nicht ebenfalls herbeiführt, kann zwar niemals mit Gewissheit vorhergesagt werden. Theoretisch erhöht sich durch das Ansetzen einer höheren Gefahrenschwelle jedoch die Quote derjenigen gemeinsamen Verhandlungen, die tatsächlich die widersprüchliche Auslegung harmonisierter Vorgaben vermieden haben. In Fortführung dieser Argumentation ließe sich gar andenken, nicht bei der Ermittlung des entscheidungsrelevanten Einheitsrechts Halt zu machen, sondern zusätzlich die Wahrscheinlichkeit der gegensätzlichen Auslegung des Einheitsrechts durch das „andere“ mitgliedstaatliche Gericht in die Gefahrprognose aufzunehmen. Die mit der Zugrundelegung eines konkreten Gefahrbegriffs einhergehende Einzelfallprognose begegnet jedoch erheblichen praktischen Bedenken. Welche Rechtsvorschriften über die Begründetheit einer Klage konkret entscheiden, lässt sich nur durch eine weitgehende materiell-rechtliche Würdigung des Falls identifizieren, die über die bereits als nachteilig empfundene kollisionsrechtliche Prüfung noch hinaus ginge. Die Aufladung der Zuständigkeitsprüfung mit komplizierten Fragen des materiellen Rechts ist der rechtssicheren und praktikablen Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO abträglich.91 Einen erheblichen Teil der Begründetheitsprüfung in die Zulässigkeit vorzuverlagern, ist zudem prozessökonomisch nicht sinnvoll und liefe damit dem eigentlichen Zweck der Konzentration der Klagen zuwider.92 Neben dem Telos des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO legt auch die vorsichtige Umschreibung der Widerspruchsgefahr im Wortlaut der Vorschrift das abstrakte Begriffsverständnis nahe. Der Tatbestand schildert lediglich 90

EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 33. Zu dieser Entscheidung ausführlich noch auf S. 97 ff. 91 Heinze, Europäisches Immaterialgüterrecht, 241. 92 Vgl. H. Roth, FS Kropholler 2008, 885, 892.

68

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

eine Situation, in der die getrennte Verhandlung der Klagen für die Entscheidungsharmonie der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung gefährlich wird.93 Die deutsche Fassung erachtet für die „enge Beziehung“ der Klagen für ausreichend, dass „die gemeinsame Verhandlung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten“. In eine ähnliche Richtung weist die englische Formulierung, „that it is expedient to hear and determine them [the claims] together to avoid the risk of irreconcilable judgments resulting from separate proceedings.“ 94 Noch geringere Anforderungen stellt die französische Fassung, die ein Interesse an einer gemeinsamen Verhandlung zur Vermeidung widersprechender Entscheidungen genügen lässt („les demandes soient liées entre elles par un rapport si étroit qu’il y a intérêt à les instruire et à les juger en même temps afin d’éviter des solutions qui pourraient être inconciliables“).95 M.E. wohnt Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ein abstrakter Gefahrbegriff inne. Die Rechtsfindung der mitgliedstaatlichen Gerichte in teilharmonisierten Rechtsgebieten ist daher generell als widerspruchsgefahrgeneigte Tätigkeit zu verstehen. Die einheitliche Rechtslage besteht, sofern die potentiell zur Anwendung kommenden Rechtsvorschriften teilharmonisiert sind, ohne dass es einer konkreten Prognose über die Entscheidungserheblichkeit der harmonisierten Vorgaben bedarf. cc) Fortwirkung der einheitlichen Sachlage in die Rechtslage Denkt man den abstrakten Gefahrbegriff konsequent zu Ende, so begründet bereits die Überschneidung der Klagen hinsichtlich einer einzigen potentiell zur Anwendung kommenden Rechtsvorschrift die Gefahr widersprechender Entscheidungen, besteht doch zumindest die abstrakte Chance, dass in getrennten Verfahren gerade diese Vorschrift abweichend beurteilt wird. Offenkundig kann aber nicht mehr von einer einheitlichen Rechtslage gesprochen werden, wenn auf die Klagen fast ausschließlich unterschiedliche Rechtsvorschriften zur Anwendung kommen. Lässt sich auf eine konkrete Gefahrenprognose daher trotz der erheblichen praktischen Bedenken nicht verzichten? 93 Ähnlich GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/ Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 101 nach der die Vermeidung widersprechender Entscheidungen das Ziel, nicht die Voraussetzung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ist. 94 Vgl. The Bank of Tokyo-Mitsubishi Ltd And Others v Baskan Gida Sanayi ve Pazarlama AS And Others [2004] EWHC 945 (Ch), Rn. 216. 95 Hervorhebungen in allen Sprachfassungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO durch den Verfasser.

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

69

Zwar geben die angedachten Konsequenzen Anlass zur Überprüfung des abstrakten Gefahrverständnisses. Letztlich erweisen sich diese Bedenken aber als unbegründet, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Einheitlichkeit der Sachlage in die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsvorschriften fortwirkt. Fußen die erhobenen Klagen entsprechend der eingangs vorausgesetzten Grundannahme nämlich auf zusammenhängenden Lebensverhältnissen, die sich zu einem bemerkenswerten Grad überschneiden, werden von den potentiell anwendbaren Vorschriften des teilharmonisierten Rechtsgebietes regelmäßig eine Vielzahl derselben Rechtsvorschriften auf die Klagen auch konkret zur Anwendung gelangen. Anders gesagt gewährleistet die zur einheitlichen Sachlage aufgestellte Grundannahme, dass aus dem „Pool“ der potentiell zur Anwendung kommenden Rechtsvorschriften eines teilharmonisierten Rechtsgebietes nicht bloß eine Handvoll oder gar eine einzige harmonisierte Vorgabe auch konkret entscheidungserheblich sind. dd) Ausnahme für nur unwesentlich harmonisierte Rechtsgebiete Anders liegen die Dinge nur in Rechtsgebieten, die lediglich zu einem ganz unwesentlichen Teil harmonisiert sind. Stehen fast ausschließlich nationale Rechtsvorschriften für die Lösung des Falls potentiell zur Auswahl, verringert sich nämlich die Wahrscheinlichkeit, dass eine erhebliche Zahl vereinheitlichter Vorschriften auch konkret entscheidungserheblich ist. In diesem Fall lässt sich die Annahme einer einheitlichen Rechtslage nur durch die Prognose der Entscheidungserheblichkeit der vereinheitlichten Vorschriften rechtfertigen. Von einer einheitlichen Rechtslage darf also nur dann ausgegangen werden, wenn gerade die im Rechtsgebiet vereinzelt auffindbaren Vorschriften des harmonisierten Rechts ausschlaggebend sind. Um über die Frage nach dem Stand der Harmonisierung eines Rechtsgebiets aber nicht abermals Rechtsunsicherheit in die Zuständigkeitsprüfung zu tragen, ist die Ausnahme für unwesentlich harmonisierte Rechtsgebiete restriktiv zu handhaben; im Zweifel sollte von einem ausreichenden Harmonisierungsgrad ausgegangen werden.96 d) Nicht harmonisierte Rechtsgebiete In nicht harmonisierten Rechtsgebieten, d.h. in Rechtsgebieten, deren Vorschriften nicht durch das Primär- oder Sekundärrecht, Übereinkommen oder Richtlinien vereinheitlicht wurden, droht die widersprechende 96

So im Ergebnis bereits Heinze, Europäisches Immaterialgüterrecht, 241.

70

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

Beurteilung von Rechtsvorschriften lediglich dann, wenn auf die Ankerund die Annexklage dieselbe nationale Rechtsordnung zur Anwendung gelangt. Denn die abweichende Bescheidung der Klagen in getrennten Verhandlungen lässt sich andernfalls damit erklären, dass der „andere“ Richter eine andere Rechtsordnung zur Lösung des Falls befragt hat. Das gilt auch dann, wenn den nationalen Vorschriften eines Rechtsgebiets ähnliche Prinzipien zugrundeliegen, da sich divergierende Entscheidungen immer noch auf die Auslegung der Vorschriften mithilfe nationaler Auslegungsmethoden zurückführen ließen. Dass die Anwendung unterschiedlicher nationaler Urheberrechte nach der Auffassung des EuGH in der Entscheidung Painer der Konnexität der Klagen noch nicht ausschließt,97 steht der hier vertretenen Auffassung daher nicht entgegen. Da die urheberechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten aufgrund ihres überwiegend europäischen Ursprungs richtlinienkonform auszulegen sind,98 handelt es sich beim Urheberrecht nämlich nach dem hier zugrundegelegten Begriffsverständnis um ein teilharmonisiertes Rechtsgebiet. Auch bei der Zugrundelegung eines abstrakten Gefahrverständnisses des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wird man in nicht harmonisierten Rechtsgebieten um die Prüfung der Regeln des internationalen Privatrechts also nicht umhin kommen. Danach erfordert die Beurteilung der einheitlichen Rechtslage außerhalb des Anwendungsbereichs des europäischen Kollisionsrechts streng genommen sogar eine „doppelte“ kollisionsrechtliche Prüfung. Das angerufene Gericht müsste zunächst das auf die Ankerund die Annexklage nach den Regeln des internationalen Privatrechts der lex fori berufene Sachrecht bestimmen. 99 Anschließend wäre die international-privatrechtliche Prüfung der Annexklage noch einmal zu wiederholen und zwar nach dem Kollisionsrecht des Gerichtes, dessen widersprechende Entscheidung in getrennten Verhandlungen befürchtet wird. 100 Nur wenn die Annexklage nach den Regelungen beider internationaler Privatrechte nach derselben Rechtsordnung wie die Anker-

97 EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 81 f. 98 Für eine Übersicht zu den Richtlinien im Urheberrecht siehe Schack, Urheberund Urhebervertragsrecht, Rn. 138 f. 99 Innerhalb der Prüfung des internationalen Privatrechts der lex fori wäre zudem das ausländische Kollisionsrecht zu berücksichtigen, sofern die eigene Kollisionsnorm darauf eine Gesamtverweisung ausspricht. 100 Innerhalb der Prüfung des internationalen Privatrechts des ausländischen Gerichts wäre zudem das eigene Kollisionsrecht zu berücksichtigen, wenn die ausländische Kollisionsnorm darauf eine Gesamtverweisung ausspricht.

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

71

klage zu beurteilen wäre, würden beide Klagen auf einer einheitlichen Rechtslage basieren. Das Erfordernis einer „doppelten“ kollisionsrechtlichen Prüfung der Annexklage ist jedoch aus mehreren Gründen abzulehnen. Zunächst wird die Beantwortung der Zuständigkeitsfrage bereits durch die Notwendigkeit zur Beurteilung der Regeln des internationalen Privatrechts der lex fori verkompliziert. Das Erfordernis der zusätzlichen Befragung ausländischer Kollisionsnormen würde die Zuständigkeitsprüfung weiter belasten. Darüber hinaus bliebe es in den meisten Fällen nicht bei der Prüfung lediglich eines ausländischen Kollisionsrechts: Werden mit der Ankerklage mehrere Annexklagen gemeinsam verhandelt, über die in mehreren Mitgliedstaaten widersprechende Entscheidungen ergehen könnten, erforderte die „doppelte“ kollisionsrechtliche Prüfung der Annexklagen nämlich die Berücksichtigung einer Vielzahl ausländischer Kollisionsrechte. In nicht harmonisierten Rechtsgebieten ist das Kriterium der einheitlichen Rechtslage im Ergebnis also erfüllt, wenn nach den Regeln des internationalen Privatrechts der lex fori auf beide Klagen dieselbe nationale Rechtsordnung zur Anwendung gelangt. 3. Die einheitliche Sachlage Den Ausführungen zur einheitlichen Sach- und Rechtslage wurde die Grundannahme vorangestellt, dass die am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erhobenen Klagen auf zusammenhängenden Lebensverhältnissen beruhen, die sich zu einem bemerkenswerten Grad überschneiden. Bereits festgestellt wurde außerdem, dass sich die zugrundeliegenden Sachverhalte nicht bis in jedes Detail gleichen müssen, da das Kriterium der einheitlichen Rechtslage andernfalls obsolet würde. a) Teilidentische Tatsachengrundlage Der im Rahmen der einheitlichen Rechtslage entwickelte abstrakte Gefahrbegriff des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO legt ein großzügiges Verständnis der einheitlichen Sachlage nahe. Ebenso wie die Rechtsfindung in teilharmonisierten Rechtsgebieten lässt sich auch die Würdigung eines sich teilweise überschneidenden Tatsachenstoffs als widerspruchsgefahrgeneigte Tätigkeit begreifen. Dabei darf jedoch nicht der Fehler unterlaufen, die eingangs aufgestellte Grundannahme mit dem Verweis auf die Abstraktheit der Widerspruchsgefahr rücklings wieder auszuhebeln: Erklärt man jeden Unterschied des den Klagen zugrundeliegenden Geschehensablaufs mit dem abstrakten Gefahrbegriff für unbeachtlich, könnte bereits die Überschneidung hinsichtlich einer ein-

72

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

zelnen Tatsache die Gefahr widersprechender Entscheidungen begründen, 101 was die Argumentation mit der Fortwirkung der einheitlichen Sachlage auf die einheitliche Rechtslage in sich zusammenfallen ließe. Den abstrakten Gefahrbegriff ohne die aufgestellte Grundannahme zur einheitlichen Sachlage zu vertreten, hieße, die Widerspruchsgefahr auf die Überschneidung hinsichtlich einer einzigen Tatsache und einer einzigen Rechtsvorschrift zu stützen, was aber offensichtlich zu weit geht. In Konkretisierung des bemerkenswerten Grads der Überschneidung der zugrundeliegenden Lebensverhältnisse ist daher zu fordern, dass die Entscheidung beider Klagen mindestens von einer beträchtlichen Zahl identischer Tatsachen abhängt. b) Zusammenhang der Lebensverhältnisse Von einer einheitlichen Sachlage kann zudem nicht ausgegangen werden, wenn die Sachverhalte der Klagen einen so wesentlichen Unterschied aufweisen, dass nicht mehr von zusammenhängenden Lebensverhältnissen ausgegangen werden kann. In der Literatur wird vereinzelt vorgeschlagen, die Wesentlichkeit eines Unterschieds von dessen Eignung, die rechtliche Bewertung des Falls zu verändern, abhängig zu machen. 102 Stark auf die Unwesentlichkeit eines tatsächlichen Unterschieds deutet danach hin, dass die den Klagen zugrundeliegenden Sachverhalte trotz des Unterschieds unter den Tatbestand derselben materiell-rechtlichen Norm subsumiert werden könnten. So wird beispielsweise hinsichtlich der einheitlichen Sachlage markenrechtlicher Verletzungsklagen argumentiert, es sei ohne Belang, ob die Streitgenossen dieselbe Art von Verletzungshandlungen (Herstellung, Vertrieb, Benutzung) begangen hätten, weil die Katalogtatbestände der

101

Dieser Versuchung unterliegt Lüthi, System, Rn. 883, 889. Zunächst wird für die einheitliche Sachlage verlangt, dass „das Geschehen im Wesentlichen übereinstimmend ist“ (Rn. 883). Anschließend werden Unterschiede im tatsächlichen Geschehensablauf mit dem von Hölder formulierten abstrakten Gefahrverständnis für unwesentlich erachtet, dass „eine Gefahr nicht deshalb ausgeräumt ist, weil sie sich eventuell nicht verwirklicht“ (Rn. 889 mit Verweis auf Hölder, Durchsetzung, 81). Wenn mit dem Hinweis auf die Abstraktheit der Gefahr widersprechender Entscheidungen aber jeder tatsächliche Unterschied als unwesentlich abgetan werden kann, bleibt von der ursprünglichen Forderung der wesentlichen Übereinstimmung des Geschehens letztlich nichts mehr übrig. 102 Lange, GRUR 2007, 108, 114. In diese Richtung bereits Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 133, demzufolge die einheitliche Sachlage gemeinsame Tatsachen voraussetzt, die in beiden Verfahren „rechtserheblich“ sind.

A. Die Gefahr widerspechender Entscheidungen

73

Schutzgesetze die verschiedenen Arten von Verletzungshandlungen einander gleichstellten.103 Zwar hat es durchaus etwas für sich, bei der Wesentlichkeitsprüfung des tatsächlichen Unterschieds an den gesetzgeberischen Willen zur Gleich- oder Andersbehandlung von Sachverhalten anzuknüpfen. Dennoch sprengt eine derartig komplexe Prüfung der einheitlichen Sachlage leicht den Umfang des in der Zulässigkeit Leistbaren. Materiell-rechtliche Wertungen sollten deshalb nur dort zur Beurteilung der Wesentlichkeit tatsächlicher Unterschiede der Klagen zum Anhaltspunkt genommen werden, wo sie für das Gericht offensichtlich sind. Im Übrigen sollte die Frage, ob die zugrundeliegenden Lebensverhältnissen miteinander in Zusammenhang stehen, großzügig bewertet werden, damit die nationalen Gerichte nicht mit dem Verweis auf einzelne tatsächliche Unterschiede der Klagen die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO versagen können. Die gemeinsame Verhandlung sollte nur dort ausscheiden, wo die Verfahrenskonzentration trotz der Überschneidung der Tatsachengrundlagen der Klagen lebensfremd erscheint. 4. Zusammenfassung der Vorgaben zur einheitlichen Sach- und Rechtslage Beim Aufstellen von abstrakten Vorgaben zur prospektiven Beurteilung des Kriteriums der einheitlichen Sach- und Rechtslage ist darauf zu achten, dass die Prozessökonomie der Zuständigkeitsprüfung nicht über Gebühr belastet wird. Weiterhin gilt es zu berücksichtigen, dass das Bestehen der einheitlichen Sach- und Rechtslage sich wechselseitig bedingt, sodass das eine Unterkriterium nicht losgelöst von dem jeweils anderen betrachtet werden kann. Das Kriterium der einheitlichen Rechtslage steht in einem natürlichen Spannungsverhältnis zur europäischautonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Mangels vollständiger Harmonisierung des materiellen Rechts in Zivil- und Handelssachen in Europa lässt sich die Frage, welche Vorschriften bei der Lösung eines Falls entscheidungserheblich werden, nämlich mitunter erst durch den Rückgriff auf das anwendbare nationale Recht beantworten. Somit ist die Beurteilung der einheitlichen Rechtslage vom Harmonisierungsgrad der potentiell zur Anwendung gelangenden Rechtsvorschriften abhängig. Bei der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in vollharmonisierten Rechtsgebieten besteht eine einheitliche Rechtslage. In teilharmonisierten Rechtsgebieten wie dem Urheberrecht ist ebenfalls von einer einheit103 Lange, GRUR 2007, 108, 114 zu den in § 14 MarkenG aufgezählten Verletzungshandlungen.

74

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

lichen Rechtslage auszugehen, da der Vorschrift ein abstraktes Verständnis von der Widerspruchsgefahr innewohnt; nur wenn die potentiell zur Anwendung gelangenden Rechtsvorschriften lediglich unwesentlich harmonisiert sind, kommt es auf die konkrete Entscheidungserheblichkeit der vereinheitlichten Vorgaben an. Nicht erfüllt ist das Kriterium der einheitlichen Rechtslage dagegen, wenn in nicht harmonisierten Rechtsgebieten die Regeln des internationalen Privatrechts unterschiedliche nationale Rechtsordnungen berufen. Die Annahme einer einheitlichen Sachlage ist gerechtfertigt, wenn zur Entscheidung über beide Klagen eine beträchtliche Zahl identischer Tatsachen herangezogen werden muss, ohne dass der Zusammenhang der zugrundeliegenden Lebensverhältnisse durch einen wesentlichen Unterschied zerstört wird. Bei der Beurteilung der Wesentlichkeit eines tatsächlichen Unterschieds der Klagen lässt sich ein offenkundiger gesetzgeberischer Wille zur Gleichoder Andersbehandlung der Sachverhalte zum Anhaltspunkt nehmen. IV. Ergebnis zur Gefahr widersprechender Entscheidungen Zur Beurteilung der Gefahr widersprechender Entscheidungen ist die Ankerklage mit den Annexklagen jeweils einzeln ins Verhältnis zu setzen, ohne dass die von der Beklagtenseite vorgetragenen Einwendungen zu berücksichtigen wären. Damit in getrennten Verhandlungen nicht bloß voneinander abweichende, sondern sich gegenseitig widersprechende Entscheidungen drohen, müssen die am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erhobenen Klagen rechtliche und tatsächliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Der EuGH verlangt in ständiger Rechtsprechung, dass die am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erhobenen Klagen auf derselben Sach- und Rechtslage beruhen. Tatsächlich scheint es nach Auffassung des Gerichtshofs aber auszureichen, dass auf Grundlage einer gleichartigen Sach- und Rechtslage unterschiedliche Entscheidungen in getrennten Verhandlungen drohen. Nach der eigenständigen Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Gefahr widersprechender Entscheidungen ist Voraussetzung, dass die auf die Klagen potentiell zur Anwendung gelangenden Rechtsvorschriften entweder mindestens teilharmonisiert sind oder derselben nationalen Rechtsordnung entstammen, und dass zur Entscheidung über die Klagen eine beträchtliche Zahl identischer Tatsachen, die aus einem zusammenhängenden Lebensverhältnisses resultieren, herangezogen werden muss. Insgesamt wird also eine eher großzügige Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Gefahr widersprechender Entscheidungen vorgeschlagen, um die praktische Wirksamkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu gewährleisten. Die damit

B. Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten

75

verbundenen Nachteile für die Rechte des Beklagten sollen durch das im nachfolgenden Abschnitt entwickelte, zweite Element der Konnexität kompensiert werden.

B. Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten B. Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten

Nach dem Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ist die einzige Voraussetzung für das Bestehen der engen Beziehung der am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erhobenen Klagen, dass „die gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.“ Aus dem Gedanken heraus, dass eine Streitgenossenschaft mehr als die teilweise Überschneidung der den Klagen zugrundeliegenden Sachund Rechtslage ausmacht, lässt sich gleichwohl erwägen, nicht nur das Bestehen der Widerspruchsgefahr zu berücksichtigen, sondern zusätzlich das Verhältnis der Beklagten in die Beurteilung der Konnexität einfließen zu lassen. In der Literatur mehren sich die Stimmen, die zumindest in Hinblick auf die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Immaterialgüterrecht verlangen, dass die Beklagten in einer irgendwie gearteten Nähebeziehung stehen müssen, um gemeinsam als Streitgenossen verklagt werden zu können.104 Dabei werden die zu dem Vorschlag gehörigen Überlegungen typischerweise im Rahmen der Konkretisierung der einheitlichen Sachlage angestellt, obschon das Verhältnis der Beklagten die Gefahr widersprechender Entscheidungen nicht beeinflusst.105 Anders als das Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen ist die Nähebeziehung der Streitgenossen nämlich nicht für die Zweckmäßigkeit der gemeinsamen Verhandlung relevant, sondern zielt vielmehr darauf ab, den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsregeln in Einklang zu bringen.106 104

Das Verhältnis der Beklagten wird bislang nur in Hinblick auf die Bündelung immaterialgüterrechtlicher Verletzungsklagen thematisiert. Erstmals angedeutet wird das Kriterium bei Stauder, GRUR Int. 1976, 465, 476, der zwischen den Verletzern paralleler nationaler Patente das Bestehen einer „unmittelbaren Beziehung“ verlangt. Im Anschluss daran folgen weitergehende Ausführungen von Otte, Umfassende Streitentscheidung, 706 ff.; Bukow, Verletzungsklagen, 164 ff.; Rößler, IIC 2007, 380, 394 ff. und Lüthi, System, Rn. 860 ff. 105 Eine Differenzierung findet sich lediglich bei Lüthi, System, Rn. 878, der das Näheverhältnis der Beklagten nur „im weiten Sinn“ als Teil der Sachlage verstanden wissen möchte. 106 Ähnlich Lüthi, System, Rn. 863.

76

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

In dieser Arbeit wird das als streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten bezeichnete Erfordernis aus diesem Grund als eigenständiges Element von Konnexität verstanden. Nachstehend wird in einem ersten Schritt erläutert, warum die Einführung des Kriteriums zur Wahrung der Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft notwendig ist (dazu unter I.). Sodann wird versucht, der Judikatur des EuGH Aussagen zum Verhältnis der Beklagten am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft zu entlocken (dazu unter II.). Schließlich wird der streitgenössischen Kontakt zum Ankerbeklagten abstrakt definiert, um das Kriterium als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal in die Konnexitätsprüfung zu integrieren (dazu unter III.). I.

Notwendigkeit zur Einführung des Kriteriums

Bei der Bestimmung der Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung im vorherigen Kapitel wurde bereits aufgezeigt, dass Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in Hinblick auf das Gebot der Vorhersehbarkeit ein gesteigertes Konfliktpotential aufweist. Die Vorschrift besitzt nämlich die Eigentümlichkeit, als besondere Zuständigkeit nicht an streitgegenstandsbezogene, sondern an das personenbezogene Merkmal des Wohnsitzes eines der Streitgenossen anzuknüpfen. Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft steht somit nicht zwangsläufig in Beziehung zum Streitgegenstand,107 sodass allein das Bestehen einer Gefahr widersprechender Entscheidungen die Vorhersehbarkeit der Inanspruchnahme am allgemeinen Gerichtsstand des Ankerbeklagten nicht gewährleistet. 108 Die Problematik lässt sich an Hand eines einfachen Beispiels veranschaulichen: Von den drei Beteiligten eines sich in Deutschland ereignenden Verkehrsunfalls wohnt der eine in Hamburg, die beiden anderen dagegen in London und Mailand. Verklagt der bei dem Unfall zu Schaden gekommene Mailänder seine beiden Unfallgegner nicht am Unfallort, sondern versucht mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO das Verfahren in London zu konzentrieren, etwa weil er englischer Staatsbürger ist und von den kurzen Verfahrensdauern der englischen Gerichte profitieren will, beruhen die erhobenen Klagen wegen der nach deutschem Recht gemäß 107 Buchner, Kläger- und Beklagtenschutz, 146; Lüthi, System, Rn. 668; Usunier, Compétence juridictionelle, 213 f. 108 Lüthi, System, Rn. 861. Zweifelnd dagegen Briggs, LMCLQ 2006, 447, 451: „When a single claimant has claims against several defendants, and these are so closely connected that they should be tried together, it will be rare for a defendant to have no idea as to where he may end up being sued“.

B. Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten

77

§§ 840 Abs. 1, 421 BGB bestehenden Gesamtschuld zwar auf einer identischen Sach- und Rechtslage.109 Da der Hamburger Unfallbeteiligte aber rein zufällig in Deutschland auf einen Londoner Autofahrer getroffen ist, wäre die Begründung einer Gerichtspflicht in England für ihn vollkommen unvorhersehbar.110 Zur Lösung des mit diesem Beispiel aufgezeigten Konflikts der personenbezogenen Anknüpfung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit wird einerseits angedacht, die Verfahrenskonzentration von einem „minimalen örtlichen Zusammenhang“ des Gerichtsortes zu den rechtlichen und tatsächlichen Fragen des Sachzusammenhangs abhängig zu machen, was der US-amerikanischen minimun contacts-Doktrin anmutet. 111 Andererseits wird erwogen, eine gewisse Nähe der Zuständigkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zum Streitgegenstand mithilfe gerichtlicher Ermessenserwägungen zu sichern, was eher der englischen forum non conveniens-Kontrolle gleichkommt.112 Die Umformung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in eine Art Zwitter aus personen- und streitgegenstandsbezogene Zuständigkeit macht die Anwendung der Norm jedoch nicht vorhersehbarer, sondern hat wegen des Rückgriffs auf vollkommen systemfremde Kriterien eher den gegenteiligen Effekt.113 Statt die im Tatbestand angelegte Struktur der personenbezogenen Anknüpfung zu sprengen, sollte die Vorhersehbarkeit der 109

Ausführlich zur Identität der Sach- und Rechtslage bei Gesamtschulden kraft nationalem Deliktsstatut noch auf S. 83 f. 110 Ähnliche Beispiele bei Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 137; Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 611, Fn. 333; Kaye, Civil Jurisdiction, 635. 111 Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 160. Zur Einhaltung der minimum contacts-Doktrin knüpft das US-amerikanische Zuständigkeitsrecht das forum connexitatis nicht an den allgemeinen, sondern an streitgegenstandsbezogene Gerichtsstände an (Buxbaum/Michaels, in: Basedow/Francq/Idot (Hg.), International Antitrust Litigation, 225, 230.). 112 In diese Richtung argumentiert Generalanwalt Maduro, demzufolge der Zusammenhang der Klagen gewährleisten muss, „dass dieses [das befasste Gericht] in einer engen Beziehung zu der Rechtssache steht, so dass diese besondere Zuständigkeit sinnvoll und nicht zweckentfremdet genutzt wird.“ (GA Maduro, Schlussanträge v. 17.1.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/ Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 31). Der Vorschlag des Generalanwalts könnte durch die historisch bedingte Anlehnung der Konnexität an Art. 22 EuGVÜ motiviert sein (vgl. Otte, Umfassende Streitentscheidung, 401, 483, der Art 22 EuGVÜ treffend als „Schnittstelle des kontinental-klassischen Zuständigkeitssystems und des angelsächsischen Systems freier richterlicher Gerichtsstandsbestimmung“ bezeichnet). 113 Gegen die Einführung streitgegenstandsbezogener Kriterien auch Lüthi, System, Rn. 861. In die gleiche Richtung Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 93: „[T]he purpose of Art.6(1) is not to designate the ‘most appropriate’ forum“.

78

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

mittelbaren Überleitung der Wohnsitzzuständigkeit des Ankerbeklagten auf die übrigen Streitgenossen besser durch das Erfordernis einer Nähebeziehung der Beklagten sichergestellt werden. Somit besteht die Notwendigkeit zur Einführung des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals des streitgenössischen Kontakts zum Ankerbeklagten. II. Unklare Position des EuGH Der EuGH hat sich zum Verhältnis der Beklagten am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft bisher nicht ausdrücklich geäußert. Seine Ausführungen zur einheitlichen Sachlage lassen Ansätze erkennen, die getroffenen Feststellungen sind allerdings schwer miteinander in Einklang zu bringen. Zwar enthält die Entscheidung Roche Nederland in Gestalt eines obiter dictum den Hinweis, dass die Klagen wegen der Verletzung einzelner nationaler Teile eines europäischen Bündelpatents nur auf derselben Sachlage beruhen, sofern die behaupteten Patentverletzungen von Gesellschaften eines Konzerns mit gemeinsamer Geschäftspolitik vorgenommen wurden.114 Daraus ließe sich schlussfolgern, der Gerichtshof fordere, dass zwischen den Beklagten eine Nähebeziehung besteht, die in ihrer Qualität einer konzernrechtlichen Verbundenheit gleichkommt. 115 Scheinbar verworfen, in jedem Fall verwässert, wird dieser Gedanke aber durch das jüngere Urteil Painer, in dem der EuGH die Verfahrenskonzentration nicht ausdrücklich ausschließt, obwohl die wegen der Urheberrechtsverletzung beklagten Verlagshäuser die streitgegenständlichen Fotografien vollkommen unabhängig voneinander veröffentlicht hatten.116 Da die Richter in Luxemburg im gleichen Atemzug jedoch das Gebot der Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streit-

114

EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 27, 34. 115 Dem Ausgangsverfahren lag allerdings ein Sachverhalt zu Grunde, in dem die Beklagten nicht nur demselben Konzern angehörten, sondern ihre Verletzungshandlungen zudem von der Muttergesellschaft koordiniert wurden. Ob der EuGH ausschließlich auf Grundlage der Konzernverbindung das sachliche Element der Konnexität bejaht hätte, ist also nicht eindeutig. 116 Stattdessen äußert der Gerichtshof betont vorsichtig, dass die unabhängige Begehung der Urheberrechtsrechtsverletzung bei der Beurteilung der Konnexität erheblich sein „kann“ (EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 83). Für die gesonderten Prüfung der Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft hatte dagegen die Generalanwältin Trstenjak in ihren ausführlichen Schlussanträgen plädiert (GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard Verlags GmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 92 f.).

B. Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten

79

genossenschaft für den Annexbeklagten betonen, 117 bleibt die Auffassung des Gerichtshofs zur Notwendigkeit einer vorprozessualen Beziehung der Beklagten letztlich unklar.118 III. Abstrakte Definition des streitgenössischen Kontakts Die vorprozessuale Nähebeziehung der Beklagten ist freilich stark vom jeweiligen Einzelfall geprägt. Ob dieser Schwierigkeiten nähert sich Lüthi dem Kriterium mithilfe von Fallgruppen; 119 ein Ansatz, der im Anwendungsteil dieser Arbeit ebenfalls noch verfolgt wird. Die einheitliche und rechtssichere Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gebietet m.E. jedoch, abstrakt zu definieren, wann zwischen den Beklagten eine hinreichend enge Beziehung besteht. Otte nennt immerhin die äußeren Grenzen, innerhalb derer die Begriffsbestimmung zu erfolgen hat: „[G]ar keine Bedenken“ bestünden, sofern die Streitgenossen die Anknüpfungsbrücke zur Wohnsitzzuständigkeit „gemeinsam veranlaßt“ haben. Eine Einschränkung der Zuständigkeit sei dagegen zu machen für Beklagte, „die nichts miteinander zu tun haben“.120 Mindestvoraussetzung für die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft ist, dass der Annexbeklagte zum Zeitpunkt der Vornahme der im späteren Verfahren streitgegenständlichen Handlungen Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis sowohl vom Wohnsitz des Ankerbeklagten als auch von dessen streitgegenständlichen Handlungen gehabt hat. In der Rechtssache Painer wussten die deutschen Verlagshäuser bei der Veröffentlichung der urheberrechtlich geschützten Fotografien beispielsweise nicht, dass das in Wien ansässige Verlagshaus die gleichen Fotografien von einer unabhängigen Nachrichtenagentur bezogen hatte. 121 Aufgrund der Parallelität der Handlungen war die gemeinsame Verhandlung des Sachverhalts am Wiener Sitzgericht für sie

117

EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 81. 118 Lund, RIW 2012, 377, 379. Entsprechend geht die Deutung der Entscheidung in der Literatur in verschiedene Richtungen. Teilweise wird behauptet, Art. 6 Nr. 1 EuGVVO sei nach Auffassung des Gerichtshofs auch bei unabhängig voneinander handelnden Beklagten einschlägig (Sujecki, GRUR Int. 2013, 201, 204); teilweise wird aber auch die Voraussetzung des Agierens der Beklagten „mit Bezug aufeinander“ abgeleitet (Musielak/A. Stadler, ZPO, Art. 6 EuGVVO, Rn. 2a, Fn. 25). 119 Lüthi, System, Rn. 890 ff. 120 Otte, Umfassende Streitentscheidung, 716 f. 121 Vgl. die Schilderung des Sachverhaltes in den Schlussanträgen von GA Trstenjak v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 28.

80

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

nicht vorhersehbar. 122 Probleme bereitet das Erfordernis der Kenntnis oder fahrlässigen Unkenntnis vom Wohnsitz des Ankerbeklagten auch in Konstellationen, in denen der Ankerbeklagte zwischen dem streitgegenständlichen Verhalten und der Klageerhebung seinen Wohnsitz wechselt. Die Annexbeklagten, die das Entstehen ausländischer Gerichtspflichten nach Maßgabe des früheren Wohnsitzes beurteilt haben, brauchen mit der Inanspruchnahme am neuen Wohnsitz des Ankerbeklagten regelmäßig nicht zu rechnen.123 Hinzutreten muss ein voluntatives Element des streitgenössischen Kontakts, das die Überleitung des allgemeinen Gerichtsstands vom Ankerbeklagten auf den Annexbeklagten rechtfertigt. Im eingangs erwähnten Beispiel des Autounfalls treffen die drei Beteiligten – und mit ihnen ihre allgemeinen Gerichtsstände – rein zufällig in Deutschland aufeinander. Selbst wenn der Hamburger Kenntnis vom Wohnort des Mailänders und Londoners gehabt hätte, etwa weil ihm deren ausländische Kennzeichen vor der Unfallverursachung aufgefallen sind, käme die Begründung der Gerichtspflicht an einem der beiden Wohnsitzgerichte für ihn überraschend. Erforderlich ist deshalb, dass im vorprozessualen Verhalten des Annexbeklagten die willentliche Eingehung einer Nähebeziehung zum Ankerbeklagten erkennbar ist. 124 Im Beispiel des Autounfalls wäre das Kriterium etwa erfüllt, wenn die drei Unfallbeteiligten zuvor verabredet hätten, „in Kolonne“ gemeinsam in den Urlaub nach Osteuropa zu fahren. 125 Zu den praktisch relevanten Verhaltensweisen der bewussten Begründung eines streitgenössischen Kontakts

122

Lund, RIW 2012, 377, 379. Ähnlich Generalanwältin Trstenjak, die in Fällen „nicht konzentrierten Parallelverhaltens“ der Beklagten das Kriterium der einheitlichen Sachlage verneinen will (GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 92 f.; GA Trstenjak, Schlussanträge v. 28.11.2012, Rs. C-645/11 (Land Berlin/Sapir u.a.), BeckRS 2012, 82520, Rn. 102 f.). 123 A.A. wohl Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 474. 124 Ähnlich, wenn auch etwas ungenau, ist die Forderung von Brandes, der Annexbeklagte müsse „für die Konnexität, also den tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang, verantwortlich sein“ (Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 159; Hervorhebung durch den Verfasser). 125 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Geimer, FS Schwind 1993, 17, 27, der – ohne die Notwendigkeit des Erfordernisses eines streitgenössischen Kontakts zu thematisieren – die „Verfassungsmäßigkeit“ des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft mithilfe einer abgewandelten Form des „Unfallbeispiels“ begründet, in dem es sich bei den Beklagten, einem Wiener und einem Genfer, um alte Studienfreunde aus Lausanne handelt, die den Verkehrsunfall auf einer gemeinsamen Ferienreise in Schweden verursachen.

B. Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten

81

zählen etwa der Eintritt in vertragliche Beziehungen oder das Zusammenwirken in einer der klassischen deliktischen Beteiligungsformen. Das Kriterium des streitgenössischen Kontakts setzt also voraus, dass der Annexbeklagte in Kenntnis oder fahrlässiger Unkenntnis des Wohnsitzes wie des streitgegenständlichen Handlungen des Ankerbeklagten gehandelt hat und dabei bewusst in eine Nähebeziehung zum Ankerbeklagten getreten ist. IV. Keine unbillige Benachteiligung des Klägers Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten verkürzt als zusätzliches Element von Konnexität naturgemäß den Anwendungsbereich des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Dagegen ließen sich aus Sicht des Klägers Bedenken anmelden und zwar mit der Begründung, dass der elfte Erwägungsgrund der EuGVVO das Gebot der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeiten parteineutral aufstellt. 126 Während das Erfordernis des streitgenössischen Kontakts zum Ankerbeklagten den Annexbeklagten die Prognose der infrage kommenden Gerichtsorte erleichtert, tritt gegenüber dem Kläger der gegenteilige Effekt ein, da die Beurteilung des streitgenössischen Kontakts nicht ohne den Blick auf das Verhältnis der Beklagten erfolgen kann. In Ermangelung einer sinnvollen Alternative sind die Nachteile des Klägers bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts der völlig überraschenden Inanspruchnahme des Beklagten außerhalb des Wohnsitzstaates jedoch vorzuziehen. In welchem Verhältnis die Beklagten bei der Begehung der streitgegenständlichen Verhaltensweisen standen, wird sich häufig zudem hinreichend nach außen hin manifestiert haben, sodass der Kläger die Zulässigkeit der Verfahrenskonzentration abschätzen kann. V. Zusammenfassung der Vorgaben zum streitgenössischen Kontakt Um den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit in Einklang zu bringen, muss das Konnexitätserfordernis um das Element des streitgenössischen Kontakts zum Ankerbeklagten ergänzt werden. Der streitgenössische Kontakt besteht, wenn der Annexbeklagte bei der Vornahme des eigenen streitgegenständlichen Verhaltens willentlich eine Nähebeziehung zum Ankerbeklagten eingegangen ist und dabei Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis von dessen Wohnsitz sowie dessen streitgegenständlichen Verhalten gehabt hat. Die 126 Der elfte Erwägungsgrund der EuGVVO lautet: „Die Zuständigkeitsvorschriften müssen in hohem Maße vorhersehbar sein […]“.

82

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

mit der Einführung des Erfordernisses verbundenen Nachteile des Klägers bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts sind zur Vermeidung einer völlig überraschenden Inanspruchnahme des Beklagten im Ausland hinzunehmen.

C. Konnexität und gemeinsame Haftung C. Konnexität und gemeinsame Haltung

Der letzte Abschnitt der Betrachtung der engen Beziehung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO widmet sich der Frage, welche Rückschlüsse die gemeinsame haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Beklagten auf die Gefahr widersprechender Entscheidungen und den streitgenössischen Kontakt zum Ankerbeklagten erlaubt. In der Literatur und Rechtsprechung wird das materiell-rechtliche Verhältnis der den Klagen zugrundeliegenden Ansprüche wie selbstverständlich zur Konkretisierung des Konnexitätserfordernisses herangezogen. Allgemein gehaltene Stellungnahmen sehen den Zusammenhang der Klagen gegeben, sofern „die Entscheidung über den einen Anspruch den anderen beeinflussen kann und umgekehrt oder die Entscheidung ganz oder teilweise von der Lösung einer identischen Frage abhängt“, 127 sofern „die Entscheidung über den einen Anspruch von der Entscheidung über den anderen abhängt oder wenn beide Ansprüche von der Entscheidung einer gemeinsamen Vorfrage abhängen“,128 oder sofern „das Ergebnis der einen Klage von dem Ergebnis der anderen Klage abhängig ist“.129 Konkretere Aussagen setzen die Konnexität des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO mit typischen Fallgruppen des Haftungsrechts gleich, in denen mehrere Personen in irgendeiner Form für dieselbe Verbindlichkeit aufkommen müssen, etwa bei der Gesamtschuld, Bürgschaft oder Rechtsgemeinschaft. 130 Vereinfacht gesagt, fußt die Berücksichtigung der materiell-rechtlichen Abhängigkeit der den Klagen zugrundeliegenden Ansprüche auf der Vorstellung, dass wer gemeinsam haftet, auch gemeinsam verklagt werden kann. Nachstehend soll die Zulässigkeit dieses Rückschlusses am Beispiel der Gesamtschuld überprüft werden (dazu unter I.), bevor die dabei gewonnenen Erkenntnisse auf andere Fälle der gemeinsamen Haftung zu übertragen sind (dazu unter II.). 127

Rohner, Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs, 138. Hess, Europäischen Zivilprozessrecht, § 6, Rn. 84; Schack, IZVR, Rn. 409. 129 GA Trstenjak, Schlussanträge v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Rn. 97 unter Hinweis auf ein von ihr gebildetes Beispiel zur Ausfallhaftung für Sachmängel (Fn. 33). 130 Nachweise werden in den nachfolgenden Fußnoten dieses Abschnitts genannt. 128

C. Konnexität und gemeinsame Haltung

I.

83

Die Gesamtschuld als Paradebeispiel von Konnexität?

Die Gesamtschuld wird aufgrund ihrer Erwähnung im Jenard-Bericht zum EuGVÜ 131 nach allgemeiner Auffassung als klassischer Anwendungsfall des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO verstanden.132 Ob diese Auffassung Zustimmung verdient, gilt es im Folgenden in drei Schritten zu überprüfen: Zunächst rücken die Auswirkungen der gesamtschuldnerischen Haftung der Beklagten auf die Einheitlichkeit der Sach- und Rechtslage in den Fokus (dazu unter 1.). Sodann wird auf die mit dem Rückgriff auf materiell-rechtliche Kriterien verbundenen Schwierigkeiten bei der Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO als europäische Zuständigkeitsregel hingewiesen (dazu unter 2.). Schließlich wird hinterfragt, ob das Bestehen einer Gesamtschuld auch für die Konkretisierung des streitgenössischen Kontakts zum Ankerbeklagten herangezogen werden darf (dazu unter 3.). 1. Garantie der Identität der Sach- und Rechtslage Charakteristisch für die gesamtschuldnerische Haftung ist, dass mehrerer Schuldner dieselbe Leistung in voller Höhe erbringen müssen, der Gläubiger die gesamte Leistung aber insgesamt nur einmal fordern darf.133 131

Jenard-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/26. GA Colomer, Schlussanträge v. 14.3.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/ Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 30; BayObLG v. 10.11.2004, NJOZ 2005, 4360, 4361; OLG Köln v. 29.1.2009, NZG 2009, 1317; OLG Nürnberg v. 28.3.2013, BeckRS 2013, 07162; Donzallaz, La Convention de Lugano, Rn. 5465; Fawcett, ICLQ 1995, 744, 751; Geimer, WM 1979, 350, 358 f.; G. Graf, ecolex 2010, 1063, 1064, Fn. 8; Hölder, Durchsetzung, 154, Fn. 1038; C. Krüger, in: Grau/Oberender (Hg.), Private und öffentliche Kartellrechtsdurchsetzung, 79, 85; Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 8a; Junker, Internationales Zivilprozessrecht, § 12, Rn. 10; Dasser/Oberhammer/T. Müller, Art. 6 LugÜ, Rn. 42; Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 609; Oetiker/Weibel/Rohner/Lerch, Art. 6 LugÜ, Rn. 34; Fasching/Konecny/Simotta, Art. 6 EuGVVO, Rn. 28; Musielak/A. Stadler, ZPO, Art. 6 EuGVVO, Rn. 2a; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 86 f.; Stein/Jonas/ G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 28; wohl auch BGH v. 30.11.2009, EuZW 2010, 959. 133 Siehe § 426 BGB. Ein mit der deutschen Gesamtschuld vergleichbares Rechtsinstitut ist sämtlichen europäischen Rechtsordnungen bekannt; die Regelungen weisen wegen ihrer gemeinsamen historischen Wurzeln im römischen Recht sogar „bemerkenswerte Ähnlichkeiten“ auf (S. Meier, in: Basedow (Hg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, 698; siehe auch von Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. 1, Rn. 50 ff.; eine ausführliche rechtshistorisch und rechtsvergleichende Untersuchung der Gesamtschuld auf Schadensersatz liefert S. Meier, Gesamtschulden, 496 ff.). Wie das Außenverhältnis der Gesamtschuld sonst im Einzelnen ausgestaltet ist oder wie im Innenverhältnis der Regress der Gesamtschuldner funk132

84

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

Das Entstehen einer Gesamtschuld ordnen die nach den Regeln des internationalen Privatrechts der lex fori berufenen Sachnormen an. Die Gleichsetzung von Konnexität und Gesamtschuld überzeugt insofern, als dass von der gesamtschuldnerischen Haftung auf die Einheitlichkeit der den Klagen zugrundeliegenden Sach- und Rechtslage geschlossen werden darf. Die Zulässigkeit dieses Rückschluss lässt sich am besten mithilfe einer exemplarischen Betrachtung von Gesamtschulden im Deliktsrecht verdeutlichen. Im Deliktsrecht richtet sich der Geltungsbereich des anzuwendenden Rechts nach Art. 15 Rom II-VO, demzufolge das Deliktsstatut neben Haftungsgrund und Haftungsumfang auch die Reichweite des Personenkreises, der für eine deliktische Handlung haftbar gemacht werden kann, bestimmt. Gemäß Art. 15 lit. g) Rom II-VO ist das anwendbare Deliktsstatut insbesondere zur Beantwortung der Frage maßgeblich, ob neben dem unmittelbar Handelnden noch weitere Personen für die Folgen der Verwirklichung eines Delikts einstehen müssen.134 Werden am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft beispielsweise mehrere Beteiligte einer in Deutschland arbeitsteilig begangenen deliktischen Handlung verklagt, so käme auf die Klagen gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO deutsches Recht zur Anwendung,135 welches das Zusammenwirken in einer der klassischen Beteiligungsformen in § 830 BGB als Anwendungsfall der Gesamtschuld bezeichnet. Die Prüfung der Gefahr widersprechender Entscheidungen gelangt in einem solchen Fall zwangs-

tioniert (zu den diesbezüglich bestehenden Unterschieden in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen S. Meier, in: Basedow (Hg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, 700 f.), ist für die Beurteilung der Widerspruchsgefahr des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO irrelevant. Wie sogleich aufgezeigt wird, ist vielmehr entscheidend, dass die Beklagten eine gemeinsame haftungsrechtliche Verantwortlichkeit für dieselbe Verbindlichkeit trifft. 134 Dickinson, Rom II Regulation, 14.45 ff.; MünchKommBGB/Junker, Art. 15 Rom II-VO, Rn. 23 f.; BeckOK/Spickhoff, Art. 15 Rom II-VO, Rn. 10; Palandt/ Thorn, Art. 15 Rom II-VO, Rn. 9. A.A. Weller, ZVglRWiss 112 (2013), 89, 99, Fn. 37, der die Frage der Haftung als Tatbeteiligter bereits von lit. a) erfasst sieht, sodass lit. g) nur in anderen Fällen wie z.B. der Haftung von Eltern für ihre Kinder einschlägig sein soll. Dagegen spricht m.E. jedoch der Wortlaut des Art. 15 Rom IIVO, demzufolge sich lit. a) auf „die Bestimmung der Personen, die für ihre Handlungen haftbar gemacht werden können“ bezieht und lit. g) „die Haftung für die von einem anderen begangenen Handlungen“ regelt (Hervorhebung durch den Verfasser). 135 Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO beruft das Recht des Landes „in dem der Schaden eintritt“ bzw. „einzutreten droht“, womit das Recht am Erfolgsort (lex loci damni) gemeint ist (MünchKommBGB/Junker, Art. 4 Rom II-VO, Rn. 3; Palandt/Thorn, Art. 4 Rom II-VO, Rn. 1; jurisPK-BGB/Wurmnest, Art. 4 Rom II-VO, Rn. 2).

C. Konnexität und gemeinsame Haltung

85

läufig zur Identität der den Klagen zugrundeliegenden Sach- und Rechtslage. Denn die gesamtschuldnerische Haftung der Streitgenossen knüpft im Außenverhältnis an dieselbe Forderung an, die aufgrund der wechselseitigen Zurechnung der Tatbeiträge 136 aus einem einzigen Lebenssachverhalt resultiert. 137 Dass diese Betrachtungsweise zutrifft, wird auch durch die Kontrollüberlegung bestätigt, dass, wenn der Geschädigte die Deliktstäter an deren jeweiligem Wohnsitz einzeln in voller Höhe in Anspruch nähme, die Tatbeiträge aller Beteiligter in getrennten Verhandlungen nach denselben Rechtsvorschriften zu würdigen wären. Haften die Beklagten gesamtschuldnerisch, ist das Bestehen der Gefahr widersprechender Entscheidungen also garantiert. 2. Nachteile des Rückgriffs auf das materielle Recht Der Rückschluss von der gesamtschuldnerischen Haftung der Streitgenossen auf die Gefahr widersprechender Entscheidungen bringt jedoch gewisse Nachteile mit sich, da die Vorverlagerung eines Teils der Begründetheitsprüfung in die Zulässigkeit die Prozessökonomie belastet und das Abheben auf ein nationales Rechtsinstitut in einem Spannungsverhältnis zum Gebot der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO steht. a) Vorverlagerung der Begründetheitsprüfung in die Zulässigkeit Die erste Schwäche des Rückgriffs auf die Gesamtschuld liegt darin, dass zur Ausfüllung des Tatbestandsmerkmals einer Zuständigkeitsnorm das materielle Recht bemüht wird. Die Prüfung der gesamtschuldnerischen Haftung der Beklagten in der Zulässigkeit stellt eine teilweise Vorwegnahme der Sachentscheidung dar, die zu Lasten der Prozessökonomie des Verfahrens geht. 138 Die Beurteilung der haftungsrechtlichen Beziehungen zwischen den Beklagten erfordert nämlich Er136 Dabei ist irrelevant, ob man § 830 BGB mit der herrschenden Meinung tatsächlich als Zurechnungsnorm (so etwa BGH v. 4.11.1997, NJW 1998, 377, 381; G. Wagner, MünchKommBGB, § 830 BGB, Rn. 5) oder lediglich als Beweiserleichterung für den Geschädigten (so etwa Staudinger/Eberl-Borges, § 830 BGB, Rn. 2 ff.) versteht. Entscheidend ist, dass der zugrundeliegende Lebenssachverhalt gegenüber den Tätern und Teilnehmern desselben Delikts keine Unterschiede aufweist. 137 So jüngst Weller, ZVglRWiss 112 (2013), 89, 98 f. im Kontext der gesamtschuldnerischen Haftung der Mitglieder eines Kartells. In diese Richtung auch Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 86 f. 138 Mankowski, IPRax 1998, 122, 123; ders, WuW 2012, 947, 950; Weller, ZVglRWiss 112 (2013), 89, 99, Fn. 37.

86

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

wägungen zur Begründetheit der Ansprüche, die über das hinausgehen, was zur Bejahung der Gefahr widersprechender Entscheidungen an sich erforderlich ist. Denn die Feststellung, dass die Beklagten für die erhobenen Ansprüche gesamtschuldnerisch haften, verlangt oftmals nach einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit dem materiellen Recht, als die Subsumtion unter die oben aufgestellten allgemeinen Vorgaben zur einheitlichen Sach- und Rechtslage. 139 Solchen Bedenken gegen die Vorverlagerung der Begründetheitsprüfung in die Zulässigkeit lässt sich jedoch wiederum entgegnen, dass sich die Gefahr widersprechender Entscheidung ohne das materielle Recht nun einmal nicht beurteilen lässt.140 Bei der Gefahr widersprechender Entscheidungen handelt es sich eben nicht um ein „genuin prozeßrechtliches Kriterium“.141 Dass der Rückgriff auf die Gesamtschuld bei der Prüfung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO mit Nachteilen verbunden ist, die Gefahr widersprechender Entscheidungen losgelöst vom materiellen Recht aber nicht bewertet werden kann, ist ein Dilemma, aus dem m.E. nur eine vermittelnde Lösung führen kann: Zwar sollte die umfassende Untersuchung der haftungsrechtlichen Verhältnisse der Beklagten nicht zur Voraussetzung der Beurteilung der Gefahr widersprechender Entscheidungen erhoben werden. Ist die gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten aber in der Zuständigkeitsprüfung erkennbar, hat das nationale Gericht die Identität der Sach- und Rechtslage wegen der gemeinsamen Haftung der Streitgenossen zu bejahen. b) Spannungsverhältnis zur europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO Der Rückschluss von der Gesamtschuld auf die Zweckmäßigkeit der Verfahrenskonzentration steht zudem im Spannungsverhältnis zum Gebot der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO.142 Der Begriff der Gesamtschuld ist nämlich insofern „national gebunden“, 143 als dass Gesamtschulden nur nach der Rechtsordnung eines Mitgliedstaates entstehen können. Zwar ließen sich freilich im Wege der Rechtsvergleichung europäische Charakteristiken der gesamtschuldnerischen Haftung herausarbeiten, zumal alle mitgliedstaatlichen Rechts139

Für eine Zusammenfassung der Vorgaben siehe S. 73 f. Sehr klar Coester-Waltjen, FS Kropholler 2008, 747, 755. 141 So aber Mankowski, IPRax 1998, 122, 123 und ihm folgend Lüthi, System, Rn. 898. 142 Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63, 72. 143 Treffend Stoll, FS Müller-Freienfels 1986, 631, 646. 140

C. Konnexität und gemeinsame Haltung

87

ordnungen ein solches Rechtsinstitut kennen und in dieser Hinsicht sogar „bemerkenswerte Ähnlichkeiten“ aufweisen.144 In der Schwäche der Verankerung der Gesamtschuld im nationalen Recht liegt für die Konkretisierung der Widerspruchsgefahr jedoch gerade deren Stärke, ist die Anordnung der umfassenden Haftung der Beklagten nach derselben nationalen Rechtsordnung doch der Grund, warum die Identität der Sach- und Rechtslage garantiert ist. Der EuGH hat sich zum Spannungsverhältnis von nationalem Recht und EuGVVO unlängst im Kontext der Bestimmung des Handlungsortes i.S.d. Art. 5 Nr. 3 EuGVVO in der Rechtssache Melzer geäußert.145 Der Entscheidung lässt sich auf den ersten Blick entnehmen, dass der Rückgriff auf Institute des nationalen Rechts im Rahmen der Prüfung der europäischen Zuständigkeitsregeln zu unterbleiben hat; bei näherer Betrachtung lässt sich die Auffassung des Gerichtshofs jedoch nicht auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO übertragen. Im Ausgangsverfahren hatte eine Düsseldorfer Vermittlungsgesellschaft einen deutschen Privatmann, Herrn Melzer, zum Abschluss nachteiliger Börsentermingeschäfte in England bewegt. Die Geschäfte wurden über das Konto einer englischen Brokergesellschaft abgewickelt, auf welches das Investitionskapital eingezahlt worden war. Da Herr Melzer die ausschließlich in England tätig gewesene Brokergesellschaft vor dem LG Düsseldorf alleine in Haftung nehmen wollte, wurde dem EuGH die Frage vorgelegt, ob bei der grenzüberschreitenden Beteiligung Mehrerer an einer unerlaubten Handlung die von § 830 BGB vorgesehene Zurechnung der Tatbeiträge erlaubt, den Deliktsgerichtsstand an dem Ort, an dem der eine Schädiger für den Schaden kausale Handlungen vorgenommen hat, gegenüber dem anderen Schädiger zu begründen.146 Der EuGH verneinte die Frage mit der Begründung, dass „die Heranziehung nationaler Rechtskonzepte im Rahmen der Verordnung Nr. 44/2001 […] in den Mitgliedstaaten zu voneinander abweichenden Lösungen führen würde, die geeignet wären, das Ziel einer Vereinheitlichung der Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit, das 144

S. Meier, in: Basedow (Hg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, 698. Zudem wird die Haftung gemeinschaftlich handelnder Deliktstäter auf den ganzen Schaden auf der Grundlage eines ähnlichen Verständnisses der klassischen Beteiligungsformen von den europäischen Rechtsordnungen als typischer Anwendungsfall der Gesamtschuld verstanden (eingehend von Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. 1, Rn. 54 f., 317). 145 EuGH v. 16.5.2013, Rs. C-228/11 (Melzer/MF Global UK), EuZW 2013, 544. 146 GA Jääskinen, Schlussanträge v. 29.11.2012, Rs. C-228/11 (Melzer/MF Global UK), Rn. 35, 41.

88

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

die Verordnung nach ihrem zweiten Erwägungsgrund verfolgt, zu beeinträchtigen.“147 Der Gerichtshof weist damit richtigerweise auf die bei der Konkretisierung der einheitlichen Rechtslage bereits angesprochene Problematik hin, dass der Rückgriff auf nationales Recht zur Konkretisierung der europäischen Zuständigkeitsregeln das Risiko der uneinheitlichen Anwendung in sich birgt, wenn die betroffenen Tatbestandsmerkmale von den mitgliedstaatlichen Gerichten nach verschiedenen Statuten beurteilt werden. 148 Innerhalb des Anwendungsbereichs der Rom I-VO und Rom II-VO, der in der Rechtssache Melzer noch nicht eröffnet war, werden unabhängig vom angerufenen Gericht jedoch immer dieselben Sachnormen berufen, sodass die national gefärbten Vorstellungen des Rechtsinstituts die einheitliche Anwendung der EuGVVO nicht mehr gefährden. Im Übrigen ist die eindeutige Positionierung des Gerichtshofs in der Melzer-Entscheidung damit zu erklären, dass bei der Auslegung des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO keine Notwendigkeit zur Heranziehung nationaler Rechtsvorschriften besteht, da der Handlungsort eines Beklagten – anders als die Gefahr widersprechender Entscheidungen – an sich ein faktisches Tatbestandsmerkmal darstellt.149 Hinzu kommt noch, dass die Vorlagefrage darauf abzielte, dem Kläger am Ort der zugerechneten Handlung einen zusätzlichen Deliktsgerichtsstand einzuräumen,150 wohingegen die Bestimmung der einheitlichen Sach- und Rechtslage darüber entscheidet, ob der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft überhaupt eröffnet ist. M.E. sollte nicht jeder Rückgriff auf das nationale Recht als Verstoß gegen das Gebot der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bewertet werden. Vielmehr sind bei der Interpretation des normativen Tatbestandsmerkmals der Gefahr widersprechender Ent-

147

EuGH v. 16.5.2013, Rs. C-228/11 (Melzer/MF Global UK), EuZW 2013, 544, Rn. 34. Bestätigt durch EuGH v. 3.4.2014, Rs. C-387/12 (Hi Hotel HCF/Spoering), EuZW 2014, 431, Rn. 30 ff. 148 Vgl. etwa Mankowski, IPRax 1998, 122, 124. 149 Den Unterschied zwischen normativen und deskriptiven Tatbestandsmerkmalen betont bereits Basedow, in: Max-Planck-Institut (Hg.), Handbuch IZVR, Bd. 1 Kap. II, Rn. 46: „Nicht immer kann sich der EuGH ganz von den nationalen Rechten lösen, weil sich nicht alle Begriffe des GVÜ gleichmäßig zu einer autonomen Auslegung eignen. Sie gelingt vor allem bei deskriptiven Begriffen wie z.B. dem ,Ort des schädigenden Ereignisses‘ […]. Normative Begriffe, deren Inhalt rechtlich stark aufgeladen ist, lassen sich dagegen nur sehr schwer judiziell vereinheitlichen“. 150 GA Jääskinen, Schlussanträge v. 29.11.2012, Rs. C-228/11 (Melzer/MF Global UK), Rn. 43.

C. Konnexität und gemeinsame Haltung

89

scheidungen zwei Ebenen zu unterscheiden:151 Europäisch-autonom hat die eigentliche Begriffsausbildung zu erfolgen, also etwa das Aufstellen der Vorgabe, dass die am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erhobenen Klagen auf einer einheitlichen Sach- und Rechtslage beruhen müssen. Auf dieser Ebene ist auch die nähere Konkretisierung der entwickelten Begriffsausbildung zu verorten, d.h. die Beantwortung der Frage, wie viele rechtliche und tatsächliche Gemeinsamkeiten die Klagen aufweisen müssen, um auf einer einheitlichen Sach- und Rechtslage zu fußen. In einem zweiten Schritt dürfen die mitgliedstaatlichen Gerichte dann durch einen Rückgriff auf das nationale Haftungsrecht unter die europäisch-autonomen Vorgaben subsumieren, um zu ermitteln, aus welchen Rechtsvorschriften und Tatsachen sich die den Klagen zugrundeliegende Rechtslage zusammensetzt. 3. Notwendigkeit zur eigenständigen Prüfung des streitgenössischen Kontakts Nach der hier vertretenen Ansicht wäre die Gesamtschuld indes nur dann mit der Konnexität des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gleichzusetzen, wenn aus der haftungsrechtlichen Verbindung der Beklagten nicht nur die Gefahr widersprechender Entscheidungen, sondern auch der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten resultiert.152 Anders als das erste Element lässt sich dieses zweite Element von Konnexität jedoch losgelöst vom materiellen Recht beurteilen; die genuin prozessrechtliche Beurteilung des streitgenössischen Kontakts ist möglich. Zwar ist eine gewisse Korrelation zwischen den Anwendungsfällen der Gesamtschuld und dem streitgenössischen Kontakt nicht von der Hand zu weisen, weil das materielle Recht eine Gesamtschuld häufig unter Voraussetzungen anordnet, unter denen zugleich ein vorprozessuales Näheverhältnis der Haftenden besteht.153 So setzt die gemeinsame Verwirklichung eines Delikts naturgemäß die Eingehung einer Nähebeziehung in Kenntnis der streitgegenständlichen Handlungen der anderen Beteiligten voraus. In anderen Konstellationen, wie etwa der nebentäterschaftlichen Verursa151

Eine solche Differenzierung wird für die Bestimmung des Begriffs der Zivilund Handelssache nach Art. 1 Abs. 1 EuGVVO vorgeschlagen von Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 1 EuGVVO, Rn. 12. Für die Zulässigkeit eines entsprechenden Rückgriffs auf das nationale Recht allgemein bei der Auslegung normativer Tatbestandsmerkmale der EuGVVO siehe auch Lund, IPRax 2014, 140, 143 f. 152 Dies bereits andeutend Otte, Umfassende Streitentscheidung, 711, Fn. 1232: „Die Gesamthaftung als Rechtsfolge sollte kein Anknüpfungspunkt sein, sondern das zurechenbar veranlasste Schaffen eines einheitlichen Lebenssachverhalts“. 153 So auch Lüthi, System, Rn. 898.

90

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

chung eines Schadensereignisses, fällt die gemeinsame haftungsrechtliche Verantwortlichkeit jedoch nicht mit dem Vorliegen der zwischen den Beklagten zu fordernden Beziehung zusammen. Aus der materiellrechtlichen Wertung, dass zwei Personen gemeinsam haften, resultiert eben nicht zwangsläufig die zuständigkeitsrechtliche Wertung, dass die beiden Personen auch gemeinsam verklagt werden dürfen.154 II. Übertragung auf andere Fallgruppen der gemeinsamen Haftung Die exemplarische Betrachtung der Gesamtschuld als vermeintliches Paradebeispiel der Konnexität offenbart, dass die gemeinsame Haftung der Beklagten zwar unter Umständen den Rückschluss auf die Gefahr widersprechender Entscheidungen erlaubt, die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO alleine aber nicht zu rechtfertigen vermag. Auf andere Fälle der gemeinsamen Haftung sind die angestellten Erwägungen mutatis mutandis zu übertragen. Haften die Beklagten akzessorisch, wie etwa bei der Bürgschaft, beruht die Entscheidung über die Klagen gegen Hauptschuldner und dem akzessorisch Haftenden auf den bezüglich der Hauptverbindlichkeit maßgeblichen Tatsachen und Rechtsvorschriften; die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht.155 Auch der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten besteht im Regelfall, da der Bürge und der Hauptschuldner bei lebensnaher Betrachtung Kenntnis vom Wohnsitz des jeweils anderen haben werden. Nur in Ausnahmefällen, etwa wenn die Erklärung der Bürgschaft gegenüber dem Gläubiger ohne Wissen des Hauptschuldners erfolgt und der Hauptschuldner in der Folge am Wohnsitz des Bürgen verklagt wird, bereitet die Vorhersehbarkeit der gemeinsamen Verhandlung Schwierigkeiten. Rechtsgemeinschaften bilden bereits „ihrer Natur nach einen starken Zusammenhang“;156 für die Iden154

Lüthi, System, Rn. 898 lehnt die „Deckungsgleichheit“ von Konnexität und Gesamtschuldnerschaft ebenfalls ab. 155 Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 128 f.; Briggs, LMCLQ 2006, 447, 451 f.; Geimer/Schütze/Geimer, Art. 6 EuGVVO, Rn. 20; Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 8a.; Oetiker/Weibel/Rohner/Lerch, Art. 6 LugÜ, Rn. 34; Pataut, Rev. crit. dr. int. priv. 96 (2007), 181, 182; Fasching/Konecny/Simotta, Art. 6 EuGVVO, Rn. 28; Schack, IZVR, Rn. 409; Musielak/A. Stadler, ZPO, Art. 6 EuGVVO, Rn. 2a; Winter, Der Gerichtsstand des Sachzusammenhangs, 54; Wittwer, ELR 2006, 424, 425. 156 Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 128. Für die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber den Beteiligten einer Rechtsgemeinschaft auch Geimer/ Schütze/Geimer, Art. 6 EuGVVO, Rn. 20; Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel IVO, Rn. 8a; Oetiker/Weibel/Rohner/Lerch, Art. 6 LugÜ, Rn. 34; Fasching/Konecny/ Simotta, Art. 6 EuGVVO, Rn. 28; Musielak/A. Stadler, ZPO, Art. 6 EuGVVO,

D. Ergebnis

91

tität der Sach- und Rechtslage ist letztlich aber entscheidend, dass die gegen die Mitglieder erhobenen Klagen typischerweise von gemeinsamen rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten abhängen. Die vorprozessuale Nähebeziehung lässt sich unproblematisch bejahen, wenn das Entstehen der Rechtsgemeinschaft die Mitwirkung ihrer Mitglieder voraussetzt. Bei Teilschulden lässt sich hingegen nicht automatisch auf die Gefahr widersprechender Entscheidungen rückschließen. Da die Schuldner im Außenverhältnis jeweils nur für ihren eigenen Anteil einzustehen haben, beruhen die gegen sie erhobenen Klagen nicht zwangsläufig auf einer identischen Sach- und Rechtslage.157

D. Ergebnis D. Ergebnis

Die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht, wenn die Ankerklage mit der jeweils in Bezug gesetzten Annexklage auf einer einheitlichen Sach- und Rechtslage beruht. Bei der Beurteilung der Einheitlichkeit der Sach- und Rechtslage haben die von den Beklagten gegen die Begründetheit der Ansprüche des Klägers vorgetragenen Einwendungen außer Betracht zu bleiben. Die Einheitlichkeit der Rechtslage steht in Abhängigkeit zum Harmonisierungsgrad der potentiell zur Anwendung gelangenden Rechtsvorschriften abhängig. Spielt der Fall in einem vollharmonisierten Rechtsgebiet, besteht die einheitliche Rechtslage unstreitig. In teilharmonisierten Rechtsgebieten wie dem Urheberrecht ist ebenfalls von einer einheitlichen Rechtslage auszugehen, da Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ein abstraktes Verständnis von der Widerspruchsgefahr innewohnt; nur wenn die potentiell zur Anwendung gelangenden Rechtsvorschriften lediglich unwesentlich harmonisiert sind, kommt es auf die konkrete Entscheidungserheblichkeit der vereinheitlichten Vorgaben an. Nicht erfüllt ist das Kriterium der einheitlichen Rechtslage dagegen, wenn in unvereinheitlichten Rechtsgebieten die Regeln des internationalen Privatrechts unterschiedliche nationale Rechtsordnungen berufen. Die Annahme einer einheitlichen Sachlage ist gerechtfertigt, wenn zur Entscheidung über beide Klagen eine beträchtliche Zahl identischer Tatsachen herangezogen werden muss und der ZusammenRn. 2a; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 28; Weller, ZVglRWiss 112 (2013), 89, 100. 157 Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 129; Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit, 611 f. A.A. dagegen Geimer/Schütze/Geimer, Art. 6 EuGVVO, Rn. 20; Schurig, FS Musielak 2004, 493, 515 ff.; Winter, Der Gerichtsstand des Sachzusammenhangs, 54; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 28.

92

Kapitel 2: Konnexität – Die enge Beziehung der Klagen

hang der zugrundeliegenden Lebensverhältnisse nicht durch einen wesentlichen Unterschied zerstört wird. Der streitgenössische Kontakt ist gegeben, wenn der Annexbeklagte bei der Vornahme des eigenen streitgegenständlichen Verhaltens willentlich eine Nähebeziehung zum Ankerbeklagten eingegangen ist und dabei Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis von dessen Wohnsitz und dessen streitgegenständlichen Verhalten gehabt hat. Anders als die Bewertung der Gefahr widersprechender Entscheidung ist der streitgenössische Kontakt ein genuin prozessrechtliches Erfordernis, das unabhängig von den haftungsrechtlichen Beziehungen der Streitgenossen beurteilt werden sollte. Die gemeinsame haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Beklagten garantiert, dass in getrennten Verhandlungen der Klagen widersprechende Entscheidungen drohen. Der Rückschluss von materiell-rechtlichen Instituten wie der Gesamtschuld auf die Identität der Sach- und Rechtslage bringt jedoch nicht unerhebliche Nachteile für die Prozessökonomie mit sich: Zum einen wird zur Ausfüllung des Tatbestandsmerkmals einer Zuständigkeitsnorm ein Kriterium aus dem materiellen Recht herangezogen, was einen teilweisen Vorgriff der Sachentscheidung zu Lasten der Prozessökonomie des Verfahrens darstellt. Zum anderen steht die Konkretisierung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO durch ein Rechtsinstitut des jeweils anwendbaren Sachrechts in einem Spannungsverhältnis mit der europäisch-autonomen Auslegung der Vorschrift. Nach hier vertretener Ansicht ist der Rückgriff auf das nationale Recht dennoch zulässig, da die Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen ohne die Einbeziehung des anwendbaren Sachrechts nicht möglich ist.

Kapitel 3

Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung Bei der Bestimmung der Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wurde aufgezeigt, dass die Vorteile der gemeinsamen Verhandlung am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft für die Entscheidungsharmonie der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung und die Durchsetzung des Justizgewährungsanspruchs des Klägers Hand in Hand mit der Einschränkung der Zuständigkeitsinteressen des Beklagten gehen. 1 Im Rahmen der Konkretisierung der Konnexität der Klagen wurde deshalb darauf geachtet, die Nachteile der ausländischen Gerichtspflicht für den Annexbeklagten insbesondere durch die Schaffung des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals des streitgenössischen Kontakts abzumildern. Zur Verwirklichung des Ziels der interessengerechten Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO geht es im dritten Kapitel nun darum, auf einer nachgelagerten Ebene sicherzustellen, dass die entwickelten Vorgaben nicht durch die missbräuchliche Anrufung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft wieder ausgehebelt werden. Nach der vom EuGH auf anderen Gebieten des Gemeinschaftsrechts verwendeten Formulierung, setzt „[d]ie Feststellung des Missbrauchs einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift […] voraus, dass, [zum einen] eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde [und] [z]um anderen ein subjektives Element [vorliegt], nämlich die Absicht, sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden.“ 2 Als Kehrseite dieser Definition existieren zur Bekämpfung des Missbrauchs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zwei verschiedene Ansatzpunkte: Einerseits lassen sich objektive Voraussetzungen aufstellen, mithilfe derer Konstellationen, in denen ein Missbrauch des Klägers naheliegt, aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift katapultiert werden. Andererseits be1

Siehe oben S. 36 f., 42 f. Vgl. etwa EuGH v. 14.12.2000, Rs. C-110/1999 (Emsland-Stärke/Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, Rn. 53 f. 2

94

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

steht die Möglichkeit, auf einen subjektiven Missbrauchsvorbehalt zu rekurrieren, der den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft immer dann verschließt, wenn die Klageerhebung von arglistigen Beweggründen getragen wird. Beide Ansatzpunkte sollen im Folgenden einer näheren Untersuchung unterzogen werden.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage A. Die Anforderungen an die Ankerklage

Auf „objektivem Wege“ kann dem Missbrauch des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ein Riegel vorgeschoben werden, indem die Tauglichkeit der Ankerklage zur Herbeiführung der Verfahrenskonzentration von besonderen Anforderungen abhängig gemacht wird. Damit wird der Gefahr begegnet, dass der Kläger die Ankerklage als Hebel für die Erschleichung der Zuständigkeit gegenüber den Annexbeklagten einsetzt. Die in der Literatur und Rechtsprechung vertretenen Anforderungen an die Ankerklage sollen nachstehend eingehend diskutiert werden. Es gilt zu erörtern, welche Erfolgsaussichten die Ankerklage in der Zulässigkeit und Begründetheit mindestens aufweisen muss, um die Verfahrenskonzentration am Wohnsitzgericht zu legitimieren (dazu unter II.). Danach ist zu erwägen, ob in Einschränkung des Grundsatzes der perpetuatio fori der Fortbestand der Zuständigkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO an den Fortbestand der Rechtshängigkeit der Ankerklage im Verlauf des Prozesses zu knüpfen ist (dazu unter III.). Schließlich muss ermittelt werden, inwieweit sich die herausgehobene Stellung der Ankerklage für die Zuständigkeitsbegründung im materiell-rechtlichen Verhältnis der zugrundeliegenden Ansprüche wiederfinden muss (dazu unter IV.). Zu Beginn bedarf es allerdings der Lokalisierung eines geeigneten Standorts zur Prüfung der besonderen Anforderungen an die Ankerklage (dazu unter I.). I. Prüfungsstandort: Konnexität, Missbrauchsvorbehalt oder eigenständiges Tatbestandsmerkmal? Für die Anforderungen an die Ankerklagen werden im Schrifttum drei unterschiedliche Prüfungsstandorte vorgeschlagen. 3 Manche Autoren verorten die Thematik bei einem eigenständigen Missbrauchsvorbehalt

3

Maier, Marktortanknüpfung, 171, 173. Vgl. auch Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 478, der jedoch nur zwischen Missbrauchsvorbehalt und Konnexitätserfordernis unterscheidet.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

95

des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO.4 In dieser Gruppe von Autoren stützen einige ihre Erwägungen methodisch auf die analoge Anwendung des Missbrauchsvorbehalts des Art. 6 Nr. 2 Hs. 2 EuGVVO5,6 wohingegen andere auf ein allgemeines Verbot des Rechtsmissbrauchs im europäischen Zivilprozessrecht rekurrieren. 7 Ein dogmatisch anderer Ansatz verhindert die zuständigkeitsbegründende Wirkung aussichtsloser Ankerklagen durch die einschränkende Auslegung des Konnexitätserfordernisses. Danach muss die Ankerklage gewissen Anforderungen genügen, damit die Gefahr widersprechender Entscheidungen nicht von vornherein ausgeschlossen ist. 8 Als dritte Möglichkeit lässt sich die Einschränkung der tauglichen Ankerklage als eigenständiges Tatbestandsmerkmal des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO begreifen, das weder dem Missbrauchsvorbehalt noch dem Sachzusammenhang der Klagen zuzuordnen ist.9 1. Nachteile der Verortung beim Missbrauchsvorbehalt Die am häufigsten gewählte Verortung der Problematik bei einem eigenständigen Missbrauchsvorbehalt des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ist zugleich die am wenigsten geeignete. Die analoge Anwendung des Art. 6 Nr. 2 Hs. 2 EuGVVO widerspricht der Freeport-Entscheidung, in der sich der EuGH ausdrücklich gegen die gesonderte Prüfung des Missbrauchs aus-

4

Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 478. Art. 6 Nr. 2 EuGVVO (zukünftig Art. 8 Nr. 2 EuGVVO n.F.) lautet: „Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann auch verklagt werden, wenn es sich um eine Klage auf Gewährleistung oder um eine Interventionsklage handelt, vor dem Gericht des Hauptprozesses, es sei denn, dass die Klage nur erhoben worden ist, um diese Person dem für sie zuständigen Gericht zu entziehen“. 6 GA Mengozzi, Schlussanträge v. 24.5.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/ Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 64; Donzallaz, La Convention de Lugano, Rn. 5472; Geier, Streitgenossenschaft, 88 f.; König, RZ 1997, 240, 241; Fasching/ Konecny/Simotta, Art. 6 EuGVVO, Rn. 31; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 42. 7 Thole, ZZP 122 (2009), 423, 433 ff.; Cuniberti, in: Féria/Vogenauer (Hg.), Prohibition of the Abuse of Law, 279, 285 f.; vgl. auch Oetiker/Weibel/Rohner/ Lerch, Art. 6 LugÜ, Rn. 39 (allgemeiner Missbrauchsvorbehalt des schweizerischen Zivilprozessrechts). 8 Althammer, IPRax 2008, 228, 231; Bodson, RDIDC 2007, 447, 458 f.; Geimer/ Schütze/Geimer, Art. 6 EuGVVO, Rn. 23; Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel IVO, Rn. 9; Pataut, Rev. crit. dr. int. priv. 96 (2007), 848, 855 f.; Würdinger, ZZPInt. 12 (2007), 221, 227. 9 Coester-Waltjen, FS Kropholler 2008, 747, 758; Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution, Rn. 248; Fawcett, ICLQ 1995, 744, 752; wohl auch Mäsch, IPRax 2005, 509, 513. 5

96

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

gesprochen hat.10 Die Herleitung über das allgemeine Verbot des Rechtsmissbrauchs stößt auf die Schwierigkeit, dass es bislang an dessen näherer Konturierung fehlt, sodass sich keine konkreten Anforderungen an die Ankerklage ableiten lassen. 11 Neben den methodischen Bedenken streitet aber auch ein praktisches Argument gegen die Verortung beim eigenständigen Missbrauchsvorbehalt: Während für den Missbrauchseinwand der Beklagte die Beweislast trägt, sind die Konnexität der Klagen und das eigenständige Tatbestandsmerkmal der tauglichen Ankerklage vom Kläger zu beweisen.12 Dem Ziel der Verhinderung der unberechtigten Inanspruchnahme des Beklagten ist folglich mit der Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Tatbestandsebene besser gedient. 2. Vorteile der Einführung eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals Damit bleibt die Wahl zwischen der Prüfung der Tauglichkeit der Ankerklage im Rahmen des Konnexitätserfordernisses oder im Rahmen eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals. Da beide Prüfungsstandorte zu einer Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Tatbestandsebene führen, sind die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede gering; 13 insbesondere hat der Kläger die Anforderungen an die Ankerklage darzulegen. Der EuGH tendiert zur erstgenannten Alternative, wenn er betont, dass das Konnexitätserfordernis gerade zur Vorbeugung einer missbräuchlichen Zuständigkeitserschleichung geschaffen worden sei. 14 Gegen die Verortung bei der Konnexität spricht gleichwohl, dass sie die ohnehin vertrackte Prüfung des Merkmals weiter erschwert,15 vor allem weil es auf einer nachgelagerten Ebene um die Durchsetzung der aufgestellten Vorgaben geht. Vorzugswürdig ist somit, die Anforderungen an die Ankerklage als eigenständiges Tatbestandsmerkmal zu 10

EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 54. 11 Vgl. Thole, ZZP 122 (2009), 423, 433 über den aktuellen Stand der Missbrauchskontrolle: „Für das Gemeinschaftsrecht ergibt der Blick auf den status quo jedenfalls ein dürftiges Bild.“ Briggs, in: Féria/Vogenauer (Hg.), Prohibition of the Abuse of Law, 261, 263 ff. weist die Existenz eines allgemeinen Missbrauchsvorbehalts gar vollständig zurück. Zu den methodischen Defiziten der Herleitung des Mißbrauchseinwands mithilfe des allgemeinen Missbrauchsverbots noch auf S. 137 f. 12 Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 148 spricht zutreffend von einer „Verschiebung der Beweislast zu Lasten des Beklagten“. 13 So auch Maier, Marktortanknüpfung, 174. 14 EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 52. 15 Kritisch auch Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 15.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

97

prüfen, obgleich sich eine solche Voraussetzung nicht expressis verbis im Tatbestand des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wiederfindet. II. Die Erfolgsaussichten der Ankerklage Erster Ansatzpunkt für die objektive Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO sind die notwendigen Erfolgsaussichten einer tauglichen Ankerklage in der Zulässigkeit und Begründetheit. 1. Erfolgsaussichten in der Zulässigkeit Mit den Erfolgsaussichten der Ankerklage in der Zulässigkeit hat sich der EuGH in der Rechtssache Reisch Montage befasst.16 a) Die Entscheidung Reisch Montage Im Ausgangsverfahren der Rechtssache Reisch Montage wurde die in Deutschland ansässige Kiesel Baumaschinen Handels GmbH mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO vor österreichischen Gerichten als Bürgin einer Geldforderung in Haftung genommen, obwohl die Rechtsverfolgung gegen den Ankerbeklagten und Hauptschuldner Giesinger aufgrund eines zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits eröffneten Konkursverfahrens unzulässig war. 17 Der Österreichische Oberste Gerichtshof fragte den EuGH deshalb, ob die offensichtlich unzulässige Ankerklage die Verfahrenskonzentration am Wohnsitz des Ankerbeklagten rechtfertigt.18 Anders als die Schlussanträge des Generalanwalts Colomer nahegelegt hatten, 19 gestattete der EuGH dem Kläger sich auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu berufen.20 Ausgangspunkt der Argumentation des Gerichtshofs bildet der Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Weder verweise die Vorschrift direkt auf das nationale Recht, wie etwa Art. 59 EuGVVO zur 16

EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827. 17 § 6 Abs. 1 Österreichische Konkursordnung lautet: „Rechtsstreitigkeiten, welche die Geltendmachung oder Sicherstellung von Ansprüchen auf das zur Konkursmasse gehörige Vermögen bezwecken, können nach der Konkurseröffnung gegen den Gemeinschuldner weder anhängig noch fortgesetzt werden.“ Im deutschen Recht ergäbe sich diese Rechtsfolge aus § 87 InsO. 18 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 15. 19 GA Colomer, Schlussanträge v. 14.3.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/ Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 52. 20 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 33.

98

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Bestimmung des Wohnsitzes, noch stelle sie ausdrücklich die Anforderung einer zulässigen Ankerklage auf. 21 Daraus folge zum einen, dass der Rückgriff auf nationales Verfahrensrecht in Widerspruch mit der europäisch-autonomen Auslegung stehe, da die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO nicht in Abhängigkeit der Normen der österreichischen Prozessordnung gestellt werden dürfte.22 Zum anderen widerspreche es dem Gebot der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeiten, wenn ein informierter, verständiger Beklagter auf Grundlage des Wortlauts nicht mehr bestimmen könnte, an welchem ausländischen Gericht er verklagt werden kann.23 Einschränkend betont der Gerichtshof zwar, dass die Ankerklage nicht allein zu dem Zweck erhoben werden dürfe, einen Beklagten der Zuständigkeit der Gerichte seines Wohnsitzstaates zu entziehen. Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer entsprechenden Restriktion – etwa die Kenntnis des Klägers von der vorherigen Eröffnung des Konkursverfahrens – seien im vorliegenden Fall aber nicht ersichtlich.24 b) Analyse der Entscheidungsbegründung Wenngleich die Entscheidung Reisch Montage mit der wohl h. M. im damaligen Schrifttum auf einer Linie lag,25 stößt die Rechtsfindung des Gerichtshofs vornehmlich auf ablehnende Reaktionen in der Wissenschaft. 26 Die Schlüssigkeit der Argumentation des EuGH soll nach21

EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 27, 30. 22 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 29 f. 23 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 25 ff. Die Entscheidung liefert ein weiteres Beispiel, dass die zuständigkeitsrechtliche Rechtsprechung des EuGH die wortlautgetreue Auslegung gegenüber teleologischen Erwägungen durchsetzt (dazu schon oben S. 40 f.). 24 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 32. 25 Vgl. etwa Geimer, WM 1979, 350, 358; Hölder, Durchsetzung, 51; Kropholler, EuZPR8, Art. 6 EuGVO, Rn. 16; Burgstaler, Zak 2006, 289 f. Schon vor der Reisch Montage-Entscheidung a.A. dagegen etwa Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 122. 26 Ablehnend Althammer, IPRax 2006, 558, 560 f.; Coester-Waltjen, FS Kropholler 2008, 747, 756 f.; Dietze/Schnichels, EuZW 2007, 688, 689; Jayme/ Kohler, IPRax 2006, 537, 544; Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution, Rn. 248; Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 10f; Pataut, Rev. crit. dr. int. priv. 96 (2007), 181, 184; Musielak/A. Stadler, ZPO, Art. 6 EuGVVO, Rn. 3; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 93; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 440 f.; Usunier, Compétence juridictionelle, 217 f.; Winter, Der Gerichtsstand des Sachzusammenhangs,

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

99

stehend unter Einbeziehung der Stellungnahmen aus der Literatur überprüft werden, um darauf aufbauend die eigene Auffassung zu den notwendigen Erfolgsaussichten der Ankerklage in der Zulässigkeit darzulegen. aa) Zur Argumentation des EuGH mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit Nicht wenige Autoren erachten die Argumentation des EuGH mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit für verfehlt, da die Berücksichtigung der Unzulässigkeit der Ankerklage letztlich zum allgemeinen Gerichtsstand des Art. 2 Abs. 1 EuGVVO zurückführe, was gerade im Interesse des Beklagten liege.27 So fernliegend, wie von den Kritikern der Entscheidung behauptet, ist der Rückgriff auf das Prinzip jedoch nicht. Zwar verwundert es, dass der Gerichtshof eine zusätzliche Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Beklagten unter Hinweis auf den Schutz des selbigen ablehnt. Anders als bei anderen besonderen Zuständigkeiten der EuGVVO sind am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft jedoch mehrere Beklagte an der zuverlässigen Prognose potentieller Gerichtsorte interessiert. Wird die Tauglichkeit der Ankerklage von einer nicht im Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO angelegten Voraussetzung abhängig gemacht, ist für die Streitgenossen nicht mehr auf den ersten Blick ersichtlich, welche Wohnsitzgerichte für die Verfahrenskonzentration in Betracht kommen. Nicht zu vergessen ist ferner, dass das Gebot der Vorhersehbarkeit gleichermaßen den Interessen des Klägers dient. Die formalistische Betrachtungsweise des EuGH verhindert, dass zwischen dem für das Entstehen der später einzuklagenden Forderung ursächlichen Verhalten und der Klageerhebung ein nach dem Normtext der Verordnung begründeter Gerichtsstand wegfällt.28 Letztlich durchschlagend sind diese Erwägungen jedoch nicht. Wollte der Verordnungsgeber die Einschränkung der Vorhersehbarkeit für den Kläger um jeden Preis vermeiden, dann hätte er für Art. 6 Nr. 1 30; kritisch auch Grothe, FS Kerameus 2009, 469 ff. Zustimmend dagegen Geimer, FS Kropholler 2008, 777, 785; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 16; Wittwer, ELR 2006, 424, 425; Würdiger, ZZPInt. 11 (2006), 181, 189. 27 Sehr klar Pataut, Rev. crit. dr. int. priv. 96 (2007), 181, 182: „[O]n peut rester sceptique devant l’invocation d’un principe de ‘sécurité juridique’[…], qui, supposé fonder une prévisibilité des règles de compétence pour le defendeur, permet in fine à celui-ci d’être attrait devant le tribunal d’un autre défendeur en l’absence de ce dernier.“ Ähnlich Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 473; Althammer, IPRax 2008, 228, 232, Fn. 73. 28 Vgl. Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 474; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 83 f.; Geier, Streitgenossenschaft, 91.

100

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

EuGVVO nicht das wandelbare Tatbestandsmerkmal des Wohnsitzes gewählt. Der personenbezogenen Anknüpfung der Vorschrift ist das Risiko immanent, die Erwartungen des Klägers an einem bestimmten Gericht zu klagen unter Umständen zu enttäuschen. 29 Der EuGH hätte das Interesse des Klägers, sich vor Erhebung der Ankerklage über deren Zulässigkeit informieren zu müssen, somit nicht höher gewichten dürfen, als den Schutz des Beklagten vor einer unzweckmäßigen Inanspruchnahme an einem ausländischen Gericht.30 bb) Zur Argumentation des EuGH mit dem Gebot der europäischautonomen Auslegung Als tragfähiger könnte sich indes die Argumentation mit dem Verbot des Rückgriffs auf nationale Zulässigkeitsvoraussetzungen herausstellen. Die Bedenken der Richter in Luxemburg, dass die Mitgliedstaaten den Anwendungsbereich des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO beliebig zuschneiden könnten, wenn die Anforderungen an die Ankerklage nationalem Prozessrecht entnommen werden, sind nicht völlig von der Hand zu weisen. Theoretisch könnten nationale Gerichte nämlich bereits bestehende oder zukünftig geschaffene Zulässigkeitsvoraussetzungen nutzen, um den Anwendungsbereich der Vorschrift bewusst auszuhöhlen.31 Diese Gefahr besteht im europäischen Zivilprozessrecht jedoch immer. Da die EuGVVO „nicht die Vereinheitlichung der Verfahrensregeln zum Gegenstand hat, sondern die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten für Zivil- und Handelssachen innerhalb der Gemeinschaft sowie die Erleichterung der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen“, ist „hinsichtlich der Verfahrensregeln auf die für das nationale Gericht geltenden nationalen Rechtsvorschriften zurückzugreifen.“32 Am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft ist mit der Konnexität zudem ein normativ aufgeladenes Kriterium eingeführt worden, das sich losgelöst von dem auf die Klagen anwendbaren (Verfahrens)recht nicht beurteilen

29

Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 474. Vgl. GA Colomer, Schlussanträge v. 14.3.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 38. 31 Würdinger, ZZPInt. 11 (2006), 180, 186 bezeichnet diese Möglichkeit als „Steuerungsfunktion für die Anwendung dieses besonderen Gerichtsstands [Art. 6 Nr. 1 EuGVVO]“. 32 EuGH v. 15.5.1990, Rs. C-365/1988 (Kongressagentur Hagen/Zeehaghe), Slg. 1990, I-1845, Rn. 17, 19. 30

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

101

lässt.33 Da der Sachzusammenhang der Klagen nur in deren tatsächlichen prozessualen Umfeld bewertet werden kann, 34 ist die klare Trennung zwischen europäischen Zuständigkeitsregeln und nationalen Prozessvoraussetzungen aufgehoben.35 Der Rückgriff auf das nationale Prozessrecht stellt erst dann eine Bedrohung der praktischen Wirksamkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO dar, wenn die Konkretisierung außerhalb verordnungsautonomer Wertungen erfolgt. Im Fall der von Beginn an unzulässigen Ankerklage ist die Entscheidungsharmonie der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung aber tatsächlich zu keinem Zeitpunkt bedroht. 36 Die formale Betrachtungsweise des Gerichtshofs blendet die ratio legis des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu sehr aus, die eine gemeinsame Verhandlung der Klagen in dieser Situation nicht für gerechtfertigt erachtet.37 Im Ergebnis überzeugt die Begründung der Entscheidung Reisch Montage also nicht. c) Die vorzugswürdige Lösung Damit stehen die notwendigen Erfolgsaussichten der Ankerklage in der Zulässigkeit jedoch noch nicht fest. Die Zulässigkeit der Ankerklage uneingeschränkt zur Voraussetzung zu erheben, macht die Zuständigkeitsentscheidung nämlich unter Umständen von der Klärung komplizierter prozessrechtlicher Fragen abhängig, was ebenso wie die bereits erörterte Abhängigkeit von materiell-rechtlichen Fragen ein Risiko für die einheitliche Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in sich birgt. Zustimmung verdient m.E. daher eine in den ausführlichen Schlussanträgen des Generalanwalts Colomer bedeutete vermittelnde Lösung. 33 Althammer, IPRax 2006, 558, 560 f.; Coester-Waltjen, FS Kropholler 2008, 747, 755; Jayme/Kohler, IPRax 2006, 537, 544; Pataut, Rev. crit. dr. int. priv. 96 (2007), 181, 185; Würdinger, ZZPInt. 12 (2007), 221, 228. 34 Althammer, IPRax 2006, 558, 561; Coester-Waltjen, FS Kropholler 2008, 747, 755. 35 Thole, ZZP 122 (2009), 423, 441. 36 Althammer, IPRax 2006, 558, 561; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 437; Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 475; Pataut, Rev. crit. dr. int. priv. 96 (2007), 181, 183 f.; Pontier/Burg, EU Principles, 82; Usunier, Compétence juridictionelle, 217 f.; Würdinger, ZZPInt. 11 (2006), 180, 188. 37 Instruktiv zur Sichtweise des EuGH Briggs, LMCLQ 2006, 447, 452: „The textual requirement that it ‘is’ expedient to try the claims together was read as though it said ‘would be if it were not legally impossible’.“ An dieser Beurteilung vermag auch die Akzessorietät zwischen Hauptschuld und Bürgschaftsverbindlichkeit nichts zu ändern (so aber Wittwer, ELR 2006, 424, 425). Dass die Klagen bei Zulässigkeit der Ankerklage in Zusammenhang stünden, kann für die Beurteilung der Frage keine Rolle spielen, ob es einer zulässigen Ankerklage bedarf.

102

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Der Generalanwalt hält nicht jede unzulässige Ankerklage für untauglich, sondern votiert für die Einschränkung des Anwendungsbereichs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, sofern die Ankerklage wie im vorliegenden Fall „offenkundig kraft Gesetzes von vornherein unzulässig“ ist. 38 Als Begrenzung auf klar umrissene Fälle fördert das Offensichtlichkeitserfordernis jedenfalls zum Zeitpunkt der Klageerhebung die Vorhersehbarkeit für den Kläger und die übrigen Beklagten.39 Der Vorschlag des Generalanwalts trägt somit der praktischen Wirksamkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gebührend Rechnung und steht mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit in Einklang.40 2. Erfolgsaussichten in der Begründetheit Ein zweites Mal in den Fokus der Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gerückt sind die Erfolgsaussichten der Ankerklage in der bereits erwähnten Rechtssache Freeport. Der Kläger hatte sein Vorbringen gegen die schwedische Tochtergesellschaft auf einen vertraglichen Schadensersatzanspruch gestützt, obschon ein Vertrag nach dem anwendbaren schwedischen Recht eindeutig nur mit deren englischer Muttergesellschaft zustande gekommen war. 41 Daraufhin fragte der schwedische Högsta domstolen den EuGH, ob eine offensichtlich unbegründete Ankerklage die gemeinsame Verhandlung trägt. 42 Der Gerichtshof ließ die Gelegenheit, eine rechtssicher Vorgabe für die Anforderungen an die Ankerklage zu judizieren, leider ungenutzt verstreichen. Anstatt die an ihn herangetragene Herausforderung anzunehmen, griff er ein Missverständnis des vorlegenden Gerichts auf, um die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage zu verneinen.43 38

GA Colomer, Schlussanträge v. 14.3.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/ Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 52. 39 GA Colomer, Schlussanträge v. 14.3.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/ Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 46. 40 So i.E. auch Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 10e; Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution, Rn. 248. 41 EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 20. 42 EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 21. 43 EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 56. Generalanwalt Mengozzi hielt die Beantwortung der dritten Vorlagefrage ebenfalls für nicht entscheidungserheblich, spricht sich dennoch mit knapper Begründung gegen die Tauglichkeit offensichtlich unbegründeter Ankerklagen aus (GA Mengozzi, Schlussanträge v. 24.5.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 66, 68).

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

103

Umso heftiger wird in der mitgliedstaatlichen Literatur und Rechtsprechung über die Bedeutung der Erfolgsaussichten der Ankerklage debattiert. Dabei werden m.E. zwei Fragen vermengt, deren Beantwortung besser getrennt erfolgen sollte. Einerseits wird erörtert, ob die gemeinsame Verhandlung am Wohnsitz des Ankerbeklagten gerechtfertigt ist, wenn die vom Kläger vorgetragenen Rechtsausführungen auf eine (offensichtliche) Unbegründetheit der Ankerklage hindeuten; in diese Richtung zielt auch die angesprochene Vorlagefrage in der Rechtssache Freeport.44 Andererseits wird thematisiert, in welchem Umfang bereits in der Zuständigkeitsprüfung diejenigen Tatsachen zu beweisen sind, die für die Begründetheit der Ankerklage relevant sind. Nachdem eingangs die Gefahr der Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft durch die Erhebung einer unbegründeten Ankerklage als Ausgangspunkt des Problems aufgegriffen wurde (dazu sogleich unter a)), wird im Folgenden versucht, die beiden Punkte auseinanderzuhalten. Zunächst sollen die Erfolgsaussichten der Ankerklage in rechtlicher Hinsicht beleuchtet werden (dazu unter b)). Sodann rückt die gerichtliche Prüfungsdichte hinsichtlich der vom Kläger vorgetragenen Tatsachen in den Fokus (dazu unter c)). Schließlich wird die Vereinbarkeit der Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Ankerklage mit der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO thematisiert (dazu unter d)). a) Ausgangspunkt: Die Gefahr der Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft Der gemeinsame Ausgangspunkt beider Facetten des Problems liegt in der Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft durch den bloßen Vortrag einer begründeten Ankerklage. 45 Diese Möglichkeit resultiert aus einem von Mäsch zutreffend als „zuständigkeitsbegründende Drittwirkung“ 46 bezeichneten Phänomen, für dessen Entstehen ein besonderes Zusammenspiel aus drei Faktoren verantwortlich ist: Der begrenzte Umfang der Zuständigkeitsprüfung, die Personenmehrzahl auf Beklagtenseite und der Grundsatz der perpetuatio fori.47

44

Das Begehren des Klägers stützte sich auf eine Rechtsgrundlage, die offensichtlich nicht einschlägig sein konnte (EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 20). 45 Mäsch, IPRax 2005, 509, 513. 46 Mäsch, IPRax 2005, 509, 514. 47 Zur Geltung des Grundsatzes der perpetuatio fori für Art. 6 Nr. 1 EuGVVO noch auf S. 127 ff.

104

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Nach der „Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen“ ist über umstrittene Elemente des Sachverhalts in der Zulässigkeit noch kein Beweis zu erheben, wenn sie in der Begründetheitsprüfung gleichfalls von Bedeutung sein werden. 48 Zweifelhafte Rechtsausführungen des Klägers zur Begründetheit werden nur insoweit überprüft, wie sie für die Bejahung der Tatbestandsmerkmale der Zuständigkeitsnorm von Interesse sind. Der Aufschub der eingehenderen Auseinandersetzung mit dem Klägervortrag rechtfertigt sich grundsätzlich aus dem Argument, dass den Interessen des Beklagten selbst dann gedient ist, wenn sich die Behauptungen des Klägers im Nachhinein als falsch herausstellen. Denn der Beklagte profitiert von der rechtskräftigen klageabweisenden Entscheidung in der Begründetheit mehr, als von einem nicht rechtskräftigen Prozessurteil in der Zulässigkeit. 49 Am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft geht diese Argumentation jedoch fehl, weil das Gericht auf Grundlage der Behauptungen des Klägers seine Zuständigkeit gegenüber allen Beklagten erklärt, die Abweisung der Ankerklage in der Begründetheit jedoch allein zum Ausscheiden des Ankerbeklagten aus der gemeinsamen Verhandlung führt. Die Annexbeklagten müssen sich hingegen mit ungewissem Ausgang weiter vor Gericht verantworten, da eine einmal begründete Zuständigkeit nach dem Grundsatz der perpetuatio fori fortbesteht, selbst wenn sich die zuständigkeitsbegründenden Anknüpfungsmerkmale nachträglich als nicht existent erweisen.50 Im Interesse des Beklagtenschutzes muss in Hinblick auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO daher über eine Verschärfung der gerichtlichen Prüfungspflichten in der Zulässigkeit nachgedacht werden. Trotz des gemeinsamen Ausgangspunkts im Problem der Zuständigkeitserschleichung ist

48

Zur Geltung im europäischen Zivilprozessrecht siehe EuGH v. 4.3.1982, Rs. C38/1981 (Effer/Kantner), Slg. 1982, 825, Rn. 7. Das Urteil hat in der Literatur zwar unterschiedliche Lesarten erfahren (dazu eingehend Ost, Doppelrelevante Tatsachen, 171 ff.). Den Ausführungen des Gerichtshofs lässt sich aber jedenfalls entnehmen, dass die schlüssige Behauptung doppelrelevanter Tatsachen zur Begründung der Zuständigkeit ausreicht (Vgl. BGH v. 30.10.03, NJW-RR 2004, 935; GA Darmon, Schlussanträge v. 14.7.1994, Rs. C-68/1993 (Shevill u.a./Presse Alliance), Slg. 1995, I-415, Rn. 108 ff.; Mankowski, IPRax 2006, 454; Stein/Jonas/G. Wagner, Einl. vor Art. 2 EuGVVO, Rn. 25 f.). 49 Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 604; Schack, IZVR, Rn. 446. 50 Der Grundsatz der perpetuatio fori gilt auch im europäischen Zivilprozessrecht; siehe nur BGH v. 1.3.2011, NJW 2011, 2515, 2517, Rn. 22 ff.; Rauscher/ Mankowski, EuZPR, Art. 2 Brüssel I-VO, Rn. 4; Stein/Jonas/G. Wagner, Einl. vor Art. 2 EuGVVO, Rn. 27; wohl auch EuGH v. 5.2.2004, Rs. C-18/2002 (Danmarks Rederiforening/S v LO Landsorganisationen i Sverige), Slg. 2004, I-1417, Rn. 37.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

105

dabei m.E. zu differenzieren, ob die Ankerklage selbst bei Unterstellung der vorgebrachten Tatsachen als wahr keine Erfolgsaussichten hätte, oder ob die Erfolgsaussichten bei Unterstellung der vorgebrachten Tatsachen zwar bestehen, diese Tatsachen vom Kläger aber nicht schlüssig dargelegt wurden. Während im erstgenannten Fall die Rechtsausführungen des Klägers zur Inanspruchnahme des Ankerbeklagten zu verifizieren sind, geht es im letztgenannten Fall darum, die Beweisanforderungen für die vorgetragenen Tatsachen zu bestimmen.51 b) Verifizierung der Rechtsausführungen des Klägers In welchem Umfang die Rechtsausführungen des Klägers zur Begründetheit der Ankerklage in der Zuständigkeitsprüfung zu verifizieren sind, wird durch die Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Anforderungen an die Ankerklage determiniert: Je höher die verlangten Erfolgsaussichten, desto umfassender muss sich das Gericht im klägerischen Vortrag aufgestellten Behauptungen zur Rechtslage befassen.52 aa) Ansätze aus der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung und Literatur Die mitgliedstaatliche Rechtsprechung und Literatur legt unterschiedlich strenge Maßstäbe an. Nachstehend werden zunächst die in Deutschland vertretenen Auffassungen vorgestellt, bevor im Anschluss die Ansätze der englischen, irischen und französischen Rechtsprechung beleuchtet werden. (1) Deutschland Aus der deutschen Rechtsprechung ist allein ein jüngeres Urteil des BAG bemerkenswert.53 In diesem Fall sollte ein österreichischer Verein, für den die Klägerin bis zur ihrer Kündigung als Betreuerin eines Apartmenthauses in Österreich tätig gewesen war, mithilfe von Art. 6 51

Diesen Unterschied deutet Althammer an, der neben einer verstärkten Schlüssigkeitsprüfung der Tatsachen verlangt, dass „auch die rechtlichen Voraussetzungen der Inanspruchnahme zu verifizieren [sind]“ (Althammer, IPRax 2008, 228, 232). 52 Da der Begründetheit der Ankerklage freilich eine Gemengelage von Rechtsund Tatsachenfragen zugrundeliegt, ist klarstellend darauf hinzuweisen, dass die nachfolgenden Erwägungen Konstellationen betreffen, in denen in der Zuständigkeitsprüfung isolierte Rechtsfragen zur Begründetheit auftreten, die auf Grundlage bereits ermittelter bzw. als wahr unterstellter Tatsachen beantwortet werden können (wie z.B. in dem sogleich besprochenen Urteil des BAG v. 23.1.2008, NZA 2008, 1374 ff.). 53 BAG v. 23.1.2008, NZA 2008, 1374 ff.

106

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Nr. 1 EuGVVO in Deutschland auf Vergütungs- und Provisionszahlungen verklagt werden. Als Ankerbeklagte fungierte eine deutsche GmbH & Co KG, die einen Teil der Mitgliedsrechte an dem Verein hielt und deren GmbH-Geschäftsführer gleichzeitig Vorstandsmitglied des Vereins war. Zur Begründung der Ansprüche gegenüber der Ankerbeklagten behauptete die Klägerin, diese sei Partei des zwischen ihr und dem Verein bestehenden Vertragsverhältnisses geworden, weil der Briefkopf des Kündigungsschreibens beide juristischen Personen nannte und der Unterzeichner bei beiden eine Leitungsfunktion ausübte. Das BAG erachtete diese Erwägungen zu Recht für fernliegend und stellte fest, dass „die von vornherein unschlüssige Klage gegen die vormalige Beklagte zu 2) [die Ankerbeklage] nicht geeignet [ist], den nach Art. 6 Nr. 1 EuGVVO geforderten Zusammenhang herzustellen.“ 54 Um die Konnexität der Klagen zu verneinen, nahmen die Richter folglich eine oberflächliche Prüfung der Rechtsausführungen der Klägerin zur Begründetheit der Ankerklage vor. Die deutsche Literatur zeichnet demgegenüber ein facettenreiches Meinungsbild. Während eine Gruppe von Autoren überhaupt keine Anforderungen an die Erfolgsaussichten der Ankerklage in der Begründetheit stellt,55 begrüßt das gegenüberstehende Lager diese Art der Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, konkretisiert den bei der Prüfung anzulegenden Maßstab allerdings graduell unterschiedlich. Prominent vertreten wird, die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO lediglich bei offensichtlich unbegründeten Ankerklagen auszuschließen, 56 was wie gesagt nach einer oberflächlichen Prüfung der Rechtslage verlangt. Etwas strenger ist wohl der von Brandes angelegte Maßstab, demzufolge die Ankerklage „ernsthaft gemeint“ sein muss, was „zumindest die Möglichkeit [voraussetzt], daß sie begründet ist“.57 Wiederum etwas strenger ist die Auffassung von Mäsch, der in Anlehnung an das Prozesskostenhilfeverfahren gemäß § 114 ZPO eine „summarische Prüfung“ der Rechtslage für geboten hält.58 In die gleiche Richtung geht die Position

54

BAG v. 23.1.2008, NZA 2008, 1374, 1376, Rn. 24. Geimer/Schütze/Geimer, Art. 6 EuGVVO, Rn. 25; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 16; Junker, Internationales Zivilprozessrecht, § 12, Rn. 12. 56 Thole, ZZP 122 (2009), 423, 442; Würdinger, ZZPInt. 12 (2007), 221, 227; Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 10d; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 45 (keine Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wenn die Ankerklage „zwar schlüssig, aber offensichtlich unbegründet“ ist). 57 Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 123. 58 Mäsch, IPRax 2005, 509, 514. 55

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

107

von Althammer der verlangt, dass die „rechtlichen Voraussetzungen der Inanspruchnahme zu verifizieren [sind].“59 (2) England Anders als in Deutschland thematisiert die englische Rechtsprechung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO traditionell die Erfolgsaussichten der Ankerklage, da diese Einschränkung bereits für die nationale Streitgenossenzuständigkeit entwickelt wurde.60 Voraussetzung der Eröffnung des englischen Gerichtsstands der Streitgenossenschaft gegenüber ausländischen Beklagten ist die gerichtliche Erlaubnis zur zuständigkeitsbegründenden Zustellung (service out of jurisdiction). Die Erlaubnis wird gemäß CPR rule 6.36 61 nur erteilt, wenn einer der in paragraph 3.1 der PD 6b 62 genannten Gründe (grounds63) erfüllt ist.64 Der dritte ground des paragraph 3.1 knüpft an die Zustellung zum Zwecke der gemeinsamen Verhandlung unter anderem die Voraussetzung, dass zwischen dem

59

Althammr, IPRax 2008, 228, 232. Zwar wurde im Rahmen der Herleitung der Grundlagen der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf die rechtsvergleichende Betrachtung der nationalen Gerichtsstände der Streitgenossenschaft verzichtet, da die jeweiligen Regelungen zu unterschiedlich ausgestaltet sind, als dass allgemeine Leitlinien für die Bestimmung des Konnexitätserfordernisses gebildet werden könnten. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Betrachtung des Umgangs mit dem Problem der Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nicht wertvolle Erkenntnisse für das Tatbestandsmerkmal der tauglichen Ankerklage bringt. 61 CPR rule 6.36: „[…] the claimant may serve a claim form out of the jurisdiction with the permission of the court if any of the grounds set out in paragraph 3.1 of Practice Direction 6B apply“. 62 Paragraph 3.1 der PD 6b: „The claimant may serve a claim form out of the jurisdiction with the permission of the court under rule 6.36 where: […] (3) A claim is made against a person (‘the defendant’) on whom the claim form has been or will be served (otherwise than in reliance on this paragraph) and – (a) there is between the claimant and the defendant a real issue which it is reasonable for the court to try; and (b) the claimant wishes to serve the claim form on another person who is a necessary or proper party to that claim“. 63 Die grounds der service out of jurisdiction werden auch als heads oder gateways bezeichnet (Briggs/Rees, Civil Jurisdiction and Judgments, Rn. 4.54). 64 Die englische Streitgenossenzuständigkeit findet sich erst seit Oktober 2008 in CPR rule 6.36 i.V.m. paragraph 3.1 der PD 6b. Zuvor fand sich die gesamte Regelung in CPR r. 6.20. Der Vorgänger dieser Vorschrift war Order 11 of the RSC (zur Historie der Vorschrift Briggs/Rees, Civil Jurisdiction and Judgments, Rn. 4.54). 60

108

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Kläger und dem Ankerbeklagten „a real issue which it is reasonable for the court to try“ besteht.65 Sofern die Erfolgsaussichten der Ankerklage in rechtlicher Hinsicht beurteilt werden, versteht die englische Rechtsprechung das real issueErfordernis restriktiv. In der Rechtssache The Brabo, die im Jahre 1949 vor das House of Lords (inzwischen Supreme Court) gelangte, beantragte die Betreibergesellschaft des Hafens von Newcastle-upon-Tyne eine service out of jurisdiction, um von den belgischen Eigentümern eines in der Hafenzufahrt gesunkenen Schiffes die Kosten für dessen Bergung wiederzuerlangen.66 Als Ankerbeklagte fungierten die englischen Eigentümer der auf dem Schiff geladenen Fracht, deren Haftung für den entsprechenden Erstattungsanspruch davon abhing, ob sie von einer besonderen Haftungsfreistellung im englischen Recht profitierten. 67 In diesem Kontext führte Lord Porter aus: „[T]he right to add the foreigner should be sparingly used, more particularly in a case where the party within the jurisdiction may not [b]e subject to any liability and therefore the action would fail as against the only person or persons who could be sued here were it not for the rule. In theory this objection has a great force where the law is in dispute, as it has where the facts in respect of which liability is asserted are in issue, inasmuch as the defendant within the jurisdiction may in either case be held to be blameless. But in practice the position differs, since a decision upon the facts may involve a long and complicated consideration of the weight of evidence after the examination of a larger or smaller number of witnesses, whereas the law, if, as in the present case, the facts are ascertained, can often be decided as well at the hearing of a summons at it can in a formal trial. […] One may say generally that serious disputes of fact cannot as a rule be decided upon a[t] summons, whereas questions of law can, except perhaps in exceptional and complicated cases.“68

65

Das zweite Erfordernis der necessary or proper party betrifft dagegen den außerhalb Englands ansässigen Annexbeklagten. Das Erfordernis übernimmt die Funktion des Tatbestandsmerkmals der engen Beziehung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, auch wenn die zu stellenden Anforderungen geringer sind (Dicey, Morris & Collins, Conflict of Laws, Rn. 11-315; Fawcett, ICLQ 1995, 744, 747 f.). Der Annexbeklagte ist zum Verfahren eine necessary or proper party, wenn seine Hinzuziehung zum Verfahren angemessen wäre, sofern er der Zuständigkeit der englischen Gerichte bereits unterfiele (Briggs/Rees, Civil Jurisdiction and Judgments, Rn. 4.57). Das ist beispielsweise bereits der Fall, wenn die gemeinsame Verhandlung die Prozessökonomie befördert (Briggs/Rees, Civil Jurisdiction and Judgments, Rn. 4.57; Dicey, Morris & Collins, Conflict of Laws, Rn. 11-165 ff.). 66 The Brabo [1949] A.C. 326. 67 Konkret ging es darum, ob die englischen Beklagten als „agents of the Crown“ von einer Haftungsfreistellung profitierten (The Brabo [1949] A.C. 326, 341). 68 The Brabo [1949] A.C. 326, 339. Ähnlich Mustill LJ in Unilever Plc v Gillette (UK) Ltd [1989] R.P.C. 583, 602: „On questions of law [...] the court may go fully

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

109

Auf den europäischen Gerichtsstand der Streitgenossenschaft übertragen wurde das real issue-Erfordernis in der Entscheidung The Rewia.69 In diesem Fall hatten die Eigentümer einer auf dem Transport über Bord gegangenen Schiffsladung vor englischen Gerichten eine Schadensersatzklage gegen die Schiffeigentümer, die Charterer und die Subcharterer erhoben. Die letztgenannte Partei fungierte als Ankerbeklagte, obwohl streitig war, ob aus dem Konnossement eine vertragliche Haftung begründet werden konnte. Zur diesbezüglichen Prüfungsintensität äußerte Dillon LJ: „[T]he question, whether there is a valid claim against the sub-charterers should, if practicable, be decided at the present preliminary stage; the considerations laid down in The Brabo […] apply equally, in my judgment, to art. 6. […] The question whether the sub-charterers were parties to the bills is a question of the true construction of the bills in the light of the surrounding circumstances. It is not a question on which further relevant and admissible evidence may become available if the action is allowed to go to trial, and it should therefore be decided now in the material presently before the Court.“70

In jüngerer Zeit ist das Problem der Berücksichtigung der in rechtlicher Hinsicht bestehenden Erfolgsaussichten der Ankerklage bereits in der Zulässigkeit in Zusammenhang mit den in England angestrengten, privaten Kartellverfahren virulent geworden.71 In der Entscheidung Provimi verklagte eine deutsche Abnehmerin des sog. „Vitaminkartells“ mehrere Gesellschaften des Roche Konzerns vor dem High Court auf Ersatz des ihr beim Kauf von Vitaminen zu überhöhten Preisen entstandenen Schadens. Da die als Ankerbeklagte dienende englische Tochtergesellschaft selbst nicht gegen das Kartellverbot verstoßen hatte, war für die Erfolgsaussichten der Ankerklage entscheidend, ob ihre Haftung auf das kartellbußgeldrechtliche Konzept der wirtschaftlichen Einheit gestützt werden konnte. Anstatt diese schwierige Rechtsfrage abschließend zu klären, begnügte sich der mit dem Fall betraute Aikens J mit der Feststellung, dass die kartelldeliktische Verantwortlichkeit der englischen into the issues and will refuse leave if it considers that the plaintiff’s case is bound to fail“. 69 The Rewia [1991] 2 Lloyds’ Rep 325 ff. 70 The Rewia [1991] 2 Lloyds’ Rep 325, 336. Weniger streng zuvor Leggart LJ (329): „To rely on art. 6 the plaintiffs would have to show that there is a real issue that the plaintiffs may reasonably ask the Court to try as to whether the first defendants assumed the obligations of the carriers under the bill of lading“. 71 Zu den nachfolgend genannten Entscheidungen Provimi und Cooper Tire eingehend noch auf S. 288 ff. und S. 308 f. Zum jetzigen Zeitpunkt beschränkt sich das Interesse auf die allgemeinen Aussagen der Entscheidungen zum real issue-Erfordernis.

110

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Tochtergesellschaft nach diesen Prinzipien zumindest begründbar erscheint („seems to me to be arguable“).72 Zusammenfassend lässt sich in Konkretisierung des real issueErfordernisses also festhalten, dass die Rechtsausführungen im klägerischen Vortrag grundsätzlich vollständig zu verifizieren sind, die gerichtliche Praxis aber bisweilen einen großzügigeren Maßstab anlegt, falls besonders komplizierte Rechtsfragen die Zuständigkeitsentscheidung bedingen.73 (3) Irland Der Blick in die irische Rechtsprechung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO trifft auf vergleichbare Anforderungen an die Verifizierung der Rechtsausführungen des Klägers zur Begründetheit der Ankerklage. Der irische Supreme Court beschäftigte sich in der Entscheidung Gannon mit der Thematik.74 In diesem Fall hingen die Erfolgsaussichten der Ankerklage von der Lösung eines Kausalitätsproblems ab, nämlich, ob der irische Reiseveranstalter B. & I. für die Schäden aus einem Busunfall haftete, in den die Klägerin auf ihrer Reise nach England mit den dort ansässigen Annexbeklagten verwickelt wurde. Finlay CJ gab bezüglich der Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft zu bedenken, 72

Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 31. Ob der High Court in der späteren Entscheidung Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm) bezüglich der Prüfung der Rechtsausführungen des Klägers denselben großzügigen Maßstab anlegt, geht aus der Urteilbegründung nicht eindeutig hervor. Longmore LJ des anschließend mit dem Fall betrauten Court of Appeal bemerkte zum Vorgehen von Teare J: „[A]lthough it is not entirely clear from later passages in his judgment whether he was finally determining the point of law in favour of the Claimants or merely agreeing with Aikens J that the Claimants had a good arguable case about it, he obviously did acquire the necessary degree of assurance to conclude that the court did have jurisdiction“ (Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 29). An einer eigenen Stellungnahme von Longmore LJ fehlt es, da der Court of Appeal die Frage nicht für entscheidungserheblich hielt (Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 45 f.). 73 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt die Untersuchung von Maier, Marktortanknüpfung, 90 ff., 92, die in der englischen Rechtsprechung das „Bekenntnis zum grundsätzlichen Erfordernis einer Vollprüfung von Rechtsfragen“ erkennt, aber an der korrekten „praktischen Handhabung dieser Leitlinie“ zweifelt. Weniger streng versteht die englische Rechtsprechung dagegen Otte Umfassende Streitentscheidung, 673 ff., der den Entscheidungen The Brabo und The Rewia nur das Erfordernis einer „Schlüssigkeitsprüfung“ von Rechtsfragen entnehmen will. 74 Gannon v British and Irish Steampacket [1993] 2 I.R. 359 ff.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

111

„[that] there is no evidence of any causative link between any potential breach by B. & I. of that contract and the injuries which the plaintiff suffered. In these circumstances, it would appear to me that the Court must be driven to the conclusion that the sole object of adding B. & I. as a party in these proceedings was to oust the jurisdiction of English courts concerning the claim against the second and third defendant and that, in those circumstances, this is a case in which the Court must refuse to accept jurisdiction under article 6 (1)“.75

Die Ausführungen von Finlay CJ sind von Interesse, da sie deutlich machen, dass die Erfolgsaussichten der Ankerklage nicht lediglich wegen der Anforderungen des nationalen Prozessrechts, sondern bereits aufgrund des in der Kalfelis-Entscheidung aufgestellten Entziehungsvorbehalts Berücksichtigung in der Zuständigkeitsprüfung finden sollten. (4) Frankreich In Frankreich wird der Ankerklage aufgrund ihrer zuständigkeitsbegründenden Wirkung gegenüber den ausländischen Beklagten ebenfalls erhöhte Bedeutung in der Zuständigkeitsprüfung beigemessen. Aus der Anwendung der nationalen Streitgenossenzuständigkeit 76 kennt das französische Recht die Anforderung, dass es sich bei dem Ankerbeklagten um einen defendeur réel et sérieux handeln müsse.77 Diese Einschränkung wurde durch die französische Rechtsprechung auf Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ übertragen, wobei der Prüfungsmaßstab recht großzügig ausfällt, da lediglich offensichtlich unbegründete Ankerklagen für untauglich erachtet werden. Beispielsweise hat die Cour d’appel Paris die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft verneint, weil bei einer vorläufigen Prüfung der Rechtslage die vom Kläger vorgetragene gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten nicht in Betracht kam.78 Im Ausgangsfall hatte eine französische Bank einen französischen Exporteur und einen deutschen Importeur gemeinsam auf Rückzahlung von 228.000 Francs aus einem von ihr gestellten Dokumentenakkreditiv verklagt. Das Gericht stellte im Rahmen einer summarischen Prüfung der 75

Gannon v British and Irish Steampacket [1993] 2 I.R. 359, 376. Seit dem 1.1.1976 geregelt in Art. 42 Abs. 2 ncpc:„S’il y a plusieurs défendeurs, le demandeur saisit, à son choix, la juridiction du lieu où demeure l’un d’eux“. Zuvor befand sich die wortgleiche Regelung in Art. 54 Abs. 4 acpc. 77 Grundlegend Cour d’appel Aix v. 20.10.1961, D.M.F. 1963, 470; dazu Normand, Rev. crit. dr. int. priv. 1969, 514, 523 f.: „Il existe, enfin, une troisième raison, […] de refuser à l’ìndivisibilité toute force unificatrice: C’est l’absence de sérieux de l’action intentée contre le défendeur dont la juridiction est saisie de l’ensemble du litige“. 78 Cour d’appel Paris v. 28.6.1978, Rev. crit. dr. int. priv. 68 (1979), 444. 76

112

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Rechtslage fest, dass die französische Ankerbeklagte lediglich subsidiär aus ungerechtfertigter Bereicherung haftete, wohingegen gegen den deutschen Annexbeklagten ein vertraglicher Schadensersatzanspruch bestand. Den klägerischen Vortrag über das Bestehen einer Gesamtschuld zwischen den Beklagten wiesen die Richter daher als offensichtlich unbegründet zurück.79 Die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ wurde in Ermangelung ernsthafter Erfolgsaussichten der Ankerklage verneint und der Kläger dazu angehalten, die Annexbeklagte getrennt in Deutschland zu verklagen.80 Das französische Schrifttum zum europäischen Gerichtsstand der Streitgenossenschaft stellt vergleichbare Anforderungen an die Erfolgsaussichten der Ankerklage. Danach darf der Ankerbeklagte nicht lediglich auf Grundlage eines fiktiven bzw. konstruierten Anspruchs verklagt werden,81 sondern der Kläger muss ein Interesse daran haben, unmittelbar gegen den Ankerbeklagten vorzugehen.82 Dabei wird die Einschränkung teilweise an den in der Kalfelis-Entscheidung formulierten Entziehungsvorbehalt rückgekoppelt, wonach die Ankerklage nicht allein zu dem Zweck erhoben werden darf, die übrigen Streitgenossen der Zuständigkeit der Gerichte seines Wohnsitzstaates zu entziehen.83 Zusammenfassend gilt für die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft aus französischer Sicht folglich die Einschränkung, dass die Verurteilung des Ankerbeklagten nicht von vornherein ausgeschlossen sein darf.84

79 Cour d’appel Paris v. 28.6.1978, Rev. crit. dr. int. priv. 68 (1979), 444, 447: „Que le lien entre les deux demandes est donc artificiel et ne présente pas de caractère sérieux; que le fait de demander une éventuelle condamnation solidaire est encore plus artificiel puisqu’aucun motif n’est donné pour justifier cette solidarité […]“. Siehe dazu auch Donzallaz, La Convention de Lugano, Rn. 5479: „[Le] fait qu’il avait été demandé […] une condamnation solidaire des deux entreprises a été jugé encore plus artificiel puisqu’aucun motif n’avait été avancé pour justifier cette solidarité […]“. 80 Cour d’appel Paris v. 28.6.1978, Rev. crit. dr. int. priv. 68 (1979), 444, 447 f. 81 Usunier, Compétence juridictionelle, 217: „[L]a demande principale […] ne doit pas avoir été formée dans le seul but de faire jouer la compétence fondée sur la connexite“. Ähnlich Gaudemet-Tallon, Rev. crit. dr. int. priv. 92 (2003), 129, 133: „défendeur sérieux non fictif“. 82 Huet, JCDI, Fasicule 571-D (5-1988), n°59: „[D]éfendeur réel et sérieux, c’esta-dire un defendeur personellement interessé au litige“. 83 Usunier, Compétence juridictionelle, 217. 84 Etwas strenger ist der französische Ansatz nach der Bewertung von Otte, Umfassende Streitentscheidung, 690, der vom Erfordernis einer gewissen Wahrscheinlichkeit für die Begründetheit der Ankerklage ausgeht.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

113

bb) Eigene Konkretisierung der Prüfungsintensität Vor dem Hintergrund der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO können die soeben beschriebenen Maßstäbe der mitgliedstaatliche Prozessrechte lediglich als Orientierung dienen. Der Nachteil der in der deutschen Literatur vorgeschlagenen Anlehnung an § 114 ZPO ist, dass dieser Vorschrift eine andere Interessenlage zu Grunde liegt: Während mit der Gewährung von Prozesskostenhilfe der Zugang des Unbemittelten zu den Gerichten steht und fällt, sodass an die Unterstützung der beabsichtigten Rechtsverfolgung schon aus genuin verfassungsrechtlichen Gründen keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen,85 geht es bei der Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO „nur“ darum, dem Kläger einen zusätzlichen Gerichtsstand für die Durchsetzung seiner Interessen zu gewähren. Der in Frankreich vertretene Ansatz, dass es sich bei dem Ankerbeklagte um einen defendeur réel et sérieux handeln müsse, ist in seiner Anwendung durch die Rechtsprechung ebenfalls recht großzügig, da in erster Linie offensichtlich unbegründeten Ankerklagen die zuständigkeitsbegründende Wirkung versagt wird. Demgegenüber ist die englische Rechtsprechung, sofern die rechtliche Vollprüfung der Ankerklage tatsächlich verlangt wird, zu streng. Das restriktive Verständnis ist im Ursprung auf die Unterschiede der englischen Streitgenossenzuständigkeit gegenüber Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zurückzuführen. Einerseits ist der Anwendungsbereich der englischen Regelung nicht auf den Fall beschränkt, dass am Wohnsitz des Ankerbeklagten geklagt wird; inzwischen ist nicht einmal mehr Voraussetzung, dass die Ankerklage im Inland zugestellt wurde.86 Andererseits wird die zweite Voraussetzung der englischen Streitgenossenzuständigkeit, dass der Annexbeklagte a necessary and proper party der gemeinsamen Verhandlung ist, großzügiger ausgelegt, als das Merkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO.87 Nachstehend soll der Umfang der in Hinblick auf die Rechtsausführungen bestehenden Prüfungspflichten unter Hinzuziehung der Parteiinteressen und der Ziele des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO konkretisiert werden. Für eine rechtliche Vollprüfung der Ankerklage sprechen zunächst die 85 BVerfG v. 24.7.2002, NJW 2003, 576, 577; MünchKommZPO/Motzer, § 114 ZPO, Rn. 1. 86 Briggs/Rees, Civil Jurisdiction and Judgment, Rn. 4.57. 87 Dicey, Morris & Collins, Conflict of Laws, Rn. 11-315: „Although [Article 6(1)] fulfils a function similar to the ‘necessary and proper party’ provision […] it is narrower in scope than the latter“.

114

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Interessen der Annexbeklagten. Sie sind vor der unberechtigten Inanspruchnahme im Ausland umso besser geschützt, je genauer die Erfolgsaussichten der Ankerklage verifiziert werden. In die gleiche Richtung weisen aber auch die Interessen des Ankerbeklagten, der seinen Heimatstaat für die gemeinsame Verhandlung zwar nicht verlassen muss, gleichwohl aber die Last eines Prozesses trägt, dem er ohne den Anreiz zur Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft womöglich nie hinzugezogen worden wäre.88 Für das Anlegen eines großzügigeren Maßstabs streiten dagegen der klägerische Justizgewährungsanspruch und der effet utile des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Zum einen ist die Abhandlung schwieriger materiell-rechtlicher Fragen prozessökonomisch nicht sinnvoll, bevor die internationale Zuständigkeit des Gerichts feststeht. 89 Durch eine kopflastige Zuständigkeitsprüfung könnte der Wahlgerichtsstand des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO für den Kläger an Attraktivität einbüßen, was letztlich dazu führen würde, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte weniger häufig die Gelegenheit zur präventiven Förderung der Entscheidungsharmonie bekämen. Zum anderen lassen sich die Erfolgsaussichten der Ankerklage naturgemäß nicht isoliert beurteilen. Denkbar ist beispielsweise, dass die gemeinsame Verhandlung erst die Frage klären soll, welcher der Streitgenossen überhaupt haftet.90 Kämen mitgliedstaatliche Gerichte in einer solchen Konstellation zu unterschiedlichen Rechtsauffassungen, drohen widersprüchliche Prozessurteile bereits auf Ebene der Zulässigkeit; im ungünstigsten Fall könnte die Verfahrenskonzentration an keinem der Wohnsitze für zulässig erachtet werden, weil die dort ansässigen Gerichte jeweils nur der „anderen“ Ankerklage Erfolgsaussichten einräumen.91 Zwischen der rechtlichen Vollprüfung der Ankerklage einerseits und der gänzlichen Irrelevanz ihrer Erfolgsaussichten andererseits ist also ein vermittelnder Ansatz aufzugreifen. M.E. sollte der Gerichtsstand der 88

Fawcett/Carruthers/North, Cheshire, North, and Fawcett on Private International Law, 375. 89 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 39; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 16. 90 In solchen Konstellationen wird auch in England auf die abschließende Prüfung verzichtet (Dicey, Morris & Collins, Conflict of Laws, Rn. 11-164: „Permission may be granted if the causes of action are alternative, so that the claim against one of [the defendants] will ultimately fail.“). 91 Vgl. GA Colomer, Schlussanträge v. 14.3.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 41, der sich mit diesem Argument gegen besondere Anforderungen an die Zulässigkeit der Ankerklage ausspricht.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

115

Streitgenossenschaft keinesfalls eröffnet werden, wenn die Behauptungen im klägerischen Vortrag bereits nach einer oberflächlichen Prüfung der Rechtslage fernliegend erscheinen. 92 Zu hoch gegriffen ist demgegenüber die Forderung, der Erfolg der Ankerklage müsse wahrscheinlicher sein als deren Misserfolg, da wie gezeigt mehrere der erhobenen Klagen Aussicht auf Erfolg haben können. Richtigerweise wird man verlangen müssen, dass auf Grundlage einer überschlägigen Beurteilung der Rechtslage eine realistische Chance auf Begründetheit der Ankerklage besteht.93 Diese Anforderung schützt die Beklagten vor der vollkommen unberechtigten Inanspruchnahme im Ausland ohne widersprechender Entscheidungen auf Zuständigkeitsebene zu provozieren oder die Prozessökonomie der gemeinsamen Verhandlung zu sehr zu belasten. c) Verifizierung der vom Kläger behaupteten Tatsachen Steht nun fest, inwieweit die Rechtsausführungen des Klägers vor Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft zu verifizieren sind, wird im Folgenden untersucht, ob zur Vorbeugung der Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft eine Einschränkung der „Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen“ geboten ist. Hierfür wird in einem ersten Schritt der Frage nachgegangen, ob den zur Begründung der Ankerklage vorgetragenen Tatsachen überhaupt Doppelrelevanz zukommt. Sodann werden die zur Einschränkung der „Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen“ in Deutschland, England, Frankreich und Österreich vertretenen Ansätze erläutert, um daran anschließend die eigene Auffassung darzulegen. aa) Die den Sachzusammenhang begründenden Tatsachen: Einfach oder doppelrelevant? Eingang gilt es zu klären, welchen Tatsachen überhaupt Doppelrelevanz zukommt. Die Konnexität der Klagen selbst ist keine Tatsache, sondern ein normatives Tatbestandsmerkmal des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO.94 Dessen 92 Insoweit wird den Autoren zugestimmt, die die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft im Falle einer offensichtlich unbegründeten Ankerklage ablehnen. 93 Im Ergebnis ist diese Konkretisierung wohl etwas strenger als die von Mäsch und Althammer vertretene Position, wonach eine summarische Prüfung der Rechtslage ergeben muss, dass der Erfolg der Ankerklage möglich ist (Mäsch, IPRax 2005, 509, 514; Althammer, IPRax 2008, 228, 232). 94 Etwas ungenau an dieser Stelle Althammer, IPRax 2006, 558, 562, demzufolge die Missbrauchsgefahr darin begründet liegt, dass „die Frage der Konnexität eine doppelrelevante Tatsache dar[stellt]“.

116

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Prüfung basiert jedoch unter anderem auf den vom Kläger zur Begründung der Ankerklage vorgetragenen Tatsachen. Diese werden in der Rechtsprechung und im Schrifttum – wie selbstverständlich – als doppelrelevant eingestuft, weil sie in der Zulässigkeit wie in der Begründetheit des Verfahrens notwendigerweise erheblich sind.95 Das Schweizer Bundesgericht nimmt in einem jüngeren Beschluss zu Art. 6 Nr. 1 LugÜ demgegenüber eine differenzierte Betrachtung vor.96 In diesem Fall hatten deutsche Investoren durch Anlagen in einen amerikanischen Fond hohe Verluste erlitten. Sie wollten den Schweizer Anwalt der Fondgesellschaft, wohnhaft im Kanton Tessin, und dessen Schweizer Berufshaftpflichtversicherung, mit Sitz in Zürich, vor dem Handelsgericht Zürich gemeinsam auf Schadensersatz in Anspruch nehmen.97 Die Haftung des Anwalts wurde mit Sorgfaltspflichtverletzungen bei der Mandatsübernahme begründet; die der Versicherung mit der Verletzung einer eigenen Sorgfaltspflicht, der sie angesichts der möglichen Publikumsgefährdung im Interesse Dritter hätte genügen müssen, sowie mit der Abtretung der Ansprüche auf Versicherungsdeckung vom Anwalt auf die Kläger. Der annexbeklagte Anwalt rügte die auf Art. 6 Nr. 1 LugÜ gestützte Zuständigkeit mit der Begründung, dass die materielle Unbegründetheit der Ankerklage den erforderlichen Sachzusammenhang der Klagen zerstöre.98 Nachdem sich das Bundesgericht allgemein zur „Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen“ bekannte,99 führte es speziell zu deren Anwendung in der Prüfung des Art. 6 Nr. 1 LugÜ aus: „Für die materielle Beurteilung der gegenüber dem Beschwerdeführer [dem annexbeklagten Anwalt] geltend gemachten Ansprüche ist irrelevant, ob den Beschwerdegegnern [den deutschen Klägern] auch noch Ansprüche gegenüber der Beklagten 1 [der ankerbeklagten Versicherung] zustehen. Alle Umstände, die nicht die Haftung

95

Siehe nur OLG Stuttgart v. 31.7.2012, NJW 2013, 83, 85; Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 480; Mäsch, IPRax 2005, 509, 513 f.; Rohner, Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs, 158; Czernich/Kodek/Tiefenthaler, Art. 6 EuGVVO, Rn. 7. 96 Schweizer BGE v. 9.10.2007, 134 III 27. 97 Das Luganer Übereinkommen wurde im interkantonalen Verhältnis angewendet, und zwar mit der Begründung, dass wegen der ausländischen Wohnsitze der Kläger ein internationaler Sachverhalt zur Beurteilung stünde (Schweizer BGE v. 9.10.2007, 134 III 27, 29). Vgl. in diesem Kontext die Ausführungen zur Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei internationaler Wohnsitzgleichheit der Streitgenossen auf S. 143 ff. 98 Schweizer BGE v. 9.10.2007, 134 III 27, 29. 99 Schweizer BGE v. 9.10.2007, 134 III 27, 35 unter Hinweis auf BGE v. 21.2. 1996, 122 III 249.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

117

des Beschwerdeführers betreffen, erweisen sich mit Bezug auf den Beschwerdeführer als exorbitant.“100

Damit haben die eidgenössischen Bundesrichter an und für sich nur unter die Definition der doppelrelevanten Tatsache subsumiert. Ihr Vorgehen ist deshalb besonders, weil sie die erhobenen Klagen nicht gemeinsam betrachteten, sondern die Doppelrelevanz der Tatsachen isoliert für die Annexklage bewertet haben. Unter dieser Prämisse sind die zur Begründung der Ankerklage vorgetragenen Tatsachen in der Tat nur für die Zuständigkeitsprüfung gegenüber dem Annexbeklagten, nicht aber auch für die Begründetheit der Annexklage relevant.101 Ob die in Hinblick auf die Haftung der Versicherung streitigen Tatsachen tatsächlich zutrafen, war für die Haftung des Anwalts für die eigene Sorgfaltspflichtverletzung nämlich irrelevant.102 Bei einer isolierten Betrachtung der Klagen in der Zuständigkeitprüfung müssen die im Verhältnis zum Annexbeklagten einfachrelevanten Tatsachen also bereits in der Zulässigkeit bewiesen werden.103 In Konsequenz bejaht das Schweizer Bundesgericht die Konnexität der Klagen daher nur, wenn der Kläger diejenigen Tatsachen, die ausschließlich für die Begründung der Ankerklage relevant sind, vollständig bewiesen hat.104 M.E. ist die isolierte Betrachtung der am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erhobenen Klagen nicht sinnvoll, da sie schon in stark vereinfachten Konstellationen wenig praktikabel ist, was das folgende Gedankenspiel verdeutlichen soll: Die Begründetheit der Ankerklage hängt von den Tatsachen T1, T2, T3 ab. Die der Annexklage hängt ebenfalls von den Tatsachen T1, T2 ab. Die Tatsache T3 ist für die 100

Schweizer BGE v. 9.10.2007, 134 III 27, 35 f. „Exorbitant“ versteht das Schweizer Bundesgericht nicht i.S.v. „außerordentlich“, sondern wohl i.S.v. „außerhalb des Relevanten liegend“. 101 So bereits Otte, Umfassende Streitentscheidung, 807, demzufolge es sich bei den der Ankerklage zugrundeliegenden Tatsachen „streng genommen auch nicht notwendig“ um doppelrelevante Tatsachen handelt, da sie bei der Begründetheitsprüfung der Annexklage nicht notwendigerweise relevant werden. 102 Konkret ging es um die Frage einer eigenen Sorgfaltspflichtverletzung der ankerbeklagten Versicherung und die Erteilung ihrer Zustimmung zur Abtretung eines Anspruchs. 103 Schweizer BGE v. 9.10.2007, 134 III 27, 36. 104 Hoffmann-Nowotny, Doppelrelevante Tatsachen in Zivilprozess und Schiedsverfahren, 289; Borla-Geier, ZZZ 2007, 523, 524 f. Etwas ungenau dagegen Schlosser, EuZPR, Art. 6 EuGVVO, Rn. 3, Fn. 3, der die Auffassung der Bundesrichter dahingehend deutet, dass die „Begründetheit der Primärklage“ verlangt wird. Umfassend zu prüfen sind nur solche Tatsachen, die ausschließlich für die Begründetheit der Ankerklage von Bedeutung sind, weil sie für die Begründetheit der Annexklage keine Relevanz haben.

118

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Begründetheit der Annexklage dagegen irrelevant. Wer die Auffassung des Schweizer Bundesgerichts zu Grunde legt, müsste im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung der Annexklage zunächst die verschiedenen Tatsachen identifizieren. Dann müssen die Tatsachen T1 und T2 als doppelrelevant erkannt werden, da sie nicht nur der Konnexität, sondern auch der Begründetheit der Annexklage zu Grunde liegen. Über die Tatsache T 3 wäre dagegen bereits vor Bestimmung der Zuständigkeit vollständig Beweis zu erheben. Zwar tritt die Tatsache T3 in der Prüfung der Begründetheit der Ankerklage noch einmal auf, für die Begründetheit der Annexklage ist sie indes irrelevant. Den Prozessstoff auf Ebene der Zuständigkeitsprüfung auseinanderzureißen verkennt die Funktion des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft, der ein Forum zur gemeinsamen Verhandlung zusammenhängender Sachverhalte bieten möchte. Der vor dem Schweizer Bundesgericht zu erörternde Sachverhalt mag für die vorgezogene Beweisaufnahme über die Ankerklage im Rahmen der Prüfung des Art. 6 Nr. 1 LugÜ geeignet gewesen sein, weil die als einfachrelevant eingestuften Tatsachen einen begrenzten Prozessstoff ausmachten, der sich klar von dem für die Begründetheit der Annexklage relevanten Prozessstoff isolieren ließ. 105 Typischerweise werden mehrere Klagen am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft jedoch gerade konzentriert, damit ein sich überschneidender Tatsachenstoff gemeinsam verhandelt werden kann. Schon in vergleichsweise einfachen Anwendungsfällen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, etwa wenn eine gesamtschuldnerische oder akzessorische Haftung der Beklagten zur Debatte steht, lassen sich Tatsachen also kaum noch den jeweiligen Klagen zuordnen. Schließlich läuft die aufwendige Aufteilung des Tatsachenstoffs vor der Erörterung der Zuständigkeitsfrage dem Ziel des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zuwider, die Prozessökonomie des Verfahrens zu befördern. Aus den genannten Gründen sind die den Sachzusammenhang der Klagen begründenden Tatsachen doppelrelevant, da ihnen sowohl in der Zulässigkeits- als auch in der Begründetheitsprüfung der gemeinsamen Verhandlung Relevanz zukommt. bb) Ansätze aus der mitgliedstaatlichen Literatur und Rechtsprechung Es könnte jedoch die Einschränkung der grundsätzlich zur Anwendung kommenden „Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen“ geboten sein, um die Erschleichung der Zuständigkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO mit 105 Diese Besonderheit des Falls betont auch Hoffmann-Nowotny, Doppelrelevante Tatsachen in Zivilprozess und Schiedsverfahren, 300.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

119

der bloßen Behauptung von Tatsachen zu verhindern. In der mitgliedstaatlichen Literatur und Rechtsprechung kursieren erneut unterschiedliche Ansätze. (1) Deutschland In der deutschen Literatur und Rechtsprechung wird die „Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen“ teilweise uneingeschränkt zur Anwendung gebracht. 106 Andere Autoren betonen, dass die Ankerklage schlüssig bzw. nicht unschlüssig sein muss, worin allenfalls eine geringfügige Einschränkung der „Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen“ zum Ausdruck kommen dürfte. 107 Etwas strenger ist das Verlangen von Rohner aufzufassen, wonach die Begründetheit der Ankerklage mit einem „hinreichend konkreten Tatsachenvortrag“ darzulegen sei; 108 die Konkretisierung des Tatsachenvortrags dürfte etwas mehr voraussetzen als dessen Schlüssigkeit. Mäsch lehnt eine abschließende Beweisaufnahme in der Zulässigkeit zwar ausdrücklich ab, möchte die behaupteten Tatsachen aber einer „summarischen Prüfung“ i.S.d. § 114 ZPO unterziehen, um dem Missbrauch des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO den Riegel vorschieben. 109 In die gleiche Richtung geht der Vorschlag von Althammer, der „die Glaubhaftmachung i.S.d. § 114 ZPO“ als „Orientierungsbasis“ begreift, und dabei „ein[en] über die bloße Schlüssigkeitsprüfung hinausgehende[n] Wahrscheinlichkeitsgrad“ für das Zutreffen der vorgetragenen Tatsachen für erforderlich hält.110 Die Forderung einer summarischen Prüfung der vorgetragenen Tatsachen, wie sie von Mäsch und Althammer vertreten wird, impliziert m.E. zudem, dass zur Überprüfung der behaupteten Tatsachen nicht allein auf den klägerischen Vortrag abzustellen ist, sondern etwaige Einlassung des Beklagten ebenfalls zu berücksichtigen sind. Grothe konkretisiert den Maßstab einer solchen summarischen Prüfung jedoch wiederum dahingehend, dass „dem Kläger aufgegeben werden darf, seine Angaben glaubhaft zu machen“, wofür keine überwiegende Wahrscheinlichkeit zu verlangen sei, wohl aber die „ernste Möglichkeit, dass die Klage gegen den Wohnsitzbeklagten Erfolg in der Sache hat.“111 Den restriktivsten Ansatz ver106 OLG Stuttgart v. 31.7.2012, NJW 2013, 83, 85; MünchKommZPO/Gottwald, Art. 6 EuGVVO, Rn. 9. 107 Stein/Jonas/G.Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 45; Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 10d. 108 Rohner, Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs, 158 f. 109 Mäsch, IPRax 2005, 509, 514. 110 Althammer, IPRax 2006, 558, 562. 111 Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 480.

120

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

tritt Otte, der zum Schutz der Beklagten „eine volle Überprüfung der doppelrelevanten Tatsachen“ vornehmen will.112 (2) England Hängen die Erfolgsaussichten der Ankerklage vom Zutreffen des Tatsachenvortrags des Klägers ab, versteht die englische Rechtsprechung das real issue-Erfordernis eher großzügig. Da zur vollständigen Überprüfung der vorgebrachten Tatsachen eine umfassende Beweisaufnahme vonnöten wäre, begnügen sich die englischen Richter aus prozessökonomischen Gründen mit der Darlegung eines good arguable case.113 Die Beurteilungsgrundlage des good arguable case-Tests bildet aber nicht allein der Tatsachenvortrag des Klägers. Vielmehr werden auch die Ausführungen des Beklagten in die vorläufige Prüfung der Richtigkeit der vom Kläger behaupteten Tatsachen einbezogen. Beispielweise hörte der High Court im Verfahren Toshiba, in dem über die kartelldeliktischen Schadensersatzforderungen der Abnehmer des sog. „IndustrierohreKartells“ verhandelt wurde, die managing directors der Ankerbeklagten als Zeugen.114 Damit sollte das Zutreffen der klägerischen Behauptung der Kenntnis der Ankerbeklagten von der Kartellabsprache überprüft werden, welche Voraussetzung für die Erfolgsaussichten der Ankerklage war.115 Die Entscheidung zeigt beispielhaft, dass die englischen Gerichte die Einlassungen der Beklagten und die dafür angebotenen Beweismittel in die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Ankerklage einbeziehen. Die „vexed question of what constitutes a good arguable case“116 wird in der englischen Rechtsprechung nicht eindeutig beantwortet. 117 Konsentiert ist, dass der good arguable case-Test einen flexiblen Maßstab

112

Otte, Umfassende Streitentscheidung, 808. Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 41. 114 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch), Rn. 31. Der Court of Appeal hat die vorgezogene Beweisaufnahme nicht beanstandet (Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2012] EWCA Civ 1190). Zu beiden Entscheidungen eingehend noch unten S. 290 ff. bzw. S. 308 ff. 115 Entgegen der Aussagen der managing directors hielt der High Court die Kenntnis der Ankerbeklagten im Ergebnis jedoch für hinreichend wahrscheinlich, um das real issue-Erfordernis zu bejahen. 116 Mölnlyke AB v Procter & Gamble Ltd [1992] 4 All ER 47, 59. 117 Auch Maier, Marktortanknüpfung, 89 sieht die Anforderungen nicht vollständig geklärt. 113

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

121

anlegt.118 Die äußeren Grenzen einer Definition setzt Fawcett daher wie folgt: „The standard for a good arguable case is less stringent than a balance of probability but more than that of a real prospect of success“. 119 Eine gewisse Orientierung bietet zudem die Beschreibung von Waller LJ in der Entscheidung Canada Trust: „[W]hat the court is endeavoring to do is to find a concept not capable of very precise definition which reflects that the plaintiff must properly satisfy the court that it is right for the court to take jurisdiction.“120

Feststehen dürfte danach zumindest, dass das Gericht bei der Zuständigkeitsentscheidung zwar nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen muss, dass der klägerische Vortrag zur Ankerklage zutrifft, allein die Möglichkeit seiner Richtigkeit, d.h. die bloße Behauptung der zuständigkeitsbegründenden Tatsachen, jedoch keineswegs ausreichend ist, um die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft zu begründen. 121 (3) Frankreich In Frankreich werden die der Ankerklage zugrundeliegenden Tatsachen ebenfalls einer vorläufigen Prüfung unterzogen, die neben dem klägerischen Vortrag auch die Einwände der Beklagten berücksichtigt. Beispielsweise hat das Tribunal de grande instance de Paris dem französischen Künstlers Jean-Pierre Vasarely (Yvaral) erlaubt, ein Transportunternehmen mit Sitz in Paris und eine Ausstellerin mit Sitz im italienischen Macerata gemeinsam auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen.122 Der Künstler hatte dem Museum von Macerata seine Bilder für eine Ausstellung überlassen und musste beim Wiedererhalt feststellen, dass einige der Bilder erheblich beschädigt waren. Das französische Gericht erkannte im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung, dass die Ankerbeklagte den Tatsachenvortrag des Klägers zur der Verantwortlichkeit der Ankerbeklagten für die Beschädigung der Bilder nicht widerlegen konnte. Die Begründetheit der Ankerklage sei vielmehr nicht

118 Siehe Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 55: „The ‘good arguable case’ test is a flexible one“. 119 Fawcett/Carruthers/North, Cheshire, North, and Fawcett on Private International Law, 373. 120 Canada Trust Co. v Stolzenberg (No. 2) [1998] 1 All ER 318, 325 (C.A.). 121 Ähnlich Maier, Marktortanknüpfung, 89 f.; Rohner, Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs, 110 f. 122 Trib. gr. inst. de Paris v. 10.5.1985, Rev. crit. dr. int. priv. 76 (1987), 415.

122

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

von vorneherein ausgeschlossen, sodass die Erhebung der Schadensersatzklage in Paris nachvollziehbar sei.123 (4) Österreich Der österreichische OGH führt im Rahmen der Zulässigkeit zwar eine Schlüssigkeitsprüfung durch. Ob die Behauptung des Kläger tatsächlich zutreffen, ist nach Auffassung der Richter in Wien aber erst im Hauptverfahren zu verifizieren, um die Zuständigkeitsprüfung nicht mit einer zu weitgehenden Sachprüfung zu belasten. 124 Die österreichische Literatur lehnt es ebenfalls ab, die über das Bestehen oder Nichtbestehen des Anspruchs gegen den Ankerbeklagten entscheidenden Tatsachen voll zu überprüfen. Verlangt wird jedoch eine „inhaltliche Glaubhaftmachung“ der tatsächlichen Behauptungen im klägerischen Vortrag zum Sachzusammenhang der Klagen.125 cc) Eigene Konkretisierung der Prüfungsintensität Wer der missbräuchlichen Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft durch die Behauptung unzutreffender Tatsachen einen Riegel vorschieben will, wird um eine irgendwie geartete Einschränkung der „Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen“ nicht umhin kommen. Wie bei den Ausführungen zu den Erfolgsaussichten der Ankerklage in rechtlicher Hinsicht bereits aufgezeigt wurde, bringt die Orientierung am deutschen Prozesskostenhilfeverfahren gemäß § 114 ZPO für die Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO nur einen begrenzten Mehrwert, da beiden Vorschriften eine unterschiedliche Interessenlage zu Grunde liegt. Ebenfalls festgestellt wurde bereits, dass die Intensivierung der gerichtlichen Prüfungspflichten der Prozessökonomie des Verfahrens schadet. Speziell in Hinblick auf die Verifizierung von Tatsachenbehauptungen kommt hinzu, dass eine langwierige Beweisaufnahme die

123

Trib. gr. inst. de Paris v. 10.5.1985, Rev. crit. dr. int. priv. 76 (1987), 415, 417: „Attendue d’ailleurs que l’un des défendeurs, la Société Yamato France, est domicilié à Paris et qu’il n’est pas rapporté la preuve de ce qu’il s’agisse là d’une assignation de complaisance destinée à justifier la compétence du Tribunal de grande instance de Paris; qu’en effet c’est cette société qui a délivré les toiles en retour; […] que sa responsabilité ne saurait donc être a priori exclue et qu’il est normal qu’elle soit attraite en la cause“. 124 OGH v. 29.6.2004, ecolex 2005, 899; OGH v. 14.2.2012, WuW 2012, 1251, 1258 (WuW/E KRInt 393, 400). 125 König, RZ 1997, 240, 241; Fasching/Konecny/Simotta, Art. 6 EuGVVO, Rn. 23.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

123

Zuständigkeitsprüfung besonders in die Länge zieht. 126 Das gilt insbesondere, wenn wie in der englischen und französischen Rechtsprechung bei der Verifizierung die Tatsachenbehauptungen des Klägers auch die Einwände der Beklagten in die Beurteilungsgrundlage aufgenommen werden. Die österreichische Rechtsprechung betont daher mit Recht, dass die abschließende Überprüfung der Tatsachen immer dem Hauptverfahren vorbehalten bleiben sollte. M.E. muss das angerufene Gericht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von der Richtigkeit der vom Kläger behaupteten Tatsachen ausgehen. Wenngleich die genaue Angabe der erforderlichen Wahrscheinlichkeit in Prozent nicht möglich ist und im Übrigen auch praktisch wenig hilfreich wäre, 127 hat das Gericht jedenfalls dann eine weitere Substituierung des Klägervortrags zu verlangen, sollte es das Nichtzutreffen der behaupteten Tatsachen für wahrscheinlicher erachten (geringe Wahrscheinlichkeit ihres Zutreffens). Zur Überprüfung der Tatsachenbehauptungen des Klägers ist daher nicht nur auf die Schlüssigkeit des Klägervortrags abzustellen, sondern es sind auch die Einlassungen des Beklagten zu berücksichtigen. Zwar belastet eine derartige Prüfung der Sachlage vor Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft die Prozessökonomie des Verfahrens. Die Vernachlässigung der Einwände der Beklagten liefe jedoch dem Zweck der Einschränkung zuwider, die Zuständigkeitserschleichung durch einen geschickten Klägervortrag zu verhindern. d) Vereinbarkeit mit der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO Die Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Ankerklage in der Zuständigkeitsprüfung erfüllt auch die Vorgabe einer europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. aa) Vereinbarkeit mit dem effet utile des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO Wenngleich im europäischen Zivilprozessrecht bewusst auf die Statuierung des für die Zuständigkeitsprüfung anzulegenden Beweismaßes 126

EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 39. So auch Mäsch, IPRax 2005, 509, 514. Vgl. aber auch Ost, Doppelrelevante Tatsachen, 123 f., der mit Recht darauf hinweist, dass diese Argument bei einer einheitlichen Verhandlung von Zulässigkeit und Begründetheit an Überzeugungskraft verliert. 127 Vgl. MünchKommZPO/Prütting, § 294, Rn. 2, 24 f. zur Glaubhaftmachung i.S.d. § 294 ZPO.

124

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

verzichtet wurde, sodass sich der Umfang der gerichtlichen Prüfungspflicht grundsätzlich nach der lex fori bestimmt,128 gilt es als europäischautonome Vorgabe gleichwohl zu berücksichtigen, dass dem Sinn und Zweck der Zuständigkeitsregeln der EuGVVO durch die Regelungen des nationalen Verfahrensrechts zur Geltung verholfen werden sollte.129 Aus diesem Grund begründet die Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Ankerklage keine unzulässige Verkürzung des effet utile der Vorschrift. In Hinblick auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO betont der EuGH nämlich in ständiger Rechtsprechung, dass die Ankerklage nicht allein zu dem Zweck erhoben werden darf, den Beklagten der Zuständigkeit der Gerichte seines Wohnsitzstaates zu entziehen. 130 Insbesondere die Rechtsprechung des irischen Supreme Court,131 aber auch Stimmen aus dem deutschen, englischen und französischen Schrifttum leiten aus dem Entziehungsvorbehalt die Zulässigkeit der Erhebung spezieller Anforderungen an die Ankerklage ab. 132 Aus dem Entziehungsvorbehalt folgt jedoch nicht nur die Zulässigkeit, sondern auch die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Ankerklage, da der Beklagte vor einer Zuständigkeitserschleichung durch den Kläger andernfalls nicht geschützt wäre.133 Die Verifizierung der vom Kläger vorgetragenen Rechtsausführungen und Tatsachen sollte daher als eine mit dem effet utile vereinbare, europäisch-autonome Vorgabe für die Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO verstanden werden. bb) Keine entgegenstehende Auffassung des EuGH Auf den ersten Blick gerät der hier vertretene Ansatz mit der derzeitigen Rechtsprechungslinie des EuGH zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in Konflikt. Zwar hat der EuGH in der Freeport-Entscheidung offengelassen, ob eine 128

EuGH v. 7.3.1995, Rs. C-68/1993 (Shevill u.a./Presse Alliance), Slg. 1995, I415, Rn. 35 ff.; BGH v. 30.10.03, NJW-RR 2004, 935; Stein/Jonas/G. Wagner, Einl. Art. 2 EuGVVO, Rn. 24, Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 5 EuGVO, Rn. 94; Rauscher/Mankowski, EuZPR, Vorbem. Art. 2 Brüssel I-VO, Rn. 7. 129 EuGH v. 15.5.1990, Rs. C-365/1988 (Kongressagentur Hagen/Zeehaghe), Slg. 1990, I-1845, Rn. 17 ff.; eingehend Ost, Doppelrelevante Tatsachen, 154 f. 130 EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 9; EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 51; EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 78. 131 Gannon v British and Irish Steampacket [1993] 2 I.R. 359, 376. 132 Althammer, IPRax 2008, 228, 232; Coester-Waltjen, FS Kropholler 2008, 747, 758; Fawcett, ICLQ 1995, 744, 754; Usunier, Compétence juridictionelle, 217. 133 In diese Richtung auch Althammer, IPRax 2008, 228, 232; Coester-Waltjen, FS Kropholler 2008, 747, 758.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

125

offensichtlich unbegründete Ankerklage den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft eröffnet.134 Muss die Ankerklage nach der Reisch MontageEntscheidung aber nicht einmal zulässig sein, erscheint naheliegend, dass an ihre Begründetheit erst recht keine Anforderungen zu stellen sind. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich das in der Literatur prominent vertretene argumentum a maiori ad minus135 allerdings gleich aus mehreren Gründen als Trugschluss. Erstens ist die Anforderung der realistischen Chance auf Erfolg der Ankerklage in der Begründetheit besser mit dem Gebot der Vorhersehbarkeiten zu vereinbaren als die dem EuGH in der Reisch MontageEntscheidung zur Prüfung vorgelegte Einschränkung, wonach die Ankerklage nicht kraft nationalem Recht unzulässig sein darf. Dass die ansonsten erfolgversprechende Ankerklage wegen eines aus der Sphäre des Beklagten stammenden Umstandes nach nationalem Recht unzulässig ist, mag der Kläger bei der Klageerhebung nicht gewusst haben.136 In diesem Fall wird die Erwartung, das Verfahren am Wohnsitz des Ankerbeklagten zu konzentrieren, überraschend enttäuscht. Ob der gegenüber dem Ankerklagen vorgetragene Anspruch eine realistische Chance auf Erfolg hat, kann der Kläger demgegenüber bei der Auswahl des Ankerbeklagten typischerweise einschätzen. Zweitens erging die Entscheidung Reisch Montage an einem Tag im Jahr 2006, der ganz im Zeichen des Zurückdrängens nationaler Einflüsse auf die EuGVVO stand.137 Aus Sicht des Gerichtshofs sprach insbesondere die europäisch-autonome Auslegung für die Tauglichkeit einer nach 134 EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I8319, Rn. 56. 135 Zu diesem Schluss kommen GA Mengozzi, Schlussanträge v. 24.5.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 71 (bezüglich der Voraussetzung „keine offensichtlich unbegründete Ankerklage“); Stone, EU Private International Law, 118 f. (bezüglich der real issue-Voraussetzung); Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 93 (bezüglich der real issue-Voraussetzung) und Würdinger, ZZPInt. 12 (2007), 221, 228 (bezüglich der Voraussetzung der schlüssigen Ankerklage). 136 So konnte im Verfahren Reisch Montage die Kenntnis des Klägers vom Konkurs des österreichischen Ankerbeklagten nicht nachgewiesen werden (EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 32; so auch die spätere Deutung durch GA Mengozzi, Schlussanträge v. 24.5.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 60, Fn. 35). 137 Vgl. EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535 und EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-4/2003 (GAT/LuK), Slg. 2006, I-6509. Für Briggs kommt in diesen drei EuGH-Entscheidungen gar eine „alarming hostility to national legal rules“ zum Ausdruck (Briggs, LMCLQ 2006, 447, 448).

126

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

der lex fori unzulässigen Ankerklage. 138 In der Diskussion um die Erfolgsaussichten der Ankerklage in der Begründetheit spielt dieses ohnehin nur vermeintliche Argument indes keine Rolle, weil für die Begründetheitsprüfung naturgemäß das anwendbare materielle Recht herangezogen werden muss. Drittens verließ sich die zweite Kammer des Gerichtshofs bei der Reisch Montage-Entscheidung noch auf die analoge Anwendung des in Art. 6 Nr. 2 EuGVVO geschriebenen Missbrauchsvorbehalts, um die unberechtigte Inanspruchnahme des Beklagten im Ausland zu verhindern.139 Nach der Ablehnung der gesonderten Prüfung des Missbrauchs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in der Entscheidung Freeport durch die dritte Kammer, 140 dürfte der Gerichtshof anderen Einschränkungen der Vorschrift, insbesondere den Anforderungen an die Ankerklage, zukünftig offener gegenüberstehen.141 Von der Reisch Montage-Entscheidung schließt die h. M. also vorschnell auf eine ablehnende Haltung des EuGH gegenüber dem Kriterium der Erfolgsaussichten der Ankerklage in der Begründetheit. Gewichtige Argumente deuten darauf hin, dass das Kriterium mit der geltenden EuGH-Rechtsprechung vereinbar ist. Gleichwohl sind die mitgliedstaatlichen Gerichte von ihrer Vorlagepflicht nicht befreit, da die Rechtslage für einen acte clair zu ambivalent ist. Insbesondere die englischen Gerichte, die das real issue-Erfordernis nach der Reisch Montage-Entscheidung weiterhin in ständiger Rechtsprechung anwenden, sollten ihr Vorgehen durch den EuGH bestätigen lassen.142 3. Ergebnis An die Erfolgsaussichten der Ankerklage in der Begründetheit sind besondere Anforderungen zu stellen, um im Interesse des Beklagten138

EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 29 f. 139 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 32. 140 EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I8319, Rn. 54. 141 Vgl. Maier, Marktortanknüpfung, 174. 142 Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 42; FKI Engineering Ltd And Another v Dewind Holdings And Another [2007] EWHC 72 (Comm), Rn. 32 ff.; Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 28. Vorlagepflichtig ist streng genommen aber auch der Ansatz „keine offensichtlich unbegründete Ankerklage“ aus der Entscheidung BAG v. 23.1.2008, NZA 2008, 1374, Rn. 24.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

127

schutzes die Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft zu verhindern. Aus diesem Grund muss nach der überschlägigen Beurteilung der Rechtslage noch eine realistische Chance auf die Begründetheit der Ankerklage bestehen. Zudem muss das Gericht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vom Zutreffen der Tatsachenbehauptungen des Klägers ausgehen, wobei auch die Einlassungen des Beklagten zur Sachlage zu berücksichtigen sind. Beide Anforderungen stehen mit der aktuellen Rechtsprechungslinie des EuGH und dem Gebot der praktischen Wirksamkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in Einklang. III. Die Rechtshängigkeit der Ankerklage Der Anreiz zur Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft mithilfe eines unzutreffenden Klägervortrags wird durch den Grundsatz der perpetuatio fori geschaffen, demzufolge eine einmal begründete Zuständigkeit fortbesteht, selbst wenn sich die zuständigkeitsbegründenden Anknüpfungsmerkmale später als nicht existent erweisen. Neben der Verschärfung der gerichtlichen Prüfungspflichten in der Zulässigkeit ließe sich zur Durchsetzung des Beklagtenschutzes daher andenken, die auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gestützte Zuständigkeit in Konstellationen des nachträglichen Entfallens der Rechtshängigkeit der Ankerklage wieder aufzuheben.143 1. Anwendbarkeit des Grundsatzes der perpetuatio fori auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO Im deutschen Prozessrecht ist der Grundsatz der perpetuatio fori in § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO normiert, wonach „die Zuständigkeit des Prozessgerichts […] durch eine Veränderung der sie begründenden Umstände nicht berührt [wird].“ Nach allgemeiner Auffassung in der Literatur und Rechtsprechung entfaltet der Grundsatz auch im Anwendungsbereich der EuGVVO Geltung, 144 wobei eine ausdrückliche, abschließende Klärung dieser Frage durch den EuGH noch aussteht 145 143

Einschränkungen des Grundsatzes der perpetuatio fori sind der deutschen Rechtsprechung jedenfalls nicht vollkommen fremd (vgl. etwa BGH v. 22.6.2005, NJW 2005, 3424 ff. zum zeitlich begrenzten Fortdauern der internationalen Zuständigkeit der Ehegerichte im Ursprungsstaat gemäß Art. 3 Abs. 1 Brüssel II-VO). 144 BGH v. 1.3.2011, NJW 2011, 2515, 2517, Rn. 22 ff.; OLG Köln v. 16.12. 2008, BeckRS 2009, 14010; Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 2 Brüssel I-VO, Rn. 4; Kropholler/von Hein, EuZPR, vor Art. 2 EuGVO, Rn. 14. 145 In diese Richtung aber EuGH v. 5.2.2004, Rs. C-18/2002 (Danmarks Rederiforening/S v LO Landsorganisationen i Sverige), Slg. 2004, I-1417, Rn. 37.

128

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

und hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunkts lebhaft diskutiert wird, ob dieser erst auf die Zustellung beim Beklagten146 oder schon auf die Anhängigkeit i.S.d. Art. 30 EuGVVO147 fällt. Auch die einmal am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft begründete Zuständigkeit hat grundsätzlich fortzubestehen.148 Denn es ginge in jedem Fall zu weit, den gesamten Prozess immer zu beenden, sofern die Ankerklage als zuständigkeitsbegründender Anknüpfungspunkt durch Teilurteil in der Begründetheit (im deutschen Recht gemäß § 301 ZPO) abgewiesen wird.149 Zum einen lässt sich die Erhebung einer unbegründeten Ankerklage nicht automatisch mit einer Zuständigkeitserschleichung gleichsetzen; bisweilen klärt die gemeinsame Verhandlung erst die Frage, welcher der Streitgenossen überhaupt haften soll. 150 Zum anderen wäre es aus prozessökonomischer Sicht äußerst misslich, alle Beteiligten am Ende eines langwierigen und kostenintensiven Verfahrens mit leeren Händen dastehen zu lassen. 151 Ernsthaft diskutieren lässt sich folglich allein über die ausnahmsweise Einschränkung des Grundsatzes der perpetuatio fori am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft. 2. Perpetuatio fori auch bei Rücknahme der Ankerklage In Betracht käme zunächst, für alle Fälle der Rücknahme oder Erledigterklärung der Ankerklage immer eine Ausnahme vom Grundsatz der perpetuatio fori zu machen.152 Der Einschränkung des Grundsatzes der perpetuatio fori wird der positive Effekt attestiert, dass der Kläger, sollte er die Ankerklage nicht zurücknehmen können ohne die Früchte des 146

So Löser, Zuständigkeitsbestimmender Zeitpunkt, 108 ff. m. w. Nachw. So Gampp, Perpetuatio fori internationalis, 132 ff. m. w. Nachw. Die Regelung des Art. 30 EuGVVO findet sich zukünftig in Art. 32 EuGVVO n.F. 148 BAG v. 23.1.2008, NZA 2008, 1374, Rn. 23; Althammer, IPRax 2006, 558, 561; Geimer, WM 1979, 350, 358, ders. NJW 1988, 3088, 3090; ders., FS Kropholler 2008, 777, 790; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 14; Knöfel, IPRax 2006, 503, 505; Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 10b; Oetiker/ Weibel/Rohner/Lerch, Art. 6 LugÜ, Rn. 46; Fasching/Konecny/Simotta, Art. 6 EuGVVO, Rn. 36; Musielak/A. Stadler, ZPO, Art. 6 EuGVVO, Rn. 3; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 19; Würdinger, ZZPInt. 11 (2006), 181, 189. 149 So ausdrücklich Schlosser, EuZPR, Art. 6 EuGVVO, Rn. 3; Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 477. 150 Typischerweise werden die Voraussetzungen einer Klageabweisung durch Teilurteil dann ohnehin nicht vorliegen (eingehend MünchKommZPO/Musielak, § 301 ZPO, Rn. 4 ff.). 151 Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 124. 152 Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 477 (Klagerücknahme und Erledigterklärung); Schlosser, EuZPR, Art. 6 EuGVVO, Rn. 3 (Klagerücknahme). 147

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

129

bisherigen Prozesses zu verlieren, ein höheres Kostenrisiko trägt, was ihn bei der Wahl des Gerichtsortes zur Berücksichtigung der tatsächlichen Erfolgsaussichten der Ankerklage veranlasst. 153 Diese Betrachtungsweise trägt jedoch der praktischen Erwägung nicht ausreichend Rechnung, dass ein vermögender Kläger sich den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft schlicht „erkaufen“ könnte, indem die sich als unbegründet erweisende Ankerklage bis zum Ende der gemeinsamen Verhandlung durch den Prozess „geschleppt“ wird. 154 Allein die Tatsache, dass der Kläger die Ankerklage zurückgenommen hat, kann die Ausnahme vom Grundsatz der perpetuatio fori folglich nicht begründen.155 3. Nachträgliches Entfallen der Zuständigkeit nur bei offensichtlich missbräuchlicher Klagerücknahme Näher läge es jedoch, den Grundsatz der perpetuatio fori einzuschränken, wenn die Rücknahme der Ankerklage Rückschlüsse auf deren ursprünglich missbräuchliche Erhebung zulässt. 156 Dass es sich hierbei nicht lediglich um eine theoretische Konstellation handelt, zeigt der jüngst ergangene Vorlagebeschluss des LG Dortmund im Schadensersatzverfahren zur haftungsrechtlichen Aufarbeitung des sog. „Bleichmittelkartells“.157 Nach den Feststellungen der Kommission hatten sechs Chemieunternehmen in den Jahren 1994–2000 den Wettbewerb auf mehreren mitgliedstaatlichen Märkten für Wasserstoffperoxid und Natriumperborat durch verbotene Absprachen beschränkt.158 Nach Offenlegung des wettbewerbswidrigen Verhaltens wurden die Mitglieder des Kartells auf Ersatz der ihren Abnehmern erstandenen Schäden vor dem LG 153

In diesem Sinne Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 477. Auch Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 477 weist auf diesen Nachteil hin, lässt ihn im Ergebnis aber nicht durchschlagen. 155 Ausdrücklich für die Geltung des Grundsatzes der perpetuatio fori in Fällen der Klagerücknahme im Ergebnis auch Geimer/Schütze/Geimer, Art. 6 EuGVVO, Rn. 27; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 14; Oetiker/Weibel/ Rohner/Lerch, Art. 6 LugÜ, Rn. 47. 156 In diese Richtung im Ergebnis bereits die Forderungen von Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 124 (bei Klagerücknahme in Missbrauchsabsicht); Geier, Streitgenossenschaft, 91 (bei missbräuchlichem Rückzug der Klage); Otte, Umfassende Streitentscheidung, 809 (als Arglisteinrede des Beklagten bei einvernehmlicher Klagerücknahme). 157 LG Dortmund v. 25.4.2013, GRUR Int. 2013, 842. 158 KomE v. 3.5.2006, COMP/F/38.620 (Hydrogen peroxide), ABl.EU 2006 L 353/54 ff. 154

130

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Dortmund gemeinsam verklagt. 159 Als Ankerbeklagte fungierte die in Deutschland ansässige Evonik Degussa GmbH. Gegenüber den übrigen Kartellmitgliedern mit Sitz in den Niederlanden, Frankreich, Belgien und Finnland sollte die internationale und örtliche Zuständigkeit des LG Dortmund auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gestützt werden. Die Zustellung der Klageschrift bei der Ankerbeklagten erfolgte im April 2009; die übrigen Beklagten erhielten übersetzte Klageschriften im August 2009. Erst im Dezember 2010 wurde die erste mündliche Verhandlung zur Zuständigkeitsfrage abgehalten. Zu diesem Zeitpunkt zählte die Evonik Degussa GmbH schon nicht mehr zu den Beklagten, da die Klägerin mit ihr im September 2009 eine außergerichtliche Einigung erzielt hatte und die Ankerklage daraufhin zurückgenommen wurde. Das LG Dortmund setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH unter anderem 160 die Frage vor, ob es bei der Prüfung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu berücksichtigen sei, dass die Ankerklage nach Zustellung an sämtliche Beklagte aber vor dem Termin der ersten mündlichen Verhandlung zurückgenommen worden ist. Die Antwort des Gerichtshofs steht noch aus. Der beschriebene Sachverhalt wirft aufgrund der zeitlichen Abfolge der Ereignisse die hier interessierende Problematik in ihrer schärfsten Form auf: Hätte die Klägerin mit der Ankerbeklagten vor der Klageerhebung einen Vergleich abgeschlossen, so wäre der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft aufgrund der offensichtlichen Unbegründetheit der Ankerklage von vornherein verschlossen geblieben. Hätten sich die Parteien erst zu einem deutlich späteren Zeitpunkt außergerichtlich geeinigt, so wären die mit der Beendigung des gesamten Verfahrens verbundenen prozessökonomischen Nachteile zu groß, als dass das nachträgliche Entfallen der Zuständigkeit ernsthaft angedacht werden könnte. Der Prozess vor dem LG Dortmund befindet sich also genau in einem Stadium, in dem noch die Möglichkeit bestünde unter Hinnahme ge-

159 Die Klägerin, eine zum Zwecke der Geltendmachung kartelldeliktischer Ansprüche gegründete Gesellschaft namens CartelDamageClaims, hatte sich die Schadensersatzforderungen von 32 Zellstoff und Papier verarbeitenden Industrieunternehmen vor dem Verfahren abtreten lassen. Zu diesem Geschäftsmodell siehe . 160 Zur Frage nach der Konnexität kartelldeliktischer Schadensersatzklagen siehe S. 249 ff. Die Vorlagefrage des LG Dortmunds zu Art. 5 Nr. 3 EuGVVO wird in dieser Arbeit nicht erörtert. Eingehend zu den Voraussetzungen der Verhandlung kartelldeliktischer Klagen am Deliktsgerichtsstand Basedow, FS 50 Jahre FIW, 129 ff.; Fitchen, MJ 15 (2006), 381, 392 ff.; Maier, Marktortanknüpfung, 94 ff.; Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße, 100 ff.; Wurmnest, EuZW, 933, 934 f.; Zimmer, Konkretisierung des Auswirkungsprinzips, 276 ff.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

131

wisser Effizienzverluste eine Ausnahme vom Grundsatz der perpetuatio fori zu erlauben.161 Nach Auffassung des LG Dortmund legt der Zeitpunkt der Rücknahme der Ankerklage unmittelbar nach Zustellung der Klageschrift an die übrigen Beklagten nahe, dass eine vergleichsweise Einigung der Klägerin mit der Ankerbeklagten zumindest „dem Grunde nach und in den wesentlichen Punkten“ schon vor der Klageerhebung bestand.162 Ist der frühe Zeitpunkt der Rücknahme der Ankerklage das einzige Indiz für das vorherige Bestehen einer außergerichtlichen Einigung, darf m.E. jedoch noch nicht auf eine missbräuchliche Anrufung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO geschlossen werden. 163 Der Abschluss eines Vergleichs unmittelbar nach der Klagezustellung ließe sich etwa auch damit erklären, dass sich die Ankerbeklagte erst aufgrund des zusätzlichen Drucks des anhängigen Prozesses zur Annahme des Vergleichsangebots der Klägerin bereit erklärt hat. Den Rechtsmissbrauch aufgrund der unmittelbaren Rücknahme der Ankerklage vorschnell zu bejahen, würde zudem die Aufnahme von Vergleichsverhandlungen im laufenden Prozess maßgeblich erschweren oder die Vergleichsverhandlungen zumindest künstlich in die Länge ziehen, da der Kläger das Risiko berücksichtigen müsste, die Zuständigkeit gegenüber den übrigen Beklagten doch noch zu verlieren. Zwar könnte man dem Kläger aufgeben, im Einzelnen darzulegen, dass bei Erhebung der Ankerklage noch keine Gewissheit über einen späteren Vergleich mit dem Ankerbeklagten bestand.164 Auch durch dieses Erfordernis dürfte jedoch die Bereitschaft des Klägers zum Eintritt in 161

Vgl. LG Dortmund v. 25.4.2013, GRUR Int. 2013, 842, Rn. 30: „Zwar ergibt sich in der Regel vor einer Erörterung der Sach- und Rechtslage in mündlicher Verhandlung und auf der Grundlage des Vorbringens aller Parteien kein besonderer Erkenntnisgewinn. Effizienzverluste sind gleichwohl für alle Beteiligten, auch für das Prozessgericht, zu befürchten. Dieses muss sich, auch wenn eine Erwiderung auf die Klage noch nicht vorliegt, mit dem Klagevorbringen zumindest im Hinblick auf die Beachtung formaler Voraussetzungen auseinandersetzen und die für eine wirksame Klagezustellung erforderlichen Anordnungen treffen“. 162 LG Dortmund v. 25.4.2013, GRUR Int. 2013, 842, Rn. 23 ff. 163 In dieser Hinsicht ist der dem Vorlagebeschluss zugrundeliegende Sachverhalt im Einzelnen unklar. 164 Grundsätzlich obliegt es dem Kläger darzulegen, dass er über eine taugliche Ankerklage für die Verfahrenskonzentration verfügt, da er für die zuständigkeitsbegründenden Tatsachen nach Maßgabe der lex fori des angerufenen Gerichts die Beweislast trägt (EuGH v. 7.3.1995, Rs. C-68/1993 (Shevill u.a./Presse Alliance), Slg. 1995, I-415, Rn. 41; BGH v. 30.10.03, NJW-RR 2004, 935; Rauscher/ Mankowski, EuZPR, vor Art. 2 Brüssel I-VO, Rn. 7; Stein/Jonas/G. Wagner, Einl. Art. 2 EuGVVO, Rn. 24).

132

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Vergleichsverhandlungen mit einem potentiellen Ankerbeklagten vor Beginn des Prozesses merklich gehemmt werden. Selbst bei der Rücknahme der Ankerklage zu einem frühen Zeitpunkt haben die Beklagten also weitere Indizien für den Rechtsmissbrauch vorzutragen. Es gilt darzulegen, dass Kläger und Ankerbeklagter bereits vor Klageerhebung übereingekommen sind, die Unterzeichnung der außergerichtlichen Einigung aber absichtlich bis zur Rechtshängigkeit des Verfahrens hinausgezögert wurde.165 Freilich besteht dabei das Problem, dass der Ablauf und der Inhalt von Vergleichsverhandlungen typischerweise nur den beteiligten Parteien bekannt sind, sodass die Annexbeklagten Indizien für die rechtsmissbräuchliche Erhebung der Ankerklage nur selten darlegen können. Diese Benachteiligung der Annexbeklagten ist jedoch hinzunehmen, da es nicht gewollt sein kann, zulässige Vergleichsverhandlungen zwischen Kläger und Ankerbeklagtem durch das Risiko des vollständigen Zuständigkeitsverlustes zu torpedieren. M.E. sollte der EuGH die Vorlagefrage des LG Dortmund daher dahingehend beantworten, dass die Rücknahme der Ankerklage unmittelbar nach ihrer Erhebung lediglich dann zu einem nachträglichen Entfallen der Zuständigkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO führt, wenn außer dem frühen Zeitpunkt der Klageerhebung weitere Indizien dafür erkennbar sind, dass Kläger und Ankerbeklagter bereits vor Klageerhebung den späteren Abschluss eines Vergleichs vereinbart haben. IV. Hierarchie der Klagen: Der Ankerbeklagte als key defendant? Nach dem Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO muss sich die herausgehobene Stellung der Ankerklage für die Zuständigkeitsbegründung im materiell-rechtlichen Verhältnis der zugrundeliegenden Ansprüche nicht wiederfinden; die Verfahrenskonzentration ist am Wohnsitz eines jeden Beklagten gestattet. In der Literatur wird dennoch vereinzelt verlangt, dass das Verfahren am Wohnsitz des wichtigsten Beklagten konzentriert wird. 166 Auch die in Hinblick auf die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Patentverletzungsklagen noch zu erörternde spider in the web-Doktrin der niederländischen Gerichte verlangt nach der Ermittlung

165

In diese Richtung geht wohl der Sachvortrag der Beklagten im Verfahren vor dem LG Dortmund, wobei nicht im Einzelnen bekannt ist, welche konkreten Indizien vorgetragen werden (LG Dortmund v. 25.4.2013, GRUR Int. 2013, 842, Rn. 25). 166 Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 136 f.; Donzallaz, La Convention de Lugano, Rn. 5480. Beide Autoren differenzieren zwischen Haupt- und Nebenanspruch, sodass etwa in Fällen der akzessorischen Haftung die Verfahrenskonzentration nur am Wohnsitz des Hauptschuldners zulässig ist.

A. Die Anforderungen an die Ankerklage

133

eines Hauptbeklagten (key defendant) unter Berücksichtigung des Einflusses der Patentverletzer auf das streitgegenständliche Geschehen.167 Zwar trägt die Bildung einer Rangordnung der Beklagten ebenfalls zur Verringerung der Missbrauchsgefahr des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei, da völlig unbedeutende Ansprüche vom Kläger nicht länger zur Verfahrenskonzentration an einem Wohnsitzgericht genutzt werden könnten.168 Die Gewichtung der einzelnen allgemeinen Gerichtsstände der Beklagten ist jedoch systemfremd, da Art. 6 Nr. 1 EuGVVO eine einheitliche Entscheidung der Klagen gerade unabhängig vom angerufenen Wohnsitzgericht herbeiführen möchte. 169 Eine derart weitreichende Veränderung der Ausgestaltung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft sieht sich darüber hinaus dem Vorwurf ausgesetzt, die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung zu überschreiten.170 Schließlich würde die Notwendigkeit zur Ermittlung eines Hauptbeklagten den rechtssicheren Umgang mit Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wesentlich erschweren. 171 Denn die Lokalisierung des key defendants in der Zuständigkeitsprüfung erwiese sich in Ermangelung hinreichend konkreter Differenzierungskriterien äußerst schwierig. Anders als bei der im Patentrecht zum Einsatz kommenden spider in the web-Doktrin, die eine Verfahrenskonzentration gegenüber mehreren Konzerngesellschaften nur am Sitz der Muttergesellschaft erlaubt, könnte im Rahmen der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO außerhalb von Konzernsachverhalten nicht einmal auf die Konzernstruktur als einen ausschlaggebenden Faktor zurückgegriffen werden. Es wäre folglich nicht ausgeschlossen, dass es bereits in der Zulässigkeit zu widersprechenden Entscheidungen mitgliedstaatlicher Gerichte über den Status des Ankerbeklagten als Hauptbeklagter käme. Im schlechtesten Fall könnte das Erfordernis gar dazu führen, dass dem Kläger am Ende überhaupt kein Ankerbeklagter mehr zur Verfügung steht. Das Kriterium des key defendant ist als Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO somit abzulehnen. Die herausgehobene Stellung der Ankerklage für die Zuständigkeitsbegründung muss sich im materiell-rechtlichen Verhältnis der zugrundeliegenden Ansprüche nicht wiederfinden. 167 Grundlegend Gerechtshof Den Haag v. 23.4.1998, [1999] F.S.R. 352 (englische Übersetzung des Urteils). Eingehend zur spider in the web-Doktrin noch auf S. 220 f. 168 Vgl. Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 135 f. 169 So bereits Geimer, WM 1979, 350, 359, der sich ebenfalls gegen eine solche Differenzierung der Klagen ausspricht. 170 Bodson, RDIDC 2007, 447, 472; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 31; kritisch auch Fawcett/Torremans, Intellectual Property and Private International Law, Rn. 5.125. 171 Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 92.

134

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

V. Zusammenfassung der Anforderungen an die Ankerklage Auf „objektivem Wege“ kann dem Missbrauch des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ein Riegel vorgeschoben werden, indem die Tauglichkeit der Ankerklage zur Herbeiführung der Verfahrenskonzentration von besonderen Anforderungen abhängig gemacht wird. In Hinblick auf die Erfolgsaussichten in der Zulässigkeit ist zu verlangen, dass die Ankerklage nicht offenkundig kraft Gesetzes unzulässig ist. Bezüglich der Beurteilung der Erfolgsaussichten in der Begründetheit ist zu differenzieren: Einerseits muss nach einer überschlägigen Beurteilung der Rechtslage eine realistische Chance auf die Verurteilung des Ankerbeklagten bestehen. Andererseits muss das Gericht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die vom Kläger zur Begründung der Ankerklage vorgetragenen Tatsachen der Wirklichkeit entsprechen. Daneben ließe sich der missbräuchlichen Anrufung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft durch die Einschränkung des Grundsatzes der perpetuatio fori begegnen. Aufgrund der damit verbundenen prozessökonomischen Nachteile sollte die einmal begründete Zuständigkeit jedoch nur in sehr engen Grenzen entfallen. Voraussetzung ist, dass die Ankerklage unmittelbar nach ihrer Erhebung wieder zurückgenommen wird und die Annexbeklagten weitergehende Indizien vortragen, dass der Kläger das Verfahren von vornherein nicht mit dem Ankerbeklagten zu Ende führen wollte, weil über die wesentlichen Punkte bereits eine vergleichsweise Einigung bestand. Vollständig abzulehnen ist schließlich die systemfremde Einschränkung des key defendants, wonach die Verfahrenskonzentration lediglich am Sitz des Hauptbeklagten erfolgen darf.

B. Der subjektive Missbrauchsvorbehalt B. Der subjektive Missbrauchsvorbehalt

Als weitere Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO kommt ein eigenständiger Missbrauchseinwand des Beklagten in Betracht, der dem Kläger die Anrufung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft immer dann versagt, wenn die Erhebung der Ankerklage von der Absicht getragen wird, „sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden.“172 Der eigenständige Missbrauchsvorbehalt knüpft nach dem hier zugrundegelegten Verständnis also ausschließlich 172 EuGH v. 14.12.2000, Rs. C-110/1999 (Emsland-Stärke/Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, Rn. 54.

B. Der subjektive Missbrauchsvorbehalt

135

an die Motivlage des Klägers bei der Klageerhebung an. Im nachfolgenden Abschnitt werden zunächst die vom EuGH zu dieser Restriktion getroffenen Aussagen analysiert (dazu unter I.). Sodann wird die Resonanz der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Schrifttum dargestellt (dazu unter II.). Abschließend werden methodische Defizite, inhaltliche Bedenken und praktische Schwierigkeiten gegen die Einführung des eigenständigen Missbrauchseinwands eingewendet, um die hier vertretene Ablehnung der Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO „auf subjektivem Wege“ zu begründen (dazu unter III.). I.

Aussagen des EuGH

Die Debatte um einen eigenständigen Missbrauchsvorbehalt für Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ist vor allem durch zwei in entgegengesetzte Richtungen deutende Aussagen des EuGH in den Judikaten Reisch Montage und Freeport beflügelt worden. Zunächst schienen sich die Richter in Luxemburg für die Restriktion begeistern zu können, wurde der geschriebenen Missbrauchsvorbehalt des Art. 6 Nr. 2 Hs. 2 EuGVVO, wonach der Gerichtsstand der Gewährleistungs- und Interventionsklage nicht eröffnet ist, wenn „die Klage nur erhoben worden ist, um diese Person dem für sie zuständigen Gericht zu entziehen,“ in der Reisch Montage-Entscheidung doch wortlautgetreu zur Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO herangezogen. 173 Ob der Missbrauchsvorbehalt damit eine eigenständige Funktion neben dem Konnexitätserfordernis bekommen sollte, 174 ging aus den Ausführungen des Gerichtshofs allerdings nicht eindeutig hervor. 175 In der später ergangenen Freeport-Entscheidung lehnte der Gerichtshof die eigenständige Prüfung des Missbrauchs der Vorschrift dann ausdrücklich ab. Da das Konnexitätserfordernis gerade zur Vorbeugung einer missbräuchlichen Zuständigkeitserschleichung geschaffen worden sei, müsse nicht in einer zusätzlichen Prüfung festgestellt werden, dass eine Klage nicht nur erhoben worden ist, um einen der Beklagten den Gerichten seines Wohnsitzstaates zu entziehen.176 173

EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 32. Vgl. auch schon EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 8 f. 174 So Althammer, IPRax 2008, 228, 231. 175 So Mansel/Thorn/R. Wagner, IPRax 2009, 1, 12. 176 EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I8319, Rn. 52 ff. Generalanwalt Mengozzi war dagegen der Auffassung, die Konnexität der Klagen begründe lediglich die widerlegliche Vermutung, dass der Kläger vom Gerichtsstand der Streitgenossenschaft keinen betrügerischen Gebrauch gemacht

136

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

II. Echo in der Literatur Die Absage der Freeport-Entscheidung an den eigenständigen Missbrauchsvorbehalt für Art. 6 Nr. 1 EuGVVO stößt im Schrifttum auf ein buntes Echo. Keinen Beifall erntet die in den gegensätzlichen Judikaten zum Ausdruck kommende Sprunghaftigkeit des Gerichtshofs. 177 Während manche Autoren die Auffassung des Gerichtshofs jedoch zumindest im Ergebnis begrüßen mit der Begründung, dass das Konnexitätserfordernis bereits im Jenard-Bericht mit der Verhinderung des Missbrauchs der Vorschrift in Verbindung gebracht worden sei,178 hätten andere eine Bestätigung der Entscheidung Reisch Montage vorgezogen, um den Missbrauchseinwand als Absicherung für die Beklagtenrechte zu erhalten. 179 Bei der Gegenüberstellung der verschiedenen Lager gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass die zum Missbrauchsvorbehalt vertretenen Auffassungen nicht losgelöst von der jeweiligen Positionierung hinsichtlich anderer Einschränkungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bewertet werden können. Wer dem Missbrauch der Vorschrift bereits mithilfe spezieller Anforderungen an die Ankerklage begegnet, wird die damit verbundene Stärkung der Beklagtenrechte bei der Beurteilung der Notwendigkeit zur Einführung eines subjektiven Missbrauchsvorbehalts in Rechnung stellen. III. Ablehnung eines subjektiven Missbrauchsvorbehalts Auch die nachfolgende Ablehnung des subjektiven Missbrauchsvorbehalts des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO sollte im Kontext der bereits aufgestellten Anforderungen an die Ankerklage verstanden werden.

hat, könne die Gefahr des Missbrauchs aber alleine nicht vollkommen beseitigen (GA Mengozzi, Schlussanträge v. 24.5.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 60 f.). 177 Pointiert Althammer, IPRax 2008, 228, 231: „‚Echternachter Springfolge‘ – drei Schritte vor und zwei zurück“. 178 Althammer, IPRax 2008, 228, 231 mit Verweis auf Jenard-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/26. Der Freeport-Entscheidung in diesem Punkt ebenfalls zustimmend Mansel/Thorn/R. Wagner, IPRax 2009, 1, 12; Schack, IZVR, Rn. 409; Würdinger, ZZPInt. 12 (2007), 221, 226 f. 179 Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 94 f.; ähnlich Scott, LMCLQ 2008, 113, 117 f.; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 440; kritsch auch Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 15.

B. Der subjektive Missbrauchsvorbehalt

137

1. Methodische Defizite bei der Herleitung des Missbrauchsvorbehalts Die eigenständige Missbrauchskontrolle des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO stößt zunächst auf beträchtliche methodische Defizite, da ihre Herleitung weder mithilfe von Art. 6 Nr. 2 Hs. 2 EuGVVO noch mithilfe eines allgemeinen Missbrauchsverbots im europäischen Zivilprozessrecht gelingt. a) Keine analoge Anwendung des Art. 6 Nr. 2 Hs. 2 EuGVVO Möchte man die eigenständige Missbrauchskontrolle des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf die analoge Anwendung des geschriebenen Missbrauchsvorbehalts des Art. 6 Nr. 2 Hs. 2 EuGVVO stützen,180 so drängt sich die Frage auf, ob gegen diesen dogmatischen Anknüpfungspunkt nicht argumentum e contrario streitet, dass der Verordnungsgeber bewusst nicht alle Ziffern des Art. 6 EuGVVO mit einem Missbrauchsvorbehalt ausgestattet hat. 181 Die Rechtsfortbildung im Wege des Analogieschlusses setzt die Planwidrigkeit der getroffenen Regelung voraus. 182 Ob eine Vorschrift des europäischen Sekundärrechts die Grundlage eines Analogieschlusses bildet, ist aus der Perspektive des Gemeinschaftsgesetzgebers zu beantworten und hängt davon ab, inwieweit dieser eine abschließende Regelung treffen wollte.183 Gegen die Planwidrigkeit der Regelungslücke spricht, dass der Missbrauchsvorbehalt weder bei der Übersetzung des Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ in die EuGVVO noch im Zuge der jüngsten Neufassung der Verordnung in den Tatbestand der Vorschrift integriert wurde.184 Auch die Vergleichbarkeit der zugrundeliegenden Interessenlage ist zu verneinen, da der Beklagtenschutz in den beiden Ziffern des Art. 6 EuGVVO unterschiedlich ausgestaltet wurde: Art. 6 Nr. 2 EuGVVO ist grundsätzlich auf alle Gewährleistungs- und Interventionsklagen anwendbar, sodass eine gesonderte Missbrauchsprüfung notwen180

So etwa GA Mengozzi, Schlussanträge v. 24.5.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/ Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 64; Donzallaz, La Convention de Lugano, Rn. 5472. Geier, Streitgenossenschaft, 88 f.; König, RZ 1997, 240, 241; Fasching/ Konecny/Simotta, Art. 6 EuGVVO, Rn. 31; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 42. 181 Würdinger, ZZPInt. 11 (2006), 181, 187; ähnlich Pataut, Rev. crit. dr. int. priv. 96 (2007), 848, 852, 855 f.; siehe auch die Stellungnahme der französischen Regierung in EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 19. 182 Neuner, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre, 373, 385. 183 Neuner, in: Riesenhuber (Hg.), Europäische Methodenlehre, 373, 386. 184 Althammer, IPRax 2008, 228, 231 (in Bezug auf den Übergang des EuGVÜ in die EuGVVO).

138

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

dig ist,185 wohingegen der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nur für die gemeinsame Verhandlung konnexer Klagen zur Verfügung steht.186 Die Voraussetzungen der analogen Anwendung des Missbrauchsvorbehalts des Art. 6 Nr. 2 EuGVVO sind folglich nicht gegeben.187 b) Allgemeines Missbrauchsverbot im europäischen Zivilprozessrecht? Die Missbrauchsschranke des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO lässt sich auch nicht mithilfe eines allgemeinen Verbots des Missbrauchs der Vorschriften der EuGVVO begründen, da weder der Verordnungstext noch die Rechtsprechung des EuGH hierfür eine Stütze bieten. 188 Im Gegenteil: Wie nicht zuletzt die Freeport-Entscheidung zeigt, nimmt der EuGH von einer einzelfallbezogenen Beschränkung der Zuständigkeitsgründe Abstand, da er um die einheitliche Anwendung und den effet utile der Vorschriften der EuGVVO fürchtet.189 In der Tat wäre mehr Schaden als Nutzen angerichtet, wenn die nationalen Gerichte unter Berufung auf einen „holzschnittartigen“ Missbrauchsvorbehalt nach Belieben ihre Zuständigkeit verneinen könnten.190 Zum derzeitigen Stand fehlt es aber an einer ausreichenden Konturierung des allgemeinen Missbrauchsvorbe-

185 Dadurch sollen insbesondere Fälle ausgeschlossen werden, in denen der Kläger im Zusammenwirken mit dem Hauptbeklagten eine Zuständigkeit im Forum des Hauptprozesses künstlich herstellt (Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 21; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 426). 186 Jenard-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/26. 187 So auch Althammer, IPRax 2008, 228, 231. 188 Thole, ZZP 122 (2009), 423, 428 f.; Briggs, in: Féria/Vogenauer (Hg.), Prohibition of the Abuse of Law, 261, 263 ff.; Stein/Jonas/G. Wagner, Einl. vor Art. 2 EuGVVO, Rn. 42. A.A. Cuniberti, in: Féria/Vogenauer (Hg.), Prohibition of the Abuse of Law, 279, 282 ff., der zumindest Ansätze der Begründung eines allgemeinen Missbrauchsvorbehalts in der Rechtsprechung des EuGH zum europäischen Zuständigkeitsrecht erkennen will. Zur Entwicklung des allgemeinen Missbrauchsvorbehalts auf anderen Gebieten des Gemeinschaftsrechts siehe Thole, ZZP 122 (2009), 423, 434 ff. 189 Deutlich etwa EuGH v. 9.12.2003, Rs. C-116/2002 (Erich Gasser/MISAT), Slg. 2003, I-14693, Rn. 53: „Schließlich können Schwierigkeiten […], die sich daraus ergeben, dass Parteien in dem Wunsch, die Sachentscheidung zu verzögern, Klage bei einem Gericht erheben, dessen Unzuständigkeit ihnen […] bekannt ist, die Auslegung einer Bestimmung des Brüsseler Übereinkommens […] nicht in Frage stellen.“ Dazu treffend Briggs, in: Féria/Vogenauer (Hg.), Prohibition of the Abuse of Law, 261, 263: „If there was ever going to be a clearer refutation of […] abuse, […] this was it“. 190 Plastisch Thole, ZZP 122 (2009), 423, 437.

B. Der subjektive Missbrauchsvorbehalt

139

halts,191 um daraus die Voraussetzung einer eigenständigen Missbrauchskontrolle des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO abzuleiten.192 2. Inhaltliche Bedenken bei der Anwendung des Missbrauchsvorbehalts Zu den methodischen Defiziten bei der Herleitung des eigenständigen Missbrauchs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gesellen sich die im Zuständigkeitsrecht gegenüber subjektiven Kriterien bestehenden inhaltlichen Bedenken. Grundvoraussetzung einer zuverlässigen Missbrauchskontrolle ist, dass sich Verbotenes von Erlaubtem sauber trennen lässt. Zwischen der unzulässigen Zuständigkeitserschleichung und dem rechtspolitisch unerwünschten, gleichwohl aber nicht missbräuchlichen forum shopping verlaufen die Grenzen jedoch fließend.193 Ob die Missbrauchskontrolle zum Schutz des Beklagten anschlägt, lässt sich somit kaum anhand abstrakter Vorgaben bestimmen.194 Die Beweggründe des Klägers bei der 191 Pessimistisch Thole, ZZP 122 (2009), 423, 433: „Für das Gemeinschaftsrecht ergibt der Blick auf den status quo jedenfalls ein dürftiges Bild“. 192 A.A. Grothe, FS Kerameus 2009, 469, 478, der den Missbrauchsvorbehalt als „allgemeingültiges Prinzip“ versteht, ohne dessen allgemeine Geltung jedoch herzuleiten. Der Verweis auf EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565 überzeugt m.E. nicht, da zur Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in dieser Entscheidung gerade nicht auf einen Missbrauchsvorbehalt, sondern auf das Konnexitätserfordernis rekurriert wurde. Instruktiv Briggs, in: Féria/Vogenauer (Hg.), Prohibition of the Abuse of Law, 261, 265: „By its judgment in Kalfelis, the court said ‘On a true construction of its words, Article 6(1) does not apply on facts such as these, so Article 2 does’. It did not say ‘Article 6(1) could apply in a case like this, but it is an abuse for you, the claimant, to rely on it, so you may not’. Kalfelis did not really assist the argument that there is a role for a doctrine of abuse of rights“. 193 Thole, ZZP 122 (2009), 423, 425. Zum Begriff des forum shopping siehe Kropholler, in: Max-Planck-Institut (Hg.), Handbuch IZVR, Bd. 1, Kap. III, Rn. 159: „Von ‘forum shopping’ spricht man im Anschluss an einen amerikanischen Sprachgebrauch, wenn der Kläger das Forum berechnend auswählt“. Siehe auch GA Colomer, Schlussanträge v. 16.3.1999, Rs. C-440/1997 (GIE Groupe Concorde/ Kapitän des Schiffes „Suhadiwarno Panjan“ u.a.), Slg. 1999, I-6307, Rn. 19, Fn. 10: „Wahl eines Gerichtsstands je nach den Vorteilen, die sich aus dem dort angewandten materiellen (oder auch Verfahrens-)Recht ableiten lassen“. Zur Zulässigkeit eines so verstandenen forum shopping vgl. insbesondere GA Mengozzi, Schlussanträge v. 24.5.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 53: „Einer Person, die eine Klage innerhalb des ‚europäischen Rechtsraums‘ erheben will, [kann] nicht verboten werden […], die ihr von dieser Regelung eröffneten Möglichkeiten zu gebrauchen, um unter Beachtung der darin aufgestellten Regeln das Gericht auszuwählen, das ihr am besten passt“. 194 Treffend zur EuGVVO Pietrini, L’action collective, Rn. 695: „Le nombre considérable de chefs de compétence […] favorise le forum shopping et il ne sera pas toujours chose aisée de destinguer le shopping bonus du shopping malus“.

140

Kapitel 3: Die Bekämpfung der Zuständigkeitserschleichung

Begründung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft zu berücksichtigen, würde folglich eine erhebliche Rechtsunsicherheit in die Prüfung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO tragen, was der Zuständigkeitsklarheit abträglich ist.195 3. Praktische Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Missbrauchsvorbehalts Im Lichte der eigentlichen Zielsetzung der Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, den Beklagten vor einer unberechtigten Inanspruchnahme im Ausland zu schützen, erscheint zudem besonders misslich, dass der Beklagte für den Missbrauchseinwand die Beweislast trägt.196 Die Motive des Klägers für die Anrufung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft können nämlich nur überprüft werden, wenn sie in gerichtsverwertbarer Weise dokumentiert wurden. 197 Daraus erwächst die praktische Schwierigkeit, dass die Arglist des Klägers für den Beklagten selten nachweisbar sein wird.198 Bestes Beispiel bietet der Sachverhalt der Rechtssache Reisch Montage: Obwohl die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegenüber dem Beklagten Gisinger zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits öffentlich bekanntgemacht worden war, die Ankerklage wegen Unzulässigkeit also offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hatte, waren nach Auffassung des EuGH keine missbräuchlichen Beweggründe des Klägers für die Erhebung der Ankerklage ersichtlich.199 IV. Fazit zum subjektiven Missbrauchsvorbehalt Der subjektive Missbrauchsvorbehalt ist nicht geeignet, Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zum Schutz des Beklagten einzuschränken: Methodisch fehlt 195

So bereits GA Darmon, Schlussanträge v. 15.6.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 7; ihm folgend Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 135; Würdinger, ZZPInt. 12 (2007), 221, 226 f.; Althammer, IPRax 2008, 228, 231; Scott, LMCLQ 2008, 113, 118. 196 Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 148. 197 Mäsch, IPRax 2005, 509, 513. 198 Althammer, IPRax 2008, 228, 231; Mäsch, IPRax 2005, 509, 513; Maier, Marktortanknüpfung, 173; Würdinger, ZZPInt. 11 (2006), 181, 187. 199 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 32. Auch der Österreichische Oberste Gerichtshof stellte als Reaktion auf die Antwort des EuGH fest, dass die positive Kenntnis der Klägerin von der Eröffnung des Konkursverfahrens bei Klageerhebung nicht bewiesen sei und eine fahrlässige Unkenntnis jedenfalls nicht ausreiche, um eine missbräuchliche Klageführung zu begründen (OGH v. 11.8.2006, SZ 2006, 119, 120). Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 41 nennt die Auffassung des EuGH in diesem Punkt „mehr als blauäugig“.

C. Ergebnis

141

ein Anknüpfungspunkt zur stringenten dogmatischen Herleitung. Inhaltlich verhindert die Rechtsunsicherheit subjektiver Kriterien die zuverlässige Anwendung. Praktisch erschweren Beweisschwierigkeiten die erfolgreiche Durchsetzung.

C. Ergebnis C. Ergebnis

Zur Bekämpfung des Missbrauchs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO empfiehlt sich die Aufstellung spezieller Anforderungen an die Ankerklage. Demgegenüber ist der Rückgriff auf einen weiteren subjektiven Missbrauchsvorbehalt abzulehnen. Die Ankerklage darf nicht offenkundig kraft Gesetzes unzulässig sein. Ferner muss bei einer überschlägigen Beurteilung der Rechtslage eine realistische Chance auf ihre Begründetheit bestehen. Schließlich sollte das Gericht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der zugrundeliegende Tatsachenvortrag des Klägers der Wirklichkeit entspricht. Das nachträgliche Entfallen der Rechtshängigkeit der Ankerklage sollte nur in Ausnahmefällen zu einer Einschränkung des Grundsatzes der perpetuatio fori führen. Die Ankerklage muss unmittelbar nach ihrer Erhebung wieder zurückgenommen werden. Außerdem müssen die Ankerbeklagten Indizien vorbringen, dass der Kläger, etwa aufgrund einer vorherigen außergerichtlichen Einigung, von vornherein kein Interesse an einer Rechtsverfolgung gegen den Ankerbeklagten hatte. Vollständig abzulehnen ist schließlich die dritte Möglichkeit der Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf „objektivem Wege“, wonach die Verfahrenskonzentration lediglich am key defendants Sitz zulässig sein soll.

Kapitel 4

Wohnsitz der Streitgenossen und Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO Im vierten Kapital wird zunächst das über das Verhältnis zum nationalen Zuständigkeitsrecht entscheidende Kriterium des Wohnsitzes der Streitgenossen beleuchtet. Danach wird der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft von den übrigen Gerichtsständen der EuGVVO abgegrenzt.

A. Wohnsitz der Streitgenossen A. Wohnsitz der Streitgenossen

Im Anwendungsbereich der EuGVVO darf das angerufene Gericht zur Begründung der internationalen Zuständigkeit nicht auf die nationalen Zuständigkeitsregeln der lex fori zurückgreifen. 1 Einzelstaatliche Bestimmungen zur örtlichen Zuständigkeit sind nur dort zum Einsatz zu bringen, wo die Verordnung den Rechtsstreit nicht einem konkreten Gericht („vor dem Gericht des Ortes“) zuweist.2 Aufgrund des Anwendungsvorrangs der Verordnung wird das Verhältnis des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu den Zuständigkeitsregeln der nationalen Prozessordnungen also durch den Anwendungsbereich der Vorschrift selbst determiniert. Während die Bestimmung des sachlichen3 und zeitlichen4 Anwendungsbereichs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO keine Schwierigkeiten bereitet, wirft die Konkretisierung des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs der Vorschrift zahlreiche Fragen auf. Die Eröffnung des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wird durch das Kriterium des Wohnsitzes der 1

MünchKommZPO/Gottwald, Art. 2 EuGVVO, Rn. 8. Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 5 Brüssel I-VO, Rn. 4. 3 Die Zuständigkeit gilt für sämtliche Klagearten (Leistungs-, Feststellungs- und Gestaltungsklagen) (Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 4) in Zivilund Handelssachen (siehe Art. 1 Abs. 1 EuGVVO). 4 In der jetzigen Fassung gilt die Verordnung für alle Klagen, die nach ihrem Inkrafttreten am 1.3.2002 erhoben worden sind (Art. 66 EuGVVO). Die wortgleiche Nachfolgervorschrift des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO n.F. gilt für Klagen, die ab dem 10.1.2015 erhoben werden (Art. 66 Abs. 1 EuGVVO n.F.). 2

A. Wohnsitz der Streitgenossen

143

Streitgenossen bestimmt. Voraussetzung ist, dass mindestens einer der Beklagten auf dem Gebiet eines Mitgliedstaates ansässig ist. Für die Bestimmung des Wohnsitzes des Ankerbeklagten sind die Art. 59, 60 EuGVVO maßgeblich. Nach Art. 59 Abs. 1 EuGVVO ist der Wohnsitz natürlicher Personen nach den Sachnormen des angerufenen Gerichts zu ermitteln; in Deutschland gelangen die §§ 7 ff. BGB zur Anwendung. Den Sitz juristischer Personen regelt die Verordnung dagegen selbst. Laut Art. 60 EuGVVO stehen dem Kläger der satzungsmäßige Sitz, der Ort der Hauptverwaltung oder der Ort der Hauptniederlassung zur Wahl. Da die Erhebung der Ankerklage nach dem klaren Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO nur am Wohnsitz eines der Streitgenossen vorgesehen ist, lehnt es der EuGH zu Recht ab, das forum connexitatis allein aufgrund des Sachzusammenhangs der Klagen an einem anderen Gerichtsort, etwa an einem der besonderen Gerichtsstände des Art. 5 EuGVVO, zu eröffnen.5 Personen aus Drittstaaten können somit keinesfalls als Ankerbeklagte fungieren. Hinsichtlich des Annexbeklagten schreiben die Eingangsworte des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO vor, dass der zur gemeinsamen Verhandlung hinzugezogene Streitgenosse „eine Person [ist], die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat.“ Klassischer Anwendungsfall des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ist die Konzentration von Klagen, die gegenüber Streitgenossen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten erhoben werden. Unstreitig eröffnet ist der persönliche Anwendungsbereich der Vorschrift beispielsweise, wenn der Kläger A den in Hamburg ansässigen B am Wohnsitz des C in Madrid verklagt. Schwierigkeiten bereitet die Bestimmung des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO dagegen, wenn die Vorschrift gegenüber Annexbeklagten mit Wohnsitz im Gerichtsstaat (dazu sogleich unter I.) oder in einem Drittstaat (dazu später unter II.) zum Einsatz kommen soll. I.

Internationale Wohnsitzgleichheit der Streitgenossen

Problematisch gestaltet sich die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zunächst in Konstellationen vollständiger oder partieller Wohnsitzgleichheit, d.h. wenn alle oder zumindest ein Teil der Annexbeklagten

5

EuGH v. 27.10.1998, Rs. C-51/1997 (Réunion européenne/Spliethoff’s Bevrachtingskantoor und Kapitän des Schiffes „Alblasgracht V002“), Slg. 1998, I-6511, Rn. 48 ff.; GA Cosmas, Schlussanträge v. 5.2.1998, Rs. C-51/1997 (Réunion européenne/Spliethoff’s Bevrachtingskantoor und Kapitän des Schiffes „Alblasgracht V002“), Slg. 1998, I-6511, Rn. 93 ff.

144

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

im Gerichtsstaat, d.h. in dem Wohnsitzstaat des Ankerbeklagten, ansässig sind. 1. Vollständige internationale Wohnsitzgleichheit Die vollständige internationale Wohnsitzgleichheit besteht beispielsweise, wenn A den in Hamburg wohnhaften B und den in Augsburg wohnhaften C in Hamburg oder Augsburg gemeinsam verklagt. In Hinblick auf das Verhältnis zum nationalen Zuständigkeitsrecht ist in einem solchen Fall problematisch, dass Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber dem jeweiligen Annexbeklagten allein die örtliche Zuständigkeit regelt. Teile der Literatur und Rechtsprechung wollen die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft in dieser Konstellation davon abhängig machen, ob ein reiner Inlandssachverhalt vorliegt oder ob, etwa aufgrund eines auswärtigen Wohnsitzes des Klägers, ein irgendwie gearteter Auslandsbezug gegeben ist. 6 Zur Begründung wird einerseits auf den Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO rekurriert, der die internationale Wohnsitzverschiedenheit der Beklagten nicht ausdrücklich verlangt.7 Andererseits wird der Gedanke der Prozessökonomie ins Feld geführt, wonach die Verfahrenskonzentration mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO dem umständlichen Verfahren der Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO vorzuziehen sei.8 Gegen die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Beklagten aus dem Gerichtsstaat streitet jedoch auch in Fällen mit Auslandsberührung, dass die Regelungswirkung der Vorschrift nicht auf die örtliche Zuständigkeit begrenzt bleiben darf. Im Interesse eines funktionierenden Binnenmarkts stand bei der Vereinheitlichung des europäischen Zuständigkeitsrechts nämlich im Vordergrund, die Unterschiede in den Regelungen der internationalen Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Prozessordnungen zu beseitigen.9 Zwar regeln die besonderen 6 KG v. 9.4.2001, IPRax 2002, 515; Fasching/Konecny/Simotta, Art. 6 EuGVVO, Rn. 14; Schweizer BGE v. 9.10.2007, 134 III 27, 29 (zum LugÜ); Geier, Streitgenossenschaft, 68 f. (zum LugÜ); Borla-Geier, ZZZ 2007, 523, 525 (zum LugÜ). Für die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ auf reine Inlandssachverhalte O’Malley/ Layton, European Civil Practice, N 17.76. 7 Geier, Streitgenossenschaft, 69 (zum LugÜ). 8 KG v. 9.4.2001, IPRax 2002, 515; Fasching/Konecny/Simotta, Art. 6 EuGVVO, Rn. 16. 9 Der zweite Erwägungsgrund der EuGVVO lautet: „Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen erschweren das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Es ist daher unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vor-

A. Wohnsitz der Streitgenossen

145

Gerichtsstände der EuGVVO zusätzlich zur internationalen teilweise auch die örtliche Zuständigkeit. Die Regelung auch der örtlichen Zuständigkeit fußt aber auf dem Gedanken, dass der Verweis allein auf die internationale Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaates leerliefe, wenn dem nationalen Prozessrecht der entsprechende Gerichtsstand unbekannt ist.10 Die Regelung nur der örtlichen Zuständigkeit stellt demgegenüber einen von der Verordnung nicht vorgesehenen Eingriff in die zivilprozessualen Zuständigkeitssysteme der Mitgliedstaaten dar. Im oben genannten Beispiel unterliefe die Verfahrenskonzentration auf Zuständigkeitsebene etwa die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, keine allgemeine Streitgenossenzuständigkeit in die ZPO aufzunehmen.11 Die vorgeschlagene Differenzierung zwischen reinen Inlandssachverhalten und Sachverhalten mit Auslandsberührung vermengt im Übrigen zwei Fragen, die sich zwar thematisch nahe stehen, gleichwohl aber getrennt voneinander zu betrachten sind. Dass die Verfahrenskonzentration gegenüber Beklagten aus dem Gerichtsstaat im Falle eines irgendwie gearteten Auslandsbezugs des Sachverhalts für zulässig erachtet wird, scheint nämlich an die Auffassung gekoppelt, dass auch die Eröffnung des Anwendungsbereichs der EuGVVO insgesamt an das Bestehen eines Auslandsbezugs geknüpft ist.12 Wer zur Anwendung der Verordnung einen irgendwie gearteten Auslandsbezug des Sachverhalts voraussetzt, der muss bei dessen Bestehen aber nicht zwangsläufig auch den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft eröffnen. Umgekehrt gilt, dass wer die Verordnung insgesamt auch auf reine Inlandssachverhalte anwenden will, für den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft die internationale Wohnsitzverschiedenheit der Beklagten trotzdem fordern

schriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen […]“. 10 Der Jenard-Bericht zum EuGVÜ nennt als Beispiel, dass das niederländische Recht keinen Gerichtsstand des Erfüllungsortes kenne, sodass eine Angleichung des niederländischen Rechts erforderlich wäre, wenn Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ nur auf die internationale Zuständigkeit der Gerichte im Staat des Erfüllungsorts verwiese (vgl. Jenard-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/22). 11 Vossler, IPRax 2007, 281, 283; Lüthi, System, Rn. 66 (zum LugÜ). Umgekehrt steht es dem deutschen Gesetzgeber frei, einen allgemeinen Gerichtsstand der Streitgenossenschaft in die ZPO aufzunehmen (vgl. Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 423, Fn. 581). 12 Zum Streit über die Anwendung des europäischen Zuständigkeitsrechts auf reine Inlandssachverhalte eingehend Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 90 ff.

146

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

darf. 13 Ein Gleichlauf des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs der EuGVVO mit dem des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft ist insoweit nicht erforderlich. Gegen die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Personen aus dem Gerichtsstaat spricht schließlich, dass die Eingangsworte des Art. 5 EuGVVO „kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden“ in Art. 6 Nr. 1 EuGVVO hineingelesen werden müssen. 14 Obwohl die Gleichbehandlung der Art. 5 und 6 EuGVVO bisweilen mit dem Argument zurückgewiesen wird, die Eingangssätze der beiden Vorschriften seien bewusst anders formuliert worden,15 schafft die Verwendung des Wortes „auch“ in Art. 6 Nr. 1 EuGVVO eine systematische Verbindung zum vorstehenden Art. 5 EuGVVO.16 Die Gleichbehandlung der besonderen Gerichtsstände legt zudem Art. 3 Abs. 1 EuGVVO nahe, demzufolge die Abschnitte 2–7 der EuGVVO regeln, wann eine Person „vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats“ verklagt werden darf. 17 Schließlich wird das Erfordernis des auswärtigen Wohnsitzes des Annexbeklagten durch die Erklärung im Jenard-Bericht gestützt, dass die „Artikel 5 und 6 […] eine Reihe von Fällen [auf]zählen, in denen eine Person im Hoheitsgebiet eines anderen Vertragsstaates als dem ihres Wohnsitzstaates verklagt werden kann“.18 Die überzeugenderen Argumente sprechen somit gegen die Zulässigkeit der Verfahrenskonzentration in Fällen der vollständigen internationalen Wohnsitzgleichheit der Beklagten.19 13

Für eine Trennung der beiden Fragen auch Lüthi, System, Rn. 65 (zum LugÜ). Vgl. auch Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 23 Brüssel I-VO, Rn. 6, der die Frage nach dem Anwendungsbereich einzelner Gerichtsstände und die Frage nach dem Anwendungsbereich der Verordnung im Kontext des Art. 23 EuGVVO als „benachbart“ bezeichnet. 14 Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 3; Kropholler/von Hein, EuZPR, vor Art. 5 EuGVO, Rn. 4; Albicker, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, 123 f. 15 So Vossler, IPRax 2007, 281, 283; Geier, Streitgenossenschaft, 69 (zum LugÜ). 16 Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 4. 17 Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 100. 18 Jenard-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/22. 19 GA Colomer, Schlussanträge v. 14.3.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/ Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 27; BayObLG v. 10.11.2004, NJOZ 2005, 4360, 4361; Albicker, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, 123 f.; Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 100 f.; MünchKommZPO/ Gottwald, Art. 6 EuGVVO, Rn. 5; Junker, Internationales Zivilprozessrecht, § 12, Rn. 4; Kropholler/von Hein, EuZPR, vor Art. 5 EuGVO, Rn. 4; Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 3; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 17;

A. Wohnsitz der Streitgenossen

147

2. Partielle internationale Wohnsitzgleichheit Noch heftiger wird um die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gerungen, wenn auf Beklagtenseite lediglich eine partielle internationale Wohnsitzgleichheit besteht, etwa wenn im oben genannten Beispiel neben dem Hamburger B und dem Augsburger C zusätzlich der Pariser D vor einem der deutschen Wohnsitzgerichte verklagt werden soll.20 In dieser Konstellation hängt die Entscheidung über die Zulässigkeit der umfassenden Konzentration der Klagen in Deutschland m.E. davon ab, ob die zuständigkeitsbegründende Wirkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber den Beklagten gemeinsam oder jeweils einzeln betrachtet wird. Nur aus der erstgenannten Perspektive ließe sich nämlich die Andersbehandlung der Konstellation der partiellen internationalen Wohnsitzgleichheit gegenüber derjenigen der vollständigen internationalen Wohnsitzgleichheit rechtfertigen und zwar mit der Erwägung, dass die Vorschrift für das Verfahren insgesamt nicht allein die örtliche sondern auch die internationale Zuständigkeit regelt.21 In der Literatur wird die Anwendbarkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Beklagten aus dem Gerichtsstaat in Fällen der partiellen internationalen Wohnsitzgleichheit unter Hinweis auf den Sinn und Zweck der Vorschrift begründet.22 Es wird – veranschaulicht am soeben gebildeten Beispiel – argumentiert, dass die lediglich partielle Verfahrenskonzentration mit dem Pariser D in Hamburg oder Augsburg die getrennte Verhandlung der gegen C bzw. B erhobenen Klage notwendig macht, was den Zielen der Vorschrift zuwiderliefe.23 Für die Zulässigkeit Oetiker/Weibel/Rohner/Lerch, Art. 6 LugÜ, Rn. 25; Lüthi, System, Rn. 66 (zum LugÜ). 20 Werden die Klagen gegen die drei Streitgenossen in Paris erhoben, ist die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO dagegen unproblematisch, da eine internationale Wohnsitzdivergenz der Annexbeklagten zum Ankerbeklagten besteht. 21 Wer die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO selbst bei vollständiger internationaler Wohnsitzgleichheit der Beklagten für zulässig erachtet, wird im Falle der partiellen internationalen Wohnsitzgleichheit immer von der Zulässigkeit der Verfahrenskonzentration ausgehen. Der geforderte Auslandsbezug des Sachverhalts wird nämlich durch den ausländischen Wohnsitz eines der Streitgenossen begründet. 22 Für die Anwendbarkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Beklagten aus dem Gerichtsstaat bei einer partiellen internationalen Wohnsitzgleichheit plädieren: Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 103; Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 100 f.; MünchKommZPO/Gottwald, Art. 6 EuGVVO, Rn. 5; Rauscher/ Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 4a; Schlosser, EuZPR, Art. 6 EuGVVO, Rn. 2; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 18; zum LugÜ vgl. Dasser/ Oberhammer/T. Müller, Art. 6 LugÜ, Rn. 23; Oetiker/Weibel/Rohner/Lerch, Art. 6 LugÜ, Rn. 24. 23 Vgl. Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 4a.

148

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

der umfassenden Verfahrenskonzentration in Deutschland streite zudem, dass sowohl B als auch C gemäß Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gemeinsam mit D in Paris verklagt werden kann, sodass die gemeinsame Verhandlung im Inland erst Recht keinen unbilligen Nachteil für die im Gerichtsstaat ansässigen Beklagten begründen könne.24 Die überzeugenderen Argumente sprechen gleichwohl auch in Konstellationen der partiellen internationalen Wohnsitzgleichheit gegen die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber den Beklagten aus dem Gerichtsstaat. Zum einen gerät die darin zum Ausdruck kommende Gesamtbetrachtung der zuständigkeitsbegründenden Wirkung der Vorschrift mit dem auch im nationalen Prozessrecht geltenden Gebot der Vorhersehbarkeit in Konflikt. Der im Gerichtsstaat ansässige Annexbeklagte könnte seine Gerichtspflicht nämlich nicht mehr allein auf Grundlage des streitgenössischen Kontakts zum Ankerbeklagten prognostizieren, wenn die Existenz eines weiteren, im Ausland ansässigen Annexbeklagten die Zulässigkeit der gemeinsamen Verhandlung am Wohnsitz des Ankerbeklagten bedingte. Im erwähnten Beispiel müsste etwa der Hamburger von der Existenz des Parisers wissen, um die Zulässigkeit der gemeinsamen Verhandlung in Augsburg beurteilen zu können. Zum anderen lässt sich die Zulässigkeit der umfassenden Verfahrenskonzentration an allen Wohnsitzzuständigkeiten nicht mit dem Telos des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO befürworten. Im Zuständigkeitssystem der EuGVVO übernimmt die Vorschrift nämlich die Funktion, auf europäischer Ebene widersprechende Entscheidungen zu vermeiden. Entsprechend formuliert Erwägungsgrund 13 der Verordnung, dass „im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege Parallelverfahren so weit wie möglich vermieden werden [müssen], damit nicht in zwei Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen.“ 25 Dieses Ziel wird durch die Nichtanwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber einzelnen Beklagten aus dem Gerichtsstaat aber nicht gefährdet. So ist im erwähnten Beispiel unbeachtlich, ob die gemeinsame Verhandlung mit allen Streitgenossen in Deutschland zulässig ist oder nicht, da bereits die partielle Verfahrenskonzentration unter Einbeziehung des Parisers D gewährleistet, dass widersprechende Entscheidungen allenfalls zwischen den Gerichten in Hamburg und Augsburg ergehen können. Innerhalb eines Mitgliedstaates ist die Beförderung der ordnungsgemäßen Rechtspflege

24 25

Zu einem ähnlichen Beispiel Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 18. Hervorhebung durch den Verfasser.

A. Wohnsitz der Streitgenossen

149

aber Sache des nationalen Prozessrechts. 26 Somit ist die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers zu akzeptieren, die Verfahrenskonzentration gegenüber inländischen Beklagten mithilfe des Verfahrens der Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zu regeln. 27 Im Ergebnis scheidet die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO also auch in Fällen der partiellen internationalen Wohnsitzgleichheit aus.28 II. Drittstaatensachverhalte In Hinblick auf den räumlich-persönlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ist schließlich zu erörtern, ob der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft gegenüber Annexbeklagten mit Wohnsitz in einem Drittstaat eröffnet ist. Zu dieser Frage hat der EuGH in seiner jüngsten Entscheidung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in der Rechtssache Land Berlin Stellung bezogen.29 Im zugrundeliegenden Ausgangsfall stritten die Parteien vor dem LG Berlin über die anteilige Rückerstattung eines Geldbetrags, der nach Abschluss eines Verwaltungsverfahrens zur Wiedergutmachung eines durch die Verfolgung durch das NS-Regime bedingten Eigentumsverlustes an einem Grundstück irrtümlich ausgezahlt worden war. Klägerin war das Land Berlin, von dessen Konto die fehlerhafte Überweisung vorgenommen wurde. Zu den Beklagten zählten die Rechtsnachfolger des ursprünglichen Grundstückeigentümers und deren Rechtsanwalt, auf dessen Konto der versehentlich zu hoch bezifferte Betrag überwiesen worden war. Von den Beklagten waren fünf in Deutschland, zwei in anderen Mitgliedstaaten und vier in Israel ansässig. Gegenüber den auswärtigen Beklagten sollte die Zuständigkeit des LG Berlin mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO begründet werden.30 Der letztinstanzlich mit der 26

Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 98 f.; vgl. Lüthi, System, Rn. 72 (zum LugÜ). 27 Gegenüber dem außerhalb des Gerichtsstaates ansässigen Streitgenossen bedarf es wegen des Anwendungsvorrangs der Verordnung dagegen keines Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens (so aber BayObLG v. 25.3.1997, RIW 1997, 596). 28 BayObLG v. 25.3.1997, RIW 1997, 596; Albicker, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, 124; Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 98 ff.; Kropholler/ von Hein, EuZPR, vor Art. 5 EuGVO, Rn. 4; Lüthi, System, Rn. 73 (zum LugÜ). 29 EuGH v. 11.4.2013, Rs. C-645/2011 (Land Berlin/Sapir u.a.), EuZW 2013, 503. Die nachfolgende Stellungnahme zu der vom EuGH vertretenen Auffassung basiert zum Teil auf meiner Entscheidungsrezension Lund, IPRax 2014, 140 ff. 30 Die Frage der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Falle der partiellen Wohnsitzgleichheit der Streitgenossen wurde nicht thematisiert, da die inländischen Annexbeklagten die Zuständigkeit nicht gerügt hatten (BGH v. 18.11.2011, BeckRS 2011, 29544, Rn. 1). Das Fehlen der Rüge deutet darauf hin, dass die örtliche Zu-

150

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

Klärung der Zuständigkeitsfrage betraute BGH legte dem Gerichtshof aus diesem Grund die Frage vor, ob die Vorschrift auch gegenüber denjenigen Beklagten, die ihren Wohnsitz in einem Drittstaat haben, zur Anwendung gelangen könnte.31 Der EuGH verneinte die Vorlagefrage mit knapper Begründung: Erstens gehe aus den einleitenden Worten des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO hervor, dass die Vorschrift nur auf Beklagte mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat Bezug nehme.32 Zweitens sei Art. 6 Nr. 1 EuGVVO als besonderer Gerichtsstand eng auszulegen, sodass eine Anwendung über die ausdrücklich in der Verordnung vorgesehenen Fälle nicht zulässig sei.33 Drittens weise Art. 4 Abs. 1 EuGVVO in Einklang mit dem neunten Erwägungsgrund der Verordnung34 darauf hin, dass sich die Zuständigkeit für Personen aus Drittstaaten nach den Vorschriften des nationalen Prozessrechts richte.35 Das Urteil des EuGH markiert den Schlusspunkt einer insbesondere in der deutschen 36 Literatur und Rechtsprechung lebhaft geführten Kontroverse, um die direkte 37 oder analoge Anwendung 38 des Art. 6 Nr. 1

ständigkeit des LG Berlin gegenüber den inländischen Annexbeklagten nicht mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO begründet werden musste. 31 EuGH v. 11.4.2013, Rs. C-645/2011 (Land Berlin/Sapir u.a.), EuZW 2013, 503, Rn. 2, 17 ff. 32 EuGH v. 11.4.2013, Rs. C-645/2011 (Land Berlin/Sapir u.a.), EuZW 2013, 503, Rn. 52. 33 EuGH v. 11.4.2013, Rs. C-645/2011 (Land Berlin/Sapir u.a.), EuZW 2013, 503, Rn. 53. 34 Der neunte Erwägungsgrund lautet: „Beklagte ohne Wohnsitz in einem Mitgliedstaat unterliegen im Allgemeinen den nationalen Zuständigkeit[s]vorschriften, die im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats gelten, in dem sich das angerufene Gericht befindet, während Beklagte mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, der durch diese Verordnung nicht gebunden ist, weiterhin dem Brüsseler Übereinkommen unterliegen“. 35 EuGH v. 11.4.2013, Rs. C-645/2011 (Land Berlin/Sapir u.a.), EuZW 2013, 503, Rn. 54. 36 Die Notwendigkeit zur Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Drittstaatsansässigen wird insbesondere in Jurisdiktionen verspürt, denen der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft im nationalen Recht unbekannt ist. Neben Deutschland sind das die Länder Dänemark, Polen, Griechenland, Finnland, Malta und Schweden (Nuyts, General Study on Residual Jurisdiction, Rn. 66). Die Bestimmung des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO hat aber auch dann praktische Auswirkungen, wenn die Streitgenossenzuständigkeit einer mitgliedstaatlichen Prozessordnung die Zulässigkeit der Verfahrenskonzentration an abweichende Voraussetzungen knüpft. 37 Geimer, FS Kropholler 2008, 777, 783 f.; Geimer/Schütze/Geimer, Art. 6 EuGVVO, Rn. 7; Hölder, Durchsetzung, 52 f.

A. Wohnsitz der Streitgenossen

151

EuGVVO auf Personen aus einem Drittstaat. 39 Die zur Position des Gerichtshofs entgegengesetzte Auffassung beruft sich dabei zuvörderst auf die teleologische Erwägung, dass die Verordnung den in den Mitgliedstaaten ansässigen Personen keine umfangreicheren Gerichtspflichten auferlegen wolle als denjenigen aus einem Drittstaat.40 Die (analoge) Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO sei gerechtfertigt, um die Benachteiligung mitgliedstaatlicher Beklagter zu verhindern und die prozessökonomische Durchsetzung des Justizgewährungsanspruchs vor den europäischen Gerichten zu erleichtern.41 M.E. hat sich der Gerichtshof in der Entscheidung Land Berlin dennoch der vorzugswürdigen Ansicht angeschlossen. Denn die Argumentation mit der Gleichstellung von Personen aus Dritt- und Mitgliedstaaten führt in letzter Konsequenz zu einer von der EuGVVO nicht gewollten

38 OLG Stuttgart v. 31.7.2012, NJW 2013, 83, 85; Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 103 f.; MünchKommZPO/Gottwald, Art. 6 EuGVVO, Rn. 4; Kropholler, in: Max-Planck-Institut (Hg.), Handbuch IZVR, Bd. 1, Kap. 3, Rn. 720; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 7; Heinze, Einstweiliger Rechtsschutz, 235 f.; Junker, Internationales Zivilprozessrecht, § 12, Rn. 7; Rauscher/ Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 7; Vossler, IPRax 2007, 281, 282; Stein/ Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 22; wohl auch Dasser/Oberhammer/ T. Müller, Art. 6 LugÜ, Rn. 33 f. (zum LugÜ). 39 Gegen die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Drittstaatsansässige GA Léger, Schlussanträge v. 8.12.2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 80; OLG Hamburg v. 9.7.1992, IPRspr 1992, Nr. 193, 438; Albicker, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, 125 ff.; Bodson, RDIDC 2007, 447, 459; Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 91 ff.; Czernich/Kodek/ Tiefenthaler, Art. 6 EuGVVO, Rn. 7; Gaudemet-Tallon, Les Conventions, Rn. 223; Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 459 f.; Kaye, Civil jurisdiction, 739; Magnus/Mankowski/Muir Watt, Art. 6 Brussels I-Regulation, Rn. 20; Schlosser, EuZPR, Art. 6 EuGVVO, Rn. 2; Musielak/A. Stadler, ZPO, Art. 6 EuGVVO, Rn. 3; Vogenauer, IPRax 2001, 253, 256 f.; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 85; kritisch auch LG Düsseldorf v. 9.9.2011, GRUR-RR 2011, 361, 363; zum LugÜ vgl. Geier, Streitgenossenschaft, 77 f.; Lüthi, System, Rn. 79; Oetiker/Weibel/Rohner/Lerch, Art. 6 LugÜ, Rn. 27; Schwander, Das Lugano-Übereinkommen, 78; Schnyder/Siehr, Art. 6 LugÜ, Rn. 19. 40 Siehe bereits Geimer, WM 1979, 350, 357: „Es war wohl kaum die Absicht der Verfasser des Übereinkommens, außerhalb der Gemeinschaft wohnhafte Personen zu schonen, d.h. ihre internationale Gerichtspflichtigkeit enger zu begrenzen als die von Beklagten mit Wohnsitz in einem Vertragsstaat. […] Die Verfasser des Übereinkommens sind […] nicht besonders zaghaft mit den Zuständigkeitsinteressen von Personen, die außerhalb der Gemeinschaft wohnen, umgegangen“. 41 Siehe nur Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 22; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 7; Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 7.

152

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

Statuierung europäischer Mindeststandards. 42 Die Vorschrift des Art. 4 EuGVVO43 zeigt aber, dass aus den Unterschieden der nationalen Prozessrechte Anwendungsdifferenzen resultieren können.44 Mag die punktuelle Besserstellung von Drittstaatsansässigen auch unbefriedigend erscheinen, ist sie als Kehrseite der Entscheidung, dem Kläger die Wahl zwischen den nationalen Zuständigkeitsregeln zu belassen, hinzunehmen.45 Mitgliedstaaten, denen die Streitgenossenzuständigkeit unbekannt ist, steht es daher auch frei, ihr nationales Prozessrecht zu reformieren und über Art. 4 Abs. 1 EuGVVO zur Anwendung zu bringen.46 Angesprochen ist damit ein methodischer Fehler, der den Vertretern der analogen Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO unterläuft. Den Telos der EuGVVO für die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft in Stellung zu bringen, überzeugt nämlich schon deshalb nicht, da ein Analogieschluss, der auf Ebene des nationalen Rechts vollzogen wird, nicht auf die (vermeintlichen) Wertungen einer europäischen Regelung gestützt werden kann.47 Die Planwidrigkeit der in der ZPO vorgefundenen Regelungslücke ist vielmehr nach den Motiven des deutschen Gesetzgebers zu bestimmen. Bei der Konzeption der Reichscivilprozeßordnung wurde dem Kriterium des Sachzusammenhangs aber bewusst keine allgemeine kompetenzrechtliche Bedeutung zugemessen,48 sodass das Fehlen eines nationalen Gerichtsstands der Streitgenossenschaft in der ZPO nicht planwidrig ist. Selbst wenn die Wertungen der EuGVVO zur Begründung des Analogieschlusses herangezogen werden dürften, spräche im Übrigen der Telos des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO nicht eindeutig für die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft gegenüber Drittstaatsansässigen. Denn Art. 6 Nr. 1 EuGVVO hat nicht das Ziel, widersprüchliche Entscheidungen zwischen mitgliedstaatlichen und drittstaatlichen Gerichten zu vermeiden, sondern strebt die Entscheidungsharmonie der mitgliedstaatlichen Rechtspflege an. Wird die Klage gegen den Drittstaatsansässigen bei Nichteröffnung des europäischen Gerichtsstands der Streitge42

Albicker, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, 125 ff.; Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 415 f. 43 Zukünftig Art. 6 EuGVVO n.F. 44 Benecke, Teleologische Reduktion des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs, 113 f. 45 Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 270 f., 416. 46 Schnyder/Siehr, Art. 6 LugÜ, Rn. 19 (zum LugÜ). 47 Vgl. Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 92. 48 Vgl. etwa Hahn/Mugdan, Gesamte Materialien, Bd. 2, 155, 158. Zur historischen Entwicklung in den Prozessordnungen der deutschen Bundesstaaten etwa Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 37 ff.

A. Wohnsitz der Streitgenossen

153

nossenschaft in einem Drittstaat erhoben, sind folglich keine widersprechenden Entscheidungen i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu befürchten.49 Im Ergebnis sprechen die besseren Argumente also dafür, die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Personen aus Drittstaaten in Übereinstimmung mit der vom EuGH vertretenen Auffassung abzulehnen. III. Ausblick Die Analyse des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ergibt, dass der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft lediglich gegenüber Personen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat eröffnet ist. Annexbeklagte aus dem Gerichtsstaat oder aus einem Drittstaat dürfen der gemeinsamen Verhandlung dagegen nicht nach Art. 6 Nr. 1 EuGVVO hinzugezogen werden. Verfügt die Zuständigkeitsordnung des angerufenen Gerichts über keine nationale Streitgenossenzuständigkeit, hat die restriktive Ausformung des räumlichpersönlichen Anwendungsbereichs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO den Nachteil, dass eine umfassende Verfahrenskonzentration mit Inländern oder Drittstaatsansässigen nur erzielt werden kann, sofern die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gegenüber diesen Beklagten auf einen anderen Zuständigkeitsgrund gestützt wird. Diese Problematik dürfte weder auf europäischer Ebene noch in Deutschland auf absehbare Zeit gelöst werden. Die mit Wirkung zum 1. Januar 2015 geltende Neufassung der EuGVVO trifft keine Regelungen zum Rechtsverkehr mit Drittstaaten.50 In Deutschland steht mit dem Zuständigkeitsbestimmungsverfahren des § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zwar die Möglichkeit offen, die gemeinsame 49 Widersprechende Entscheidungen könnten allerding ergehen, wenn ein Drittstaatsansässiger im Falle der Nichtanwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO vor einem anderen mitgliedstaatlichen Gericht gemäß Art. 4 Abs. 2 EuGVVO i.V.m. dem nationalen Zuständigkeitsrecht verklagt wird. 50 Die Kommission hatte ursprünglich vorgeschlagen, die Zuständigkeitsregeln auf Schuldner aus Drittstaaten auszudehnen (Vorschlag der Kommission v. 14.12. 2010, Kom (2010) 748 endg., 8 f., abrufbar unter: ). Der Berichterstatter des Parlaments wies die Änderung dagegen mit der Befürchtung zurück, die Position der EU in zukünftigen Verhandlungen über ein weltweites Gerichtsstandsabkommen könnte durch die einseitige Erweiterung der EuGVVO verschlechtert werden (Europäisches Parlament v. 12.6.2011, Entwurf eines Berichts über den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilund Handelssachen (Neufassung), 8 f., abrufbar unter: .

154

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

Verhandlung über eine gerichtliche Entscheidung zu erzielen. 51 Die Aufnahme eines allgemeinen Gerichtsstands der Streitgenossenschaft in die ZPO ist jedoch nicht in Sicht.52

B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO

Die Stellung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Zuständigkeitssystem der EuGVVO wurde in dieser Arbeit bereits im Kontext der Herleitung des Grundsatzes der restriktiven Auslegung der besonderen Gerichtsstände angesprochen. 53 Neben dem Verhältnis der Vorschrift zu Art. 2 Abs. 1 EuGVVO wirft jedoch auch die Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der Verordnung interessante Fragen auf. Zu thematisieren ist einerseits, welche Rolle der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft innerhalb der Sonderkompetenzregime der Abschnitte 3–5 der EuGVVO spielt (dazu unter I.). Andererseits muss erläutert werden, welche Auswirkungen eine zwischen dem Kläger und einem der Streitgenossen geschlossene Gerichtsstandsvereinbarung gemäß Art. 23 EuGVVO auf die Möglichkeiten zur Verfahrenskonzentration hat (dazu unter II.). I.

Sonderkompetenzregime der Abschnitte 3–5

Die Abschnitte 3, 4 und 5 der EuGVVO bieten jeweils ein geschlossenes, selbständiges und erschöpfendes System von Zuständigkeiten für Versicherungs-, Verbraucher- bzw. Arbeitssachen.54 Die Einführung der Sonderregeln auf den drei Gebieten fußt in erster Linie auf sozialpolitischen Erwägungen: Die wirtschaftlich schwächere und rechtlich unerfahrenere Partei soll nicht nur im materiellen Recht, sondern auch auf prozessualer Ebene durch besondere Bestimmungen geschützt werden, die für sie günstiger als die allgemeinen Vorschriften sind.55 Um Ver51 Bezüglich der Anwendung auf Beklagte aus Drittstaaten gilt es dabei freilich zu berücksichtigen, dass die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte durch einen anderen besonderen Gerichtsstand wie z.B. § 23 ZPO bestehen muss (vgl. MünchKommZPO/Patzina, § 36 ZPO, Rn. 3). 52 Für die Einführung eines nationalen Gerichtsstands der Streitgenossenschaft plädiert nach ausführlicher rechtspolitischer Bewertung der Regelungen der ZPO etwa Albicker, Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, 143 ff. 53 Oben S. 28 ff. 54 Vgl. Jenard-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/30 zu Art. 7 EuGVÜ; Rauscher/ Staudinger, EuZPR, Art. 8 Brüssel I-VO, Rn. 1. 55 EuGH v. 12.5.2005, Rs. C-112/2003 (Société financière et industrielle du Peloux/Axa Belgium u.a.), Slg. 2005, I-3707, Rn. 32 (zum Versicherungsrecht);

B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO

155

sicherte, Verbraucher und Arbeitnehmer möglichst vor den Nachteilen ausländischer Gerichtspflichten zu bewahren, wurden die besonderen Gerichtsstände der Verordnung nur sehr sparsam in die Sonderkompetenzregime inkorporiert; auf die Nennung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wurde in allen drei Abschnitten verzichtet.56 Der vollständige Ausschluss des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nimmt dem geschützten Personenkreis aber umgekehrt die Möglichkeit, von den Vorteilen der gebündelten Geltendmachung ihrer Ansprüche gegen ihre Vertragspartner zu profitieren. Es stellt sich daher die Frage, ob Art. 6 Nr. 1 EuGVVO nicht entgegen des klaren Wortlauts der Verordnung zumindest einseitig zu Lasten der in der gesetzlichen Wertung weniger schutzbedürftigen Partei anzuwenden ist, um den Schutzgedanken der Sonderkompetenzregime zu verwirklichen. Nachstehend wird daher in einem ersten Schritt erörtert, ob Versicherer, Unternehmer oder Arbeitgeber am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft als Annexbeklagte verklagt werden dürfen (dazu unter 1.). Im Anschluss soll die Frage diskutiert werden, inwieweit die Geltung der Abschnitte 3–5 der EuGVVO die Tauglichkeit von Beklagten einschränkt, dass Verfahren an ihrem Wohnsitz zu verankern (dazu unter 2.). 1. Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Annexbeklagten Die unterschiedlichen Sonderkompetenzregime der EuGVVO werden im Folgenden einzeln abgehandelt. Zunächst wird auf die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in Arbeitsvertragsstreitigkeiten eingegangen. Sodann wird die Geltung der gewonnenen Erkenntnisse für Versicherungs- und Verbrauchervertragsstreitigkeiten überprüft. a) Arbeitsvertragsstreitigkeiten Die Art 18 ff. EuGVVO 57 erfassen Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern über individuelle Arbeitsverträge. Kollektivarbeitsrechtliche Streitigkeiten und solche über außervertragliche Rechtsverhältnisse unterfallen hingegen weiterhin den allgemeinen VorschrifEuGH v. 20.1.2005 Rs. 464/2001 (Gruber/Bay Wa), Slg. 2005, I-439, Rn. 34 (zum Verbraucherrecht); EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 17 (zum Arbeitsrecht). 56 De lege ferenda eröffnet Art. 20 Abs. 1 EuGVVO n.F. den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft für Klagen von Arbeitnehmern. 57 Zukünftig Art. 20 ff. EuGVVO n.F.

156

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

ten der Verordnung.58 Zur gemeinsamen Verhandlung individualarbeitsrechtlicher Klagen am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft hat der EuGH in der prominenten Entscheidung Glaxosmithkline Stellung bezogen.59 aa) Die Entscheidung Glaxosmithkline Die Beklagten des Ausgangsverfahrens Glaxosmithkline, mit Sitz im Vereinigten Königreich, und Laboratoires Glaxosmithkline, mit Sitz in Frankreich, waren die Rechtsnachfolgerinnen zweier Gesellschaften eines Konzerns, die den Arbeitnehmer Rouard nacheinander in der Zeit von 1977–1984 und 1984–2001 beschäftigten. Vor dem französischen Conseil de prud’hommes de Saint-Germain-en-Laye beantragte Rouard die Gesellschaften zur gesamtschuldnerischen Zahlung verschiedener Vergütungsleistungen und Schadensersatz zu verurteilen. Gegenüber der Ankerbeklagten Laboratoires Glaxosmithkline begründeten die Art. 18 Abs. 1, Art. 19 Nr. 1 EuGVVO die internationale Zuständigkeit französischer Gerichte. An ihrem Sitz sollte mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zudem die englische Gesellschaft Glaxosmithkline in Anspruch genommen werden und zwar mit der Begründung, dass die beiden Arbeitsverhältnisse im Konzern aufeinander abgestimmt gewesen seien. Der im Verfahren angerufene EuGH untersagte Monsieur Rouard, das Verfahren gegen seine beiden Arbeitgeber am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft zu konzentrieren. 60 Nicht nur bestimme Art. 18 Abs. 1 EuGVVO den grundsätzlich abschließenden Charakter des Abschnitts 5 der EuGVVO, ohne Art. 6 Nr. 1 EuGVVO als Ausnahme ausdrücklich aufzuführen. 61 Auch wäre die gemeinsame Verhandlung am Wohnsitz des Ankerbeklagten für den außerhalb seines Heimatstaates verklagten Arbeitgeber wegen des anderslautenden Wortlauts der Verordnung nicht vorhersehbar.62 Nach Auffassung des Gerichtshofs entfaltet Art. 6 Nr. 1

58 Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 18 Brüssel I-VO, Rn. 3.; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 18 EuGVVO, Rn. 9. 59 EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965. 60 GA Maduro, Schlussanträge v. 17.1.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 21. 61 EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 23. 62 EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 33.

B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO

157

EuGVVO somit keine zuständigkeitsbegründende Wirkung zu Lasten des Arbeitgebers.63 bb) Bewertung der Entscheidung Mit dieser Rechtsfindung verschließt sich der EuGH einem gewichtigen historisch-teleologischen Argument, das Generalanwalt Maduro in seinen ausführlichen Schlussanträgen ihn herangetragen hatte: Wenn hinter der Einführung des fünften Abschnitts der EuGVVO der Schutz des Arbeitnehmers steht, der im EuGVÜ den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach den allgemeinen Zuständigkeitsregeln zur Durchsetzung individualarbeitsrechtlicher Ansprüche anrufen konnte, kann die Nichtanwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Arbeitgebern, die zu einer Schlechterstellung des Arbeitnehmers gegenüber der unter dem Übereinkommen geltenden Rechtslage führt, nicht im Sinne des Verordnungsgebers liegen.64 Zur Begründung äußerten die Luxemburger Richter die Befürchtung, dass die reine Orientierung am Schutzgedanken der Sonderkompetenzregime den Ausgleich der Parteiinteressen innerhalb des gesamten Zuständigkeitssystems gefährden könnte, sofern die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu Gunsten von Arbeitnehmern erst den Anfang einer Umgestaltung aller besonderen Gerichtsstände in einseitige Zuständigkeitsvorschriften markiert.65 Auf den ersten Blick hat die Warnung des Gerichtshofs etwas für sich: Wer nur den Schutz der schwächeren Partei ins Auge fasst, kann kaum begründen, warum dem Arbeitnehmer nicht noch weitere klägerfreundliche Gerichtsstände zu Hilfe eilen sollen. Bei einer genaueren Betrachtung des fünften Abschnitts der Verordnung ist indes nicht klar, welche Zuständigkeiten der EuGH dabei überhaupt im Sinn hat. Die 63

EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 32. Zustimmend Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 3; Geimer, FS Kropholler 2008, 777, 782; wohl auch Mankowski, EWiR 2008, 435, 436; vor dem Urteil bereits Däubler, NZA 2003, 1297, 1299. Für die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu Lasten von Arbeitgebern dagegen Briggs/Rees, Civil Jurisdiction and Judgments, Rn. 2.202; Frodl, ÖJZ 2009, 935, 939; Krebber, IPRax 2009, 409, 412; Rödl, EuZA 2009, 385, 393; Schnichels/Stege, EuZW 2010, 846, 850; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 96 f. Vereinzelt wird zudem die beidseitige Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in Arbeitsvertragsstreitigkeiten gefordert, siehe Sujecki, EuZW 2008, 371, 372; wohl auch Mansel/Thorn/R. Wagner, IPRax 2009, 1, 11 f. 64 GA Maduro, Schlussanträge v. 17.1.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 21. 65 EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 32.

158

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

besonderen Gerichtsstände der Art. 5 Nr. 166, Art. 5 Nr. 367, Art. 5 Nr. 568 und Art. 6 Nr. 369 EuGVVO stehen dem Arbeitnehmer ohnehin zur Verfügung. Die Regelungsbereiche der übrigen besonderen Gerichtsstände der Verordnung 70 sind thematisch soweit von individualvertraglichen Arbeitsrechtsstreitigkeiten entfernt, dass ihre Heranziehung zum Schutz des Arbeitnehmers eher fernliegend erscheint. Auf die Gefährdung der Interessengewichtung des Zuständigkeitssystems der EuGVVO kann aus der einseitigen Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft gegenüber Arbeitgebern daher sicher nicht geschlossen werden.71 Vielmehr gefährdet der vollständige Ausschluss des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in individualarbeitsrechtlichen Streitigkeiten die Entscheidungsharmonie und Prozessökonomie der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung, da in einem nicht unerheblichen Teil des sachlichen Anwendungsbereichs des europäischen Zuständigkeitsrechts die Verfahrenskonzentration nicht länger gestattet ist. Insbesondere im Konzern beschäftigte Arbeitnehmer können ihre Ansprüche häufig nicht oder nicht vollständig einer bestimmten Gesellschaft zuordnen, was die gebündelte Geltendmachung notwendig macht.72 Dass die Anwendung des 66 Art. 19 Nr. 2 lit. a) EuGVVO (zukünftig Art. 21 Abs. 1 lit. b) i) EuGVVO n.F.) eröffnet den Gerichtsstand am Arbeitsort, was praktisch dem Gerichtsstand des Erfüllungsortes entspricht (Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 19 EuGVVO, Rn. 4). 67 Da die Art. 18 ff. EuGVVO (zukünftig Art. 20 ff. EuGVVO n.F.) nur Arbeitsvertragsstreitigkeiten regeln, bleibt Art. 5 Nr. 3 EuGVVO (zukünftig Art. 7 Nr. 2 EuGVVO n.F.) nach herrschender Meinung daneben anwendbar, sofern die deliktischen Ansprüche nicht mit vertraglichen Ansprüchen konkurrieren (MünchKomm ZPO/Gottwald, Art. 18 EuGVVO, Rn. 4, Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 18 Brüssel I-VO, Rn. 2b; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 18 EuGVVO, Rn. 8). 68 Art. 18 Abs. 1 EuGVVO (zukünftig Art. 20 Abs. 1 EuGVVO n.F.) erlaubt die Anwendung des Art. 5 Nr. 5 EuGVVO (zukünftig Art. 7 Nr. 5 EuGVVO n.F.). Daneben eröffnet Art. 19 Nr. 2 b) EuGVVO (zukünftig Art. 21 Abs. 1 lit. b) ii) EuGVVO n.F.) subsidiär die Zuständigkeit der Gerichte am Ort der einstellenden Niederlassung. Der Begriff der Niederlassung ist ebenso weit auszulegen wie der in Art. 5 Nr. 5 EuGVVO (Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 19 EuGVVO, Rn. 24, 29). 69 Nach allgemeiner Auffassung darf gemäß Art. 20 Abs. 2 EuGVVO (zukünftig Art. 22 Abs. 2 EuGVVO n.F.) auch der Arbeitnehmer Wiederklage erheben (Münch KommZPO/Gottwald, Art. 20 EuGVVO, Rn. 3; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 20 EuGVVO, Rn. 3). 70 Art. 5 Nr. 2 (in der EuGVVO n.F. weggefallen), Art. 5 Nr. 4 (zukünftig Art. 7 Nr. 3 EuGVVO n.F.), Art. 5 Nr. 6 (zukünftig Art. 7 Nr. 6 EuGVVO n.F.), Art. 5 Nr. 7 (zukünftig Art. 7 Nr. 7 EuGVVO n.F.), Art. 6 Nr. 2 (zukünftig Art. 8 Nr. 2 EuGVVO n.F.), Art. 6 Nr. 4 (zukünftig Art. 8 Nr. 4 EuGVVO n.F.), Art. 7 EuGVVO (zukünftig Art. 9 EuGVVO n.F.). 71 So im Ergebnis auch Rödl, EuZA 2009, 385, 389. 72 Junker, Internationales Zivilprozessrecht, § 12, Rn. 8; Mankowski, EuZA 2008, 104, 116. Im Übrigen ist die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Klagen des

B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO

159

Art. 6 Nr. 1 EuGVVO jedenfalls zum Schutz von Arbeitnehmern dem Sinn und Zweck der EuGVVO entspricht, ist im Ergebnis also nicht von der Hand zu weisen. Zu klären bleibt aber, wie der eindeutige Wortlaut des Art. 18 Abs. 1 EuGVVO überwunden werden kann, ohne gegen das Gebot der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsregeln zu verstoßen. cc) Überwindung des Wortlauts des Art. 18 Abs. 1 EuGVVO? In der Literatur wird die Überwindung des Wortlauts des Art. 18 Abs. 1 EuGVVO von den Befürwortern der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf unterschiedlichen Wegen begründet. Schnichels/Stege wollen in den Sonderregeln des fünften Abschnitts nur ein einseitig geschlossenes Zuständigkeitssystem erblicken, da sich für Klagen des Arbeitnehmers kein Pendant zu der die Gerichtsstandswahl des Arbeitgebers begrenzenden Formulierung des Art. 20 Abs. 1 EuGVVO 73 finde. 74 Derart weitreichende Schlussfolgerungen gibt der Vergleich mit dem geringfügig anderslautenden Eingangssatz des Art. 19 EuGVVO75 jedoch nicht her. Vielmehr wurde auf die Nennung des Wortes „nur“ im Eingangssatz Art. 19 EuGVVO verzichtet, weil für Klagen des Arbeitnehmers nicht allein der Wohnsitz des Arbeitgebers, sondern mehrere Zuständigkeiten alternativ eröffnet sind. Nach Auffassung von Rödl stützt das Gebot der Vorhersehbarkeit allein die wortlautgetreue Auslegung der Tatbestandsmerkmale einzelner Zuständigkeitsvorschriften. Da Art. 18 Abs. 1 EuGVVO als bloße Verweisnorm aber das „teleologisches Verständnis der inneren Systematik der Zuständigkeitsvorschriften“ insgesamt betreffe, habe sein Wortlaut

Arbeitnehmers praktisch relevanter, da der ganz überwiegende Teil von Prozessen an den Arbeitsgerichten gegen Arbeitgeber geführt wird (Junker, RIW 2002, 569, 575 geht für Deutschland davon aus, dass nur in 5% aller Verfahren ein Arbeitgeber auf Klägerseite steht). 73 Art. 20 Abs. 1 EuGVVO „Die Klage des Arbeitsgebers kann nur vor den Gerichten des Mitgliedstaats erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz hat.“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 74 Schnichels/Stege, EuZW 2010, 846, 850. 75 Art. 19 EuGVVO: „Ein Arbeitgeber, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden: 1. vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat, oder 2. in einem anderen Mitgliedstaat a) vor dem Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder zuletzt gewöhnlich verrichtet hat, oder b) wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet oder verrichtet hat, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich die Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet bzw. befand“.

160

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

nicht die gleiche Verbindlichkeit, wie der einer einzelnen Zuständigkeitsregel.76 Auch diese Idee überzeugt lediglich im Ansatz. Maßgeblich für die Beurteilung der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeit ist nämlich die Perspektive der Parteien, aus deren Sicht die dogmatische Qualität der Vorschriften der EuGVVO kaum eine Rolle spielen dürfte. Auf eine dritte methodische Grundlage stellt Generalanwalt Maduro die Überwindung des Wortlauts des Art. 18 Abs. 1 EuGVVO, wenn er die fehlende Berücksichtigung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im fünften Abschnitt als eine im Wege der Auslegung zu schließende Lücke im Verordnungstext betrachtet. 77 Für die Zulässigkeit des in den Schlussanträgen angedeuteten Analogieschlusses lässt sich anführen, dass die Materialen der EuGVVO78 keine Hinweise auf die bewusste Streichung des forum connexitatis für Arbeitsvertragsstreitigkeiten geben.79 Für die Planwidrigkeit der Änderung der unter dem EuGVÜ bestehenden Rechtslage spricht weiterhin, dass die zwischenzeitlich verabschiedete Neufassung der EuGVVO den Verweis auf den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft für Klagen des Arbeitnehmers in die Nachfolgervorschrift von Art. 18 Abs. 1 EuGVVO aufgenommen hat.80 Jedenfalls aus heutiger Sicht verdient die Entscheidung Glaxosmithkline also keine Zustimmung. Die analoge Anwendung des Art. 6 76

Rödl, EuZA 2009, 385, 390. GA Maduro, Schlussanträge v. 17.1.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 22 (in der Originalfassung: „une lacune dans ce texte“). 78 Vgl. Vorschlag der Kommission v. 14.7.1999, KOM(1999) 348, abrufbar unter: . Bericht des Europäischen Parlaments v. 18.9.2000, A5-0253/2000, abrufbar unter: . 79 Mankowski, EuZA 2008, 104, 112 f.; Rödl, EuZA 2009, 385, 391. 80 Während die Vorlage in der Rechtssache Glaxosmithkline beim EuGH anhängig war, hofften die Autoren des Heidelberg Reports noch auf die Zulässigkeit der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO (Hess/Pfeiffer/Schlosser, Heidelberg Report, Rn. 358). Als Reaktion auf das ablehnende Urteil des Gerichtshofs schlug die Kommission für die Neuregelung der EuGVVO vor, dem Arbeitnehmer einseitig den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft zu eröffnen (Vorschlag der Kommission v. 14.12.2012, Kom (2010) 748 endg., 11, abrufbar unter: ). Der Vorschlag wurde in die ab dem 10.1.2015 zur Anwendung kommende Neufassung der EuGVVO übernommen. Die Nachfolgervorschrift Art. 20 Abs. 1 EuGVVO n.F. lautet: „Bilden ein individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag den Gegenstand des Verfahrens, so bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 6 [derzeit Art. 4], des Artikels 7 Nummer 5 [derzeit Art. 5 Nr. 5] und, wenn die Klage gegen den Arbeitgeber erhoben wurde, des Artikels 8 Nummer 1 [derzeit Art. 6 Nr. 1] nach diesem Abschnitt“. 77

B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO

161

Nr. 1 EuGVVO zu Gunsten des Arbeitnehmers wäre ein gangbarer Weg gewesen, den durch den fünften Abschnitt der Verordnung angestrebten Schutzzweck zu verwirklichen. Allzu scharfe Kritik an der Rechtsfindung des EuGH ist dennoch nicht angebracht, hat die Entscheidung doch den klaren Wortlaut des Art. 18 Abs. 1 EuGVVO auf ihrer Seite.81 Aus diesem Grund ist zu begrüßen, dass der Text der Neufassung der EuGVVO die Problematik de lege ferenda auflöst, indem der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft für Klagen des Arbeitnehmers ausdrücklich eröffnet wird. b) Versicherungssachen In Versicherungssachen liegen die Dinge etwas anders als in Arbeitssachen. Zwar verbietet wiederrum der abschließende Charakter des Sonderregimes die direkte Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Anders als in Arbeitsvertragsstreitigkeiten lässt sich eine Verfahrenskonzentration jedoch mithilfe anderer Gerichtsstände des Sonderkompetenzregimes herbeiführen, sodass sich keine vergleichbare Notwendigkeit für einen zusätzlichen prozessualen Schutz der schwächeren Partei, namentlich dem Versicherungsnehmer, dem Versicherten und dem Begünstigten,82 stellt. Die gemeinsame Klage gegen Mitversicherer ist gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. c) EuGVVO83 vor dem Gericht gestattet, bei dem der „federführenden Versicherer“84 verklagt wird.85 Die Regelung weist gegenüber Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zwar den Unterschied auf, dass die Rolle des Ankerbeklagten allein mit dem „federführenden Versicherer“ besetzt werden kann. Da die gemeinsame Verhandlung im Gegenzug aber auch außerhalb des allgemeinen Gerichtsstands dieses Beklagten konzentriert werden darf, dürften sich aus Sicht des Klägers die Vor- und Nachteile beider Regelungen die Waage halten. Insgesamt bildet Art. 9 Abs. 1 81 Überzogen daher die Kritik von Briggs/Rees, Civil Jurisdiction and Judgments, Rn. 2.202: „If there is to be a prize for the most bone-headed judgment of the decade, the decision GlaxoSmithKline v. Rouard will have few serious rivals“. 82 Näher zum durch den dritten Abschnitt geschützten Personenkreis Stein/Jonas/ G. Wagner, Art. 9 EuGVVO, Rn. 5. 83 Zukünftig Art. 11 Abs. 1 lit. c) EuGVVO n.F. 84 Zu diesem Begriff Schlosser-Bericht, Abl.EG 1979 C 59/116; Stein/Jonas/ G. Wagner, Art. 9 EuGVVO, Rn. 12. 85 Art. 9 Abs. 1 lit. c) EuGVVO lautet: „Ein Versicherer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden […] falls es sich um einen Mitversicherer handelt, vor dem Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem der federführende Versicherer verklagt wird“.

162

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

lit. c) EuGVVO für Versicherungsnehmer, Versicherte und Begünstigte also eine echte Alternative zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Weiterhin stellt der dritte Abschnitt der Verordnung der schwächeren Partei gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. b) EuGVVO ein forum actoris zur Seite, das die gemeinsame Inanspruchnahme sämtlicher Vertragspartner ermöglicht. Da die Verfahrenskonzentration am eigenen Wohnsitz für den Kläger regelmäßig die bequemste Option darstellt, besteht auch aus diesem Grund kein Bedarf für die analoge Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Der Ausschluss des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft in Versicherungssachen ist also wesentlich leichter zu akzeptieren als in Arbeitsvertragsstreitigkeiten. Trotz des klaren Wortlauts des Gesetzes auf dessen Anwendung zu pochen, ist daher wenig überzeugend.86 Für Klagen aus Versicherungsvertragsstreitigkeiten ist der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft folglich nicht eröffnet.87 Diese Rechtslage hat auch unter der Neufassung der EuGVVO bestand. c) Verbrauchersachen Der vierte Abschnitt der EuGVVO widmet sich den zwischen Verbrauchern und Unternehmern bestehenden Zuständigkeiten. 88 Der Klägergerichtsstand des Art. 16 Abs. 1 EuGVVO89 ermöglicht Verbrauchern die Verfahrenskonzentration gegenüber mehreren Vertragspartnern am eigenen Wohnsitz. 90 Wie in Versicherungssachen besteht daher keine Notwendigkeit, den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft zu eröffnen,91 weshalb auch die Neufassung der EuGVVO ohne den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft für Verbrauchersachen auskommt.

86

So aber Schnyder/Siehr, Art. 6 LugÜ, Rn. 23; für Fälle der notwendigen Streitgenossenschaft auch Geimer, FS Kropholler 2008, 777, 781. 87 KG v. 11.9.2006, NJOZ 2007, 1975, 1976; Geier, Streitgenossenschaft, 58 f.; Musielak/A. Stadler, ZPO, Art. 6 EuGVVO, Rn. 2; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 6. 88 Zum Begriff des Unternehmers und Verbrauchers ausführlich Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 15 EuGVVO, Rn. 1 ff. Bei Geschäften unter Privatleuten greifen die Sonderregeln nicht ein (Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 15 EuGVVO, Rn. 25). 89 Zukünftig Art. 18 Abs. 1 EuGVVO n.F. 90 Geimer, FS Kropholler 2008, 777, 781. 91 BGH v. 6.5.2013, BeckRS 2013, 09526, Rn. 15; OLG Frankfurt v. 30.7.2012, BeckRS 2012, 17681; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 3; Geier, Streitgenossenschaft, 58 f.; Musielak/A. Stadler, ZPO, Art. 6 EuGVVO, Rn. 2; Stein/ Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 6; a.A. dagegen Schnyder/Siehr, Art. 6 LugÜ, Rn. 24.

B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO

163

2. Tauglichkeit von Ankerbeklagten zur Verfahrenskonzentration Neben der Zulässigkeit der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Annexbeklagten gilt es in Hinblick auf die Rolle des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft in den Abschnitten 3–5 der EuGVVO zu hinterfragen, ob die gemeinsame Verhandlung am Wohnsitz von Beklagten, die dem persönlichen Anwendungsbereich der Sonderkompetenzregime unterfallen, konzentriert werden kann. Praktisch relevant wird diese Frage insbesondere in Verfahren, in denen ein Teil der Streitgenossen nicht zu dem von den Abschnitten 3–5 der EuGVVO geschützten Personenkreis gehört, etwa wenn ein Arbeitgeber seinen Arbeitnehmer und einen seiner Zulieferer wegen eines Ausfallschadens am Wohnsitz des Arbeitnehmers gemeinsam verklagt, um zu klären, ob die Produktion durch einen Bedienungsfehler oder ein mangelhaftes Bauteil zum erliegen gekommen ist. Die Auffassung des EuGH ist an diesem Punkt auf den ersten Blick unklar. Der Leitsatz der Entscheidung Glaxosmithkline lautet: „Die in Art. 6 Nr. 1 […] vorgesehene besondere Zuständigkeitsvorschrift kann nicht auf einen Rechtsstreit angewandt werden, der unter das die Zuständigkeitsvorschriften für individuelle Arbeitsverträge betreffende Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung fällt.“92 Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung bezweckt der EuGH mit dieser Formulierung, den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft in Arbeitsvertragsstreitigkeiten umfassend auszuschließen, sodass die Verfahrenskonzentration auch am Wohnsitz von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausscheidet. 93 Eine anderslautende Stellungnahme bemerkt hingegen, dass die gemeinsame Verhandlung aufgrund der Glaxosmithkline-Entscheidung gerade am Wohnsitz derjenigen Person stattfinden müsse, die dem Sonderkompetenzregime unterworfen ist.94 Die beiden Deutungsalternativen des Judikats ergeben sich aus der Ambivalenz des im Leitsatz verwendeten Begriffs des Rechtsstreits. Einerseits lässt sich nämlich argumentieren, dass der jeweilige Rechtsstreit den Zuständigkeitsvorschriften des fünften Abschnitts bereits unterfällt, wenn der Ankerbeklagte von den Sonderregeln erfasst wird. Danach wäre die Verfahrenskonzentration an den allgemeinen Gerichts92 EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965. In der Originalfassung: „La règle de compétence spéciale prévue à l’article 6, point 1 […] ne peut pas s’appliquer à un litige relevant de la section 5 du chapitre II […]“. 93 Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 18 EuGVVO, Rn. 7. 94 Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 96.

164

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

ständen der Art. 19 Nr. 1 und 20 Abs. 1 EuGVVO unmöglich. Andererseits könnte der Begriff des Rechtsstreits enger zu verstehen sein, sodass der Ausschluss des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO nur für Rechtsstreitigkeiten gilt, in denen der Annexbeklagte in den persönlichen Anwendungsbereich des Sonderkompetenzregimes fällt. Für die letztgenannte Lesart des Leitsatzes spricht m.E., dass die an den EuGH herangetragene Vorlagefrage ausdrücklich auf die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO abzielt.95 Angewendet wird Art. 6 Nr. 1 EuGVVO jedoch nur gegenüber den außerhalb des Gerichtsstaates ansässigen Streitgenossen, wohingegen die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts für den Ankerbeklagten aus dessen allgemeinem Gerichtsstand folgt. 96 Aus diesem Grund erscheint eher fernliegend, dass die Richter in Luxemburg bei der Entscheidung der Rechtssache Glaxosmithkline den nicht vom Regelungsbereich des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO erfassten Ankerbeklagten im Blick hatten. Nach richtig verstandener Auffassung des EuGH ist die gemeinsame Verhandlung am Wohnsitz eines Streitgenossen, der dem persönlichen Anwendungsbereich eines der Sonderkompetenzregime der EuGVVO unterfällt, also zulässig. Diese Position verdient Zustimmung, da nicht ersichtlich ist, warum die Zuständigkeitsinteressen des durch die Abschnitte 3–5 geschützten Personenkreises durch die Zuweisung der Rolle des Ankerbeklagten gefährdet werden.97 3. Ergebnis Streitigkeiten über Individualarbeitsverträge dürfen am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft ausgetragen werden, sofern das Verfahren 95

EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965, Rn. 13: „Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die in Art. 6 Nr. 1 der Verordnung vorgesehene besondere Zuständigkeitsvorschrift betreffend mehrere Beklagte auf die Klage anwendbar ist, die ein Arbeitnehmer gegen zwei Gesellschaften erhoben hat, die in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sind und die er als seine gemeinsamen Arbeitgeber ansieht“. 96 Dass die Abschnitte 3–5 die Wohnsitzzuständigkeit in den Art. 9 Abs. 1 lit. a); Art. 12 Abs. 1; Art. 16 Abs. 1, 2; Art. 19 Nr. 1 und 20 Abs. 1 EuGVVO wiederholen, was dazu führt, dass der allgemeine Gerichtsstand nicht länger durch Art. 2 Abs. 1 EuGVVO begründet wird, kann für die Tauglichkeit des Ankerbeklagten keinen Unterschied machen. Denn der Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO eröffnet den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft pauschal an „dem Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat“. Auf welche Vorschrift sich die Zuständigkeit gegenüber dem Ankerbeklagten stützt, ist also bedeutungslos, solange der Wohnsitz des Ankerbeklagten tatsächlich im Gerichtsbezirk liegt. 97 So auch: Geimer, FS Kropholler 2008, 777, 782; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 18 EuGVVO, Rn. 7.

B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO

165

gegenüber mehreren Arbeitgebern konzentriert wird. De lege lata ergibt sich die Möglichkeit zur gebündelten Geltendmachung der Ansprüche des Arbeitnehmers entgegen der Auffassung des EuGH aus der analogen Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. De lege ferenda eröffnet die ab dem 1.1.2015 geltende Neufassung der EuGVVO den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft ausdrücklich gegenüber Arbeitgebern. In Versicherungs- oder Verbrauchersachen dürfen Beklagte, die dem persönlichen Anwendungsbereich der Abschnitte 3 und 4 der EuGVVO unterfallen, der gemeinsamen Verhandlung dagegen nicht mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO hinzugezogen werden. Nach Auffassung des EuGH und nach der hier vertretenen Position ist nach allen drei Sonderkompetenzregimen die Konzentration des Verfahrens am Wohnsitz der betroffenen Personenkreise zulässig. II. Auswirkungen von Gerichtsstandsvereinbarungen Hat der Kläger mit einem der Streitgenossen die ausschließliche Zuständigkeit eines bestimmten Gerichts für die zwischen den Parteien entstehenden Rechtsstreitigkeiten vereinbart, so stellt sich die Frage nach den Auswirkungen der Gerichtsstandsvereinbarung auf die gemeinsame Verhandlung der Klagen am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft. Nach dem Wortlaut des Art. 23 EuGVVO gilt bei der Vereinbarung der internationalen Zuständigkeit eines Gerichts in der EU durch Parteien, von denen mindestens eine ihren Sitz in einem EU-Mitgliedstaat hat,98 dass das prorogierte Gericht für die von der Vereinbarung erfassten Rechtsstreitigkeiten ausschließlich zuständig wird.99 In Hinblick auf die Konzentration eines Verfahrens gegenüber mehreren Beklagten weisen Gerichtsstandsabreden daher eine besondere Sprengkraft auf: Weil der vereinbarte Gerichtsstand dem einen Streitgenossen nicht vorenthalten und den übrigen Streitgenossen nicht aufgedrängt werden darf, kann bereits eine einzige Gerichtsstandsabrede die umfassende Bündelung der in Zusammenhang stehenden Klagen verhindern. Im Einzelnen wird das Verhältnis von Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu Art. 23 EuGVVO durch zwei Faktoren determiniert. Zum einen ist für die Auswirkungen einer Gerichtsstandsabrede auf die Verfahrenskonzen98 Nach Art. 25 Abs. 1 EuGVVO n.F. ist der Wohnsitz der Parteien der Gerichtsstandsvereinbarung in Zukunft nicht mehr von Bedeutung. Zu den weiteren Änderungen bezüglich der Regelung von Gerichtsvereinbarungen siehe von Hein, RIW 2013, 97, 104 ff. 99 Zur Vermutung der ausschließlichen Zuständigkeit des prorogierten Gerichts siehe nur Geimer/Schütze/Geimer, Art. 23 EuGVVO, Rn. 166.

166

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

tration entscheidend, welcher der Streitgenossen an die Abrede mit dem Kläger gebunden ist. Zwar kommt die Derogation des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO nur in Hinblick auf den Annexbeklagten in Betracht, da sich die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gegenüber dem Ankerbeklagten aus Art. 2 Abs. 1 EuGVVO i.V.m. dem nationalen Prozessrecht ergibt. Gleichwohl legt die herausgehobene Stellung des zuständigkeitsbegründenden Streitgenossens nahe, dass dessen Bindung an eine Gerichtsstandsvereinbarung ebenfalls Auswirkungen auf die gemeinsame Verhandlung hat. Zum anderen richtet sich die Beurteilung der Konsequenzen einer Gerichtsstandsabrede für die Verfahrenskonzentration nach der Belegenheit des von den Parteien prorogierten Gerichts. Zu differenzieren ist dabei insbesondere zwischen der Vereinbarung der Zuständigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts und der Vereinbarung der Zuständigkeit eines Gerichts in einem Drittstaat, deren Derogationswirkung nach hier vertretener Auffassung zumindest auch nach den Vorgaben des Art. 23 EuGVVO zu beurteilen ist.100 1. Vereinbarung mit dem Annexbeklagten Nachfolgend wird zuerst auf Gerichtsstandsabreden eingegangen, die mit dem Annexbeklagten geschlossen wurden. a) Der vereinbarte Gerichtsort liegt in einem Mitgliedstaat Hat der Kläger mit dem Annexbeklagten die ausschließliche Zuständigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts vereinbart, liegen die Dinge an und für sich auf Hand: Nach allgemeiner Auffassung verdrängt Art. 23 EuGVVO den allgemeinen und die besonderen Gerichtsstände der Verordnung, 101 sodass der Annexbeklagte der gemeinsamen Verhandlung nicht hinzugezogen werden kann, sofern die Gerichtsstandsabrede nicht zufällig an das Gericht am Wohnsitz des Ankerbeklagten weist.102 100

Dazu noch auf S. 170 ff. EuGH v. 9.11.1978, Rs. C-23/1978 (Meeth/Glacetal), Slg. 1978, 2133, Rn. 5; BGH v. 19.3.1987, NJW 1988, 1215; GA Léger, Schlussanträge Rs. C-281/2002 (Owusu/N. B. Jackson), Slg. 2005, I-1383, Rn. 244; MünchKommZPO/Gottwald, Art. 23 EuGVVO, Rn. 67; Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 23 Brüssel I-VO, Rn. 59. 102 BGH v. 19.3.1987, NJW 1988, 646 f.; Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 165; Geier, Streitgenossenschaft, 92 f.; Fasching/Konecny/Simotta, Art. 6 EuGVVO, Rn. 38; Rauscher/Leible, EuZPR, Art. 6 Brüssel I-VO, Rn. 2a; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 98 f.; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 7. Weist die Gerichtsstandsvereinbarung an den Wohnsitz des Ankerbeklagten stützt sich die Zuständigkeit freilich auf Art. 23 EuGVVO und nicht auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. 101

B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO

167

Die ältere französische Rechtsprechung sah sich ob der gewichtigen Nachteile der getrennten Verhandlung konnexer Klagen in Einzelfällen jedoch dazu veranlasst, den Vorrang der Parteiautonomie im Interesse der gemeinsamen Verhandlung am europäischen Gerichtsstand der Streitgenossenschaft zu ignorieren.103 Die mit dem Wortlaut des Art. 23 EuGVVO nicht zu vereinbarende Rechtsfindung geht wohl darauf zurück, dass sich auch die nationale Streitgenossenzuständigkeit des code de procédure civile gegenüber anderslautenden Parteiabreden bisweilen durchgesetzt hatte. 104 In eine ähnliche Richtung wie die französischen Entscheidungen weist eine in der Literatur vereinzelt angedeutete Auffassung, wonach Gerichtsstandsvereinbarungen gegenüber Art. 6 Nr. 1 EuGVVO keine Derogationswirkung entfalten sollen, wenn die erhobenen Klagen in einem besonders engen Zusammenhang stehen, da die getrennte Verhandlung dann nicht mehr im Willen der Parteien stehen könne.105 Die ausschließliche Zuständigkeit eines wirksam vereinbarten Gerichts sollte jedoch unabhängig von der Enge der Beziehung der Klagen nicht missachtet werden. Die Parteien haben die zwischen ihnen entstehenden Rechtsstreitigkeiten einem bestimmten Gericht zugewiesen, um über die Zuständigkeitsfrage größtmögliche Klarheit zu erlangen.106 Die rechtssichere Bestimmung des zuständigen Gerichts wird jedoch merklich erschwert, wenn die Derogationswirkung der getroffenen Abrede durch ein nicht unmittelbar greifbares Kriterium wie die Konnexität der Klagen infrage gestellt werden kann. Die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO hat also zu unterbleiben, wenn der Kläger mit dem Annexbeklagten eine Gerichtsstandsvereinbarung getroffen hat, die die ausschließliche Zuständigkeit eines anderen mitgliedstaatlichen Gerichts als die des Wohnsitzgerichts des Ankerbeklagten vorsieht. 103

Cour de cassation v. 2.3.1999, [2000] I.L.Pr. 627 ff.; kritisch dazu Huet, Clunet 2000, 75 ff.; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 100, Fn. 110. Siehe auch Cour d’appel de Paris v. 15.1.1981, Droit Maritime Franҫais 1981, 280; kritisch dazu Mezger, IPRax 1984, 331, 333. A.A. nunmehr Cour de cassation v. 20.6.2006, I.L.Pr. 2007, 25. 104 Cour de cassation v. 23.12.1957, Rev. crit. dr. int. priv. 47 (1958), 385; dazu Mezger, IPRax 1984, 331, 333, der als Grund für die Missachtung des Vorrangs der Parteiautonomie nennt, man könne sich in Frankreich kaum vorstellen, dass vernünftige Parteien die Vorteile der gemeinsamen Verhandlung am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft abbedingen wollten. 105 In diese Richtung Magnus/Mankowski/Muir Watt, Art. 6 Brussels I-Regulation, Rn. 14, 27, die diese Erwägung aber auch nicht durchschlagen lässt. 106 Siehe nur Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, Rn. 4.40; von Falkenhausen, RIW 1983, 420, 422.

168

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

b) Der vereinbarte Gerichtsort liegt in einem Drittstaat Schwieriger zu beurteilen ist die Derogationswirkung von Gerichtsstandsabreden, die auf ein in einem Drittstaat belegenes Gericht abzielen. Im Anwendungsbereich der EuGVVO begegnet die Prorogation eines in einem Drittstaat belegenen Gerichts zunächst zwei grundsätzlichen Fragen, und zwar ob die Zuständigkeiten der EuGVVO überhaupt zu Gunsten drittstaatlicher Gerichte abbedungen werden können (dazu unter aa)) und, wenn ja, aus welchen Vorschriften die Derogationswirkung hergeleitet werden sollte (dazu unter bb)). Erst im Anschluss können die Konsequenzen der Vereinbarung der Zuständigkeit des Gerichts in einem Drittstaat auf die gemeinsame Verhandlung am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft beleuchtet werden (dazu unter cc)). aa) Zulässigkeit der Derogation der Gerichtsstände der EuGVVO Die Derogationswirkung von Zuständigkeitsvereinbarungen zu Gunsten drittstaatlicher Gerichte sauber zu begründen, fällt im Anwendungsbereich der EuGVVO nicht leicht.107 Einerseits beschränkt sich Art. 23 EuGVVO klar auf Fälle in denen „die Parteien […] vereinbart [haben], dass ein Gericht oder die Gerichte eines Mitgliedstaats […] entscheiden sollen“. Andererseits ist die EuGVVO ein „verbindliches Zuständigkeitssystem“ 108 von dessen allgemeinen Gerichtsstand ausweislich Art. 2 Abs. 1 EuGVVO nur „vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung“ abgewichen werden soll. Es entsteht das Dilemma, dass das nationale Prozessrecht zur Derogation europäischer Zuständigkeiten nicht herangezogen werden darf, obwohl die Verordnung selbst keine Regelung über die Prorogation drittstaatlicher Gerichte trifft.109 Teile des Schrifttums messen Vereinbarungen, die auf die Gerichte eines Drittstaats abzielen, gegenüber den Zuständigkeiten der EuGVVO daher keine Derogationswirkung zu.110 Unterstützung erfährt diese Auffassung auf den ersten Blick durch die in einem Rechtsgutachten 107

Die Prorogationswirkung richtet sich freilich nach der lex fori des angerufenen drittstaatlichen Gerichts. 108 EuGH v. 9.12.2003, Rs. C-116/2002 (Erich Gasser/MISAT), Slg. 2003, I-14693, Rn. 72; EuGH v. 1.3.2005, Rs. C-281/2002 (Owusu/N. B. Jackson), Slg. 2005, I-1383, Rn. 37. 109 Instruktiv Heinze/Dutta, IPRax 2005, 224, 228. 110 Fawcett/Carruthers/North, Cheshire, North, and Fawcett on Private International Law, 290, 328; Kruger, Third States, Rn. 5.120; 5.124; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 99.

B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO

169

getroffene Aussage des EuGH, wonach der Abschluss des neuen Übereinkommens von Lugano Auswirkungen auf die ausschließlichen Gerichtsstände der EuGVVO habe: „Wenn das neue Übereinkommen von Lugano mit den Artikeln 22 und 23 der Verordnung Nr. 44/2001 gleichlautende Artikel enthält und der Gerichtsstand auf dieser Grundlage in einem Drittstaat liegt, der Partei dieses Übereinkommens ist, während der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat, läge der Gerichtsstand somit ohne das Übereinkommen im letztgenannten Staat, mit dem Übereinkommen dagegen im Drittstaat.“111

Da der Gerichtshof in seinem Gutachten davon auszugehen scheint, dass die Abbedingung des allgemeinen Gerichtsstands der EuGVVO erst durch den Abschluss des neuen Übereinkommens möglich wird, erlaubt die von ihm getroffene Aussage bei isolierter Betrachtung die Schlussfolgerung, dass Vereinbarungen zu Gunsten der Gerichte der Vertragsstaaten des LugÜ zuvor und diejenigen zu Gunsten der Gerichte anderer Drittstaaten auch danach keine Derogationswirkung entfalten.112 Die Prorogation drittstaatlicher Gerichte gegenüber den Zuständigkeiten der EuGVVO trotz der bestehenden Schwierigkeiten durchzusetzen, ist jedoch aus zwei Gründen der Mühe wert. Zum einen hat das europäische Zuständigkeitsrecht die wirksam ausgeübte Autonomie der Parteien zu respektieren; 113 die Entscheidung der Parteien für die Gerichte eines Drittstaates mag etwa aus Gründen der besonderen Sachnähe oder Neutralität gefällt worden sein. 114 Zum anderen ist es mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit schwer in Einklang zu bringen, neben einem vereinbarten ausschließlichen Gerichtsstand noch weitere Gerichtsstände

111

EuGH v. 7.2.2006 Gutachten 1/2003 – „Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Abschluss des neuen Übereinkommens von Lugano über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilund Handelssachen“, Slg. 2006, I-1145, Rn. 153. 112 Diese Verständnismöglichkeit der Aussage des EuGH ebenfalls aufzeigemd Heinig, Gerichtsstandsvereinbarungen, 128. 113 Vgl. nur Erwägungsgrund (14) der EuGVVO: „Vorbehaltlich der in dieser Verordnung festgelegten ausschließlichen Zuständigkeiten muss die Vertragsfreiheit der Parteien hinsichtlich der Wahl des Gerichtsstands […] gewahrt werden.“ Zu den Hintergründen der Parteiautonomie im internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht eingehend Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32, 50 ff.; Weller, Ordre-publicKontrolle internationaler Gerichtsstandsvereinbarungen im autonomen Zuständigkeitsrecht, 22 ff. 114 Heinig, Gerichtsstandsvereinbarungen, 129.

170

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

der EuGVVO zu eröffnen. 115 Wie lässt sich der auf den ersten Blick verbindliche Charakter der Verordnung also durchbrechen? Entscheidender Ansatzpunkt ist, dass Zuständigkeitsvereinbarungen zu Gunsten drittstaatlicher Gerichte schon nicht dem Regelungsbereich des europäischen Zuständigkeitsrechts unterfallen.116 Dafür spricht, dass bei der Abfassung des EuGVÜ allein die Regelung der Zuständigkeiten der Vertragsstaaten ins Auge gefasst wurde, da das erklärte Ziel des Übereinkommens, die Titelfreizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft zu gewährleisten, bereits durch die einseitige Ausgestaltung der Zuständigkeiten verwirklicht werden konnte. 117 Den Verfassern des EuGVÜ sollte folglich nicht die Intention unterstellt werden, den mitgliedstaatlichen Gerichten zu verbieten, jegliche europäische Zuständigkeit zu Gunsten eines Drittstaates abzulehnen.118 Vielmehr sollte der Regelungsbereich des europäischen Zuständigkeitsrechts von vornherein nicht auf Drittstaaten erstreckt werden; es besteht insoweit eine Lücke. 119 Die Aussage des EuGH im Rechtsgutachten zur Abschlusskompetenz für das LugÜ steht dieser Position nicht entgegen. Denn der Gerichthof prüft in diesem Gutachten lediglich den Einfluss des neuen Übereinkommens auf die Zuständigkeiten der EuGVVO. Die Frage nach der Wirkung der Prorogation von Gerichten in Drittstaaten wollten die Richter in Luxemburg – gerade mit Blick auf die weitreichenden Konsequenzen einer Antwort – keineswegs umfassend klären, 120 zumal der EuGH in der wenige Jahre zuvor ergangenen Entscheidung Coreck Maritime noch von einer Derogationswirkung auszugehen scheint.121 bb) Herleitung der Derogationswirkung – anwendbare Vorschriften? Steht dem Grunde nach also fest, dass Gerichtsstandsvereinbarungen zur Gunsten drittstaatlicher Gerichte die Zuständigkeiten der EuGVVO verdrängen sollen, bleibt zu klären, auf welche Vorschriften die Deroga115 Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, 7.98; Heinig, Gerichtsstandsvereinbarungen, 130. 116 Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 427. 117 Fentiman, in: Nuyts/Watté (Hg.), International Commercial Litigation in Europe and Relations with Third States, 83, 98 f. 118 Fentiman, in: Nuyts/Watté (Hg.), International Commercial Litigation in Europe and Relations with Third States, 83, 105. 119 Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 429. 120 Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, 7.101 f.; Heinig, Gerichtsstandsvereinbarungen, 129. 121 EuGH v. 9.11.2000, Rs. C-387/1998 (Coreck Maritime/Handelsveem u.a.), Slg. 2000, I-9337, Rn. 19.

B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO

171

tionswirkung gestützt werden kann. Während manche Autoren auf Art. 23 EuGVVO in analoger Anwendung zurückgreifen wollen,122 berufen andere das an sich gesperrte nationale Recht.123 Die erstgenannte Lösung hat den Vorteil, mit dem im Wortlaut des Art. 2 Abs. 1 EuGVVO angelegten Anwendungsvorrang der Verordnung nicht direkt in Widerspruch zu stehen. 124 Zudem wird die einheitliche Beurteilung der Derogationswirkung innerhalb der Gemeinschaft ermöglicht, was die europäisch-autonome Auslegung der Verordnung begünstigt.125 Schwierigkeiten bereitet jedoch die Begründung der Analogie zu Art. 23 EuGVVO: Es ist nämlich nicht ohne weiteres nachvollziehbar, warum eine vergleichbare Interessenlage besteht, wenn auf der einen Seite die Verpflichtung zur Beachtung einer Zuständigkeit der EuGVVO und auf der anderen Seite die Verpflichtung zur Beachtung einer drittstaatlichen Zuständigkeit in Rede steht. 126 Der Rückgriff auf das nationale Recht, für den sich der EuGH in der Coreck Martime-Entscheidung in Übereinstimmung mit dem Schlosser-Bericht ausgesprochen hat, 127 kommt zwar ohne den zweifelhaften Analogieschluss aus, liefert demgegenüber aber keine Lösung für das Problem des nach dem Wortlaut der EuGVVO bestehenden verbindlichen Charakters des Art. 2 Abs. 1 EuGVVO.

122

Geimer/Schütze/Geimer, Art. 23 EuGVVO, Rn. 41; von Hein, IPRax 2006, 16, 17; Heinze/Dutta, IPRax 2005, 224, 228; Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 23 Brüssel I-VO, Rn. 3b; Schack, IZVR, Rn. 531. 123 EuGH v. 9.11.2000, Rs. C-387/1998 (Coreck Maritime/Handelsveem u.a.), Slg. 2000, I-9337, Rn. 19; Schlosser-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/124; Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 120; Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, 7.103; Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution, Rn. 131; Heinig, Gerichtsstandsvereinbarungen, 138 ff.; MünchKommZPO/Gottwald, Art. 23 EuGVVO, Rn. 17; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 23 EuGVVO, Rn. 30. Die Derogation der Schutzgerichtsstände der Art. 13, 17, 21 EuGVVO kann jedoch auch nach der Auffassung des EuGH nicht auf das nationale Recht gestützt werden (EuGH v. 19.7.2012 Rs. C-154/11 (Mahamdia/Demokratische Volksrepublik Algerien), BeckRS 81474, Rn. 65). Die schützenden Sonderregeln verbieten nämlich bereits aus sich selbst heraus ihre Derogation; die Anwendung der lediglich deklaratorischen Schranke des Art. 23 Abs. 5 EuGVVO ist nicht erforderlich (zutreffend Heinig, Gerichtsstandsvereinbarungen, 132 ff.; a.A. etwa Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 120). 124 Heinze/Dutta, IPRax 2005, 224, 228. 125 Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 23 Brüssel I-VO, Rn. 3b. 126 Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 430; vgl. auch Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, 7.103. 127 EuGH v. 9.11.2000, Rs. C-387/1998 (Coreck Maritime/Handelsveem u.a.), Slg. 2000, I-9337, Rn. 19 unter Hinweis auf den Schlosser-Bericht, ABl.EG 1979 C 59/124.

172

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

Richtigerweise sollten das europäische und nationale Zuständigkeitsrecht gemeinsam berufen werden, um die Derogationswirkung von Zuständigkeitsvereinbarung zu Gunsten drittstaatlicher Gerichte zu begründen. Art. 23 EuGVVO verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht zur einheitlichen Beachtung der Zuständigkeit des Gerichts eines Drittstaates, was aber Konsequenz der analogen Anwendung des Art. 23 EuGVVO wäre.128 Vielmehr schafft die Vorschrift einheitliche Voraussetzungen, auf deren Grundlage die Mitgliedstaaten berechtigt sind, die Zuständigkeiten der EuGVVO zu verwerfen.129 Hinter dieser Auffassung steckt die Idee, dass der Verordnungsgeber, der die „Bestandskraft“ der Art. 2 ff EuGVVO gegenüber Zuständigkeitsvereinbarungen zu Gunsten mitgliedstaatlicher Gerichte in Art. 23 EuGVVO definiert hat, die Justizgewährung gemäß Art. 2 ff. EuGVVO erst Recht verlangt, wenn die Prorogation eines drittstaatlichen Gerichts die Vorgaben des Art. 23 EuGVVO nicht erfüllt.130 Gleichwohl steht es den Mitgliedstaaten frei, die Beachtung der vereinbarten Zuständigkeit in ihrem nationalen Prozessrecht an strengere Voraussetzungen zu koppeln, da die Verordnung in dieser Hinsicht den Rückgriff auf das nationale Recht nicht verbietet. 131 Kurz gesagt stellt Art. 23 EuGVVO also einheitliche Mindestanforderungen 132 für die Derogationswirkung von Zuständigkeitsvereinbarungen zu Gunsten drittstaatlicher Gerichte auf, die durch Voraussetzungen aus dem nationalen Recht aber weiter verschärft werden können.133 128

Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 430. Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 431. 130 Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 431. 131 Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 431. 132 Diese Auffassung steht nicht in Widerspruch zu der oben vertretenen Ablehnung der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Personen aus einem Drittstaat (siehe oben S. 149 ff.). Während die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Drittstaatsansässigen mit dem Argument verneint wird, dass die EuGVVO die Anwendung der Zuständigkeitsregeln gegenüber Drittstaatsansässigen nicht vereinheitlicht, wird die Anwendung des Art. 23 EuGVVO auf Gerichtsstandsvereinbarungen zu Gunsten drittstaatlicher Gerichte mit dem Argument bejaht, dass die EuGVVO einheitliche Mindestanforderungen an die Derogation ihrer eigenen Gerichtsstände stellt. 133 Streng genommen gelten diese Mindestanforderungen aber nur für Beklagte mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat (vgl. Art. 2 Abs. 1 EuGVVO). Wird ein Drittstaatsansässiger vor dem Gericht eines Mitgliedstaates verklagt, geht es gemäß Art. 4 Abs. 1 EuGVVO nur um die Derogation autonomer Zuständigkeiten. Um die Wirksamkeit der Vereinbarung nicht von der Prozessrolle der Parteien abhängig zu machen, sollte es aber genügen, dass die Vereinbarung das Potential hat, europäische Zuständigkeiten zu derogieren (Grolimund, Drittstaatenproblematik, Rn. 432; für 129

B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO

173

cc) Keine Ausnahme für die Derogation des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft Sofern die Voraussetzungen des Art. 23 EuGVVO und der Bestimmungen der lex fori erfüllt sind, derogieren Gerichtsstandsabreden zu Gunsten drittstaatlicher Gerichte folglich die fakultativen Gerichtstände der EuGVVO. Teile der Literatur verlangen indes, speziell den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft von der Derogationswirkung solcher Vereinbarungen auszunehmen, da die Zuständigkeit eines drittstaatlichen Gerichts gegenüber den Zielen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zurücktreten müsse.134 Die Begründung der Sonderbehandlung des forum connexitatis verfängt jedoch nicht. Denn zum einen sollen durch die Beachtung der Prorogation drittstaatlicher Gerichte nicht die Gerichtsinteressen des jeweiligen Drittstaats durchgesetzt werden, sondern der Vorrang der Parteiautonomie und das Gebot der Vorhersehbarkeit im Anwendungsbereich der EuGVVO gewahrt werden. Zum anderen tangiert die getrennte Verhandlung der von der Gerichtsstandsvereinbarung betroffenen Klage in einem Drittstaat schon nicht die ordnungsgemäße Rechtspflege der Mitgliedstaaten, da auf europäischer Ebene keine Gefahr widersprechender Entscheidung besteht. Vom Vorrang der Gerichtsstandsabreden zu Gunsten drittstaatlicher Gerichte gegenüber den fakultativen Gerichtsständen der Verordnung ist folglich auch zu Gunsten des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO keine Ausnahme zu machen.135 2. Vereinbarung mit dem Ankerbeklagten Weiterhin gilt es die Auswirkungen von Gerichtsstandsabreden, die mit dem Ankerbeklagten geschlossenen wurden, zu erörtern. Eher von dogmatischem Interesse sind zunächst Abreden, die auf den Wohnsitz des Ankerbeklagten zielen. Bei einer „technischen“ Betrachtung der Zuständigkeitsbegründung wirft diese Konstellation die Frage auf, wie damit umzugehen ist, dass gegenüber dem Ankerbeklagten nicht wie gewöhnlich Art. 2 Abs. 1 EuGVVO i.V.m. dem nationalen Prozessrecht zur Anwendung gelangt, sondern die Gerichtspflicht aus eine nach dem Wohnsitz des Beklagten differenzierende Lösung dagegen Bülow/ Bockstiegel/Auer, 606, Art. 17 EuGVÜ, Rn. 18). 134 Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 99; Fawcett/Carruthers/North, Cheshire, North, and Fawcett on Private International Law, 328; Bülow/Böckstiegel/Linke, 606, Art. 6 EuGVÜ, Rn. 82. 135 Ausdrücklich für die Derogation des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO durch Zuständigkeitsvereinbarungen zu Gunsten drittstaatlicher Gerichte auch Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand, 165 f.

174

Kapitel 4: Wohnsitz und Abgrenzung innerhalb der EuGVVO

Art. 23 EuGVVO resultiert. 136 Für die Irrelevanz der Rechtsgrundlage der Begründung der Zuständigkeit des Wohnsitzgerichts streiten jedoch sowohl der Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, demzufolge die gemeinsame Verhandlung vor dem „Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat“ erfolgen kann, als auch der Telos des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, widersprechende Entscheidungen durch die Konzentration konnexer Klagen zu vermeiden. 137 Stimmt der prorogierte Gerichtsort mit dem Wohnsitz des Ankerbeklagten überein, ist die gemeinsame Verhandlung folglich zulässig.138 Streitgenossen können jedoch nicht als Ankerbeklagte fungieren, wenn sie an Gerichtsstandsvereinbarungen gebunden sind, die auf ein anderes Gericht ihres Heimatstaates oder auf das Gericht eines anderen Mitgliedstaates abzielen. Denn es wäre widersinnig, das Verfahren am Wohnsitz eines Beklagten zu konzentrieren, der an der gemeinsamen Verhandlung selbst nicht teilnehmen kann. 139 An dieser Beurteilung ändert auch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Reisch Montage nichts. Zwar gestattet der Gerichtshof dem Kläger, den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft selbst dann anzurufen, wenn die Ankerklage bereits bei ihrer Erhebung nach nationalen Rechtsvorschriften unzulässig ist. 140 Die ohnehin zweifelhafte Auffassung des EuGH fußt jedoch auf dem Vorrang des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber den Prozessordnungen der Mitgliedstaaten, 141 und damit auf einer Begründung, die sich für die Verfahrenskonzentration am Wohnsitz eines gemäß Art. 23 EuGVVO andernorts gerichtspflichtigen Streitgenossens nicht anführen lässt.142 Ausgeschlossen ist die gemeinsame Verhandlung auch, wenn die mit dem Ankerbeklagten getroffene Abrede an ein drittstaatliches Gericht weist. Zwar sind zur Herleitung der Derogationswirkung einer solchen Vereinbarung neben Art. 23 EuGVVO unter Umständen auch die Be136

Dieses Problem bemerkt Geier, Streitgenossenschaft, 93, Fn. 471. Geier, Streitgenossenschaft, 93, Fn. 471. 138 So im Ergebnis auch Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution, Rn. 247, Fn. 2; O’Malley/Layton, European Civil Practice, N 17.80. Ausdrücklich a.A. dagegen Oetiker/Weibel/Rohner/Lerch, Art. 6 LugÜ, Rn. 4 (umfassender Ausschluss des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft bei Bindung des Ankerbeklagten an eine Gerichtsstandsabrede). 139 Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63, 83. 140 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 33. 141 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 29. 142 Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63, 83. 137

B. Abgrenzung zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO

175

stimmungen des nationalen Rechts heranzuziehen, sodass die Konstellation der in der Reisch Montage-Entscheidung bewerteten Situation näher kommt. Der Vorrang der vereinbarten Zuständigkeit begründet jedoch die Unzuständigkeit des Gerichts am Wohnsitz des Ankerbeklagten, wohingegen das im Fall Reisch Montage angerufene Gericht für die Ankerklage zuständig war, diese jedoch auf Grundlage nationaler Bestimmungen als unzulässig abweisen musste.143 3. Ergebnis Hat der Kläger mit dem Annexbeklagten die ausschließliche Zuständigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts vereinbart, wird Art. 6 Nr. 1 EuGVVO durch Art. 23 EuGVVO verdrängt, sodass die umfassende Konzentration des Verfahrens ausscheidet, sofern die Gerichtsstandsabrede nicht zufällig an das Gericht am Wohnsitz des Ankerbeklagten weist. Zielt die getroffene Vereinbarung dagegen auf ein drittstaatliches Gericht, leitet sich die Derogationswirkung nach hier vertretener Auffassung aus Art. 23 EuGVVO i.V.m. mit den eventuell strengeren Voraussetzungen des nationalen Prozessrechts des angerufenen Gerichts ab. Wurde die Gerichtsstandsabrede dagegen mit dem Ankerbeklagten geschlossen, kommt dessen Wohnsitzgericht für die gemeinsame Verhandlung im Regelfall nicht mehr in Betracht. Denn es wäre paradox, das Verfahren am Wohnsitz eines Streitgenossens zu konzentrieren, der gemäß Art. 23 EuGVVO (unter Umständen i.V.m. dem nationalen Prozessrecht) andernorts gerichtspflichtig ist.144 Eine Ausnahme gilt jedoch erneut für Fälle in denen die Parteien die Zuständigkeit des Wohnsitzgerichts des Ankerbeklagten vereinbart haben.

143

Vgl. GA Colomer, Schlussanträge v. 14.3.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 32. 144 Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63, 83.

Kapitel 5

Zusammenfassung des allgemeinen Teils Bevor im zweiten Teil der Arbeit die Anwendung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft im Patent- und im Kartelldeliktsrecht untersucht wird, soll das fünfte Kapitel eine Zusammenfassung der bisher gewonnenen Erkenntnisse liefern. Zunächst wird die bisherige Rechtsprechungslinie des EuGH zum Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nachgezeichnet (dazu unter I.). Im Anschluss wird die eigene Auffassung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO präsentiert (dazu unter II.).

A. Die Rechtsprechungslinie des EuGH zum Gerichtsstand der Streitgenossenschaft A. Die Rechtsprechungslinie des EuGH

Ausgangspunkt der Rechtsprechung des EuGH zum Gerichtsstand der Streitgenossenschaft bildet das Urteil Kalfelis. Um den Beklagten vor der ungerechtfertigten Inanspruchnahme außerhalb seines Wohnsitzstaates zu schützen, erkennt der Gerichtshof ungeachtet des uferlosen Wortlauts des Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ die Notwendigkeit zur Einführung des Erfordernisses der engen Beziehung der Klagen.1 In der Folge verstricken sich die Richter in Luxemburg bei der Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zunehmend in Widersprüche. Das missverständliche Urteil Réunion européenne 2 befeuerte Diskrepanzen in der nationalen Rechtsprechung hinsichtlich der Frage, ob der erforderliche Zusammenhang zwischen zwei auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhenden Klagen (z.B. vertragliche und deliktische Haftung) besteht. Die Entscheidung Freeport stellt schließlich klar, dass die unterschiedliche Qualität der Rechtsgrundlagen die Konnexität der Klagen nicht per se ausschließt, sondern nur als ein Gesichtspunkt bei der Prüfung durch das

1

EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 12. 2 EuGH v. 27.10.1998, Rs. C-51/1997 (Réunion européenne/Spliethoff's Bevrachtingskantoor und Kapitän des Schiffes „Alblasgracht V002“), Slg. 1998, I-6511, Rn. 50.

A. Die Rechtsprechungslinie des EuGH

177

nationale Gericht zu berücksichtigen ist. 3 Die Ablehnung der Konzentration von Klagen wegen der parallelen Verletzung verschiedener nationaler Teile eines europäischen Bündelpatents in der Entscheidung Roche Nederland4 legte den Schluss nahe, dass die Anwendung unterschiedlicher nationaler Rechtsordnungen der Konzentration der Klagen entgegensteht. Ein in dieser Entscheidung geäußertes obiter dictum ließ zudem vermuten, dass die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nach Auffassung des Gerichtshofs von einer Nähebeziehung der Beklagten abhängt, die in ihrer Qualität einer konzernrechtlichen Verbundenheit gleichkommt. 5 Nach der jüngeren Entscheidung Painer 6 ist die gemeinsame nationale Herkunft der Rechtsgrundlagen nun kein zwingendes Erfordernis mehr für die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft; die vollkommen unabhängige Begehung von Verletzungshandlungen ist lediglich ein Faktor bei der Beurteilung der Konnexität.7 Im Urteil Reisch Montage gestattete der EuGH dem Kläger die Erhebung einer offensichtlich unzulässigen Ankerklage zur Verfahrenskonzentration unter wortlautgetreuer Wiederholung der Missbrauchsschranke des Art. 6 Nr. 2 Hs. 2 EuGVVO. 8 Mit der Antwort auf die zweite Vorlagefrage der Rechtssache Freeport erklärt der Gerichtshof kurz darauf, dass die Anrufung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nicht unter dem Vorbehalt einer gesonderten Missbrauchsprüfung steht, da der Beklagte vor der missbräuchlichen Inanspruchnahme am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft durch das Konnexitätserfordernis ausreichend geschützt ist.9 Leichter als die Konkretisierung des Konnexitätserfordernisses fällt dem EuGH die Klärung spezieller Auslegungsfragen des Art. 6 Nr. 1

3

EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 47. 4 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535. 5 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 27, 34. 6 EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182. 7 EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 83. 8 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-103/2005 (Reisch Montage/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, Rn. 32. Vgl. auch schon EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 8 f. 9 EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 52 ff.

178

Kapitel 5: Zusammenfassung des allgemeinen Teils

EuGVVO. Mit der Ablehnung der Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft gegenüber Drittstaatsansässigen hat der Gerichtshof den räumlich-persönlichen Anwendungsbereich der Vorschrift rechtssicher definiert.10 Dass der Gerichtshof auch die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Arbeitgebern verneint, 11 ignoriert zwar den hinter dem fünften Abschnitt der EuGVVO stehenden Gedanken des Arbeitnehmerschutzes, ist angesichts des eindeutigen Wortlauts des Art. 18 Abs. 1 EuGVVO aber gut vertretbar.

B. Die eigene Auffassung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO B. Die eigene Auffassung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO

Die widerstreitenden Zuständigkeitsinteressen am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft lassen sich nur durch eine Interpretation des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auflösen, die der praktischen Wirksamkeit der Vorschrift zur Durchsetzung verhilft ohne die allgemeinen Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts zu ignorieren. Wichtigster Baustein im Auslegungskonzept zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ist die Erfassung des Bedeutungsgehalts der engen Beziehung der erhobenen Klagen. Das erste Element der Konnexität, die Gefahr widersprechender Entscheidungen, entscheidet über die Zweckmäßigkeit der Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft. Zur Beurteilung der Widerspruchsgefahr ist die Ankerklage mit den Annexklagen jeweils einzeln ins Verhältnis zu setzen, wobei die von den Beklagten gegen die Begründetheit der Klagen vorgetragenen Einwendungen keine Berücksichtigung finden. Das Tatbestandsmerkmal ist erfüllt, sofern die Klagen auf einer einheitlichen Sach- und Rechtslage fußen. Die einheitliche Rechtslage steht in Abhängigkeit zum Harmonisierungsgrad der potentiell zur Anwendung kommenden Rechtsvorschriften. Keine Schwierigkeiten bereitet das Kriterium bei der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in vollharmonisierten Rechtsgebieten. In teilharmonisierten Rechtsgebieten ist regelmäßig ebenfalls von einer einheitlichen Rechtslage auszugehen, da der Vorschrift ein abstraktes Verständnis von der Widerspruchsgefahr zugrundeliegt. Nicht erfüllt ist das Kriterium dagegen in unvereinheitlichten Rechtsgebieten, wenn das Kollisionsrecht des angerufenen Gerichts unterschiedliche nationale Rechtsordnungen 10

EuGH v. 11.4.2013, Rs. C-645/2011 (Land Berlin/Sapir u.a.), EuZW 2013,

503. 11 EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-462/2006 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline/Rouard), Slg. 2008, I-3965.

B. Die eigene Auffassung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO

179

beruft. Von einer einheitlichen Sachlage ist auszugehen, wenn zur Entscheidung über beide Klagen eine beträchtliche Zahl identischer Tatsachen herangezogen werden muss, ohne dass der Zusammenhang der zugrundeliegenden Lebensverhältnisse durch einen wesentlichen Unterschied zerstört wird. Zur Beurteilung der Wesentlichkeit eines tatsächlichen Unterschieds der Klagen darf ein offenkundiger gesetzgeberischer Wille zur Gleich- oder Andersbehandlung von Sachverhalten zum Anhaltspunkt genommen werden. Die mit der tendenziell großzügigen Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Gefahr widersprechender Entscheidungen verbundenen Nachteile für den Beklagtenschutz werden durch ein zweites, nicht unmittelbar im Tatbestand der Vorschrift angelegtes Element von Konnexität kompensiert. Um den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit in Einklang zu bringen, müssen Ankerund Annexbeklagter auf vorprozessualer Ebene in einen streitgenössischen Kontakt getreten sein. Das Kriterium ist erfüllt, wenn der Annexbeklagte bei der Vornahme des eigenen streitgegenständlichen Verhaltens willentlich eine Nähebeziehung zum Ankerbeklagten eingegangen ist und dabei Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis von dessen Wohnsitz sowie dessen streitgegenständlichen Verhaltens gehabt hat. Zur weiteren Konkretisierung des Konnexitätserfordernisses lässt sich zudem auf die gemeinsame haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Streitgenossen zurückgreifen. Die gemeinsame Haftung der Beklagten für dieselbe Verbindlichkeit, insbesondere aufgrund des Bestehens einer Gesamtschuld, garantiert, dass in getrennten Verhandlungen widersprechende Entscheidungen drohen. Der Rückgriff auf das anwendbare nationale Haftungsrecht begründet jedoch einen teilweisen Vorgriff der Sachentscheidung zu Lasten der Prozessökonomie des Verfahrens und steht im Spannungsverhältnis zur europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Nach hier vertretener Ansicht ist die Berücksichtigung einer offenkundigen gemeinsamen haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Beklagten jedoch zulässig, da es sich bei der Gefahr widersprechender Entscheidungen um ein normativ stark aufgeladenes Tatbestandsmerkmal handelt. Um eine Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft zu verhindern, sind an die Ankerklage spezielle Anforderungen zu stellen. Die Ankerklage darf nicht offenkundig kraft Gesetzes unzulässig sein. Bezüglich der Erfolgsaussichten in der Begründetheit muss die überschlägige Beurteilung der Rechtslage eine realistische Chance auf die Verurteilung des Ankerbeklagten ergeben. Zudem sollte das angerufene Gericht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vom Zutreffen des

180

Kapitel 5: Zusammenfassung des allgemeinen Teils

Tatsachenvortrags des Klägers ausgehen. In engen Grenzen gilt es schließlich eine Ausnahme vom Grundsatz der perpetuatio fori zu machen und zwar wenn der Kläger die Ankerklage unmittelbar nach ihrer Erhebung wieder zurücknimmt und die Annexbeklagten weitere Indizien vortragen, welche die Rechtsmissbräuchlichkeit der Erhebung der Ankerklage nahelegen. Das Kriterium des Wohnsitzes der Streitgenossen determiniert den räumlich-persönlichen Anwendungsbereich des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Der europäische Gerichtsstand der Streitgenossenschaft ist lediglich gegenüber Personen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat eröffnet. Annexbeklagte aus dem Gerichtsstaat oder aus einem Drittstaat dürfen der gemeinsamen Verhandlung dagegen nicht hinzugezogen werden. Die restriktive Ausformung des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs der Vorschrift hat den Nachteil, dass die gemeinsame Verhandlung mit Inländern oder Drittstaatsansässigen in Mitgliedstaaten, die über keine nationale Streitgenossenzuständigkeit verfügen, nicht immer möglich ist. Für die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO innerhalb der Sonderkompetenzregime der Abschnitte 3–5 gilt, dass lediglich Arbeitgeber, nicht aber andere Beklagte aus dem persönlichen Anwendungsbereich der Sonderregeln, der gemeinsamen Verhandlung als Annexbeklagte hinzugezogen werden dürfen. Ist der Annexbeklagte Partei einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung, die an ein anderes Gericht als das am Wohnsitz des Ankerbeklagten weist, wird Art. 6 Nr. 1 EuGVVO durch Art. 23 EuGVVO derogiert. Bei der Beurteilung der Derogationswirkung von Vereinbarungen zugunsten drittstaatlicher Gerichte sind zusätzlich die strengeren Anforderungen des nationalen Rechts zu berücksichtigen.

2. Teil

Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO Während im ersten Teil der Arbeit die allgemeinen Lehren des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO erörtert wurden, rückt der zweite Teil die Anwendung der Vorschrift auf dem Gebiet des Patent- und Kartelldeliktsrechts in den Fokus. Die Auswahl der beiden Rechtsgebiete stützt sich einerseits darauf, dass im Patent- wie im Kartelldeliktsrecht die Verfahrenskonzentration gegenüber mehreren Beklagten von besonderer Bedeutung ist: Der Inhaber eines Patents sieht sich einer Mehrzahl von Patentverletzern gegenüber, wenn sein Schutzrecht durch verschiedene Gesellschaften desselben Konzerns oder über verschiedene Marktstufen hinweg verletzt wurde. Dem Opfer eines Hardcore-Kartells stehen diverse Anspruchsgegner zur Verfügung, da die Durchsetzung der Kartellkonditionen am Markt naturgemäß das gemeinschaftliche Zusammenwirken Mehrerer voraussetzt. Andererseits ist auf den ausgewählten Rechtsgebieten in den vergangenen Jahren eine dynamische Entwicklung zu beobachten, die das Bedürfnis einer vertieften Auseinandersetzung mit Art. 6 Nr. 1 EuGVVO rechtfertigen: Im Patentrecht hat das Entscheidungspaar des EuGH Roche Nederland und GAT 1 die zivilprozessuale Ausgestaltung des europäischen Patentschutzes wesentlich verändert. Im Kartelldeliktsrecht hat die Courage-Entscheidung 2 des Gerichtshofs die Diskussion um die offensive Durchsetzung der EU-Wettbewerbsregeln vor den Zivilgerichten heftig angestoßen.

1 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535; EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-4/2003 (GAT/LuK), Slg. 2006, I-6509. 2 EuGH v. 20.9.2001, Rs. C-453/1999 (Courage/Crehan), Slg. 2001, I-6297.

Kapitel 6

Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Patentrecht A. Einführung A. Einführung

Dem Patent kommt als wichtigstes technisches Schutzrecht entscheidende Bedeutung für die gewinnbringende Verwertung technologischer Innovationen zu.1 Wenngleich die Ausgestaltung des Patentschutzes zuvörderst den Regelungen des materiellen Patentrechts obliegt, spielt das internationale Zivilverfahrensrecht für die effektive Durchsetzung von Patenten eine wesentliche Rolle.2 Da grenzüberschreitend tätige Unternehmen die weltweite Vermarktung ihrer Erfindungen anstreben, sind Patentverletzungsfälle mit Auslandsberührung heute die Regel geworden. 3 Die Internationalisierung des Wirtschaftsverkehrs stellt Patentinhaber vor die Herausforderung, ihre Rechtsposition in unterschiedlichen Jurisdiktionen zu verteidigen. Stehen dem Patentinhaber mehrere Patentverletzer aus verschiedenen Mitgliedstaaten gegenüber, erlaubt die Verfahrenskonzentration am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft eine wirksame Verteidigung gegen grenzüberschreitende Patentverletzungen. Die gebündelte Geltendmachung der Patentverletzungsklagen gemäß Art. 6 Nr. 1 EuGVVO verspricht dem Kläger einen „flächendeckenden“ Patentschutz, ohne mit den Nachteilen der Durchführung einer Vielzahl kosten- und zeitintensiver Verfahren in unterschiedlichen Jurisdiktionen verbunden zu sein.4 Voraussetzung der Anwendung der Vorschrift ist, dass zwischen den Patentverletzungsklagen eine so „enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu

1

Eingehend zum Beitrag des Patentschutzes für den technischen Fortschritt etwa Kraßer, Patentrecht, 42 ff. 2 Schauwecker, Extraterritoriale Patentverletzungsjurisdiktion, 1 f. 3 Kur, in: Drexl/Kur (Hg.), Intellectual Property and Private International Law, 21, 23. 4 Schlosser, JZ 2007, 305, 306, der Art. 6 Nr. 1 EuGVVO treffend als „zentrale Verteidigung“ gegen „großflächige Patentverletzungsstrategie[n]“ bezeichnet.

A. Einführung

183

vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.“ Nach den Erkenntnissen des allgemeinen Teils der Arbeit setzt sich die Konnexität der Klagen aus zwei Elementen zusammen: Einerseits müssen Anker- und Annexklage auf einer einheitlichen Sach- und Rechtslage beruhen. Das Kriterium der einheitlichen Rechtslage ist erfüllt, sofern Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in voll- oder teilharmonisierten Rechtsgebieten zur Anwendung gelangt, nicht jedoch, wenn in unvereinheitlichten Rechtsgebieten das Kollisionsrecht des angerufenen Gerichts unterschiedliche nationale Rechtsordnungen beruft. Die Annahme einer einheitlichen Sachlage ist gerechtfertigt, wenn zur Entscheidung über die Klagen eine beträchtliche Zahl identischer Tatsachen herangezogen werden muss, ohne dass der Zusammenhang der zugrundeliegenden Lebensverhältnisse durch einen wesentlichen Unterschied zerstört wird. 5 Andererseits müssen Anker- und Annexbeklagter in einen streitgenössischen Kontakt getreten sein, was das Bestehen einer vorprozessualen Nähebeziehung bei der Vornahme des streitgegenständlichen Verhaltens voraussetzt, die die Inanspruchnahme am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft vorhersehbar macht.6 Überträgt man die Vorgaben zum Konnexitätserfordernis auf die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Patentverletzungsklagen, lassen sich für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Verfahrenskonzentration drei Determinanten ausmachen. Der Verletzungsgegenstand bestimmt die auf die erhobenen Klagen zur Anwendung gelangenden Rechtsvorschriften. Nach den Verletzungshandlungen richtet sich der dem Verfahren zugrundeliegende Lebenssachverhalt. Die Verletzerbeziehung entscheidet schließlich über die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft für den der gemeinsamen Verhandlung hinzugezogenen Patentverletzer.7 5

Zur Konkretisierung der einheitlichen Sach- und Rechtslage siehe oben S. 61 ff. Zum streitgenössischen Kontakt siehe oben S. 75 ff. 7 Siehe auch Hölder, Durchsetzung, 43, der für die Beurteilung der Konnexität paralleler Patentverletzungsklagen drei Determinanten für entscheidungserheblich erachtet (den „Zusammenhang zwischen den betroffenen Schutzrechten“, den „Zusammenhang zwischen den angeblich verletzenden Ausführungsformen“ und den „Zusammenhang zwischen den Beklagten“), wobei die letztgenannte Determinante im Verlauf der Untersuchung noch verworfen wird (Hölder, Durchsetzung, 157). Nicht differenziert genug sind m.E. dagegen Untersuchungen der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Patentrecht, die lediglich zwischen der Art der Begehungsweise der Patentverletzung (gemeinschaftlich oder parallel) unterscheiden (so aber etwa Hye-Knudsen, Marken-, Patent- und Urheberrechtsverletzungen, 121 ff.; Winkler, Patentverletzungsstreitigkeiten, 124 ff.). 6

184

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

Die nachfolgende Untersuchung der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Patentverletzungsklagen gliedert sich entsprechend in drei Abschnitte: Unter Zugrundelegung der Definition der einheitlichen Rechtslage wird in einem ersten Schritt untersucht, wann ein zur gemeinsamen Verhandlung tauglicher Verletzungsgegenstand vorliegt (dazu unter B.). Auf Basis des Verständnisses von der einheitlichen Sachlage wird sodann beleuchtet, was die Gleichartigkeit der von den Streitgenossen begangenen Verletzungshandlungen kennzeichnet (dazu unter C.). Schließlich wird im dritten Abschnitt thematisiert, welche vorprozessuale Verbindung der Patentverletzern eine taugliche Verletzerbeziehung darstellt (dazu unter D.).

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

Welche Rechtsordnung bei der Entscheidung über eine Patentverletzungsklage anzuwenden ist, bestimmt sich nach den Regeln des internationalen Privatrechts der lex fori. Im Immaterialgüterrecht beruft das inzwischen in Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO normierte Schutzlandprinzip das Recht des Staates, für den der Schutz beansprucht wird (lex loci protectionis).8 Maßgeblich für die Bestimmung des anwendbaren Sachrechts ist somit, aus welcher Immaterialgüterrechtsordnung der Kläger seinen Schutz herleitet.9 Ob die am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erhobenen Klagen auf einer einheitlichen Rechtslage beruhen, richtet sich folglich nach dem Verletzungsgegenstand, also nach dem Immaterialgüterrecht oder den Immaterialgüterrechten, dessen bzw. deren Verletzung durch die Beklagten verhandelt wird. Im einfachsten Fall, dass mehrere Beklagte für die Verletzung desselben nationalen Patents zur Verantwortung gezogen werden, ist das Kriterium der einheitlichen Rechtslage beispielsweise erfüllt, weil sämtliche Verletzungsklagen nach den Vorschriften derselben nationalen Rechtsordnung zu beurteilen sind.10 Gegenstand der gemeinsamen Verhandlung am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft kann neben der Verletzung desselben nationalen Patents aber auch die Verletzung mehrerer nationaler Patente (erteilt auf

8

Zum Schutzlandprinzip siehe Dickinson, Rome II Regulation, Rn. 8.21 ff.; MünchKommBGB/Drexl, IntImm, Rn. 142 ff.; jurisPK-BGB/Heinze, Art. 8 Rom IIVO, Rn. 1 f.; Palandt/Thorn, Art. 8 Rom II-VO, Rn. 1 f. 9 Sehr klar jurisPK-BGB/Heinze, Art. 8 Rom II-VO, Rn. 14. 10 Zur Verletzung nationaler Patente unten S. 200 f.

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

185

dieselbe Erfindung) oder die Verletzung eines europäischen Bündelpatents sein. In diesen Konstellationen bereitet die Beurteilung der Einheitlichkeit der Rechtslage Schwierigkeiten, da nicht lediglich die Anwendung einer einzelnen Immaterialgüterrechtsordnung im Raum steht, sondern die Entscheidung über die erhobenen Patentverletzungsklagen von verschiedenen nationalen Rechten abhängen kann, die teilweise durch vereinheitlichte europäische Vorgaben überlagert werden. Die daraus resultierenden Problemstellungen werden nachstehend in einem ersten Schritt hinsichtlich Klagen wegen der Verletzung eines europäischen Bündelpatents untersucht (dazu unter I.). Im Anschluss werden die gewonnenen Erkenntnisse auf die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf Verletzungsklagen aus mehreren nationalen Patenten (dazu unter II.) übertragen. Schließlich widmet sich der Abschnitt dem jüngst verabschiedeten Reformpaket zur Schaffung eines europäischen Patents mit einheitlicher Wirkung (nachfolgend Einheitspatent), durch das zukünftig die Verfahrenskonzentration wegen eines dritten Verletzungsgegenstands möglich werden könnte (dazu unter III.). I.

Europäisches Bündelpatent

Das europäische Bündelpatent wird durch das Europäische Patentamt (EPA) in München nach den Regeln des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) 11 erteilt. Anmeldung, Verfahren und Erteilung eines europäischen Bündelpatents haben im EPÜ eine einheitliche Regelung erfahren.12 Insbesondere erhält das EPA gemäß Art. 64, 66 Abs. 1 EPÜ die Befugnis, Patente mit unmittelbarer Wirkung für die vom Anmelder benannten Vertragsstaaten zentral zu erteilen. 13 Die Wirkungen eines europäischen Bündelpatents und die Rechtsfolgen seiner Verletzung richten sich dagegen, von wenigen Ausnahmeregelungen abgesehen, 14 11

Übereinkommen über die Erteilung europäischer Patente v. 5.10.1973, BGBl. 1976 II, 649. 12 Kraßer, Patentrecht, 92. 13 Art. 64 Abs. 1 EPÜ lautet: „Das europäische Patent gewährt seinem Inhaber ab dem Tag der Bekanntmachung des Hinweises auf seine Erteilung im Europäischen Patentblatt in jedem Vertragsstaat, für den es erteilt ist, vorbehaltlich des Absatzes 2 dieselben Rechte, die ihm ein in diesem Staat erteiltes nationales Patent gewähren würde.“ Art. 66 EPÜ lautet: „Eine europäische Patentanmeldung, der ein Anmeldetag zuerkannt worden ist, hat in den benannten Vertragsstaaten die Wirkung einer vorschriftsmäßigen nationalen Anmeldung, gegebenenfalls mit der für die europäische Patentanmeldung in Anspruch genommenen Priorität“. 14 Vereinheitlicht wurden insbesondere die Gründe aus denen das europäische Bündelpatent in den einzelnen Vertragsstaaten für nichtig erklärt werden darf. Der Eingangssatz des Art. 138 EPÜ lautet: „Vorbehaltlich des Artikels 139 kann das

186

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

nach den nationalen Rechtsvorschriften der in der Anmeldung benannten Vertragsstaaten (siehe Art. 2 Abs. 2, 64 Abs. 3 EPÜ)15. Das europäische Bündelpatent zerfällt nach seiner zentralisierten Erteilung also „in ein Bündel nationaler Patente“.16 Zwischen dem rein nationalen Patent und dem in Zukunft existierenden Einheitspatent 17 nimmt das europäische Bündelpatent also eine Zwitterstellung ein: Weder darf es als rein nationales Recht verstanden werden, noch kommt ihm die Rolle eines einheitlichen supranationalen Schutzrechts zu.18 1. Differenzierung zwischen konzentrierten und parallelen Patentverletzungen Ob die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wegen der Verletzung eines europäischen Bündelpatents überwiegend einheitlich beurteilt wird oder aber heillos umstritten ist, richtet sich im Wesentlichen danach, ob der Kläger die konzentrierte oder parallele Verletzung der einzelnen nationalen Teile (auch „Splitter“ genannt) des europäischen Bündelpatents vorträgt. Von einer konzentrierten Patentverletzung spricht man, wenn alle Streitgenossen denselben nationalen Teil des europäischen Bündelpatents verletzen, sodass die harmonisierten Vorgaben des EPÜ nach dem Schutzlandprinzip (Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO) um Vorschriften derselben nationalen Rechtsordnung ergänzt werden. Parallele Patentverletzungen kennzeichnen sich hingegen dadurch, dass jeder Streitgenosse einen anderen nationalen Teil des europäischen Bündelpatents verletzt, was zur Vervollständigung der Vorgaben des EPÜ durch die Vorschriften verschiedener nationaler Rechtsordnungen führt. Die Begehungsweise der Verletzungshandlungen hat folglich Auswirkungen auf die international-privatrechtliche Beurteilung der Patentverletzungsklage, was nach einer Unterscheidung zwischen konzentrierten und

europäische Patent mit Wirkung für einen Vertragsstaat nur für nichtig erklärt werden, wenn […]“. 15 Art. 2 Abs. 2 EPÜ lautet: „Das europäische Patent hat in jedem Vertragsstaat, für den es erteilt worden ist, dieselbe Wirkung und unterliegt denselben Vorschriften wie ein in diesem Staat erteiltes nationales Patent, soweit dieses Übereinkommen nichts anderes bestimmt.“ Art. 64 Abs. 3 EPÜ lautet: „Eine Verletzung des europäischen Patents wird nach nationalem Recht behandelt“. 16 Kraßer, Patentrecht, 92. Treffend auch Brinkhof, IIC 2000, 706, 714: „Patents resulting from a European patent have their past in common but not their future“. 17 Zur Rechtsnatur des Einheitspatents noch auf S. 204. 18 Vgl. Hölder, Durchsetzung, 26: „Bündel von Schutzrechten mit europäischen und nationalen Komponenten“.

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

187

parallelen Patentverletzungen bei der Prüfung der einheitlichen Rechtslage verlangt.19 2. Konzentrierte Verletzung des europäischen Bündelpatents Zur Kategorie der konzentrierten Patentverletzung eines europäischen Bündelpatents zählen freilich alle Sachverhalte, in denen überhaupt nur die Verletzung eines nationalen Teils des europäischen Bündelpatents im Raum steht. 20 Von einer konzentrierten Verletzung ist aber auch dann auszugehen, wenn zwar mehrere nationale Teile des europäischen Bündelpatents betroffen sind, jeder Beklagte aber für die Verletzung eines jeden Splitters verantwortlich gemacht werden kann. Diese zweite Konstellation der konzentrierten Verletzung eines europäischen Bündelpatents lässt sich am Ausgangsverfahren der unlängst vor dem EuGH verhandelten Rechtssache Solvay veranschaulichen.21 a) Die Entscheidung Solvay Der Entscheidung Solvay lag ein Patentverletzungsverfahren vor der Rechtbank Den Haag zugrunde, das durch die in Belgien ansässige Solvay SA eingeleitet worden war. 22 Im Mittelpunkt dieses Verfahrens stand die Frage, ob drei zum Honeywell-Konzern gehörende Gesellschaften durch den Vertrieb eines identischen Erzeugnisses in zahlreiche Staaten verschiedene nationale Splitter eines europäischen Bündelpatents der Solvay SA verletzt hatten.23 Als Ankerbeklagte des erstinstanzlichen Verfahrens vor der Rechtbank ‘s-Gravenhage diente die niederländische 19

Der Zusammenhang zwischen Verletzungsart und anwendbarem Recht zeigt erneut die Wechselbezüglichkeit der den Klagen zugrundeliegenden Sach- und Rechtslage. Zur Fortwirkung der einheitlichen Sachlage in die einheitliche Rechtslage siehe oben S. 68. 20 Zur Veranschaulichung dieser Konstellation vgl. etwa den Sachverhalt der Entscheidung LG Düsseldorf, Urt. v. 16.1.1996 – 4 O 5/95, abrufbar unter: . In diesem Fall rügte der Kläger gegenüber sechs Beklagten die Verletzung des britischen Teils eines europäischen Bündelpatents durch den Vertrieb einer Fälschung eines Reinigungsmittels, dessen Herstellung und Verwendung in den Schutzbereich des Patents fiel, auf dem britischen Markt. 21 EuGH v. 12.7.2012, Rs. C-616/2010 (Solvay/Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), EuZW 2013, 837. 22 Rechtbank Den Haag v. 22.12.2010, ZA-09-2275, abrufbar unter: . 23 Im Raum stand die Verletzung des streitgegenständlichen Bündelpatents in Dänemark, Irland, Griechenland, Luxemburg, Österreich, Portugal, Finnland, Schweden, Liechtenstein und der Schweiz.

188

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

Gesellschaft Honeywell Fluorine Products Europe BV. Gegenüber den in Belgien ansässigen Gesellschaften Honeywell Belgium NV und Honeywell Europe NV sollte Art. 6 Nr. 1 EuGVVO die internationale und örtliche Zuständigkeit begründen. Die Besonderheit des Ausgangsverfahrens lag darin, dass jedem Beklagten vorgeworfen wurde, das Erzeugnis in jeden der betroffenen Mitgliedstaaten geliefert zu haben, sodass den Beklagten die Verletzung derselben nationalen Teile des europäischen Bündelpatents der Solvay SA zur Last fiel.24 Zur Vorabentscheidung stand aus diesem Grund die Frage, ob die Gefahr widersprechender Entscheidungen i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO besteht, wenn den Beklagten jeweils einzeln vorgeworfen wird, ein und denselben nationalen Teil eines europäischen Bündelpatents durch den Vertrieb desselben Erzeugnisses verletzt zu haben.25 Der Gerichtshof bejahte die Vorlagefrage der Rechtbank Den Haag. Zur Begründung betonten die Richter in Luxemburg, dass widersprechende Entscheidungen nicht ausgeschlossen seien, wenn in getrennten Verhandlungen „die gerügten Verletzungen nach dem jeweils für die verschiedenen nationalen Teile des europäischen Patents, die verletzt worden sein sollen, geltenden nationalen Recht [geprüft werden].“26 b) Zulässigkeit der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei konzentrierten Patentverletzungen Die Entscheidung des EuGH verdient Zustimmung. 27 Die Antwort des Gerichtshofs ist die konsequente Fortführung der vorherrschenden Auffassung, dass das Kriterium der einheitlichen Rechtslage erfüllt ist, wenn der Kläger die konzentrierte Verletzung eines einzelnen nationalen Splitters eines europäischen Bündelpatents durch die Beklagten vorträgt. 28 Zwar wird im Ausgangsverfahren der Solvay-Entscheidung die 24

GA Villalón, Schlussanträge v. 29.3.2012, Rs. C-616/2010 (Solvay/Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), BeckEuRS 2012, 672996, Rn. 23. 25 EuGH v. 12.7.2012, Rs. C-616/2010 (Solvay/Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), EuZW 2013, 837, Rn. 16. 26 EuGH v. 12.7.2012, Rs. C-616/2010 (Solvay/Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), EuZW 2013, 837, Rn. 28. 27 So auch Sujecki, GRUR Int. 2013, 201, 205 f.; kritisch, aber im Ergebnis zustimmend Schacht, GRUR 2012, 1110, 1111; Treppoz, Rev. crit. dr. int. priv. 102 (2013), 479, 481 f. 28 LG Düsseldorf, Urt. v. 16.1.1996 – 4 O 5/95, abrufbar unter: ; Adolphsen, IPRax 2007, 15, 20; Bodson, RDIDC 2007, 447, 479 f.; Bukow, Verletzungsklagen, 141 f.; Grabinski, GRUR Int. 2001, 199, 207; Hye-Knudsen, Marken- Patent- und Urheberrechtsverletzungen, 121; Rößler, IIC 2007, 380, 392; Winkler, Patentverletzungsstreitig-

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

189

Verletzung mehrerer nationaler Teile eines europäischen Bündelpatents gerügt. Dennoch wurde das europäische Bündelpatent nicht wie im Falle paralleler Patentverletzungshandlungen in seiner „transnationalen Gesamtstruktur“ verletzt. Vielmehr haben die Beklagten durch den Vertrieb des Erzeugnisses in dieselben Mitgliedstaaten ihre Verletzungshandlungen jeweils innerhalb desselben Schutzlands begangen, sodass die einzelnen nationalen Teile des europäischen Bündelpatents als eigenständige Verletzungsgegenstände angesehen werden dürfen.29 Bei näherer Betrachtung setzt sich das Ausgangsverfahren in der Rechtssache Solvay also aus mehreren „gemeinsamen Verhandlungen“ zusammen, in denen jeweils in Bezug auf sämtliche Beklagte der Vorwurf der Verletzung des in einem Schutzland geltenden nationalen Splitters des europäischen Bündelpatents erhoben wird. Da sich die Beurteilung der Rechtsfolgen der Patentverletzungen in jeder dieser Verhandlungen nach der Rechtsordnung des betroffenen Schutzlandes richtet, beruhen die Verletzungsklagen gegen die Streitgenossen auch insgesamt auf einer einheitlichen Rechtslage. Wenn die Verfahrenskonzentration gegenüber allen Beklagten aber in Hinblick auf die Verletzung eines jeden einzelnen nationalen Splitters zulässig ist,30 spricht nach den Vorschriften der EuGVVO 31 nichts dagegen, die gemeinsame Verhandlung auch in Hinblick auf die Verletzung der Summe aller nationalen Splitter zu erlauben.32 keiten, 124. Allerdings gehen die Autoren dabei zum Teil davon aus, dass bei der Verletzung nur eines einzelnen nationalen Splitters des europäischen Bündelpatents den Beklagten zwangsläufig ein gemeinschaftliches Vorgehen zur Last fällt. Auch unabhängig voneinander begangene Verletzungshandlungen können jedoch denselben nationalen Splitter eines europäischen Bündelpatents verletzen. Ein tauglicher Verletzungsgegenstand liegt in beiden Konstellationen vor. 29 Da Art. 6 Nr. 1 EuGVVO aufgrund der wohnsitzbezogenen Anknüpfung eine umfassende Kognitionsbefugnis vermittelt, dürfen ausländische Schutzrechte nach inzwischen allgemeiner Auffassung den Gegenstand der gemeinsamen Verhandlung bilden (siehe nur Hye-Knudsen, Marken-, Patent- und Urheberrechtsverletzungen, 20; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, Rn. 763; Mousseron/Raynard/Véron, IIC 1998, 884, 889 f.; Schauwecker, Extraterritoriale Patentverletzungsjurisdiktion, 85; Treppoz, Rev. crit. dr. int. priv. 102 (2013), 479, 484 f.). 30 Die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO setzt freilich voraus, dass auch das Kriterium der einheitlichen Sachlage und des streitgenössischen Kontakts ebenfalls erfüllt sind. 31 Über die Zulässigkeit der objektiven Klagehäufung entscheidet dann die lex fori (vgl. Geimer/Schütze/Geimer, Art. 6 EuGVVO, Rn. 13). 32 Die hier erörterte Konstellation ist insbesondere nicht zu verwechseln mit der unzulässigen prozessübergreifenden Verhandlung bei der ein nach der EuGVVO andernorts gerichtspflichtiger Beklagter mithilfe einer gerichtlichen Konsolidierungsbefugnis der lex fori dem Verfahren hinzugezogen wird (so im Fall Masri v Con-

190

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

Dass die Entscheidung des EuGH Zustimmung verdient, zeigt auch eine von Generalanwalt Villalón zum Kriterium der einheitlichen Rechtslage angestellte Überlegung. Käme Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Ausgangsverfahren nicht zur Anwendung, so müsste die Solvay SA die beiden belgischen Konzerne in einer getrennten Verhandlung an deren Sitzgericht gemäß Art. 2 Abs. 1 EuGVVO verklagen. 33 Das niederländische und das belgische Gericht müssten jedes für sich die in den Mitgliedstaaten gerügten Verletzungen nach der im jeweiligen Schutzland geltenden Immaterialgüterrechtsordnung prüfen. So müssten beide Gerichte z.B. nach finnischem Recht prüfen, ob die drei Beklagten des Ausgangsverfahrens den finnischen Teil des europäischen Bündelpatents dadurch verletzt haben, dass sie dasselbe patentverletzende Erzeugnis im finnischen Hoheitsgebiet vertrieben haben.34

solidated Contractors International (UK) [2005] EWHC 944; zustimmend Briggs/ Rees, Civil Jurisdiction and Judgments, Rn. 2.203; ablehnend Knöfel, IPRax 2006, 503 ff.). Der Court of Appeal hat die Rechtsauffassung des High Court bestätigt (Masri v Consolidated Contractors Group SAL [2005] EWCA Civ 1436 [34]). In der Entscheidung des House of Lords (inzwischen Supreme Court) war die Frage dann nicht mehr entscheidungserheblich (Masri v Consolidated Contractors International Co SAL [2009] UKHL 43 [39]). 33 Die Klageerhebung an den Sitzgerichten ist zumindest erforderlich, wenn über sämtliche Patentverletzungen mit umfassender Kognitionsbefugnis verhandelt werden soll, da die Klage am Deliktsgerichtsstand des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO in jedem der betroffenen Schutzländer erhoben werden müsste. 34 GA Villalón, Schlussanträge v. 29.3.2012, Rs. C-616/2010 (Solvay/Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), BeckEuRS 2012, 672996, Rn. 24 f.; ihm folgend EuGH v. 12.7.2012, Rs. C-616/2010 (Solvay/Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), EuZW 2013, 837, Rn. 28. Schacht versteht die Überlegung des Generalanwalts so, dass die Widerspruchsgefahr damit begründen werden soll, dass im Falle der getrennten Klageerhebung in Belgien und den Niederlanden sich jedes beklagte Unternehmen vor beiden Gerichten verantworten muss (Schacht, GRUR 2012, 1110, 1112). In der Tat ist insbesondere das Urteil des Gerichtshofs etwas missverständlich, wenn es darin heißt, „zwei Gerichte [müssten] jedes für sich […] nach finnischem Recht prüfen, ob die Honeywell-Gesellschaften den finnischen Teil des europäischen Patents […] verletzt haben.“ (EuGH v. 12.7.2012, Rs. C-616/2010 (Solvay/Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), EuZW 2013, 837, Rn. 28, Hervorhebung durch den Verfasser). M.E. handelt es sich hierbei jedoch lediglich um eine sprachliche Ungenauigkeit. Genau genommen müsste die Entscheidungsbegründung an dieser Stelle klarstellen, dass das niederländische Gericht nach finnischem Recht prüfen müsste, ob die Honeywell Fluorine Products Europe BV den finnischen Teil des europäischen Patents verletzt hat, und, dass das belgische Gericht ebenfalls nach finnischem Recht prüfen müsste, ob die Honeywell Belgium NV und die Honeywell Europe NV den finnischen Teil des europäischen Patents verletzt haben“.

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

191

c) Fazit Wird am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft über die konzentrierte Verletzung eines europäischen Bündelpatents verhandelt, ist das Kriterium der einheitlichen Rechtslage erfüllt und zwar unabhängig davon, ob die Verletzungshandlungen der Beklagten einen einzelnen oder mehrere nationale Splitter des europäischen Bündelpatents betreffen. 3. Parallele Verletzung des europäischen Bündelpatents An der Schnittstelle von europäischem Zuständigkeits- und Immaterialgüterrecht war in den vergangenen 15 Jahren kaum ein anderes Thema so umkämpft wie die Zulässigkeit der Konzentration von Klagen wegen der parallelen Verletzung eines europäischen Bündelpatents. Die Diskussion entzündete sich vor allem an der Frage, ob die aus mehreren nationalen Splittern bestehende Gesamtstruktur eines europäischen Bündelpatents die einheitliche Rechtslage i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO begründen könne. Die mitgliedstaatliche Rechtsprechung gab darauf unterschiedliche Antworten: In Deutschland wurde die Konnexität paralleler Verletzungsklagen mit dem Verweis auf die rechtliche Unabhängigkeit der einzelnen nationalen Teile des europäischen Bündelpatents verneint.35 Die niederländischen Gerichte zeigten sich dagegen aufgeschlossen gegenüber der Konzentration paralleler Verletzungsklagen,36 obschon die restriktive Auslegung des Kriteriums der Verletzerbeziehung in späteren Entscheidungen noch zu einer erheblichen Einschränkung der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO führte. 37 Uneinheitlich entwickelte sich die Rechtsprechung in England: Während der High Court anfangs noch betonte, dass sich das europäische Bündelpatent aufgrund der einheitlichen Vorgaben des EPÜ in seiner Rechtsnatur von rein nationalen Patenten unter-

35

LG Düsseldorf v. 22.3.2001, InstGE 1, 146. Siehe nur Rechtbank Den Haag v. 22.12.1994, I.E.R. 1995, 18; deutsche Zusammenfassung bei de Witt, Mitt. 1996, 225, 227. Ausführlich zur niederländischen Rechtsprechung zur Konzentration paralleler Patentverletzungsklagen Rößler, IIC 2007, 380, 389 f.; Winkler, Patentverletzungsstreitigkeiten, 131 ff. 37 Siehe nur Gerechtshof Den Haag v. 23.4.1998, [1999] F.S.R. 352 ff (englische Übersetzung des Urteils). Zur sog. spider in the web-Doktrin, deren hohe Anforderungen Zweifel daran begründen, ob die niederländischen Gerichte das europäische Bündelpatent in seiner transnationalen Gesamtstruktur überhaupt als tauglichen Verletzungsgegenstand erachten, noch auf S. 220 f. 36

192

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

scheide,38 hielt der Court of Appeal in einem später ergangenen Urteil widersprechende Entscheidungen mit der Begründung für ausgeschlossen, dass parallele Verletzungsklagen eigenständige Schutzrechte beträfen, die in ihrem rechtlichen Schicksal unabhängig seien.39 Um die Entscheidungen der nationalen Gerichte rankte sich eine in der Literatur lebhaft geführte Debatte, in der einige Stimmen leidenschaftlich für die Zulässigkeit der einheitlichen Entscheidung über parallele Patentverletzungsklagen plädierten,40 andere Autoren die Notwendigkeit zur getrennten Verhandlung der einzelnen nationalen Splitter eines europäischen Bündelpatents dagegen schlicht als systemimmanente Konsequenz des EPÜ abtaten.41 Als der EuGH schließlich im Jahr 2006 Gelegenheit zur Stellungnahme erhielt,42 erteilte das Urteil Roche Nederland der Konzentration von Klagen wegen der parallelen Verletzung eines europäischen Bündelpatents eine deutliche Absage.43 Wenngleich die Entscheidung der uneinheitlichen Praxis der europäischen Gerichte ein Ende setzte, beschwor die vom EuGH vertretene Position im Schrifttum einen Sturm der Entrüstung herauf, 44 sorgte für den Vor38

Coin Control Ltd v Suzo International (UK) Ltd And Others [1997] 3 All E.R. 45; deutsche Zusammenfassung der Urteilsgründe abgedruckt in GRUR Int. 1998, 314 ff. 39 Fort Dodge Animal Health Ltd v AKZO Nobel NV and Intervet International BV, [1998] F.S.R. 222, 236; eingehend zur englischen Rechtsprechung Fawcett/ Torremans, Intellectual Property and Private International Law, Rn. 5.121 f. 40 So etwa Stauder, GRUR 1976, 466, 477; Hölder, Durchsetzung, 88 f. 41 So etwa Brinkhof, GRUR Int. 1997, 489, 492; Véron, RDPI 95 (1999), 37, 40; Grabinsiki, GRUR Int. 2001, 199, 207. 42 Der Fall Fort Dodge Animal Health Ltd v AKZO Nobel NV And Others [1998] F.S.R. 222 endete im Vergleich, bevor der EuGH zu einer Vorlage des High Court Stellung nehmen konnte (so Karet, EIPR 1998, 76, 80). 43 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535. 44 Pointiert Schlosser, JZ 2007, 305, 306 „Das glatte und bedingungslose ‚nein‘ des EuGH zur subjektiven Klagehäufung in solchen Fällen macht einen zentral wegen einer Patentverletzungsstrategie geführten Prozess unmöglich und legt damit den Patentschutz gerade da weitgehend lahm, wo es um großflächige Strategien der Patentverletzung geht“. Ablehnend auch Briggs, LMCLQ 2006, 447, 451; Heinze, Einstweiliger Rechtsschutz, 238 f.; Hess/Pfeiffer/Schlosser, Heidelberg Report, Rn. 833; Kur, IIC 2006, 844, 849; Norrgård, in: Leible/Ohly (Hg.), Intellectual property and private international law, 211, 219; Schauwecker, Extraterritoriale Patentverletzungsjurisdiktion, 375 ff.; Schlosser, JZ 2007, 305, 306; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 101; Treppoz, Rev. crit. dr. int. priv. 102 (2013), 479, 481; Warner/ Middlemiss, EIPR 2006, 580, 584 f.; Wilderspin, Rev. crit. dr. int. priv. 95 (2006), 777, 789 ff.; Wittwer, ELR 2006, 391, 393 f. Zustimmend dagegen Adolphsen, IPRax 2007, 15, 20; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 11; Lüthi, System, Rn. 872; Knöfel, MR-Int 2006, 127, 129; Thiran, J.T. 2006, 724, 725.

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

193

schlag einer Neuregelung innerhalb der EuGVVO45 und hauchte dem ins Stocken geratenen Integrationsprozess bezüglich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes für das Gebiet der EU neues Leben ein.46 Das letzte Wort zur Bündelung paralleler Patentverletzungsklagen scheint also noch lange nicht gesprochen. a) Die Entscheidung Roche Nederland Die Erfinder Primus und Goldenberg verklagten im Jahr 1997 die niederländische Roche Nederland BV und acht weitere Gesellschaften des Roche Konzerns vor der Rechtbank Den Haag.47 Die Kläger warfen den Gesellschaften vor, den jeweils in ihrem Sitzstaat geltenden Teil eines europäischen Bündelpatents durch die dortige Vermarktung eines patentierten Erzeugnisses verletzt zu haben. Der letztinstanzlich mit der Klärung der internationalen Zuständigkeit betraute Hoge Raad legte dem EuGH daraufhin die Frage vor, ob Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ den Inhaber eines europäischen Bündelpatents berechtige, ein gebündeltes Patentverletzungsverfahren wegen der parallelen Verletzung der nationalen Splitter des europäischen Bündelpatents anzustrengen.48 Der EuGH verneinte die Vorlagefrage. Gegen die Einheitlichkeit der Rechtslage spreche, dass im Falle der parallelen Begehung der Verletzungshandlungen über die Rechtsfolgen der Verletzung gemäß Art. 64 45

Im Heidelberg Report wurde die Einführung eines Art. 6 Nr. 1(a) EuGVVO für Klagen aus gewerblichen Schutzrechten vorgeschlagen (Hess/Pfeiffer/Schlosser, Heidelberg Report, Rn. 921). In die gleiche Richtung geht Art. 2:206 des Vorschlags der European Max Planck Group on Conflict of Laws in Intellectual Property (CLIP), der auf eine Zusammenarbeit des Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg sowie des Max-Planck-Instituts für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrechts in München zurückgeht, abrufbar unter: . Eingehend zu diesem Regelungsvorschlag Heinze, in: Basedow/Drexl (Hg.), Conflict of Laws in Intellectual Property, 103 ff.; Kur, GRUR Int. 2012, 857, 861. 46 Die Möglichkeit einer Reform des europäischen Patentwesens bereits betonend GA Léger, Schlussanträge v. 8.12.2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./ Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 139, 143; siehe auch die Prognose von Warner/ Middlemiss, EIPR 2006, 580, 585. 47 Sechs Gesellschaften waren in den Mitgliedstaaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritanien, Österreich und Schweden ansässig. Die Zuständigkeit gegenüber der Schweizer Tochtergesellschaft stützten die Kläger auf Art. 6 Nr. 1 LugÜ. Für die in den USA ansässige Tochtergesellschaft durfte gemäß Art. 4 Abs. 1 EuGVÜ autonomes niederländisches Prozessrecht zur Anwendung kommen. 48 Die zweite Vorlagefrage des Hoge Raad betraf die noch im Rahmen der Verletzerbeziehung zu thematisierende spider in the web-Doktrin der niederländischen Rechtsprechung.

194

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

Abs. 3 EPÜ nach dem Recht des jeweiligen Erteilungsstaates entschieden würde. Trotz der europäischen Teilharmonisierung des Patentrechts durch das EPÜ bestünden zwischen den ergänzend zur Anwendung kommenden nationalen Vorschriften beträchtliche Unterschiede, 49 auf deren Grundlage abweichende Entscheidungen nicht als einander widersprechend angesehen werden könnten. 50 Auch prozessökonomische Erwägungen stritten nicht für die Konzentration von Patentverletzungsklagen: Zum einen verursache eine umfangreiche Prüfung der Konnexität zusätzliche Kosten und eine Verlängerung des Verfahrens, sofern das angerufene Gericht anschließend seine Zuständigkeit verneint. 51 Zum anderen sei aufgrund der ausschließlichen Zuständigkeit des Art. 16 Nr. 4 EuGVÜ (jetzt Art. 22 Nr. 4 EuGVVO) eine Zersplitterung des am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft konzentrierten Verfahrens häufig ohnehin unvermeidbar, da in der Praxis typischerweise die Nichtigkeit des verletzten Patents eingewendet werde.52 b) Unvereinbarkeit der Roche Nederland-Entscheidung mit der Konkretisierung der einheitlichen Rechtslage Die Auffassung des EuGH ist mit der im allgemeinen Teil dieser Arbeit entwickelten Konkretisierung des Kriteriums der einheitlichen Rechtslage nicht vereinbar. Der Gerichtshof verkennt in der Entscheidung Roche Nederland, dass die Gefahr widersprechender Entscheidungen bereits besteht, wenn auf zwei auf einer einheitlichen Sachlage beruhenden Klagen teilweise vereinheitlichte Rechtsvorschriften zur Anwendung gelangen. Zwar zerfällt das europäische Bündelpatent auf Ebene der Rechtsdurchsetzung in einzelne nationale Splitter,53 sodass die 49

EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 29 ff.; GA Léger, Schlussanträge v. 8.12.2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 118. 50 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 29 ff. 51 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 39. 52 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 40. Die zuständigkeitsrechtliche Beachtlichkeit des Nichtigkeitseinwands wurde in einer am gleichen Tag ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs festgestellt (EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-4/2003 (GAT/LuK), Slg. 2006, I-6509). Kritisch zur GAT-Entscheidung etwa Briggs, LMCLQ 2006, 447, 448 ff.; Heinze/Roffael, GRUR Int. 2006, 787 ff.; Kur, IIC 2006, 844, 847 ff.; Wilderspin, Rev. crit. dr. int. priv. 95 (2006), 777, 778 ff. 53 Die Nichtigerklärung gemäß Art. 138 Abs. 1 EPÜ erfolgt „mit Wirkung für einen Vertragsstaat“.

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

195

einzelnen Verletzungsklagen nicht lediglich nach den harmonisierten Vorgaben des EPÜ, sondern ergänzend nach den Bestimmungen verschiedener nationaler Rechtsordnungen zu beurteilen sind (siehe Art. 2 Abs. 2, 64 Abs. 3 EPÜ) 54 . 55 Das Risiko der widersprüchlichen Beurteilung der erhobenen Verletzungsklagen besteht jedoch insbesondere in Hinblick auf die durch Art. 69 EPÜ56 harmonisierten Leitlinien für den inhaltlichen Schutzbereich des europäischen Bündelpatents.57 Die Konnexität der Klagen kann auch nicht mit dem Argument zurückgewiesen werden, dass es der konkreten Prognose bedürfe, ob die vereinheitlichten Vorschriften des EPÜ auch konkret zur Anwendung kommen,58 da bereits die abstrakte Gefahr der widersprechenden Beurteilung harmonisierter Bestimmungen die Annahme einer einheitlichen Rechtslage erlaubt.59 Dass die zusätzliche Anwendung unterschiedlicher nationaler Rechtsvorschriften den Sachzusammenhang der Klagen nicht zerstört, hat der EuGH in der unlängst ergangenen Entscheidung Painer in Hinblick auf ein anderes teilharmonisiertes Rechtsgebiet des geistigen Eigentums,

54 Art. 2 Abs. 2 EPÜ: „Das europäische Patent hat in jedem Vertragsstaat, für den es erteilt worden ist, dieselbe Wirkung und unterliegt denselben Vorschriften wie ein in diesem Staat erteiltes nationales Patent, soweit dieses Übereinkommen nichts anderes bestimmt.“ Art. 64 Abs. 3 EPÜ: „Eine Verletzung des europäischen Patents wird nach nationalem Recht behandelt“. 55 Mit der zusätzlichen Anwendung verschiedener nationaler Rechtsordnungen begründen einige Autoren ihre Zustimmung zur Auffassung des EuGH Adolphsen, IPRax 2007, 15, 20; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 6 EuGVO, Rn. 11; Knöfel, MR-Int 2006, 127, 129; Thiran, J.T. 2006, 724, 725. 56 Art 69 Abs. 1 EPÜ: „Der Schutzbereich des europäischen Patents und der europäischen Patentanmeldung wird durch den Inhalt der Patentansprüche bestimmt. Die Beschreibung und die Zeichnungen sind jedoch zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen“. 57 Diese Eigenschaft des Bündelpatents betonen die kritischen Besprechungen des Urteils: Heinze, Einstweiliger Rechtsschutz, 238 f.; Hess/Pfeiffer/Schlosser, Heidelberg Report, Rn. 833; Kur, IIC 2006, 844, 849; Norrgård, in: Leible/Ohly (Hg.), Intellectual property and private international law, 211, 219; Schauwecker, Extraterritoriale Patentverletzungsjurisdiktion, 376; Schlosser, JZ 2007, 305, 306; Tang, E.L.Rev. 34 (2009), 80, 101; Wittwer, ELR 2006, 391, 393 f.; vgl. auch Heinze, in: Basedow/Drexl (Hg.), Conflict of Laws in Intellectual Property, 103, 109 zu Art 2:206 CLIP. 58 So das Vorgehen von Lange, GRUR 2007, 107, 112, der die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Markenrecht von der Prognose abhängig machen will, ob die konkret entscheidungserheblichen Fragen mithilfe unionsrechtlicher Vorgaben beantwortet werden müssen. 59 Zur Abstraktheit des Gefahrbegriffs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO eingehend oben S. 65 ff.

196

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

dem Urheberrecht, selbst festgestellt. 60 Es scheint also, als hätten sich die Richter in Luxemburg bei der Begründung des Urteils Roche Nederland von der „formallogischen“ Unabhängigkeit der einzelnen nationalen Splitter eines europäischen Bündelpatents blenden lassen.61 Unter Berücksichtigung der zur einheitlichen Rechtslage gewonnenen Erkenntnisse bildet das europäische Bündelpatent folglich auch bei seiner parallelen Verletzung einen tauglichen Verletzungsgegenstand. c) Keine Rechtfertigung der Sonderbehandlung des europäischen Bündelpatents durch das Territorialitätsprinzip Die Rechtsfindung der Entscheidung Roche Nederland ließe sich allenfalls aufrechterhalten, wenn die starke Prägung des Patentrechts durch das Territorialitätsprinzip die immaterialgüterrechtsspezifische Betrachtungsweise des EuGH ausnahmsweise rechtfertigt. Dafür spricht zunächst, dass das im Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 EPÜ zum Ausdruck kommende Souveränitätsverständnis der Vertragsstaaten die territoriale Reichweite der Splitter eines europäischen Bündelpatents zwingend auf den jeweiligen Erteilungsstaat begrenzt.62 Insoweit unterscheidet sich das europäische Bündelpatent einerseits von supranationalen Schutzrechten wie der Gemeinschaftsmarke und andererseits von formlosen Schutzrechten wie dem Urheberrecht: Klagen wegen der parallelen Verletzung z.B. einer Gemeinschaftsmarke beziehen sich auch formallogisch auf dasselbe Immaterialgüterrecht, 63 was die h.M. mit vergleichsweise geringem Begründungsaufwand zur Bejahung der einheitlichen Rechtslage kommen lässt. 64 Formlose Schutzrechte wie das 60 EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 81 f. 61 Schlosser, JZ 2007, 305, 306. A.A. Lüthi, System, Rn. 872; Thiran, J.T. 2006, 724, 725, die die Roche Nederland-Entscheidung wegen der formalen Betroffenheit verschiedener Immaterialgüterrechte gerade begrüßen. 62 Schack, FS Kropholler 2008, 651, 662; Staudinger/Fezer/Koos, IntWirtR, Rn. 1034. 63 Obgleich die GMV hinsichtlich der Verletzungsfolgen ebenfalls auf nationales Recht verweist, da sie die im Verletzungsfalle zustehenden Ansprüche nicht vollständig regelt. In Deutschland bringt die „Schaniernorm“ des § 125b MarkG ergänzend nationales Recht zur Anwendung (Ingerl/Rohnke, MarkG, § 125b, Rn. 1, 8). 64 BGH v. 14.12.2006, GRUR 2007, 705, 708, Rn. 18; OGH v. 15.1.2013, GRUR Int. 2013, 569; Heinze, Europäisches Immaterialgüterrecht, 240; Knaak, GRUR Int. 2007, 386, 391; Lüthi, System, Rn. 876; Bukow, Verletzungsklagen, 201; Schaper, Gemeinschaftsmarke, 137. Vorsichtiger Lange, GRUR 2007, 107, 112, der im Einzelfall prüfen will, ob zur Beurteilung der Klagen harmonisierte Vorschriften konkret relevant werden.

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

197

Urheberrecht entstehen nicht durch einen staatlichen Registerakt, sodass das Territorialitätsprinzip dieses Gebiet des europäischen Immaterialgüterrechts weit weniger stark prägt als das Patentrecht.65 Zuzugeben ist ferner, dass die Geltung des Territorialitätsprinzips in internationalen Patentverletzungsverfahren durch die am gleichen Tag ergangene Entscheidung GAT66 weiter gefestigt wurde.67 Geht man wie der Gerichtshof davon aus, dass der Beklagte die getrennte Verhandlung der Klagen im Schutzland gemäß Art. 22 Nr. 4 EuGVVO ohnehin durch Erhebung des Nichtigkeitseinwands herbeiführen kann, erscheint es zumindest konsequent, die gemeinsame Verhandlung am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft von vornherein zu untersagen.68 M.E. ist eine Sonderbehandlung patentrechtlicher Verletzungsklagen gegenüber Verletzungsklagen aus anderen teilharmonisierten Rechtsgebieten dennoch nicht gerechtfertigt. Das Territorialitätsprinzip steht nicht im Widerspruch zur gemeinsamen Verhandlung über verschiedene nationale Splitter eines europäischen Bündelpatents. Denn das EPÜ wirkt über das gemeinsame Erteilungsverfahren hinaus auf die Inhaltsgleichheit der einzelnen nationalen Splitter hin, indem Art. 69 EPÜ und das dazugehörige Auslegungsprotokoll vorschreiben, auf welcher Grundlage der Schutzbereich des Patents in den Vertragsstaaten zu ermitteln ist.69 Danach haben die nationalen Richter im Umgang mit dem EPÜ die Rechtsprechung der anderen Mitgliedstaaten als Quelle internationalen 65

Staudinger/Fezer/Koos, IntWirtschR, Rn. 1068, zum Streitstand siehe Rn. 1064 ff. Mitunter gilt das Territorialitätsprinzip zugunsten des Universalitätsprinzips gar als vollständig überholt (eingehend Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht, Rn. 910 ff.). 66 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-4/2003 (GAT/LuK), Slg. 2006, I-6509, Rn. 24. 67 Adolphsen, IPRax 2007, 15 spricht treffend von einer „Renationalisierung von Patentstreitigkeiten in Europa“. 68 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, 6583, Rn. 40. H. Roth, FS Kropholler 2008, 882, 902 f. erblickt in den Konsequenzen der GAT-Entscheidung gar die Rechtfertigung der in der Roche Nederland-Entscheidung vertretenen Rechtsaufassung. Da die in der GAT-Entscheidung vertretene Rechtsauffassung des EuGH aber ebenfalls nicht richtig ist (zutreffende Kritik bei Heinze/Roffael, GRUR Int. 2006, 787 ff.; Kur, IIC 2006, 844, 847 ff.) sollte man dieses Argument jedoch nicht durchschlagen lassen. Zu beachten ist ferner, dass ein von den Beklagten erhobener Nichtigkeitseinwand in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht zur Verfahrenszersplitterung führt (EuGH v. 12.7.2012, Rs. C-616/2010 (Solvay/Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), EuZW 2013, 837, Rn. 51). De lege ferenda ist die Berücksichtigung des Nichtigkeitseinwands in Art. 24 Nr. 4 EuGVVO n.F. allerdings ausdrücklich normiert. 69 Brinkhof, GRUR Int. 1996, 1115 f.; Brändle, IIC 1999, 875 ff.; Hölder, Durchsetzung, 88 f.; Singer/Stauder, EPC, Volume 1, Art. 2, Rn. 10; Schauwecker, Extraterritoriale Patentverletzungsjurisdiktion, 376.

198

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

Einheitsrechts zu berücksichtigen.70 Zwar wird das Bestehen einer einheitlichen europäischen Gerichtspraxis zur Bestimmung des Schutzbereichs insbesondere mit dem Argument bezweifelt, die letztlich entscheidende Frage, ob ein Patent hinsichtlich einer äquivalenten Ausführungsform überhaupt Verbotswirkung entfalte, könne in Ermangelung einer gemeinsamen Äquivalenzlehre gar nicht einheitlich beantwortet werden.71 Dem ist jedoch zu entgegen, dass sich die nationalen Ansätze zur Bestimmung des Schutzbereichs seit Inkrafttreten des EPÜ einander angenähert haben und – trotz terminologischer und inhaltlicher Eigenheiten – jedenfalls methodisch auf ähnliche Grundlagen zurückzuführen sind.72 Die durch Art. 69 EPÜ bewirkte Harmonisierung des Schutzbereichs zeigt deutlich, dass das Übereinkommen das europäische Bündelpatent trotz des Zerfalls in ein Bündel nationaler Teile als einheitliches europäisches Schutzrecht verstanden wissen will. Das Territorialitätsprinzip hätte im Fall Roche Nederland daher keineswegs auf das Zuständigkeitsrecht durchschlagen müssen. Im Gegenteil: Die gemeinsame Verhandlung paralleler Verletzungsklagen aus verschiedenen nationalen Splittern eines europäischen Bündelpatents erscheint vor dem Hintergrund der durch das EPÜ angestrebten einheitlichen Auslegung sogar wünschenswert.

70

Singer/Stauder, EPC, Volume 1, Art. 2, Rn. 10; Schauwecker, Extraterritoriale Patentverletzungsjurisdiktion, 376; Winkler, Patentverletzungsstreitigkeiten, 144. Vgl. auch BGH v. 29.4.1986, NJW 1986, 3202, 3203: „[Der] Gesetzeszweck [einer möglichst einheitlichen Bestimmung des Schutzbereichs von Patenten] gebietet es, bei der Bemessung des Schutzbereichs deutscher Patente die Auslegungsgrundsätze zu beachten, auf die sich die Vertragsstaaten des Europäischen Patentübereinkommens in dem Auslegungsprotokoll zu Art. 69 EPÜ geeinigt haben“. 71 Grabinski, GRUR 1998, 857, 864. So wird beispielsweise der Fall Epilady, indem das OLG Düsseldorf und der englische Patent Court zu gegenteiligen Entscheidungen über die Reichweite des Schutzbereichs eines Bündelpatents kamen, als Beleg für die Unterschiede zwischen der großzügigen deutschen und dem vermeintlich strengeren englischen Ansatz angesehen (OLG Düsseldorf v. 21.11.1991, GRUR Int. 1993, 242, 244; Patents Court v. 16.5.1989, IIC 1990, 860). Die Analyse der Entscheidungen von Hölder zeigt jedoch methodische Schwächen der Urteilsbegründung auf, die für einen Ausnahmecharakter der Entscheidungen sprechen (Hölder, Durchsetzung, 115 ff.). 72 Hölder arbeitet durch eine umfassende rechtsvergleichende Untersuchung heraus, dass die Gerichtspraxis in allen Vertragsstaaten des EPÜ zur Bestimmung des Schutzbereichs auf dieselben vier Elemente zurückgreift: Gleichwirkung, Naheliegen, Stand der Technik und Rechtssicherheit (Hölder, Durchsetzung, 91 ff., 134 ff.; ähnlich von Drahten, IIC 2008, 384 ff.; vgl. zudem Bukow, Verletzungsklagen, 155 f.).

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

199

d) Praktische Notwendigkeit zur Verfahrenskonzentration Gegen die Entscheidung Roche Nederland lassen sich schließlich bedeutsame praktische Erwägungen ins Feld führen. De lege lata gibt es für Patentrechtsinhaber im Anwendungsbereich der EuGVVO keine effiziente Verteidigung gegenüber länderübergreifenden Patentverletzungen. 73 Insbesondere natürliche Personen wie die beiden Erfinder Primus und Goldenberg im Fall Roche Nederland dürften den erheblichen Mehraufwand getrennter Verfahren scheuen, die mit einem höheren Kostenrisiko und einer längeren Verfahrensdauer einhergehen.74 Gegenüber den Nachteilen der getrennten Verhandlung einer jeden Patentverletzung im jeweiligen Schutzland erscheint insbesondere die Sorge des Gerichtshofs unbegründet, dass die Prüfung der Konnexität in der gemeinsamen Verhandlung bei einer Mehrzahl von erhobenen Klagen zusätzliche Zeit beanspruche.75 Der EuGH hätte die gebündelte Geltendmachung von Klagen wegen der parallelen Verletzung verschiedener nationaler Teile eines europäischen Bündelpatents somit auch zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes europäischer Patentinhaber gestatten sollen. e) Fazit Die Entscheidung Roche Nederland verdient keine Zustimmung. Die immaterialgüterspezifische Betrachtungsweise des EuGH übersieht, dass aufgrund der einheitlichen Vorgaben des EPÜ eine einheitliche Rechtslage auch bei der parallelen Verletzung verschiedener nationaler Splitter eines europäischen Bündelpatents bestehen kann. Die Auffassung des Gerichtshofs lässt sich ferner nicht mit der starken Prägung des Patentrechts durch das Territorialitätsprinzip rechtfertigen. Auch vor dem Hintergrund der praktischen Notwendigkeit einer effektiven Verteidigungsmöglichkeit gegenüber europaweiten Patentverletzungen hätte der EuGH die Konzentration von Klagen wegen der parallelen Verletzung

73

Pointiert Schlosser, JZ 2007, 305, 306 „Die praktischen Konsequenzen einer solchermaßen abgehobenen Denkweise sind fatal“. 74 Hess/Pfeiffer/Schlosser, Heidelberg Report, Rn. 828; Fawcett/Torremans, Intellectual Property and Private International Law, Rn. 5.118; Norrgård, in: Leible/ Ohly (Hg.), Intellectual property and private international law, 211, 221; Treppoz, Rev. crit. dr. int. priv. 102 (2013), 479, 487. 75 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 39. Kritisch zur Argumentation des Gerichtshofs auch Schlosser, JZ 2007, 305, 306; Warner/Middlemiss, EIPR 2006, 580, 584 f.

200

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

verschiedener nationaler Teile eines europäischen Bündelpatents erlauben sollen. 4. Ergebnis zum europäischen Bündelpatent Das europäische Bündelpatent ist ein tauglicher Verletzungsgegenstand i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Wird den Beklagten die konzentrierte Verletzung eines einzelnen Teils oder mehrerer Teile eines europäischen Bündelpatents vorgeworfen, ergibt sich die Einheitlichkeit der Rechtslage bereits aus dem Umstand, dass die Rechtsfolgen der Patentverletzung gegenüber jedem Patentverletzer um Vorschriften derselben nationalen Rechtsordnung ergänzt werden. Trägt der Kläger dagegen die parallele Verletzung verschiedener nationaler Splitter vor, resultiert die einheitliche Rechtslage aus der abstrakten Gefahr der widersprechenden Beurteilung der vereinheitlichten Vorgaben des EPÜ. II. Nationale Patente Wird den Streitgenossen vorgeworfen, ein einzelnes nationales Patent verletzt zu haben, liegt die einheitliche Rechtslage zweifellos vor, da die Verletzungsklagen gemäß Art. 8 Abs. I Rom II-VO nach derselben Rechtsordnung zu beurteilen sind.76 Rügt der Kläger dagegen die Verletzung mehrerer nationaler Patente, die auf dieselbe Erfindung erteilt wurden, ist nach den zum europäischen Bündelpatent gewonnenen Erkenntnissen eine differenzierte Betrachtung angezeigt, in der erneut die Unterscheidung zwischen konzentrierten und parallelen Verletzungshandlungen den Ausschlag gibt. Verletzen die Beklagten die nationalen Patente dergestalt, dass jeder Beklagte für die Verletzung eines jeden nationalen Patents zur Verantwortung gezogen werden kann (konzentrierte Verletzungshandlungen), so richtet sich die Beurteilung der Rechtsfolgen der Patentverletzungshandlungen jeweils nach der Rechtsordnung des betroffenen Schutzlandes, sodass die Verletzungsklagen gegen die Streitgenossen auch insgesamt auf einer einheitlichen Rechtslage beruhen. Wie schon 76 So ausdrücklich Bukow, Verletzungsklagen, 141 f.; Fawcett/Torremans, Intellectual Property and Private International Law, Rn. 5.144; Hye-Knudsen, Marken-, Patent- und Urheberrechtsverletzungen, 121; Neuhaus, Mitt. 1996, 257, 266; vgl. zur Verletzung eines einzelnen Splitters eines europäischen Bündelpatents zudem LG Düsseldorf, Urt. v. 16.1.1996 – 4 O 5/95, abrufbar unter: ; Bodson, RDIDC 2007, 447, 479 f.; Grabinski, GRUR Int. 2001, 199, 207; Hye-Knudsen, Marken-, Patent- und Urheberrechtsverletzungen, 121; Rößler, IIC 2007, 380, 392; Winkler, Patentverletzungsstreitigkeiten, 124.

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

201

bei der Betrachtung der konzentrierten Verletzung mehrerer Splitter des europäischen Bündelpatents gilt, dass jeweils in Bezug auf sämtliche Beklagte der Vorwurf der Verletzung des in einem Schutzland geltenden nationalen Patents erhoben wird, sodass ein tauglicher Verletzungsgegenstand gegeben ist. Anders liegen die Dinge bei der parallelen Verletzung verschiedener nationaler Patente, die auf dieselbe Erfindung erteilt wurden. In dieser Konstellation beruft das Schutzlandprinzip ausschließlich Vorschriften verschiedener nationaler Rechtsordnungen, sodass von einer einheitlichen Rechtslage nicht mehr ausgegangen werden darf. Es besteht keine Gefahr widersprechender Entscheidungen, da die Inhaltsgleichheit der nationalen Patente ohne die harmonisierten Vorschriften des EPÜ zur Schutzbereichsbestimmung nicht gewährleistet ist. Bei einer parallelen Verletzung verschiedener nationaler Patente darf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO folglich nicht zur Anwendung gelangen.77 III. Ausblick: Das europäische Patent mit einheitlicher Wirkung Am 17.12.2012 haben das Europäische Parlament (im Folgenden Parlament) und der Europäische Rat (im Folgenden Rat) zwei Verordnungen zur Schaffung eines Einheitspatents, die EPV 78 und die VO 1260/201279, verabschiedet, die in Verbindung mit dem Übereinkommen über ein einheitliches Patentgericht vom 19.2.2013 (EPGÜ)80 die Grundlage für die umfassendste Änderung des europäischen Patentrechts seit dem Europäischen Patentübereinkommen von 1973 bilden werden. Hinsichtlich des gesamten Reformpaketes kommt es auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des EPGÜ an, das am 1. Januar 2014 oder am ersten Tag des vierten Monats nach der Ratifikation durch dreizehn Staaten einschließlich Deutschland, Frankreich und des Vereinigten Königreiches in

77

Ausdrücklich a.A. dagegen Fawcett/Torremans, Intellectual Property and Private International Law, Rn. 5.134, die das Kriterium der einheitlichen Rechtslage für entbehrlich erachten, sofern den Klagen zumindest eine einheitliche Sachlage zu Grunde liegt. 78 Verordnung (EU) Nr. 1257/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17. Dezember 2012 über die Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes, ABl. EU 2012 L 361/1. 79 Verordnung (EU) Nr. 1260/2012 des Rates v. 17. Dezember 2012 über die Umsetzung der verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes im Hinblick auf die anzuwendenden Übersetzungsregelungen, ABl. EU 2012 L 361/89. 80 Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht v. 19.2.2013, ABl. EU 2013 C 175/1.

202

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

Kraft tritt, je nachdem, welcher Zeitpunkt der spätere ist.81 Beim Bundesjustizministerium rechnet man mit dem Erreichen der erforderlichen Mindestzahl von Ratifikationen „voraussichtlich ab 2015“. 82 Skeptischere Stimmen erwarten das Inkrafttreten des Reformpakets aufgrund der verspäteten Ratifikation durch das Vereinigte Königreich nicht vor 2016 83 oder bezweifeln sogar, dass die notwendige Anzahl von Ratifikationen überhaupt jemals erreicht wird84. 1. Hintergrund Über die Schaffung eines einheitlichen Patentwesens wird in Europa schon seit über 50 Jahren diskutiert.85 Nachdem die Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Roche Nederland und GAT die effektive Durchsetzung des Patentschutzes in Europa maßgeblich beeinträchtigt hatten, entschieden sich die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission (im Folgenden Kommission) für eine Wiederaufnahme der zwischenzeitlich ins Stocken geratenen Verhandlungen über das Einheitspatent und die dazugehörige europäische Patentgerichtsbarkeit.86 Im März 2009 unterbreitete die Kommission dem Rat eine Empfehlung zur Ermächtigung der Kommission zur Aufnahme von Verhandlungen über ein Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems. 87 Nachdem die Kommission im Juni 2010 den Vorschlag einer Neuregelung veröffentlicht hatte, der im Rat insbesondere am Widerstand Spaniens und Italiens gegen ein eingeschränktes Sprachregime für das Einheitspatent scheiterte, stellten zwölf Mitglied81 Siehe Art. 89 EPGÜ; Art. 18 Verordnung (EU) Nr. 1257/2012; Art. 7 Verordnung (EU) Nr. 1260/2012. 82 Bundesministerium der Justiz, Pressemitteilung v. 12.12.2012, abrufbar unter: . 83 . 84 Jaeger, EuZW 2013, 15, 20. 85 Eine Darstellung der Harmonisierungsbestrebungen der letzten Jahrzehnte im europäischen Patentrecht liefern Götting, ZEuP 2014, 349, 351 ff; Makoski, CIP Report 2012, 1 ff. 86 Diese Entwicklung bereits vorhersehend GA Léger, Schlussanträge v. 8.12. 2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 139, 143. Vgl. auch Kur, IIC 2006, 851, 853 ff.; Luginbühl/Stauder, sic! 2006, 876, 879. 87 Empfehlung an den Rat zur Ermächtigung der Kommission zur Aufnahme von Verhandlungen über ein Übereinkommen zur Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems, SEK(2009) 330 endg., abrufbar unter: .

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

203

staaten – darunter Deutschland – Mitte Dezember 2010 einen formellen Antrag auf Einleitung eines Verfahrens der Verstärkten Zusammenarbeit nach Art. 20 EUV und Art. 326 ff. AEUV.88 Dieser Antrag, dem letztlich alle EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Italien und Spanien folgten, mündete nach einigen Monaten in einem positiven Beschluss des Rats und des Parlaments, 89 sodass die Kommission im April 2011 zwei Verordnungsentwürfe zur Schaffung eines europäischen Patents mit einheitlicher Wirkung und der dazugehörigen Übersetzungsregelung präsentieren konnte.90 Diese beiden Entwürfe konnten, in wiederum veränderter Form,91 am 17.12.2012 durch das Parlament und den Rat verabschiedet werden. Parallel zu den Arbeiten an der Verstärkten Zusammenarbeit zum Einheitspatent wurde auch die Debatte um die Schaffung einer einheitlichen Patentgerichtsbarkeit fortgeführt. Nachdem der EuGH in einem Gutachten vom März 2011 den ersten Entwurf eines Übereinkommens zur Schaffung eines europäischen Patentgerichtssystems mit den Bestimmungen der EU-Verträge für unvereinbar erklärte,92 legte der Rat im Juni 2011 eine überarbeitete Fassung des Übereinkommens vor.93 Auf Grundlage dieses Vorschlags wurden bis Anfang des Jahres 2013 die Einzelheiten der Ausgestaltung des Europäischen Patentgerichts-

88

Luginbühl, GRUR Int. 2013, 305, 306. Eine gegen diese Entscheidung beim Gerichtshof erhobene Nichtigkeitsklage der Mitgliedstaaten Italien und Spanien blieb ohne Erfolg (EuGH v. 16.4.2013, verb. Rs. C-274/11 und C-295/11 (Königreich Spanien und Italienische Republik/Rat der Europäischen Union), GRUR Int. 2013, 542). 90 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes, KOM(2011), 215 (endg.), abrufbar unter: . Vorschlag für eine Verordnung des Rats über die Umsetzung der Verstärkten Zusammenarbeit bei der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes im Hinblick auf die anzuwendenden Übersetzungsregelungen, KOM(2011), 216/3 (endg.), abrufbar unter: . 91 Zu den Änderungen im Verlauf des Verfahrens eingehend Luginbühl, GRUR Int. 2013, 305, 307. 92 EuGH v. 8.3.2011 Gutachten 1/2009 –„Gutachten nach Art. 218 Abs. 11 AEUV – Übereinkommensentwurf – Schaffung eines einheitlichen Patentgerichtssystems – Gericht für europäische Patente und Gemeinschaftspatente – Vereinbarkeit dieses Entwurfs mit den Verträgen“, Slg. 2011, I-1137; zur Begründung des Gutachtens im Einzelnen Makoski, CIP Report 2012, 1, 4 f. 93 Draft agreement on a Unified Patent Court v. 14.6.2011, Doc 11533/11, abrufbar unter: . 89

204

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

systems erörtert,94 bis das Übereinkommen schließlich am 19.2.2013 in seiner endgültigen Fassung unterzeichnet wurde. 2. Wirkung des Einheitspatents Beim Einheitspatent handelt es sich um ein nach den bestehenden Regeln des neunten Teils des EPÜ vom EPA erteiltes Patent, dem gemäß Art. 3 Abs. 1 EPV auf Antrag des Patentinhabers einheitliche Wirkung auf dem Gebiet der an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten zukommt. Das Einheitspatent wird als weitere Option des Patentschutzes neben dem europäischen Bündelpatent zur Verfügung stehen. Da beide Patente vom EPA nach den Regeln des EPÜ erteilt werden, können sie nach Wahl des Anmelders mit oder ohne einheitliche Wirkung ausgestaltet werden. Anders als das europäische Bündelpatent zerfällt das Einheitspatent nach seiner Erteilung aber nicht in einzelne nationale Splitter, sondern wirkt als supranationales Schutzrecht einheitlich in mehreren Hoheitsgebieten. Zwar ist das Einheitspatent nicht als klassischer Unionsschutztitel, d.h. als umfassend unionsrechtlich begründetes und determiniertes individuelles Recht, ausgestaltet worden, da die für seine Entstehung maßgeblichen Bestimmungen des EPÜ völkerrechtlicher Natur sind.95 In seiner Wirkung unterscheidet es sich von unionsweiten Schutzrechten aber lediglich insoweit, als dass die gebietsübergreifende Geltung auf das Territorium der an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten begrenzt ist.96 3. Aufbau der Europäischen Patentgerichtsbarkeit Nach Inkrafttreten des Reformpakets wird das Einheitliche Patentgericht für Patentstreitigkeiten betreffend des europäischen Bündelpatents und des Einheitspatents ausschließlich zuständig sein (siehe Art. 2 lit. g.), Art. 32 EPGÜ) 97 . Die erste Instanz des Gerichts umfasst örtliche und

94

Zu diesem Prozess Makoski, CIP Report 2012, 1, 6 f. Kritisch zur Rechtsnatur des Einheitspatents Jaeger, EuZW 2013, 15, 16. 96 Da das EPV bereits nach der Ratifikation des EPGÜ durch mindestens 13 Mitgliedstaaten in Kraft tritt, bleibt die einheitliche Wirkung des Einheitspatents zunächst auf das Gebiet der Mitgliedstaaten begrenzt, die das EPGÜ ratifiziert haben. Kritisch zur drohenden Fragmentierung des europäischen Patentschutzes Götting, ZEuP 2014, 349, 367 ff. 97 Art. 2 lit. g) EPGÜ lautet: „Für die Zwecke dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck […] ‚Patent‘ ein europäisches Patent und/oder ein europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung“. 95

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

205

regionale Kammern sowie eine Zentralkammer (Art. 7 Abs. 1 EPGÜ)98. Die Zentralkammer mit Sitz in Paris und Abteilungen in London und München ist zuständig für Nichtigkeitsklagen, solange zwischen denselben Parteien zum selben Patent noch keine Verletzungsklage bei einer Lokal- oder Regionalkammer erhoben wurde (Art. 32 Abs. 1 lit. d), Art. 33 Abs. 4 EPGÜ) 99 . Örtliche Kammern werden jeweils für einen Mitgliedstaat, regionale Kammern dagegen für mehrere Mitgliedstaaten auf dessen bzw. deren Antrag hin errichtet (Art. 7 Abs. 3, 5 EPGÜ)100. Die örtlichen und regionalen Kammern sind insbesondere für Verletzungsklagen zuständig (Art. 32 Abs. 1 lit. a), Art. 33 Abs. 1 S. 1 EPGÜ) 101 . Für die Begründung der Zuständigkeit nennt Art. 33 Abs. 1 EPGÜ zwei Anknüpfungspunkte, den Verletzungsort und den (Wohn)Sitz des Beklagten. Hat der Beklagte seinen Sitz in einem Drittstaat, ist neben der lokalen oder regionalen Kammer am Verletzungsort die Zentralkammer 98

Art. 7 Abs. 1 EPGÜ lautet: „Das Gericht erster Instanz umfasst eine Zentralkammer sowie Lokalkammern und Regionalkammern“. 99 Art. 32 EPGÜ lit. d) lautet: „Das Gericht besitzt die ausschließliche Zuständigkeit für […] d) Klagen auf Nichtigerklärung von Patenten und Nichtigerklärung der ergänzenden Schutzzertifikate.“ Art. 33 Abs. 4 EPGÜ lautet: „Die in Artikel 32 Absatz 1 Buchstaben b und d genannten Klagen sind bei der Zentralkammer zu erheben. Wurde jedoch bereits bei einer Lokal- oder Regionalkammer eine Verletzungsklage im Sinne des Artikels 32 Absatz 1 Buchstabe a zwischen denselben Parteien zum selben Patent erhoben, so dürfen diese Klagen nur vor derselben Lokaloder Regionalkammer erhoben werden“. 100 Art. 7 Abs. 3, 5 lauten: „Eine Lokalkammer wird in einem Vertragsmitgliedstaat auf dessen Antrag hin in Einklang mit der Satzung errichtet. Ein Vertragsmitgliedstaat, in dessen Gebiet eine Lokalkammer errichtet wird, benennt deren Sitz. […] Für zwei oder mehr Vertragsmitgliedstaaten wird auf deren Antrag hin im Einklang mit der Satzung eine Regionalkammer errichtet. Diese Vertragsmitgliedstaaten benennen den Sitz der betreffenden Kammer. Die Regionalkammer kann an unterschiedlichen Orten tagen“. 101 Art. 32 EPGÜ lit. a) lautet: „Das Gericht besitzt die ausschließliche Zuständigkeit für a) Klagen wegen tatsächlicher oder drohender Verletzung von Patenten und ergänzenden Schutzzertifikaten und zugehörige Klageerwiderungen, einschließlich Widerklagen in Bezug auf Lizenzen.“ Art. 33 Abs. 1 S. 1 EPGÜ lautet: „Unbeschadet des Absatzes 7 sind die in Artikel 32 Absatz 1 Buchstaben a, c, f und g genannten Klagen zu erheben bei a) der Lokalkammer in dem Vertragsmitgliedstaat, in dessen Gebiet die tatsächliche oder drohende Verletzung erfolgt ist oder möglicherweise erfolgen wird, oder bei der Regionalkammer, an der dieser Vertragsmitgliedstaat beteiligt ist, oder b) der Lokalkammer in dem Vertragsmitgliedstaat, in dessen Gebiet der Beklagte oder, bei mehreren Beklagten, einer der Beklagten seinen Wohnsitz oder den Sitz seiner Hauptniederlassung oder – in Ermangelung derselben – seinen Geschäftssitz hat, oder bei der Regionalkammer, an der dieser Vertragsmitgliedstaat beteiligt ist. Eine Klage gegen mehrere Beklagte ist nur dann zulässig, wenn zwischen diesen eine Geschäftsbeziehung besteht und die Klage denselben Verletzungsvorwurf betrifft […]“.

206

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

alternativ zuständig (Art. 33 Abs. 1 S. 3 EPGÜ)102. Richtet ein Mitgliedstaat mehr als eine örtliche Kammer ein, sind in diesem Mitgliedstaat stets alle dort gebildeten Kammern zuständig; die nach Art. 33 Abs. 1 EPGÜ begründete Zuständigkeit gilt immer für den gesamten Kompetenzbereich der örtlichen bzw. regionalen Kammer.103 Die zweite Instanz ist das Berufungsgericht mit Sitz in Luxemburg (Art. 9 EPGÜ). 4. Regelung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft im EPGÜ Im EPGÜ findet sich auch die Regelung eines Gerichtsstands der Streitgenossenschaft an dem ein Patentverletzungsverfahren gegenüber mehreren Patentverletzern aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten konzentriert werden kann. Nach Art. 33 Abs. 1 lit. b) EPGÜ ist eine Verletzungsklage gegen mehrere Beklagte zu erheben „bei der Lokalkammer in dem Vertragsmitgliedstaat, in dessen Gebiet […] einer der Beklagten seinen Wohnsitz oder den Sitz seiner Hauptniederlassung oder – in Ermangelung derselben – seinen Geschäftssitz hat, oder bei der Regionalkammer, an der dieser Vertragsmitgliedstaat beteiligt ist. [Die Klage] ist nur dann zulässig, wenn zwischen [den Beklagten] eine Geschäftsbeziehung besteht und die Klage denselben Verletzungsvorwurf betrifft.“ Art. 33 Abs. 1 lit. b) EPGÜ weist bemerkenswerte Gemeinsamkeiten mit Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf. Beide Regelungen knüpfen an den (Wohn)Sitz eines der Streitgenossen an. Am Verletzungsort darf das Verfahren gegenüber mehreren Beklagten somit nur konzentriert werden, wenn die Beklagten im Gebiet derselben Lokal- oder Regionalkammer gehandelt haben. Wie Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gestattet auch Art. 33 Abs. 1 lit. b) EPGÜ die Verfahrenskonzentration nicht voraussetzungslos, sondern nur bei Bestehen eines Zusammenhangs zwischen den erhobenen Klagen. Zwar wählt Art. 33 Abs. 1 lit. b) EPGÜ anders als Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zur Umschreibung der Konnexität nicht die Formulierung, „dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erschein[en muss], um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.“ Stattdessen fordert die neue Regelung, dass „die Klage gegen mehrere Beklagte nur

102

Art. 33 Abs. 1 S. 3 EPGÜ lautet: „Klagen gegen Beklagte, die ihren Wohnsitz oder den Sitz ihrer Hauptniederlassung oder – in Ermangelung derselben – ihren Geschäftssitz nicht im Gebiet der Vertragsmitgliedstaaten haben, sind gemäß Unterabsatz 1 Buchstabe a bei der Lokal- oder Regionalkammer zu erheben oder bei der Zentralkammer“. 103 Deutschland plant die Einrichtung von Kammern in München, Mannheim, Düsseldorf und Hamburg (Teschemacher, Mitt. 2013, 153, 156).

B. Verletzungsgegenstand – Die einheitliche Rechtslage

207

dann zulässig [ist], wenn zwischen diesen eine Geschäftsbeziehung besteht und die Klage denselben Verletzungsvorwurf betrifft […]“. 104 Legt man jedoch das im allgemeinen Teil dieser Arbeit entwickelte Verständnis zugrunde, demzufolge die Konnexität i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO neben der Gefahr widersprechender Entscheidungen als zweites Element auch den streitgenössischen Kontakt zum Ankerbeklagten voraussetzt, werden die strukturellen Parallelen von Art. 33 Abs. 1 lit. b) EPGÜ und Art. 6 Nr. 1 EuGVVO deutlich: Dass das europäische Bündelpatent und das Einheitspatent taugliche Verletzungsgegenstände darstellen, wird im EPGÜ vorausgesetzt, sodass auf die ausdrücklich Normierung des Kriteriums der einheitlichen Rechtslage in Art. 33 Abs. 1 lit. b) EPGÜ verzichtet werden konnte. Das Tatbestandsmerkmal desselben Verletzungsvorwurfs greift das im nächsten Abschnitt dieses Kapitels zu erörternde Kriterium der einheitlichen Sachlage auf, da es sich auf die Verletzungshandlungen, respektive die angegriffenen Ausführungsformen, bezieht. Die Geschäftsbeziehung der Beklagten bildet eine Präzisierung der ebenfalls noch zu erläuternden Verletzerbeziehung, weil beide Tatbestandsmerkmale die Vorhersehbarkeit der gemeinsamen Verhandlung durch das Erfordernis einer vorprozessualen Verbindung der Beklagten gewährleisten.105 Sofern das Reformpaket in den Mitgliedstaaten auf Zustimmung trifft, sodass die erforderliche Anzahl an Ratifikationen in den nächsten Jahren erreicht wird, können für die Auslegung des Art. 33 Abs. 1 lit. b) EPGÜ die nachfolgend zu den Kriterien der Verletzungshandlung und der Verletzerbeziehung gewonnenen Erkenntnisse folglich als eine erste Orientierung dienen.106

104 Dass Art. 33 Abs. 1 lit. b) EPGÜ von einer Klage gegen mehrere Beklagte spricht, könnte damit der Tatsache geschuldet sein, dass die Klage aus einem Patent erhoben wird. Es könnte sich aber auch um eine sprachliche Ungenauigkeit handeln, da die englische und französische Sprachfassung beide den etwas großzügigeren Begriff der „action“ verwenden. 105 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Vorschlag des Art. 2:206 der CLIP Principles, wonach die Streitgenossen die Patentverletzung „in accordance with a common policy“ begangen haben müssen; dazu Heinze, in: Basedow/Drexl (Hg.), Conflict of Laws in Intellectual Property, 103, 107 ff. 106 Auf eine detaillierte Auseinandersetzung mit Art. 33 Abs. 1 lit. b) EPGÜ wird in dieser Arbeit verzichtet, da die Zahl der zukünftigen Ratifikationen des EPGÜ und damit auch das Inkrafttreten des Reformpakets insgesamt noch unsicher ist.

208

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

5. Fazit zum europäischen Patent Tritt das Reformpakt zur weiteren Vereinheitlichung des Patentwesens in Kraft, können Patentinhaber alternativ zum europäischen Bündelpatent ein Einheitspatent mit gebietsübergreifender Wirkung in den teilnehmenden Mitgliedstaaten anmelden. Das Europäische Patentgericht wird für diese Mitgliedstaaten für alle Patentstreitigkeiten aus europäischen Bündelpatenten und Einheitspatenten, insbesondere für Nichtigkeits- und Verletzungsklagen, ausschließlich zuständig sein. Die Regelung des Art. 33 Abs. 1 lit. b) EPGÜ ermöglicht die gemeinsame Verhandlung mit mehreren Patentverletzern aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten. Sie korrigiert zum einen die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Roche Nederland, da die Konzentration von Klagen wegen der parallelen Verletzung verschiedener nationaler Splitter eines europäischen Bündelpatents wieder zulässig wird. Zum anderen eröffnet Art. 33 Abs. 1 lit. b) EPGÜ einen gemeinsamer Gerichtsstand für die Konzentration von Klagen wegen der Verletzung des neuen Einheitspatents. IV. Ergebnis Welche Rechtsordnung bei der Entscheidung über eine Patentverletzungsklage anzuwenden ist, bestimmt sich nach den Regeln des internationalen Privatrechts der lex fori. Im Immaterialgüterrecht beruft das inzwischen in Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO normierte Schutzlandprinzip das Recht des Staates, für den der Schutz beansprucht wird (lex loci protectionis). Maßgeblich für die Bestimmung des anwendbaren Sachrechts ist somit, aus welcher Immaterialgüterrechtsordnung der Kläger seinen Schutz herleitet. Im einfachsten Fall, dass mehrere Beklagte für die Verletzung desselben nationalen Patents zur Verantwortung gezogen werden, ist das Kriterium der einheitlichen Rechtslage unstreitig erfüllt, weil sämtliche Verletzungsklagen nach den Vorschriften derselben nationalen Rechtsordnung zu beurteilen sind. Rügt der Kläger dagegen bezogen auf dieselbe Erfindung die Verletzung mehrerer nationaler Patente, gibt die Unterscheidung zwischen konzentrierten und parallelen Verletzungshandlungen den Ausschlag. Kann jeder Beklagte für die Verletzung eines jeden nationalen Patents zur Verantwortung gezogen werden (konzentrierte Verletzungshandlungen), beruhen die Patentverletzungshandlungen insgesamt auf einer einheitlichen Rechtslage. Haben die Beklagten dagegen verschiedene nationale Patente verletzt, kommt eine Verfahrenskonzentration aufgrund der Anwendung unterschiedlicher nationaler Rechtsordnungen nicht in Betracht.

C. Verletzungshandlung – Die einheitliche Sachlage

209

Das europäische Bündelpatent ist nach der hier vertretenen Auffassung ein tauglicher Verletzungsgegenstand i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO und zwar unabhängig davon, ob die Beklagten einzelne nationale Splitter des europäischen Bündelpatents konzentriert oder parallel verletzt haben. Die (abstrakte) Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht gleich ob die vereinheitlichten Vorgaben des EPÜ um Vorschriften derselben nationalen Rechtsordnung oder unterschiedlicher nationaler Rechtsordnungen ergänzt werden. Die in der Rechtssache Solvay getroffene Entscheidung des EuGH verdient Zustimmung; die in der Rechtssache Roche Nederland propagierte Rechtsauffassung ist abzulehnen. Tritt das Reformpaket zur weiteren Vereinheitlichung des europäischen Patentwesens in Kraft, ist die gebündelte Geltendmachung von Klagen wegen der Verletzung des europäischen Bündelpatents oder Einheitspatents am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft des EPGÜ möglich. Kurzum: Nach hier vertretener Auffassung besteht die einheitliche Rechtslage i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, solange der Kläger nicht die parallele Verletzung verschiedener nationaler Patente vorträgt.

C. Verletzungshandlung – Die einheitliche Sachlage C. Verletzungshandlung – Die einheitliche Sachlage

Während der Verletzungsgegenstand die den Klagen zugrundeliegende Rechtslage determiniert, prägen die von den Beklagten begangenen Verletzungshandlungen die zugrundeliegende Sachlage. Die Merkmale der Verletzungshandlung werden im Wesentlichen durch die angegriffene Ausführungsform und die Benutzungshandlung bestimmt. 107 Nachstehend wird deshalb in einem ersten Schritt überprüft, ob die Verwendung identischer Ausführungsformen zur Voraussetzung der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO erhoben werden soll, bevor im Anschluss die Relevanz der Art der begangenen Benutzungshandlungen hinterfragt wird. Die Analyse erfolgt dabei auf Grundlage des im allgemeinen Teil dieser Arbeit dargelegten Verständnisses, demzufolge Voraussetzung für das Bestehen der einheitlichen Sachlage ist, dass die Klagen teilweise auf identischen Tatsachen beruhen und ihr Zusammenhang nicht durch einen besonders wesentlichen Unterschied zerstört werden darf.108 107 Ob sich die Handlungen der Beklagten im gleichen Staat (konzentrierte Verletzungshandlungen) oder in verschiedenen Staaten (parallele Verletzungshandlungen) auswirken, bestimmt über den Verletzungsgegenstand des Verfahrens, sodass hierzu bereits im Rahmen der einheitlichen Rechtslage Stellung bezogen wurde (dazu siehe insbesondere S. 186 f.). 108 Siehe oben S. 71 ff.

210 I.

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

Identische Ausführungsformen

Als angegriffene Ausführungsform bezeichnet man die im Klageantrag genannten rechtsverletzenden technischen Eigenschaften der Produkte oder Verfahren, die der Beklagte zur Verwirklichung des Erfindungserfolgs hergestellt, angeboten, in Verkehr gebracht, gebraucht, eingeführt oder besessen bzw. angewendet haben soll. 109 In Hinblick auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO resultiert aus der Personenmehrheit auf Beklagtenseite die Frage, ob die Beklagten die Patentverletzungen durch untereinander identische Ausführungsformen begangen haben müssen. Da die Beklagten in der ganz überwiegenden Zahl bisheriger Verfahren am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft vor den mitgliedstaatlichen Gerichten identische Ausführungsformen verwendet haben, 110 erhebt das Schrifttum die Identität der angegriffenen Ausführungsformen inzwischen zur Voraussetzung, 111 ohne dass jedoch eine eigenständige Begründung für deren Notwendigkeit genannt wird.112 1. Herleitung der Voraussetzung Im Mittelpunkt eines Patentverletzungsverfahrens steht regelmäßig der Abgleich der angegriffenen Ausführungsform mit dem Schutzumfang des Patents. 113 Die Begründetheit einer Patentverletzungsklage setzt nämlich voraus, dass die angegriffene Ausführungsform dem durch die Patentansprüche festgelegten Schutzbereich des Patents unterfällt. Da offenkundige Verletzungen in Form einer technisch identischen Verwirklichung der Lösungsmerkmale des Patentanspruchs (wortsinngemäße Benutzung) nur selten den Gegenstand des Verfahrens bilden, können Gerichte häufig erst durch eine detaillierte Analyse der angegriffenen Ausführungsform sowie einer sorgfältigen Auslegung der Patentansprüche ermitteln, ob die Abwandlung der geschützten Erfindung eine

109 Götting, Gewerblicher Rechtsschutz, § 4, Rn. 10. Die im Klageantrag beschriebene Ausgestaltung darf der Beklagte freilich bestreiten (Nieder, Patentverletzung, Teil C, Rn. 288). 110 LG Düsseldorf v. 22.3.2001, InstGE, 1, 146; Coin Control Ltd v Suzo International (UK) Ltd and Others [1997] F.S.R. 660, 672; Gerechtshof Den Haag v. 23.4.1998, [1999] F.S.R. 352 ff. 111 Siehe nur Fawcett/Torremans, Intellectual Property and Private International Law, Rn. 5.134; Hölder, Durchsetzung, 79; Otte, Umfassende Streitentscheidung, 712; Pitz, Patentverletzungsverfahren, Teil 10, Rn. 230; Rößler, IIC 2007, 380, 392 f.; Zigann, Entscheidungen, 134. 112 Eine knappe Begründung liefert aber Rößler, IIC 2007, 380, 392 f. 113 Brinkhof, GRUR 2001, 885, 886.

C. Verletzungshandlung – Die einheitliche Sachlage

211

inhaltsgleiche Lösung des zugrundeliegenden Problems darstellt (äquivalente Benutzung).114 Könnte der Patentinhaber am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft verschiedene Ausführungsformen von unterschiedlichen Beklagten angreifen, so wäre die komplexe Prüfung der äquivalenten Benutzung innerhalb eines Verfahrens mehrfach durchzuführen. Wenn die zentrale Frage der Begründetheitsprüfung aber ohnehin für jede Verletzungsklage separat zu prüfen ist, bringt die Verfahrenskonzentration kaum noch einen prozessökonomischen Vorteil. Die gemeinsame Verhandlung über verschiedene Ausführungsformen rechtfertigt sich auch nicht aus dem Primärziel des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, die Entscheidungsharmonie in der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung zu befördern. 115 Die abweichende Beurteilung der Begründetheit der Verletzungsklagen ließe sich nämlich immer auf die Unterschiede der angegriffenen Ausführungsformen zurückführen, sodass in getrennten Verhandlungen keine einander widersprechende Entscheidungen ergehen könnten. Bei der Verwendung unterschiedlicher Ausführungsformen durch die Beklagten handelt es sich folglich um einen tatsächlichen Unterschied, der aufgrund seiner zentralen Bedeutung für das gesamte Verletzungsverfahren geeignet ist, den Zusammenhang zwischen den zugrundeliegenden Lebensverhältnissen zu sprengen. Somit setzt das Bestehen einer einheitlichen Sachlage die Identität der angegriffenen Ausführungsformen voraus. 2. Abstraktheit der angegriffenen Ausführungsform Zur Klarstellung bleibt darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung der Verwendung identischer Ausführungsformen nicht verlangt, dass sich die Verletzungshandlungen der Streitgenossen auf dieselben Produkte oder Verfahren im konkreten Sinne beziehen müssen. Weil die angegriffene Ausführungsform die rechtsverletzenden technischen Merkmale lediglich abstrakt bezeichnet, ist vielmehr ausreichend, dass die Verletzungshandlungen der Streitgenossen im technischen Sinne gleichartige Produkte oder Verfahren betreffen.116 Es ist also nicht zwingend 114 Haedicke, Patentrecht, 114; Hölder, Durchsetzung, 88. Zu den Begriffen der wortsinngemäßen und äquivalenten Benutzung siehe Götting, Gewerblicher Rechtsschutz, § 199, Rn. 14 f.; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, Rn. 65 ff.; Mes, PatG, § 14, Rn. 50 ff. 115 Rößler, IIC 2007, 380, 392. 116 Sehr klar zur Abstraktheit der Ausführungsform Grosch, Rechtskraft bei Unterlassungsurteilen, 80; vgl. auch Götting, Gewerblicher Rechtsschutz, § 4, Rn. 11.

212

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

erforderlich, dass alle Streitgenossen mit denselben patentverletzenden Produkten in Kontakt gekommen sind, wie es beispielsweise bei einer aus Herstellung, Einfuhr und Auslieferung bestehenden Verletzerkette der Fall ist. Identische Ausführungsformen liegen z.B. auch dann vor, wenn verschiedene Hersteller unabhängig voneinander technisch gleichartige Produkte herstellen.117 II. Keine identischen Benutzungshandlungen In Anwendung der Vorgaben des allgemeinen Teils zur einheitlichen Sachlage gilt es ferner zu überprüfen, ob die Patentverletzung durch unterschiedliche Benutzungshandlungen einen so wesentlichen tatsächlichen Unterschied markiert, dass der Zusammenhang der zugrundeliegenden Sachverhalte zu verneinen ist. Im Patentrecht gehört zu den typischen Benutzungshandlungen das Herstellen, Anbieten, Inverkehrbringen, Einführen, Gebrauchen oder Besitzen eines geschützten Erzeugnisses.118 Gegen das Erfordernis der Patentverletzung durch die gleiche Art von Benutzungshandlung streiten zwei überzeugende Argumente: Zum einen entspricht es der im materiellen Patentrecht getroffenen, gesetzgeberischen Wertung, unterschiedliche Benutzungsformen für gleichwertig zu erachten, da sich die Verbotswirkung des Patents gemäß § 9 Nr. 1 PatG einheitlich darauf erstreckt, das geschützte Erzeugnis „herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder […] einzuführen oder zu besitzen“.119 Die Gleichstellung der Benutzungshandlungen, die sich auch in den Katalogtatbeständen anderer Schutzgesetze des Immaterialgüterrechts findet, 120 ist eine offensichtliche materiellrechtliche Wertung des Gesetzgebers, die als Anhaltspunkt für die Un117

So im Ergebnis auch Otte, Umfassende Streitentscheidung, 712. Zu den unterschiedlichen Benutzungshandlungen ausführlich Kraßer, Patentrecht, 739 ff.; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, Rn. 146 ff. 119 § 9 Nr. 1 PatG lautet: „Das Patent hat die Wirkung, dass allein der Patentinhaber befugt ist, die patentierte Erfindung im Rahmen des geltenden Rechts zu benutzen. Jedem Dritten ist es verboten, ohne seine Zustimmung 1. ein Erzeugnis, das Gegenstand des Patents ist, herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen“. 120 Lange, GRUR 2007, 107, 114, der auf die Gleichstellung der Benutzungshandlung in § 14 Abs. 3 und 4 MarkG verweist, um gegen die Relevanz unterschiedlicher Benutzungshandlungen in Hinblick auf markenrechtliche Verletzungsklagen zu argumentieren; ihm auch hinsichtlich Patentverletzungsklagen zustimmend Heinze, Europäisches Immaterialgüterrecht, 239 f.; Schauwecker, Extraterritoriale Patentverletzungsjurisdiktion, 84, Fn. 314. 118

C. Verletzungshandlung – Die einheitliche Sachlage

213

wesentlichkeit eines diesbezüglichen tatsächlichen Unterschieds der Verletzungsklagen genommen werden sollte.121 Zum anderen können unterschiedliche Benutzungsformen sogar zu einer Intensivierung des tatsächlichen Zusammenhangs der Verletzungsklagen führen. Wirken die Beklagten nämlich ihm Rahmen einer Verletzerkette zusammen, die beispielsweise aus der Herstellung, Einfuhr und Auslieferung eines patentverletzenden Produkts besteht, spricht das schrittweise Vorgehen der Beklagten dafür, ihr Verhalten insgesamt als „einheitliche Schutzrechtsverletzung“ zu begreifen. 122 Die einzelnen Benutzungshandlungen kennzeichnet im faktischen Sinne ein ergänzender Charakter.123 Die gemeinsame Beurteilung der unterschiedlichen Benutzungshandlungen der einzelnen Glieder einer Verletzerkette vermeidet daher widersprechende Entscheidungen, die im besonderen Maße geeignet sind, die ordnungsgemäße Rechtspflege der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung zu stören.124 III. Ergebnis Die Merkmale der Verletzungshandlung werden durch die angegriffene Ausführungsform und die Benutzungshandlung bestimmt. Für das Bestehen der einheitlichen Sachlage ist die Identität der angegriffenen Ausführungsform entscheidend. Dass die Patentverletzungen der Beklagten durch unterschiedliche Arten von Benutzungshandlungen begangen wurden, ist für die Konzentration des Verfahrens am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft dagegen irrelevant. Das tendenziell großzügige Verständnis von der einheitlichen Sachlage erlaubt die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zur Vermeidung widersprechender Entscheidungen. Die damit einhergehenden Nachteile für die Rechte des Beklagten werden durch das im nachfolgenden Abschnitt dargelegte Erfordernis einer Verletzerbeziehung kompensiert.

121 Zur Einbeziehung materiell-rechtlicher Wertungen in die Beurteilung der Wesentlichkeit tatsächlicher Unterschiede eingehend oben S. 72 f. 122 BGH v. 14.12.2006, GRUR 2007, 705, 708, Rn. 18; Bodson, RDIDC 2007, 447, 466; Neuhaus, Mitt. 1996, 257, 266. 123 Rechtlich wird die Verletzung des Schutzrechts in der Verletzerkette nicht etwa stufenmäßig „intensiviert“, sondern die Streitgenossen begehen jeweils eigenständige Verletzungen auf mehreren Stufen. 124 Treffend Rößler, IIC 2007, 380, 393: „[I]n the case of a (documented) production chain involving several companies, it would generally not be acceptable if a deviating decision was rendered with respect to one of the companies“.

214

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

D. Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten D. Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt

Wie im allgemeinen Teil der Arbeit gezeigt werden konnte, ist allein das Bestehen der vom Wortlaut des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO vorausgesetzten Gefahr widersprechender Entscheidungen für die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nicht ausreichend. Hinzutreten muss ein zweites Element von Konnexität, das die Beziehung zwischen den Beklagten in den Fokus rückt, um die Einhaltung des Gebots der Vorhersehbarkeit zu gewährleisten.125 Das in Hinblick auf das Gebot der Vorhersehbarkeit bestehende Konfliktpotential des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wurde in der Literatur erstmals in der Diskussion um die Konzentration paralleler Patentverletzungsklagen erkannt. 126 Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Voraussetzung eines Zusammenhangs der Beklagten, die nach den hier gewonnenen Erkenntnissen zum festen Bestandteil der Konnexitätsprüfung werden sollte, bislang einzig in Hinblick auf die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Patentrecht prominent vertreten wird.127 Im nachfolgenden Abschnitt soll anfangs noch einmal erläutert werden, warum das Erfordernis des streitgenössischen Kontakts zur Wahrung der Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft für den Annexbeklagten notwendig ist (dazu unter I.). Danach wird unter Anwendung der im allgemeinen Teil entwickelten Vorgaben diskutiert, in welchen der im Patentrecht typischen Konstellationen eine taugliche Verletzerbeziehung besteht (dazu unter II.). En détail analysiert werden das gemeinschaftliche Vorgehen der Beklagten (dazu unter II. 1.), der Konzernverbund (dazu unter II. 2.), Vertragsbeziehungen (dazu unter II. 3.) und speziell die Lieferbeziehungen in Verletzerketten (dazu unter II. 4.).

125

Dazu eingehend schon oben S. 75 ff. Grundlegend Stauder, GRUR Int. 1976, 465, 476. 127 Bukow, Verletzungsklagen, 164 ff.; Brinkhof, GRUR Int. 1997, 489, 492; Marshall, IIC 2000, 646, 652 f.; Otte, Umfassende Streitentscheidung, 708, 712 ff.; Rößler, IIC 2007, 380, 395; Schacht, GRUR 2012, 1110, 1113; vgl. auch Heinze, in: Basedow/Drexl (Hg.), Conflict of Laws in Intellectual Property, 103, 109 zu Art 2:206 CLIP, Gegen die Notwendigkeit einer Verletzerbeziehung aber Hölder, Durchsetzung, 152 ff.; Winkler, Patentverletzungsstreitigkeiten, 158. 126

D. Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt

I.

215

Notwendigkeit der Einführung des Kriteriums

Im Gegensatz zu anderen besonderen Zuständigkeiten der EuGVVO, wie etwa Art. 5 Nr. 1 EuGVVO oder Art. 5 Nr. 3 EuGVVO, knüpft der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nicht an ein streitgegenstandsbezogenes, sondern an das personenbezogene Merkmal des Wohnsitzes eines der Beklagten an. Nicht immer weist der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft daher einen Bezug zum Streitgegenstand auf, sodass allein das Kriterium der Gefahr widersprechender Entscheidungen die Vorhersehbarkeit der gemeinsamen Verhandlung für die Annexbeklagten nicht gewährleistet. 128 Dass auch ein vollkommen unabhängiges Vorgehen der Patentverletzer die Gefahr widersprechender Entscheidungen begründen kann, lässt sich anhand eines einfachen Beispiels veranschaulichen:129 Der in Hamburg ansässige D und der in London ansässige E importieren aus einem Drittstaat das gleiche Erzeugnis, das in den Mitgliedstaaten durch die nationalen Teile eines europäischen Bündelpatents geschützt wird, und vertreiben das Erzeugnis anschließend in ihren jeweiligen Sitzstaaten. Vom Vorgehen des jeweils anderen haben beide dabei keine Kenntnis. Nimmt der Inhaber des europäischen Bündelpatents X nun eine der beiden Gesellschaften mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO am Sitz der anderen Gesellschaft in Anspruch, beruhen die wegen der Verletzung verschiedener Teile des europäischen Bündelpatents erhobenen Klagen nach richtiger Auffassung zwar auf einer einheitlichen Rechtslage. Auch rechtfertigt die Identität der angegriffenen Ausführungsformen die Annahme einer einheitlichen Sachlage. Weil D und E die Patentverletzungen aber vollkommen unabhängig voneinander begehen, rechnen sie nicht mit einer Verfahrenskonzentration im Sitzstaat des jeweils anderen. Allein die Tatsache, dass der Patentinhaber für seine Erfindung die Erteilung eines europäischen Bündelpatents beantragt hat, macht die gemeinsame Verhandlung der Verletzungsklagen für die in unterschiedlichen Staaten handelnden Beklagten nicht vorhersehbar. Trotz des Bestehens einer Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht also die Notwendigkeit zur Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO.

128

Siehe oben S. 42 f., S. 76 f. Ähnliche Beispiele bei Schacht, GRUR 2012, 1110, 1113; Bukow, Verletzungsklagen, 153. 129

216

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

II. Analyse typischer Verletzerbeziehungen Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten setzt voraus, dass der Annexbeklagte bei der Vornahme des eigenen streitgegenständlichen Verhaltens willentlich eine Nähebeziehung zum Ankerbeklagten eingegangen ist und dabei in Kenntnis oder fahrlässiger Unkenntnis von dessen Wohnsitz sowie dessen streitgegenständlichen Verhalten gehandelt hat. In Übertragung dieser Vorgaben auf das Patentrecht besteht eine taugliche Verletzerbeziehung, wenn der annexbeklagte Patentverletzer mit dem ankerbeklagten Patentverletzer in Hinblick auf die Patentverletzung bewusst in Kontakt getreten ist und dabei Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis vom Wohnsitz des ankerbeklagten Patentverletzers hatte. 1. Gemeinschaftliches Vorgehen Unstreitig erfüllt ist das Erfordernis des streitgenössischen Kontakts, wenn die Beklagten bei der Patentverletzung gemeinschaftlich, d.h. in einer der klassischen Beteiligungsformen, agiert haben.130 Zu hinterfragen gilt jedoch, ob – wie von einigen Stimmen aus der älteren Literatur gefordert – eine solch enge Verletzerbeziehung zur Mindestanforderung der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO erhoben werden sollte.131 a) Widersprüchliche Mindestanforderung in Bezug auf parallele Verletzungsklagen Das Erfordernis eines gemeinschaftlichen Vorgehens der Beklagten wurde ursprünglich im Rahmen der Diskussion um die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ wegen der parallelen Verletzung mehrerer Splitter eines europäischen Bündelpatents angeregt. Mit Recht wurde im Schrifttum schon früh darauf hingewiesen, dass die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft allein aufgrund der parallelen Verletzung identischer Schutzrechte den allgemeinen Gerichtsstand am Wohnsitz

130

So ausdrücklich Adolphsen, Europäisches und internationales Zivilprozessrecht in Patentsachen, Rn. 604; Heinze, Europäisches Immaterialgüterrecht, 239; Hölder, Durchsetzung, 154 f.; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, Rn. 775; Lüthi, System, Rn. 891; Otte, Umfassende Streitentscheidung, 717; Winkler, Patentverletzungsstreitigkeiten, 153; Zigann, Entscheidungen, 135; vgl. auch Heinze, in: Basedow/Drexl (Hg.), Conflict of Laws in Intellectual Property, 103, 108; siehe zudem die in der folgenden Fußnote genannten Autoren, die das gemeinschaftliche Zusammenwirken der Beklagten sogar zur Mindestvoraussetzung erheben. 131 Stauder, IPRax 1998, 317, 321 f.; von Rospatt, GRUR Int. 1997, 861, 863.

D. Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt

217

des Beklagten aushöhlen könnte. 132 Zur Einschränkung der Konzentration paralleler Verletzungsklagen ist der Rückgriff auf die klassischen Beteiligungsformen jedoch verfehlt, da durch die Voraussetzung einer solch engen Verletzerbeziehung im Ergebnis allen parallelen Verletzungsklagen die Konnexität aberkannt wird.133 Parallelität setzt nämlich voraus, dass die Verletzungshandlungen der Streitgenossen jeweils ein anderes Immaterialgüterrecht (z.B. die verschiedenen nationalen Teile eines europäischen Bündelpatents) betreffen, sodass nach dem Schutzlandprinzip verschiedene Rechtsordnungen zur Beurteilung der Verletzungshandlungen herangezogen werden. Handeln die Beklagten aber gemeinschaftlich, resultiert daraus im Ergebnis, dass jede Verletzungshandlung gegenüber allen Beklagten nach derselben Rechtsordnung zu beurteilen ist, da durch die Anordnung der gesamtschuldnerischen Haftung im Deliktsrecht der betroffenen Immaterialgüterrechtsordnung jeder Streitgenosse für die Verletzung eines jeden Immaterialgüterrechts (mit)verantwortlich gemacht werden kann.134 Die Verantwortlichkeit eines jeden Streitgenossens für die Verletzung eines jeden Immaterialgüterrechts definiert aber gerade die konzentrierte Verletzung mehrerer Splitter eines Bündelpatents.135 Dieser Widerspruch lässt sich nur damit erklären, dass bei der Entwicklung der Einschränkung in der Literatur ein streng faktisches Verständnis von Parallelität zugrundegelegt wurde, welches die haftungsrechtliche „Aufweichung“ des Schutzlandprinzips durch die grenzüberschreitende Verantwortlichkeit für die Handlungen der mitbeteiligten Patentverletzer ignoriert. Bei Zugrundelegung dieses faktischen Verständnisses gölten Verletzungshandlungen solange als parallel, wie nicht jedem Streitgenossen in jedem Schutzland tatsächlich die eigen-

132

So bereits Stauder, GRUR Int. 1976, 465, 476 f. Hölder, Durchsetzung, 154; ihm folgend Winkler, Patentverletzungsstreitigkeiten, 149. 134 Die Anordnung der gesamtschuldnerischen Haftung ergibt sich aus der nach Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO berufenen Rechtsordnung, da die Reichweite des Personenkreises, der für eine deliktische Handlung haftbar gemacht werden kann, gemäß Art. 15 lit. g) Rom II-VO dem Deliktsstatut zu entnehmen ist (dazu eingehend oben S. 83 f.). Im materiellen deutschen Recht sehen die §§ 830, 840 BGB die gesamtschuldnerische Haftung im Außenverhältnis vor. Die Haftung gemeinschaftlich handelnder Deliktstäter auf den ganzen Schaden wird auf der Grundlage eines ähnlichen Verständnisses der klassischen Beteiligungsformen von den europäischen Rechtsordnungen einhellig als Anwendungsfall der Gesamtschuld verstanden (von Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. 1, Rn. 54 f., 317). 135 Siehe oben S. 186. 133

218

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

ständige Vornahme einer Handlung vorgeworfen wird.136 Sieht man einmal davon ab, dass diese Auffassung den Knackpunkt in der Differenzierung von parallelem und konzentriertem Handeln – die Anwendung derselben bzw. verschiedener Immaterialgüterrechtsordnungen – verkennt, ändert auch die Zugrundelegung des faktischen Verständnisses von Parallelität nichts daran, dass das gemeinschaftliche Vorgehens der Beklagten eine zu restriktive Konkretisierung der Verletzerbeziehung darstellt. Es ist nämlich ausgeschlossen, dass zwei Beklagte bei derselben Patentverletzung mittäterschaftlich zusammenwirken und dabei im faktischen Sinne parallel, d.h. in verschiedenen Staaten handeln, da die mittäterschaftliche Mitwirkung im Ausführungsstadium der Verletzung typischerweise eine Handlung innerhalb der territorialen Reichweite des Patents voraussetzt. 137 Dass der eine Beklagte an der Patentverletzung des anderen Beklagten in Form einer Hilfeleistung teilnimmt, ohne selbst eine Handlung im Staat der Patentverletzung zu begehen, ist ebenfalls nur schwer vorstellbar. Übrig blieben daher allein Fälle der Anstiftung für die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf parallele Verletzungsverfahren, weil in diesen Konstellationen die geistige Urheberschaft hinter der Patentverletzung für ausreichend erachtet wird, was die Handlung des Streitgenossens im Schutzland entbehrlich macht. b) Hinreichende, nicht aber notwendige Form des streitgenössischen Kontakts Als Mindestvoraussetzung ist das gemeinschaftliche Vorgehen zur Einschränkung der Konzentration von Klagen wegen der parallelen Verletzung eines europäischen Bündelpatents folglich ungeeignet. Zwar ist die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft zweifellos gewahrt, wenn die Beklagten in einer der klassischen Beteili136

Eine Konstellation, in der die Parallelität der Verletzungshandlungen abzulehnen ist, weil jedem Streitgenossen in jedem Schutzland eine Verletzungshandlung vorgeworfen wird, liegt dem Ausgangsverfahren der Rechtssache Solvay zu Grunde. Die einzelnen Beklagten waren nicht aufgrund einer „haftungsrechtlichen Aufweichung“ des Schutzlandprinzips für die Verletzung mehrerer Splitter eines europäischen Bündelpatents verantwortlich, sondern weil sie das patentverletzende Erzeugnis jeweils in mehrere Staaten geliefert hatten (oben S. 187 f.). 137 Patente können nach allgemeiner Auffassung nämlich nur durch Handlungen verletzt werden, die im jeweiligen Schutzland vorgenommen wurden (siehe nur OLG Düsseldorf v. 22. 7. 1999, IPRax 2001, 336, 337; LG Düsseldorf v. 22.3.2001, InstGE, 1, 146, Rn. 17; Bodson, RDIDC 2007, 447, 467; Kraßer, Patentrecht, 749; Neuhaus, Mitt. 1996, 257, 266; Stauder, GRUR Int. 1976, 465, 476; Wurmnest, GRUR Int. 2005, 265, 266).

D. Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt

219

gungsformen zusammengewirkt haben. Die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft ist aber bereits in weniger engen Formen des streitgenössischen Kontakts gewährleistet. 138 Das gemeinschaftliche Vorgehen der Beklagten bildet somit eine hinreichende, nicht aber notwendige Form des streitgenössischen Kontakts. 2. Konzernsachverhalte Die praktische Bedeutung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO für die effektive Verteidigung von Patenten gegenüber länderübergreifenden Verletzungsstrategien internationaler Konzerne wurde im Rahmen der kritischen Analyse der Entscheidung Roche Nederland bereits aufgezeigt. 139 Bislang nicht thematisiert wurde jedoch, dass die Richter in Luxemburg in der Roche Nederland-Entscheidung neben der einheitlichen Rechtslage auch das Kriterium der Verletzerbeziehung hätten konkretisieren können. Mit der zweiten Vorlagefrage ersuchte der Hoge Raad den EuGH nämlich um Klärung, ob es für die Beurteilung des Sachzusammenhangs der Klagen von Bedeutung sei, dass die Beklagten zu ein und demselben Konzern gehören und bei ihnen ein gemeinsames Handeln vorliegt, dem eine gemeinsame Geschäftspolitik zu Grunde liegt, die an einem zentralen Ort ausgearbeitet wurde. 140 Gegenstand der zweiten Vorlagefrage waren also die Kriterien der sog. spider in the web-Doktrin der niederländischen Rechtsprechung. Der Gerichtshof deutete in Gestalt eines obiter dictum daraufhin zwar an, dass das Bestehen der einheitlichen Sachlage davon abhängen könnte, dass die behaupteten Patentverletzungen von Gesellschaften eines Konzerns mit gemeinsamer Geschäftspolitik vorgenommen wurden.141 Die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage wurde letztlich aber mit dem Hinweis auf die (nach Auffassung des EuGH) fehlende Einheitlichkeit der Rechtslage der erhobenen Klagen verneint.142 Nachfolgend soll die zweite Vorlagefrage des Hooge Raad in der Rechtssache Roche Nederland zum Anlass genommen werden, zunächst die Tauglichkeit der niederländischen spider in the web-Doktrin zur Konkretisierung des Kriteriums der Verletzerbeziehung zu über138

Im Ergebnis auch Otte, Umfassende Streitentscheidung, 716 f.; Zigann, Entscheidungen, 135. 139 Siehe S. 199 f. 140 Vgl. EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 17. 141 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 27, 34. 142 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 34 f.

220

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

prüfen. Danach wird die eigene Auffassung für die Einschränkung der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in Konzernsachverhalten präsentiert. a) Untauglichkeit der spider in the web-Doktrin zur Einschränkung der Konzentration paralleler Verletzungsklagen Ihren Ausgangspunkt findet die niederländische spider in the webDoktrin in der prominenten Entscheidung Expandable Grafts des Gerechtshof Den Haag zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO.143 In dem zugrundeliegenden Ausgangsverfahren verletzten – ähnlich wie in der Rechtssache Roche Nederland – mehrere Gesellschaften eines Konzerns verschiedene Splitter eines europäischen Bündelpatents durch den auf einer gemeinsamen Geschäftspolitik basierenden Vertrieb identischer Ausführungsformen in ihren jeweiligen Sitzstaaten. Der Gerechtshof Den Haag bejahte zwar die Konnexität der erhobenen Klagen, betonte aber zugleich, dass der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft lediglich am Sitz der niederländischen Muttergesellschaft, der die Führungsrolle innerhalb der handelnden Firmengruppe zukam, eröffnet werden sollte. Zur Begründung dieser einschränkenden Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ führten die niederländischen Richter an, dass der anfänglich großzügige Umgang mit der Bündelung paralleler Patentverletzungsklagen durch die niederländische Rechtsprechung mit Blick auf den Beklagtenschutz und die Gefahr ausufernden forum shopping sinnvoll zu begrenzen sei.144 Tatsächlich ist der Gerechtshof Den Haag mit der Einführung der spider in the web-Doktrin zur Einschränkung der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO jedoch über das Ziel hinausgeschossen. Denn die Voraussetzungen der spider in the web-Doktrin, wonach die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft gegenüber Konzerngesellschaften lediglich am Sitz der die gemeinsame Patentverletzungsstrategie ausarbeitenden Muttergesellschaft zulässig ist, gleichen den Voraussetzungen der Teilnahme in Form einer Anstiftung.145 Die „Spin143

Gerechtshof Den Haag v. 23.4.1998, [1999] F.S.R. 352 (englische Übersetzung des Urteils); zu den Kriterien der spider in the web-Doktrin ausführlich auch Hye-Knudsen, Marken-, Patent-, und Urheberrechtsverletzungen, 124 ff.; Winkler, Patentverletzungsstreitigkeiten, 133 ff.; Zigann, Entscheidungen, 125 ff. 144 Gerechtshof Den Haag v. 23.4.1998, [1999] F.S.R. 352, 359, Rn. 15 ff. 145 Deutlich Gerechtshof Den Haag v. 23.4.1998, [1999] F.S.R. 352, 359, Rn. 19: „[that] all these corporations are acting jointly under the management of BS International BV.“ (Hervorhebung durch den Verfasser); dazu treffend Zigann, Entscheidungen, 133: „Im Ergebnis läuft die niederländische Rechtsprechung auf einen

D. Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt

221

ne“ kann somit für die Patentverletzung der übrigen Konzerngesellschaften nach der jeweils anwendbaren Immaterialgüterrechtsordnung verantwortlich gemacht werden. Die an ihrem Sitz konzentrierten Patentverletzungsklagen sind nicht länger parallel, da das vorzugswürdige materiell-rechtliche Verständnis von Parallelität voraussetzt, dass die Verletzungshandlungen der Streitgenossen jeweils nach verschiedenen Rechtsordnungen beurteilt werden.146 Die Existenz einer „Spinne“ führt also zwangsläufig zum Vorliegen einer konzentrierten Verletzung mehrerer nationaler Splitter des europäischen Bündelpatents; eine sinnvolle Begrenzung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO für parallele Verletzungsklagen bietet das Kriterium nicht.147 Die Einsicht, dass die Anwendung der Kriterien der spider in the webDoktrin die Parallelität der Verletzungshandlungen ausschließt, hätte dem EuGH in der Rechtssache Roche Nederland den Weg eröffnet, die Konzentration der Klagen am Sitz der Muttergesellschaft losgelöst vom Rechtscharakter des europäischen Bündelpatents zu erlauben. Denn der Hoge Raad betonte in seiner Vorlagefrage ausdrücklich den Aspekt, dass „bei den Beklagten ein gemeinsames Handeln vorliegt, dem eine gemeinsame Geschäftspolitik zu Grunde liegt“. 148 Anstatt die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage mit dem Hinweis auf die (vermeintlich) fehlende Einheitlichkeit der Rechtslage zu verneinen, 149 hätte der EuGH dem vorlegenden Gericht den Auftrag erteilen können, im Einzelfall zu prüfen, ob die Muttergesellschaft und die jeweilige Tochtergesellschaft tatsächlich gemeinschaftlich gehandelt haben, um bei einem Gerichtsstand der Mittäterschaft hinaus.“ Die spider in the web-Doktrin ebenfalls in diesem Sinne deutend Adolphsen, Europäisches und internationales Zivilprozessrecht in Patentsachen, Rn. 604; Bukow, Verletzungsklagen, 169; Grabinski, GRUR Int. 2001, 199, 207; Rößler, IIC 2007, 380, 396; Winkler, Patentverletzungsstreitigkeiten, 136 f.; Wilderspin, Rev. crit. dr. int. priv. 95 (2006), 777, 791. 146 Die niederländischen Richter ließen sich scheinbar davon blenden, dass dem Fall im rein faktischen Sinne parallele Verletzungshandlungen zugrundelagen. Bezeichnenderweise trifft die geistige Urheberschaft hinter der Patentverletzung als zentrales Kriterium der spider in the web-Doktrin die einzige Konstellation, in der das gemeinsame Handeln ohne ein tatsächliches Handeln in demselben Schutzland möglich ist. 147 So im Ergebnis auch Hölder, Durchsetzung, 154. 148 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 17 (zweiter Unterpunkt der zweiten Vorlagefrage). So auch schon das Verständnis der Vorlagefragen bei GA Léger, Schlussanträge v. 8.12.2005, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), I-6535, Rn. 42. 149 EuGH v. 13.7.2006, Rs. C-539/2003 (Roche Nederland u.a./Primus und Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, Rn. 34 f.

222

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

positiven Ergebnis dieser Prüfung die einheitliche Rechtslage für die Bündelung der Klagen am Sitz der Muttergesellschaft zu bejahen.150 Zusammenfassend gilt entsprechend der zu den klassischen Beteiligungsformen bereits getroffenen Aussagen: Erfüllt eine Konzernstruktur die Kriterien der spider in the web-Doktrin, steht einer gemeinsamen Verhandlung am Sitz der Muttergesellschaft nichts im Wege. Mindestanforderungen zur Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in Konzernsachverhalten lassen sich aus der spider in the web-Doktrin indes nicht ableiten. b) Eigener Ansatz Bei der Entwicklung des eigenen Ansatzes geht es folglich um den Umgang mit Konstellationen, in denen die Patentverletzer zwar konzernrechtlich miteinander verbunden sind, der Einfluss der Konzernmutter auf ihre Tochtergesellschaft jedoch unterhalb der Schwelle des gemeinsamen Handelns liegt. In Übertragung der Vorgaben des allgemeinen Teils ist für eine taugliche Verletzerbeziehung ausreichend, dass die annexbeklagte Gesellschaft mit der ankerbeklagten Gesellschaft in Hinblick auf die Patentverletzung bewusst in Kontakt getreten ist und dabei Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis vom Sitz der ankerbeklagten Gesellschaft hatte.151

150

In diese Richtung auch Wilderspin, Rev. crit. dr. int. priv. 95 (2006), 777, 791 f. Dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises des EuGH will Lüthi im Umkehrschluss entnehmen, dass die vom Hoge Raad vorgelegte Konstellation gerade kein Fall des gemeinschaftlichen Handelns darstellt (Lüthi, System, Rn. 910, Fn. 4202), was m.E. aber nicht überzeugt. Zum einen erwähnt die Vorlagefrage des Hooge Rad das „gemeinsame Handeln“ und die „gemeinsame Geschäftspolitik“ der Gesellschaften ausdrücklich. Zum andern ändern sich die Kriterien der spider in the web-Doktrin nicht, nur weil der EuGH dem nationalen Gericht keinen Hinweis auf eine Prüfung im Einzelfall gibt. Vielmehr deutet das Fehlen des Hinweises darauf hin, dass dem EuGH nicht bewusst war, dass das gemeinschaftliche Handeln der Streitgenossen die einheitliche Rechtslage unstreitig begründet hätte. 151 Zur Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass die konzernrechtliche Verbundenheit der Beklagten allein, d.h. ohne die einheitliche Sach- und Rechtslage, keinesfalls die Konnexität der Klagen begründet (zutreffend OLG Stuttgart v. 30.5. 2007, BeckRS 2007, 9721).

D. Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt

223

aa) Anwendung der Vorgaben zum streitgenössischen Kontakt auf den klassischen Unterordnungskonzern Die Anwendung dieser Vorgaben auf den klassischen Unterordnungskonzern 152 resultiert in einer Differenzierung zwischen vertikalen und horizontalen Konzernebenen. 153 Derselben vertikalen „Konzernverästelung“ sind Patentverletzer zuzuordnen, wenn sie einander unmittelbar oder mittelbar über- oder untergeordnet sind, zwischen ihnen also beispielsweise das Verhältnis „Mutter/Tochter“ bzw. „Großmutter/Enkelin“ besteht. In einem solchen gesellschaftsrechtlichen Subordinationsverhältnis sollte unterstellt werden, dass die Patentverletzungshandlung der annexbeklagten Gesellschaft in Kenntnis oder zumindest fahrlässiger Unkenntnis der Patentverletzungshandlungen der ankerbeklagten Gesellschaft und deren Sitz vorgenommen werden. 154 Die Begründung einer gesellschaftsrechtlichen Beziehung stellt zudem auch die bewusste Eingehung eines streitgenössischen Kontakts dar, ohne dass hierfür die direkte Steuerung der Patentverletzungshandlungen durch die Muttergesellschaft erforderlich wäre. Zwischen Gesellschaften derselben vertikalen Konzernverästelung besteht folglich eine hinreichend enge Verletzerbeziehung.155 Anders liegen die Dinge bei strukturell gleichgeordneten Gesellschaften, die miteinander nur mittelbar, d.h. über eine gemeinsame übergeordnete Gesellschaft, in konzernrechtlicher Beziehung stehen. 156 Wenngleich eine Tochtergesellschaft typischerweise Kenntnis von der Existenz der übrigen Tochtergesellschaften und deren Sitze haben dürfte, wird man ihr ob des Fehlens eines gesellschaftsrechtlichen Subordinationsverhältnisses regelmäßig nicht einfach unterstellen können, die eigene Verletzungshandlung auch in Kenntnis der Verletzungshandlungen der übrigen Tochtergesellschaften begangen zu haben. Ebenfalls stark vom jeweiligen Einzelfall abhängig ist, ob die gleichgeordneten Gesellschaften zu irgendeinem Zeitpunkt bewusst in streitgenössischen Kontakt getreten sind oder aber vollkommen unabhängig voneinander 152 Im Unterordnungskonzern sind gemäß § 18 Abs. 1 S. 1 AktG ein oder mehrere abhängige Unternehmen unter der einheitlichen Leitung eines herrschenden Unternehmens zusammengefasst (MünchKommAktG/Bayer, § 18 AktG, Rn. 2). 153 Für diese Unterscheidung auch Lüthi, System, Rn. 901. 154 So auch Lüthi, System, Rn. 901. 155 Lüthi, System, Rn. 901. Restriktiver dagegen die Schlussanträge von GA Trstenjak v. 25.4.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/Standard VerlagsGmbH u.a.), BeckEuRS 2011, 570115, Fn. 39, denen zufolge allein der Sitz der Muttergesellschaft zur Verfahrenskonzentration in Betracht kommt. 156 Lüthi, System, Rn. 902.

224

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

handeln. Allein die mittelbare gesellschaftsrechtliche Verbundenheit einander gleichgeordneter Gesellschaften reicht folglich nicht aus, um eine taugliche Verletzerbeziehung zu begründen.157 Vielmehr muss sich im jeweiligen Einzelfall eine über die bloße Konzernzugehörigkeit hinausgehende „Hinwendung“ zur Verletzungshandlung der gleichgeordneten Gesellschaft manifestiert haben. Ausreichend sind dafür freilich alle Arten des streitgenössischen Kontakts, aus denen sich schon außerhalb von Konzernstrukturen eine hinreichend enge Verletzerbeziehung ergibt, insbesondere also vertragliche Lieferbeziehungen, die einen Bezug zur begangenen Patentverletzung aufweisen.158 Für die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei Patentverletzungen durch einen klassischen Unterordnungskonzern ergibt die Differenzierung zwischen vertikalen und horizontalen Konzernebenen somit Folgendes: Die umfassende Konzentration des Verfahrens ist nur am Sitz der Konzernspitze möglich. Eine partielle Bündelung der Verletzungsklagen ist dagegen auch am Sitz anderer Gesellschaften möglich. Betrifft die Verfahrenskonzentration ausschließlich Gesellschaften derselben vertikalen Konzernverästelung, kommen die Sitze aller Gesellschaften dafür in Betracht. Gesellschaften, die mit der Ankerbeklagten nicht auf einer vertikalen Konzernverästelung liegen, etwa weil sie horizontal auf derselben Konzernebene angesiedelt sind, dürfen dem Verfahren dagegen nicht allein aufgrund ihrer Konzernzugehörigkeit hinzugezogen werden. bb) Vor- und Nachteile der hier vertretenen Lösung Die vorgeschlagene Lösung schafft einen sinnvollen Ausgleich zwischen den Interessen von Kläger und Beklagten. Anders als nach der vom EuGH vertretenen Auffassung und der niederländischen spider in the web-Doktrin bleibt europäischen Patentinhabern Art. 6 Nr. 1 EuGVVO als effektive Verteidigung auch gegen die parallele Verletzung mehrerer nationaler Teile eines europäischen Bündelpatents erhalten, 159 da die gebündelte Geltendmachung am Sitz der Konzernspitze aufgrund der konzernrechtlichen Verbundenheit der Beklagten gestattet wird. Gleich-

157

Lüthi, System, Rn. 902; im Ergebnis auch Bukow, Verletzungsklagen, 174 f. A.A. dagegen Pitz, Patentverletzungsverfahren, Teil 10, Rn. 230. 158 Dazu sogleich auf S. 226 f. 159 Zur Erinnerung: Nach dem hier vertretenen Verständnis bildet die spider in the web-Doktrin keine geeignete Beschränkung der Konzentration paralleler Verletzungsklagen, da die Existenz der „Spinne“ die Parallelität der Verletzungshandlungen ausschließt.

D. Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt

225

zeitig werden die Anreize zum forum shopping insoweit reduziert, als dass die allgemeinen Gerichtsstände der Tochtergesellschaften jeweils nur zur partiellen Verfahrenskonzentration mit den auf derselben vertikalen Konzernverästelung liegenden Gesellschaften – typischerweise der eigenen Muttergesellschaft – zur Auswahl stehen. Die strikte Einhaltung des Gebots der Vorhersehbarkeit und Zurechenbarkeit des konkreten Gerichtsortes mindert zudem die mit der gemeinsamen Verhandlung im Ausland einhergehenden Nachteile für die annexbeklagten Gesellschaften. Die vorgeschlagene Lösung ist der spider in the web-Doktrin aber nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch überlegen. Während die spider in the web-Doktrin die komplexen, nicht im Tatbestand des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO verankerten Kriterien der „gemeinsamen Geschäftspolitik“ bzw. der „gemeinsamen Patentverletzungsstrategie“ aufgreift, leitet sich die hier vorgeschlagene Lösung aus dem Gebot der Vorhersehbarkeit als allgemeinem Prinzip des europäischen Zuständigkeitsrechts ab. Die Verfahrenskonzentration allein am Sitz der „Spinne“ zu erlauben, begründet zudem eine systemwidrige Gewichtung der Sitzgerichte der einzelnen Konzerngesellschaften, 160 die zur Folge hat, dass der Kläger nicht alternativ einen Teil des Konzerns am Sitz einer anderen Gesellschaft in Anspruch nehmen kann.161 Solange die Vorhersehbarkeit für die Beklagten gewahrt bleibt, ist aber nicht nachzuvollziehen, warum die partielle Verfahrenskonzentration am Sitz einer Tochtergesellschaft unzulässig sein soll. Beiden Lösungen gemein ist hingegen eine Schwäche im Umgang mit Konzernen, deren Konzernspitze in einem Drittstaat angesiedelt ist, da die umfassende Verfahrenskonzentration am europäischen Gerichtsstand der Streitgenossenschaft in einem solchen Fall unmöglich ist.162 Als Konsequenz der territorialen Beschränktheit der EuGVVO ist dieses unbefriedigende Ergebnis jedoch hinzunehmen.163 Der vereinzelt vorgeschla160 Zur Systemwidrigkeit der Gewichtung der Wohnsitzgerichte der Streitgenossen bereits oben S. 132 f. 161 Diesen Nachteil der spider in the web-Doktrin betonen auch Ebner, Markenschutz, 205; Fawcett/Torremans, Intellectual Property and Private International Law, Rn. 5.125 f.; Hölder, Durchsetzung, 161; Lüthi, System, Rn. 916; Pitz, Patentverletzungsverfahren, Teil 10, Rn. 230; Schauerwecker, Patentverletzungsjurisdiktion, 391 f.; Zigann, Entscheidungen, 136 f. A.A. dagegen Norrgård, in: Drexl/Kur (Hg.), Intellectual Property and Private International Law, 35, 52 f., der die partielle Verfahrenskonzentration auch nach der spider in the web-Doktrin für zulässig erachtet. 162 Siehe S. 149 ff. 163 Grabinski, GRUR Int. 2001, 199, 207 (zur spider in the web-Doktrin).

226

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

gene Ausweg, dem Kläger bei einer drittstaatsansässigen Konzernspitze ausnahmsweise die Verfahrenskonzentration nach seiner Wahl am allgemeinen Gerichtsstand einer der europäischen Tochtergesellschaften zu erlauben,164 opfert das Gebot der Vorhersehbarkeit schlicht zu Gunsten rechtspolitischer Interessen. Die hier vorgeschlagene Lösung entschärft das Problem zudem dadurch, dass im Falle einer Konzernstruktur mit mehr als zwei Ebenen zumindest die partielle Verfahrenskonzentration an einem mitgliedstaatlichen Gericht möglich ist und die Konzernmutter diesem Verfahren unter Umständen gemäß Art. 4 Abs. 2 EuGVVO nach nationalen Zuständigkeitsrecht hinzugezogen werden kann. 3. Vertragsbeziehungen Unterhalten die Patentverletzer eine Vertragsbeziehung, so haben sie in aller Regel Kenntnis des Sitzes ihres Vertragspartners. Trotzdem sollte nicht automatisch auf eine hinreichend enge Verletzerbeziehung geschlossen werden. Anders als in gesellschaftsrechtlichen Subordinationsverhältnissen, die den streitgenössischen Kontakt der Beklagten pauschal begründen, ist im Falle einer Vertragsbeziehung nämlich ein konkreter Bezug des Vertragsgegenstandes zur begangenen Patentverletzung erforderlich, aus dem sich die Kenntnis von der Patentverletzungshandlung des Vertragspartners ableiten lässt. Zu bejahen ist der Bezug des Vertragsgegenstands zur Patentverletzung etwa, wenn die Beklagten die Herstellung, Lieferung oder Benutzung patentverletzender Produkte vereinbart haben. Insbesondere Großunternehmen derselben Branche dürften häufig jedoch in Vertragsbeziehungen stehen, die mit der in einem späteren Prozess streitgegenständlichen Patentverletzung selbst nichts zu tun haben. In diesen Konstellationen erlaubt die vertragliche Beziehung keine Rückschlüsse auf die Kenntnis von der Patentverletzung des Vertragspartners, wie das folgende Beispiel veranschaulichen soll: Die Vertriebsgesellschaft V bezieht das patentgeschützte Erzeugnis A vom Großhändler X und das patentgeschützte Erzeugnis B vom Großhändler Y. Das patentgeschützte Erzeugnis B hat der Großhändler X zwar ebenfalls im Angebot, nur beliefert er damit ausschließlich andere Vertriebsgesellschaften. In der Folge wird V wegen des Verkaufs der Produkte A und B verklagt. X soll der Verhandlung als Annexbeklagter hinzugezogen werden. In dieser Situation muss X zwar in Hinblick auf 164

So Rößler, IIC 2007, 380, 397.

D. Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt

227

die Verletzung des Produkts A mit der Inanspruchnahme am Sitz der V rechnen. Bezüglich des Produkts B unterhalten die beiden Gesellschaften jedoch keine vertragliche Beziehung, sodass X wegen der Verletzung des Patents am Erzeugnis B nicht mit einer Inanspruchnahme am Sitz der V rechnen muss. Vertragsbeziehungen begründen also lediglich dann eine hinreichend enge Verletzerbeziehung, wenn der Vertragsgegenstand einen konkreten Bezug zur begangenen Patentverletzung aufweist.165 4. Verletzerketten Besondere Aufmerksamkeit verdienen bei der Analyse tauglicher Verletzerbeziehungen schließlich Konstellationen, in denen ein patentverletzendes Produkt mehrere Marktstufen (etwa Herstellung, Vertrieb, Benutzung) durchläuft, sodass die Akteure der jeweiligen Marktstufe in einer sog. Verletzerkette zusammengefasst werden können. In dieser Arbeit wird von einer „echten“ Verletzerkette gesprochen, wenn mehrere Beklagte mit Wohnsitz in verschiedenen Mitgliedstaaten dasselbe Immaterialgüterrecht auf unterschiedlichen Marktstufen verletzt haben.166 Als „unechte“ Verletzerkette werden demgegenüber Konstellationen bezeichnet, die zwar sukzessive Verletzungshandlungen auf unterschiedlichen Marktstufen aufweisen, sodass die Existenz einer Verletzerkette auf den ersten Blick naheliegt, in denen die Beteiligten jedoch entweder auf derselben Marktstufe gehandelt oder unterschiedliche Immaterialgüterrechte verletzt haben. Entgegen anderslautender Forderungen167 ist nach hier vertretener Position für das Entstehen einer Verletzerkette keine Voraussetzung, dass die Verletzungshandlungen der Beteiligten gemeinschaftlich begangen wurden. 168 Stehen die Beteiligten in einer derart engen Verletzerbeziehung, ist der Gerichtsstand der Streit-

165

Im Ergebnis Lüthi, System, Rn. 893, der für die Konzentration von Verletzungsklagen im Markenrecht fordert, dass die vertraglichen Beziehungen „unter anderem auch die fraglichen Produkte bzw. Kennzeichen beschlagen“. 166 Vgl. BGH v. 14.12.2006, GRUR 2007, 705 (erster Leitsatz). 167 Dieses Verständnis kommt etwa bei Hye-Knudsen zum Ausdruck, die die „Konnexität bei stufenmäßiger Verletzung eines Schutzrechts“ bejaht, weil „die Rechte […] gemeinschaftlich durch die Beklagten verletzt wurden“ (Hye-Knudsen, Marken-, Patent- und Urheberrechtsverletzungen, 129). Mehrdeutig ist auch die Formulierung des BGH, „sie [die Beteiligten] hätten auf verschiedenen Absatzstufen in einer ‚Verletzerkette‘ zusammengewirkt.“ (BGH v. 14.12.2006, GRUR 2007, 705, erster Leitsatz, Hervorhebung durch den Verfasser). 168 Götz, GRUR 2001, 295, 297; Bukow, Verletzungsklagen, 185; Lüthi, System, Rn. 894.

228

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

genossenschaft ohnehin unstreitig eröffnet, sodass sich eine weitere Untersuchung der Konstellation erübrigt.169 a) „Echte“ Verletzerketten Eine hinreichend enge Verletzerbeziehung besteht zwischen denjenigen Beteiligten einer „echten“ Verletzerkette, die auf der unmittelbar vorangehenden oder nachfolgenden Marktstufe angesiedelt sind, da die auf dasselbe Produkt bezogenen Vertragsbeziehungen nach den soeben getroffenen Feststellungen den streitgenössischen Kontakt begründen. 170 Trennen Anker- und Annexbeklagten dagegen mehrere Marktstufen, stehen die Beklagten also lediglich mittelbar, durch ihre Zugehörigkeit zu derselben Verletzerkette, in Verbindung, ist die Vorhersehbarkeit der gemeinsamen Verhandlung zweifelhaft. Das folgende Beispiel veranschaulicht das Problem: Der in Lyon ansässige Importeur F liefert dem in Hamburg ansässigen Händler D eine Maschine, die der in Amsterdam ansässige N in Hamburg erwirbt. X ist der Meinung, die Maschine verletzte den deutschen Teil seines europäischen Bündelpatents, und verklagt F und D am Sitz des N in Amsterdam.171 Während D damit rechnen muss, am Wohnsitz seines Käufers in Anspruch genommen zu werden, wird der französische Importeur I im Regelfall keine Kenntnis von der Herkunft der Kunden seines deutschen Geschäftspartners haben. Bei der Auslieferung des Produkts in Hamburg weiß I nicht „wohin die Reise geht“172. In der Literatur wird die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in einer solchen Konstellation teilweise bejaht. Ein von Neuhaus entwickelter, später als „Bootstheorie“ bezeichneter Ansatz, erachtet die umfassende Verfahrenskonzentration gegenüber allen Beteiligten der Verletzerkette für gerechtfertigt, da Hersteller, Lieferant und Käufer „in ei169

Im Falle des gemeinschaftlichen Vorgehens der Beklagten lässt sich sogar argumentieren, dass überhaupt keine Verletzerkette mehr besteht, weil aufgrund der gemeinsamen haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit auf jeder Verletzungsstufe nicht mehr nur einem Beteiligten die Patentverletzung zur Last fällt. 170 Speziell im Kontext der Verletzerkette auch Stauder, GRUR Int. 1976, 465, 476; Otte, Umfassende Streitentscheidung, 713 f.; Lüthi, System, Rn. 894 und im Ergebnis BGH v. 14.12.2006, GRUR 2007, 705, 707; vgl. auch Heinze, in: Basedow/ Drexl (Hg.), Conflict of Laws in Intellectual Property, 103, 109. A.A. dagegen von Rospatt, GRUR Int. 1997, 861, 863; Rößler, IIC 2007, 380, 393. 171 Ein ähnliches Beispiel findet sich etwa schon bei Stauder, GRUR Int. 1976, 465, 476. 172 Treffend Hölder, Durchsetzung, 156, der diese Bedenken letztlich jedoch nicht durchschlagen lässt, da er die Voraussetzung der Verletzerbeziehung insgesamt ablehnt.

D. Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt

229

nem Boot“ säßen.173 Zu dieser Betrachtung wird Neuhaus wohl dadurch veranlasst, dass die Beteiligten nach deutschem Recht gesamtschuldnerisch haften.174 Bereits im allgemeinen Teil dieser Arbeit wurde jedoch darauf hingewiesen, dass die gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten zwar die Gefahr widersprechender Entscheidungen begründet, für die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft aber keine Garantie darstellt.175 Entscheidend ist vielmehr, ob die vorprozessualen Nähebeziehungen entlang der Verletzerkette eng genug sind, um eine umfassende gemeinsame Verhandlung zu ermöglichen. Zwischen Beteiligten, die weiter als eine Marktstufe voneinander entfernt sind, ist das Bestehen einer tauglichen Verletzerbeziehung regelmäßig zu verneinen. 176 Typischerweise wird sich nämlich nicht einmal die Kenntnis vom ausländischen Wohnsitz über mehrere Glieder der Verletzerkette hinweg erstrecken, geschweige denn, eine direkte Kontaktaufnahme zwischen den Beteiligten stattgefunden haben. Nur in Ausnahmefällen dürfte der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft über mehrere Glieder einer Verletzerkette hinweg vorhersehbar sein. Ein solcher Ausnahmefall läge beispielsweise vor, wenn ein Kunde seinen Vertriebshändler beauftragt, für ihn bei einem ausländischen Hersteller, den der Kunde vorher selbst ausgesucht hat, ein patentverletzendes Produkt auf eigene Rechnung zu bestellen. Unter diesen besonderen Umständen weiß der Kunde zum einen vom ausländischen Sitz des Herstellers. Zum anderen muss er sich die Vertragsbeziehung

173 Neuhaus, Mitt. 1996, 257, 266 f. In diese Richtung bereits Tetzner, GRUR 1976, 669, 671. Den Begriff „Bootstheorie“ verwendet erstmals von Rospatt, GRUR Int. 1997, 861, 863. 174 Neuhaus, Mitt. 1996, 257, 266: „[Die Beteiligten] haften deshalb bei vorhandenem Verschulden gemäß §§ 840, 421 BGB auch als Gesamtschuldner. [Der Kläger] kann daher [die Beteiligten] zusammen […] verklagen.“ Zuvor begründet Tetzner, GRUR 1976, 669, 671 die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ mit dem „Wesen der Gesamtschuld“. 175 Oben S. 89 f. Dass die „Bootstheorie“ den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nicht vorhersehbarer macht, erkennen auch Bukow, Verletzungsklagen, 193 f.; Hölder, Durchsetzung, 156 und Lüthi, System, Rn. 897, wobei nur der letztgenannte Autor diese Bedenken durchschlagen lässt. 176 So im Ergebnis auch Stauder, GRUR Int. 1976, 465, 476; von Rospatt, GRUR Int. 1997, 861, 863; Otte, Umfassende Streitentscheidung, 712, Fn. 1237; Zigann, Entscheidungen, 134 f.; offen gelassen bei Lüthi, System, Rn. 899 (konkrete Umstände des jeweiligen Einzelfalls). In Richtung der hier vertretenen Position auch EuGH v. 17.6.1992, Rs. C-26/1991 (Handte/TMCS), Slg. 1992, I-3967, Rn. 18 ff., wonach der Erfüllungsort bei französischer action directe des Endabnehmers für den Hersteller nicht vorhersehbar ist, dazu Peifer, JZ 1995, 91 f.

230

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

seines Händlers mit dem Hersteller, die er selbst durch die Bestellung veranlasst hat, zurechnen lassen.177 Für „echte“ Verletzerketten lässt sich somit zusammenfassend festhalten, dass, erstens, die notwendige Verletzerbeziehung zwischen Beteiligten auf unmittelbar aufeinanderfolgenden Marktstufen besteht, zweitens, regelmäßig keine Verletzerbeziehung über mehrere Glieder der Verletzerkette hinweg besteht und daher, drittens, im Interesse einer möglichst umfassenden Verfahrenskonzentration am Sitz von Beteiligten, die weder am Anfang noch am Ende der Verletzerkette stehen, geklagt werden sollte. b) „Unechte“ Verletzerketten Als „unechte“ Verletzerkette werden in dieser Arbeit Konstellationen bezeichnet, die zwar sukzessive Verletzungshandlungen auf unterschiedlichen Marktstufen aufweisen, sodass die Existenz einer Verletzerkette zunächst naheliegt, in denen die Beteiligten – im Unterschied zur „echten“ Verletzerkette – jedoch entweder auf derselben Marktstufe gehandelt haben oder in Gestalt mehrerer nationaler Splitter eines europäischen Bündelpatents unterschiedliche Immaterialgüterrechte verletzt haben. aa) Handeln auf derselben Marktstufe Der Absatz von Produkten erfolgt auf den unteren Stufen des Vertriebsweges typischerweise an mehrere, auf derselben Marktstufe angesiedelte Zwischenhändler oder Endkunden. Mit der Weitergabe des Produkts über mehrere Marktstufen entsteht daher häufig eine nach unten hin „ausfächernde“ Gesamtstruktur. Innerhalb dieser Gesamtstruktur verlaufen entlang der vertikalen Verästelungen mehrere „echte“ Verletzerketten, die jede für sich nach den soeben gewonnenen Erkenntnissen beurteilt werden können. In Hinblick auf die gemeinsame Verhandlung mit allen Beteiligten der verschiedenen Absatzstufen stellt sich jedoch – analog zur Betrachtung von Konzernsachverhalten – die Frage, ob auch Beklagte derselben Marktstufe gemeinsam verklagt werden können, obwohl sie miteinander unmittelbar nichts zu tun haben. In Übertragung der im Rahmen der Untersuchung von Konzernsachverhalten gewonnenen Erkenntnisse besteht zwischen Beklagten 177

Denkbar ist ebenfalls die „umgekehrte“ Konstellation, dass der Hersteller vorgibt, welche Handelspartner auf den folgenden Marktstufen zu beliefern sind (Beispiel bei Lüthi, System, Rn. 899).

D. Verletzerbeziehung – Der streitgenössische Kontakt

231

derselben Marktstufe keine taugliche Verletzerbeziehung. Beklagte derselben Marktstufe stehen über den gemeinsamen Vertragspartner auf der vorhergehenden Marktstufe lediglich in einer mittelbaren Verbindung, die – verglichen mit der von gleichgeordneten Tochtergesellschaften im Konzern – zudem relativ schwach ausprägt ist. In aller Regel werden die Beteiligten daher keine Kenntnis von den allgemeinen Gerichtsständen der anderen Beteiligten ihrer Marktstufe haben. Erwerben mehrere Kunden bei demselben Händler ein patentverletzendes Produkt, muss der jeweilige Kunde damit rechnen, am Sitz des Händlers nicht aber am Sitz eines anderen Kunden in Anspruch genommen zu werden. Die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO muss in Hinblick auf das Handeln auf derselben Marktstufe also dahingehend beschränkt werden, dass die gemeinsame Verhandlung allein am Sitz des gemeinsamen übergeordneten Gliedes der Verletzerkette möglich ist.178 bb) Betroffenheit verschiedener Splitter eines europäischen Bündelpatents Verletzen die Beteiligten durch parallele Handlungen auf unterschiedlichen Marktstufen ein europäisches Bündelpatent, kann es aufgrund dessen Rechtscharakters zu einer besonderen Art „unechter“ Verletzerketten kommen. Denn bei einer stufenmäßigen Verletzung verschiedener Splitter des europäischen Bündelpatents liegt aufgrund der vereinheitlichten Rechtsvorschriften des EPÜ ein tauglicher Verletzungsgegenstand i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO vor, obwohl nicht dasselbe Immaterialgüterrecht betroffen ist, was aber Voraussetzung einer „echten“ Verletzerkette ist.179 Veranschaulichen lässt sich diese Konstellation an dem folgenden Beispiel: Der in Hamburg ansässige Händler D erwirbt beim in Lyon ansässigen Hersteller F eine in dessen französischer Fabrik hergestellte Maschine. Danach verkauft D die Maschine an den Kunden N mit Sitz in den Niederlanden, der sie in seinem Betrieb benutzt. Die Auslieferung der Maschine wurde jeweils von einer unabhängigen Speditionsfirma durchgeführt. X ist der Meinung, das Produkt verletze den deutschen,

178

Neuhaus, Mitt. 1996, 257, 266; ihm folgend Bukow, Verletzungsklagen, 195; Mousseron/Raynard/Véron, IIC 1998, 884, 893 f.; Otte, Umfassende Streitentscheidung, 712 f. mit Fn. 1237; Lüthi, System, Rn. 895. 179 Bildet ein supranationales Immaterialgüterrecht wie die Gemeinschaftsmarke den Verletzungsgegenstand (wie etwa in BGH v. 14.12.2006, GRUR 2007, 705 ff.), kann sich eine „echte“ Verletzerkette auch über unterschiedliche Staaten hinweg erstrecken.

232

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

französischen und niederländischen Teil seines europäischen Bündelpatents und verklagt F, D und N gemeinsam in Hamburg. In dieser Konstellation darf streng genommen nicht von einer „echten“ Verletzerkette ausgegangen werden, da die verschiedenen nationalen Teile des europäischen Bündelpatents jeweils nur auf einer Marktstufe verletzt werden. Die Betroffenheit eines oder mehrerer Splitter des europäischen Bündelpatents ändert nach der hier vertretenen Auffassung jedoch nichts am Bestehen der einheitlichen Rechtslage i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Zur Beurteilung der Verletzerbeziehung darf daher auf die Feststellungen zur „echten“ Verletzerkette verwiesen werden. III. Zusammenfassung zur Verletzerbeziehung Eine taugliche Verletzerbeziehung besteht, wenn der annexbeklagte Patentverletzer mit dem ankerbeklagten Patentverletzer in Hinblick auf die Patentverletzung bewusst in Kontakt getreten ist und dabei Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis vom Wohnsitz des Ankerbeklagten hatte. Das Zusammenwirken der Beklagten in einer der klassischen Beteiligungsformen bildet zweifellos eine hinreichend enge Form des streitgenössischen Kontakts. Zur Mindestvoraussetzung darf das gemeinschaftliche Vorgehen jedoch nicht erhoben werden, da die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft bereits in weniger engen Formen des streitgenössischen Kontakts gewährleistet ist. In Konzernsachverhalten ist das Kriterium der Verletzerbeziehung wie folgt zu bewerten: Eine umfassende Konzentration des Verfahrens ist nur am Sitz der Konzernspitze möglich. Am Sitz anderer Gesellschaften des Konzerns darf das Verfahren hingegen nur partiell konzentriert werden und zwar gegenüber allen Gesellschaften, die auf derselben vertikalen Konzernverästelung wie die Ankerbeklagte angesiedelt sind. Eine zwischen den Beklagten bestehende Vertragsbeziehung begründet eine hinreichend enge Verletzerbeziehung, wenn der Vertragsgegenstand einen konkreten Bezug zur begangenen Patentverletzung aufweist. Für „echte“ Verletzerketten lässt sich festhalten, dass die notwendige Verletzerbeziehung zwischen Beteiligten auf unmittelbar aufeinanderfolgenden Marktstufen gegeben ist, regelmäßig aber nicht über mehrere Glieder der Verletzerkette hinweg besteht. Für nach unten „ausfächernde“ Verletzerketten gilt, dass das Verfahren gegenüber Beklagten derselben Marktstufe nur am Sitz ihres gemeinsamen Vertragspartners konzentriert werden kann. Für die Verletzung mehrerer nationaler Teile

E. Ergebnis

233

eines europäischen Bündelpatents jeweils auf einer Marktstufe gelten die zu den „echten“ Verletzerketten gewonnenen Erkenntnisse.

E. Ergebnis E. Ergebnis

Über die Zulässigkeit der Konzentration von Patentverletzungsklagen am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft entscheiden drei Determinanten: Der Verletzungsgegenstand, die Verletzungshandlungen und die Verletzerbeziehung. Ob ein für die gemeinsame Verhandlung tauglicher Verletzungsgegenstand vorliegt, und damit eine einheitliche Rechtslage i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO besteht, richtet sich aufgrund des in Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO normierten Schutzlandprinzips nach dem Immaterialgüterrecht oder den Immaterialgüterrechten, dessen bzw. deren Verletzung der Kläger rügt. Im einfachsten Fall, dass mehrere Beklagte für die Verletzung desselben Immaterialgüterrechts zur Verantwortung gezogen werden, ist das Kriterium der einheitlichen Rechtslage unstreitig erfüllt, weil sämtliche Verletzungsklagen nach den Vorschriften derselben nationalen Rechtsordnung zu beurteilen sind. Rügt der Kläger die Verletzung verschiedener Immaterialgüterrechte, gibt die Unterscheidung zwischen konzentrierten und parallelen Verletzungshandlungen den Ausschlag. Ist jeder Beklagte für die Verletzung eines jeden Immaterialgüterrechts verantwortlich (konzentrierte Verletzungshandlungen), beruhen die erhobenen Klagen immer auf einer einheitlichen Rechtslage. Haben die Beklagten dagegen bezogen auf dieselbe Erfindung verschiedene Immaterialgüterrechte in unterschiedlichen Staaten verletzt (parallele Verletzungshandlungen), besteht die einheitliche Rechtslage nur, wenn die nach dem Schutzlandprinzip zur Anwendung berufenen Sachrechte um die einheitlichen Vorgaben des EPÜ ergänzt werden, weil es sich bei den verletzten Immaterialgüterrechten um die nationalen Splitter eines europäischen Bündelpatents handelt. Ein für die gemeinsame Verhandlung tauglicher Verletzungsgegenstand liegt nach der hier vertretenen Auffassung also immer dann vor, wenn der Kläger nicht die parallele Verletzung verschiedener nationaler Patente vorträgt. Die von den Beklagten begangenen Verletzungshandlungen bestimmen über die Einheitlichkeit der den Klagen zugrundeliegenden Sachlage. Die Merkmale der Verletzungshandlung werden durch die angegriffene Ausführungsform und die Benutzungshandlung bestimmt. Eine einheitliche Sachlage besteht, wenn die Beklagten die Patentverlet-

234

Kapitel 6: Anwendung des Art. 6 Nr. 1EuGVVO im Patentrecht

zungen durch untereinander identische Ausführungsformen begangen haben. Dass den Beklagten unterschiedlichen Arten von Benutzungshandlungen (z.B. Herstellung, Vertrieb, Benutzung) vorgeworfen werden, ist hingegen irrelevant. Eine taugliche Verletzerbeziehung besteht, wenn der annexbeklagte Patentverletzer mit dem ankerbeklagten Patentverletzer in Hinblick auf die Patentverletzung bewusst in Kontakt getreten ist und dabei Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis vom Wohnsitz des Ankerbeklagten hatte. Das Zusammenwirken der Beklagten in einer der klassischen Beteiligungsformen bildet zweifellos eine hinreichend enge Form des streitgenössischen Kontakts. In Konzernsachverhalten ist die umfassende Konzentration des Verfahrens nur am Sitz der Konzernspitze möglich, da Gesellschaften, die mit der Ankerbeklagten nicht auf einer vertikalen Konzernverästelung liegen, dem Verfahren nicht allein aufgrund ihrer Konzernzugehörigkeit hinzugezogen werden. Eine zwischen den Beklagten bestehende Vertragsbeziehung begründet eine hinreichend enge Verletzerbeziehung, wenn der Vertragsgegenstand einen konkreten Bezug zur begangenen Patentverletzung aufweist. Für „echte“ Verletzerketten gilt, dass die notwendige Verletzerbeziehung lediglich zwischen Beteiligten auf unmittelbar aufeinanderfolgenden Marktstufen gegeben ist. „Fächert“ die Verletzerkette nach unten aus, kann das Verfahren gegenüber Beklagten derselben Marktstufe nur am Sitz ihres gemeinsamen Vertragspartners konzentriert werden.

Kapitel 7

Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht A. Einleitung A. Einleitung

I.

Einführung in die Thematik

Dass der Schutz des freien Wettbewerbs nicht allein die behördliche Kartellaufsicht auf den Plan ruft, sondern ergänzend in die Hände der privaten Marktteilnehmer zu legen ist, um mit den Mitteln des Zivilrechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen vorzugehen, ist in der europäischen Kartellrechtspraxis vor allem in den letzten Jahren zur Erkenntnis gereift.1 Wenngleich schon seit geraumer Zeit die Einrede der Unwirksamkeit kartellrechtswidriger Rechtsgeschäfte zur Verteidigung gegen Ansprüche des Prozessgegners zum Einsatz kommt (Art. 101 Abs. 2 AEUV als „Schild“), war die offensive Geltendmachung deliktischer Ansprüche durch Kartellgeschädigte (Art. 101, 102 AEUV als „Schwert“) in Europa bis zur Jahrtausendwende von geringer praktischer Bedeutung.2 Den Weg zur privaten Durchsetzung des Kartellverbots ebnete im Jahr 2001 die Klarstellung des EuGH im Urteil Courage, dass „die praktische Wirksamkeit des in Art. 85 Abs. 1 EG (inzwischen Art. 101 Abs. 1 AEUV) ausgesprochenen Verbots [beeinträchtigt wäre], wenn nicht jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist“. 3 Die 1

Zum Verhältnis von public und private enforcement in Europa aus heutiger Sicht etwa Killeen, ECLR 34 (2013), 480 ff.; R. Koch, JZ 2013, 390 f.; Vrcek, in: Foer/Cuneo (Hg.), International Handbook on Private Enforcement, 277 ff.; van den Bergh, MJ 20 (2013), 12, 15 ff. 2 Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 28 f. Zu der Metapher von „Schild“ und „Schwert“ siehe Jacobs/ Deisenhofer, in: Ehlermann/Atanasiu, European Competition Law Annual 2001, 187, 189 f. 3 EuGH v. 20.9.2001, Rs. C-453/1999 (Courage/Crehan), Slg. 2001, I-6297, Rn. 26. Eingehend zu den Perspektiven des europäischen Kartelldeliktsrechts nach der Courage-Entscheidung Basedow, ZWeR 2006, 294 ff.; Komninos, CMLRev 39

236 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Möglichkeit zur Durchsetzung der EU-Wettbewerbsregeln vor den Zivilgerichten erwächst demnach aus dem zutreffenden Gedanken, dass Wettbewerbsbeschränkungen nicht lediglich die Interessen der Allgemeinheit an einem funktionierenden Wettbewerb beeinträchtigen, sondern dem einzelnen Marktteilnehmer zuordenbare Schäden verursachen.4 In der mitgliedstaatlichen Literatur und Rechtsprechung entzündete die plötzliche Verfügbarkeit privater Schadensersatzansprüche wegen der Verletzung des EU-Kartellverbots eine lebhaft geführte Debatte über die materiellen Vorgaben des Kartelldeliktsrechts aus dem europäischen und nationalen Haftungsrecht.5 Fragen in Zusammenhang mit der zivilprozessualen Durchsetzung kartelldeliktischer Ansprüche, insbesondere die Problemstellungen entlang der Schnittstelle zum europäischen Zuständigkeitsrecht, sind dagegen erst in den letzten Jahren verstärkt diskutiert worden.6 Dabei beeinflusst die Anrufung eines bestimmten Forums die Erfolgsaussichten einer kartelldeliktischen Schadensersatzklage maßgeblich.7 Richtungsweisende Bedeutung erlangt die Frage der internationalen Zuständigkeit vor allem, wenn die gebündelte Geltendmachung (2002), 447 ff.; Mäsch, EuR 2003, 825 ff.; Odudu/Edelman, E.L.Rev. 27 (2002), 327 ff. 4 Sehr klar Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, 32 f. 5 Aus der umfangreichen Rechtsprechung und Literatur siehe nur: BGH v. 28.6. 2012, NJW 2012, 928; OGH v. 17.10.2012, WuW 2013, 805 (WuW/E KRInt 437); Crehan v Inntrepreneur Pub Co CPC [2004] EWCA Civ 637; Basedow, ZWeR 2006, 294 ff.; Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, passim; ders., ZEuP 2008, 178 ff.; Endter, Schadensersatz nach Kartellverstoß, passim; Jaschke, Der kartellrechtliche Schadensersatzanspruch, passim; Holmes, ECLR 25 (2004), 25 ff.; Kersting, ZWeR 2008, 252 ff.; Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz; passim; Meeßen, Schadensersatz, passim; Petrucci, ECLR 29 (2008), 33 ff.; Wurmnest, RIW 2003, 896 ff.; ders., in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27 ff. 6 Aus der Literatur siehe insbesondere Ashton/Henry, Competition Damage Actions in the EU, Rn. 7.005 ff.; Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63 ff.; Bulst, EBOR 4 (2003), 623 ff.; Danov, Jurisdiction and Judgments in Relation to EU Competition Law Claims, passim; ders., in: Danov/Becker/Beaumont (Hg.), Cross-Border EU Competition Law Actions, 167 ff.; Howard/Rose/Roth, in: Roth/Rose (Hg.), Bellamy & Child: European Community Law of Competition, Rn. 14.042 ff.; Mäsch, IPRax 2005, 509 ff.; Maier, Marktortanknüpfung, 79 ff.; Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße, 91 ff.; Wilderspin, in: Basedow/Francq/Idot (Hg.), International Antitrust Litigation, 41, 54 f.; Wurmnest, EuZW 2012, 933 ff.; Zimmer, Konkretisierung des Auswirkungsprinzips, 267 ff. 7 Pointiert Krauskopf/Tkacikova, G.C.L.R. 2011, 26, 30: „There are various factors that influence and induce shopping among various national fora. Accordingly, the claimants (lawyers) engage in developing strategies that take the case to the ‘magic’ jurisdiction that promises the most favourable outcome for their private claims leaving the claimant with the full jackpot […] of this game“.

A. Einleitung

237

kartelldeliktischer Ansprüche gegenüber mehreren Mitgliedern eines europaweit agierenden Kartells am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft im Raum steht. In diesem Fall eröffnet die neue kollisionsrechtliche Anknüpfung des Art. 6 Abs. 3 lit. b Rom II-VO dem Geschädigten unter bestimmten Voraussetzungen nämlich die Option, 8 das Sachrecht des angerufenen Gerichts auf alle im Verfahren gebündelten Ansprüche anzuwenden. 9 Neben die gewöhnlichen Anreize zum forum shopping tritt am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft also die Möglichkeit, durch die Auswahl der „richtigen“ Wohnsitzzuständigkeit zur Verfahrenskonzentration eine für die Begründung und Bezifferung der kartellbedingten Schäden günstige Rechtsordnung zur Anwendung zu bringen.10 Erlauben die Sachnormen des angerufenen Gerichts dem Kläger beispielsweise die Geltendmachung von punitive damages, können bei der Berechnung der Höhe der zu leistenden Strafschadensersatzzahlungen unter Umständen auch die außerhalb des Gerichtsstaates eingetretenen Schäden berücksichtigt werden.11 Die Bedeutung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO für die erfolgreiche Durchsetzung kartelldeliktischer Schadensersatzklagen kann angesichts der Vorteile der Verfahrenskonzentration und des Optionsrechts des Art. 6 Abs. 3 lit. b Rom II-VO also „kaum überschätzt werden“.12

8

Der Kläger hat die Option, gegenüber allen Streitgenossen die lex fori zur Anwendung zu bringen, wenn der Markt des Gerichtsstaates durch die streitgegenständliche Wettbewerbsbeschränkung unmittelbar und wesentlich betroffen ist. Zu den Voraussetzungen des Wahlrechts im Einzelnen Fitchen, in: Danov/Becker/ Beaumont (Hg.), Cross-Border EU Competition Law Actions, 297, 309 ff.; Francq/ Wurmnest, in: Basedow/Francq/Idot (Hg.), International Antitrust Litigation, 91, 124 ff.; Maier, Marktortanknüpfung, 376 ff.; Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße, 581 ff.; Wurmnest, EuZW 2012, 933, 938 f. 9 Mäsch, IPRax 2005, 509, 510 f.; Mankowski, WuW 2012, 947, 949. 10 Pointiert GA Darmon, Schlussanträge v. 14.7.1994, Rs. C-68/1993 (Shevill u.a./Presse Alliance), Slg. 1995, I-415, Rn. 67: „Wer sieht nicht, daß der Geschädigte auf diese Weise den Gerichtsstand wählen würde, vor dem nach seiner Ansicht sein Schaden am besten ersetzt wird?“. 11 Danov, Jurisdiction and Judgments in Relation to EU Competition Law Claims, 53; Ryngaert, ECLR 25 (2004), 611, 615. Zum Stand der Diskussion über die Berechtigung der Opfer grenzüberschreitender Kartelldelikte zum Einfordern von punitive damages nach englischem Recht siehe Smith/Maton/Campbell, in: Foer/ Cuneo (Hg.), International Handbook on Private Enforcement, 296, 309 f. 12 Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63 f. Siehe auch Hess, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 151, 162: „In der aktuellen Praxis der Kartellschadensklagen hat der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft herausragende Bedeutung“.

238 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Die mitgliedstaatliche Judikatur zählt inzwischen eine Reihe internationaler Kartellprozesse, in denen die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gegenüber den Mitgliedern europaweit agierender Kartelle mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO begründet wurde. Vor allen Dingen vor den englischen Gerichten 13 , aber auch in Deutschland 14 , Österreich 15 , Holland16 und Belgien17 wird heftig um die einzelnen Voraussetzungen der Konzentration kartelldeliktischer Schadensersatzklagen am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft gerungen.18

13 Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm); Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm); Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864; Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch); Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2012] EWCA Civ 1190. 14 LG Dortmund v. 25.4.2013, GRUR Int. 2013, 842. 15 OGH v. 14.2.2012, WuW 2012, 1251 (WuW/E KRInt 393). 16 Rechtbank Amsterdam v. 4.6.2014, C-13-500953, abrufbar unter: ; Rechtbank Midden-Nederland v. 27.11.13, C-16-338073, abrufbar unter: ; Rechtbank Den Haag v. 1.5.2013, C-09-414499, abrufbar unter: ; weitere Nachweise zu internationalen Kartellprozessen aus den Niederlanden finden sich bei Koortman/ Swaak, EuZW 2012, 770, 771 f. 17 Rechtbank van Koophandel Brussel v. 18.4.2011, Vorlagebeschluss in der Rs. C-191/11, abrufbar unter ; zur privaten Rechtsdurchsetzung in Belgien siehe auch Garzaniti/Vanhulst/ Oeyen, EuZW 2012, 691, 692. Die Vorlagefragen der Rechtbank van Koophandel bezogen sich jedoch nicht auf die Zuständigkeitsbegründung, sodass der EuGH die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf kartelldeliktische Klagen nicht thematisierte (EuGH v. 6.11.2012, Rs. C-199/2011 (Europese Gemeenschap/Otis u.a.), EuZW 2013, 24). 18 Vgl. auch Kommission v. 13.6.2013, Impact Assessment Report, Damages actions for breach of the EU antitrust rules, SWD(2013) 203 final, abrufbar unter: , Rn. 52: „The fact alone that […] the vast majority of large antitrust damages actions are currently being brought in 3 European jurisdictions – namely in the UK, followed by Germany and the Netherlands – indicates that the rules applicable in these Member States are considered by claimants to be much more suitable for effectively bringing such claims than in other Member States“.

A. Einleitung

239

II. Fokus auf follow on-Verfahren wegen der Verletzung des EU-Kartellverbots durch Hardcore-Kartelle Der Fokus der nachfolgenden Untersuchung liegt auf der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in follow on-Verfahren wegen der Verletzung des EU-Kartellverbots durch Hardcore-Kartelle.19 Unter hardcore-Kartellverstößen werden dabei Absprachen oder abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Wettbewerbern verstanden, welche die Festsetzung von An- oder Verkaufspreisen oder sonstiger Geschäftsbedingungen, die Aufteilung von Produktions- oder Absatzquoten oder die Aufteilung von Märkten zur Folge haben.20 Der Begriff des follow on-Verfahrens bedarf am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft aufgrund der Personenmehrzahl auf Beklagtenseite einer näheren Präzisierung. Nach einem restriktiven Verständnis des Begriffs ließen sich nur solche Kartellprozesse als follow on-Verfahren bezeichnen, denen ausschließlich Beklagte beiwohnen, die von der vorausgegangenen Bußgeldentscheidung adressiert wurden (follow onVerfahren i.e.S.). In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff des follow on-Verfahrens jedoch großzügiger verstanden, um darunter auch Kartellprozesse zu fassen, in denen einzelne Beklagte keine Adressaten der vorausgegangen behördlichen Entscheidung sind (follow on-Verfahren i.w.S.).21 Zu den von der Untersuchung ausgeklammerten stand aloneVerfahren in Bezug auf horizontale Kartelle werden folglich nur Kartellprozesse gezählt, in denen die Feststellungen der Wettbewerbsbehörden gegenüber keinem der Beklagten eine Rolle spielen. III. Gang der Untersuchung Ziel des nachfolgenden Kapitels ist die Schaffung eines stringenten Systems der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf kartelldelik19

Zur Themeneingrenzung siehe bereits oben S. 8 f. Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl.EU 2006 C 298/17, Rn. 1. Vgl. auch OECD, Recommendation of the Council concerning Effective Action against Hard Core Cartels (1998), C(98)35/FINAL, I.A.2.a): „A ‘hard core cartel’ is an anticompetitive agreement, anticompetitive concerted practice, or anticompetitive arrangement by competitors to fix prices, make rigged bids (collusive tenders), establish output restrictions or quotas, or share or divide markets by allocating customers, suppliers, territories, or lines of commerce.“ (abrufbar unter ). 21 Sofern im Folgenden der Begriff des follow on-Verfahrens ohne nähere Spezifizierung verwendet wird, beziehen sich die getroffenen Aussagen auf follow on-Verfahren i.e.S. und i.w.S. 20

240 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht tische Schadensersatzklagen, die nach der Offenlegung von hardcoreKartellverstößen gegen das EU-Kartellverbot erhoben worden sind. Die Untersuchung gliedert sich in vier Abschnitte. Im ersten Abschnitt wird die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft für den relativ betrachtet einfacheren Fall des follow onVerfahrens i.e.S. untersucht (dazu unter B.). Zunächst wird die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Beklagten analysiert, die von den Wettbewerbsbehörden wegen einer unmittelbaren Beteiligung an einem Kartellverstoß zur Verantwortung gezogen werden (dazu unter I.). Danach wird die Zulässigkeit der Verfahrenskonzentration für den Fall erläutert, dass der Kläger zwar ausschließlich gegen Adressaten der Bußgeldentscheidung vorgeht, ein Teil der Beklagten an dem bebußten wettbewerbswidrigen Verhalten aber nicht unmittelbar beteiligt war (dazu unter II.). Im zweiten Abschnitt werden dann die komplizierteren Fälle der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in follow on-Verfahren i.w.S. ins Auge gefasst, in denen die Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit einzelner Beklagter besondere Schwierigkeiten bereitet (dazu unter C.). Nach einem kurzen Problemaufriss (dazu unter I.) werden die Voraussetzungen der Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft für Klagen gegen Muttergesellschaften (dazu unter II.) und Tochtergesellschaften (dazu unter III.) von Adressaten der Bußgeldentscheidung beleuchtet. Der dritte Abschnitt des Kapitels widmet sich den Auswirkungen einer zwischen dem Kläger und einzelnen Kartellmitgliedern geschlossenen Zuständigkeitsvereinbarung auf die Verfahrenskonzentration (dazu unter D). Ausführlich untersucht wird die Derogationswirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen im Anwendungsbereich der EuGVVO, wobei insbesondere der Frage nachgegangen wird, ob kartelldeliktische Ansprüche von der sachlichen Reichweite allgemein gehaltener Abreden erfasst werden (dazu unter I.). Anschließend wird die Geltung der gewonnenen Erkenntnisse für Schiedsvereinbarungen überprüft (dazu unter II.). Das Kapitel schließt mit einer zusammenfassenden Präsentation der gewonnenen Erkenntnisse (dazu unter E.).

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

241

B. Der einfache Fall: Sämtliche Beklagte sind Adressaten der Bußgeldentscheidung (follow on-Verfahren i.e.S.) B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

Innerhalb der Kategorie der follow on-Verfahren i.e.S. erfolgt die Differenzierung zwischen unmittelbar und nicht unmittelbar an dem wettbewerbswidrigen Verhalten beteiligten Adressaten zu dem Zweck, die einzelnen Voraussetzungen der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zuerst in Hinblick auf Beklagte erörtern zu können, deren kartelldeliktische Verantwortlichkeit nicht von vornherein in Zweifel steht. Wie im Folgenden aufgezeigt wird, ist das zentrale Kriterium für die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nämlich die gemeinsame Haftung der Beklagten für die durch das Kartell verursachten Schäden. Zwar liegt die Attraktivität eines follow on-Verfahrens i.e.S. für den privaten Kläger darin, dass sich die Beklagten bezüglich der Annahme einer Zuwiderhandlung gegen wettbewerbsschützende Normen im Prozess nicht mehr entlasten können, da die insoweit getroffenen Feststellungen der Wettbewerbsbehörden gemäß Art. 16 Abs. 1 S. 1 VO 1/ 2003 22 bzw. § 33 Abs. 4 S. 1 GWB 23 verbindlich sind. Allein aufgrund der Bindungswirkung der Bußgeldentscheidung steht aber noch nicht fest, dass gegenüber sämtlichen Adressaten auch die übrigen Voraussetzungen der Anspruchsgrundlagen im nationalen Kartelldeliktsrecht, insbesondere das Verschulden für den Kartellverstoß, erfüllt sind. 24 Schwierigkeiten bereitet die Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit vor allem dann, wenn die Adressatenstellung nicht auf einem eigenständigen Kartellverstoß fußt, sondern der Adressat von den 22

Verordnung EG Nr. 1/2003 des Rates v. 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl.EG 2003 L 1/1). Art. 16 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 lautet: „Wenn Gerichte der Mitgliedstaaten nach Artikel 81 oder 82 des Vertrags über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sind, dürfen sie keine Entscheidungen erlassen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen“. 23 § 33 Abs. 4 GWB lautet: „Wird wegen eines Verstoßes gegen eine Vorschrift dieses Gesetzes oder gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union Schadensersatz gefordert, ist das Gericht an die Feststellung des Verstoßes gebunden, wie sie in einer bestandskräftigen Entscheidung der Kartellbehörde, der Europäischen Kommission oder der Wettbewerbsbehörde oder des als solche handelnden Gerichts in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union getroffen wurde“. 24 Zur Reichweite der Bindungswirkung bußgeldrechtlicher Entscheidungen ausführlich noch auf S. 260 ff.

242 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Kartellbehörden für das wettbewerbswidrige Verhalten einer anderen Gesellschaft desselben Unternehmens im funktionalen Sinne zur Verantwortung gezogen wurde.25 Unter Ausblendung eines etwaigen Auseinanderfallens von bußgeldrechtlicher Adressatenstellung und zivilrechtlicher Passivlegitimation lässt sich die Zulässigkeit der Konzentration von follow on-Klagen folglich nur untersuchen, wenn sämtliche Beklagte an dem bebußten Kartellverstoß unmittelbar beteiligt waren (dazu unter I.). Im Anschluss kann dann erörtert werden, wie sich das Fehlen einer unmittelbaren Beteiligung am wettbewerbswidrigen Verhalten auf die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auswirkt (dazu unter II.). I.

Klage gegen am Kartellverstoß unmittelbar beteiligte Adressaten

Die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO setzt zunächst voraus, dass bei einer getrennten Verhandlung der Klagen die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht (dazu unter 1.). Weiterhin müssen die Beklagten vor dem Prozess in einen streitgenössischen Kontakt getreten sein (dazu unter 2.). 1. Gefahr widersprechender Entscheidungen Die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht, wenn die Ankerklage mit der jeweils in Bezug gesetzten Annexklage auf einer einheitlichen Sach- und Rechtslage beruht, sodass in getrennten Verhandlungen nicht lediglich voneinander abweichende, sondern sich gegenseitig widersprechende Entscheidungen drohen.26 Nachstehend soll in einem ersten Schritt dargelegt werden, dass das Kriterium der einheitlichen Sach- und Rechtslage in follow on-Verfahren nicht mit einem bloßen Verweis auf die Anknüpfung der erhobenen Klagen an einen einheitlichen Kartellverstoß begründet werden darf, sondern für die Beurteilung der Widerspruchsgefahr vielmehr das Umsetzungsverhalten der Kartellmitglieder maßgeblich ist (dazu unter a)). Auf Basis dieser Erkenntnis wird danach analysiert, ob kartelldeliktische Schadensersatzklagen, die gegen unmittelbar an einem Kartellverstoß beteiligte Adressaten erhoben werden, auf einer einheitlichen Sach- und Rechtslage fußen. Zu diesem Zweck werden die im allgemeinen Teil der Arbeit aufgestellten Vorgaben zur einheitlichen Sach- und Rechtslage angewendet und zwar zunächst im Rahmen einer von den haftungsrechtlichen 25

Zum funktionalen Unternehmensbegriff eingehend noch auf S. 257 ff. Eingehend zum Kriterium der einheitlichen Sach- und Rechtslage schon oben S. 61 ff. 26

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

243

Verhältnissen im Kartell losgelösten Betrachtung des Umsetzungsverhaltens der einzelnen Kartellmitglieder (dazu unter b)) und danach unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen der gesamtschuldnerischen Haftung von Kartellmitgliedern (dazu unter c)). In einem dritten Schritt wird dann die Zulässigkeit des Rückgriffs auf das nationale Haftungsrecht im Rahmen der Prüfung der Gefahr widersprechender Entscheidungen thematisiert (dazu unter d)). a) Einheitliche Sach- und Rechtslage kraft einheitlichen Kartellverstoßes? In der Rechtsprechung und Literatur wird die Gefahr widersprechender Entscheidungen in follow on-Verfahren teilweise mit dem Hinweis auf die einheitliche Anknüpfung der erhobenen Klagen an den offengelegten Kartellverstoß bejaht. Da die deliktische Haftung der Streitgenossen aus einem gemeinsamen tatsächlichen und rechtlichen Grund erwachse, sei die gemeinsame Verhandlung der Klagen nur folgerichtig. 27 Andere Stimmen aus dem Schrifttum äußern mit Blick auf die Auswirkungen der vorausgegangenen Bußgeldentscheidung dagegen Zweifel, ob die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft überhaupt erforderlich ist, wenn das wettbewerbswidrige Verhalten durch die Wettbewerbsbehörden bereits eine einheitliche Bewertung erfahren hat. Die widersprüchliche Beurteilung des Kartellverstoßes sei in getrennten follow onVerfahren ausgeschlossen, da die Zivilgerichte gemäß Art. 16 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 und § 33 Abs. 4 S. 1 GWB an die behördlichen Feststellungen gebunden sind.28 M.E. verdient die letztgenannte Auffassung Zustimmung. Der Verweis auf die Anknüpfung der Klagen an den einheitlichen Kartellverstoß verkennt nämlich, dass ein Teil der in einem follow on-Verfahren zu erörternden Sach- und Rechtsfragen bereits eine einheitliche und verbindliche Bewertung durch die Wettbewerbsbehörden erfahren hat. 27

Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 47; Ashton/Vollrath, ZWeR 2006, 1, 9, 13; Danov, in: Danov/Becker/ Beaumont (Hg.), Cross-Border EU Competition Law Actions, 167, 180 f.; Mäsch, IPRax 2005, 509, 513; Mankowski, WuW 2012, 947, 949 f.; Ryngaert, ECLR 25 (2004), 611, 615; Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße, 130; wohl auch Maier, Marktortanknüpfung, 194. 28 Bader, Die internationalprivatrechtliche Behandlung von Schadensersatzansprüchen aus Kartellverstößen, 220; Börger, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 51, 56; Basedow/ Heinze, FS Möschel 2011, 63, 73; Zimmer, Konkretisierung des Auswirkungsprinzips, 307 f.

244 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Es bedarf keiner Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, um gegenüber den Adressaten der Bußgeldentscheidung die widerspruchsfreie Beurteilung des Kartellverstoßes in der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung zu gewährleisten. Die gemeinsame Verhandlung von follow on-Klagen dient daher allenfalls der Vermeidung widersprechender Entscheidungen bezüglich der deliktischen Folgen des Verstoßes gegen die EU-Wettbewerbsregeln. Wenn aufgrund der Bindungswirkung der Bußgeldentscheidung aber keine widersprüchliche Beurteilung des Kartellverstoßes droht, darf der Kartellverstoß als gemeinsamer Anknüpfungspunkt der Klagen auch nicht zur Begründung der Einheitlichkeit der Sach- und Rechtslage herangezogen werden. Vielmehr ist die Beurteilungsgrundlage für die Prüfung der einheitlichen Sach- und Rechtslage auf diejenige Materie zu begrenzen, die der zivilgerichtlichen Würdigung weiterhin zugänglich ist. Vor allem über das Bestehen und die Bezifferung des Schadens der Kartellopfer trifft die Bußgeldentscheidung keine verbindlichen Feststellungen.29 Ausgangspunkt für die Prüfung der Gefahr widersprechender Entscheidungen muss in follow on-Verfahren daher das den Schaden des Klägers verursachende Umsetzungsverhalten der einzelnen Kartellmitglieder sein. b) Betrachtung der einheitlichen Sach- und Rechtslage losgelöst von den haftungsrechtlichen Verhältnissen im Kartell Somit stellt sich die Frage, ob die Beurteilung des Umsetzungsverhaltens der Kartellmitglieder in getrennten Verhandlungen die Gefahr widersprechender Entscheidungen auslöst. Betrachtet man das Umsetzungsverhalten erst einmal losgelöst von den haftungsrechtlichen Verhältnissen im Kartell, vergleicht man also schlicht das Umsetzungsverhalten eines Kartellmitglieds mit dem eines anderen Kartellmitglieds, erscheint das Bestehen einer einheitlichen Sach- und Rechtslage zweifelhaft. Das Kriterium der einheitlichen Rechtslage setzt voraus, dass auf die Anker- und die Annexklage entweder dieselbe nationale Rechtsordnung zur Anwendung gelangt oder die Beurteilung der beiden Klagen zumindest potentiell von harmonisierten Vorschriften abhängt. 30 Gegenstand eines grenzüberschreitenden Kartellprozesses am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft sind aber typischerweise die Absatzgeschäfte mehrerer Kartellmitglieder auf den Märkten unterschiedlicher Staaten. In 29 Gegen eine die „Rechtsfolgenseite“ des Kartellverstoßes betreffende Bindungswirkung ausdrücklich EuGH v. 6.11.12, Rs. C-199/2011 (Europese Gemeenschap/ Otis u.a.), EuZW 2013, 24, Rn. 65 f. 30 Siehe oben S. 64 ff.

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

245

einem solchen Fall werden zur Beurteilung des Umsetzungsverhaltens der einzelnen Kartellmitglieder grundsätzlich keine vereinheitlichten Rechtsvorschriften herangezogen. 31 Auf die harmonisierten Regeln des EU-Wettbewerbsrechts darf zur Begründung der einheitlichen Rechtslage nicht abgestellt werden, da die deliktischen Folgen eines Kartellverstoßes nach dem nationalen Haftungsrecht zu bewerten sind. Sind die Märkte unterschiedlicher Staaten von den Absatzgeschäften der Kartellmitglieder betroffen, beruft die Grundanknüpfung des Art. 6 Abs. 3 lit. a) Rom II-VO die Vorschriften verschiedener nationaler Haftungsrechte zur Beurteilung des Umsetzungsverhaltens des Kartells. 32 Die Einheitlichkeit der Rechtslage ließe sich folglich nur bejahen, sofern der Geschädigte mithilfe des Optionsrechts des Art. 6 Abs. 3lit. b) Rom II-VO die einheitliche Beurteilung seiner Ansprüche nach derselben Rechtsordnung veranlasst hat.33 Doch auch in diesem Fall würde die Annahme der Gefahr widersprechender Entscheidungen nicht selten am Fehlen der einheitlichen Sachlage scheitern. Die einheitliche Sachlage besteht, wenn zur Entscheidung über die Anker- und die Annexklage eine beträchtliche Zahl identischer Tatsachen herangezogen werden muss, ohne dass der Zusammenhang der zugrundeliegenden Lebensverhältnisse durch einen erheblichen Unterschied zerstört wird. 34 Werden die Geschädigten des 31 Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63, 76 f.; Börger, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 51, 59 f.; Harms, EuZW 2014, 129, 131; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 37. 32 Die Anknüpfungsregel des Art. 6 Abs. 3 lit. a) Rom II-VO beruft nach dem Auswirkungsprinzip die Rechtsordnung desjenigen Staates dessen Markt von der Kartellabsprache betroffen ist (MünchKommBGB/Immenga, IntWettbR/IntKartR, Rn. 78; Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II-VO, Rn. 20; BeckOK/Spickhoff, Art. 6 Rom IIVO, Rn. 7; jurisPK-BGB/Wurmnest, Art. 6 Rom II-VO, Rn. 27 f.). 33 Wirkt sich ein wettbewerbswidriges Verhalten auf mehreren Märkten aus, gilt nach der Grundanknüpfung des Art. 6 Abs. 3 lit. a) Rom II-VO das Mosaikprinzip (MünchKommBGB/Immenga, IntWettbR/IntKartR, Rn. 78 f.; Palandt/Thorn, Art. 6 Rom II-VO, Rn. 21; BeckOK/Spickhoff, Art. 6 Rom II-VO, Rn. 7; jurisPK-BGB/ Wurmnest, Art. 6 Rom II-VO, Rn. 30; zu den Gründen der Übernahme des Mosaikprinzips in die Rom II-VO siehe G. Wagner, IPRax 2008, 1, 4). Bei einer unmittelbaren und wesentlichen Betroffenheit des Marktes des Gerichtsstaates hat der Kläger jedoch die Option, die lex fori gegenüber allen Streitgenossen zur Anwendung zu bringen (im Einzelnen Fitchen, in: Danov/Becker/Beaumont (Hg.), Cross-Border EU Competition Law Actions, 297, 309 ff.; Francq/Wurmnest, in: Basedow/Francq/Idot (Hg.), International Antitrust Litigation, 91, 124 ff.; Maier, Marktortanknüpfung, 376 ff.; Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße, 581 ff.; Wurmnest, EuZW 2012, 933, 938 f.). 34 Siehe oben S. 71 ff.

246 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Kartells von den einzelnen Kartellmitgliedern auf Grundlage unterschiedlicher Vertragsbeziehungen zu unterschiedlichen Konditionen beliefert, überschneidet sich die Tatsachengrundlage der aus den Schädigungshandlungen resultierenden Schadensersatzansprüche jedoch nicht.35 Da bei der Beurteilung der Widerspruchsgefahr der Kartellverstoß als gemeinsamer Anknüpfungspunkt der Klagen außer Betracht zu bleiben hat, beruht das Umsetzungsverhalten der einzelnen Kartellmitglieder auch nicht auf einem zusammenhängenden Lebensverhältnis. Vergleicht man das Umsetzungsverhalten der Kartellmitglieder ohne Berücksichtigung der haftungsrechtlichen Verhältnisse im Kartell, lässt sich die Einheitlichkeit der Sach- und Rechtslage folglich nicht ohne weiteres bejahen. Kartelldeliktische Schadensersatzklagen weisen bei dieser Betrachtung nur wenige rechtliche und tatsächliche Gemeinsamkeiten auf. c) Betrachtung der einheitlichen Sach- und Rechtslage unter Berücksichtigung der haftungsrechtlichen Verhältnisse im Kartell Anders liegen die Dinge, wenn bei der Beurteilung der einheitlichen Sach- und Rechtslage berücksichtigt wird, dass die Mitglieder eines Kartells für die durch das Umsetzungsverhalten verursachten Schäden als Gesamtschuldner haften. In der Literatur und Rechtsprechung wird auf die zwischen den Mitgliedern eines Kartells bestehende Gesamtschuld teilweise bereits hingewiesen, um die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu rechtfertigen. 36 Nachfolgend soll daher für die Rechts35 Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63, 74 f; Harms, EuZW 2014, 129, 131. In diese Richtung auch Börger, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 51, 59; Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 37; Wilderspin, in: Basedow/Francq/Idot (Hg.), International Antitrust Litigation, 41, 59 f. A.A. dagegen Mankowski, WuW 2012, 947, 949 f., der betont, dass der Kartellpreis in den individuell mit den Kartellmitgliedern abgeschlossenen Verträgen auf die Verhaltensabstimmung aller Kartellmitglieder zurückzuführen sei. A.A. auch Koutsoukou/Pavlova, WuW 2014, 153, 157 f. 36 Rechtbank Midden-Nederland v. 27.11.13, C-16-338073, Rn. 2.12, abrufbar unter: ; OGH v. 14.2.2012, WuW 2012, 1251, 1254 (WuW/E KRInt 393, 396); Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 44; Hess, WuW 2010, 493, 500; Koutsoukou/Pavlova, WuW 2014, 153, 159; Weller, ZVglRWiss 112 (2013), 89, 98 f.; wohl auch Withers, J.B.L. 2002, 250, 263. Nach anderer Auffassung ist der Rückgriff auf das nationale Rechtsinstitut der Gesamtschuld zur Begründung der einheitlichen Sachlage jedoch unzulässig (Mankowski, WuW 2012, 947, 950; Harms, EuZW 2014, 129, 133; kritisch auch Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63, 72). Zur Zulässigkeit der Berücksichtigung des nationalen Haftungsrechts bei der Prüfung der Widerspruchsgefahr sogleich auf S. 253 f.

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

247

ordnungen verschiedener Mitgliedstaaten und unter Bezugnahme auf den Richtlinienvorschlag der Kommission für kartelldeliktische Schadensersatzklagen zunächst hergeleitet werden, dass zwischen den Mitgliedern eines Kartells eine Gesamtschuld besteht. Daran an schließt sich die Analyse der Auswirkungen der gesamtschuldnerischen Haftung der Kartellmitglieder auf die Einheitlichkeit der Sach- und Rechtslage. aa) Herleitung der gesamtschuldnerischen Haftung von Kartellmitgliedern Die Verwirklichung eines hardcore-Kartellverstoßes setzt naturgemäß das bewusste und gewollte Zusammenwirken Mehrerer voraus, weil sich Kartellkonditionen bei der Marktgegenseite nur durchsetzen lassen, wenn am Markt kein besseres Angebot eines anderen Wettbewerbers zu finden ist. 37 Folge der gemeinschaftlichen Deliktsbegehung ist „sozusagen aus der Natur der Sache“,38 dass jedes einzelne Kartellmitglied für alle kartellbedingten Schäden in voller Höhe einzustehen hat; es gilt das allgemeine haftungsrechtliche Prinzip, wonach der Geschädigte aufgrund der Verantwortlichkeit mehrerer Personen für den Schaden nicht schlechter gestellt werden darf. 39 Die Anordnung der gesamtschuldnerischen Haftung von Kartellmitgliedern ergibt sich jedoch nicht direkt aus den europarechtlichen Kartellverbotsnormen, 40 sondern lässt sich

37 Köhler, GRUR 2004, 99, 101; C. Krüger, Kartellregress, 25 f.; Mankowski, WuW 2012, 947, 949. 38 von Caemmerer, ZRvgl 9 (1968), 81, 85. 39 von Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. 1, Rn. 318. 40 Diese Möglichkeit andeutend LG Dortmund v. 25.4.2013, GRUR Int. 2013, 842, 844, Rn. 17: „Ob [eine schadensrechtliche Verantwortlichkeit der einzelnen Täter für deliktisches Handeln ihrer Mittäter] folgt aus direkter Anwendung der europarechtlichen Kartellverbotsnorm bei Annahme einer europarechtlichen Mithaftung mit gesamtschuldnerischem Haftungsumfang oder als Haftungsfolge auf der Grundlage des nach jeweiligem IPR anzuwendenden nationalen Schadensersatzrechts ist bei der gebotenen autonomen Prüfung nicht zu entscheiden.“ Dagegen spricht jedoch, dass der EuGH in der Rechtssache Manfredi betont hat, dass sich Art und Umfang der Haftung für kartelldeliktische Schadensersatzansprüche in Ermangelung europäischer Vorschriften nach dem nationalen Recht richten (EuGH v. 13.7.2006, verb. Rs. C-295/2004 bis 298/2004 (Manfredi/Lloyd Adriatico Assicurazioni), Slg. 2006, I-6619, Rn. 92; zum Verhältnis des europäischen und nationalen Haftungsrechts bei der Begründung kartelldeliktischer Ansprüche siehe Bulst, ZEuP 2008, 178, 189 ff.; Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privatund Wirtschaftsrecht, 27, 42 ff.). Zukünftig könnte die Rechtsprechung des EuGH jedoch vermehrt einheitliche Vorgaben schaffen (in diese Richtung jüngst GA Kokott, Schlussanträge v. 31.1.2014, Rs. C-557/2012 (Kone u.a.), noch nicht in amtl.

248 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht vielmehr erst dem zur Anwendung gelangenden nationalen Recht entnehmen. 41 Maßgeblich ist das nach Art. 6 Abs. 3 Rom II-VO berufene Haftungsrecht, da die Reichweite des für eine deliktische Handlung haftenden Personenkreises gemäß Art. 15 lit. g) Rom II-VO dem Deliktsstatut unterfällt.42 In Deutschland ordnen die Normen des allgemeinen Deliktsrechts (§§ 830, 840 BGB) die gesamtschuldnerische Haftung mehrerer Deliktstäter an; insoweit bestehen für Kartelldelikte keine Besonderheiten. 43 Nichts anderes gilt in Österreich, wo die Solidarhaftung von Kartellmitgliedern mithilfe des § 1301 ABGB begründet wird, 44 und in den Niederlanden, in denen Art. 10:159 BW die groepsaansprakelijkheid für unerlaubte Handlungen vorsieht.45 In England sind Kartellmitglieder als joint tortfeasors auch jointly responsible.46 In Frankreich lassen sich die allgemeinen Regeln der solidarité auf das Kartelldeliktsrecht übertragen. 47 Bereits zum jetzigen Zeitpunkt existiert in den mitgliedstaatlichen Deliktrechtsordnungen also der Grundsatz, dass die gemeinschaftSlg., Rn. 21 ff.; EuGH v. 5.6.2014, Rs. C-557/2012 (Kone u.a.), noch nicht in amtl. Slg, Rn. 32 ff.). 41 Weller, ZVglRWiss 112 (2013), 89, 98. 42 Weller, ZVglRWiss 112 (2013), 89, 98, der die Geltung des Deliktsstatuts jedoch Art. 15 lit. a) Rom II-VO entnehmen will; dazu und zur Anordnung der gesamtschuldnerischen Haftung durch das nationale Recht bereits auf S. 83 f. 43 BGH v. 28.6.2012, NJW 2012, 928, 935; Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 62, 72; Bulst, EWS 2004, 403, 410; R. Koch, JZ 2013, 390, 391; Endter, Schadensersatz nach Kartellverstoß, 225; Köhler, GRUR 2004, 99, 101; C. Krüger, in: Grau/Oberender (Hg.), Private und öffentliche Kartellrechtsdurchsetzung, 79 f.; ders., Kartellregress, 25 f.; ders., WuW 2012, 6, 8 ff.; Mankowski, WuW 2012, 947, 949 f.; Meeßen, Schadensersatz, 396; Thomas, Journal of European Competition Law & Practice 3 (2012), 11, 22 f.; Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 46. 44 OGH v. 14.2.2012, WuW 2012, 1251, 1254 (WuW/E KRInt 393, 396); G. Graf, ecolex 2010, 1063, 1064 f. 45 Rechtbank Midden-Nederland v. 27.11.13, C-16-338073, Rn. 2.12, abrufbar unter: . 46 Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 63; Endter, Schadensersatz nach Kartellverstoß, 333. Instruktiv in diesem Kontext auch die Ausführungen zur Entscheidungspraxis der Kommisson in Board Na Mona Horticulture Ltd And Others v British Polythene Industries Plc And Others [2012] EWHC 3346 (Comm), Rn. 22: „[W]hat limits responsibility for participation in a cartel so far as the Commission is concerned is the duration and not the extend of participation in the sense of whether the participant has done this that or the other in the cartel. All participants are jointly responsible in much the same way as are joint tortfeasers or participants in a joint enterprise in criminal law“. 47 Bénabent, Petites affiches 2005, 31 f.

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

249

liche Verletzung des Kartellverbots des Art. 101 AEUV die gesamtschuldnerische Haftung von Kartellmitgliedern für alle kartellbedingten Schäden auslöst. 48 Dessen ungeachtet betont auch der unlängst veröffentlichte Richtlinienvorschlag der Kommission für kartelldeliktische Schadensersatzklagen 49 die Verpflichtung zur gesamtschuldnerischen Haftung von Kartellmitgliedern. Art. 11 Abs. 1 des Vorschlags verlangt, dass die „Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Unternehmen, die durch ein gemeinsames Verhalten gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen haben, gesamtschuldnerisch für den durch diese Zuwiderhandlung verursachten Schaden haften: Jedes der zuwiderhandelnden Unternehmen ist zum vollständigen Ersatz des Schadens verpflichtet, und der Geschädigte kann von jedem von ihnen vollständigen Schadensersatz verlangen, bis der Schaden vollständig ersetzt ist.“50 bb) Auswirkungen der gesamtschuldnerischen Haftung von Kartellmitgliedern Steht nun fest, dass die Parteien einer Kartellvereinbarung gesamtschuldnerisch haften, gilt es in einem zweiten Schritt die Auswirkungen der gesamtschuldnerischen Haftung auf die Beurteilung der einheitlichen Sach- und Rechtslage zu überprüfen. Die konkreten Auswirkungen der gesamtschuldnerischen Haftung werden in einem unlängst ergangenen Vorlagebeschluss des LG Dortmund thematisiert, der die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft gegenüber am Kartellverstoß unmittelbar beteiligten Adressaten der Bußgeldentscheidung zum Gegenstand hat.51

48

Zu diesem Ergebnis kommen auch die rechtsvergleichenden Betrachtungen von Meeßen, Schadensersatz, 396 und C. Krüger, Kartellregress, 111 f. 49 Vorschlag der Kommission v. 11.6.2013, KOM (2013) 404 final, abrufbar unter ; zu den angedachten Neuregelungen jüngst Gamble, ECLR 34 (2013), 611 ff. 50 Siehe auch Erwägungsgrund (27): „Wenn mehrere Unternehmen gemeinsam gegen die Wettbewerbsvorschriften verstoßen (wie im Falle eines Kartells), ist es angebracht vorzusehen, dass diese gemeinsam handelnden Rechtsverletzer gesamtschuldnerisch für den gesamten durch diese Zuwiderhandlung verursachten Schaden haftbar gemacht werden.“ Die Beteiligten haften für den durch ihre Handlungen verursachten Schaden also gesamtschuldnerisch“. 51 LG Dortmund v. 25.4.2013, GRUR Int. 2013, 842.

250 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht (1) Das Bleichmittelverfahren vor dem LG Dortmund Nach den Feststellungen der Kommission hatten sechs Chemieunternehmen in den Jahren 1994–2000 den Wettbewerb auf mehreren mitgliedstaatlichen Märkten für Wasserstoffperoxid und Natriumperborat durch verbotene Absprachen beschränkt.52 Nach Offenlegung des wettbewerbswidrigen Verhaltens wurden die Mitglieder des sog. „Bleichmittelkartells“ auf Ersatz der ihren Abnehmern entstandenen Schäden vor dem LG Dortmund gemeinsam verklagt. Als Ankerbeklagte fungierte die in Deutschland ansässige Evonik Degussa GmbH. Gegenüber den übrigen Kartellmitgliedern mit Sitz in den Niederlanden, Frankreich, Belgien und Finnland sollte die internationale und örtliche Zuständigkeit des LG Dortmunds auf Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gestützt werden.53 Das LG Dortmund stellte im Rahmen der Prüfung der Gefahr widersprechender Entscheidungen die Erwägung an, dass die Einheitlichkeit der Sach- und Rechtslage zu bejahen sei, sofern aus dem gemeinsamen wettbewerbswidrigen Verhalten eine gemeinsame „schadensrechtliche Verantwortlichkeit“ der Beklagten resultiert. Für die Verantwortlichkeit eines jeden Kartellmitglieds für die durch das deliktische Handeln der übrigen Kartellmitglieder verursachten Schäden spreche die einheitliche und fortgesetzte Begehung des Kartellverstoßes.54 Zur Bestätigung dieser Rechtsauffassung legte das LG Dortmund dem EuGH die Frage vor, ob die gemeinsame Verhandlung von Klagen, die wegen eines von der Kommission festgestellten, in mehreren Mitgliedstaaten unter unterschiedlicher örtlicher und zeitlicher Beteiligung der Beklagten begangenen, einheitlichen und fortgesetzten Verstoßes gegen Art. 101 AEUV erhoben worden sind, zur Vermeidung widersprechender Entscheidungen geboten ist.55 Die Antwort des Gerichtshofs steht noch aus.

52

KomE v. 3.5.2006, COMP/F/38.620 (Hydrogen peroxide), ABl.EU 2006 L 353/54 ff. 53 Die andere Vorlagefrage zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bezog sich auf die Tauglichkeit einer zurückgenommenen Ankerklage zur Verfahrenskonzentration (dazu schon oben auf S. 129 ff.). Alternativ stand zudem die Begründung der Zuständigkeit mithilfe des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO im Raum. Die dahingehende Vorlagefrage des LG Dortmunds ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Zu den Voraussetzungen der Verhandlung kartelldeliktischer Klagen am Deliktsgerichtsstand eingehend Basedow, FS 50 Jahre FIW, 129 ff.; Fitchen, MJ 15 (2006), 381, 392 ff.; Maier, Marktortanknüpfung, 94 ff.; Wurmnest, EuZW, 933, 934 f.; Zimmer, Konkretisierung des Auswirkungsprinzips, 276 ff. 54 LG Dortmund v. 25.4.2013, GRUR Int. 2013, 842, 844, Rn. 16 f. 55 LG Dortmund v. 25.4.2013, GRUR Int. 2013, 842.

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

251

(2) Identität der Sach- und Rechtslage Das LG Dortmund hat zutreffend erkannt, dass das Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen nicht losgelöst von der gesamtschuldnerischen Haftung der Beklagten für die durch das Kartell verursachten Schäden beurteilt werden kann. Wie in dieser Arbeit bereits an einem Beispiel aus dem allgemeinen Deliktsrecht veranschaulicht wurde, führt die zwischen den Streitgenossen bestehende Gesamtschuld nämlich zu der Identität der den Klagen zugrundeliegenden Sach- und Rechtslage, weil die gesamtschuldnerische Haftung im Außenverhältnis an dieselbe Forderung anknüpft, die aus einem einzigen Lebenssachverhalt resultiert.56 Dass diese These auch im Kartelldeliktsrecht Bestand hat, zeigt die nachstehende Betrachtung der Sach- und Rechtslage in follow on-Verfahren unter Berücksichtigung der Anordnung der Gesamtschuld durch das anwendbare nationale Haftungsrecht. (a) Identische Sachlage Die Identität der Sachlage resultiert aus der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der einzelnen Kartellmitglieder für das Umsetzungsverhalten ihrer Mitstreiter. Bei einer getrennten Inanspruchnahme der Kartellmitglieder ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass über das Umsetzungsverhalten des einen Kartellmitglieds am Wohnsitzgericht eines anderen Kartellmitglieds mit umfassender Kognitionsbefugnis verhandelt wird. Klagt der Geschädigte beispielsweise am allgemeinen Gerichtsstand seines Vertragspartners A nicht nur auf Ersatz der Schäden, die aus den Geschäften mit A auf dem Markt A resultieren, sondern auch auf Ersatz der Schäden, die durch die Geschäfte mit Vertragspartner B auf dem Markt B verursacht wurden, und verfährt er am allgemeinen Gerichtsstand des B entsprechend, wird in getrennten Verhandlungen jeweils das „gesamte“ Umsetzungsverhalten von A und B beurteilt. Somit beruhen die gegen A und B erhobenen Klagen auf einer identischen Sachlage.57 Nichts anderes gilt im größeren Rahmen für die im Bleichmittelverfahren erhobenen Schadensersatzklagen: Da jedes einzelne der sechs Kartellmitglieder in seiner Eigenschaft als Mithaftender für die Absatzhandlungen der übrigen Kartellmitglieder in Anspruch genommen werden kann, birgt die getrennte Verhandlung an den Wohnsitzgerichten der Kartellmitglieder das Risiko, dass das gesamte Verhalten das Kartells widersprüchlich beurteilt wird. 56 57

Siehe oben S. 83 f. So zu einem ähnlichen Beispiel auch Weller, ZVglRWiss 112 (2013), 89, 99.

252 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht (b) Identische Rechtslage Die Identität der Rechtslage ist bei kartelldeliktischen Schadensersatzklagen gegen die Mitglieder desselben Kartells ebenfalls garantiert und zwar unabhängig davon, ob die Kollisionsnorm des Art. 6 Abs. 3 Rom II-VO zur Beurteilung der am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft einzuklagenden Schäden dasselbe nationale Haftungsrecht beruft. Denn selbst wenn innerhalb eines Kartellverfahrens verschiedene Marktortrechte zur Anwendung gelangen, weil die Kartellabsprache die Märkte mehrerer Staaten betrifft und der Geschädigte das Optionsrecht des Art. 6 Abs. 3 lit. b) Rom II-VO nicht ausgeübt hat oder ausüben konnte, knüpfen alle erhobenen Klagen an dieselben Forderungen, wie das nachfolgende Beispiel veranschaulicht. Haben die Beklagten A und B eine Kartellabsprache getroffen, die den Preis für ein auf den Märkten der Staaten A und B angebotenes Produkt festlegt, und bezieht der Geschädigte das kartellierte Produkt auf Markt A vom Beklagten A und auf Markt B vom Beklagten B, so ist der aus dem Geschäft mit dem Beklagten A resultierende Schaden nach dem Recht des Staates A und der aus dem Geschäft mit dem Beklagten B entstandene Schaden nach dem Recht des Staates B zu ersetzen. Da das nach Art. 6 Abs. 3 lit. a) Rom II-VO zur Anwendung berufene Deliktsstatut gemäß Art. 15 lit. g) Rom II-VO aber auch für die Beantwortung der Frage maßgeblich ist, ob neben dem unmittelbar Handelnden noch weitere Personen für die Folgen einer deliktischen Handlung einstehen müssen,58 haften beide Beklagte letztlich aus derselben Forderung: Der Beklagte A haftet für die auf der deliktischen Anspruchsgrundlage des Haftungsrechts des Staates B basierenden Forderung als Gesamtschuldner. Umgekehrt haftet der Beklagte B für die auf der deliktischen Anspruchsgrundlage des Haftungsrechts des Staates A basierenden Forderung als Gesamtschuldner.59 Diese Überlegungen lassen sich auch auf die gegen das „Bleichmittelkartell“ erhobenen Schadensersatzklagen übertragen. Da der zeitliche Anwendungsbereich der Rom II-VO bezüglich der durch das „Bleichmittelkartell“ verursachten Schäden noch nicht eröffnet war, stand der Klägerin das Optionsrecht des Art. 6 Abs. 3 lit. b) Rom II-VO noch nicht zur Verfügung. 60 Die auf den Märkten der verschiedenen 58

MünchKommBGB/Junker, Art. 15 Rom II-VO, Rn. 23 f.; BeckOK/Spickhoff, Art. 15 Rom II-VO, Rn. 10; Palandt/Thorn, Art. 15 Rom II-VO, Rn. 9. 59 So zu einem ähnlichen Beispiel auch Weller, ZVglRWiss 112 (2013), 89, 99. 60 Die Rom II-VO ist nur auf schadensbegründende Ereignisse anzuwenden, die ab dem 11.1.2009 eingetreten sind, wobei der Zeitpunkt der Einleitung des Ver-

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

253

Jurisdiktionen erlittenen Schäden sind daher gemäß dem Auswirkungsprinzip nach dem Marktortrecht des betroffenen Staates zu ersetzen.61 Da die Kartellmitglieder nach den zur Anwendung berufenen nationalen Haftungsrechten aber für alle kartellbedingten Schäden als Gesamtschuldner haften, basieren auch die im Bleichmittelverfahren erhobenen Klagen letztlich auf denselben Forderungen. Eine identische Rechtslage besteht. d) Zulässigkeit des Rückgriffs auf das nationale Haftungsrecht In Bezug auf die Beurteilung der Gefahr widersprechender Entscheidung in Kartellprozessen mit unmittelbar an dem Kartellverstoß beteiligten Adressaten der Bußgeldentscheidung wurde bisher einerseits aufgezeigt, dass das Bestehen der einheitlichen Sach- und Rechtslage nicht mit dem bloßen Verweis auf die Anknüpfung der erhobenen Klagen an einen einheitlichen Kartellverstoß begründet werden darf. Andererseits konnte deutlich gemacht werden, dass die Einheitlichkeit der Sach- und Rechtslage bei einer Betrachtung losgelöst von den haftungsrechtlichen Verhältnissen im Kartell auch nicht auf das Umsetzungsverhalten der einzelnen Kartellmitglieder gestützt werden kann. M.E. lässt sich die Gefahr widersprechender Entscheidungen in follow on-Verfahren also nur bejahen, wenn von der gesamtschuldnerischen Haftung der Kartellmitglieder auf die Identität der Sach- und Rechtslage geschlossen wird. An diese Erkenntnis schließt die Frage an, ob der Rückgriff auf das nationale Haftungsrecht zulässig ist. Im allgemeinen Teil der Arbeit wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Rückgriff auf die gesamtschuldnerische Haftung der Streitgenossen bei der Beurteilung der Gefahr widersprechender Entscheidungen mit nicht unerheblichen Nachteilen verbunden ist:62 Zum einen wird das Tatbestandsmerkmal einer Zuständigkeitsnorm durch ein Kriterium aus dem materiellen Recht ausgefüllt, was die Sachentscheidung des Verfahrens teilweise vorwegnimmt. Zum anderen steht die Konkretisierung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO durch ein Rechtsinstitut des jeweils anwendbaren Sachrechts in einem Spannungsverhältnis mit der euro-

fahrens oder der Zeitpunkt der Bestimmung des anwendbaren Rechts durch das angerufene Gericht keinen Einfluss auf die Festlegung des zeitlichen Anwendungsbereichs der Verordnung haben (EuGH v. 17. 11. 2011, Rs. C-412/10 (Deo Antoine Homawoo/GMF Assurances SA), EuZW 2012, 35, Rn. 37). 61 Das ergibt sich aus § 130 Abs. 2 GWB i.V.m. Art. 40 Abs. 1 S. 2 EGBGB (zur Rechtslage vor dem Inkrafttreten der Rom II-VO Bulst, EWS 2004, 403, 407 f.). 62 Zum Ganzen siehe oben S. 85 ff.

254 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht päisch-autonomen Auslegung der Vorschrift. Aus diesen Gründen stößt die Heranziehung der Gesamtschuld bei der Prüfung der Widerspruchsgefahr in der Literatur teilweise auf Ablehnung. 63 Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Berücksichtigung der gesamtschuldnerischen Haftung der Beklagten jedoch zulässig, da das anwendbare Sachrecht bei der Subsumtion unter das normativ stark aufgeladene Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen nicht ausgeblendet werden kann.64 Speziell in Hinblick auf die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber an dem Kartellverstoß unmittelbar beteiligten Adressaten gilt es zudem zu beachten, dass die Zuständigkeitsentscheidung durch den Rückgriff auf die Gesamtschuld nicht verzögert wird. Dass den Beklagten die gemeinschaftliche Begehung des Kartellverstoßes als auslösendes Moment der gesamtschuldnerischen Haftung zur Last fällt, ergibt sich nämlich bereits aus der Begründung der vorausgegangenen Entscheidung der Kartellbehörden. Durch die Einbeziehung der Gesamtschuld in die Betrachtung der einheitlichen Sach- und Rechtslage wird also lediglich eine Frage der Begründetheit in die Zulässigkeit vorverlagert, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft bereits abschließend begutachtet worden ist.65 Die Heranziehung des nationalen Haftungsrechts gefährdet auch nicht die einheitliche Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf kartelldeliktische Schadensersatzklagen. Zunächst steht mit Art. 6 Abs. 3 Rom II-VO eine einheitliche Kollisionsnorm für das Kartelldeliktsrecht zur Verfügung, sodass die Anordnung der gesamtschuldnerischen Haftung unabhängig vom angerufenen Gericht immer demselben Deliktsstatut zu entnehmen ist. Darüber hinaus wird die gemeinschaftliche Begehung von Kartelldelikten europaweit als Anwendungsfall der Gesamtschuld begriffen, sodass selbst die Berufung verschiedener Delikts63 Mankowski, WuW 2012, 947, 950; kritisch auch Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63, 72. Zur Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO außerhalb des Kartelldeliktsrechts siehe ferner Mankowski, IPRax 1998, 122, 123 f.; Lüthi, System, Rn. 898. 64 Siehe oben S. 79. 65 Die Anspruchsgrundlagen der nationalen Haftungsrechte setzen für das Bestehen eines kartelldeliktischen Schadensersatzanspruchs zudem teilweise voraus, dass der Verstoß gegen das Kartellverbot schuldhaft begangen wurde (dazu noch auf S. 262 f.). War der Adressat der Bußgeldentscheidung am Kartellverstoß unmittelbar beteiligt, bereitet die Feststellung eines Verschuldens jedoch in aller Regel keine Schwierigkeiten, da die Berufung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum nur in sehr engen Grenzen zulässig ist (Meeßen, Schadensersatz, 342 ff.).

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

255

statute durch die mitgliedstaatlichen Gerichte nicht zu einer divergierenden Bestimmung des Anwendungsbereichs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO führt. Gegen den Rückgriff auf das nationale Haftungsrecht im Rahmen der Prüfung der Gefahr widersprechender Entscheidungen in follow onVerfahren streitet also weder die Notwendigkeit einer prozessökonomischen Zuständigkeitsprüfung noch das Gebot der europäischautonomen Auslegung. Die Betrachtung des Kriteriums der einheitlichen Sach- und Rechtslage unter Berücksichtigung der haftungsrechtlichen Verhältnisse im Kartell ist somit zulässig. e) Fazit Zentrales Kriterium der Gefahr widersprechender Entscheidung in follow on-Verfahren ist die Reichweite der gemeinsamen deliktischen Verantwortlichkeit der Beklagten für die durch das Kartell verursachten Schäden. Da die Widerspruchsgefahr wegen der Bindungswirkung der behördlichen Entscheidung nicht mit dem einheitlichen Verstoß gegen das Kartellverbot begründet werden darf, das Umsetzungsverhalten der jeweiligen Kartellmitglieder jedoch typischerweise nur wenige rechtliche und tatsächliche Gemeinsamkeiten aufweist, lässt sich die Einheitlichkeit der Sach- und Rechtslage regelmäßig nur damit begründen, dass die einzelnen Kartellmitglieder aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Gesamtschuld auch für das Umsetzungsverhalten der übrigen Kartellmitglieder zur Verantwortung gezogen werden können. 2. Streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten Neben die Gefahr widersprechender Entscheidungen tritt als zweite Voraussetzung der Konnexität der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten. Anders als die Widerspruchsgefahr ist der streitgenössische Kontakt unabhängig von den haftungsrechtlichen Beziehungen der Streitgenossen zu bewerten. Mit einem bloßen Verweis auf die zwischen den Beklagten bestehende Gesamtschuld lässt sich die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nämlich nicht begründen. Vielmehr muss das angerufene Gericht durch eine eigenständige Prüfung feststellen, ob der Annexbeklagte bei der Vornahme des streitgegenständlichen Verhaltens mit der Inanspruchnahme am Sitz des Ankerbeklagten rechnen musste.66

66

Zur Herleitung des Kriteriums siehe oben S. 75 ff.

256 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Zwischen Kartellmitgliedern besteht ein hinreichend enges Näheverhältnis, wenn das annexbeklagte Kartellmitglied mit dem ankerbeklagten Kartellmitglied in Hinblick auf das wettbewerbswidrige Verhalten bewusst in Kontakt getreten ist und dabei Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis vom Sitz des ankerbeklagten Kartellmitglieds hatte.67 Bei einer Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber am Kartellverstoß unmittelbar beteiligte Adressaten der Bußgeldentscheidung bereitet die Subsumtion unter die Vorgaben des streitgenössischen Kontakts regelmäßig keine Schwierigkeiten. Da die Begehung eines hardcore-Kartellverstoßes, insbesondere die Absprache und Abstimmung von Kartellkonditionen, das gemeinschaftliche Zusammenwirken Mehrerer voraussetzt, wissen die Kartellmitglieder in aller Regel, wo die an der Kartellvereinbarung ebenfalls beteiligten Gesellschaften ansässig sind.68 Die Kartellmitglieder müssen folglich damit rechnen, dass über die aus dem gemeinsamen wettbewerbswidrigen Verhalten resultierenden Schadensersatzansprüche am allgemeinen Gerichtsstand eines ihrer „Spießgenossen“ verhandelt wird.69 Waren sämtliche Beklagte am bebußten Kartellverstoß unmittelbar beteiligt, ist das Kriterium des streitgenössischen Kontakts folglich erfüllt und zwar unabhängig davon, welche Gesellschaft als Anker- oder Annexbeklagte verklagt wird. 3. Ergebnis Die Analyse der ersten Konstellation des follow on-Verfahrens i.e.S. hat gezeigt, dass die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber am Kartellverstoß unmittelbar beteiligten Adressaten der Bußgeldentscheidung zulässig ist. Das Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen ist erfüllt. Zwar dient die gemeinsame Verhandlung aufgrund der verbindlichen Feststellung des Kartellverstoßes durch die Wettbewerbsbehörden lediglich der Vermeidung einer widersprechenden Beurteilung des Umsetzungsverhaltens der Kartellmitglieder, welches bei einer Betrachtung losgelöst von den haftungsrechtlichen Verhältnissen im Kartell sehr unterschiedlich ausfallen kann. Die gemeinschaftliche Begehung des Kartellverstoßes löst nach dem zur Anwendung berufenen Deliktsstatut aber die gesamtschuldnerische Haftung für alle kartellbedingten Schäden aus, sodass die gegen die Mitglieder eines Kartells erhobenen Klagen dennoch auf einer identischen Sach- und Rechts67

Vgl. die allgemeine Definition des streitgenössischen Kontakts auf S. 79 f. LG Dortmund v. 25.4.2013, GRUR Int. 2013, 842, 844, Rn. 18. 69 Pointiert Mankowski, WuW 2012, 947, 949. Ähnlich bereits Mankowski, RIW 2008 177, 191: „Wie man sich bettet, so liegt man eben“. 68

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

257

lage fußen. Auch das zweite Element von Konnexität, der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten, ist bei der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber unmittelbar an einem Kartellverstoß beteiligten Adressaten gegeben. Bei der gemeinschaftlichen Begehung des Kartellverstoßes nehmen die Kartellmitglieder nämlich Kenntnis vom Sitz und Verhalten ihrer Mitstreiter. II. Klage gegen am Kartellverstoß nicht unmittelbar beteiligte Adressaten Zu den weniger komplizierten Fällen der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht gehören auch Kartellprozesse, in denen der Kläger zwar ausschließlich gegen Adressaten der Bußgeldentscheidung vorgeht, einzelne Adressaten an dem bebußten Kartellverstoß aber nicht unmittelbar beteiligt waren. Eine solche Konstellation tritt insbesondere auf, wenn die Kartellbehörden eine Muttergesellschaft mit der Begründung belangt haben, dass sie einen bestimmenden Einfluss auf ihre direkt am Kartell mitwirkende Tochtergesellschaft ausgeübt hat. Den Ausgangspunkt der Untersuchung dieser zweiten Konstellation des follow on-Verfahrens i.e.S. bildet eine kurze Erläuterung des funktionalen Unternehmensbegriffs der europäischen Kartellrechtspraxis (dazu unter 1.). Danach rückt das Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen in den Fokus, wobei vor allem die Frage zu diskutieren sein wird, wie sich die Unsicherheit der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit eines nicht unmittelbar am Kartellverstoß beteiligten Adressaten auf die Beurteilung der einheitlichen Sach- und Rechtslage auswirkt (dazu unter 2.). Abschließend wird das Erfordernis des streitgenössischen Kontakts thematisiert, da die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft in Ermangelung eines direkten Zusammenwirkens der Adressaten bei der Verwirklichung des Kartellverstoßes Schwierigkeiten bereitet (dazu unter 3.). 1. Ausgangspunkt: Funktionaler Unternehmensbegriff der europäischen Kartellrechtspraxis Ausgangspunkt der zu erörternden Problematik bildet der funktionale Unternehmensbegriff der europäischen Kartellrechtspraxis. Danach umfasst ein Unternehmen „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finan-

258 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht zierung.“70 Ein „Unternehmen“ und damit Adressat der EU-Kartellverbotsnormen kann nach dem funktionalen Unternehmensbegriff also auch ein aus mehreren Gesellschaften bestehender Unternehmensverbund sein,71 wohingegen zum Adressaten einer bußgeldrechtlichen Verfügung ein nach dem nationalen Recht parteifähiges Rechtssubjekt bestimmt werden muss.72 Aufgrund des Auseinanderfallens von Normadressat (Unternehmen i.S.d. wirtschaftlichen Einheit) und bußgeldrechtlichem Verfügungsadressat (Unternehmen i.S.d. Rechtssubjekts) steht die Kommission73 bei der Ausfertigung des Bußgeldbescheids also vor der Herausforderung, innerhalb eines Unternehmens im funktionalen Sinne des Art. 101 AEUV einen oder mehrere konkrete Rechtsträger für das wettbewerbswidrige Verhalten zur Verantwortung zu ziehen.74 Da die Auswahl des zum Adressaten benannten Rechtsträgers innerhalb gewisser Grenzen im behördlichen Ermessen steht, fußt die bußgeldrechtliche Adressatenstellung nicht zwangsläufig auf einer unmittelbaren Beteiligung der zur Verantwortung gezogenen Gesellschaft am Kartellverstoß. Aus Präventionserwägungen versucht die Kommission in aller Regel den Bußgeldbescheid auch an die an der Konzernspitze stehende Muttergesellschaft zu adressieren, da sich das Wettbewerbsverhalten des Unternehmens im funktionalen Sinne am besten über die Konzernleitung beeinflussen lässt und die Umsätze der Muttergesellschaft in die Berechnung des Bußgeldrahmens einbezogen werden sollen. 75 So kann nach der vom EuGH in ständiger Rechtsprechung 70 EuGH v. 23.4.1991, Rs. C-41/1990 (Höfner und Elser/Macrotron), Slg. 1991, I-1979, Rn. 21; siehe auch KomE v. 13.7.1994, IV/C/33.833 (Karton), ABl.EG 1994 L 243/1, Rn. 140 („jede Einheit mit wirtschaftlicher Tätigkeit“). 71 Meeßen, Schadensersatz, 381; Pohlmann, Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht, 35 ff.; Thomas, Journal of European Competition Law & Practice 3 (2012), 11, 12 f. 72 Siehe nur EuGH v. 10.9.2009, Rs. 97/2008 (Akzo Nobel u.a./Kommission), Slg. 2009, I-8237, Rn. 57. 73 Bei Entscheidungen des Bundeskartellamtes richtet sich die bußgeldrechtliche Haftung nach dem deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht. Nach dem Wortlaut des § 30 OWiG kann eine Geldbuße nur gegen eine juristische Person oder Personenvereinigung festgesetzt werden, sofern der Täter auch für diese gehandelt hat. Im Gegensatz zur Kommission muss das Bundeskartellamt also das unmittelbar gegen das Kartellverbot verstoßende Rechtssubjekt in Anspruch nehmen, wobei die Konstruktion einer Aufsichtspflichtverletzung gemäß § 130 OWiG angedacht wird (zum Ganzen Bürger, WuW 2011, 130 ff.; Bosch, ZHR 177 (2013), 454, 462 ff.; Kling, WRP 2010, 506, 513). Die in diesem Abschnitt besprochene Konstellation der zivilrechtlichen Inanspruchnahme eines an dem Kartellverstoß nicht unmittelbar beteiligten Adressaten folgt also zwangsläufig einer Entscheidung der Kommission. 74 Meeßen, Schadensersatz, 381. 75 Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, 232 f.

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

259

gebilligten Praxis eine am Kartellverstoß ihrer Tochtergesellschaft nicht unmittelbar beteiligte Muttergesellschaft von der Bußgeldentscheidung adressiert werden, wenn „diese Tochtergesellschaft ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Verbundenheit dieser beiden Rechtssubjekte, […] [da] in einem solchen Fall die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit sind und damit ein Unternehmen im Sinne der Rechtsprechung bilden.“ 76 Die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit ist nach der Rechtsprechung des EuGH also zulässig, wenn die Muttergesellschaft einen „bestimmenden Einfluss“ auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausgeübt hat, was bei einer 100%igen Kapitalbeteiligung der Muttergesellschaft an der Tochtergesellschaft widerleglich vermutet wird, ohne dass die Darlegung weiterer Kriterien erforderlich wäre, die den bestimmenden Einfluss stützen. 77 Aufgrund des weit verstandenen Unternehmensbegriffs der europäischen Kartellrechtspraxis ist folglich keineswegs ausgeschlossen, dass zu den Beklagten eines follow onVerfahrens i.e.S. auch Adressaten zählen, die an dem bebußten wettbewerbswidrigen Verhalten selbst nicht unmittelbar mitgewirkt haben. 2. Gefahr widersprechender Entscheidungen Das Fehlen der unmittelbaren Beteiligung eines Adressaten am Kartellverstoß hat Konsequenzen für die Prüfung der Gefahr widersprechender Entscheidungen. Die gemeinsame Verhandlung kartelldeliktischer Klagen dient der Vermeidung widersprechender Entscheidungen, wenn die Beklagten eine gesamtschuldnerische Haftung für die durch das Kartell verursachten Schäden trifft. Werden einzelne Beklagte für das wettbewerbswidrige Verhalten einer anderen Gesellschaft desselben Unternehmens im funktionalen Sinne in Anspruch genommen, bereitet die 76

Sehr klar jüngst EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-499/11 P (The Dow Chemical Company u.a./Kommission), Beck RS 2013, 81520; siehe auch EuGH v. 28.6.2005, verb. Rs. C-189/2002 P, C-202/2002 P, C-205/2002 P bis C-208/2002 P und C213/2002 P (Dansk Rørindustri u.a./Kommission), Slg. 2005, I-5425, Rn. 117; EuGH v. 2.10.2003, Rs. C-196/1999 P (Siderúrgica Aristrain Madrid/Kommission), Slg. 2003, I-11005, Rn. 96. 77 EuGH v. 10.9.2009, Rs. 97/2008 (Akzo Nobel u.a./Kommission), Slg. 2009, I8237 60. Ausführlich zur bußgeldrechtlichen Praxis der Zurechnung eines Kartellverstoßes von „unten nach oben“ noch im Rahmen der Untersuchung von Klagen gegen Muttergesellschaften von Adressaten der Bußgeldentscheidung (siehe S. 271 ff.).

260 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Feststellung ihrer kartelldeliktischen Verantwortlichkeit jedoch Schwierigkeiten. Nachfolgend wird deshalb zunächst die Frage aufgeworfen, ob sich die zivilrechtliche Inanspruchnahme eines nicht unmittelbar am Kartellverstoß beteiligten Adressaten auf die Bindungswirkung der Bußgeldentscheidung stützen lässt (dazu unter a)). An die Erkenntnis, dass die Zivilgerichte lediglich an die behördliche Feststellung des Kartellverstoßes nicht aber an die Feststellung dessen schuldhafter Begehung gebunden sind, knüpft dann die Diskussion an, wie mit der Unsicherheit der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit am Kartellverstoß nicht unmittelbar beteiligter Adressaten im Rahmen der Prüfung der Gefahr widersprechender Entscheidungen umzugehen ist (dazu unter b)). a) Gleichlauf von bußgeldrechtlicher Adressatenstellung und zivilrechtlicher Passivlegitimation kraft Bindungswirkung? Die Haftung eines nicht unmittelbar am Kartellverstoß beteiligten Adressaten ließe sich im anschließenden Zivilverfahren auf die Bindungswirkung der behördlichen Feststellungen stützen, wenn mit der Nennung einer Gesellschaft im Tenor der Bußgeldentscheidung deren schuldhafter Verstoß gegen das Kartellverbot feststünde und zwar unabhängig von der Darlegung einer unmittelbaren Beteiligung an dem bebußten wettbewerbswidrigen Verhalten in der Entscheidungsbegründung. Der Gleichlauf von bußgeldrechtlicher Adressatenstellung und zivilrechtlicher Passivlegitimation setzt also voraus, dass sich die Bindungswirkung der Bußgeldentscheidung nicht nur auf den Kartellverstoß (dazu unter aa)) sondern auch auf ein nach dem nationalen Haftungsrecht eventuell erforderliches Verschulden (dazu unter bb)) erstreckt.78 aa) Verbindliche Feststellung des Kartellverstoßes In der Literatur wird vereinzelt vertreten, dass die Zivilgerichte an die Nennung eines Beklagten als Adressat im Tenor der Bußgeldentscheidung nicht gebunden sind, wenn in der Entscheidungsbegründung nichts 78

Für das Bestehen eines kartelldeliktischen Anspruchs ist darüber hinaus ein kausaler Schaden nachzuweisen, wobei der Kläger hierfür nicht auf die Bindungswirkung der behördlichen Entscheidung rekurrieren kann (EuGH v. 6.11.12, Rs. C199/2011 (Europese Gemeenschap/Otis u.a.), EuZW 2013, 24, Rn. 65 f.). Zur Begründung der Gefahr widersprechender Entscheidungen ist jedoch die Beantwortung der Frage ausreichend, ob den Adressaten aufgrund der Bindungswirkung der behördlichen Feststellungen eine haftungsrechtliche Verantwortlichkeit träfe, sofern in der späteren Begründetheitsprüfung der Nachweis eines kausalen Schadens gelingt.

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

261

auf seine unmittelbare Beteiligung an der wettbewerbsbeschränkenden Absprache hindeutet. 79 Da „der Verfügungsteil einer Entscheidung im Lichte der Gründe auszulegen [ist], die ihn tragen“, laufe ein zivilgerichtliches Urteil der Entscheidung der Kommission nicht gem. Art. 16 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 zuwider, wenn der Verstoß gegen das Kartellverbot in Ermangelung einer direkten Kartellbeteiligung des Adressaten abgelehnt wird.80 Nach zutreffender Auffassung steht der Kartellverstoß eines Adressaten im zivilgerichtlichen Kartellprozess jedoch auch dann verbindlich fest, wenn der Adressat an der Kartellabsprache nicht unmittelbar mitgewirkt hat. 81 Nach Art. 16 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 dürfen die Gerichte der Mitgliedstaaten, wenn sie „über Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen zu befinden haben, die bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sind, […] keine Entscheidungen erlassen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen“.82 Weder darf der nationale Richter von der Erfassung des dem Kartellverstoß zugrundeliegenden Sachverhalts abweichen, noch die rechtliche Bewertung der getroffenen Feststellungen übergehen. 83 Nimmt das Zivilgericht die in der Entscheidungsbegründung festgestellten Tatsachen aber zum Anlass, den Kartellverstoß einer im Tenor der Entscheidung genannten Gesellschaft zu verneinen, steht das in einem diametralen Widerspruch zu der rechtlichen Bewertung des Sachverhalts durch die Kommission. Bringt die Kommission zum Ausdruck, dass das beanstandete Verhalten einen Kartellverstoß darstellt, ist diese Beurteilung durch das Zivilgericht zu respektieren, auch wenn es sich bei dem beanstandeten Verhalten nicht 79

Scheidtmann, WRP 2010, 499, 504 f. Scheidtmann, WRP 2010, 499, 504 f. mit Hinweis auf EuG v. 15.9.1988, verb. Rs. T-374/1994, T-375/1994, T-384/1994 und T-388/1994 (European Night Services (ENS) u.a./Kommission), Slg. 1998, II-3141, Rn. 211. 81 So ausdrücklich Bürger, WuW 2011, 130, 137 f.; im Ergebnis auch Kersting, Der Konzern 2011, 445, 457 f. Instruktiv in diesem Kontext Meeßen, Schadensersatz, 115 f.: „Für die Bindungswirkung ist es unerheblich, ob die Feststellung des Verstoßes unmittelbar in der Tenorierung der Kommissionsentscheidung festgestellt wird oder sich aus den Entscheidungsgründen ergibt. Es muss nur unmissverständlich zum Ausdruck kommen, dass das beanstandete Verhalten einen Kartellverstoß darstellt“. 82 § 33 Abs. 4 S. 1 GWB statuiert ebenfalls eindeutig, dass „das Gericht an die Feststellung des Verstoßes gebunden [ist], wie sie in einer bestandskräftigen Entscheidung der Kartellbehörde […] getroffen wurde.“ Für Entscheidungen der Kommission ist die Vorschrift allerdings nur deklaratorischer Natur (Loewenheim/ Rehbinder, § 33 GWB, Rn. 54). 83 Loewenheim/Zuber, Art. 16 VerfO, Rn. 14 ff.; Meeßen, Schadensersatz, 115 f.; Grünberger, in: Möschel/Bien (Hg.), Kartellrechtsdurchsetzung durch private Schadensersatzklagen?, 135, 174 ff. 80

262 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht um eine direkte Beteiligung an dem bebußten Kartellverstoß handelt.84 Dass der Adressat einer Bußgeldentscheidung gegen das Kartellverbot verstoßen hat, steht im anschließenden Kartellprozess also fest. bb) Verbindliche Feststellung auch des Verschuldens? Die Anspruchsgrundlagen der nationalen Haftungsrechte setzen für das Bestehen eines kartelldeliktischen Schadensersatzanspruchs teilweise voraus, dass der Verstoß gegen das Kartellverbot auch schuldhaft begangen wurde. 85 Zwar ist durch die Rechtsprechung des EuGH noch nicht abschließend geklärt, ob ein nach nationalem Recht bestehendes Verschuldenserfordernis mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot in Einklang steht. Die Entscheidungen Courage 86 und Manfredi 87 überlassen die Ausgestaltung der Schadensersatzansprüche im Einzelnen jedoch den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten,88 sodass vieles dafür spricht, dass die einzelstaatliche Statuierung der verschuldensabhängigen Haftung mit den europäischen Vorgaben vereinbar ist.89

84

Vgl. Meeßen, Schadensersatz, 115 f. Siehe etwa § 33 Abs. 3 S. 1 GWB: „Wer einen Verstoß nach Absatz 1 vorsätzlich oder fahrlässig begeht, ist zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.“ Im englischen Recht wird über einen Haftungsausschluss bei mangelndem Verschulden diskutiert, wohingegen das französische Recht kein Verschuldenserfordernis kennt (rechtsvergleichend zum Verschuldenserfordernis siehe Meeßen, Schadensersatz, 346 ff.; Vrcek, in: Foer/Cuneo (Hg.), International Handbook on Private Enforcement, 277, 283 f.; Howard/Rose/Roth, in: Roth/Rose (Hg.), Bellamy & Child: European Community Law of Competition, Rn. 14.118 ff.). 86 EuGH v. 20.9.2001, Rs. C-453/1999 (Courage/Crehan), Slg. 2001, I-6297. 87 EuGH v. 13.7.2006, verb. Rs. C-295/2004 bis 298/2004 (Manfredi/Lloyd Adriatico Assicurazioni), Slg. 2006, I-6619. 88 Zum Verhältnis von europäischem und nationalem Haftungsrecht im Kartelldeliktsrecht eingehend Bulst, ZEuP 2008, 178, 189 ff.; Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 42 ff. 89 Zutreffend Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 48 Fn. 102; Meeßen, Schadensersatzanspruch, 357 f. A.A. Kersting, Der Konzern 2011, 445, 457, der gegen das Erfordernis des Verschuldens des einzelnen Rechtsträgers der wirtschaftlichen Einheit den Effektivitätsgrundsatz in Stellung bringt. Dass jede Art von Verschuldenserfordernis im nationalen Recht die private Durchsetzung des Kartellverbots „unmöglich macht oder übermäßig erschwert“ (EuGH v. 20.9.2001, Rs. C-453/1999 (Courage/Crehan), Slg. 2001, I-6297, Rn. 29) kann in dieser Allgemeinheit jedoch nicht überzeugend behauptet werden (zutreffend Bulst, ZEuP 2008, 178, 192 f.; Meeßen, Schadensersatzanspruch, 358 f.; Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 48, Fn. 102). 85

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

263

Auch die Kommission kann eine Geldbuße gem. Art. 23 Abs. 2 lit. a) VO 1/2003 90 nur verhängen, wenn ein Unternehmen vorsätzlich oder fahrlässig gegen Art. 101 AEUV verstoßen hat. Die Adressaten der Bußgeldentscheidung haben also unabhängig von ihrer unmittelbaren Beteiligung an dem Kartellverstoß im bußgeldrechtlichen Sinne immer schuldhaft gehandelt. Da die Kommission das Verschulden der bebußten Gesellschaft jedoch nicht im Einzelnen nachweisen muss, sondern es vielmehr ausreicht, dass die Gesellschaft Teil eines schuldhaft handelnden Unternehmens im funktionalen Sinne ist, 91 stellt sich im anschließenden follow on-Verfahren die Frage, ob das Zivilgericht bei der Beurteilung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit eines Adressaten an die behördlichen Feststellungen zum Verschulden gebunden ist. Der EuGH hat sich zur Bindungswirkung von Bußgeldentscheidungen bisher nicht im Kontext des Verschuldenserfordernisses geäußert. Zwar betont ein jüngeres Urteil des Gerichtshofs, dass sich die Verpflichtung des nationalen Richters zur Beachtung der behördlichen Feststellungen auf den Verstoß gegen das Kartellverbot beziehe. Im gleichen Atemzug unterstellen die Richter in Luxemburg aber lediglich die Kausalität und den Schaden als zusätzliche Voraussetzungen der zivilrechtlichen Anspruchsgrundlagen der freien richterlichen Würdigung im Kartellprozess.92 90 Art. 23 Abs. 2 lit. a) VO 1/2003 lautet: „Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig gegen Artikel 81 oder Artikel 82 [inzwischen Art. 101, 102 AEUV] des Vertrags verstoßen“. 91 Instruktiv GA Kokott, Schlussanträge v. 23.4.2009, Rs. C-97/2008 (Akzo Nobel/Kommission), Slg. 2009, I-8237, Rn. 97 f: „Dass die Muttergesellschaft eines Konzerns, die bestimmenden Einfluss auf ihre Tochtergesellschaften ausübt, für deren Kartellvergehen gesamtschuldnerisch in Haftung genommen werden kann, stellt keineswegs eine Ausnahme vom Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit dar, sondern ist Ausdruck eben dieses Grundsatzes. Denn die Muttergesellschaft und die Tochtergesellschaften, die unter ihrem bestimmenden Einfluss stehen, sind gemeinsam Rechtsträger eines einheitlichen Unternehmens im Sinne des Wettbewerbsrechts und für dieses verantwortlich. Verstößt nun dieses Unternehmen vorsätzlich oder fahrlässig gegen die Wettbewerbsregeln […], so löst dies die gemeinsame persönliche Verantwortlichkeit aller seiner Rechtsträger in der Konzernstruktur aus, gleichviel, ob es sich um die Muttergesellschaft oder um eine Tochtergesellschaft handelt“. 92 EuGH v. 6.11.12, Rs. C-199/2011 (Europese Gemeenschap/Otis u.a.), EuZW 2013, 24, Rn. 65 f.: „Aufgrund seiner Verpflichtung, keine Entscheidungen zu erlassen, die der Entscheidung der Kommission, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV festgestellt wird, zuwiderlaufen, muss der nationale Richter zwar vom Bestehen eines Kartells oder einer verbotenen Verhaltensweise ausgehen, doch hat er das Vorliegen eines Schadens und eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs

264 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Das Erstrecken der Bindungswirkung auf das Verschulden wäre zu bejahen, wenn ein das Verschulden eines Adressaten ablehnendes Urteil der Zivilgerichte der Entscheidung der Kommission gem. Art. 16 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003 zuwiderliefe. Gegen die Widersprüchlichkeit der unterschiedlichen Beurteilung des Verschuldens durch die Kommission und das Zivilgericht spricht, dass dogmatisch zwischen Verstoß und Verschulden zu unterscheiden ist, sodass das Verschulden als zusätzliche Voraussetzung des Schadensersatzanspruchs wie die Kausalität und der Schaden von der Bindungswirkung der Kommissionsentscheidung nicht umfasst sein könnte.93 Für eine extensive Interpretation der Bindungswirkung streitet auf den ersten Blick aber der Telos des Art. 16 Abs. 1 S. 1 VO 1/2003, wonach in einem System paralleler Zuständigkeiten von Kommission, nationalen Wettbewerbsbehörden und nationalen Gerichten die Kohärenz der Rechtsanwendung zu wahren ist.94 Da das Verschulden tragender Grund der Anordnung der Geldbuße ist, erscheint es problematisch, die behördliche Einschätzung des Kartellverstoßes in dieser Hinsicht auszublenden. 95 Bei näherer Betrachtung bestehen jedoch Zweifel, ob eine zivilgerichtliche Entscheidung, die das Verschulden eines Adressaten verneint, mit der Bußgeldentscheidung tatsächlich in Widerspruch steht. Im Rahmen eines behördlichen EU-Kartellrechtsverfahrens wird das Verschulden nämlich nach anderen Maßstäben bewertet als im Zivilprozess. Zum einen wird das strafrechtsähnliche Bußgeldverfahren vom Grundsatz der Unschuldsvermutung geleitet, wohingegen in einer zivilgerichtlichen Streitigkeit die Grundregel gilt, dass der Anspruchssteller die anspruchsbegründenden Tatsachen zu beweisen hat.96 Zum anderen zwischen diesem und dem fraglichen Kartell oder Verhalten zu beurteilen. […] Diese Beurteilung verstößt nicht gegen Art. 16 der Verordnung Nr. 1/2003“. 93 Bürger, WuW 2011, 130, 137 f. (zu § 33 Abs. 3 GWB). 94 Loewenheim/Zuber, Art. 16 VerfO, Rn. 1; Grünberger, in: Möschel/Bien (Hg.), Kartellrechtsdurchsetzung durch private Schadensersatzklagen?, 135, 175. 95 Grünberger, in: Möschel/Bien (Hg.), Kartellrechtsdurchsetzung durch private Schadensersatzklagen?, 162, 179; Langen/Bunte/Bornkamm, Deutsches Kartellrecht, § 33 GWB, Rn. 144. 96 Bürger, WuW 2011, 130, 138. Gegen diese Erwägung ließe sich zwar einwenden, dass die gegensätzliche Beurteilung des Verschuldens im Zivilprozess erst Recht inkohärent erscheint, wenn die Kommission im Bußgeldverfahren sogar entgegen des Grundsatzes in dubio pro reo von einem schuldhaften Kartellverstoß des Adressaten ausgeht. Da die Praxis der Kommission aber wiederum dafür kritisiert wird, dass die Unschuldsvermutung ausgehebelt wird, indem die Adressatenstellung der einzelnen Gesellschaft auf das Verschulden der wirtschaftlichen Einheit als Ganzes gestützt wird (kritisch etwa Bosch, ZHR 177 (2013), 454, 458 ff.; Leupold, ECLR 34 (2013), 570, 578 ff.; Thomas, Journal of European Competition Law &

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

265

muss die Kommission das Verschulden der bebußten Gesellschaft – anders als der Kläger im Zivilverfahren – nicht im Einzelnen nachweisen, da es bereits ausreicht, dass die Gesellschaft Teil eines schuldhaft handelnden Unternehmens im funktionalen Sinne ist.97 Dass der nationale Richter im Zivilverfahren das Verschulden eines Adressaten ablehnt, läuft der Bußgeldentscheidung also nicht zuwider, sondern lässt sich vielmehr damit erklären, dass das Verhalten des Adressaten im Zivilprozess nach anderen Kriterien bewertet wurde.98 b) Auswirkungen des fehlenden Gleichlaufs auf die Prüfung der Widerspruchsgefahr Kraft Bindungswirkung lässt sich folglich kein Gleichlauf zwischen bußgeldrechtlicher Adressatenstellung und zivilrechtlicher Passivlegitimation erzielen. Zwar steht trotz des Fehlens einer unmittelbaren Beteiligung am Kartellverstoß gegenüber den Adressaten der Bußgeldentscheidung die Begehung eines Kartellverstoßes verbindlich fest. Ob eine Gesellschaft, die für das wettbewerbswidrige Verhalten einer anderen Gesellschaft desselben Unternehmens im funktionalen Sinne von den Kartellbehörden zur Verantwortung gezogen wurde, im haftungsrechtlichen Sinne ein Verschulden trifft, lässt sich dem Tenor der behördlichen Entscheidung indes nicht entnehmen. Hinsichtlich der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in der hier untersuchten Konstellation des follow on-Verfahrens i.e.S. stellt sich somit die Frage, wie mit der bestehenden Unsicherheit der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit eines nicht unmittelbar am Kartellverstoß beteiligten Adressaten umzugehen ist. M.E. sollte das angerufene Gericht im Rahmen der Prüfung der Gefahr widersprechender EntPractice 3 (2012), 11, 14 ff.), lässt sich die Erstreckung der Bindungswirkung auf das Verschulden mit diesem Argument nicht sauber begründen. 97 GA Kokott, Schlussanträge v. 23.4.2009, Rs. C-97/2008 (Akzo Nobel/Kommission), Slg. 2009, I-8237, Rn. 97 f: „Verstößt [ein Unternehmen im funktionalen Sinne] vorsätzlich oder fahrlässig gegen die Wettbewerbsregeln […], so löst dies die gemeinsame persönliche Verantwortlichkeit aller seiner Rechtsträger in der Konzernstruktur aus, gleichviel, ob es sich um die Muttergesellschaft oder um eine Tochtergesellschaft handelt“. 98 Bürger, WuW 2011, 130, 138. Das LG Köln plädiert aufgrund der Unterschiede zwischen dem bußgeldrechtlichen und zivilrechtlichen Verschuldensbegriff dafür, dass hinsichtlich des Verschuldens eines Adressaten die „Bindungswirkung auf die tatbestandlichen Festlegungen der [Bußgeldentscheidung] beschränkt ist, während eine Bindung bei der Rechtsfolgenbetrachtung unterbleibt, diese vielmehr außerhalb der Bindungswirkung nach deutschem Recht erfolgt.“ (LG Köln v. 17.1. 2013, BeckRS 2013, 8412, II. 2. c) dd) (2) (b)).

266 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht scheidungen die Einheitlichkeit der den Klagen zugrundeliegenden Sach- und Rechtslage bejahen. Zwar setzt die Feststellung einer gesamtschuldnerischen Haftung der Beklagten die weitergehende Prüfung des Verschuldens in der Begründetheit voraus, wobei insbesondere die Frage zu diskutieren ist, ob die Übertragung des bußgeldrechtlichen Konzepts der wirtschaftlichen Einheit eine Zurechnung von Verschulden zwischen den Rechtsträgern eines Unternehmens im funktionalen Sinne ermöglicht.99 Für die Annahme der Gefahr widersprechender Entscheidungen ist jedoch ausreichend, dass der Kartellverstoß als Grundvoraussetzung eines kartelldeliktischen Anspruchs gegenüber allen Beklagten verbindlich feststeht. Dass die Konzentration der gegen die Adressaten der Bußgeldentscheidung erhobenen Klagen der Vermeidung widersprechender Entscheidungen dient, verdeutlicht bereits eine einfache Kontrollüberlegung: Werden die Klagen gegen mehrere am Kartellverstoß nicht unmittelbar beteiligte Muttergesellschaften in verschiedenen Mitgliedstaaten getrennt verhandelt, könnten die angerufenen Gerichte bei der schwierigen Beurteilung des Verschuldens der Beklagten zu gegensätzlichen Ergebnissen gelangen. Das paradoxe Resultat wäre, dass einige Adressaten der Bußgeldentscheidung für alle kartellbedingten Schäden als Gesamtschuldner hafteten, wohingegen andere Adressaten weder für die durch ihren noch für die durch einen anderen Konzern verursachten Schäden aufkommen müssten. Die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht also auch dann, wenn der Kläger gegen am Kartellverstoß nicht unmittelbar beteiligte Adressaten vorgeht.100 3. Streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten Haben einzelne Beklagte eines follow on-Verfahrens i.e.S. an der bebußten Kartellabsprache nicht unmittelbar mitgewirkt, besteht bei der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO weiterhin die Schwierigkeit, dass sich der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten nicht mit dem 99 Die Begründung der kartelldeliktischen Verantwortlichkeit mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit soll erst im Kontext der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO in follow on-Verfahren i.w.S. erörtert werden (siehe insbesondere S. 273 ff.). Fehlt es bei einzelnen Beklagten nämlich sowohl an der Adressatenstellung als auch an der unmittelbaren Beteiligung an dem bebußten wettbewerbswidrigen Verhalten, so stellt sich bereits beim Kartellverstoß die Frage, ob die Haftung des Beklagten auf das wettbewerbswidrige Verhalten eines anderen Rechtsträgers des Unternehmens im funktionalen Sinne gestützt werden kann. 100 Im Ergebnis auch Rechtbank Amsterdam v. 4.6.2014, C-13-500953, Rn. 2.13, abrufbar unter: .

B. Der einfache Fall: Follow on-Verfahren i.e.S.

267

direkten Zusammenwirken bei der Absprache oder Abstimmung der Kartellkonditionen begründen lässt. Handelt es sich bei den Beklagten beispielsweise um zwei Muttergesellschaften unterschiedlicher Konzerne, die von der Bußgeldentscheidung mit der Begründung adressiert wurden, dass sie einen „bestimmenden Einfluss“ auf ihre jeweilige Tochtergesellschaft beim Abschluss einer Kartellvereinbarung ausgeübt haben, so hat eine direkte Kontaktaufnahme lediglich zwischen den beiden Tochtergesellschaften stattgefunden. Bei der Inanspruchnahme der einen Muttergesellschaft am allgemeinen Gerichtsstand der anderen Muttergesellschaft wäre die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft folglich nur gewahrt, wenn die beiden Muttergesellschaften die vorprozessuale Nähebeziehung ihrer Tochtergesellschaften gegen sich gelten lassen müssten. Für die Zulässigkeit der Konzentration der Klagen spricht, dass beide Muttergesellschaften nach den Feststellungen der Bußgeldentscheidung einen „bestimmenden Einfluss“ auf ihre Tochtergesellschaften ausgeübt haben. Wenn die Mutter- und Tochtergesellschaften aufgrund ihrer engen rechtlichen und wirtschaftlichen Verflechtung aber jeweils als eine wirtschaftliche Einheit angesehen werden dürfen, ist es nur konsequent, die durch die beiden Tochtergesellschaften begründete Nähebeziehung für die Vorhersehbarkeit der Inanspruchnahme der einen Muttergesellschaft am allgemeinen Gerichtsstand der anderen Muttergesellschaft für ausreichend zu erachten. In follow on-Verfahren i.e.S. ist das Erfordernis des streitgenössischen Kontakts also auch dann erfüllt, wenn die Adressaten mangels einer unmittelbaren Beteiligung am Kartellverstoß nicht direkt miteinander zusammengewirkt haben. 4. Ergebnis Die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber am Kartellverstoß nicht unmittelbar beteiligten Adressaten ist zulässig. Das Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen ist erfüllt. Zwar lässt sich die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit eines nicht unmittelbar am Kartellverstoß beteiligten Adressaten nicht allein über die Feststellungen der Bußgeldentscheidung begründen, da sich die Bindungswirkung der Bußgeldentscheidung nur auf den Kartellverstoß nicht aber auf das Verschulden erstreckt. Weil die Begehung eines Kartellverstoßes als Grundvoraussetzung kartelldeliktischer Ansprüche jedoch gegenüber allen Adressaten verbindlich feststeht, besteht das Risiko einer divergierenden Beurteilung der übrigen Voraussetzungen der kartelldeliktischen Anspruchsgrundlagen. Das Erfordernis des streitgenössischen

268 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Kontakts zum Ankerbeklagten ist ebenfalls zu bejahen. Die Beklagten müssen nämlich das durch die anderen Gesellschaften ihres Unternehmens im funktionalen Sinne begründete Näheverhältnis gegen sich gelten lassen, auch wenn ihnen selbst keine direkte Mitwirkung an der Absprache oder Abstimmung der Kartellkonditionen vorgeworfen werden kann.

C. Die komplizierten Fälle: Einzelne Beklagte sind keine Adressaten der Bußgeldentscheidung (follow on-Verfahren i.w.S.) C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

Deutlich komplizierter als in follow on-Verfahren i.e.S. gestaltet sich die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, wenn der gemeinsamen Verhandlung Gesellschaften hinzugezogen werden, die selbst keine Adressaten der behördlichen Entscheidung sind, wenn der Kartellprozess also nur noch i.w.S. als follow on-Verfahren verstanden werden kann. I.

Problemaufriss

In der bisherigen Praxis der Konzentration kartelldeliktischer Klagen am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft bilden follow on-Verfahren i.w.S. die Regel. Für den Geschädigten eines Kartelldelikts ist die Erweiterung der Verfahrenskonzentration über den kleinen Kreis der Adressaten der Bußgeldentscheidung hinaus in verschiedenen Konstellationen attraktiv. Die Klage gegen die Muttergesellschaft eines Adressaten erlaubt die Vollstreckung in das Gesellschaftsvermögen eines solventen Schuldners zur Befriedigung hoher Schadensersatzforderungen.101 Gegen die Tochtergesellschaft eines Adressaten wird die Klage erhoben, um den unmittelbaren Vertragspartner als direkten Schadensverursacher haftbar zu machen102 oder aus prozesstaktischen Gründen, um den Kartellprozess in einer besonders klägerfreundlichen Jurisdiktion anhängig zu machen103. 101 Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 48; Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 642; Kersting, Der Konzern 2011, 445, 457. 102 Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, 233; Meeßen, Schadensersatz, 392 f. 103 Deutlich etwa Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 35: „Counsel for the Dow Defendants said that it was plain that the three Defendants domiciled in England […] had been selected as a tactical device (‘Anchor Defendants’) to establish jurisdiction. This does appear likely. No other explanation was suggested by counsel for the

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

269

Bei der Prüfung der Konnexität der Klagen bereitet die Hinzuziehung von Beklagten, die selbst nicht zu den Adressaten des Bußgeldbescheids zählen, die aber mit einem der Adressaten in einer konzernrechtlichen Verbindung stehen, Probleme. Die Hauptschwierigkeit erwächst daraus, dass sich die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit nicht adressierter Konzerngesellschaften nur mittelbar, über den Adressaten des Bußgeldbescheids, auf die Feststellungen der Kartellbehörden stützen lässt. Um die Gefahr widersprechender Entscheidungen bejahen zu können, ist daher eingehend zu erörtern, ob und in wie weit eine Gesellschaft aufgrund ihrer konzernrechtlichen Verbindung zu einem der Adressaten der Bußgeldentscheidung für die durch das Kartell verursachten Schäden belangt werden kann. Dabei kommt man um eine grundlegende Aufarbeitung der kartelldeliktischen Passivlegitimation in Konzernsachverhalten nicht umhin, da die Problematik im Kontext der in jüngerer Zeit am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft geführten Kartellprozesse erstmals virulent geworden ist. Sowohl die Aufzugskartell-Entscheidung des österreichischen OGH als auch die Entscheidungen Provimi, Cooper Tire und Toshiba der englischen Gerichte thematisieren die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Mutter- bzw. Tochtergesellschaften von Adressaten der Bußgeldentscheidung bei der Prüfung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Den Ausgangspunkt der Überlegungen der mitgliedstaatlichen Gerichte bildet dabei die im letzten Abschnitt dieser Untersuchung hergeleitete Prämisse, dass das zentrale Kriterium für die Zulässigkeit der Verfahrenskonzentration die gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten ist. II. Klage gegen Muttergesellschaften von Adressaten Die Klage gegen die Muttergesellschaft eines Adressaten der Bußgeldentscheidung ist für den Geschädigten interessant, um das Insolvenzrisiko unterkapitalisierter Tochtergesellschaften abzufedern. In internationalen Kartellprozessen stehen nämlich nicht selten hohe Streitwerte im Raum, 104 sodass der Zugriff auf das Gesellschaftsvermögen der Muttergesellschaft vonnöten sein kann, um die geltend gemachten Scha-

Claimants. However, the question for the Court is whether it is a tactic which has succeeded in establishing jurisdiction over the Dow Defendants“. 104 Im Bleichmittelverfahren vor dem LG Dortmund belaufen sich die Forderungen der Klägerin beispielsweise auf über 475 Millionen Euro, da Cartel Damages Claims die abgetretenen Ansprüche zahlloser Geschädigter gebündelt geltend macht .

270 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht densersatzforderungen in voller Höhe liquidieren zu können. 105 Die nachfolgende Untersuchung der Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft gegenüber der Muttergesellschaft eines Adressaten der Bußgeldentscheidung erörtert zunächst das Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen (dazu unter 1.), um danach auf das Erfordernis des streitgenössischen Kontakts zum Ankerbeklagten einzugehen (dazu unter 2.). 1. Gefahr widersprechender Entscheidungen Das Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen wird in zwei Schritten geprüft. Zuerst soll die Reichweite der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft im Falle eines eigenständigen Kartellverstoßes und im Falle eines Kartellverstoßes ihrer Tochtergesellschaft bestimmt werden (dazu unter a)). Anschließend wird erörtert, welche Rückschlüsse die zur haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft gewonnenen Erkenntnisse auf die Einheitlichkeit der Sach- und Rechtslage erlauben (dazu unter b)). a) Kartelldeliktische Verantwortlichkeit von Muttergesellschaften im Konzern Die kartelldeliktische Verantwortlichkeit nicht adressierter Muttergesellschaften lässt sich auf zwei verschiedene Arten begründen: Entweder der Muttergesellschaft fällt ein eigenständiger Verstoß gegen das Kartellverbot zur Last oder das wettbewerbswidrige Verhalten ihrer Tochtergesellschaft wird „von unten nach oben“ zugerechnet. aa) Eigenständiger Kartellverstoß Der Gruppe der eigenständigen Kartellverstöße sind Verhaltensweisen der Muttergesellschaft zuzuordnen, die unabhängig von dem Verhalten der Tochtergesellschaft ein wettbewerbswidriges Verhalten darstellen.106 Ein eigenständiger Kartellverstoß fällt der Muttergesellschaft insbesondere dann zur Last, wenn sie an der Absprache des Kartells un105 Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 642; Kersting, Der Konzern 2011, 445, 457; Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 48. 106 Die Betonung der Eigenständigkeit des Kartellverstoßes ist notwendig, da in der Literatur umstritten ist, ob die mithilfe der Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit konstruierte Verantwortlichkeit eine Haftung für fremdes Verhalten darstellt, oder die widerlegliche Vermutung für eine originäre Verantwortlichkeit rechtfertigt (dazu sogleich auf S. 275 f.).

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

271

mittelbar beteiligt war, da die anschließende Implementierung der Vereinbarung keine Voraussetzung der Verwirklichung des Tatbestands des Art. 101 AEUV ist.107 Die Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit bereitet in diesem Fall keine Schwierigkeiten, weil die Muttergesellschaft aufgrund der gemeinschaftlichen Begehung des Kartellverstoßes für alle durch das Kartell verursachten Schäden gesamtschuldnerisch haftet; es gilt insoweit das zur Herleitung der Gesamtschuld zwischen unmittelbar an der Kartellabsprache beteiligten Adressaten Gesagte.108 In der Praxis dürfte es freilich selten vorkommen, dass eine Muttergesellschaft, die Partei der Kartellvereinbarung ist, nicht gleichzeitig auch Adressat der behördlichen Entscheidung ist. Bei einer direkten Beteiligung an der Kartellabsprache werden die Wettbewerbsbehörden das festgesetzte Bußgeld nämlich typischerweise auch bei der Muttergesellschaft eintreiben.109 bb) Haftung für den Verstoß einer Tochtergesellschaft (Zurechnung „von unten nach oben“) Die fehlende Adressatenstellung der Muttergesellschaft deutet vielmehr darauf hin, dass lediglich die Tochtergesellschaft unmittelbar an dem bebußten wettbewerbswidrigen Verhalten beteiligt war.110 In dieser Konstellation gestaltet sich die Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit komplexer, da der Kartellverstoß der nicht adressierten Muttergesellschaft auf das Verhalten der adressierten Tochtergesellschaft gestützt werden muss. Erstmals zu Tage getreten ist das Problem der zivilrechtlichen Inanspruchnahme einer Muttergesellschaft für den Kartellverstoß ihrer Tochtergesellschaft in der unlängst ergangenen Entscheidung des österreichischen OGH zum sog. „Aufzugskartell“. 111 Nachstehend soll zuerst die Entscheidungsbegründung des OGH nachgezeichnet werden (dazu unter (1)), bevor im Anschluss das bußgeldrechtliche Konzept der wirtschaftlichen Einheit näher erläutert wird 107

Siehe nur Meeßen, Schadensersatz, 380; Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 46. 108 Siehe oben S. 247 f. 109 Vgl. Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, 233. 110 Anders als die Kommission belangen die deutschen Wettbewerbsbehörden Muttergesellschaften nicht unter Rückgriff auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit für das wettbewerbswidrige Verhalten ihrer Tochtergesellschaften (dazu schon oben S. 257). Die Kommission kann den Bußgeldbescheid auch beim Fehlen einer unmittelbaren Beteiligung auf die Muttergesellschaft ausfertigen. 111 OGH v. 14.2.2012, WuW 2012, 1251 (WuW/E KRInt 393, 400). Zu dieser Entscheidung siehe auch Koutsoukou/Pavlova, WuW 2014, 153, 158 ff.

272 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht (dazu unter (2)). Danach werden verschiedene Ansätze zur Übersetzung des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit in die Kategorien des Haftungsrechts präsentiert (dazu unter (3)), um schließlich das Verschulden der Muttergesellschaft für den Kartellverstoß ihrer Tochtergesellschaft (dazu unter (4)) und die Reichweite der gesamtschuldnerischen Haftung der Muttergesellschaft (dazu unter (5)) zu problematisieren. (1) Die Aufzugskartell-Entscheidung des OGH Das Verfahren vor dem OGH folgte der Offenlegung einer Preisabsprache für den österreichischen Markt für die Errichtung und Wartung von Aufzugsanlagen. Der Verstoß gegen Art. 81 EG (inzwischen Art. 101 AEUV) war auf Antrag der österreichischen Bundeswettbewerbsbehörde im Jahr 2007 durch das Kartellgericht festgestellt worden.112 Als Ankerbeklagte fungierte eine wegen ihrer unmittelbaren Beteiligung an der Kartellvereinbarung bebußte Tochtergesellschaft mit Sitz in Wien. Mithilfe des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO sollte dem Verfahren unter anderem die von der Entscheidung des Kartellgerichts nicht adressierte deutsche Muttergesellschaft der Ankerbeklagten hinzugezogen werden.113 Der letztinstanzlich mit der Klärung der Zuständigkeitsfrage betraute OGH knüpfte die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft daran, ob die klägerische Behauptung der Solidarhaftung der Muttergesellschaft für die durch das Kartell verursachten Schäden schlüssig war, weil in diesem Fall die Entscheidung über den einen Anspruch von der Entscheidung über die anderen Ansprüche abhinge. Da auf Grundlage der Ausführungen des Kartellgerichts aber keine Mitwirkung der Muttergesellschaft an der Kartellabsprache nachgewiesen werden konnte, stand einzig die Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit über eine Zurechnung des wettbewerbswidrigen Verhaltens der Tochtergesellschaft im Raum.114 Zu diesem Zweck griff das Gericht auf die Wertungen der EuGHEntscheidung Akzo Nobel aus dem Bußgeldrecht zurück. Dieser Rechtssache lag ein Ausgangsfall zu Grunde, in dem sich mehrere Tochter112

OGH v. 8.10.2008, WuW 2009, 121 (WuW/E KRInt 231). Die Entscheidung der Kommission zum sog. „Aufzugskartell“ betraf lediglich die Beeinträchtigung der Märkte in Deutschland, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden (KomE v. 21.2. 2007, COMP 38.823 (Elevators and escalators), ABl.EU 2008 C 75/19). 113 Genau genommen stand die Ankerbeklagte im Eigentum einer BeteiligungsGmbH, die wiederum im alleinigen Eigentum einer GmbH&Co.KG stand, deren Kommanditistin die Zweitbeklagte und deren Komplementärin eine im Eigentum der Zweitbeklagten stehende GmbH war. 114 OGH v. 14.2.2012, WuW 2012, 1251, 1258 f. (WuW/E KRInt 393, 400 f.).

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

273

gesellschaften des Akzo Nobel-Konzerns an einer Kartellabsprache über bestimmte wasserlösliche Vitamine beteiligt hatten, woraufhin die Kommission die Muttergesellschaft Akzo Nobel NV mit einem Bußgeld belegt hatte. 115 Der EuGH billigte die Praxis der Kommission mit der Begründung, dass die Muttergesellschaft aufgrund ihrer 100%igen Kapitalbeteiligung vermutlich einen „bestimmenden Einfluss“ auf die Geschäftspolitik ihrer Tochtergesellschaft ausgeübt hatte. 116 In Übertragung dieser Wertungen auf das Kartelldeliktsrecht erkannte der OGH die klägerische Behauptung für plausibel, dass die Muttergesellschaft im Rahmen einer gesamteuropäischen Strategie maßgebenden Einfluss auf die Geschäftsführung der Ankerbeklagten zur Schaffung und Aufrechterhaltung des Preiskartells in Österreich ausgeübt hat. Da die deutsche Muttergesellschaft für die in Österreich verursachten Schäden des Kartells somit als Gesamtschuldnerin haftete, bestünde zwischen der Ankerund der Annexklage die Konnexität i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO.117 (2) Das Konzept der wirtschaftlichen Einheit aus dem Bußgeldrecht Der Rückgriff des OGH auf die Wertungen des europäischen Bußgeldrechts zur Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der nicht adressierten Muttergesellschaft verdient Zustimmung. Ob eine Gesellschaft den Tatbestand des Art. 101 AEUV verwirklicht hat, bildet die einheitliche Vorfrage aller bußgeld- und zivilrechtlichen Sanktionen. 118 In beiden Rechtsgebieten stellt sich die Herausforderung, dass nach dem funktionalen Unternehmensbegriff der europäischen Kartellrechtspraxis ein aus mehreren Gesellschaften bestehender Unternehmensverbund Adressat der Verbotstatbestände der Art. 101, 102 AEUV sein kann, wohingegen das nationale Recht sowohl die bußgeldrechtliche Adressatenstellung als auch die zivilrechtliche Passivlegitimation auf einzelne parteifähige Rechtssubjekte herunterbrechen muss. 119 Im Bußgeldrecht wie im Kartelldeliktsrecht gilt es dabei zu verhindern, dass sich Konzerne ihrer Pflicht zur Beachtung der Wettbewerbsregeln durch 115

EuGH v. 10.9.2009, Rs. 97/2008 (Akzo Nobel u.a./Kommission), Slg. 2009, I-

8237. 116 EuGH v. 10.9.2009, Rs. 97/2008 (Akzo Nobel u.a./Kommission), Slg. 2009, I8237, Rn. 60. 117 OGH v. 14.2.2012, WuW 2012, 1251, 1259 (WuW/E KRInt 393, 401). 118 Pohlmann, Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht, 354 f.; Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, 231 f.; Meeßen, Schadensersatz, 388 f.; ähnlich GA Kokott, Schlussanträge v. 31.1.2014, Rs. C-557/2012 (Kone u.a.), noch nicht in amtl. Slg., Rn. 24. 119 Vgl. Meeßen, Schadensersatz, 380.

274 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht gesellschaftsrechtliche Konstrukte entziehen, dass also das Kartellverbot durch die Funktionsaufteilung innerhalb des Konzerns umgangen wird.120 Die vom OGH herangezogene Entscheidung Akzo Nobel bestätigt die gefestigte Rechtsprechungslinie des EuGH, wonach es für die Anwendung der europäischen Kartellrechtsnormen „mehr auf die Einheit des Marktverhaltens von Tochtergesellschaft und Muttergesellschaft als auf die sich aus der Verschiedenheit der Rechtspersönlichkeit ergebende formelle Trennung zwischen diesen Gesellschaften an[kommt].“121 Eine am Kartellverstoß ihrer Tochtergesellschaft nicht unmittelbar beteiligte Muttergesellschaft kann danach zum Adressat der Bußgeldentscheidung werden, wenn „diese Tochtergesellschaft ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Verbundenheit dieser beiden Rechtssubjekte, […] [da] in einem solchen Fall die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit sind und damit ein Unternehmen im Sinne der Rechtsprechung bilden.“ 122 Der die wirtschaftliche Einheit begründende „bestimmende Einfluss“ der Muttergesellschaft wird bei einer 100%igen Kapitalbeteiligung an der Tochtergesellschaft widerleglich vermutet und zwar ohne dass die Darlegung weiterer Umstände erforderlich wäre. 123 In mehrstufigen Konzernstrukturen gilt dieselbe Vermutung gegenüber der Großmuttergesell120 Ackermann, ZWeR 2010, 329, 346; Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, 232; Pohlmann, Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht, 373; Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privatund Wirtschaftsrecht, 27, 46. 121 Grundlegend EuGH v. 14.7.1972, Rs. C-52/1969 (J. R. Geigy/Kommission), Slg. 1972, 787, Rn. 13. 122 Sehr klar jüngst EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-499/11 P (The Dow Chemical Company u.a./Kommission), Beck RS 2013, 81520; siehe auch EuGH v. 10.9.2009, Rs. C-97/2008 (Akzo Nobel u.a./Kommission), Slg. 2009, I-8237, Rn. 58 f; EuGH v. 28.6.2005, verb. Rs. C-189/2002 P, C-202/2002 P, C-205/2002 P bis C-208/2002 P und C-213/2002 P (Dansk Rørindustri u.a./Kommission), Slg. 2005, I-5425, Rn. 117; EuGH v. 2.10.2003, Rs. C-196/1999 P (Siderúrgica Aristrain Madrid/Kommission), Slg. 2003, I-11005, Rn. 96. 123 EuGH v. 10.9.2009, Rs. C-97/2008 (Akzo Nobel u.a./Kommission), Slg. 2009, I-8237, Rn. 60 ff. Die Notwendigkeit der Haftungserweiterung mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit erkennen auch Ackermann, ZWeR 2010, 329, 343 ff.; Kersting, Der Konzern 2011, 445, 448 ff.; Kokott/Dittert, WuW 2012, 670 ff. Kritisch hingegen Bosch, ZHR 177 (2013), 454, 458 ff.; Kling, WRP 2010, 506, 510 ff.; Leupold, ECLR 34 (2013), 570, 578 ff.; Koppensteiner, GPR 2010, 92 ff.; Riesenkampff/Krauthausen, ECLR 31 (2010), 38 ff.; Thomas, Journal of European Competition Law & Practice 3 (2012), 11, 13 ff.

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

275

schaft, die über eine Zwischengesellschaft die 100%ige Kapitalbeteiligung an der Enkelin hält. 124 Aus der Übertragung der Wertungen der Akzo Nobel-Entscheidung in das Kartelldeliktsrecht folgt also, dass eine an der Kartellvereinbarung nicht unmittelbar beteiligte Muttergesellschaft für die aus dem wettbewerbswidrigen Verhalten ihrer Tochtergesellschaft resultierenden Schäden gesamtschuldnerisch haftet. (3) Übersetzung des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit in die Kategorien des Haftungsrechts Problematisch an der Übertragung der Wertungen der Akzo NobelEntscheidung in das Zivilrecht ist allerdings, dass nach dem gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip allein die Tochtergesellschaft für die Verbindlichkeiten aus ihren deliktischen Verhalten haftet, wohingegen ein haftungsrechtlicher Durchgriff auf die Muttergesellschaft als die dahinter stehende Eigentümerin nur in sehr engen Grenzen zulässig ist.125 Die Entscheidung des OGH thematisiert leider nicht, ob zur Begründung der Haftung der Muttergesellschaft für den Kartellverstoß ihrer Tochtergesellschaft das Trennungsprinzip schlicht durchbrochen wird, oder ob eine Übersetzung der Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit in die Kategorien des Haftungsrechts i.S.e. Zurechnung von Verhaltensunrecht erfolgt. Die Notwendigkeit einer eigenständigen Konstruktion der Haftungserweiterung wird im Ausgangspunkt durch das Verständnis von der dogmatischen Qualität der wirtschaftlichen Einheit bedingt. Die hierzu in der Literatur und Rechtsprechung vertretenen Ansätze lassen sich an Hand einer Gegenüberstellung zweier Aussagen kategorisieren, die allerdings im Kontext der Haftung einer gutgläubigen Tochtergesellschaft für den Kartellverstoß ihrer Mutter getroffen wurden.126 Für den bloßen Rückgriff auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit und damit gegen die Notwendigkeit einer Zurechnung von Verhaltensunrecht von dem einen auf den anderen Rechtsträger spricht sich Aikens J in der Entscheidung Provimi des englischen High Court aus:127 „The EU competition law concept of an ‘undertaking’ is that it is one economic unit. The legal entities that are a part of the one undertaking, by definition of the concept,

124

EuGH v. 20.1.2011, Rs. C-90/2009 P (General Química u.a./Kommission), BeckEuRS 2011, 555934, Rn. 86. 125 Sehr klar Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 48. 126 Dazu ausführlich noch auf S. 287 ff. 127 Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 31.

276 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht have no independence of mind or action or will. They are to be regarded as all one. […] There is no question of having to ‘impute’ the knowledge or will of one entity to another, because they are one and the same.“

Dem entgegnet Bulst in seiner Besprechung der Entscheidung:128 „[T]he Court claimed that it did not impute knowledge, but by stating that being part of an undertaking carried the consequence of knowledge, the Court did exactly what it denied doing. The basis of this utilisation of an ‘undertaking’ as a vehicle for imputing knowledge remains unclear.“

Im Kern lässt sich das hier zu erörternde Problem also auf die Frage zuspitzen, ob aus der Übertragung der bußgeldrechtlichen EuGHRechtsprechung in das Kartelldeliktsrecht folgt, dass die wirtschaftliche Einheit als Ganzes gleichsam ohne „Zwischenschritte“ auch kartelldeliktisch verantwortlich ist, oder ob die Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der einzelnen Rechtsträger innerhalb der wirtschaftlichen Einheit noch der Konstruktion mit zivilrechtlichen Instrumenten bedarf. Ähnlich wie Aikens J begreifen einige Stellungnahmen aus dem deutschen Schrifttum die wirtschaftliche Einheit als eigenständiges zivilrechtliches Haftungssubjekt;129 die fehlende Qualität als Rechtspersönlichkeit soll etwa dadurch überwunden werden, dass die wirtschaftliche Einheit im Außenverhältnis als Personenhandelsgesellschaft begriffen wird.130 Andere Stimmen betonen wie Bulst die Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Rechtsträger und betrachten die Haftung für den Kartellverstoß einer anderen Gesellschaft dementsprechend als Zurechnung von Verhaltensunrecht. 131 Eine dritte Gruppe von Autoren arbeitet in der – ebenfalls von Bulst angesprochenen – Ermangelung einer Zurechnungsnorm 132 mit Vermutungsregeln, um darüber eine originäre Verhaltensverantwortlichkeit der Muttergesellschaft zu begründen.133 128

Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 638. Howard/Rose/Roth, in: Roth/Rose (Hg.), Bellamy & Child: European Community Law of Competition, Rn. 14.117; Kersting, Der Konzern 2011, 445, 457 f. 130 Kersting, Der Konzern 2011, 445, 457 f. 131 Maier, Marktortanknüpfung, 185 ff., die die Übertragung des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit letztlich jedoch ablehnt. Vgl. auch Pohlmann, Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht, 372 f; Steinle, EWS 2004, 118, 121 f (beide zum Bußgeldrecht). 132 Aus der bußgeldrechtlichen Literatur vgl. Thomas, Unternehmensverantwortlichkeit, 135 ff., der die in Betracht kommenden gesetzlichen Grundlagen der Zurechnung ausführlich diskutiert und letztlich keine der Normen für geeignet erachtet. 133 Scheidtmann, WRP 2010, 499, 503 f.; Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 48 f; vgl. auch Kling, WRP 2010, 506, 518 (zum Bußgeldrecht). Nach der hier verwendeten Terminologie 129

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

277

M.E. lässt sich die zivilrechtliche Haftung für den Kartellverstoß eines anderen Rechtsträgers der wirtschaftlichen Einheit dogmatisch nur über die Konstruktion einer Zurechnung von Verhaltensunrecht rechtfertigen. Dass die wirtschaftliche Einheit als eigenständiges Haftungssubjekt auch kartelldeliktisch verantwortlich sein soll, begründet einen zu deutlichen Widerspruch zu dem gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip. 134 Die Annahme einer originären Verhaltensverantwortlichkeit steht zwar mit dem Trennungsprinzip besser in Einklang, stößt jedoch an ihre Grenzen, sobald nicht mehr die Mutter- für den Kartellverstoß ihrer Tochtergesellschaft, sondern die Tochter- für den Kartellverstoß ihrer Muttergesellschaft in Anspruch genommen werden soll, da die Vermutung des eigenständigen Kartellverstoßes an die Ausübung eines bestimmenden Einflusses anknüpft.135 Die Lösung über die Zurechnung des Verhaltens innerhalb der wirtschaftlichen Einheit kann zwar nicht mit einer ausdrücklich normierten gesetzlichen Grundlage aufwarten. Die Zurechnung lässt sich jedoch auf den Zweck des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit stützen, dass es im Bußgeldrecht wie im Kartelldeliktsrecht die Umgehung des EU-Kartellverbots durch gesellschaftsrechtliche Konstrukte zu verhindern gilt. (4) Zurechnung des Verschuldens? Die Anspruchsgrundlagen der nationalen Haftungsrechte verlangen für das Bestehen eines kartelldeliktischen Schadensersatzanspruchs teilweise zudem, dass der Verstoß gegen das Kartellverbot auch schuldhaft begangen wurde. 136 Wenngleich die Rechtsprechung des EuGH noch nicht abschließend geklärt hat, ob die deliktische Haftung für einen handelt es sich dabei nicht um einen „eigenständigen“ Kartellverstoß, da das Verhalten der Muttergesellschaft nicht unabhängig von dem Verhalten der Tochtergesellschaft begründet wird. 134 Die einzelnen Rechtsträger der wirtschaftlichen Einheit als Gesellschafter einer Personenhandelsgesellschaft zu verstehen (so Kersting, Der Konzern 2011, 445, 457 f.), wäre aber ein möglicher Erklärungsansatz um die Subjektsqualität der wirtschaftlichen Einheit mit dem Trennungsprinzip zu vereinbaren. 135 Kersting, Der Konzern 2011, 445, 457. Zur Zurechnung „von oben nach unten“ eingehend noch auf S. 287 ff. 136 Siehe etwa § 33 Abs. 3 S. 1 GWB: „Wer einen Verstoß nach Absatz 1 vorsätzlich oder fahrlässig begeht, ist zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.“ Eingehend zum Verschuldenserfordernis im deutschen, englischen und französischen Recht Meeßen, Schadensersatz, 346 ff. Siehe auch Vrcek, in: Foer/ Cuneo (Hg.), International Handbook on Private Enforcement, 277, 283 f.; Howard/ Rose/Roth, in: Roth/Rose (Hg.), Bellamy & Child: European Community Law of Competition, Rn. 14.118 ff.

278 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Kartellverstoß an ein Verschuldenserfordernis im nationalen Recht gekoppelt werden kann, sprechen die Entscheidungen Courage 137 und Manfredi138 dafür, dass der Effektivitätsgrundsatz gegen die einzelstaatliche Statuierung der verschuldensabhängigen Haftung nicht in Anschlag gebracht werden kann.139 An die Zurechnung 140 des Kartellverstoßes schließt sich somit die Frage an, ob mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit auch eine Zurechnung von Verschulden begründet werden kann. Die bußgeldrechtliche Literatur differenziert bisweilen zwischen der Zurechnung von Verhalten und der Zurechnung von Verschulden. Im strafrechtsähnlichen Bußgeldverfahren spreche die Unschuldsvermutung dafür, die Zurechnung innerhalb der wirtschaftlichen Einheit auf das den Kartellverstoß begründende Verhalten zu beschränken.141 Nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortung könne eine Gesellschaft nicht für fremdes, sondern lediglich für eigenes Verschulden belangt werden. 142 Die Unschuldsvermutung steht der Begründung der deliktischen Verantwortlichkeit mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit jedoch nicht entgegen, da der Zivilprozess nicht vom Grundsatz in dubio pro reo geleitet wird.143 Auch ist die Zurechnung des Verschuldens innerhalb der wirtschaftlichen Einheit nicht von vornherein ausgeschlossen, nur weil das Verschulden nicht zu den Tatbestandsmerkmalen der Art. 101, 102 AEUV zählt.144 Ließe man die Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit eines am Kartellverstoß nicht unmittelbar beteiligten 137

EuGH v. 20.9.2001, Rs. C-453/1999 (Courage/Crehan), Slg. 2001, I-6297. EuGH v. 13.7.2006, verb. Rs. C-295/2004 bis 298/2004 (Manfredi/Lloyd Adriatico Assicurazioni), Slg. 2006, I-6619. 139 Siehe bereits oben S. 262 f. 140 Die Verwendung des Begriffs der Zurechnung bringt die hier vertretene Auffassung zur Übertragung des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit ins Zivilrecht zum Ausdruck. 141 Siehe nur Pohlmann, Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht, 363. 142 Bosch, ZHR 177 (2013), 454, 458 f.; Koppensteiner, GPR 2010, 92, 93; Leupold, ECLR 34 (2013), 570, 579 f.; Pohlmann, Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht, 363; Thomas, Journal of European Competition Law & Practice 3 (2012), 11, 17 f. A.A. GA Kokott, Schlussanträge v. 23.4.2009, Rs. C97/2008 (Akzo Nobel/Kommission), Slg. 2009, I-8237, Rn. 97 f.; Ackermann, ZWeR 2010, 329, 346 ff.; Kersting, Der Konzern 2011, 445, 451 f.; Kokott/Dittert, WuW 2012, 670, 675 f., die in der Haftungserweiterung keinen Verstoß gegen den Grundsatz der persönlichen Verantwortung erblicken, da der wirtschaftlichen Einheit als Ganzes ein Verschulden zur Last fällt. 143 Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 48. 144 Meeßen, Schadensersatzanspruch, 395. 138

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

279

Rechtsträgers nämlich letztlich am Verschuldenserfordernis scheitern, würde der Zweck der Zurechnung des Kartellverstoßes, die haftungsrechtliche Bevorteilung von Konzernen gegenüber Einheitsunternehmen zu verhindern, rücklings wieder vereitelt. Die ratio des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit gebietet also, nicht bei der Zurechnung von Verhalten Halt zu machen, sondern das Verschulden der gegen das Kartellverbot verstoßenden Gesellschaft innerhalb der wirtschaftlichen Einheit ebenfalls zuzurechnen.145 (5) Reichweite der Haftung Zur Beurteilung der Auswirkungen der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft auf die Widerspruchsgefahr i.S.d. Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gilt es zudem eine Frage zu beantworten, die in der noch jungen Diskussion um die zivilrechtliche Passivlegitimation an kartelldeliktischen Ansprüchen in Konzernsachverhalten bislang keine Beachtung gefunden hat. Es bleibt zu klären, welche kartellbedingten Schäden von der mithilfe der Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit begründeten gesamtschuldnerischen Haftung überhaupt erfasst sind. Dass die Reichweite der gesamtschuldnerischen Haftung am Kartellverstoß nicht unmittelbar beteiligter Gesellschaften im Kartelldeliktsrecht bisher nicht erörtert wurde, erstaunt vor allem deshalb, weil an diesem Punkt ein ganz wesentlicher Unterschied zum Bußgeldrecht besteht: Während die gesamtschuldnerische Haftung der Adressaten einer behördlichen Entscheidung zweifelsohne auf die vom eigenen Konzern zu entrichtenden Geldbuße begrenzt ist,146 haften die Gegner eines deliktischen Schadensersatzanspruchs grundsätzlich für alle kartellbedingten Schäden, d.h. auch diejenigen, die durch das Umsetzungsverhalten von Gesellschaften anderer Konzerne verursacht wurden. M.E. gilt es daher zu diskutieren, ob die Haftungserweiterung der Rechtsträger einer wirtschaftlichen Einheit nicht auf Schäden zu begrenzen ist, die von eben dieser wirtschaftlichen Einheit selbst verursacht worden sind. Im hier interessierenden Kontext ist also zu erörtern, ob eine Muttergesellschaft, die an der Absprache und Umsetzung des Kartells nicht beteiligt war, deren 100%ige Tochtergesellschaft aber die entsprechenden Handlungen vor-

145

Meeßen, Schadensersatzanspruch, 395. Siehe etwa die Entscheidung der KomE v. 16.12.2003, COMP/E/38.240 (Industrial Tubes), ABl.EU 2004 L 125/50. Kritisch zur gesamtschuldnerischen Haftung auf Bußgelder der Kartellbehörden Thomas, FS Möschel 2011, 675 ff.; Thomas, Journal of European Competition Law & Practice 3 (2012), 11, 21 ff. 146

280 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht genommen hat, als Gesamtschuldnerin für alle oder nur für die von der Tochtergesellschaft verursachten Schäden haftet. Wie jede Zurechnung muss auch die Erweiterung der kartellrechtlichen Verantwortlichkeit im Konzern auf einen legitimen Zweck beruhen, da die Inanspruchnahme der nicht unmittelbar gegen das Kartellverbot verstoßenden Gesellschaft andernfalls willkürlich geschähe.147 Der Zweck des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit ist ganz allgemein, die Umgehung des Art. 101 AEUV durch gesellschaftsrechtliche Konstrukte zu verhindern und damit die ratio legis des Kartellverbots zu gewährleisten. 148 Durch die Übertragung des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit in das Kartelldeliktsrecht soll sichergestellt werden, dass Schadensersatzklagen gegen Konzerngesellschaften nicht mit größeren Risiken behaftet sind, als entsprechende Klagen gegen Einheitsunternehmen. 149 Bei der Haftung der Muttergesellschaft für Kartellverstöße ihrer Tochtergesellschaft geht es insbesondere darum, dem zum Schadensersatz Berechtigten einen solventen Schuldner zur Verfügung zu stellen, indem die Auslagerung kartellrechtlicher Haftungsgefahren auf gering kapitalisierte Töchter verunmöglicht wird.150 Vor diesem Hintergrund ließe sich zwar argumentieren, der Zweck der Zurechnung sei durch die gesamtschuldnerische Haftung der Muttergesellschaft für die von ihrer Tochtergesellschaft verursachten Schäden bereits erreicht, da die Funktionsaufteilung im Konzern nicht mehr zu einer Umgehung des Kartellverbots genutzt werden könne. Dem Kläger würde die Begrenzung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft jedoch die Durchsetzung seiner Ansprüche wesentlich erschweren. Im theoretischen Extremfall, dass die am Kartell beteiligten Konzerne zum Abschluss der Kartellvereinbarung ausschließlich unterkapitalisierte Tochtergesellschaften eingesetzt haben, müsste der Geschädigte nämlich im Einzelnen darlegen, welche wirtschaftliche Einheit (und damit welche Muttergesellschaft) für welche kartellbedingten Schäden haftet. Die Anordnung des Entstehens der Gesamtschuld zwischen gemeinschaftlich handelnden Deliktstätern verfolgt aber gerade den Zweck, die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen 147 Allgemein zur Legitimation der Zurechnung im Zivilrecht Schüler, Wissenszurechnung im Konzern, 29 f. m. w. Nachw. 148 Pohlmann, Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht, 373. 149 Meeßen, Schadensersatz, 395 (bezogen auf Schadensersatzklagen gegen Tochtergesellschaften). 150 Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 642; Kersting, Der Konzern 2011, 445, 457; Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 46.

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

281

nicht durch die Notwendigkeit einer Zuordnung der unterschiedlichen Schäden zu den jeweiligen Tätern zu benachteiligen.151 Will man durch den Rückgriff auf die Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit erreichen, dass dem Inhaber eines kartelldeliktischen Anspruchs ein solventer Schuldner zur Verfügung steht, ist die Haftung der Muttergesellschaft folglich auch auf die von anderen wirtschaftlichen Einheiten verursachten Schäden zu erstrecken. cc) Fazit Keine dogmatischen Schwierigkeiten bereitet die Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit einer Muttergesellschaft, die an der Absprache des Kartells selbst beteiligt waren, da der eigenständige Verstoß gegen das Kartellverbot die gesamtschuldnerische Haftung für alle kartellbedingten Schäden auslöst. Problematisch gestaltet sich demgegenüber die Begründung der Haftung einer am Kartellverstoß nicht unmittelbar beteiligten Muttergesellschaft für das wettbewerbswidrige Verhalten ihrer Tochtergesellschaft. Hierzu bleibt festzuhalten, dass, erstens, das Konzept der wirtschaftlichen Einheit aus dem Bußgeldrecht in das Kartelldeliktsrecht zu übertragen ist, um die Zurechnung des Kartellverstoßes „von unten nach oben“ zu ermöglichen, zweitens, auch für die Zurechnung des Verschuldens der Tochtergesellschaft auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit zurückgegriffen werden darf und drittens, sich die Reichweite der gesamtschuldnerischen Haftung einer nicht unmittelbar am Kartell beteiligten Muttergesellschaft auf alle durch das Kartell verursachten Schäden erstreckt. b) Auswirkungen auf die Prüfung der Widerspruchsgefahr Die gemeinsame Verhandlung kartelldeliktischer Klagen dient der Vermeidung widersprechender Entscheidungen, soweit die Beklagten eine gemeinsame haftungsrechtliche Verantwortlichkeit für die durch das Kartell verursachten Schäden trifft, da in diesem Fall die Identität der den Klagen zugrundeliegenden Sach- und Rechtslage garantiert ist.152 Hat die nicht adressierte Muttergesellschaft durch die Mitwirkung an der Kartellabsprache selbst einen eigenständigen Kartellverstoß begangen, steht der umfassenden Verfahrenskonzentration mit allen übrigen

151 Sehr klar von Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. 1, Rn. 318: „Aufgabe des Deliktsrechts ist es, strenggenommen, nur, das Opfer nicht darunter leiden zu lassen, daß für seinen Schaden mehrere Personen verantwortlich sind“. 152 Siehe oben S. 251 ff.

282 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Kartellmitgliedern nichts entgegen. Die Identität der Sach- und Rechtslage ergibt sich im Verhältnis zu allen Klagen aus der gesamtschuldnerischen Haftung für alle kartellbedingten Schäden und zwar unabhängig davon, ob die nicht adressierte Muttergesellschaft als Ankeroder Annexbeklagte in Anspruch genommen wird. Nichts anderes gilt im Ergebnis bei der Inanspruchnahme einer nicht adressierten Muttergesellschaft für das wettbewerbswidrige Verhalten ihrer Tochtergesellschaft. Wenngleich zur Begründung der kartelldeliktischen Verantwortlichkeit auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit zurückgegriffen werden muss, beruht die gegen die nicht adressierte Muttergesellschaft gerichtete Klage mit den übrigen Klagen, d.h. mit der Klage gegen ihre Tochtergesellschaft sowie mit den Klagen gegen die anderen Adressaten der Bußgeldentscheidung, auf einer identischen Sach- und Rechtslage. Für das Bestehen der Gefahr widersprechender Entscheidungen ist folglich irrelevant, ob die nicht adressierte Muttergesellschaft wie in der Aufzugskartell-Entscheidung der gemeinsamen Verhandlung als Annexbeklagte hinzugezogen wird oder ob das Verfahren am Sitz der nicht adressierten Muttergesellschaft verankert wird.153 Bei der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Muttergesellschaften von Adressaten der Bußgeldentscheidung ist das Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen mithin erfüllt. 2. Streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten Voraussetzung der Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft ist weiterhin, dass der Anker- und der Annexbeklagte vor dem Prozess in einen streitgenössischen Kontakt getreten sind. Das angerufene Gericht muss durch eine eigenständige Prüfung feststellen, ob das annexbeklagte Kartellmitglied mit dem ankerbeklagten Kartellmitglied in Hinblick auf das wettbewerbswidrige Verhalten bewusst in Kontakt getreten ist und dabei Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis vom Sitz des ankerbeklagten Kartellmitglieds hatte.154

153 Im Aufzugskartell-Fall wurde die Ankerklage gegen die Tochtergesellschaft erhoben, sodass im Rahmen der Prüfung der Gefahr widersprechender Entscheidungen nur das haftungsrechtliche Verhältnis von Mutter-/Tochtergesellschaft relevant war. Die gemeinsame Haftung mit anderen Kartellmitgliedern erlangt Bedeutung, wenn die Muttergesellschaft am Sitz eines anderen Adressaten der Bußgeldentscheidung verklagt wird oder wenn die Muttergesellschaft selbst als Ankerbeklagte fungiert. 154 Vgl. die allgemeine Definition des streitgenössischen Kontakts auf S. 79 f.

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

283

Keine Schwierigkeiten bereitet die Prüfung des streitgenössischen Kontakts, wenn der nicht adressierten Muttergesellschaft ein eigenständiger Kartellverstoß zur Last fällt. Die unmittelbar an einem Kartellverstoß beteiligten Gesellschaften müssen aufgrund ihres gemeinschaftlichen Zusammenwirkens nämlich damit rechnen, dass über die aus dem Kartellverstoß resultierenden Schadensersatzansprüche am allgemeinen Gerichtsstand eines ihrer Mitstreiter verhandelt wird. 155 Problematisch gestaltet sich die Beurteilung des streitgenössischen Kontakts dagegen, wenn die nicht adressierte Muttergesellschaft lediglich für das wettbewerbswidrige Verhalten ihrer adressierten Tochtergesellschaft zur Verantwortung gezogen wird. Eine direkte Nähebeziehung besteht in dieser Konstellation zum einen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft, da beide Gesellschaften in einem gesellschaftsrechtlichen Subordinationsverhältnis stehen,156 und zum anderen zwischen der Tochtergesellschaft und den übrigen Adressaten, da diese Gesellschaften bei der Verwirklichung des Kartellverstoßes unmittelbar in Kontakt getreten sind.157 Nicht ohne weiteres begründen lässt sich der streitgenössische Kontakt jedoch zwischen der nicht adressierten Muttergesellschaft und den aus ihrer Sicht „konzernexternen“ Adressaten der Bußgeldentscheidung, da weder eine konzernrechtliche Verbindung besteht, noch ein direktes Zusammenwirken zur Absprache oder Abstimmung von Kartellkonditionen stattgefunden hat. Für das Bestehen des streitgenössischen Kontakts ist deshalb entscheidend, ob die Muttergesellschaft die Nähebeziehung ihrer Tochtergesellschaft zu den übrigen Adressaten der Bußgeldentscheidung gegen sich gelten lassen muss. Für die Zurechnung des streitgenössischen Kontakts „von unten nach oben“ spricht, dass die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Muttergesellschaften mit der Ausübung eines „bestimmenden Einflusses“ auf ihre Tochtergesellschaften begründet wurde. Wenn die beiden Gesellschaften aber aufgrund ihrer engen rechtlichen und wirtschaftlichen Verflechtung eine wirtschaftliche Einheit bilden, muss sich die Muttergesellschaft die von der Tochtergesellschaft begründete Nähebeziehung konsequenterweise ebenfalls „von unten nach oben“ zurechnen lassen. Das Erfordernis des streitgenössischen Kontakts ist also erfüllt, obgleich die Muttergesell-

155

Mankowski, WuW 2012, 947, 949. Zum streitgenössischen Kontakt im klassischen Unterordnungskonzern bereits oben S. 222 ff. 157 Vorausgesetzt die übrigen Adressaten wurden von den Kartellbehörden für ihre unmittelbare Beteiligung an einem Kartellverstoß zur Verantwortung gezogen. 156

284 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht schaft mit den „konzernexternen“ Adressaten der Bußgeldentscheidung nicht direkt zusammengewirkt hat. 3. Ergebnis zur Klage gegen Muttergesellschaften In Hinblick auf die Klage gegen die Muttergesellschaft eines Adressaten präsentieren sich die Voraussetzungen des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wie folgt: Die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht, da Muttergesellschaften von Adressaten gesamtschuldnerisch für alle durch das Kartell verursachten Schäden haften und zwar unabhängig davon, ob die kartelldeliktische Verantwortlichkeit auf einen eigenständigen Kartellverstoß oder den Kartellverstoß der Tochtergesellschaft gestützt wird. Somit beruht die gegen die Muttergesellschaft gerichtete Klage sowohl mit der Klage gegen ihre Tochtergesellschaft als auch mit den Klagen gegen die übrigen Adressaten der Bußgeldentscheidung auf einer identischen Sach- und Rechtslage. Auch der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten ist gegeben. Fällt der nicht adressierten Muttergesellschaft ein eigenständiger Kartellverstoß zur Last, gewährleistet das gemeinschaftliche Zusammenwirken bei der Begehung des Kartellverstoßes die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft. Wird die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft dagegen mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit begründet, muss die Muttergesellschaft im Verhältnis zu den konzernexternen Adressaten der Bußgeldentscheidung das durch ihre Tochtergesellschaft begründete Näheverhältnis gegen sich gelten lassen. Die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber der Muttergesellschaft eines Adressaten der Bußgeldentscheidung ist somit zulässig. III. Klage gegen Tochtergesellschaften von Adressaten Internationalen Kartellprozessen am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft werden nicht nur Mutter- sondern auch Tochtergesellschaften von Adressaten der Bußgeldentscheidung hinzugezogen. Die Klageerhebung am Sitz einer nicht adressierten Tochtergesellschaft erlaubt in erster Linie die Konzentration des Kartellprozesses in einer Jurisdiktion, die für die Durchsetzung kartelldeliktischer Ansprüche ein besonders attraktives Verfahrens- oder Sachrecht bereithält. 158 Insbesondere wenn der 158

Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 35; Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 62, 78 f.; Danov, in: Danov/Becker/Beaumont (Hg.), Cross-Border EU Competition Law Actions, 167, 195 f.; Pietrini, L’action collective, Rn. 697; vgl. auch Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 6 EuGVVO, Rn. 36.

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

285

Konzern einer adressierten Muttergesellschaft die kartellierte Ware über ein europaweites Netz von Vertriebsgesellschaften absetzt, bieten sich dem Kläger beinahe grenzenlose Möglichkeiten zum forum shopping, da mit der Anzahl der potentiellen Streitgenossen auch die Anzahl der zur Auswahl stehenden Sitzgerichte steigt. Treffen z.B. fünf Muttergesellschaften unterschiedlicher europäischer Konzerne eine Kartellvereinbarung, die in der Folge durch jeweils fünf Vertriebsgesellschaften in verschiedenen Mitgliedstaaten implementiert wird, eröffnete die uneingeschränkte Zulässigkeit der Verfahrenskonzentration am Sitz einer jeden Konzerngesellschaft dem Kläger bis zu 30 unterschiedliche Zuständigkeiten.159 In der Literatur wird aus diesem Grund die Besorgnis geäußert, dass „jeder Beklagte damit rechnen müsse, für sämtliche Liefergeschäfte der übrigen Kartellbeteiligten […] in jedem Staat vollumfänglich gerichtspflichtig zu sein, in dem auch nur ein Kartellbeteiligter (oder dessen Tochtergesellschaft) seinen Sitz hat“. 160 Eine solche „Ubiquität“ des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO müsse bekämpft werden, indem die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft an zusätzliche Voraussetzungen, wie etwa einen qualifizierten Beitrag des Ankerbeklagten an der Verursachung der Schäden des Klägers, geknüpft wird.161 Andere Stimmen des Schrifttums behaupten hingegen, der gemeinsame Abschluss der Kartellvereinbarung gehe unweigerlich einher mit einer umfassenden Gerichtspflicht der einen Partei am Sitz einer jeden Tochtergesellschaft einer anderen Partei, sodass Probleme mit dem Gebot der Vorhersehbarkeit oder dem Beklagtenschutz nicht ersichtlich seien.162 M.E. gilt es zunächst zu überprüfen, ob die Erweiterung eines Kartellprozesses um die nicht adressierten Tochtergesellschaften von Adressaten der Bußgeldentscheidung tatsächlich zu einer Multiplikation der Gerichtsstände führt. Legt man der Untersuchung die hier vertretene Prämisse zugrunde, dass die Gefahr widersprechender Entscheidungen erst durch die gemeinsame Haftung der Streitgenossen für dasselbe Umsetzungsverhalten ausgelöst wird, könnte sich die beschriebene Problematik der „Ubiquität“ des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft nämlich bereits wesentlich entschärfen. In einem ersten Schritt soll daher bestimmt werden, inwieweit die gegen eine nicht adressierte Tochtergesellschaft erhobene Klage mit der Klage gegen ihre Muttergesellschaft

159

Dieses Beispiel wird gebildet von Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 62, 78. Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 62, 78. 161 Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63, 80 f. 162 Mankowski, WuW 2012, 947, 949. 160

286 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht und den Klagen gegen die übrigen Adressaten der Bußgeldentscheidung auf einer identischen Sach- und Rechtslage beruht (dazu unter 1.). Auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse wird danach über die weitere Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO mithilfe des Kriteriums des streitgenössischen Kontakts (dazu unter 2.) und den Anforderungen an die Ankerklage (dazu unter 3.) diskutiert. 1. Gefahr widersprechender Entscheidungen Zur Untersuchung des Tatbestandsmerkmals der Gefahr widersprechender Entscheidungen rückt zunächst die Reichweite der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit nicht adressierter Tochtergesellschaften in den Fokus (dazu unter a)), bevor im Anschluss die Konsequenzen für die Beurteilung der den Klagen zugrundeliegenden Sach- und Rechtslage zu bewerten sind (dazu unter b)). a) Kartelldeliktische Verantwortlichkeit von Tochtergesellschaften im Konzern Die kartelldeliktische Verantwortlichkeit einer nicht adressierten Tochtergesellschaft basiert entweder auf einem eigenständigen Kartellverstoß oder auf dem „von oben nach unten“ zugerechneten Kartellverstoß ihrer Muttergesellschaft. aa) Eigenständiger Kartellverstoß Eigenständig verstößt eine Tochtergesellschaft gegen das Kartellverbot, wenn sie von der Kartellabsprache der Muttergesellschaft Kenntnis hat und in Hinblick darauf die abgesprochenen Preise umsetzt.163 Die kartelldeliktische Verantwortlichkeit umfasst in diesem Fall alle durch das Kartell verursachten Schäden, es sei denn die Kenntnis der Tochtergesellschaft bleibt bezüglich der Reichweite der Kartellabsprache hinter derjenigen der Muttergesellschaft zurück. 164 Vereinzelt wird in der Literatur für die Verwirklichung eines eigenständigen Kartellverstoßes einer Tochtergesellschaft weiterhin verlangt, dass die Muttergesellschaft

163

Siehe nur Meeßen, Schadensersatz, 380; Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 639. Sind einzelne Wettbewerbsbeschränkungen nicht vom Vorsatz eines Kartellmitglieds umfasst, etwa weil die Muttergesellschaft die Kartellabsprache nachträglich auf weitere Märkte erweitert hat, so fällt der Tochtergesellschaft nach allgemeinen deliktsrechtlichen Wertungen hierfür kein eigenständiger Kartellverstoß zur Last (zum deutschen Recht vgl. MünchKommBGB/G. Wagner, § 830 BGB, Rn. 27 f.; Staudinger/Eberl-Borges, § 830 BGB. Rn. 58). 164

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

287

bei „Vornahme des Abstimmungsverhaltens mit Wissen und Einverständnis der Tochtergesellschaft auch in deren Namen aufgetreten [ist]“, da ansonsten lediglich von einem „bewussten Parallelverhalten“ der Tochtergesellschaft ausgegangen werden könnte. 165 Diese zusätzliche Voraussetzung ist jedoch abzulehnen, da die Umsetzung der Kartellkonditionen in Kenntnis der zugrundeliegenden Vereinbarung wegen der konzernrechtlichen Verbundenheit von Mutter- und Tochtergesellschaften nicht als autonome Anpassung an das Verhalten eines Marktkonkurrenten begriffen werden kann.166 bb) Haftung für den Verstoß der Muttergesellschaft (Zurechnung „von oben nach unten“) Während die Haftung einer Tochtergesellschaft für das wettbewerbswidrige Verhalten anderer Konzerngesellschaften im Bußgeldrecht von untergeordneter Bedeutung ist, da die Kommission bei der Ausfertigung des Bußgeldbescheids aus Präventionserwägungen regelmäßig die Konzernleitung zur Verantwortung zieht, zeigt sich im Kartelldeliktsrecht ein besonderes Bedürfnis für die Zurechnung eines Kartellverstoßes von der Mutter- an die Tochtergesellschaft. Die Abnehmer kartellierter Ware haben nämlich das legitime Interesse, ihren unmittelbaren Vertragspartner auf Schadensersatz in Anspruch zu nehmen, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei lediglich um die nationale Vertriebsgesellschaft eines europaweit agierenden Konzerns handelt, die von der Kartellabsprache keine Kenntnis hatte.167 In der Praxis ist das Problem der Zurechnung eines Kartellverstoßes „von oben nach unten“ freilich in Zusammenhang mit der Verfahrensverankerung grenzüberschreitender Kartellprozesse am Sitz nicht adressierter, gutgläubiger Tochtergesellschaften aufgetreten. In diesem Fall steht das angerufene Gericht bei der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO vor der Herausforderung, die Haftung der Tochtergesellschaft auf das wettbewerbswidrige Verhalten ihrer Muttergesellschaft zu stützen. Der High Court hat wegen der in England in jüngerer Zeit anhängig gemachten Kartellprozesse mehrmals Gelegenheit zur Erörterung der kartelldeliktischen Verantwortlichkeit gutgläubiger Tochtergesellschaften erhalten. Der in den Entscheidungen Provimi, Cooper Tire und 165

Maier, Marktortanknüpfung, 185. Zum marktkonformen Parallelverhalten vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim/Schuhmacher, Art. 101 AEUV, Rn. 108 ff. 167 Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, 233; Meeßen, Schadensersatz, 392 f. 166

288 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Toshiba entwickelte Ansatz zur Begründung einer Haftungserweiterung mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit soll im folgenden Abschnitt vorgestellt und bewertet werden.168 (1) Der Ansatz des High Court (a) Die Entscheidung Provimi Im Fall Provimi verlangte eine deutsche Abnehmerin des sog. „Vitaminkartells“ Ersatz des ihr beim Kauf von Vitaminen zu überhöhten Preisen entstandenen Schadens von der schweizerische Muttergesellschaft F. Hoffmann-La Roche AG sowie von deren englischer und deutscher Tochtergesellschaft Roche Products Ltd bzw. Roche Vitamine GmbH. Im vorausgegangenen Bußgeldverfahren hatte die Kommission die Beteiligung der Muttergesellschaft an den Preisabsprachen nachgewiesen und diese zum Adressaten der Bußgeldentscheidung gemacht.169 Die beiden Tochtergesellschaften hatten die Preisvorgaben der Muttergesellschaft hingegen ohne nachweisbare Kenntnis von der Kartellabsprache implementiert,170 wobei allein die deutsche Roche Vitamine GmbH nicht aber die englische Roche Products Ltd mit der Klägerin kontrahiert hatte.171 Zur Voraussetzung der Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft gegenüber den beiden ausländischen Gesellschaften erhob der High Court die Möglichkeit einer haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Roche Products Ltd, da die Ankerklage nach dem real issue168 Jüngere Entscheidungen des Court of Appeal versuchen hingegen, dem Kläger die Darlegung eines eigenständigen Kartellverstoßes der Tochtergesellschaft in der Zulässigkeit zu erleichtern, um den Rückgriff auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit zu vermeiden (dazu noch auf S. 308 ff.). Die beiden Ansätze wurden in der englischen Rechtsprechung zunächst als alternative Möglichkeiten zur Begründung der Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft verstanden (so ausdrücklich Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 45 f.; Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch), Rn. 42 f., 45). Eine unlängst ergangene Entscheidung des Court of Appeal steht dem Ansatz des High Court jedoch ablehnend gegenüber und stützt die kartelldeliktische Verantwortlichkeit der Tochtergesellschaft ausdrücklich nur auf einen eigenständigen Kartellverstoß (Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2012] EWCA Civ 1190, Rn. 37 ff.). Es ist also zweifelhaft, ob die englischen Gerichte die kartelldeliktische Verantwortlichkeit von Tochtergesellschaften auch in Zukunft noch mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit begründen. 169 KomE v. 22.11.2001, COMP/E/37.512 (Vitamins), ABl.EG 2003 L 6/1. 170 Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 28 f. 171 Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 37.

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

289

Erfordernis der englischen Rechtsprechung zumindest gewisse Erfolgsaussichten aufweisen muss. 172 In Ermangelung eines eigenständigen Kartellverstoßes der englischen Tochtergesellschaft rekurrierte Aikens J auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit: „It seems to me to be arguable that where two corporate entities are part of an ‘undertaking’ (call it ‘Undertaking A’) and one of those entities has entered into an infringing agreement with other, independent, ‘undertakings’, then if another corporate entity which is part of Undertaking A then implements that infringing agreement, it is also infringing Article 81. […] The EU competition law concept of an ‘undertaking’ is that it is one economic unit. The legal entities that are a part of the one undertaking, by definition of the concept, have no independence of mind or action or will. They are to be regarded as all one. 173 […] Accordingly I have concluded that the claimants (in particular Trouw Germany) have an arguable case against Roche UK and Rhodia Ltd. It is that those companies are infringers of Article 81(1), as a matter of law.”174

Zentrale Aussage der Provimi-Entscheidung ist somit, dass eine gutgläubige Tochtergesellschaft für den Kartellverstoß ihrer Muttergesellschaft bereits haftet, wenn sie das Kartell am Markt implementiert hat, gleich ob sie in Kenntnis der Kartellabsprache gehandelt hat oder die kartellierte Ware direkt an den Kläger abgesetzt hat.175 172 An und für sich sieht das real issue-Erfordernis der englischen Rechtsprechung die vollständige Verifizierung der Rechtsausführungen des klägerischen Vortrags vor. Die gerichtliche Praxis legt aber bisweilen einen großzügigeren Maßstab an, falls die Zuständigkeitsentscheidung von besonders komplizierten Rechtsfragen abhängt (dazu ausführlich schon oben S. 107 ff.). 173 Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 31. 174 Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 36. 175 In die gleiche Richtung deutet die in Frankreich zum Vitamin-Kartell ergangene Parallelentscheidung des Tribunal de Commerce de Nanterre v. 11.5.2006, Affaire 2004F02643, abrufbar unter: ; dazu und zum folgenden auch Meeßen, Schadensersatz, 386 ff. Nach Auffassung des Gerichts sollte die Klage gegen die französische Vertriebstochter nicht allein aus dem Grund abgewiesen werden, dass die vorausgegangene Entscheidung der Kommission an die Muttergesellschaft adressiert war. Zur Begründung führten die französischen Richter aus: „Attendu que ARKOPHARMA fonde ses demandes sur la décision rendue le 21 novembre 2001 par la Commission Européenne qui a sanctionné les auteurs de l’entente et notamment la societé Hoffmann LaRoche, Que cette décision n’a toutefois nullement mentionné la Sté Roche SAS ainsi que le font observer les défenderesses, […] Que ces entités ou établissements ont à l’évidence exécuté les instructions des auteurs de l’entente et participé à la réalisation de l’infraction […] Qu’il n’est d’ailleurs pas indifférent de constater que les factures de Produits Roche versées aux débats comportent sous cette dénomination la mention ce

290 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht (b) Die Entscheidung Cooper Tire Diese Position hat der High Court im Fall Cooper Tire im Wesentlichen bestätigt. Die Beteiligten des sog. „Gummikartells“ hatten den Feststellungen der Kommission zufolge hinsichtlich zweier Kunstkautschuksorten europaweit die Preise abgesprochen, Kunden aufgeteilt und sensible Geschäftsinformationen ausgetauscht.176 Kläger des anschließenden Kartellverfahrens vor dem High Court waren 26 Reifenhersteller aus verschiedenen Mitgliedstaaten, die auf unterschiedlichen Märkten durch die Abnahme des Kautschuks zu überhöhten Preisen geschädigt worden waren. Von den 24 Beklagten, zu denen auch die 13 Adressaten der Entscheidung der Kommission gehörten, hatten nur drei in der Bußgeldentscheidung nicht erwähnte Tochtergesellschaften ihren Sitz in England. 177 Wenngleich den englischen Vertriebstöchtern keine Kenntnis von den durch ihre Muttergesellschaften getroffenen Absprachen nachgewiesen werden konnte und sie nur in geringem Umfang kartellierte Waren an die Kläger abgesetzt hatten, sollte der High Court für die gemeinsame Verhandlung mit allen auswärtigen Kartellmitgliedern nach Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zuständig sein. Der mit dem Verfahren betraute Richter Tear J erkannte, was für die Beurteilung der Zulässigkeit der Verfahrenskonzentration entscheidend war: „In the present case the problem is […] to establish a basis upon which a subsidiary which has been involved in an infringement by selling goods which are the subject matter of the infringement but without any knowledge of the offending agreements or arrangements can be made liable for the infringement.“178

qui conforte la perception selon laquelle la filiale est le prolongement de sa maison mère.“ (Tribunal de Commerce de Nanterre v. 11.5.2006, Affaire 2004F02643, 11 f. der Urteilsausfertigung). Obwohl den Ausführungen nicht ausdrücklich entnommen werden kann, dass die Tochtergesellschaft als Teil eines einheitlichen Unternehmens i.S.d. Art. 101 AEUV haftet, deuten die als entscheidungserheblich empfundenen Kriterien, nämlich dass die Tochtergesellschaft den Anweisungen der Muttergesellschaft gefolgt ist, an der Realisierung des Kartellschadens beteiligt war und als verlängerter Arm der Muttergesellschaft am Markt auftritt, auf ein entsprechendes Verständnis hin. 176 KomE v. 29.11.2006, COMP/F/38.638 (Butadiene Rubber and Emulsion Styrene Butadiene Rubber), ABl.EG 2008 C 7/11. 177 Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 15, 22. 178 Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 48.

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

291

Wie zuvor Aikens J rekurrierte also auch Tear J zur Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Ankerbeklagten auf die Zurechnung des Kartellverstoßes der Muttergesellschaft mithilfe des bußgeldrechtlichen Konzepts der wirtschaftlichen Einheit. In Einschränkung der in der Provimi-Entscheidung vertretenen Position verlangte Tear J für das Entstehen der wirtschaftlichen Einheit zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft allerdings, dass zumindest ein Teil der Kläger direkte Lieferbeziehungen zu den englischen Tochtergesellschaften unterhielten.179 Von Seiten der Beklagten waren gegen die Zurechnung des Kartellverstoßes „von oben nach unten“ zuvor verschiedene Einwände vorgetragen worden. Die Beklagten argumentierten zum einen, dass die vor dem Verfahren ergangene EuGH-Entscheidung Akzo Nobel aus dem Bußgeldrecht die Haftung von Tochtergesellschaften für die Kartellverstöße anderer Konzerngesellschaften ausschließe, weil einer Gesellschaft ein fremder Kartellverstoß nach dieser Entscheidung nur zugerechnet werden könne, wenn sie einen „bestimmenden Einflusses“ innerhalb der wirtschaftlichen Einheit ausgeübt hat. Dieser Argumentation entgegnete Tear J, der EuGH habe in der Akzo Nobel-Entscheidung lediglich entschieden, unter welchen Voraussetzungen eine am Kartellverstoß ihrer Tochtergesellschaft vollkommen unbeteiligte Muttergesellschaft in die bußgeldrechtliche Haftung genommen werden könnte. Zu der hier interessierenden Frage, ob einer Tochtergesellschaft, die durch den Vertrieb kartellierter Ware in das wettbewerbswidrige Verhalten der wirtschaftlichen Einheit selbst involviert war, der Kartellverstoß ihrer Muttergesellschaft zugerechnet werden könne, habe der Gerichtshof hingegen keine Stellung bezogen.180 Zum anderen gaben die Beklagten zu bedenken, dass der Rückgriff auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit die gesamtschuldnerische Haftung der Tochtergesellschaft für alle kartellbedingten Schäden bereits auf der Grundlage geringfügiger Verkäufe eines kartellierten Produkts auslöse. Damit einher gingen dramatische Folgen für das europäische 179

Ob diese Annahme tatsächlich auf alle 26 Kläger zutrifft, lässt sich den Ausführungen des High Court jedoch nicht genau entnehmen; siehe Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 38: „It is specifically pleaded that those Defendants who are subsidiaries […] implemented the arrangements by selling BR and ESBR to the Claimants. There is no dispute that the Claimants have a good arguable case that the Anchor Defendants sold BR or ESBR to at least some of the Claimants“. 180 Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 47 f.

292 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Zuständigkeitssystem, wenn eine umfassende Gerichtspflicht sämtlicher Rechtsträger einer wirtschaftlichen Einheit am Sitz einer jeden Tochtergesellschaft begründet werden könnte. 181 Auch von dieser Erwägung zeigte sich Richter Tear J unbeeindruckt. Da die Haftung des einen Rechtsträgers für das Verhalten des anderen Rechtsträgers eines Unternehmens im funktionalen Sinne dem Konzept der wirtschaftlichen Einheit immanent sei, handele es sich bei den von den Beklagten aufgezeigten Nachteilen lediglich um logische Konsequenzen der Zurechnung des Kartellverstoßes „von oben nach unten“.182 Auch nach der Entscheidung Cooper Tire darf die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit nicht adressierter Tochtergesellschaften also mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit begründet werden. Einschränkend betont der High Court jedoch, dass für das Entstehen der wirtschaftlichen Einheit der Absatz der kartellierten Ware von der Tochtergesellschaft direkt an die Kläger erfolgen müsse. (c) Die Entscheidung Toshiba Das Verfahren Toshiba widmet sich der haftungsrechtlichen Aufarbeitung des im Jahr 2003 von der Europäischen Kommission aufgedeckten „Industrierohrekartells“. 183 Die von den Preisabsprachen geschädigten Kläger begehrten Ersatz von insgesamt neun Gesellschaften der am Kartell beteiligten Unternehmensgruppen KME, Wieland Werke und Outokumpo. Als Ankerbeklagte fungierten drei von der Entscheidung der Kommission nicht adressierte, gutgläubige Tochtergesellschaften mit Sitz in England, von denen zwei überhaupt keine kartellierte Ware an die Kläger abgesetzt hatten (die Tochtergesellschaften der Gruppen Wieland Werke und Outokumpo) und die dritte beim Abschluss der Lieferverträge lediglich in Vertretung ihrer Muttergesellschaft gehandelt hatte (die Tochtergesellschaft der Gruppe KME). 184 Der High Court begründete auch in dieser Konstellation das real issue-Erfordernis mithilfe der je181

Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 63. 182 Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 63 unter Hinweis auf Howard/Rose/Roth, in: Roth/Rose (Hg.), Bellamy & Child: European Community Law of Competition, Rn. 14.117. 183 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch); KomE v. 16.12.2003, COMP/E/38.240 (Industrial Tubes), ABl.EU 2004 L 125/50. 184 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch), Rn. 36 f.

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

293

weils zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft bestehenden wirtschaftlichen Einheit.185 Zwar hatten die Beklagten wie schon im Verfahren Cooper Tire eingewendet, dass die Rechtsprechungslinie des EuGH aus dem Bußgeldrecht die Zurechnung eines Kartellverstoßes innerhalb eines Unternehmens im funktionalen Sinne allein von „unten nach oben“ nicht aber „von oben nach unten“ erlaube, sodass die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Ankerbeklagten mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit nicht begründet werden könne. 186 Dem entgegnete der Chancellor of the High Court jedoch, dass die Zurechnung eines Kartellverstoßes von der Mutter- an die Tochtergesellschaft wegen der unklaren Rechtsauffassung des EuGH jedenfalls nicht „plainly wrong“ sei.187 In Ansehung der Cooper Tire-Entscheidung stützte sich der Vortrag der Beklagten weiterhin darauf, dass keine der Ankerbeklagten in einer unmittelbaren Vertragsbeziehung zu den Klägern gestanden habe.188 Auch diese Argumentation verfing beim Chancellor jedoch nicht. Bezüglich des Fehlens einer vertraglichen Beziehung zwischen den Klägern und der lediglich in Stellvertretung auftretenden Tochtergesellschaft der KME-Gruppe bemerkte der Chancellor, dass allein der tatsächliche Absatz der Waren an die Kläger für das Entstehen der wirtschaftlichen Einheit relevant sein könne.189 In Hinblick auf die beiden anderen Ankerbeklagten stellte er darauf ab, dass erst die umfassende Beweiswürdigung nach einer disclosure of documents die Rolle 185 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch), Rn. 42, 45. 186 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch), Rn. 33 ff. 187 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch), Rn. 42. Dass der Chancellor keine Notwendigkeit zur abschließenden Klärung dieser Frage sah, hängt auch damit zusammen, dass er die Begründung der kartelldeliktischen Verantwortlichkeit der Tochtergesellschaften alternativ auf den vom Court of Appeal in der Cooper Tire-Entscheidung vertretenen Ansatz stützte, der dem Kläger die Darlegung eines eigenständigen Kartellverstoßes der Ankerbeklagten in der Zulässigkeit erleichtert (Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch), Rn. 43, 45). Zur Rechtsprechung des Court of Appeal noch auf S. 308 ff. 188 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch), Rn. 36. 189 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch), Rn. 49: „The fact, if it be one, that [KME Yorkshire Ltd sold LWC to the claimants] only as agent for the Second Defendant [KME Germany AG] would, at least arguably, amount to implementation of the agreement or concerted practice even if it was not contractually liable on the contract of sale. Contractual liability and implementation of an illegal cartel are distinct concepts“.

294 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht der beiden Tochtergesellschaften bei der Implementierung des Kartells zu Tage fördern würde.190 Die Toshiba-Entscheidung bekräftigt also ebenfalls den Ansatz der Begründung der kartelldeliktischen Verantwortlichkeit von Tochtergesellschaften mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit. Hinsichtlich der in der Cooper Tire-Entscheidung begründeten Einschränkung der Implementierung des Kartells gegenüber dem Kläger rudert der High Court jedoch wieder zurück: Nicht nur ist bereits der Absatz der kartellierten Ware in Stellvertretung der Muttergesellschaft für das Entstehen der wirtschaftlichen Einheit ausreichend. Auch sind an die Darlegung eines entsprechenden Verhaltens der Tochtergesellschaft im klägerischen Vortrag zur Ankerklage keine besonderen Anforderungen zu stellen.191 (d) Fazit Der High Court begründet die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit gutgläubiger Tochtergesellschaften für alle kartellbedingten Schäden mithilfe des bußgeldrechtlichen Konzepts der wirtschaftlichen Einheit. Die Voraussetzungen der Zurechnung eines Kartellverstoßes „von oben nach unten“ werden in seiner Rechtsprechung jedoch nicht klar umrissen, da aus den Entscheidungen Provimi, Cooper Tire und Toshiba nicht eindeutig hervorgeht, ob bei dem Absatz der kartellierten Ware durch die Ankerbeklagte eine direkte Lieferbeziehung zum Kläger bestanden haben muss. (2) Bewertung des vom High Court vertretenen Ansatzes Vor dem Hintergrund der weitreichenden Konsequenzen der Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit gutgläubiger Tochtergesellschaften mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit, insbesondere der bereits beschriebenen Gefahr einer Ubiquität des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft, besteht Anlass zur kritischen Würdigung des vom High Court vertretenen Ansatzes.192 Nachstehend wird 190 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch), Rn. 50. Zur „disclosure of documents“ in englischen Kartellverfahren siehe Scott/Simpson, in: Gotts (Hg.), The Private Competition Enforcement Review, 87, 101 f. 191 Zu den Anforderungen an die Darlegung des Bestehens einer wirtschaftlichen Einheit im klägerischen Vortrag zur Ankerklage ausführlich auf S. 314 f. 192 Zur Relevanz der Rechtsprechung des High Court vgl. auch Lawrence/Morfey, in: Danov/Becker/Beaumont, Cross-Border EU Competition Law Actions, 149, 150:

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

295

in einem ersten Schritt festgestellt, dass die EuGH-Rechtsprechung aus dem Bußgeldrecht in der Tat keine Vorgaben zur Zurechnung eines Kartellverstoßes von der Mutter- an die Tochtergesellschaft aufstellt (dazu unter (a)). Danach wird anhand eigener Maßstäbe beurteilt, ob das Konzept der wirtschaftlichen Einheit zur Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit von Tochtergesellschaften herangezogen werden darf (dazu unter (b)). Da der Rückgriff auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit nach hier vertretener Position zulässig ist, gilt es in einem dritten Schritt die an die Zurechnung eines Kartellverstoßes „von oben nach unten“ zu knüpfenden Voraussetzungen zu ermitteln (dazu unter (c)). Abschließend wird dann die Reichweite der Haftung der Tochtergesellschaft für den Kartellverstoß ihrer Muttergesellschaft bestimmt (dazu unter (d)). (a) Keine Vorgaben aus der bußgeldrechtlichen EuGH-Rechtsprechung Der High Court hat richtigerweise erkannt, dass die Rechtsprechung des EuGH aus dem Bußgeldrecht der Zurechnung eines Kartellverstoßes von der Mutter- an die Tochtergesellschaft nicht entgegensteht. Zwar wird die Zurechnung von Verhaltensweisen von der übergeordneten an die untergeordnete Gesellschaft in der europäischen Kartellrechtspraxis bisher nicht thematisiert, weil die Kommission typischerweise nur die unmittelbar an der Kartellvereinbarung beteiligten Tochtergesellschaften oder deren Muttergesellschaften mit Bußgeldern belegt. Umgekehrt findet sich aber auch kein Urteil des Gerichtshofs, das gegen die Zulässigkeit der Zurechnung „von oben nach unten“ spricht. Insbesondere die Entscheidung Akzo Nobel, die für die Zurechnung eines Kartellverstoßes „von unten nach oben“ einen bestimmenden Einfluss der Mutter- auf die Tochtergesellschaft verlangt, 193 steht dem Rückgriff auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit zur Begründung der Haftung der Tochtergesellschaft nicht entgegen. Wie Tear J in der Entscheidung Cooper Tire überzeugend darlegt, ist die Ausgangslage in den vor dem High Court verhandelten Fällen von derjenigen im Fall „[The Provimi judgment] opened the door to litigation being brought in England against a number of defendants on the basis of an English anchor defendant which was merely a subsidiary of one of the addressees of a Commission decision, in circumstances where the subsidiary neither played a direct role in the cartel nor had knowledge of it“. Ähnlich die Einschätzungen von Ashton/Henry, Competition Damage Actions in the EU, Rn. 7.044 f.; Brown, ECLR 32 (2011), N-22, N-24; Balmain/Coughlan, G.C.L.R. 2011, 147, 149. 193 EuGH v. 10.9.2009, Rs. 97/2008 (Akzo Nobel u.a./Kommission), Slg. 2009, I8237, Rn. 60.

296 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Akzo Nobel zu differenzieren: Während die englischen Vertriebstöchter durch den Absatz des kartellierten Produkts in das wettbewerbswidrige Verhalten der wirtschaftlichen Einheit zumindest in irgendeiner Form involviert waren,194 hat die Muttergesellschaft des Konzern Akzo Nobel sich weder an der Absprache noch an der Implementierung des Kartells beteiligt. Dass die Gesellschaft, der das Verhalten zugerechnet wird, auf die Gesellschaft, die das zuzurechnende Verhalten begangen hat, einen bestimmenden Einfluss ausübt, hat der EuGH also bislang lediglich gefordert, wenn die erstgenannte Gesellschaft sich bezüglich des Kartellverstoßes der letztgenannten Gesellschaft überhaupt nicht verhalten hat. Auch die im Kontext der Zurechnung von Kartellverstößen zu nennende EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Aristrain trifft hinsichtlich der Haftung einer Tochtergesellschaft für den Kartellverstoß ihrer Muttergesellschaft keine andere Aussage. Zwar existiert in der deutschen Sprachfassung die Wendung, dass das wettbewerbsbeschränkende Verhalten des einen Unternehmens195 dem anderen Unternehmen „nur dann zugerechnet werden [könne], wenn das erstgenannte Unternehmen sein Marktverhalten nicht selbständig bestimmt, sondern vor allem wegen der wirtschaftlichen und rechtlichen Bindungen zwischen ihnen im Wesentlichen die Weisungen des letztgenannten Unternehmens befolgt hat“.196 Die Formulierung beruht allerdings auf einem Übersetzungsfehler, was der Abgleich mit der spanischen, englischen und französischen Sprachfassung aufdeckt, die keinen dem „nur“ entsprechenden Ausschließlichkeitshinweis enthalten.197 Im Ergebnis spricht die Rechtsprechungslinie 194 Auch wenn einerseits der gutgläubige Absatz kartellierter Ware keinen eigenständigen Kartellverstoß begründet und andererseits schon der Abschluss einer Kartellvereinbarung gegen Art. 101 AEUV verstößt, ist die Implementierung des Kartells zumindest potentiell, nämlich im Fall von abgestimmten Verhaltensverweisen, geeignet, zur Verwirklichung des Tatbestands des Art. 101 AEUV beizutragen (siehe nur EuGH v. 8.7.1999, Rs. C-49/1992 (Kommission/Anic Partecipazioni), Slg. 1999, I-4125, Rn. 118). 195 Unternehmen verstanden i.e.S. als der einzelne Rechtsträger innerhalb der wirtschaftlichen Einheit. 196 EuGH v. 2.10.2003, Rs. C-196/1999 P (Siderúrgica Aristrain Madrid/ Kommission), Slg. 2003, I-11005, Rn. 96 (Hervorhebung durch den Verfasser). 197 In der Verfahrensprache Spanisch heißt es: „No obstante, según reiterada jurisprudencia, la conducta contraria a la libre competencia de una empresa puede imputarse a otra cuando la primera no define de manera autónoma su comportamiento en el mercado, sino que aplica, esencialmente, las instrucciones que le imparte esta última, teniendo en cuenta, en particular, los vínculos económicos y jurídicos que las unen […].“ Siehe auch die englische Fassung: „However, it is settled case-law that the anti-competitive conduct of an undertaking can be attributed to another undertaking where it has not decided independently upon its own conduct

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

297

des EuGH zur bußgeldrechtlichen Haftung von Muttergesellschaften also weder für noch gegen die vom High Court propagierte Rechtsauffassung. (b) Zulässigkeit der Zurechnung „von oben nach unten“ Die Zulässigkeit des Rückgriffs auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit zur Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit von Tochtergesellschaften lässt sich also nur an Hand eigener Maßstäbe beurteilen. Mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit müsste sich sowohl der Kartellverstoß als auch das Verschulden von „oben nach unten“ zurechnen lassen. Für die Möglichkeit der Zurechnung eines Kartellverstoßes „von oben nach unten“ spricht wie schon bei der Zurechnung „von unten nach oben“ der Zweck, dass die gegen Konzerngesellschaften erhobenen Klagen nicht mit größeren Risiken behaftet sein dürfen, als die entsprechenden Klagen gegen Einheitsunternehmen. 198 Denn die Haftung der Tochtergesellschaft für Kartellverstöße ihrer Muttergesellschaft verhindert, dass die Klage des Geschädigten gegen seinen unmittelbaren Vertragspartner an der Funktionsaufteilung innerhalb des Konzerns scheitert. Diese Problematik stellt sich in ihrer schärfsten Form, wenn weder Mutter- noch Tochtergesellschaft durch eigenes Verhalten gegen

on the market, but carried out, in all material respects, the instructions given to it by that other undertaking, having regard in particular to the economic and legal links between them […]“. Siehe auch die französische Fassung: „Il résulte pourtant d’une jurisprudence constante que le comportement anticoncurrentiel d’une entreprise peut être imputé à une autre lorsque la première n’a pas déterminé son comportement sur le marché de façon autonome, mais a appliqué pour l’essentiel les directives émises par cette dernière, eu égard en particulier aux liens économiques et juridiques qui les unissaient […].“ So bereits Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, 231; Meeßen, Schadensersatz, 392. Im Akzo Nobel-Urteil wurde die Wendung dahingehend geändert, dass das Wort „nur“ durch das Wort „insbesondere“ ersetzt wurde (EuGH v. 10.9.2009, Rs. 97/2008 (Akzo Nobel u.a./Kommission), Slg. 2009, I-8237, Rn. 58, 72). 198 Für die Zulässigkeit der Begründung der kartelldeliktischen Verantwortlichkeit von Tochtergesellschaften mithilfe des Konzept der wirtschaftlichen Einheit aus der Literatur auch Meeßen, Schadensersatz, 392 f.; Bulst Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, 233; Howard/Rose/Roth, in: Roth/Rose (Hg.), Bellamy & Child: European Community Law of Competition, Rn. 14.117; Kersting, Der Konzern 2011, 445, 458; wohl auch Danov, in: Danov/Becker/Beaumont (Hg.), Cross-Border EU Competition Law Actions, 167, 179. A.A. dagegen Maier, Marktortanknüpfung, 188, die sich in Ermanglung einer dogmatischen Grundlage gegen die Zurechnung von Kartellverstößen von „oben nach unten“ ausspricht. Kritisch auch Ashton/Henry, Competition Damage Actions in the EU, Rn. 7.048.

298 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Art. 101 AEUV verstoßen haben (bloße Verhaltensabstimmung durch die Mutter / gutgläubige Umsetzung durch die Tochter), taucht aber ebenfalls auf, wenn die Muttergesellschaft wie in den Sachverhalten der englischen Entscheidungen voll tatbestandlich gehandelt hat (Kartellabsprache durch die Mutter / gutgläubige Umsetzung durch die Tochter).199 Der Geschädigte hegt nämlich auch in der letztgenannten Konstellation das Interesse, die Klage gegen den unmittelbaren Vertragspartner als den nach außen auftretenden Teil der wirtschaftlichen Einheit zu erheben, um nicht das Risiko eingehen zu müssen, innerhalb komplexer Konzernstrukturen die für seinen Schaden verantwortliche Gesellschaft zu verfehlen.200 Der hinter der Begründung der Haftung einer Vertriebsgesellschaft stehende Zweck gebietet darüber hinaus, die Zurechnung nicht auf den Kartellverstoß zu begrenzen, sondern auch das Verschulden von der Mutter- an die Tochtergesellschaft zuzurechnen. 201 Die haftungsrechtliche Bevorteilung von Konzernen gegenüber Einheitsunternehmen lässt sich nämlich nur verhindern, wenn sich die Tochtergesellschaft ihrer haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit nicht durch den Hinweis auf das fehlende Verschulden für den ihr zugerechneten Kartellverstoß wieder entziehen kann.202 (c) Voraussetzungen der Zurechnung „von oben nach unten“ Ist die Zurechnung des Kartellverstoßes „von oben nach unten“ grundsätzlich zulässig, so stellt sich die Frage, ob der High Court tatsächlich vom Vorliegen der Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Einheit zwischen Tochter- und Muttergesellschaft ausgehen durfte. Zweifelsohne erforderlich ist für das Entstehen der wirtschaftlichen Einheit, dass die Tochtergesellschaft die Kartellabsprache über den Absatz kartellierter Ware implementiert hat, da der Kartellverstoß andernfalls selbst Tochtergesellschaften zugerechnet werden könnte, die völlig andere Produkte des Konzerns auf völlig anderen Märkten vertreiben. 203 Voraussetzung ist m.E. weiter, dass der Kläger mit der 199

Meeßen, Schadensersatz, 393; Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, 229 f. 200 Meeßen, Schadensersatz, 393; Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite, 233. 201 Meeßen, Schadensersatz, 395. 202 Meeßen, Schadensersatzanspruch, 395. 203 Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 55 f.; Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 643; Meeßen, Schadensersatz, 393; Bader, Die internationalprivatrechtliche Behandlung

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

299

Tochtergesellschaft in einer direkten Lieferbeziehung stand.204 Denn die Haftungserweiterung verhindert die Bevorteilung von Konzernen gegenüber Einheitsunternehmen nur, wenn der Konzern gegenüber dem Geschädigten auch in einer Funktionsaufteilung aufgetreten ist. Nach hier vertretener Ansicht ist die wirtschaftliche Einheit zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft folglich kein feststehendes Gebilde, sondern entsteht relativ gegenüber dem jeweiligen Inhaber der Schadensersatzforderung. Im Fall Provimi hätte der High Court somit nicht vom Bestehen einer wirtschaftlichen Einheit ausgehen dürfen. Denn die Klägerin hatte von der englischen Tochtergesellschaft selbst keine kartellierte Ware bezogen, sodass sie sich nicht auf das Interesse an der Inanspruchnahme ihres unmittelbaren Vertragspartners berufen konnte.205 Die Entscheidung Toshiba verdient ebenfalls keine Zustimmung. Das offene Auftreten einer Tochtergesellschaft als bloße Stellvertreterin ihrer Muttergesellschaft rechtfertigt die Zurechnung „von oben nach unten“ nicht, da der Geschädigte in diesem Fall bewusst nur mit der Muttergesellschaft kontrahiert.206 Zu befürworten ist hingegen die Rechtsfindung von Tear J im Verfahren Cooper Tire. Da die Kläger direkte Lieferbeziehungen zu den englischen Tochtergesellschaften unterhielten, hatten sie das Interesse, ihre Vertragspartner auch direkt auf Schadensersatz verklagen zu können, sodass die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit zwischen Tochter- und Muttergesellschaft gerechtfertigt war.207 (d) Reichweite der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Tochtergesellschaft In Hinblick auf die Reichweite der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit stellt sich m.E. schließlich die Frage, ob die Tochtergesellschaft von Schadensersatzansprüchen aus Kartellverstößen, 224; wohl auch Pietrini, L’action collective, Rn. 695. A.A. dagegen Smith/Maton/Campbell, in: Foer/Cuneo (Hg.), International Handbook on Private Enforcement, 296, 302 die (irgend)einen „real connecting link between the parties to the claim and England and Wales“ für ausreichend erachten. 204 Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 643; im Ergebnis wohl auch Meeßen, Schadensersatz, 393 demzufolge erforderlich ist, „dass die Tochter an der Realisierung des Kartellschadens beteiligt war“, womit der Kartellschaden des jeweiligen Klägers gemeint sein dürfte. 205 Vgl. Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 37. 206 Vgl. Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2011] EWHC 2665 (Ch), Rn. 35 f. 207 Vgl. Cooper Tire & Rubber Company And Others v Shell Chemicals UK Ltd And Others [2009] EWHC 2609 (Comm), Rn. 38.

300 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht nach der Zurechnung des von der Muttergesellschaft begangenen Kartellverstoßes als Gesamtschuldnerin für alle oder nur für die aus dem eigenen Umsetzungsverhalten herrührenden Schäden haftet. Die Erweiterung der kartellrechtlichen Verantwortlichkeit im Konzern muss auf einem legitimen Zweck beruhen, da die Inanspruchnahme der nicht unmittelbar gegen das Kartellverbot verstoßenden Gesellschaft andernfalls willkürlich geschähe. Die gesamtschuldnerische Haftung der Tochtergesellschaft auf Schäden zu erstrecken, die nicht aus den von ihr selbst getätigten Absatzgeschäften resultieren, erscheint nicht mehr vom Zweck der Haftungserweiterung umfasst. Es ist nämlich nicht ersichtlich, warum reine Vertriebsgesellschaften für das Umsetzungsverhalten aller anderen am Kartell beteiligten Gesellschaften gesamtschuldnerisch haften sollen, wenn bereits die Haftung für das eigene Umsetzungsverhalten die Interessen der Geschädigten vollständig wahrt.208 Bei einer begrenzten gesamtschuldnerischen Haftung gutgläubiger Tochtergesellschaften steht den Geschädigten nämlich bezüglich jeder einzelnen Schadensersatzforderung der unmittelbare Vertragspartner als Schuldner zur Verfügung. Darüber hinaus haften die an der Kartellvereinbarung unmittelbar beteiligten Muttergesellschaften ohnehin als Gesamtschuldner für alle kartellbedingten Schäden. Die Erweiterung der gesamtschuldnerischen Haftung der Tochtergesellschaft auf alle kartellbedingten Schäden würde folglich deutlich über das mit dem Rückgriff auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit verbundene Ziel hinausschießen. Offen bleibt schließlich die Frage, wie die Begrenzung der gesamtschuldnerischen Haftung dogmatisch zu konstruieren ist. Wie die Zurechnung selbst, so führt auch die Begrenzung der an den zugerechneten Kartellverstoß zu knüpfenden Rechtsfolgen in gewisse dogmatische Untiefen. Im Ausgangspunkt werden die denkbaren Begründungsansätze durch das Verständnis der dogmatischen Qualität der Haftung des einen 208 In diese Richtung plädiert Rabinowitz QC im Berufungsverfahren Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 43: „If […] Provimi were correct and an Anchor Defendant could in theory be liable for infringements by other entities in a relevant undertaking, it could only be liable for sales actually made by it […]“. Rabinowitz QC regt zudem die Durchführung eines Vorlageverfahrens vor dem EuGH an, indem unter anderem die folgende Frage beantwortet werden soll: „If an innocent implementer is liable, is it liable to the same extent as those legal entities within its group that participated in the unlawful agreement or arrangement or only liable in respect of damages caused by the extent to which its own sales were affected by the infringement?“ (Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 47).

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

301

Rechtsträgers für das Verhalten des anderen Rechtsträgers einer wirtschaftlichen Einheit bedingt. Wer der wirtschaftlichen Einheit die Qualität eines zivilrechtlichen Haftungssubjekts zumisst, 209 dem wird eine differenzierte Betrachtung des Haftungsumfangs der einzelnen Rechtsträger innerhalb der wirtschaftlichen Einheit schwerfallen. Die Auffassung, die den Rückgriff auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit im Verhältnis zu Muttergesellschaften durch die widerlegliche Vermutung einer Mitwirkung am Kartellverstoß in die Kategorien des Haftungsrechts übersetzen will,210 müsste zur Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit von Tochtergesellschaften wohl deren Kenntnis von der Kartellabsprache bei der Implementierung widerleglich vermuten. 211 An den vermuteten eigenständigen Kartellverstoß der Tochtergesellschaft schlösse sich dann die umfassende Verantwortlichkeit für alle kartellbedingten Schäden an, sodass die Begrenzung der gesamtschuldnerischen Haftung ebenfalls kaum möglich erscheint. Leichter fällt die Konstruktion der Haftungsbegrenzung hingegen, wenn man in den Kategorien der Zurechnung von Verhaltensunrecht denkt.212 Zwar erscheint es auf den ersten Blick befremdlich, unterschiedliche Rechtsfolgen an das tatsächliche und das zugerechnete Verhalten zu knüpfen. Die Begrenzung des Haftungsumfangs der Tochtergesellschaft ließe sich jedoch damit rechtfertigen, dass nur die Haftung für das eigene Umsetzungsverhalten vom Zweck der Zurechnung getragen wird. cc) Ergebnis Die kartelldeliktische Verantwortlichkeit nicht adressierter Tochtergesellschaften kann auf einen eigenständigen Kartellverstoß oder auf den „von oben nach unten“ zugerechneten Kartellverstoß ihrer Muttergesellschaft gestützt werden. Eigenständig verstößt eine Tochtergesellschaft gegen Art. 101 AEUV, wenn sie von der Kartellabsprache der Mutter209

Kersting, Der Konzern 2011, 445, 457 f. Wurmnest, in: Remien (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat- und Wirtschaftsrecht, 27, 48 f.; Kling, WRP 2010, 506, 518. 211 Bei dieser Lösung stellt sich jedoch das Problem, dass die Vermutung des eigenständigen Kartellverstoßes der Muttergesellschaft an den bestimmenden Einfluss auf die Tochtergesellschaft anknüpft (Kersting, Der Konzern 2011, 445, 457). Umgekehrt fehlt es jedoch an einem bestimmenden Einfluss der Tochter- auf die Muttergesellschaft. 212 So auch Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 638; vgl. auch Pohlmann, Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht, 372 f; Steinle, EWS 2004, 118, 121 f. (beide zum Bußgeldrecht). 210

302 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht gesellschaft Kenntnis hatte und in Hinblick darauf die abgesprochenen Preise umgesetzt hat. Folge des eigenständigen Kartellverstoßes ist die gesamtschuldnerische Haftung der Tochtergesellschaft für alle kartellbedingten Schäden. Für den Kartellverstoß der adressierten Muttergesellschaft haftet eine Tochtergesellschaft dagegen, wenn beide Gesellschaften bei der Verursachung der dem Kläger entstandenen Schäden eine wirtschaftliche Einheit gebildet haben. Die wirtschaftliche Einheit entsteht, wenn die Tochtergesellschaft die Kartellabsprache gegenüber dem Kläger in einer direkten Lieferbeziehung implementiert hat. Die Zurechnung des Kartellverstoßes von der Mutter- an die Tochtergesellschaft begründet allerdings nur die begrenzte haftungsrechtliche Verantwortlichkeit für die aus dem eigenen Umsetzungsverhalten resultierenden Schäden. b) Auswirkungen auf die Prüfung der Widerspruchsgefahr Die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht, wenn die gegen die Tochtergesellschaft gerichtete Klage mit der Klage gegen ihre Muttergesellschaft bzw. mit den Klagen gegen die übrigen Adressaten der Bußgeldentscheidung auf einer einheitlichen Sach- und Rechtslage fußt. Das Kriterium ist erfüllt, soweit die Beklagten eine gemeinsame haftungsrechtliche Verantwortlichkeit für die durch das Kartell verursachten Schäden trifft. aa) Die Tochtergesellschaft ist die Ankerbeklagte Fungiert die Tochtergesellschaft eines Adressaten als Ankerbeklagte eines grenzüberschreitenden Kartellprozesses, richtet sich die Reichweite der zulässigen Verfahrenskonzentration nach der Art und Weise der Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Tochtergesellschaft. Hat die Tochtergesellschaft die kartellierte Ware in Kenntnis der Kartellabsprache der Muttergesellschaft abgesetzt, sodass ihr ein eigenständiger Kartellverstoß zur Last fällt, ist die gebündelte Geltendmachung sämtlicher Schadensersatzansprüche an ihrem Sitz möglich. Da die Tochtergesellschaft für alle kartellbedingten Schäden als Gesamtschuldnerin haftet, besteht die Identität der Sach- und Rechtslage bezüglich der gegen ihre Muttergesellschaft und den anderen Mitgliedern des Kartells erhobenen Klagen. Wird die Tochtergesellschaft dagegen wie in den High Court-Entscheidungen Provimi, Cooper Tire und Toshiba für den Kartellverstoß ihrer Muttergesellschaft in Haftung genommen, ist die gebündelte Geltendmachung sämtlicher gegen das Kartell bestehender Schadensersatz-

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

303

ansprüche an ihrem Sitz nach hier vertretener Auffassung ausgeschlossen. Stützt sich die Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Tochtergesellschaft nämlich auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit, wird dadurch lediglich eine begrenzte gesamtschuldnerische Haftung für das eigene Umsetzungsverhalten ausgelöst. Die Identität der Sach- und Rechtslage besteht daher nur bezüglich derjenigen Annexklagen, die auf Ersatz der aus den Absatzgeschäften der Tochtergesellschaft resultierenden Schäden gerichtet sind.213 Der Anreiz zur Verankerung des Verfahrens am Sitz gutgläubiger Tochtergesellschaften geht durch die einschränkende Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Gefahr widersprechender Entscheidungen merklich zurück. Zwar mag aus Sicht des Klägers weiterhin die gemeinsame Inanspruchnahme von Tochter- und Muttergesellschaft von Interesse sein, etwa um im Falle der Insolvenz der Tochtergesellschaft gegen einen zahlungsfähigen Beklagten vorgehen zu können. Die Erweiterung der Verfahrenskonzentration um Kartellmitglieder aus anderen Konzernen dürfte dem Kläger jedoch kaum einen Mehrwert bringen, da die konzernfremden Gesellschaften lediglich für die von der Tochtergesellschaft verursachten Schäden als Gesamtschuldner in Anspruch genommen werden könnten. bb) Die Tochtergesellschaft ist die Annexbeklagte In dem praktisch selteneren Fall, dass eine nicht adressierte Tochtergesellschaft der gemeinsamen Verhandlung am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft als Annexbeklagte hinzugezogen wird, besteht die Gefahr widersprechender Entscheidungen, sofern die Ankerbeklagte für das Umsetzungsverhalten der Tochtergesellschaft kartelldeliktisch verantwortlich ist. Unstreitig erfüllt ist das Kriterium etwa, wenn die Ankerbeklagte aus dem Kreis der an dem Kartellverstoß unmittelbar betei213

Ein im Ergebnis ähnliche Beschränkung der Möglichkeit zur Verfahrenskonzentration am Sitz nicht adressierter Tochtergesellschaften wird durch die von Basedow/Heinze angedachte Einschränkung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO erzielt. Die Autoren schlagen die Anforderung eines qualifizierten Tatbeitrags des Ankerbeklagten vor. Sie erwägen, die Verfahrenskonzentration auf solche Schadensersatzklagen zu beschränken, bei denen der gesamte Schaden oder mindestens ein wesentlicher Teil des Schadens des Klägers durch Absatzgeschäfte des Ankerbeklagen verursacht wurde (Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63, 80 f.). Mir erscheint an diesem Vorschlag problematisch, dass die Berücksichtigung des jeweiligen Anteils der Streitgenossen an der Schadensverursachung, die außerhalb der Betrachtung des Tatbestandsmerkmals der Gefahr widersprechender Entscheidungen geschieht, einer systemfremden Gewichtung der einzelnen Wohnsitzzuständigkeiten nahekommt (zur Unzulässigkeit des Kriterium des key defendant schon oben auf S. 132 f.).

304 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht ligten Adressaten der Bußgeldentscheidung kommt, da diese Gesellschaften für alle kartellbedingten Schäden gesamtschuldnerisch haften. Fungiert dagegen eine andere Vertriebsgesellschaft aus dem eigenen oder aus einem fremden Konzern als Ankerbeklagte, wird die Zulässigkeit der Verfahrenskonzentration erneut durch die Art und Weise der Begründung der kartelldeliktischen Verantwortlichkeit bedingt. Fällt einer der beiden Tochtergesellschaften ein eigenständiger Kartellverstoß zur Last, resultiert die Gefahr widersprechender Entscheidungen aus der umfassenden gesamtschuldnerischen Haftung für die durch die Absatzgeschäfte der jeweils anderen Gesellschaft verursachten Schäden. Werden die beiden Tochtergesellschaften beide für die Kartellverstöße ihrer jeweiligen Muttergesellschaften in Anspruch genommen, kommt die gemeinsame Verhandlung nicht in Betracht, da die gesamtschuldnerische Haftung der Tochtergesellschaften jeweils auf das eigene Umsetzungsverhalten begrenzt ist. 2. Streitgenössischer Kontakt zum Ankerbeklagten Voraussetzung der Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO ist weiterhin, dass Anker- und Annexbeklagter vor dem Prozess in einen streitgenössischen Kontakt getreten sind. Im Kartelldeliktsrecht ist das Erfordernis erfüllt, wenn das annexbeklagte Kartellmitglied bei der Vornahme des wettbewerbswidrigen Verhaltens eine Nähebeziehung zum ankerbeklagten Kartellmitglied eingegangen ist und dabei Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis von dessen Sitz hatte.214 a) Die Tochtergesellschaft ist die Ankerbeklagte Bei der Erhebung der Ankerklage am Sitz einer nicht adressierten Tochtergesellschaft besteht der streitgenössische Kontakt in der Regel gegenüber sämtlichen Annexbeklagten, die Partei der Kartellabsprache waren, und zwar unabhängig vom Grad der Beteiligung der Ankerbeklagten am Kartell. Beim Abschluss der Kartellvereinbarung steht nämlich bereits fest, auf welchen Märkten die Kartellkonditionen umgesetzt werden sollen, sodass die an der Kartellabsprache beteiligten Gesellschaften mit einer Gerichtspflicht am Sitz aller implementieren Vertriebsgesellschaften rechnen müssen.215 Sollen am Sitz einer Tochtergesellschaft dagegen andere Tochtergesellschaften aus dem eigenen oder aus einem fremden Konzern in 214 215

Vgl. die allgemeine Definition des streitgenössischen Kontakts auf S. 79 f. Mankowski, WuW 2012, 947, 949.

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

305

Anspruch genommen werden, denen lediglich die Implementierung, nicht aber die Kenntnis von der Kartellabsprache vorgeworfen wird, ist der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft in aller Regel nicht vorhersehbar. Der streitgenössische Kontakt bestünde lediglich, wenn die annexbeklagte Tochtergesellschaft im Einzelfall Kenntnis von der Beteiligung der Ankerbeklagten an demselben Kartell erlangt hat. 216 Das gilt insbesondere auch für die strukturell gleichgeordneten Gesellschaften desselben Konzerns, also für die Schwestergesellschaften der Ankerbeklagten, da die lediglich mittelbare gesellschaftsrechtliche Verbindung über die gemeinsame Muttergesellschaft den erforderlichen streitgenössischen Kontakt nicht begründet.217 b) Die Tochtergesellschaft ist die Annexbeklagte Im praktisch selteneren Fall, dass die nicht adressierte Tochtergesellschaft der gemeinsamen Verhandlung als Annexbeklagte hinzugezogen wird, richtet sich das Bestehen des streitgenössischen Kontakts zum Ankerbeklagten nach dem Grad der Beteiligung der Tochtergesellschaft am Kartell. War die Tochtergesellschaft selbst Partei der Kartellvereinbarung oder war ihr bei der Implementierung der Kartellabsprache die Reichweite der Kartellabsprache bekannt, ist die Inanspruchnahme am Sitz aller am Kartell beteiligten Gesellschaften für sie vorhersehbar. Hat die Tochtergesellschaft das Kartell dagegen lediglich gutgläubig implementiert, so ist die Gerichtspflicht am Sitz eines anderen Kartellmitglieds für sie überraschend. Eine Ausnahme bildet die Inanspruchnahme der gutgläubigen Tochtergesellschaft am Sitz der eigenen Muttergesellschaft, da die dortige Gerichtspflicht ob des bestehenden gesellschaftsrechtlichen Subordinationsverhältnisses vorhersehbar ist.218 3. Darlegung der Erfolgsaussichten einer gegen die Tochtergesellschaft erhobenen Ankerklage Die Erhebung der Ankerklage gegen nichtadressierte Tochtergesellschaften wird ob der bestehenden Anreize zum forum shopping mitunter weniger von dem Willen zur tatsächlichen Inanspruchnahme der im 216

So im Ergebnis auch Zimmer, Konkretisierung des Auswirkungsprinzips, 307. A.A. Mankowski, WuW 2012, 947, 949, der die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft bei Klagen am Sitz nicht adressierter Tochtergesellschaften pauschal bejaht. 217 Ausführlich zum streitgenössischen Kontakt innerhalb des klassischen Unterordnungskonzerns bereits auf S. 222 ff. 218 Siehe oben S. 222 ff.

306 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Gerichtsstaat ansässigen Tochtergesellschaft getragen, als von der Motivation die Klagen gegen die übrigen Mitglieder des Kartells vor dem „präferierten“ Gericht verhandeln zu können. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass im Kontext der Konzentration grenzüberschreitender Kartellprozesse am Sitz englischer Tochtergesellschaften die Problematik der Zuständigkeitserschleichung virulent geworden ist.219 Die Möglichkeit zur Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft durch die Erhebung einer unbegründeten Ankerklage resultiert aus dem Zusammenspiel des beschränkten Umfangs der Zuständigkeitsprüfung, der Personenmehrzahl auf Beklagtenseite und dem Grundsatz der perpetuatio fori. 220 Der Aufschub einer eingehenderen Auseinandersetzung mit dem Klägervortrag in der Zulässigkeit rechtfertigt sich grundsätzlich aus der Überlegung, dass den Interessen des Beklagten selbst dann gedient ist, wenn sich die Behauptungen des Klägers in der Begründetheitsprüfung als falsch herausstellen, da der Beklagte von einem rechtskräftigen Sachurteil mehr profitiert als von einem bloßen Prozessurteil.221 Am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft geht diese Überlegung indes fehl, weil das Gericht auf Grundlage der Behauptungen des Klägers seine Zuständigkeit gegenüber allen Beklagten erklärt, die Abweisung der Ankerklage jedoch allein zum Ausscheiden des Ankerbeklagten aus der gemeinsamen Verhandlung führt.222 Im Interesse des Beklagtenschutzes ist bezüglich der Tatsachenbehauptungen des Klägers daher eine Verschärfung der gerichtlichen Prüfungspflichten angezeigt.223 Das angerufene Gericht muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vom Zutreffen der Tatsachenbehauptungen des Klägers ausgehen. 224 Der nachfolgende Abschnitt überprüft auf Grundlage dieser Vorgabe, welche Anforderungen an die Darlegung der kartelldeliktischen Verantwortlichkeit nicht adressierter Tochtergesellschaften zu stellen sind. Zu differenzieren gilt es dabei erneut zwischen der Art und Weise der Begründung der haftungsrechtlichen 219

Wird eine Tochtergesellschaft dem Verfahren als Annexbeklagte hinzugezogen, besteht mangels zuständigkeitsbegründender Wirkung der Annexklage dagegen kein vergleichbarer Anreiz zur bloßen Behauptung eines Kartellverstoßes. 220 Eingehend zur Gefahr der Zuständigkeitserschleichung schon oben S. 103 ff. 221 Mäsch, IPRax 2005, 509, 513; Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit, 604; Schack, IZVR, Rn. 446. 222 Mäsch, IPRax 2005, 509, 514. 223 Auch eine Verifizierung der Rechtsausführungen des Klägers ist angezeigt (siehe dazu S. 105 f.), die im nachfolgenden Abschnitt jedoch nicht von Bedeutung ist. 224 Siehe oben S. 122 f.

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

307

Verantwortlichkeit der Tochtergesellschaft, nämlich, ob der Kläger den eigenständigen Verstoß gegen Art. 101 AEUV vorträgt (dazu unter a)) oder auf die Haftung für den Kartellverstoß der Muttergesellschaft abstellt (dazu unter b)). a) Die Ankerklage wird auf einen eigenständigen Kartellverstoß der Tochtergesellschaft gestützt Die Anforderungen an die Darlegung eines eigenständigen Kartellverstoßes nicht adressierter Tochtergesellschaften im klägerischen Vortrag zur Ankerklage wurden erstmals in der Berufungsentscheidung des Cooper Tire-Verfahrens thematisiert. 225 Nachdem der High Court den englischen Tochtergesellschaften die Kartellverstöße ihrer Muttergesellschaften „von oben nach unten“ zugerechnet hatte, wiesen die in Berufung gegangenen Beklagten226 vor dem Court of Appeal darauf hin, dass der Rückgriff auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit mangels klarer Vorgaben aus der bußgeldrechtlichen EuGH-Rechtsprechung umstritten sei. Sie drängten aus diesem Grund auf eine Klärung der Zulässigkeit der Haftungserweiterung von Tochtergesellschaften durch ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH.227 Die englischen Berufungsrichter brachte der Einwand der Beklagten in die Bredouille, dass der Gerichtshof, sollte er Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten, der Praxis der Durchsetzung kartelldeliktischer Klagen am Sitz englischer Tochtergesellschaften ein Ende setzen könnte. 228 Um den sich gerade entwickelnden Standort England als „preferred jurisdiction“ für die mit ihren hohen Streitwerten lukrativen Kartellprozesse zu erhalten, sollte der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft daher ohne Rückgriff auf das Konzept der wirtschaftlichen Einheit eröffnet werden. Die Erfolgsaus225

Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864. Im Provimi-Fall schlossen die Parteien nach der Zuständigkeitsentscheidung des High Court einen Vergleich (vgl. Scott/Simpson, in: Gotts (Hg.), The Private Competition Enforcement Review, 87, 94, Fn. 35). 226 Die positive Zuständigkeitsentscheidung des High Court wurde lediglich von den Gesellschaften der Dow-Gruppe vor dem Court of Appeal angegangen. 227 Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 31. 228 Vgl. etwa Woodgate/Filippi, ECLR 33 (2012), 175: „The United Kingdom has for some time been regarded as one of the most attractive jurisdictions in the European Union for claimants in private antitrust damages actions. Reasons for this include the […] liberal approach of the English courts to jurisdiction […].“ Ähnlich Lawrence/Morfey, in: Danov/Becker/Beaumont, Cross-Border EU Competition Law Actions, 149; Vrcek, in: Foer/Cuneo (Hg.), International Handbook on Private Enforcement, 277, 294.

308 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht sichten der Ankerklage wurden aus diesem Grund mit einem eigenständigen Verstoß der Tochtergesellschaft begründet.229 Der Ansatz des Court of Appeal zur Begründung der kartelldeliktischen Verantwortlichkeit von Tochtergesellschaften soll nachfolgend vorgestellt werden. Neben der Cooper Tire-Entscheidung wird zu diesem Zweck auch die unlängst im Berufungsverfahren der Rechtssache Toshiba ergangene Entscheidung230 beleuchtet (dazu unter aa)). Danach wird die Rechtsprechung des Court of Appeal auf ihre Vereinbarkeit mit dem englischen real issue-Erfordernis und dem Entziehungsvorbehalt des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO hin überprüft (dazu unter bb). Schließlich sollen eigene Vorgaben zur Darlegung eines eigenständigen Kartellverstoßes nicht adressierter Tochtergesellschaften im klägerischen Vortrag aufgestellt werden (dazu unter cc)). aa) Der Ansatz des Court of Appeal Der Court of Appeal thematisiert die Erfolgsaussichten der Ankerklage bei der Prüfung des sog. real issue-Erfordernisses der englischen Rechtsprechung. Danach muss das angerufene Gericht bei der Entscheidung über die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft zwar nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vom Zutreffen der vom Kläger behaupteten Tatsachen ausgehen. Die bloße Behauptung von Tatsachen ist für die Begründung der Zuständigkeit gegenüber den Annexbeklagten jedoch nicht ausreichend.231 (1) Die Entscheidung Cooper Tire Im Fall Cooper Tire gestaltete sich die Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Ankerbeklagten über einen eigenständigen Kartellverstoß schwierig. Es bestanden bereits Zweifel, ob die Kläger die Voraussetzungen eines eigenständigen Kartellverstoßes der englischen Tochtergesellschaften vorgetragen hatten. Die particulars of claim enthielten nämlich lediglich die Behauptung, dass die Ankerbeklagte an der Implementierung des Kartells beteiligt gewesen sei, nicht aber, dass die Ankerbeklagte auch in Kenntnis der Kartellabsprache ihrer Muttergesell-

229 Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 45. 230 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2012] EWCA Civ 1190. 231 Zu den Anforderungen an den Tatsachenvortrag des Klägers nach dem englischen real issue-Erfordernis ausführlich oben S. 120 f.

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

309

schaften gehandelt hatte.232 Longmore LJ unterstellte den Klägern dennoch, die Ankerklage nicht auf zugerechnetes, sondern auf eigenes Verhalten der Tochtergesellschaft gestützt zu haben. Für die Darlegung eines eigenständigen Kartellverstoßes der Tochtergesellschaft erachtete er bereits für ausreichend, dass die Kläger den Vorwurf der Mitwirkung an der Kartellabsprache (und damit die Kenntnis) bezogen auf die Repräsentanten und Mitarbeiter des Konzerns erhoben hatten („the representatives and/or employees of the […] Group“), und dass die Tochtergesellschaft zumindest der Implementierung der Kartellabsprache beschuldigt wurde („the Arrangements were implemented in connection with the sales […] by the first Defendant“). In den Worten von Longmore LJ: „But once it is alleged that representatives of (inter alia) Shell, Bayer and indeed Dow and others had discussions to co-ordinate their anti-competitive behaviour (para 41) and that those discussions led to ‘each of the Defendants’ co-ordinating their anti-competitive behaviour (para 44) and that the arrangements were implemented by ‘each of the Defendants’ with specific attention being drawn to sales by the First and Seventh Defendants (para 46), that to our mind constitutes a general plea of involvement in the arrangements rather than a narrower assertion of liability in the absence of knowledge or awareness of them.“233

Die Spezifizierung, geschweige denn Substituierung, des klägerischen Vortrags zur haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Tochtergesellschaft erachtet Longmore LJ dagegen nicht für notwendig. Zur Begründung führte er zum einen aus, dass Kartellen naturgemäß geheime Absprachen zugrundelägen, die erst durch die vollständige Beweisauf232

Die Auszüge der particulars of claims sind in der Entscheidungsbegründung abgedruckt: „[T]he particulars of claim asserted under the heading ‘The Facts’ as follows: 41 ‘At various times […] representatives and/or employees of the Shell Group, the Bayer Group, [and] the Dow Group […] met and undertook discussions with a view to coordinating their competitive behaviour […]’. 44 ‘The Cartel Discussions in fact led to each of the Defendants and companies in the Eni Group and the Shell Group coordinating their competitive behaviour […].’ 46 ‘The Arrangements were implemented by each of the defendants […] in relation to their sales of BR and ESBR to the Claimants. Without prejudice to the generality of the foregoing, it is specifically averred that the Arrangements were implemented in connection with the sales of BR and/or ESBR by the First, Fifth to Seventh, Ninth to Thirteenth and Seventeenth to Twentieth Defendant to the Claimants.’“ (Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 37). 233 Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 39 unter Hinweis auf die in der vorherigen Fußnote abgedruckten particulars of claim.

310 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht nahme im Rahmen einer disclosure of documents in der Begründetheit aufgedeckt werden könnten. 234 Zum anderen beeinträchtige die nähere Prüfung des klägerischen Vortrags vor Erklärung der Zuständigkeit die Prozessökonomie des Verfahrens und verursache den Parteien unnötige Kosten.235 Aus dem Vorgehen des Court of Appeal in der Berufungsentscheidung Cooper Tire resultiert zusammengefasst also das paradoxe Ergebnis, dass die Kläger nicht einmal die Kenntnis der adressierten Tochtergesellschaften von der Kartellabsprache ihrer Muttergesellschaft behaupten müssen, um die Erfolgsaussichten der Ankerklage auf einen eigenständigen Kartellverstoß zu stützen. (2) Die Entscheidung Toshiba Bestätigt hat der Court of Appeal diese Position in der unlängst ergangenen Entscheidung Toshiba. 236 Nachdem sich der High Court zuvor gegenüber sämtlichen Gesellschaften der am Kartell beteiligten Unternehmensgruppen KME, Wieland Werke und Outokumpo für zuständig erklärt hatte, rügten die Gesellschaften der KME-Gruppe vor dem Court of Appeal die mangelnden Erfolgsaussichten der Ankerklage. 237 Zur Begründung trugen die Beklagten vor, dass die Tochtergesellschaft ihres Konzerns die kartellierte Ware lediglich in Vertretung der Muttergesellschaft abgesetzt und dabei keine Kenntnis von der zugrundeliegenden Kartellvereinbarung gehabt habe. Etherton LJ stellte bei der Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Ankerbeklagten dennoch auf einen eigenständigen Kartellverstoß der KME Yorkshire Ltd ab. Zwar kritisierte der englische Richter, dass die Kläger ihre Anschuldigungen 234

Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 43. 235 Pointiert Longmore LJ in Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 41: „Enthusiastic litigants sometimes forget that jurisdiction applications are supposed to be dealt with swiftly and economically at the beginning of the case. It is quite wrong for unnecessary costs to be incurred in England when it is not even clear that the case will proceed in England at all“. 236 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2012] EWCA Civ 1190, Rn. 31. Das Urteil war mit Spannung erwartet worden, da die Richter in der mündlichen Verhandlung noch angedeutet hatten, den Ansatz des High Court zur Begründung der kartelldeliktischen Verantwortlichkeit dem EuGH vorzulegen (vgl. Scott/Simpson, in: Gotts (Hg.), The Private Competition Enforcement Review, 87, 96). 237 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2012] EWCA Civ 1190, Rn. 37.

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

311

allgemein gehalten hatten, ohne näher zu spezifizieren, warum die englische Tochtergesellschaft bei der Implementierung des Kartells in Kenntnis der zuvor abgeschlossenen Kartellvereinbarung gehandelt haben soll.238 Wie schon Longmore LJ unterstellte jedoch auch Etherton LJ den Klägern, sie hätten in den particulars of claim zum Ausdruck bringen wollen, dass die Tochtergesellschaft das Kartell in Kenntnis der Kartellvereinbarung implementiert habe.239 Unbeeindruckt zeigte sich der Court of Appeal zudem von den Einwänden der Beklagten, dass die Kläger für die Kenntnis der Tochtergesellschaft von der Kartellabsprache keine Beweise vorgelegt hätten, und dass der als Zeuge aufgerufene managing director der Ankerbeklagten sogar bestätigt habe, beim Absatz der kartellierten Ware keine Kenntnis von der Kartellabsprache gehabt zu haben. 240 Für die Substituierung des Vorwurfs des eigenständigen Kartellverstoßes der Ankerbeklagten erachtete das Gericht stattdessen für ausreichend, dass aus den vorliegenden Vertragsdokumenten die Implementierung des Kartells durch die Tochtergesellschaft hervorginge. Zur Begründung der geringen Anforderungen an den Klägervortrag verwies der Court of Appeal erneut auf die geheime Natur des Abschlusses einer Kartellvereinbarung. Erst eine abschließende Beweisaufnahme könne klären, welche Gesellschaften in Kenntnis der Kartellabsprache gehandelt hätten.241 Im Ergebnis versteht der Court of Appeal die Anforderungen an die Darlegung eines eigenständigen Kartellverstoßes der Ankerbeklagten extrem großzügig. Weder muss der Kläger konkretisieren, welche Umstände die Kenntnis der Tochtergesellschaft von der Kartellvereinbarung begründet haben könnten, noch muss die Richtigkeit der vorgetragenen Behauptungen in irgendeiner Form belegt werden. Im Gegenteil: Selbst 238

Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2012] EWCA Civ 1190, Rn. 23 f.: „The claim form itself does not distinguish between any of the defendants. It fires the following blunderbuss of alternative allegations, not easy to disentangle: ‘[T]he Defendants participated in an unlawful cartel pursuant to which they agreed upon and/or acted in concertation with respect to target prices […] and/or including by sale and/or offer for sale of level wound coil (LWC) tubes [das kartellierte Produkt] at artificially inflated prices or subject to other anti-competitive terms and conditions and/or by other acts carried out in support of the aforesaid unlawful arrangements […] and/or exchanging confidential information with other participants in the cartel’“. 239 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2012] EWCA Civ 1190, Rn. 30. 240 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2012] EWCA Civ 1190, Rn. 31. 241 Toshiba Carrier UK Ltd And Others v KME Yorkshire Ltd And Others [2012] EWCA Civ 1190, Rn. 32.

312 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht die von der Beklagtenseite zur Entlastung der Ankerbeklagten präsentierten Beweismittel werden bei der Entscheidung über die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft ignoriert. bb) Würdigung der Rechtsprechung des Court of Appeal Die Rechtsfindung des Court of Appeal ist weder mit dem bisherigen Verständnis des real issue-Erfordernisses in der englischen Rechtsprechung noch mit dem Entziehungsvorbehalt des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO vereinbar.242 Zwar stellt der Court of Appeal richtigerweise fest, dass die nähere Prüfung des klägerischen Vortrags vor Erklärung der Zuständigkeit die Prozessökonomie beeinträchtigt und unnötige Kosten verursacht. 243 Da die zur Begründung der Ankerklage vorgetragenen Tatsachen aber gegenüber den Annexbeklagten zuständigkeitsbegründend wirken, ist die Verschärfung der gerichtlichen Prüfungspflichten notwendig. An und für sich begegnet die englische Rechtsprechung der Gefahr der Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft, indem die bloße Behauptung einer begründeten Ankerklage die Anforderungen des real issue-Erfordernisses nicht erfüllt. Dass der Court of Appeal nun sogar die Richtigkeit von Tatsachen unterstellen will, die der Kläger nicht einmal konkret behauptet hat, steht in einem deutlichen Kontrast zur bisherigen Rechtsprechungslinie der englischen Gerichte zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Die Rechtsfindung des Court of Appeal widerspricht auch dem in der ständigen EuGH-Rechtsprechung zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO propagierten Entziehungsvorbehalt, wonach eine Klage nicht allein zu dem Zweck erhoben werden darf, den Beklagten der Zuständigkeit der Gerichte seines Wohnsitzstaates zu entziehen. 244 Der leichtfertige Umgang mit den Anforderungen an die Ankerklage schafft für die Geschädigten europaweit agierender Kartelle den Anreiz, durch die bloße Behauptung 242

Das real issue-Erfordernis wird in der englischen Rechtsprechung als Kriterium des nationalen Prozessrechts verstanden. Die verstärkte Prüfung der Erfolgsaussichten der Ankerklage ist jedoch auch bei europäisch-autonomer Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wegen des Entziehungsvorbehalts geboten (siehe oben S. 123 f.). 243 Cooper Tire & Rubber Company Europe Ltd And Others v Dow Deutschland Inc And Others [2010] EWCA Civ 864, Rn. 41. 244 Siehe nur EuGH v. 27.9.1988, Rs. C-189/1987 (Kalfelis/Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565, Rn. 9; EuGH v. 11.10.2007, Rs. C-98/2006 (Freeport/ Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319, Rn. 51; EuGH v. 1.12.2011, Rs. C-145/2010 (Painer/ Standard VerlagsGmbH u.a.), EuZW 2012, 182, Rn. 78.

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

313

der Voraussetzungen eines eigenständigen Kartellverstoßes einer englischen Tochtergesellschaft die Gerichtspflicht der übrigen Gesellschaften der beteiligten Konzerne in England zu begründen.245 Den Inhabern kartelldeliktischer Schadensersatzforderungen wird dadurch Gelegenheit zu einem beinahe grenzenlosen forum shopping in Europa geboten, was zu einer mit dem Schutz der Beklagtenrechte nicht zu vereinbarenden Multiplikation der Gerichtsstände führt. Die bezüglich des Ansatzes des High Court geäußerte Besorgnis eines uferlosen forum shopping an den allgemeinen Gerichtsständen nicht adressierter Tochtergesellschaften,246 ist also gleichfalls gegenüber dem Ansatz des Court of Appeal zu formulieren. Die vom Court of Appeal betonten Vorteile einer schlanken Zuständigkeitsprüfung werden durch die nachteiligen Konsequenzen eines Verzichts auf die nähere Prüfung des Klägervortrags also mehr als aufgewogen. cc) Notwendigkeit der Spezifizierung und Substantiierung des eigenständigen Kartellverstoßes der Tochtergesellschaft Die Zuständigkeitserschleichung am Sitz nicht adressierter Tochtergesellschaften lässt sich nur durch die Verschärfung der gerichtlichen Prüfungspflichten in der Zulässigkeit bekämpfen. Im Interesse des Beklagtenschutzes muss das angerufene Gericht vor der Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vom Zutreffen der Tatsachenbehauptungen des Klägers ausgehen. Zur Voraussetzung der umfassenden Konzentration eines Kartellprozesses am Sitz einer nicht adressierten Tochtergesellschaft muss deshalb die spezifizierte und substantiierte Darlegung der den eigenständigen Kartellverstoß der Ankerbeklagten begründenden Umstände erhoben werden. Insbesondere hat der Kläger Hinweise beizubringen, welche die Kenntnis der Tochtergesellschaft von der Kartellabsprache zum Zeitpunkt der Implementierung nahelegen. Vor allem auf ein 245

Treffend bemerkt Brown, ECLR 32 (2011), N-22, N-24: „[T]he Court of Appeal’s judgment [Cooper Tire] appears to offer claimants a strong incentive to ‘game’ the system by pleading knowledge and/or implementation of a cartel by a UK-based subsidiary simply so as to secure jurisdiction for the claim against the parent and co-defendant, later abandoning the point once any jurisdictional disputes have been resolved.“ Siehe aber auch Mercer, in: Danov/Becker/Beaumont (Hg.), Cross-Border EU Competition Law Actions, 329: „[D]efendants’s tactics in such actions are essentially to exploit uncertainty, so as to wear down the will of the claimants or at least their financial resource. Examples of such tactics are: challenges to the Jurisdiction […]“. 246 Siehe oben S. 284 und S. 294.

314 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht substantiiertes Bestreiten von der Beklagtenseite hin (wie durch die Zeugenaussage des managing directors im Fall Toshiba) darf das Gericht die Richtigkeit der Behauptungen des Klägers nicht einfach unterstellen. Vielmehr sollte die Indizienlage im Rahmen einer vorläufigen Beweiswürdigung überprüft werden, um den Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nur bei einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der Kenntnis der Tochtergesellschaft von der Kartellabsprache zu eröffnen. Auf den ersten Blick scheint eine derart erhöhte Darlegungslast die Rechtsdurchsetzung am Sitz nichtadressierter Tochtergesellschaft zu sehr zu erschweren, da die erforderlichen Informationen zum Nachweis der Kenntnis der Ankerbeklagten dem Kläger vor der umfassenden Beweisaufnahme nur selten zur Verfügung stehen werden. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass sich der Kläger selbst in die beschriebenen Beweisschwierigkeiten begibt, wenn er versucht, die Konzentration des gesamten follow on-Verfahrens i.w.S. auf den eigenständigen Kartellverstoß einer nicht adressierten Tochtergesellschaft zu stützen. In dieser Konstellation wird die kartelldeliktische Verantwortlichkeit des Ankerbeklagten nämlich vollkommen losgelöst von den Feststellungen der vorausgegangenen Bußgeldentscheidung begründet. Ohne die Darlegung der schwer nachweisbaren Kenntnis der Kartellabsprache kommt der Kläger dagegen aus, wenn die kartelldeliktische Verantwortlichkeit mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit auf den Kartellverstoß der adressierten Muttergesellschaft gestützt wird, um zumindest die partielle Verfahrenskonzentration am Sitz der Tochtergesellschaft zu erwirken. Schließlich bleibt darauf hinzuweisen, dass zur umfassenden Verfahrenskonzentration mit sämtlichen Kartellmitgliedern die Möglichkeit verbleibt, die Rolle des Ankerbeklagten mit einem Adressaten der Bußgeldentscheidung zu besetzen. Für die Darlegung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit kann in diesem Fall vollständig auf die Feststellungen der Bußgeldentscheidungen rekurriert werden. Aus der hier geforderten Verschärfung der gerichtlichen Prüfungspflichten resultiert insgesamt also keine unzumutbare Benachteiligung der Inhaber kartelldeliktischer Schadensersatzforderungen. b) Die Ankerklage wird auf den Kartellverstoß der Muttergesellschaft gestützt Werden die Erfolgsaussichten der gegen die Tochtergesellschaft erhobenen Klage nicht auf einen eigenständigen, sondern auf einen von der

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

315

Muttergesellschaft zugerechneten Kartellverstoß gestützt, so hat der Kläger die Voraussetzungen für das Entstehen einer wirtschaftlichen Einheit darzulegen. Nach hier vertretener Auffassung muss aus dem klägerischen Vortrag zur Ankerklage hervorgehen, dass die Tochtergesellschaft die kartellierte Ware in einer direkten Lieferbeziehung zum Kläger abgesetzt hat. Diesen Nachweis wird der Kläger ohne Schwierigkeiten erbringen können, da er in aller Regel im Besitz der bei Gericht vorzulegenden Vertragsdokumente ist. Stützt der Kläger die Haftung der nicht adressierten Tochtergesellschaft auf das Bestehen einer wirtschaftlichen Einheit zur adressierten Muttergesellschaft, fällt die Darlegung der Erfolgsaussichten der Ankerklage also weitaus leichter, als bei der Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit über einen eigenständigen Kartellverstoß. Aus Sicht des Klägers gilt es allerdings zu bedenken, dass die beweistechnisch leichtere Begründung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit nach der hier vertretenen Auffassung mit dem Nachteil der Begrenzung der Verfahrenskonzentration auf die durch das Umsetzungsverhalten der Tochtergesellschaft verursachten Schäden einhergeht. Der Geschädigte kann die umfassende Verfahrenskonzentration gegen sämtliche am Kartell beteiligte Gesellschaften also nicht herbeiführen, was den Anreiz zur Erhebung der Ankerklage am Sitz einer nicht adressierten Tochtergesellschaft erheblich reduziert. 4. Ergebnis zur Klage gegen Tochtergesellschaften Stützt der Geschädigte die Klage gegen die nicht adressierte Tochtergesellschaft auf einen eigenständigen Kartellverstoß, ist das Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen erfüllt. Die aus der gemeinsamen Haftung resultierende Identität der Sach- und Rechtslage besteht in Bezug auf alle Annexklagen, die gegen die übrigen Mitglieder des Kartells erhoben werden. Zur Darlegung der Erfolgsaussichten der Ankerklage muss der Kläger jedoch Indizien beibringen, die den Absatz der kartellierten Ware in Kenntnis der Kartellabsprache nahelegen. Nur wenn das angerufene Gericht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vom Zutreffen des klägerischen Vortrags ausgeht, sollte der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft gegenüber den übrigen Kartellmitgliedern eröffnet werden. Wird die Tochtergesellschaft dagegen für den Kartellverstoß ihrer Muttergesellschaft in Haftung genommen, ist an ihrem allgemeinen Gerichtsstand lediglich die partielle Konzentration der gegen das Kartell bestehenden Schadensersatzansprüche zulässig. Die Identität der Sachund Rechtslage besteht nur in Hinblick auf diejenigen Annexklagen, die

316 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht auf Ersatz der aus den Absatzgeschäften der Tochtergesellschaft resultierenden Schäden gerichtet sind. Im Gegenzug ist für die Darlegung der Erfolgsaussichten der Ankerklage bereits ausreichend, dass die Implementierung der Kartellabsprache gegenüber dem Kläger durch die Vorlage der entsprechenden Vertragsdokumente nachgewiesen wird. Der streitgenössische Kontakt ist in aller Regel zwischen der Tochtergesellschaft und sämtlichen Annexbeklagten, die Partei der Kartellabsprache waren, gegeben und zwar unabhängig vom Grad der eigenen Beteiligung der Tochtergesellschaft am Kartell. Auf welchen Märkten die Kartellkonditionen umgesetzt werden, steht nämlich schon beim Abschluss der Kartellvereinbarung fest, sodass die an der Kartellabsprache beteiligten Gesellschaften mit einer Gerichtspflicht am Sitz aller implementieren Vertriebsgesellschaften rechnen müssen. Handelt es sich bei den Annexbeklagten dagegen lediglich um andere Tochtergesellschaften, ist das Kriterium des streitgenössischen Kontakts nur erfüllt, wenn sie im Einzelfall Kenntnis von der Beteiligung der Ankerbeklagten an demselben Kartell erlangen. Das gilt sogar für die Schwestergesellschaften der Ankerbeklagten, da die lediglich mittelbare gesellschaftsrechtliche Verbindung über die gemeinsame Muttergesellschaft alleine nicht ausreicht, um den erforderlichen streitgenössischen Kontakt zu begründen. Das hier vorgeschlagene Konzept für die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei der Verfahrensverankerung am Sitz nicht adressierter Tochtergesellschaften begegnet der Gefahr des uferlosen forum shopping am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft also durch eine Kombination aus der Begrenzung der Reichweite der gesamtschuldnerischen Haftung für den „von oben nach unten“ zugerechneten Kartellverstoß, der Verschärfung der Anforderungen an die Darlegung eines eigenständigen Kartellverstoßes der Tochtergesellschaft und dem Erfordernis des streitgenössischen Kontakts. Die zu Beginn dieses Abschnitts angesprochene Problematik der Multiplikation der Gerichtsstände durch die potentielle Gerichtspflicht aller Kartellmitglieder für alle kartellbedingten Schäden am Sitz einer jeden Tochtergesellschaft wird durch diese Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO wesentlich entschärft. Es besteht daher auch keine Notwendigkeit für eine weitere Einschränkung der Vorschrift. IV. Ergebnis Deutlich komplizierter als in follow on-Verfahren i.e.S. gestaltet sich die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, wenn die gemeinsame Verhand-

C. Die komplizierten Fälle: Follow on-Verfahren i.w.S.

317

lung unter Beteiligung von Beklagten stattfindet, die selbst keine Adressaten der behördlichen Entscheidung sind (follow on-Verfahren i.w.S.). Die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit nicht adressierter Konzerngesellschaften lässt sich nämlich nur mittelbar, über den Adressaten des Bußgeldbescheids, auf die Feststellungen der Kartellbehörden stützen. Die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO gegenüber Muttergesellschaften von Adressaten ist zulässig. Die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht, da nichtadressierte Muttergesellschaften für alle kartellbedingten Schäden gesamtschuldnerisch haften, gleich ob ihre kartelldeliktische Verantwortlichkeit auf einen eigenständigen Kartellverstoß oder den Kartellverstoß der Tochtergesellschaft gestützt wird. Somit beruht die gegen die Muttergesellschaft eingereichte Klage mit der Klage gegen ihre Tochtergesellschaft und den Klagen gegen die übrigen Adressaten der Bußgeldentscheidung auf einer identischen Sachund Rechtslage. Auch das Erfordernis des streitgenössischen Kontakts zum Ankerbeklagten ist erfüllt. Fällt der nicht adressierten Muttergesellschaft ein eigenständiger Kartellverstoß zur Last, gewährleistet das gemeinschaftliche Zusammenwirken bei der Begehung des Kartellverstoßes die Vorhersehbarkeit des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft. Wird die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Muttergesellschaft dagegen mithilfe des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit begründet, muss die Muttergesellschaft im Verhältnis zu den konzernexternen Adressaten der Bußgeldentscheidung das durch ihre Tochtergesellschaft begründete Näheverhältnis gegen sich gelten lassen. Die Konzentration eines internationalen Kartellprozesses am Sitz einer nicht adressierten Tochtergesellschaft ist nur in engen Grenzen zulässig. Das Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen ist in Bezug auf die gegen die übrigen Kartellmitglieder erhobenen Klagen erfüllt, wenn die Tochtergesellschaft die kartellierte Ware in Kenntnis der Kartellabsprache der Muttergesellschaft abgesetzt hat, da aus der umfassenden haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Tochtergesellschaft die Identität der Sach- und Rechtslage resultiert. Für die Darlegung eines eigenständigen Kartellverstoßes muss der Kläger jedoch Indizien beibringen, die den Absatz der kartellierten Ware in Kenntnis der Kartellabsprache nahelegen. Wird die Tochtergesellschaft dagegen für den Kartellverstoß ihrer Muttergesellschaft in Haftung genommen, ist an ihrem Sitz allein die gebündelte Geltendmachung derjenigen Klagen möglich, die auf den Ersatz der durch die Absatzgeschäfte der Tochtergesellschaft verursachten Schäden zielen. Für die Darlegung der Erfolgsaussichten der Ankerklage ist dann aber aus-

318 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht reichend, dass die Implementierung der Kartellabsprache gegenüber dem Kläger nachgewiesen wird. Der streitgenössische Kontakt besteht in der Regel zwischen der Tochtergesellschaft und sämtlichen Annexbeklagten, die Partei der Kartellabsprache waren, da beim Abschluss der Kartellvereinbarung feststeht, auf welchen Märkten die Kartellkonditionen umgesetzt werden. Sollen dem Verfahren aber andere Tochtergesellschaften hinzugezogen werden, ist das Kriterium des streitgenössischen Kontakts nur erfüllt, wenn sie im Einzelfall Kenntnis von der Beteiligung der Ankerbeklagten an demselben Kartell erlangen.

D. Derogation des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO durch Zuständigkeitsvereinbarungen D. Derogation durch Zuständigkeitsvereinbarungen

Stand der Geschädigte mit mindestens einem Kartellmitglied in einer Geschäftsbeziehung, in deren Rahmen eine allgemein gehaltene Gerichtsstands- oder Schiedsvereinbarung getroffen wurde, so stellt sich bei der Durchsetzung kartelldeliktischer Ersatzansprüche die Frage, ob die Zuständigkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO derogiert ist. I.

Gerichtsstandsvereinbarungen

1. Hintergrund Gerichtsstandsvereinbarungen dürfen nach dem in Art. 23 EuGVVO formulierten Bestimmtheitsgebot nur „über eine bereits entstandene Rechtsstreitigkeit oder über eine künftige aus einem bestimmten Rechtsverhältnis entspringende Rechtsstreitigkeit“ getroffen werden. In den Worten des EuGH möchte der Verordnungsgeber damit vermeiden, „daß eine Partei dadurch überrascht wird, daß die Zuständigkeit eines bestimmten Gerichts für sämtliche Rechtsstreitigkeiten begründet wird, die sich eventuell aus den Beziehungen mit ihrem Vertragspartner ergeben und ihren Ursprung in einer anderen Beziehung als derjenigen haben, anläßlich deren die Begründung des Gerichtsstands vorgenommen wurde.“ 247 Zur Wahrung des Bestimmtheitsgebots ist nach allgemeiner Auffassung jedoch bereits ausreichend, dass aus der Gerichtsstandsvereinbarung erkennbar ist, welches Rechtsverhältnis welchem Gericht

247 EuGH v. 10.3.1992, Rs. C-214/1989 (Powell Duffryn/Petereit), Slg. 1992, I1745, Rn. 31.

D. Derogation durch Zuständigkeitsvereinbarungen

319

unterstellt werden soll.248 Internationale Handelsverträge enthalten deshalb häufig allgemein gefasste Gerichtsstandsklauseln, die alle Ansprüche „in Verbindung mit dem Vertrag“, „aus diesem Rechtsverhältnis“, oder „aus der zugrundeliegenden Rechtsbeziehung“ der ausschließlichen Zuständigkeit eines bestimmten Gerichts zuweisen. Die sachliche Reichweite der Gerichtsstandsabrede lässt sich dann nur im Wege der Auslegung ermitteln, wobei in Hinblick auf kartelldeliktische Schadensersatzansprüche lebhaft diskutiert wird, ob solche Ansprüche von allgemein gehaltenen Gerichtsstandsklauseln erfasst werden. 2. Zulässigkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen Ein generelles Verbot der Derogation der internationalen Zuständigkeit in Kartellsachen ist lediglich denkbar, sofern die Parteien die Zuständigkeit eines Gerichts in einem Drittstaat vereinbart haben. 249 Die im Schrifttum vereinzelt vertretene Auffassung, wonach auch die Prorogation eines mitgliedstaatlichen Gerichts aus Gründen des Wettbewerbsschutzes generell unzulässig sei,250 übersieht nämlich, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen für Gerichtsstandsabreden in der EuGVVO abschließend ausgestaltet sind. 251 Nach hier vertretener Auffassung derogieren Vereinbarungen zu Gunsten drittstaatlicher Gerichte die mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten, sofern die Voraussetzungen des Art. 23 EuGVVO und der Bestimmungen der lex fori erfüllt sind. 252 Bei der Beurteilung der Derogationswirkung einer solchen Vereinbarung sind folglich nationale Zulässigkeitsschranken, wie etwa das im deutschen Recht aus § 130 Abs. 2 GWB abgeleitete Verbot der Abbedingung der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte in kartellrechtlichen Streitigkeiten, zu beachten.253 Bei der Vereinbarung der Gerichte eines 248

Vgl. nur Heinig, Gerichtsstandsvereinbarungen, 169 f. m. w. Nachw. Maier, Marktortanknüpfung, 213 ff.; Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße, 140 f.; Wurmnest, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 66 ff. 250 Wiedemann/Bumiller, Handbuch des Kartellrechts, § 60 Rn. 48. 251 Wurmnest, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 67 f. Zum abschließenden Charakter des Art. 23 EuGVVO siehe Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6, Rn. 133; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 23 EuGVO, Rn. 17; Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 23 Brüssel I-VO, Rn. 10. 252 Nach hier vertretener Ansicht stellt Art. 23 EuGVVO Mindestanforderungen für die Derogation der Art. 2 ff. EuGVVO, die von strengeren Regelungen des nationalen Rechts ergänzt werden (siehe oben S. 170 ff.). 253 Wurmnest, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 67 f. 249

320 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Drittstaats ist ferner nicht ausgeschlossen, dass die Derogation der Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte zur Ausschaltung der international zwingenden Bestimmungen des Art. 101, 102 AEUV führt.254 In diesem Kontext legen die EuGH-Entscheidungen Eco Swiss 255 und Ingmar 256 nahe, auf Drittstaaten abzielende Gerichtsstandsvereinbarungen ausnahmsweise zu missachten, sofern bei der Beurteilung der Derogationswirkung erkennbar ist, dass die Kollisionsnormen des prorogierten Gerichts die EU-Kartellverbotsnormen außer Acht lassen werden.257 3. Sachliche Reichweite allgemein gehaltener Gerichtsstandsvereinbarungen Zur Bestimmung der sachlichen Reichweite von Gerichtsstandsvereinbarungen ist in einem ersten Schritt das auf die Auslegung anzuwendende Recht zu ermitteln (dazu unter a)). Sodann wird auf Basis der im deutschen und englischen Recht geltenden Auslegungsgrundsätze beantwortet, ob kartelldeliktische Schadensersatzansprüche von allgemein gehaltenen Gerichtsstandsabreden erfasst werden (dazu unter b)). Schließlich werden die Konsequenzen der hier vertretenen Position für kartelldeliktische Schadensersatzklagen im Anwendungsbereich der EuGVVO erörtert, wobei insbesondere die Vereinbarkeit mit dem europarechtlichen Effektivitätsgebot zu thematisieren sein wird (dazu unter c)). a) Das für die Auslegung maßgebliche Recht Während sich die formelle und materielle Gültigkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung ausschließlich nach den europäisch-autonomen Vorgaben des Art. 23 EuGVVO richten, ist die Auslegung einer Gerichtsstandsvereinbarung zur Bestimmung ihrer Reichweite „Sache des natio-

254

Basedow, in: Basedow (Hg.), Private Enforcement of EC Competition Law, 229, 235; Wilderspin, in: Basedow/Francq/Idot (Hg.), International Antitrust Litigation, 41, 54 f. Ausführlich zum Meinungsstand vgl. Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße, 140 ff. m. w. Nachw. 255 EuGH v. 1.6.1999, Rs. C-126/1997 (Eco Swiss China Time/Benetton International), Slg. 1997, I-3055. 256 EuGH v. 9.11.2000, Rs. C-381/1998 (Ingmar GB/Eaton Leonard Technologies), Slg. 2000, I-9305. 257 Eingehend Basedow, in: Basedow (Hg.), Private Enforcement of EC Competition Law, 229, 235; Wilderspin, in: Basedow/Francq/Idot (Hg.), International Antitrust Litigation, 41, 54 f.; Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße, 140 ff.

D. Derogation durch Zuständigkeitsvereinbarungen

321

nalen Gerichts, vor dem sie geltend gemacht wird“.258 Wie dieser Hinweis des EuGH zu verstehen ist, wird im Schrifttum unterschiedlich beantwortet. Weitgehend konsentiert ist, dass die wenigen allgemeinen Vorgaben des Unionsrechts 259 keine ausreichende Basis für eine Auslegung nach autonomen Wertungen geben. 260 Meinungsverschiedenheiten bestehen indes bei der Frage, welche der zur Auswahl stehenden nationalen Rechtsordnungen die maßgebliche sein soll. Manche Autoren beabsichtigen, das Recht des Staates zur Anwendung zu bringen, dessen Gericht über die Derogationswirkung zu entscheiden hat,261 wohingegen andere das Recht des durch die Abrede prorogierten Gerichts berufen möchten. 262 Eine dritte Auffassung will mithilfe der Regeln des internationalen Privatrechts des Forumstaates das Recht ermitteln, dem die Gerichtsstandsvereinbarung als Vertrag sui generis unterliegt, was aufgrund der gebotenen akzessorischen Anknüpfung regelmäßig zum auf den Hauptvertrag anwendbaren Recht führt (vgl. Erwägungsgrund 12 Rom I-VO).263 258 EuGH v. 10.3.1992, Rs. C-214/1989 (Powell Duffryn/Petereit), Slg. 1992, I1745, Rn. 37; EuGH v. 3.7.1997, Rs. C-269/1995 (Benincasa/Dentalkit), Slg. 1997, I-3767, Rn. 31. 259 Zu den direkt aus Art. 23 EuGVVO ableitbaren Vorgaben zählen der allgemeine Vorrang des Parteiwillens und die Vermutung der ausschließlichen Zuständigkeit des gewählten Gerichts (Magnus/Mankowski/Magnus, Art. 23 Brussels IRegulation, 143). 260 Siehe nur Pfeiffer, FS Wolfrum 2012, 2057, 2058; Schlosser, EuZPR, Art. 23 EuGVVO, Rn. 38. Insbesondere lässt sich der Rechtsprechung des EuGH nicht der Grundsatz der strikten Auslegung entnehmen (so aber Vischer, FS Jayme 2004, 993, 995 unter Hinweis auf EuGH v. 14.12.1976 Rs. 24/1976 (Estasis Salotti di Colzani Aimo e Gianmario Colzani/Rüwa Polstereimaschinen), Slg. 1976, 1831, Rn. 7), da der Gerichtshof bisher nur die Auslegung der Tatbestandsmerkmale des Art. 23 EuGVVO nicht aber die Bestimmung der sachlichen Reichweite der Vereinbarung ins Auge gefasst hat (zutreffend Magnus/Mankowski/Magnus, Art. 23 Brussels IRegulation, 142; Wurmnest, FS Magnus 2014, 567, 572 f.). 261 Schack, IZVR, Rn. 519; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 23 EuGVO, Rn. 69; Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution, Rn. 152. 262 In diese Richtung Mäsch, IPRax 2005, 509, 514; wohl auch Vischer, FS Jayme 2004, 993 f. („Berücksichtigung“ des Rechts am vereinbarten Gerichtsort). 263 Eingehend Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, 4.36; Heinze, RabelsZ 75 (2011), 581, 586; Wurmnest, FS Magnus 2014, 567, 573 f.; ders., in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 70 ff.; siehe auch Bader, Die internationalprivatrechtliche Behandlung von Schadensersatzansprüchen aus Kartellverstößen, 220; MünchKomm ZPO/Gottwald, Art. 23 EuGVVO, Rn. 24; Magnus/Mankowski/Magnus, Art. 23 Brussels I-Regulation, Rn. 143; Maier, Marktortanknüpfung, 164; Rauscher/ Mankowski, EuZPR, Art. 23 Brüssel I-VO, Rn. 62; Pfeiffer, FS Wolfrum 2012, 2057, 2058; Schlosser, EuZPR, Art. 23 EuGVVO, Rn. 43a.

322 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Die Auslegung nach der lex fori des vom Kläger angerufenen Gerichts befördert zwar die Prozessökonomie, weil der Entscheidung über die internationale Zuständigkeit keine komplexen Sachverhalts- und Fremdrechtsermittlungen vorgeschaltet werden. 264 Gleichwohl kann die Auffassung nicht überzeugen, da abhängig vom jeweils angerufenen Gericht unterschiedliche Ergebnisse hinsichtlich der Reichweite derselben Abrede erzielt werden können, was der einheitlichen Anwendung der Gerichtsstände der EuGVVO widerspricht und auf diese Weise dem forum shopping Vorschub leistet.265 In Hinblick auf die beiden verbleibenden Ansichten gilt es zunächst zu berücksichtigen, dass diese regelmäßig ohnehin zum gleichen Ergebnis kommen werden, weil die Parteien auf den Hauptvertrag typischerweise das am vereinbarten Gerichtort geltende Recht zur Anwendung bringen wollen. 266 Das internationale Privatrecht des Forums wird das am vereinbarten Gerichtsort geltende Recht nur dann nicht berufen, wenn der Hauptvertrag ausnahmsweise eine abweichende Rechtswahl enthält, oder in Ermangelung einer wirksamen Rechtswahl die gesetzlichen Anknüpfungsregeln, insbesondere die Art. 4 ff. Rom I-VO, auf eine andere Rechtsordnung verweisen. In dieser Situation führen die sich gegenüberstehenden Lager zwei unterschiedliche Variationen des in der Sache gleichen Arguments ins Feld, und zwar, dass das auf den Hauptvertrag anwendbare Recht mit der Auslegung der Gerichtsstandsvereinbarung in keinem Zusammenhang stehe, 267 bzw. umgekehrt, dass die Auslegung nach dem Recht des vereinbarten Gerichtsortes den vertraglichen Kontext der Gerichtsstandsvereinbarung ignoriere. 268 Für die Entscheidung zwischen den beiden Auffassungen letztlich ausschlaggebend ist also, in welche Richtung das Auseinanderfallen des auf den Hauptvertrag anzuwendenden und des am vereinbarten Gerichtsort geltenden Rechts im Interesse der Parteien aufzulösen ist. M.E. bildet regelmäßig das auf den Hauptvertrag anwendbare Recht den stärkeren Anknüpfungspunkt für die Auslegung von Gerichtsstandsabreden. Zwar bildet die Anwendung des am vereinbarten Gerichtsort 264

Schack, IZVR, Rn. 519. Magnus/Mankowski/Magnus, Art. 23 Brussels I-Regulation, Rn. 143; Wurmnest, FS Magnus 2014, 567, 573. 266 Deshalb geht aus der Entscheidung Provimi nicht hervor, auf welchem Weg Aikens J dazu gelangt ist, die Reichweite der Klauseln nach dem jeweiligen Recht des gewählten Gerichtsortes zu bestimmen (Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 644 unter Hinweis auf Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 51). 267 Vischer, FS Jayme 2004, 993, 994. 268 Heinze, RabelsZ 75 (2011), 581, 586; Wurmnest, FS Magnus 2014, 573 f. 265

D. Derogation durch Zuständigkeitsvereinbarungen

323

geltenden Rechts die aus prozessökonomischer Sicht vermittelnde Lösung, weil die Bestimmung der Zuständigkeit ohne kollisionsrechtliche Prüfung auskommt und in dem relativ gesehen häufigsten Fall der Klage am vereinbarten Gerichtsort keine Fremdrechtsanwendung erforderlich ist. Die Anknüpfung an das prorogierte Gericht wäre jedoch nicht in allen Konstellationen praktikabel. Zum einen ließe sich das auf die Auslegung anwendbare Recht nicht eindeutig bestimmen, wenn die Parteien die Gerichte an mehreren Orten (beispielsweise die jeweiligen Wohnsitzgerichte) für ausschließlich zuständig erklärt haben. Zum anderen könnte die Auslegung nach dem Recht des prorogierten forum mitunter inkonsistente Ergebnisse produzieren; beispielsweise wäre nicht ausgeschlossen, dass ein Dritter, der in die Rechte aus dem Hauptvertrage eintritt, an den Hauptvertrag, nicht aber an die Gerichtsstandsvereinbarung gebunden ist. 269 Den Parteiinteressen am besten gerecht wird daher die Auslegung nach dem Recht des Hauptvertrags, in dem die Gerichtsstandsabrede eingebettet ist. Verklagt der Abnehmer kartellierter Waren seinen Lieferanten auf Schadensersatz, richtet sich die Bestimmung der Reichweite der Gerichtsstandsvereinbarungen also nach dem auf den Liefervertrag gemäß den Regeln der Rom I-VO anwendbaren Recht.270 Zwar ließe sich an dieser Stelle noch die Frage aufwerfen, welche Rechtsordnung über die Qualifikation der Rechtsnatur der nationalen Schadensersatzansprüche als der Auslegung vorgeschaltete Überlegung entscheidet. Innerhalb des Regelungsbereichs der Rom II-VO sind die Ansprüche nach europäisch-autonomen Wertungen jedoch unstreitig deliktisch zu qualifizieren. b) Rechtslage in Deutschland aa) Bisheriger Meinungsstand In Deutschland ist die Frage der sachlichen Reichweite von Gerichtsstandsvereinbarungen weder für das Kartelldeliktsrecht noch in Bezug auf andere Gebiete des Deliktsrechts höchstrichterlich geklärt. In der Instanzrechtsprechung und der Literatur wird zwar ganz herrschend vertreten, dass mit vertraglichen Ansprüchen konkurrierende Ansprüche innerhalb der sachlichen Reichweite einer Gerichtsstandsvereinbarung

269 Heinze, RabelsZ 75 (2011), 581, 586; Wurmnest, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 71 f. 270 Zutreffend Wurmnest, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 72 f.

324 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht liegen, um zu verhindern, dass unterschiedliche Gerichte dasselbe rechtswidrige Verhalten beurteilen.271 In Hinblick auf kartelldeliktische Schadensersatzansprüche hat diese (zutreffende) Erkenntnis jedoch kaum einen Mehrwert, konkurrieren diese doch nur in Ausnahmefällen mit (quasi)vertraglichen Ansprüchen, etwa bei einer culpa in contrahendo wegen der ausdrücklichen Versicherung des Kartellmitglieds, keine Preisabsprache getroffen zu haben. 272 Speziell auf das Kartelldeliktsrecht bezogene Stellungnahmen weisen so auch in entgegengesetzte Richtungen, 273 wobei die saubere Gegenüberstellung der Auffassung dadurch erschwert wird, dass nicht immer dieselben Gerichtsstandklauseln mit denselben kartelldeliktischen Anspruchsgrundlagen in Bezug gesetzt werden. 271

Vgl. etwa OLG München v. 8.3.1989, RIW 1989, 901, 903; LG Berlin v. 29.9.2004, IPRax 2005, 261, 262; Geimer/Schütze/Geimer, Art. 23 EuGVVO, Rn. 206; MünchKommZPO/Gottwald, Art. 23 EuGVVO, Rn. 65; Staudinger/ Hausmann, IntVertrVerfR, Rn. 302; Kropholler/von Hein, EuZPR Art. 23 EuGVO, Rn. 69; Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 23 Brüssel I-VO, Rn. 62a.; Dasser/ Oberhammer/Killias, Art. 23 LugÜ, Rn. 45 (zum LugÜ); vorsichtiger Vischer, FS Jayme 2004, 993, 997 (nur bei Begehung des Delikts in Zusammenhang mit der Erfüllung der vertraglichen Pflichten). 272 Es existiert keine vorvertragliche Schutzpflicht, die Kartellabsprache zu offenbaren (Maier, Marktortanknüpfung, 45; Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 644; offengelassen von LG Mannheim v. 11.7.2003, GRUR 2004, 182, 184). Der Anspruch aus c.i.c. wurde bisher nur gewährt, wenn bei Vertragsabschluss ausdrücklich das Verbot auferlegt wurde, Preisabsprachen zu treffen (OLG Celle v. 15.2.1963, NJW 1963, 2126, 2127). Zum englischen Recht vgl. die Entscheidung Ryanair Ltd v Esso Italiana Srl, [2013] EWCA Civ 1450, Rn. 27 ff., der zufolge einer Klausel über die Preisanpassung zum Zweck der Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen keine vertragliche Pflicht zur Beachtung der EU-Kartellverbotsnormen entnommen werden kann. Der Wortlaut der Klausel lautete: „If at any time a price or fee provided in this Agreement shall not conform to the applicable laws, regulations or orders of a government or other competent authority, appropriate price or fee adjustments will be made“. 273 Für die Erfassung kartelldeliktischer Ansprüche: OLG Stuttgart v. 9.11.1990, IPRax 1992, 86, 88; KG v. 18.12.1996, WuW 1997, 655, 659; Basedow, in: Basedow (Hg.), Private Enforcement, 229, 232 f.; Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63, 81 f.; Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 644; Pfeiffer, FS Wolfrum 2012, 2057, 2060 ff.; Wurmnest, EuZW 2012, 933, 935 f.; ders., FS Magnus 2014, 567, 580 ff.; ders., in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 76 ff.; Zimmer, Konkretisierung des Auswirkungsprinzips, 273 f. A.A. dagegen Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 57, 109 (Auslegung der Gerichtsstandsvereinbarung nach deutschem Recht); Bader, Die internationalprivatrechtliche Behandlung von Schadensersatzansprüchen aus Kartellverstößen, 222; Maier, Marktortanknüpfung, 163 ff.; Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße, 136 ff.; Vischer, FS Jayme 2004, 993, 996 f.

D. Derogation durch Zuständigkeitsvereinbarungen

325

bb) Anwendung der Auslegungsgrundsätze Ausgangspunkt der Auslegung bildet der aus den §§ 133, 157 BGB abgeleitete Grundsatz, dass der wirkliche Wille der Parteien bei Vertragsschluss nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte zu ermitteln ist.274 (1) Auslegungsbedürftige Klausel Grundvoraussetzung der Anwendung der Auslegungsregeln ist freilich, dass die streitgegenständliche Klausel der Auslegung zugänglich ist. Den Parteien bleibt unbenommen, kartelldeliktische Streitigkeiten in ihrer Gerichtsstandsabrede in verallgemeinerter Form zu erwähnen.275 Umgekehrt kann die Reichweite der Vereinbarung beschränkt werden, indem ausdrücklich „nur vertragliche Ansprüche“ oder „keine deliktischen Ansprüche“ erfasst werden. Auslegungsbedürftig sind demgegenüber alle Gerichtsstandsabreden, die Ansprüche „in Verbindung mit dem Vertrag“, „aus diesem Rechtsverhältnis“, oder „aus der zugrundeliegenden Rechtsbeziehung“ einem bestimmten Gericht zuweisen oder die im Hauptvertrag schlicht einen bestimmten Ort benennen („Gerichtsstand: Hamburg“ oder „Jurisdiction: London“). (2) Wille der Parteien In der Literatur wird verbreitet zu bedenken gegeben, dass die geschädigte Partei die Erfassung der Ansprüche nicht gewollt haben könne, wenn ihr die Kartellabsprache beim Abschluss der Gerichtsstandsvereinbarung nicht bekannt war und sie diese auch nicht vorhersehen konnte.276 Dass einer Partei das zukünftige rechtswidrige Verhalten ihres Gegenübers bei Vertragsabschluss unbekannt ist, dürfte jedoch die Regel sein, da andernfalls keine Geschäftsbeziehung eingegangen worden wäre. Sinn und Zweck einer allgemein gehaltenen Gerichtsstandsvereinbarung ist daher gerade, für die unvorhersehbaren Fälle Klarheit und Gewissheit über den Gerichtsstand zu schaffen.277 Bei der Ermittlung des 274

Siehe nur OLG Stuttgart v. 9.11.1990, IPRax 1992, 86, 88; LG Berlin v. 29.9.2004, IPRax 2005, 261, 262. 275 Wurmnest, EuZW 2012, 933, 936. 276 Vischer, FS Jayme 2004, 993, 998; Maier, Marktortanknüpfung, 166. Wohl auch Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 23 Brüssel I-VO, Rn. 62a, der die Kenntnis der Partei von möglichen Deliktskomplexen voraussetzt. Noch restriktiver Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße, 138, der selbst bei Kenntnis von dem Kartelldelikt keine Bindung an die Vereinbarung annimmt. 277 von Falkenhausen, RIW 1983, 420, 422.

326 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Parteiwillens geht es also nicht darum, ob der Geschädigte von der Beteiligung des Vertragspartners an einer Kartellabsprache überrascht wird, sondern ob die Parteien beim Abschluss der Gerichtsstandsabrede damit rechnen, dass über ein etwaiges kartellrechtswidriges Verhalten des Gegenübers vor dem prorogierten Gericht verhandelt wird. Zur Bestimmung der sachlichen Reichweite einer Gerichtsstandsvereinbarung ist folglich zu hinterfragen, ob ein objektiver Verkehrsteilnehmer an der Stelle der Parteien eine bestimmte Art von Rechtsstreitigkeit im unvorhersehbaren Fall ihres Entstehens von der Gerichtsstandsvereinbarung umfasst sehen würde. Für diese Frage ist die Intensität des Vertragsbezugs kartelldeliktischer Delikte das ausschlaggebende Kriterium.278 Ein besonders enger Zusammenhang besteht, wenn das wettbewerbswidrige Verhalten der Gegenseite die Hauptleistungspflichten des Vertrags tangiert. Demnach hat das OLG Stuttgart richtigerweise entschieden, dass Ansprüche aus §§ 26 Abs. 2, 35 GWB a.F. (jetzt §§ 19 Abs. 1, 33 GWB) wegen der Kündigung einer Lieferbeziehung ohne angemessene Umstellungsfrist innerhalb der sachlichen Reichweite einer allgemein gehaltenen Gerichtsstandabrede liegen.279 Wenngleich der Vertragsbezug der in dieser Arbeit untersuchten hardcore-Kartellverstöße weniger eindeutig ist, lassen sich für die Einbeziehung deliktischer Ansprüche gegenüber Preiskartellen zwei Erwägungen anführen: Zum einen betreffen vor Vertragsschluss getroffene Preisabsprachen ebenfalls eine Hauptleistungspflicht des Vertrags, wenn das Kartellmitglied die entsprechende Preisgestaltung bei der Vertragsverhandlung durchsetzt. 280 Konsequenz des deliktischen Verhaltens ist, vereinfacht gesagt, dass mit dem Kaufpreis etwas „nicht in Ordnung“ ist, was nahelegt, diesbezügliche Rechtsstreitigkeiten am vertraglich vereinbarten Gericht auszutragen. Zum anderen bildet der zum überhöhten Preis erzielte Vertragsabschluss den Ausgangspunkt der jeweiligen Rechtsstreitigkeit, da ohne die Lieferbeziehung regelmäßig kein delik-

278 Siehe Magnus/Mankowski/Magnus, Art. 23 Brussels I-Regulation, Rn. 151; Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 23 Brüssel I-VO, Rn. 62a; Pfeiffer, FS Wolfrum 2012, 2057, 2060 f.; Wurmnest, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 77. 279 OLG Stuttgart v. 9.11.1990, IPRax 1992, 86, 88. Übersetzt lautete die streitgegenständliche Klausel in diesem Verfahren: „Der Gerichtsstand Modena ist allein zur Entscheidung zuständig im Falle irgendwelcher Streitigkeiten, die dennoch in Verbindung mit dem vorliegenden Vertrag entstehen können“. 280 Maier, Marktortanknüpfung, 166, die dieses Argument letztlich aber nicht durchschlagen lässt.

D. Derogation durch Zuständigkeitsvereinbarungen

327

tischer Anspruch entstanden wäre.281 Zwar lässt sich gegen dieses Argument einwenden, dass die Zuwiderhandlung gegen marktordnungspolitische Interessen keine Umsetzung der Kartellabsprache gegenüber dem Anspruchssteller voraussetzt. 282 Das ändert jedoch nichts daran, dass im jeweiligen Einzelfall die konkrete Belieferung mit überteuerter Ware den Anlass für die Erhebung der privaten Schadensersatzklage gegeben hat. 283 Ersatzansprüche wegen des Verkaufs von Waren zu Kartellkonditionen weisen folglich den für die Einbeziehung in eine Gerichtsstandsvereinbarung notwendigen Vertragsbezug auf. (3) Keine Einschränkung für Ansprüche aus vorsätzlicher Deliktsbegehung Dass allgemein gehaltene Gerichtsstandsklauseln kartelldeliktische Ansprüche erfassen, lässt sich auch nicht mit der Begründung zurückweisen, diese Auslegung ginge zu Lasten der redlichen Partei, da die Ansprüche aus vorsätzlich begangenen Schädigungshandlungen herrührten.284 Ihren Ursprung finden diese Billigkeitserwägungen in der älteren Rechtsprechung der Instanzgerichte auf anderen Gebieten des Deliktsrechts. So hat das OLG Hamburg in einem transportrechtlichen Fall den Beklagten die Berufung auf eine allgemeine gehaltene Gerichtsstandsklausel versagt, da die gegen sie erhobenen Ansprüche der vorsätzlich falschen Ausstellung eines Konnossements entsprangen. Dem Kläger wurde die Rechtsverfolgung am prorogierten Gericht in Äthiopien mit der Begründung erspart, man könne nicht „der ungerechten und gewissenlosen Sache zum Sieg … verhelfen“. 285 Zuvor hatte das OLG Stuttgart zur Derogation der örtlichen Zuständigkeit aus § 32 ZPO bereits geurteilt, dass „derjenige, der vorsätzlich eine unerlaubte Handlung begangen hat, […] keine schutzwürdigen Interessen daran [hat],

281

Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 644; Zimmer, Konkretisierung des Auswirkungsprinzips, 273 f. 282 Der Kreis der von der Wettbewerbsbeschränkung „Betroffenen“ i.S.d. § 33 Abs. 1, 3 GWB ist dem entsprechend weiter gefasst. 283 Ähnlich Wurmnest, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 79. 284 Maier, Marktortanknüpfung, 166; Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße, 138. 285 OLG Hamburg v. 12.2.1981, RIW 1982, 669 f.; a.A. im Falle einer schuldhaft falschen Ausstellung des Konnossements dagegen OLG Bremen v. 18.7.1985, RIW 1985, 894, 895.

328 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht daß ihm die Rechtsverteidigung durch Vereinbarung eines ihm genehmen Gerichtsstandes […] erleichtert wird“.286 Vor allem im Kartelldeliktsrecht schlagen diese Erwägungen indes nicht durch. Die wissentliche Implementierung einer Kartellabsprache verletzt nämlich keine vorvertraglichen Aufklärungspflichten, sodass dem Kartellmitglied beim Abschluss des Hauptvertrags oder gar der Gerichtsstandsvereinbarung keine Täuschung unterstellt werden kann.287 Überhaupt sind allgemeine Schutzwürdigkeitserwägungen gegen die Derogation gesetzlicher Zuständigkeiten im unternehmerischen Rechtsverkehr (vgl. Art. 23 Abs. 5 EuGVVO) nur bedingt überzeugend, zumal Kartelle auf Lieferanten- wie auf Abnehmerseite entstehen können, sodass die mit dem Festhalten an der Vereinbarung einhergehende Rechtssicherheit abstrakt betrachtet beiden Parteien zu Gute kommt. Letztlich scheint die Differenzierung zwischen vorsätzlichem und fahrlässigem Handeln inkonsequent, nimmt der Verschuldensgrad in anderen Bereichen des Deliktrechts, in denen deliktische Ansprüche mit vertraglichen konkurrieren, doch ebenso wenig Einfluss auf die Geltung der Gerichtsstandsvereinbarung. So hat etwa das LG Berlin den Anspruch des Käufers auf Rückerstattung einer Vorauszahlung, die auf einen später nicht zustande gekommenen Kauf eines Grundstücks in Portugal geleistet worden war, von einer allgemein gehaltenen Gerichtsstandsabrede erfasst angesehen, obschon der Käufer vorgetragen hatte, sein Vertragspartner hätte von vornherein die betrügerische Absicht verfolgt, die Anzahlung zu behalten, ohne das Grundstück zu veräußern.288 Eine Andersbehandlung deliktischer Schadensersatzansprüche von Abnehmern kartellierter Ware allein aufgrund des Fehlens konkurrierender vertraglicher Ansprüche ist vor dem Hintergrund des engen Zusammenhangs zwischen Kartellabsprache und Vertragsverhältnis m.E. kaum zu rechtfertigen.289 (4) Keine Besonderheiten bei AGB Wurde die Gerichtsstandsklausel über die AGB einer der Parteien einbezogen, gilt der verobjektivierte Maßstab der §§ 133, 157 BGB, wonach

286

OLG Stuttgart v. 14.12.1973, BB 1974, 1270. Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 644; a.A. Maier, Marktortanknüpfung, 166. 288 LG Berlin v. 29.9.2004, IPRax 2005, 261. 289 So auch Wurmnest, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 79 mit zusätzlichem Hinweis auf eine ähnliche Entscheidung des OLG Karlsruhe v. 9.8.2006, IPRspr 2006, Nr. 127, 285. 287

D. Derogation durch Zuständigkeitsvereinbarungen

329

der Sinngehalt der Klausel „losgelöst von der zufälligen Gestaltung des Einzelfalles und den individuellen Vorstellungen der Vertragsparteien“ zu ermitteln ist. 290 Subsidiär greift zudem der Grundsatz ambiguitas conta stipulatorem des § 305c Abs. 2 BGB, demzufolge eine nach der Auslegung der Klausel verbleibende Mehrdeutigkeit zu Lasten des Verwenders geht. 291 Nicht zur Anwendung gelangen hingegen die auf der Richtlinie über missbräuchliche Verbraucherverträge beruhenden Vorschriften der §§ 305c Abs. 1, 307 BGB, da die EuGVVO die Inhaltsanforderungen an Gerichtsstandsvereinbarungen selbst abschließend regelt und der Schutz der schwächeren Vertragspartei durch die Bereichsausnahme des Art. 23 Abs. 5 EuGVVO gewährleistet wird.292 Die Modifizierung der Auslegungsgrundsätze im AGB-Recht ändert an der Beurteilung der sachlichen Reichweite der allgemein gehaltenen Gerichtsstandsklausel im Ergebnis jedoch nichts. In Hinblick auf Gerichtsstandsvereinbarungen wird aus der Orientierung an der bei diesen Verträgen typischen Interessenlage nämlich regelmäßig kein weitergehender Ertrag zu erzielen sein.293 Da der Bedeutungsgehalt der Klausel nach der Auslegung feststeht, kommt die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB nicht zum Zuge.294 Zwar wird vorgeschlagen, die Unklarheitenregel dahingehend anzuwenden, dass bei einer ausdrücklichen Begrenzung der Klausel auf vertragliche Ansprüche, deliktische Ansprüche nicht umfasst sein können.295 Weil kartelldeliktische Ansprüche jedoch ohnehin außerhalb der Reichweite einer derart eng gefassten Klausel liegen, bleibt auch in dieser Konstellation kein Raum für die Anwendung der Unklarheitenregel. c) Rechtslage in England Die Untersuchung der Interpretation von Gerichtsstandsvereinbarungen nach englischem Recht ist nicht nur interessant, da Großbritannien in den letzten Jahren zur zentralen Jurisdiktion für die Durchsetzung kar-

290 BGH v. 29.10.1956, NJW 1956, 1915. Eingehend zur objektiven Auslegung MünchKommBGB/Basedow, § 305c BGB, Rn. 22 ff. 291 Dazu MünchKommBGB/Basedow, § 305c BGB, Rn. 28 ff. 292 Siehe nur Stein/Jonas/G. Wagner, Art. 23 EuGVVO, Rn. 39; MünchKomm ZPO/Gottwald, Art. 23 EuGVVO, Rn. 79; Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 23 EuGVO, Rn. 19; Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 23 Brüssel I-VO, Rn. 12. 293 Ehricke, ZZP 111 (1998), 145, 156; von Falkenhausen, RIW 1983, 420, 422. 294 Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 646; Pfeiffer, FS Wolfrum 2012, 2057, 2060 f.; von Falkenhausen, RIW 1983, 420, 423 (allgemein für deliktische Ansprüche). 295 In diese Richtung Bulst, EBOR 4 (2003), 623, 646.

330 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht telldeliktischer Klagen in Europa avanciert ist,296 sondern auch, weil die pragmatische Herangehensweise der dortigen Gerichte an Rechtsstreitigkeiten im unternehmerischen Wirtschaftsverkehr die großzügige Auslegung der sachlichen Reichweite von Gerichtsstandsvereinbarung nahelegt.297 Zunächst bemerkenswert ist allerdings eine unlängst ergangene Entscheidung des Court of Appeal, in der sich die englischen Berufungsrichter gegen die Erfassung kartelldeliktischer Schadensersatzansprüche von einer Gerichtsstandsklausel aussprechen. 298 Die irische Fluggesellschaft Ryanair hatte den italienischen Treibstofflieferanten Esso Italiana wegen der Zahlung kartellbedingt überhöhter Preise auf Schadensersatz verklagt, nachdem die italienischen Wettbewerbsbehörden Preisabsprachen auf dem Markt für Flugzeugbenzin offengelegt hatten. Die Klage stützte sich zum einen auf einen vertraglichen Anspruch wegen der Verletzung einer Preisanpassungsklausel, der zufolge der vereinbarte Preis zum Zwecke der Einhaltung von gesetzlichen Bestimmungen im Nachhinein korrigiert werden könnte. 299 Zum anderen machte die Klägerin einen konkurrierenden Anspruch nach italienischem Kartelldeliktsrecht geltend. Der Belieferungsvertrag enthielt die folgende Rechtswahl und Gerichtsstandsklausel: „This Agreement shall be governed by the laws of England excluding its conflict of law rules and the United Nations Convention on the International Sale of Goods Act shall not apply. For the purposes of the resolution of disputes under this Agreement, each party expressly submits itself to the non-exclusive jurisdiction of the Courts of England“.

Nachdem der High Court die umfassende Vereinbarung seiner Zuständigkeit unter Hinweis auf die Konkurrenz des vertraglichen und deliktischen Schadensersatzanspruchs der Klägerin bejaht hatte,300 wendete Court of Appeal ein, dass nicht die Einbeziehung eines konkurrierenden, 296

Lawrence/Morfey, in: Danov/Becker/Beaumont, Cross-Border EU Competition Law Actions, 149; Vrcek, in: Foer/Cuneo (Hg.), International Handbook on Private Enforcement, 277, 294; Woodgate/Filippi, ECLR 33 (2012), 175. 297 Ausführlich zur Rechtslage in England siehe auch Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, Rn. 4.33 ff.; Maier, Marktortanknüpfung, 242 ff.; Wurmnest, FS Magnus 2014, 567, 577 f.; ders., in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 74 ff. 298 Ryanair Ltd v Esso Italiana Srl, [2013] EWCA Civ 1450. 299 Die Klausel lautete: „If at any time a price or fee provided in this Agreement shall not conform to the applicable laws, regulations or orders of a government or other competent authority, appropriate price or fee adjustments will be made.“ (Ryanair Ltd v Esso Italiana Srl, [2013] EWCA Civ 1450, Rn. 27). 300 Ryanair Ltd v Esso Italiana Srl, [2012] EWHC 200, Rn. 43.

D. Derogation durch Zuständigkeitsvereinbarungen

331

sondern eines allein stehenden deliktischen Anspruchs in die Gerichtsstandsvereinbarung zur Beurteilung stünde, da der auf die Preisanpassungsklausel im Vertrag gestützte Anspruch offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg habe.301 Vor diesem Hintergrund gaben die englischen Berufungsrichter zu bedenken, dass Verhandlung eines Anspruchs wegen der Verletzung des EU-Kartellverbots durch eine mit Dritten getroffene Kartellabsprache vor einem vertraglich vereinbarten Forum für die Parteien vermutlich überraschend käme.302 Aus der Ryanair-Entscheidung sollte dennoch nicht vorschnell gefolgert werden, dass die englische Rechtsprechung kartelldeliktische Ansprüche außerhalb der sachlichen Reichweite allgemein gehaltener Gerichtsstandsvereinbarung sieht, da für die restriktive Auslegung des Court of Appeal eine Besonderheit der streitgegenständlichen Klausel und die Umstände des Einzelfalls den Ausschlag gaben. Die Parteien prorogierten die Zuständigkeit der englischen Gerichte nämlich nicht ausschließlich, sondern zusätzlich zu den allgemeinen und besonderen Gerichtsständen der EuGVVO.303 Solche optionalen Gerichtsstandsklauseln sollten tendenziell restriktiv ausgelegt werden, da durch die Erweiterung der Wahlmöglichkeiten des Klägers dem forum shopping Vorschub geleistet wird und der eigentliche Zweck einer Gerichtsstandsabrede, durch die Derogation anderer Gerichtsstände Klarheit über die Zuständigkeitsfrage zu schaffen, von vornherein nicht verwirklicht werden kann. Darüber hinaus war die ablehnende Haltung des Court of Appeal gegenüber der Verhandlung in England auch dadurch motiviert, dass die nach italienischem Deliktsrecht bestehenden Ansprüche wegen der Verletzung des EU-Kartellverbots durch eine Preisabsprache italienischer Treibstofflieferanten an italienischen Flughäfen keinen Bezug zu einem dem englischen Recht unterstehenden Liefervertrag aufwiese.304 Grundsätzlich tritt die englische Rechtsprechung eher für die Parteiautonomie im Zuständigkeitsrecht ein. Zahlreiche Gerichtsentschei301

Ryanair Ltd v Esso Italiana Srl, [2013] EWCA Civ 1450, Rn. 35 ff. Ryanair Ltd v Esso Italiana Srl, [2013] EWCA Civ 1450, Rn. 46. 303 Auch der Court of Appeal betont im Rahmen der Auslegung der Klausel, dass es sich um einen „non-exclusive jurisdiction clause“ handelt, siehe Ryanair Ltd v Esso Italiana Srl, [2013] EWCA Civ 1450, Rn. 46. 304 Ryanair Ltd v Esso Italiana Srl, [2013] EWCA Civ 1450, Rn. 48 per Rix LJ: „I see nothing […] to justify a conclusion that the parties to this supply contract should reasonably be regarded as intending that a purely tortious claim which lies against a cartel of Italian suppliers of fuel oil at Italian airports for breach of EU and/or Italian law should fall within the jurisdiction provisions of an English law contract“. 302

332 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht dungen interpretieren allgemein gehaltene Gerichtsstandsvereinbarungen großzügig. Speziell in Hinblick auf Schadensersatzansprüche von Abnehmern kartellierter Ware ist ein obiter dictum der Rechtssache Provimi aufschlussreich. Der zuständige Richter Aikens J wies trotz der Anwendbarkeit deutschen, schweizerischen und französischen Rechts auf die Auslegung der von ihm zu beurteilenden Gerichtsstandsklausel darauf hin, 305 dass solche Ansprüche bei Zugrundelegung englischen Rechts aufgrund ihres Vertragsbezugs „beinahe mit Sicherheit“ von einer Gerichtsstandsvereinbarung erfasst sein würden: „An English court would almost certainly conclude that the present disputes have arisen out of the legal relationship in connection with which the jurisdiction clauses were made. That is because an English court would say that, broadly speaking, the present disputes arise out of the contracts for the sale of the vitamins.“306

In die gleiche Richtung deuten zwei jüngere Entscheidungen des House of Lords (inzwischen Supreme Court), wonach Ansprüche wegen betrügerischem Verhalten einer Partei im vorvertraglichen Bereich von allgemein gehaltenen Zuständigkeitsvereinbarungen erfasst sein sollen. Im ersten Fall, Donohue, waren mehrere US-amerikanische Gesellschaften durch das betrügerische Verhalten ihrer Verhandlungspartner zu nachteiligen Vermögensdispositionen in England verleitet worden. Die zugrundeliegenden Verträge enthielten eine allgemein gehaltene Gerichtsstandsklausel zu Gunsten englischer Gerichte.307 Dessen ungeachtet erhoben die Geschädigten Klage auf Schadensersatz vor einem New Yorker Gericht, worauf die Beklagten mit der Beantragung einer antisuit- injunction in England reagierten. Während der High Court das Ansinnen der Antragssteller noch mit der Begründung zurückwies, „[that] the claims raised in the NY proceedings based on a pre-existing conspiracy to defraud Armco [the defendant] are not claims that ‘arise

305 Eine der streitgegenständlichen Klauseln lautete in englischer Übersetzung: „The place of jurisdiction for all disputes arising out of the legal relationship between us and the buyer is the Local Court of Lörrach and the District Court of Freiburg.“ (Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 69). 306 Provimi Ltd v Roche Products Ltd and other actions, [2003] EWHC 961 (Comm), Rn. 122; zustimmend Danov, Jurisdiction and Judgments in Relation to EU Competition Law Claims, 65. 307 Donohue v Armco Inc And Others, [2001] UKHL 64, Rn. 56: „[T]he parties hereby irrevocably submit themselves to the exclusive jurisdiction of the English courts to settle any dispute which may arise out of or in connection with this agreement“.

D. Derogation durch Zuständigkeitsvereinbarungen

333

out of’ the […] agreements“, 308 waren der Court of Appeal und das House of Lords der Ansicht, dass einer derart allgemein gefassten Gerichtsstandsvereinbarungen durch eine weite Auslegung zur Geltung verholfen werden solle.309 Bestätigt wurde diese Auffassung in der Entscheidung Fiona Trust. In diesem Fall wollten sich Schiffseigner von einem nachteiligen Chartervertrag lösen, der aufgrund der Bestechung ihrer Angestellten durch die späteren Charterer zustande gekommen war. 310 Unter Missachtung der im Vertrag enthaltenen Schiedsklausel begehrten die Geschädigten vor den staatlichen Gerichten die Feststellung, dass der Vertrag wirksam angefochten und damit nichtig sei. Der Einrede der Schiedsvereinbarung hielten sie entgegen, den Chartervertrage mit den Beklagten nur aufgrund der Bestechung der Angestellten abgeschlossen zu haben. Die englischen Lords zeigten sich von dieser Argumentation unbeeindruckt. Ihrer Meinung nach war die Intention der Parteien beim Abschluss der Schiedsvereinbarung darauf gerichtet, ein einheitliches Forum für alle Arten von Streitigkeiten zu schaffen und zwar unabhängig davon, ob einzelne Streitfragen bei Vertragsabschluss vorhersehbar waren.311 Die Auffassung des House of Lords liegt auf einer Linie mit dem die englische Rechtsprechung inzwischen wohl dominierenden Grundsatz der one-stop adjudication. 312 Danach besteht im internationalen Wirtschaftsverkehr die Vermutung, dass Parteien durch die Vereinbarung einer ausschließlichen Zuständigkeit möglichst vermeiden wollen, die zwischen ihnen entstehenden Rechtsstreitigkeiten vor verschiedenen Gerichten auszutragen. 313 Zu Gunsten der Rechtssicherheit solle sich die 308

Donohue v Armco Inc And Others, [1999] 2 Lloyd’s Rep. 649, 659, Rn. 42 per Aikens J. 309 Donohue v Armco Inc And Others [2000] EWCA Civ 94, Rn. 30 per StuartSmith LJ: „The alleged conspiracy was in connection with the SPA [sale and purchase agreement].“ Donohue v Armco Inc And Others, [2001] UKHL 64, Rn. 14 per Lord Bingham of Cornhill: „The exclusive jurisdiction clause in the sales and purchase agreement […] was in wide terms. The practice of the English courts is to give such clauses […] a generous interpretation“. 310 Fiona Trust & Holding Corporation And Others v Privalov And Others, [2008] 1 Loyd’s Rep. 254 ff. 311 Fiona Trust & Holding Corporation And Others v Privalov And Others, [2008] 1 Lloyd’s Rep. 254, 259, Rn. 27 per Lord Hope of Craighead: „The purpose of the clause is to provide for the determination of disputes of all kinds, whether or not they were foreseen at the time when the contract was entered into“. 312 Zur diesbezüglichen Entwicklung im Einzelnen Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, Rn. 4.37 ff. 313 Vgl. etwa Ashville Investments Ltd v Elmer Contractors Ltd [1989] Q.B. 488, 517 per Bingham LJ: „I would be very slow to attribute to reasonable parties the

334 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht Auslegung daher weniger an den „semantischen Finessen der Abrede“ als am Erwartungshorizont vernünftiger Unternehmer orientieren.314 d) Fazit Die in der englischen Rechtsprechung vorgetragenen Argumente spiegeln letztlich diejenigen Erwägungen wider, die auch im deutschen Recht die extensive Auslegung von Gerichtsstandsvereinbarungen nahelegen. Der Vertragsbezug kartelldeliktischer Ansprüche, die Intention der Parteien, auch unvorhergesehene Streitigkeiten am vereinbarten Forum auszutragen, und die Beförderung der Rechtssicherheit im unternehmerischen Rechtsverkehr sprechen klar dafür, dass kartelldeliktische Ansprüche innerhalb der sachlichen Reichweite allgemein gehaltener Gerichtsstandsvereinbarungen liegen.315

intention that there should in any foreseeable eventuality be two sets of proceedings“. Pointiert Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, Rn. 4.40: „If litigation is expensive, and a distraction from commercial activity, why would any sane person wish to face the prospect of defending claims in more than one court“. 314 Treffend Wurmnest, FS Magnus 2014, 567, 575 mit Hinweis auf die Passage des Urteils Continental Bank NA v Aeakos Compania Naviera SA, [1994] 1 Lloyd’s Rep. 505, 508 f. (CA): „The answer is not to be found in the niceties of the language [… but] in a common sense view of the purpose of the clause“. 315 In anderen Mitgliedstaaten wird über die Derogationswirkung von Zuständigkeitsvereinbarungen in Hinblick auf kartelldeliktische Ansprüche ebenfalls diskutiert. In Belgien wurde die Zuständigkeit nach Art. 6 Nr. 1 EuGVVO entgegen anderslautender Gerichtsstandsvereinbarungen bejaht (Rechtbank van Koophandel Brussel v. 18.4.2011, Vorlagebeschluss in der Rs. C-199/11, 42, abrufbar unter ). Die Entscheidung ist aber nur begrenzt aussagekräftig, weil, erstens, die Gerichtsstandsabreden uneinheitlich abgefasst waren und, zweitens, die allgemeinen Gerichtsstände der Beklagten in Brüssel lagen, sodass die dortige gemeinsame Verhandlung ihnen nach Auffassung des Gerichts nicht zum Nachteil gereichte. Die niederländischen Gerichte haben die Frage zunächst offengelassen (Rechtbank Den Haag v. 1.5.2013, C-09-414499, Rn. 4.10; Rechtbank Midden-Nederland v. 27.11.13, C-16-338073, Rn. 2.5, 2.38, beide abrufbar unter: ), in einer jüngst ergangenen Entscheidung schließlich gegen die Einbeziehung kartelldeliktischer Ansprüche in allgemeine Gerichtsstandsklausel gestimmt (Rechtbank Amsterdam v. 4.6.2014, C-13-500953, Rn. 2.22, abrufbar unter: ). Die französische Cour de cassation hat unlängst entschieden, dass allgemein gehaltene Zuständigkeitsvereinbarungen außervertragliche Ansprüche wegen „brutalen Abbruchs einer bestehenden Handelsbeziehung“ erfassen, da diese ungeachtet ihrer deliktischen Natur einen Vertragsbezug aufwiesen (Cour de cassation v. 20.3.2012, ZVertriebsR 2012, 258 (Gerichtsstandsklausel); Cour de cassation v. 8.7.2010, 09-67.013 (Schiedsklausel), siehe dazu Reinmüller/Bücken, IPRax 2013, 91 ff.).

D. Derogation durch Zuständigkeitsvereinbarungen

335

4. Vereinbarkeit der Derogationswirkung mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz Konsequenz der hier vertretenen Auffassung ist, dass Kartellmitglieder, die mit dem Geschädigten eine allgemein gehaltene Gerichtsstandsvereinbarung getroffen haben, für die gemeinsame Verhandlung am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft regelmäßig weder als Anker-, noch als Annexbeklagte zur Verfügung stehen. Nur in Einzelfällen bleibt die umfassende Konzentration des Verfahrens gegenüber sämtlichen Mitgliedern des Kartells dennoch möglich, etwa wenn die Gerichtsstandsvereinbarung zufällig auf den Wohnsitz des Ankerbeklagten zielt.316 Da dem an eine Gerichtsstandsabrede gebundenen Geschädigten eines europaweit agierenden Kartells somit die Vorteile des forum shopping zwischen den Wahlgerichtsständen der EuGVVO genommen werden, ließe sich die Überlegung anstellen, ob das unionsrechtliche Gebot der effektiven Durchsetzung des Kartellverbots der Derogationswirkung ausschließlicher Gerichtsstandsvereinbarungen entgegensteht. Auf Vorlage des LG Dortmunds wird der EuGH dazu in naher Zukunft Stellung beziehen können.317 M.E. ist die Berücksichtigung einer Gerichtsstandsvereinbarung durch das derogierte Gericht mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar. In kartellrechtlichen Fällen hat der EuGH den Effektivitätsgrundsatz, wonach die Durchsetzung unionsrechtlich gewährter Rechte durch die nationalen Regeln weder „praktisch unmöglich“ noch „übermäßig erschwert“ werden darf,318 bislang nur mit äußerster Vorsicht in Stellung gebracht. Dass die nationalen Rechtsordnungen den Opfern von Kartellrechtsverstößen nach den Entscheidungen Courage und Manfredi wirksame Rechtsbehelfe für die Geltendmachung von Schadensersatz bereitstellen müssen,319 bedeutet nicht, dass jede geringfüge Benachteiligung

316 Die Ankerklage darf auf Art. 23 EuGVVO gestützt werden, wenn die Vereinbarung auf den Wohnsitz des Ankerbeklagten zielt (siehe oben S. 173 f.). 317 LG Dortmund v. 25.4.2013, GRUR Int. 2013, 842, 845. Zum Sachverhalt des Ausgangsverfahrens bereits oben S. 129. 318 EuGH v. 10.4.1984, Rs. C-14/83 (von Colson und Kamann/Land Nordrhein Westfalen), Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 und C48/93 (Brasserie du Pêcheur und Factortame), Slg. 1996, I-1029, Rn. 67; EuGH v. 8.7.2010, Rs. C-246/09 (Bulicke/Deutsche Büro Service GmbH), Slg. 2010, 7003, Rn. 36. 319 EuGH v. 20.9.2001, Rs. C-453/1999 (Courage/Crehan), Slg. 2001, I-6297, Rn. 26 ff.; EuGH v. 13.7.2006, verb. Rs. C-295/2004 bis 298/2004 (Manfredi/Lloyd Adriatico Assicurazioni), Slg. 2006, I-6619, 62 ff.

336 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht des Geschädigten beim Einklagen seiner Forderungen unzulässig ist.320 Bei der Erleichterung des private enforcement der Kartellverbotsnormen handelt es sich zudem um ein materiell-rechtliches Regelungsziel, das mit den zuständigkeitsrechtlichen Wertungen der EuGVVO nicht notwendigerweise übereinstimmen muss. 321 Vielmehr bringt der Verordnungsgeber mit der Ausgestaltung des Art. 23 EuGVVO als ausschließliche Zuständigkeit gerade die Wertung zum Ausdruck, dass die fakultativen Gerichtsstände zu Gunsten der Parteiautonomie zu vernachlässigen sind. Der Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz lässt sich auch nicht damit begründen, dass dem Geschädigten bereits aufgrund einzelner Gerichtsstandsklauseln innerhalb der mit den Kartellmitgliedern abgeschlossenen Lieferverträge die Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung am gewünschten forum umfassend verwehrt wird. Nach der jeweils anwendbaren lex fori obliegt der Beweis, dass für einen bestimmten Anspruch die Zuständigkeit des vom Geschädigten angerufenen Gerichts derogiert ist, demjenigen, der sich auf die Gerichtsstandsvereinbarung beruft. 322 Die allgemein gefasste Rüge der internationalen Zuständigkeit des angerufenen Gerichts bezüglich aller Ansprüche des Geschädigten reicht zur Begründung des Klageabweisungsantrags also nicht aus. 323 Von 320

Wurmnest, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 84 f. mit Fn. 69. 321 Gegen die Berücksichtigung des Effektivitätsgebots des private enforcement im Zuständigkeitsrecht auch Weller, ZVglRWiss 112 (2013), 89, 93; Wurmnest, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 84 f. 322 Zwar wurde im europäischen Zivilprozessrecht bewusst auf die Statuierung des für die Zuständigkeitsprüfung anzulegenden Beweismaßes verzichtet (EuGH v. 7.3.1995, Rs. C-68/1993 (Shevill u.a./Presse Alliance), Slg. 1995, I-415, Rn. 35 ff.; BGH v. 30.10.03, NJW-RR 2004, 935; Stein/Jonas/G. Wagner, Einl. Art. 2 EuGVVO, Rn. 24, Kropholler/von Hein, EuZPR, Art. 5 EuGVO, Rn. 94; Rauscher/ Mankowski, EuZPR, Vorbem. Art. 2 Brüssel I-VO, Rn. 7). Dass die Beweislast für die Derogation des angerufenen Gerichts denjenigen trifft, der sich auf die Gerichtsstandsvereinbarung beruft, dominiert jedoch die Prozessordnungen der Mitgliedstaaten (Rechtbank Midden-Nederland v. 27.11.13, C-16-338073, Rn. 2.38, abrufbar unter: ; OGH v. 10.1.2006, ZfRV 2006, 70, 71; Konkola Copper Mines Plc And Others v Coromin Ltd And Others [2006] EWCA Civ 5, Rn. 94 f.; Hewden Tower Cranes Ltd v Wolffkran GmbH [2007] EWHC 857 (TCC), Rn. 46; Musielak/A. Stadler, ZPO, Art. 23 EuGVVO, Rn. 1; Magnus/ Mankowski/Magnus, Art. 23 Brussels I-Regulation, Rn. 174; Rauscher/Mankowski, EuZPR, Art. 23 Brüssel I-VO, Rn. 1). 323 Rechtbank Midden-Nederland v. 27.11.13, C-16-338073, Rn. 2.5, 2.38, abrufbar unter: . Zwei der Beklagten rügten die internationale Zuständigkeit der niederländischen Richter mit der Begründung, dass alle

D. Derogation durch Zuständigkeitsvereinbarungen

337

einer „übermäßigen Erschwernis“ der Durchsetzung kartelldeliktischer Schadensersatzforderungen durch die Derogationswirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen kann also keine Rede sein. Schließlich ist auch nicht ersichtlich, nach welchen Kriterien die Anwendung des Effektivitätsgrundsatzes erfolgen sollte. Bei der ausdrücklichen Nennung kartellrechtlicher Ansprüche in einer Gerichtsstandsklausel kann der Effektivitätsgrundsatz nicht greifen, da man Art. 23 EuGVVO andernfalls mit einer weiteren allgemeinen Prorogationsbeschränkung versehen würde, die der Verordnungsgeber nicht vorgesehen hat. 324 Der Effektivitätsgrundsatz könnte also nur über die Auslegungsregeln im nationalen Recht, in Deutschland §§ 133, 157 BGB, berücksichtigt werden, indem man allgemein gehaltene Gerichtsstandsklauseln tendenziell restriktiv auslegte. Die Einbeziehung des Effektivitätsgrundsatzes würde jedoch eine beträchtliche Rechtsunsicherheit in den Auslegungsvorgang tragen, die dem Zweck von Gerichtsstandsabreden, vorhersehbare und sachgerechte Gerichtsstände schaffen zu wollen, zuwiderliefen.325 Bei der Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens des LG Dortmund sollte der EuGH die Derogationswirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen zu Gunsten anderer mitgliedstaatlicher Gerichte daher als mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ansehen. II. Geltung der Erkenntnisse für Schiedsvereinbarungen Neben Gerichtsstands- erfreuen sich auch Schiedsabreden großer Beliebtheit im internationalen Handelsverkehr. Hat sich der Geschädigte mit einem der Kartellmitglieder auf die Zuständigkeit des Schiedsgerichts unter Ausschluss des Gerichtwegs zu den staatlichen Gerichten geeinigt, gilt zu klären, ob die soeben gewonnenen Erkenntnisse fruchtbar gemacht werden können. Die sachliche Reichweite der Schiedsvereinbarung ist von den staatlichen Gerichten326 wie vom Schiedsgericht327 Ansprüche der Klägerin, die aus den Vertragsabschlüssen ihrer Rechtsvorgänger mit den Kartellmitgliedern zu überhöhten Preisen während der Dauer des Kartells resultierten, von den in den Verträgen enthaltenen Schieds- bzw. Gerichtsstandsklauseln erfasst seien. 324 Wurmnest, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 86. 325 Wurmnest, in: Weller/Nietsch (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 64, 86. 326 Staatliche Gerichte befassen sich mit der Schiedsvereinbarung entweder, wenn sie zuerst angerufen werden und die Einrede der Schiedsvereinbarung erhoben wird (§ 1032 Abs. 1 ZPO), oder wenn sie die Zuständigkeitsentscheidung des zuerst

338 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht nach dem Schiedsvertragsstatut zu beurteilen, das aufgrund der akzessorischen Anknüpfung regelmäßig dem Statut des Hauptvertrags entspricht.328 Sowohl die deutsche, als auch die englische Rechtsprechung neigen zu einer tendenziell schiedsfreundlichen Auslegung. 329 In Hinblick auf die sachliche Reichweite spricht daher nichts dagegen, die zu Gerichtsstandsabreden angestellten Erwägungen mutatis mutandis zu übertragen.330 Deliktische Ersatzansprüche gegen Lieferanten, die Ware zu Kartellkonditionen verkauft haben, liegen somit insbesondere wegen ihres Vertragsbezugs innerhalb der sachlichen Reichweite von Schiedsvereinbarungen. 331 Gegenüber Parteien einer allgemein gehaltenen Schiedsvereinbarung steht der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft zur Verfahrenskonzentration demnach nicht zur Verfügung, was freilich keine negativen Auswirkungen auf die Entscheidungsharmonie der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung hat.

E. Ergebnis E. Ergebnis

Im siebten Kapitel wurde die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO auf follow on-Verfahren untersucht, die nach der Offenlegung von hardcoreKartellverstößen gegen das EU-Kartellverbot angestrengt werden. Klagt der Geschädigte ausschließlich gegen am Kartellverstoß unmittelbar beteiligte Adressaten der Bußgeldentscheidung, ist die gemeinsame Verhandlung der kartelldeliktischen Klagen zulässig. Die Gefahr widerangerufenen Schiedsgerichts im Zwischenverfahren (§ 1040 Abs. 3 S. 1 ZPO; § 1062 Abs. 1 Nr. 3, 2. Fall ZPO) oder im Aufhebungsverfahren (§ 1059 Abs. 1, 2 Nr. 1 lit. a ZPO) überprüfen. 327 Das Schiedsgericht prüft nach seiner Anrufung die Schiedsvereinbarung als Verfahrensgrundlage (vgl. § 1040 Abs. 1 ZPO). 328 OLG München v. 7.4.1989, RIW 1990, 585, 586; OLG Düsseldorf v. 17.11. 1995, RIW 1996, 239 f.; Staudinger/Hausmann, IntVertrVerfR, Rn. 359. Ausführlich zum auf die Schiedsvereinbarung anwendbaren Recht Koussoulis, FS Schlosser 2005, 415 ff. 329 Vgl. etwa BGH v. 31.5.2007, SchiedsVZ 2007, 215, 216; BGH v. 4.10.2001, NJW-RR 2002, 287; Staudinger/Hausmann, IntVertrVerfR, Rn. 359. Aus England: Fiona Trust & Holding Corporation And Others v Privalov And Others, [2008] 1 Lloyd’s Rep. 254 ff.; Briggs, Agreements of Jurisdiction, Rn. 4.43 ff. 330 Briggs, Agreements of Jurisdiction, Rn. 4.43 ff.; Maier, Marktortanknüpfung, 247; Wurmnest, FS Magnus 2014, 567, 568. 331 Basedow, in: Basedow (Hg.), Private Enforcement of EC Competition Law, 229, 233; Basedow/Heinze, FS Möschel 2011, 63, 82 f.; Briggs, Agreements of Jurisdiction, Rn. 4.43 ff.; Wurmnest, FS Magnus 2014, 567, 568;. A.A. Vischer, FS Jayme 2004, 993, 999.

E. Ergebnis

339

sprechender Entscheidungen ergibt sich aus der umfassenden gesamtschuldnerischen Haftung der Beklagten für alle kartellbedingten Schäden. Der streitgenössische Kontakt besteht wegen des gemeinschaftlichen Zusammenwirkens bei der Absprache oder Abstimmung der Kartellkonditionen. Auch gegenüber Adressaten, die am Kartellverstoß nicht unmittelbar beteiligt waren, ist die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zulässig, da die gemeinsame Verhandlung Diskrepanzen bei der Beurteilung der Frage vermeidet, ob die Adressaten den ihnen gegenüber verbindlich festgestellten Kartellverstoß auch zu verschulden haben. Der streitgenössische Kontakt zwischen nicht unmittelbar am Kartellverstoß beteiligten Gesellschaften wird durch das direkte Zusammenwirken anderer Gesellschaften ihrer Unternehmen im funktionalen Sinne begründet. Werden dem Kartellprozess Gesellschaften hinzugezogen, die selbst keine Adressaten der Bußgeldentscheidung sind, die aber mit einem der Adressaten konzernrechtlich verbunden sind, gilt es zu differenzieren: Die Verfahrenskonzentration mit nichtadressierten Muttergesellschaften ist zulässig. Die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht, da Muttergesellschaften von Adressaten für alle kartellbedingten Schäden gesamtschuldnerisch haften, gleich ob ihre haftungsrechtliche Verantwortlichkeit auf einen eigenständigen Kartellverstoß oder den Kartellverstoß ihrer Tochtergesellschaft gestützt wird. Das Erfordernis des streitgenössischen Kontakts ist selbst beim Fehlen einer unmittelbaren Beteiligung der Muttergesellschaft am Kartellverstoß erfüllt, da die Muttergesellschaft das direkte Zusammenwirken ihrer Tochtergesellschaft mit den anderen Adressaten gegen sich gelten lassen muss. Die Konzentration des Kartellprozesses am Sitz nicht adressierter Tochtergesellschaft ist dagegen regelmäßig nur in engen Grenzen zulässig. Die umfassende Konzentration der kartelldeliktischen Klagen ist nur möglich, wenn der Kläger die Kenntnis der Tochtergesellschaft beim Absatz der kartellierten Ware darlegt. Wird die Tochtergesellschaft dagegen lediglich für den Kartellverstoß ihrer Muttergesellschaft in Haftung genommen, dürfen an ihrem Sitz nur solche Klagen konzentriert werden, die auf den Ersatz der durch die Absatzgeschäfte der Tochtergesellschaft verursachten Schäden zielen. Hat der Geschädigte mit einem Kartellmitglied eine allgemein gehaltene, ausschließliche Gerichtsstands- oder Schiedsvereinbarung getroffen, ist die Zuständigkeit des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO derogiert, sofern die Parteien die ausschließliche Zuständigkeit eines Gerichts in Deutschland oder England vereinbart haben. Kartelldeliktische Ansprüche sind nämlich sowohl nach deutschem, als auch nach englischem Recht von

340 Kapitel 7: Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO im Kartelldeliktsrecht der sachlichen Reichweite allgemein gehaltener Zuständigkeitsvereinbarungen erfasst. Dagegen lassen sich auch nicht die materiell-rechtlichen Regelungsziele des private enforcement in Stellung bringen, da die Derogationswirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist.

3. Teil

Schluss

Kapitel 8

Zehn Thesen zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO Die wesentlichen Ergebnisse einzelner Teile der Untersuchung werden nachstehend zusammengefasst in zehn zentralen Thesen präsentiert. Sie mögen als Richtschnur für die einheitliche und vorhersehbare Handhabung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft dienen: 1. Spannungsfeld gegenläufiger Zuständigkeitsinteressen am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft. – Eine großzügige Interpretation des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO dient der Vermeidung widersprechender Entscheidungen in der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung, ermöglicht die prozessökonomisch sinnvolle Abhandlung zusammenhängender Klagen und verhilft dem klägerischen Justizgewährungsanspruch zur Geltung. Gleichzeitig hat die Auslegung der Vorschrift aber innerhalb der durch die allgemeinen Prinzipien des europäischen Zuständigkeitsrechts festgelegten Grenzen zu erfolgen. Zu beachten ist insbesondere der tendenzielle favor defensoris der EuGVVO und das Gebot der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeiten. Das Spannungsfeld gegenläufiger Zuständigkeitsinteressen lässt sich nicht in eine Richtung, sondern nur durch einen angemessenen Ausgleich auflösen (siehe S. 23 ff.). 2. Die einheitliche Sach- und Rechtslage als Voraussetzung der Gefahr widersprechender Entscheidungen. – Die Eröffnung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft ist zweckmäßig, wenn die Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht. Beurteilungsgrundlage der Widerspruchsgefahr bildet das Verhältnis der Ankerklage zu jeweils einer Annexklage. Die von den Beklagten gegen die Begründetheit der Klagen vorgetragenen Einwendungen sind dagegen außer Acht zu lassen. Damit in getrennten Verhandlungen nicht bloß voneinander abweichende, sondern sich gegenseitig widersprechende Entscheidungen drohen, müssen die am Gerichtsstand der Streitgenossenschaft erhobenen Klagen auf einer einheitlichen Sach- und Rechtslage beruhen. Die Einheitlichkeit der Rechtslage wird durch den Harmonisierungsgrad der potentiell zur Anwendung gelangenden Rechtsvorschriften geprägt. Spielt der Fall in einem vollharmonisierten Rechtsgebiet, besteht die einheitliche Rechts-

Kapitel 8: 10 Thesen zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO

343

lage immer. In teilharmonisierten Rechtsgebieten ist die einheitliche Rechtslage regelmäßig zu bejahen, da die divergierende Beurteilung einer vereinheitlichten Rechtsvorschrift abstrakt nicht ausgeschlossen ist. Nur ausnahmsweise, wenn die potentiell zur Anwendung gelangenden Rechtsvorschriften lediglich unwesentlich harmonisiert sind, ist eine konkrete Prognose über die Widerspruchsgefahr zu treffen. Keine einheitliche Rechtslage besteht dagegen, wenn die Regeln des internationalen Privatrechts unterschiedliche nationale Rechtsordnungen auf die Klagen berufen, deren Bestimmungen nicht durch europäische Vorgaben vereinheitlicht wurden. Die Annahme einer einheitlichen Sachlage ist gerechtfertigt, wenn zur Entscheidung über beide Klagen eine beträchtliche Zahl identischer Tatsachen herangezogen wird und der Zusammenhang der zugrundeliegenden Lebensverhältnisse nicht durch einen wesentlichen Unterschied zerstört wird. Als Anhaltspunkt für die Wesentlichkeit eines tatsächlichen Unterschieds der Klagen lässt sich mitunter auf einen offenkundigen gesetzgeberischen Willen zur Gleich- oder Andersbehandlung von Sachverhalten rekurrieren (siehe S. 45 ff.). 3. Zulässigkeit des Rückgriffs auf das nationale Recht zur Bestimmung der Widerspruchsgefahr. – Nicht jeder Rückgriff auf das nationale Recht begründet einen Verstoß gegen das Gebot der europäisch-autonomen Auslegung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Zwar hat die eigentliche Begriffsausbildung des Tatbestandsmerkmals der Gefahr widersprechender Entscheidungen losgelöst von den Vorstellungen des nationalen Rechts zu erfolgen. Das schließt auch die nähere Umschreibung der Widerspruchsgefahr durch die Konkretisierung des Kriteriums der einheitlichen Sach- und Rechtslage ein. Zur Subsumtion unter die einheitlichen Vorgaben ist der Rückgriff auf das anwendbare Sachrecht jedoch unvermeidbar, da sich anders nicht ermitteln lässt, welche Rechtsvorschriften und Tatsachen für die Entscheidung über die Klagen relevant sind (siehe S. 82 ff.). 4. Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal des streitgenössischen Kontakts zum Ankerbeklagten. – Zum zweiten Element von Konnexität sollte das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal des streitgenössischen Kontakts zum Ankerbeklagten erhoben werden. Da der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nicht an streitgegenstandsbezogene Merkmale sondern an das personenbezogene Merkmal des Wohnsitzes des Ankerbeklagten anknüpft, wird die Vorhersehbarkeit der gemeinsamen Verhandlung erst durch das Erfordernis eines vorprozessualen Näheverhältnisses zum Ankerbeklagten gewährleistet. Der streitgenössische Kontakt besteht,

344

Kapitel 8: 10 Thesen zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO

wenn der Annexbeklagte bei der Vornahme seines später streitgegenständlichen Verhaltens willentlich eine Nähebeziehung zum Ankerbeklagten eingegangen ist und dabei Kenntnis oder fahrlässige Unkenntnis von dessen Wohnsitz sowie dessen streitgegenständlichen Verhaltens gehabt hat. Die haftungsrechtlichen Beziehungen der Streitgenossen spielen bei der Bewertung des streitgenössischen Kontakts zum Ankerbeklagten keine Rolle (siehe S. 75 ff.). 5. Die Gefahr der Zuständigkeitserschleichung und ihre Bekämpfung. – Die Möglichkeit zur Erschleichung des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft resultiert aus der zuständigkeitsbegründenden Drittwirkung der zur Ankerklage vorgetragenen Tatsachen und Rechtsausführungen. Nach dem Grundsatz der perpetuatio fori besteht eine einmal gegenüber den Annexbeklagten begründete Zuständigkeit nämlich auch dann fort, wenn die Ankerklage im Laufe des Verfahrens abgewiesen wird. Zur Bekämpfung des Missbrauchs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO sind daher besondere Anforderungen an die Ankerklage zu stellen. Die Ankerklage darf nicht offenkundig kraft Gesetzes unzulässig sein. In Hinblick auf die Erfolgsaussichten in der Begründetheit ist einerseits zu fordern, dass nach einer überschlägigen Beurteilung der Rechtslage eine realistische Chance auf die Verurteilung des Ankerbeklagten besteht. Andererseits sollte das Gericht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der zugrundeliegende Tatsachenvortrag des Klägers der Wirklichkeit entspricht. Das nachträgliche Entfallen der Rechtshängigkeit der Ankerklage führt nur in sehr engen Grenzen zu einer Einschränkung des Grundsatzes der perpetuatio fori. Die Ankerklage muss unmittelbar nach ihrer Erhebung wieder zurückgenommen werden. Außerdem müssen die Annexbeklagten Indizien dafür vorbringen, dass der Kläger, etwa aufgrund einer vorherigen außergerichtlichen Einigung, von vornherein kein Interesse an einer Rechtsverfolgung gegen den Ankerbeklagten hatte (siehe S. 94 ff.). 6. Internationale Wohnsitzgleichheit und Drittstaatensachverhalte. – Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft ist lediglich gegenüber Personen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat eröffnet. Zwar führt die restriktive Ausformung des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass Annexbeklagte aus dem Gerichtsstaat oder einem Drittstaat der gemeinsamen Verhandlung mitunter nicht hinzugezogen werden können. Mitgliedstaaten, denen eine nationale Streitgenossenzuständigkeit unbekannt

Kapitel 8: 10 Thesen zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO

345

ist, steht es jedoch frei, ihr Prozessrecht um eine mit Art. 6 Nr. 1 EuGVVO vergleichbare Regelung zu ergänzen (siehe S. 142 ff.). 7. Verhältnis zu anderen Gerichtsständen der EuGVVO. – Für die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO innerhalb der Sonderkompetenzregime der Abschnitte 3–5 gilt, dass lediglich Arbeitgeber, nicht aber andere Beklagte aus dem persönlichen Anwendungsbereich der Sonderregeln, der gemeinsamen Verhandlung als Annexbeklagte hinzugezogen werden dürfen. Hat der Kläger mit einem der Streitgenossen die ausschließliche Zuständigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts vereinbart, das nicht am Wohnsitz des Ankerbeklagten liegt, ist der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft nach Art. 23 EuGVVO derogiert. Gerichtsstandsabreden zugunsten drittstaatlicher Gerichte entfalten ebenfalls Derogationswirkung, wobei ihre Wirksamkeit nach Art. 23 EuGVVO und den eventuell strengeren Anforderungen des nationalen Prozessrechts zu beurteilen ist. 8. Die gebündelte Geltendmachung von Patentverletzungsklagen. – Die Zulässigkeit der gebündelten Geltendmachung von Patentverletzungsklagen wird durch den Verletzungsgegenstand, die Verletzungshandlungen und die Verletzerbeziehung determiniert. Ein tauglicher Verletzungsgegenstand besteht bei der Verletzung desselben nationalen Patents, eines einzelnen Splitters eines europäischen Bündelpatents oder des europäischen Bündelpatents in seiner „transnationalen Gesamtstruktur“. Ausgeschlossen ist die Verfahrenskonzentration dagegen im Falle der parallelen Verletzung mehrerer nationaler Patente durch die Beklagten. Gleichartige Verletzungshandlungen liegen vor, wenn das Patent durch identische Ausführungsformen verletzt wurde und zwar unabhängig davon, welche Art von Benutzungshandlung (z.B. Herstellung, Vertrieb, Benutzung) den einzelnen Streitgenossen vorgeworfen wird. Eine taugliche Verletzerbeziehung besteht, wenn der ankerund der annexbeklagte Patentverletzer in einer der klassischen Beteiligungsformen zusammengewirkt haben, eine Vertragsbeziehung mit einem konkreten Bezug zur Patentverletzung unterhalten oder auf unmittelbar aufeinanderfolgenden Marktstufen derselben Verletzerkette angesiedelt sind. In Konzernsachverhalten besteht zudem ein hinreichend enger Zusammenhang, wenn die Beklagten in einem gesellschaftsrechtlichen Subordinationsverhältnis stehen. Die umfassende Bündelung der gegen einen Konzern erhobenen Klagen ist daher nur am Sitz der Konzernspitze möglich. Eine partielle Verfahrenskonzentration

346

Kapitel 8: 10 Thesen zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO

mit Gesellschaften derselben vertikalen Konzernverästelung kommt auch am allgemeinen Gerichtsstand anderer Gesellschaften in Betracht (S. 182 ff.). 9. Die Konzentration kartelldeliktischer Klagen gegen Adressaten der Bußgeldentscheidung. – Kartelldeliktische Klagen, die gegenüber den unmittelbar am Kartellverstoß beteiligten Adressaten der Bußgeldentscheidung erhoben werden, stehen in dem von Art. 6 Nr. 1 EuGVVO geforderten Zusammenhang. Die einheitliche Sach- und Rechtslage wird durch die umfassende gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten für alle kartellbedingten Schäden begründet. Der streitgenössische Kontakt besteht aufgrund des gemeinschaftlichen Zusammenwirkens bei der Absprache oder Abstimmung der Kartellkonditionen. Gegenüber Adressaten der Bußgeldentscheidung, die am Kartellverstoß selbst nicht unmittelbar beteiligt waren, ist der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft ebenfalls eröffnet. Da die Grundvoraussetzung ihrer haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit – die Begehung eines Kartellverstoßes – bereits verbindlich feststeht, dient die gemeinsame Verhandlung der einheitlichen Beurteilung der Frage, ob die weiteren Voraussetzungen kartelldeliktischer Anspruchsgrundlagen trotz des Fehlens einer direkten Beteiligung am Kartellverstoß erfüllt sind. Der streitgenössische Kontakt zum Ankerbeklagten kann auch durch die Mitwirkung einer Gesellschaft an der Kartellabsprache begründet werden, die demselben Unternehmen im funktionalen Sinne wie der nicht unmittelbar handelnde Adressat angehört (siehe S. 241 ff.). 10. Die gemeinsame Verhandlung mit Mutter- oder Tochtergesellschaften von Adressaten der Bußgeldentscheidung. – Bei der gemeinsamen Verhandlung mit Gesellschaften, die von der Bußgeldentscheidung selbst nicht adressiert wurden, aber zu einem der Adressaten in konzernrechtlicher Verbindung stehen, gilt es zu differenzieren. Gegenüber Muttergesellschaften von Adressaten ist die Anwendung des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO zulässig. Das Tatbestandsmerkmal der Gefahr widersprechender Entscheidungen ist erfüllt, weil Muttergesellschaften in Übertragung des Konzepts der wirtschaftlichen Einheit auch dann für den Kartellverstoß ihrer Tochtergesellschaft haftungsrechtlich verantwortlich sind, wenn ihnen selbst keine Mitwirkung an der Kartellabsprache zur Last fällt. Auch das direkte Zusammenwirken ihrer Tochtergesellschaft mit den anderen Kartellmitgliedern muss die Muttergesellschaft gegen sich gelten lassen, sodass das Erfordernis des streitgenössischen Kontakts erfüllt ist. Am Sitz nicht adressierter Tochtergesellschaften dürfen

Kapitel 8: 10 Thesen zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO

347

Kartellprozesse dagegen nur in engen Grenzen verankert werden. Wird die Haftung der Tochtergesellschaft durch einen „von oben nach unten“ zugerechneten Kartellverstoß der Muttergesellschaft begründet, dürfen an ihrem Sitz allein die diejenigen Klagen konzentriert werden, die auf den Ersatz der durch die Absatzgeschäfte der Tochtergesellschaft verursachten Schäden zielen. Die umfassende Bündelung der kartelldeliktischen Klagen setzt voraus, dass der Kläger einen eigenständigen Kartellverstoß der Tochtergesellschaft, also den Absatz der kartellierten Ware in Kenntnis der Kartellabsprache, substantiiert darlegt (siehe S. 268 ff.).

Literaturverzeichnis Ackermann, Thomas: Prävention als Paradigma: Zur Verteidigung eines effektiven kartellrechtlichen Sanktionssystems, ZWeR 2010, 329–352. Adolphsen, Jens: Europäisches Zivilverfahrensrecht, Heidelberg 2011. ders.: Europäisches und internationales Zivilprozessrecht in Patentsachen, 2. Aufl., Köln 2009. ders.: Renationalisierung von Patentstreitigkeiten in Europa (zu EuGH 13.7.2006 – Rs. C-4/03 – Gesellschaft für Antriebstechnik [GAT] ./. LuK unten S. 36, Nr. 1a, und EuGH 13.7.2006 – Rs. C-539/03 – Roche Nederland BV u.a. ./. F. Primus, M. Goldenberg, unten S. 38, Nr. 1b), IPRax 2007, 15–21. ders.: Das Territorialitätsprinzip im europäischen Patentrecht – Zugleich eine Besprechung der neuesten Rechtsprechung des EuGH, ZZPInt. 11 (2006), 137–163. Albicker, Steffen: Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft, Konstanz 1996. Althammer, Christoph: Streitgegenstand und Interesse: eine zivilprozessuale Studie zum deutschen und europäischen Streitgegenstandsbegriff, Tübingen 2012. ders.: Unvereinbare Entscheidungen, drohende Rechtsverwirrung und Zweifel an der Kernpunkttheorie – Webfehler im Kommissionsvorschlag der Neufassung der Brüssel I-VO?, in: Geimer, Reinhold/Schütze, Rolf A. (Hg.), Recht ohne Grenzen, Festschrift für Athanassios Kaissis zum 65. Geburtstag, München 2012, 23–36. ders.: Die Auslegung der Europäischen Streitgenossenzuständigkeit durch den EuGH – Quelle nationaler Fehlinterpretation? (zu EuGH, 11.10.2007 – Rs. C-98/06 – Freeport plc ./. Olle Arnoldsson), IPRax 2008, 228–233. ders.: Die Anforderungen an die „Ankerklage“ am forum connexitatis (Art. 6 Nr. 1 EuGVO) (zu EuGH, 13.7.2006 – Rs. C-103/05 – Reisch Montage AG ./. Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), IPRax 2006, 558–563. Ashton, David/Henry, David: Competition Damage Actions in the EU, Law and Practice, Cheltenham 2013. Ashton, David/Vollrath, Christian: Choice of court and applicable law in tortious actions for breach of Community competition law, ZWeR 2006, 1–26. Audit, Mathias: L’interpretation autonome du droit international privé communautair, Clunet 2004, 789–816. Bader, Christine: Die internationalprivatrechtliche Behandlung von Schadensersatzansprüchen aus Kartellverstößen, Trier 2008. Balmain, Charles/Coughlan, Vera: More haste less speed: the evolving practice in competition damages actions in the UK, G.C.L.R. 2011, 147–153. Banniza von Bazan, Ulrike: Der Gerichtsstand des Sachzusammenhangs im EuGVÜ, Frankfurt am Main 1996. von Bar, Christian: Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. 1, München 1996. Basedow, Jürgen: Theorie der Rechtswahl oder Parteiautonomie als Grundlage des Internationalen Privatrechts, RabelsZ 75 (2011), 32–59.

350

Literaturverzeichnis

ders.: Der Handlungsort im internationalen Kartellrecht – Ein juristisches Chamäleon auf dem Weg vom Völkerrecht zum internationalen Zivilprozessrecht, in: Wettbewerbspolitik und Kartellrecht in der Marktwirtschaft – 50 Jahre FIW: 1960 bis 2010 – Festschrift, Köln 2010, 129–142. ders.: Jurisdiction and Choice of Law in the Private Enforcement of EC Competition Law, in: ders. (Hg.), Private Enforcement of EC Competition Law, Alphen aan den Rijn 2007, 229–254. ders.: Das Kartelldeliktsrecht und der „More Economic Approach“, EuZW 2006, 97. ders.: Perspektiven des Kartelldeliktsrechts, ZWeR 2006, 294–305. ders.: Europäisches Zivilprozeßrecht – Allgemeine Fragen des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens (GVÜ), in: Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht (Hg.), Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. 1, Tübingen 1982. Basedow, Jürgen/Heinze, Christian A.: Kartellrechtliche Schadensersatzklagen im europäischen Gerichtsstand der Streitgenossenschaft (Art. 6 Nr. 1 EuGVO), in: Bechtold, Stefan/Jickeli, Joachim/Rohe, Mathias (Hg.), Festschrift zum 70. Geburtstag von Wernhard Möschel, Baden-Baden 2011, 63–84. Beck’scher Online-Kommentar BGB, Bamberger, Heinz Georg/Roth, Herbert (Hg.), München, Stand 1.11.2013 (zitiert: BeckOK/Bearbeiter). Bénabent, Alain: La mise en jeu de la responsabilité civile, Petites affiches 2005, N°14, 31–36. Benecke, Lars: Die teleologische Reduktion des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs von Art. 2ff. und Art. 17 EuGVÜ, Bielefeld 1993 (zitiert: Benecke, Teleologische Reduktion des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs). Bertrams, Heleen: The Cross-Border Prohibitory Injunction in Dutch Patent Law, IIC 1995, 618–636. Bodson, Eric: Le brevet européen est-il différent? L’arrêt Roche Nederland de la Cour de justice: vers une révision du règlement de Bruxelles en ce qui concerne la concentration de litiges transfrontaliers en matière de contrefaçon de brevets européens?, RDIDC 2007, 447–495. Bork, Reinhard: Zurechnung im Konzern, ZGR 1994, 237–265. Borla-Geier, Eva: Streitgenossenschaft nach Lugano-Übereinkommen, Schweizerisches Bundesgericht, I. zivilrechtliche Abteilung, i.S. X. gegen Z. und Mitb., Urteil vom 9. Oktober 2007 (4A_155/2007) Beschwerde in Zivilsachen (134 III 27), ZZZ 2007, 523–526. Börger, Ulrich: Internationale Zuständigkeit für kartellprivatrechtliche Schadensersatzklagen nach Art. 6 Nr. 1 EuGVO, in: Nietsch, Michael/Weller, Mathias (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, 2014, 51–63. Bosch, Wolfgang: Verantwortung der Konzernobergesellschaft im Kartellrecht, ZHR 177 (2013), 454–474. Brandes, Frank: Der gemeinsame Gerichtsstand: die Zuständigkeit im europäischen Mehrparteienprozeß nach Art. 6 Nr. 1 EuGVÜ/LU, Frankfurt am Main 1998 (zitiert: Brandes, Der gemeinsame Gerichtsstand). Brändle, Dieter: Can and May Interpretation and Determination of the Extent of Protection of a European Patent in Different Countries Lead to Different Results?, IIC 1999, 875–882.

Literaturverzeichnis

351

Briggs, Adrian: The Rejection of Abuse in International Civil Procedure, in: de la Féria, Rita/Vogenauer, Stefan (Hg.), Prohibition of the Abuse of Law, A new general principle of EU law?, Oxford 2011, 261–278. ders.: Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, Oxford 2008. ders.: Jurisdiction over defences and connected claims, LMCLQ 2006, 447–454. ders.: Claims against Sea Carriers and the Brussels Convention, LMCLQ 1999, 333– 337. Briggs, Adrian/Rees, Peter: Civil Jurisdiction and Judgments, 5. Aufl., London 2009. Brinkhof, Jan J.: Nichtigerklärung europäischer Patente, GRUR Int. 1996, 1115– 1119. ders.: The Enforcement of Patent Rights in the Netherlands, IIC 2000, 706–722. ders.: Das einstweilige Verfügungsverfahren und andere vorläufige Maßnahmen im Zusammenhang mit Patentverletzungen, GRUR Int. 1993, 387–394. Brown, Christopher: United Kingdom: procedure – follow on-actions, ECLR 2011, N-22-55. Buchner, Benedikt: Kläger- und Beklagtenschutz im Recht der internationalen Zuständigkeit, Lösungsansätze für eine zukünftige Gerichtsstands- und Vollstreckungskonvention, Tübingen 1998 (zitiert: Buchner, Kläger- und Beklagtenschutz). Bukow, Johannes: Verletzungsklagen aus gewerblichen Schutzrechten: die internationale Zuständigkeit nach dem EuGVÜ bzw. der EuGVVO, Hamburg 2003 (zitiert: Bukow, Verletzungsklagen). Bülow, Arthur/Böckstiegel, Karl-Heinz/Geimer, Reinhold/Schütze, Rolf (Hg.): Der Internationale Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen. Loseblattsammlung Bd. 1, Stand 2013, München (zitiert: Bülow/Böckstiegel/Bearbeiter). Bulst, Friedrich Wenzel: Zum Manfredi-Urteil des EuGH, Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 13. Juli 2006, ZEuP 2008, 178–195. ders.: Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite im Kartellrecht: zur Schadensabwälzung nach deutschem, europäischem und US-amerikanischem Recht, Baden-Baden 2006 (zitiert: Bulst, Schadensersatzansprüche der Marktgegenseite). ders.: Internationale Zuständigkeit, anwendbares Recht und Schadensberechnung im Kartelldeliktsrecht, EWS 2004, 403–410. ders.: The Provimi decision of the High Court: Beginnings of private antitrust litigation in Europe, EBOR 4 (2003), 623–650. Bürger, Christian: Die Haftung der Konzernmutter für Kartellrechtsverstöße ihrer Tochter nach deutschem Recht, WuW 2011, 130–140. Burgstaler, Alfred: Zur Streitgenossenschaft nach der EuGVVO, Zak 2006, 289–290. Buxbaum, Hannah/Michaels, Ralf: Jurisdiction and Choice of Law in International Antitrust Law – A U.S. Perspective, in: Basedow, Jürgen/Francq, Stéphanie/Idot, Laurence (Hg.), International Antitrust Litigation, Oxford 2012, 225–244. von Caemmerer, Ernst, Ausgleichsprobleme im Haftpflichtrecht in rechtsvergleichender Sicht, ZRvgl 9 (1968), 81–98. Coester-Waltjen, Dagmar: Der Erfüllungsort im internationalen Zivilprozessrecht, in: Geimer, Reinhold/Schütze, Rolf A. (Hg.), Recht ohne Grenzen, Festschrift für Athanassios Kaissis zum 65. Geburtstag, München 2012, 91–101.

352

Literaturverzeichnis

dies.: Die Rolle des EuGH im internationalen Privat- und Verfahrensrecht, in: Kieninger, Eva-Maria/Remien, Oliver (Hg.), Europäische Kollisionsrechtsvereinheitlichung, Baden-Baden 2012, 77–100. dies: Konnexität und Rechtsmissbrauch – zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, in: Baetge, Dietmar/von Hein, Jan/von Hinden, Michael (Hg.), Festschrift für Jan Kropholler zum 70. Geburtstag, Tübingen 2008, 747–758. Cuniberti, Gilles: The Discreet Influence of Abuse of Law in International Civil Procedure, in: de la Féria, Rita/Vogenauer, Stefan (Hg.), Prohibition of the Abuse of Law, a new general principle of EU law?, Oxford 2011, 279–289. Cuniberti, Gilles/Rueda, Isabelle: Abolition of Exequatur, Addressing the Commisson’s Concerns, RabelsZ 75 (2011), 286–316. Danov, Mihail: Jurisdiction in Cross-Border EU Competition Law Cases: Some Specific Issues Requiring Specific Solutions, in: Danov, Mihail/Becker, Florian/ Beaumont, Paul (Hg.), Cross-Border EU Competition Law Actions, Oxford 2013, 167–196. ders.: Jurisdiction and judgments in relation to EU competition law claims, Oxford 2011. Dasser, Felix/Oberhammer, Paul (Hg.): Kommentar zum Lugano-Übereinkommen (LugÜ), Bern 2008 (zitiert: Dasser/Oberhammer/Bearbeiter). Däubler, Wolfgang: Die internationale Zuständigkeit der deutschen Arbeitsgerichte, Neue Regeln durch die Verordnung (EG) Nr. 44/2001, NZA 2003, 1297–1302. de Witt, Severin: Die Anwendungspraxis des EuGVÜ und des LugÜ in Patent- und Markensachen mit internationalem Bezug durch die Gerichte in den Niederlanden, Mitt. 1996, 225–234 . Dicey, Albert Venn/Morris, John H. C./Collins, Lawrence: Dicey, Morris and Collins on the Conflict of Laws (Volume 1), 15. Aufl., London 2012 (Dicey, Morris & Collins, Conflict of Laws). Dickinson, Andrew: The Rom II Regulation, The Law Applicable to Non-Contractual Obligations, Oxford 2008 (zitiert: Dickinson, Rom II Regulation). Dietze/Schnichels, Die aktuelle Rechtsprechung des EuGH zum EuGVÜ und zur EuGVVO, Übersicht über das Jahr 2006, EuZW 2007, 687–691. dies.:, Die aktuelle Rechtsprechung des EuGH zum EuGVÜ und zur EuGVVO, Eine Übersicht über das Jahr 1998, EuZW 1999, 549–553. Donzallaz, Yves: La Convention de Lugano du 16 septembre 1988 concernant la compétence judiciaire et l’exécution des décisions en matière civile et commercial, Volume III: Paragraphes 4239–7164, Bern 1998 (zitiert: Donzallaz, La Convention de Lugano). von Drahten, Christian: Patent Scope in English and German Law Under the European Patent Convention 1973 and 2000, IIC 2008 384–419. Dumas, Alexandre: Les Trois Mousquetaires I, nouvelle edition augmentée d’un sommaire biographique, Nachdruck der Originalausgabe von 1860, Paris 1966 (zitiert: Dumas, Les Trois Mousquetaires I). Ebner, Martin: Markenschutz im internationalen Privat- und Zivilprozessrecht, Köln 2004 (zitiert: Ebner, Markenschutz). Ehricke, Ulrich: Gerichtsstandvereinbarungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen im vollkaufmännischen Geschäftsverkehr, insbesondere im Hinblick auf § 32 ZPO, ZZP 111 (1998), 145–176.

Literaturverzeichnis

353

Ellenrieder, Nils: Der Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes bei eigenständigen Klagen im Rahmen der privaten Geltendmachung von Ansprüchen wegen der Verletzung des Kartellverbots nach europäischem Recht, Köln 2011 (zitiert: Ellenrieder, Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes). Endter, Florian: Schadensersatz nach Kartellverstoß: eine rechtsvergleichende Untersuchung der Anspruchsgrundlagen im europäischen, deutschen und englischen Recht, Bern 2007 (zitiert: Endter, Schadensersatz nach Kartellverstoß). von Falkenhausen, Joachim: Internationale Gerichtsstandsvereinbarungen und unerlaubte Handlung, Gleichzeitig eine Besprechung der Entscheidung, OLG Hamburg, RIW 1982 S 669, RIW 1983, 420–422. Fasching, Hans W./Konecny, Andreas (Hg.): Kommentar zu den Zivilprozessgesetzen, Bd. 5: Internationales Zivilprozessrecht (EuGVVO, EuBVO, EuVTVO, §§ 39, 39 a JN, §§ 63 bis 73, 283, 291 a bis 291 c ZPO), 1. Teilband, 2. Aufl., Wien 2008 (zitiert: Fasching/Konecny/Bearbeiter). dies. (Hg.): Kommentar zu den Zivilprozeßgesetzen, Bd. 1, EGJN, JN samt EuGVÜ/LGVÜ, 2. Aufl., Wien 2000 (zitiert: Fasching/Konecny/Bearbeiter). Fawcett, ICLQ 1995, 744, 754. Fawcett, James/Carruthers, Janeen/North Peter: Cheshire, North, and Fawcett on Private International Law, 14. Aufl., Oxford 2008. Fawcett, James/Torremans, Paul: Intellectual Property and Private International Law, 2. Aufl., Oxford 2011. Fentiman, Richard: National Law and the European Jurisdiction Regime, in: Nuyts, Arnauds/Watté, Nadine (Hg.), International Civil Litigation in Europe and Relations with Third States, Brüssel 2005, 83–128. Fitchen, Jonathan: The Applicable Law in Cross-Border Competition Law Actions and Article 6(3) of Regulation 864/2007, in: Danov, Mihail/Becker, Florian/ Beaumont, Paul (Hg.), Cross-Border EU Competition Law Actions, Oxford 2013, 297–328. ders.: Allocation Jurisdiction in Private Competition Law Claims within the EU, MJ 15 (2006), 381–401. Francq, Stéphanie/Wurmnest, Wolfgang: International Antitrust Claims under the Rome II Regulation, in: Basedow, Jürgen/Francq, Stéphanie/Idot, Laurence (Hg.), International Antitrust Litigation, Oxford 2012, 91–129. Fries, Bruno: Forum in der Rechtssprache, München 1963. Frodl, Susanne: Rechtssicherheit vor Arbeitnehmerschutz?, ÖJZ 2009, 935–940. Gamble, Roger: Whether neap or spring, the tide turns for private enforcement: the EU proposal for a Directive on damages examined, ECLR 2013, 611–620. Gampp, Edda: „Perpetuatio fori internationalis“ im Zivilprozeß und im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Frankfurt am Main 2010 (zitiert: Gampp, Perpetuatio fori internationalis). Garzaniti, Laurent/Vanhulst, Olivier/Oeyen, Tone: Private Antitrust Enforcement – Status Quo in Belgium, EuZW 2012, 691–694. Gaudemet-Tallon, Hélène: Compétence et exécution des jugements en Europe, règlement 44/2001, conventions de Bruxelles (1968) et de Lugano (1988 et 2007), 4. Aufl., Paris 2010 (zitiert: Gaudemet-Tallon, Compétence et exécution). dies.: Anmerkung zu Cour de cassation v. 8.1.2002 und Cour de cassation v. 19.11.2002, Rev. crit. dr. int. priv. 92 (2003), 129–134.

354

Literaturverzeichnis

Geier, Eva: Die Streitgenossenschaft im internationalen Verhältnis, Bern 2005 (zitiert: Geier, Streitgenossenschaft). Geimer, Reinhold/Schütze, Rolf A. (Hg.): Europäisches Zivilverfahrensrecht, Kommentar zur EuGVVO, EuEheVO, EuZustellungsVO, EuInsVO, EuVTVO, zum Lugano-Übereinkommen und zum nationalen Kompetenz- und Anerkennungsrecht, München 2010 (zitiert: Geimer/Schütze/Bearbeiter). Geimer, Reinhold: FORA CONNEXITATIS, Der Sachzusammenhang als Grundlage der internationalen Zuständigkeit, Bemerkungen zu Artikel 6 des EWG-Übereinkommens vom 27. September 1968, WM 1979, 350–361. ders.: Forum Condefensoris, in: Baetge, Dietmar/von Hein, Jan/von Hinden, Michael (Hg.), Festschrift für Jan Kropholler zum 70. Geburtstag, Tübingen 2008, 777– 794. ders.: Internationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl., Köln 2009. ders.: Internationalrechtliches zum Justizgewährungsanspruch, in: Habscheid, Walther J./Schwab, Karl Heinz (Hg.), Beiträge zum internationalen Verfahrensrecht und zur Schiedsgerichtsbarkeit, Festschrift für Heinrich Nagel zum 75. Geburtstag, Münster 1987, 36–53. ders.: Verfassungsrechtliche Vorgaben bei der Normierung der internationalen Zuständigkeit, in: Matscher, Franz/Seidl-Hohenveldern, Ignaz (Hg.), Europa im Aufbruch: Festschrift Fritz Schwind zum 80. Geburtstag, Wien 1993, 17–42. Götting, Horst-Peter: Gewerblicher Rechtsschutz: Patent-, Gebrauchsmuster-, Geschmacksmuster- und Markenrecht, 9. Aufl., München 2009 (Götting, Gewerblicher Rechtsschutz). ders.: Das EU-Einheitspatent, Das Ende einer „unendlichen Geschichte?“, ZEuP 2014, 349–370. Götz, Wolfgang: Schaden und Bereicherung in der Verletzerkette, GRUR 2001, 295– 303. Grabinski, Klaus: Kann und darf die Bestimmung des Schutzbereichs eines europäischen Patents in verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Ergebnissen führen?, GRUR 1998, 857–865. ders.: Zur Bedeutung des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens (Brüsseler Übereinkommens) und des Lugano-Übereinkommens in Rechtsstreitigkeiten über Patentverletzungen, GRUR Int. 2001, 199–213. Grabitz, Eberhard/Hilf, Meinhard/Nettesheim, Martin (Hg.): Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Loseblatt, München, Stand 2013 (zitiert: Grabitz/ Hilf/Nettesheim/Bearbeiter). Graf, Georg: Unsolidarische Gesamtschuldner, ecolex 2010, 1063–1065. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 29, Teilband 2, Nachdruck der Originalausgabe von 1960, Leipzig 2003. Grolimund, Pascal: Drittstaatenproblematik des europäischen Zivilverfahrensrechts, Tübingen 2000 (zitiert: Grolimund, Drittstaatenproblematik). Grosch, Marcus: Rechtswandel und Rechtskraft bei Unterlassungsurteilen: zugleich ein Beitrag zum Verhältnis von Zeit und Recht sowie eine Kritik der Dogmatik vom materiellen Unterlassungsanspruch, Heidelberg 2002 (zitiert: Grosch, Rechtskraft bei Unterlassungsurteilen).

Literaturverzeichnis

355

Grothe, Hellmut: Die Streitgenossenzuständigkeit gemäss Art. 6 Nr. 1 EuGVO und das Schicksal der Wohnsitzklage, Essays in honour of Konstantinos D. Kerameus, Athen 2009, 469–480. Grünberger, Michael: Bindungswirkung kartellbehördlicher Entscheidung, in: Möschel, Wernhard/Bien, Florian (Hg.), Kartellrechtsdurchsetzung durch private Schadensersatzklagen?, Baden-Baden 2010, 135–223. Haedicke, Maximilian Wilhelm: Patentrecht, 2. Aufl., Köln 2012. Hahn, Carl/Mugdan, Benno: Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 2, Materialien zur Zivilprozessordnung, Neudruck der Ausgabe Berlin 1881, Aalen 1983 (zitiert: Hahn/Mugdan, Gesamte Materialien). Harms, Rüdiger: Der Gerichtsstand des Sachzusammenhangs (Art. 6 Nr. 1 EuGVVO) bei kartellrechtlichen Schadensersatzklagen, Eine Analyse der neueren Rechtsprechung des EuGH, 129–134. Hau, Wolfgang: Anmerkung zu Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Urteil vom 19.2.2002 in der Rechtssache Besix SA gegen Wasserreinigungsbau Alfred Kretzschmar GmbH & Co. KG (WABAG) und Planungs- und Forschungsgesellschaft Dipl. Ing. W. Kretzschmar GmbH & KG (Plafog), Rs. 256/00, ZZPInt. 11 (2006), 214–220. ders.: Buchbesprechung, Buchner, Benedikt: Kläger- und Beklagtenschutz im Recht der internationalen Zuständigkeit. – Tübingen: Mohr Siebeck (1998). XVI, 170 S. (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht. 60.), RabelsZ 64 (2000), 437–441. von Hein, Jan: Das Günstigkeitsprinzip im internationalen Deliktsrecht, Tübingen 1999 (zitiert: von Hein, Günstigkeitsprinzip). ders.: Die Neufassung der Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung (EuGVVO), RIW 2013, 97–111. Heinig, Jens: Grenzen von Gerichtsstandsvereinbarungen im Europäischen Zivilprozessrecht, Jena 2010 (Heinig, Gerichtsstandsvereinbarungen). Heinze, Christian A.: Article 2:206: Multiple Defendants, in: Basedow, Jürgen/Drexl, Josef (Hg.), Conflict of Laws in Intellectual Property, The CLIP Principles Commentary, Oxford 2013, 103–119. ders.: Choice of Court Agreements, Coordination of Proceedings and Provisional Measures in the Reform of the Brussels I Regulation, RabelsZ 75 (2011), 581– 618. ders.: Surf global, sue local! Der europäische Klägergerichtsstand bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen im Internet, EuZW 2011, 947–951. ders.: Einstweiliger Rechtsschutz im europäischen Immaterialgüterrecht, Tübingen 2007 (zitiert: Heinze, Einstweiliger Rechtsschutz). Heinze, Christian A./Dutta, Anatol: Ungeschriebene Grenzen für europäische Zuständigkeiten bei Streitigkeiten mit Drittstaatbezug, IPRax 2005, 224–230. Heinze, Christian A./Roffael, Esther: Internationale Zuständigkeit für Entscheidungen über die Gültigkeit ausländischer Immaterialgüterrechte, GRUR Int. 2006, 787–798. Hess, Burkhard: Kartellrechtliche Kollektivklagen in der Europäischen Union. Aktuelle Entwicklungen, in: Remien, Oliver (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat und Wirtschaftsrecht, Tübingen 2012, 151–166. ders.: Europäisches Zivilprozessrecht, Heidelberg 2010.

356

Literaturverzeichnis

ders.: Kartellrechtliche Kollektivklagen in der Europäischen Union – Aktuelle Perspektiven, WuW 2010, 493–502. ders.: Die allgemeinen Gerichtsstände der Brüssel I-Verordnung, in: Hau, Wolfgang/Schmidt, Hubert (Hg.), Facetten des Verfahrensrechts, Liber amicorum Walter F. Lindacher zum 70. Geburtstag am 20. Februar 2007, Köln 2007, 53–63. ders.: Methoden der Rechtsfindung im Europäischen Zivilprozessrecht, IPRax 2006, 348–363. Hess, Burkhard/Pfeiffer, Thomas/Schlosser, Peter: The Brussels I-Regulation (EC) No 44/2001, The Heidelberg Report on the Application of Regulation Brussels I in 25 Member States (Study JLS/C4/2005/03), München 2008 (zitiert: Hess/ Pfeiffer/Schlosser, Heidelberg Report). von Hoffmann, Bernd/Thorn, Karsten: Internationales Privatrecht, 9. Aufl., München 2007. Hoffmann-Nowotny, Urs: Doppelrelevante Tatsachen in Zivilprozess und Schiedsverfahren, Zürich 2010. Holmes, Katherine: Public Enforcement or Private Enforcement? Enforcement of Competition Law in the EC and UK, ECLR 25 (2004), 25–36. Hölder, Niels: Grenzüberschreitende Durchsetzung europäischer Patente, Berlin 2004 (zitiert: Hölder, Durchsetzung). Howard, Annelie/Rose, Vivien, Roth, Peter: The Enforcement of Competition Rules in the Member States, in: Roth, Peter/Rose, Vivien (Hg.), Bellamy & Child: European Community Law of Competition, 6. Aufl., London 2008. Huet, André: Chronique de jurisprudence française, Clunet 2000, 75–88. ders.: Compétence des Tribuneaux Francais a l’égard des litiges internationaux, JCDI, 571-D (5-1988), Civil, Art. 14 et 15, fasicule 4–1. Hye-Knudsen, Rebekka: Marken-, Patent- und Urheberrechtsverletzungen im europäischen internationalen Zivilprozessrecht, München 2005 (zitiert: Hye-Knudsen, Marken-, Patent- und Urheberrechtsverletzungen). Ingerl, Reinhard/Rohnke, Christian: Markengesetz, Gesetz über den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen, München 2010 (zitiert: Ingerl/Ronke/ Bearbeiter). Jacobs, Francis G./Deisenhofer, Thomas: Procedural Aspects of the Effective Private Antitrust Enforcement of EC Competition Rules: A Community Perspective, in: Ehlermann, Claus-Dieter/Atanasiu, Isabela, European Competition Law Annual 2001, Effective Private Enforcement of EC Antitrust Law, 187–227. Jaeger, Thomas: Hieronymus Bosch am Werk beim EU-Patent?, Alternativen zur Einheitspatentlösung, EuZW 2012, 15–21. Jaschke, Franz Josef: Der kartellrechtliche Schadensersatzanspruch, Köln 2012. Jayme, Erik/Kohler, Christian: Europäisches Kollisionsrecht 2006, Eurozentrismus ohne Kodifikationsidee?, IPRax 2006, 437–550. Jenard, Paul: Bericht zum Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. EG vom 05.03.1979, Nr. C 59, 1–65. Junker, Abbo: Internationales Zivilprozessrecht, München 2012. ders.: Vom Brüsseler Übereinkommen zur Brüsseler Verordnung – Wandlungen des Internationalen Zivilprozessrechts, RIW 2002, 569–577.

Literaturverzeichnis

357

juris Praxiskommentar BGB, Bd. 6, Internationales Privatrecht, Herberger, Maximilian/Martinek, Michael/Rüßmann, Helmut/Weth, Stephan (Hg.), 6. Aufl., Saarbrücken 2013 (zitiert: jurisPK-BGB/Bearbeiter). Karet, Ian: Suit, Anti-Suit – Cross Border Skirmishing in Fort Dodge v. Akzo, EIPR 1998, 76–80. Kaye, Peter: Civil jurisdiction and enforcement of foreign judgments: the application in England and Wales of the Brussels convention of 1968 on jurisdiction and the enforcement of judgments in civil and commercial matters under the civil jurisdiction and judgments act 1982, Oxford 1998 (zitiert: Kaye, Civil Jurisdiction). Kersting, Christian: Wettbewerbsrechtliche Haftung im Konzern, Der Konzern 2011, 445–459. ders.: Perspektiven der privaten Rechtsdurchsetzung im Kartelldeliktsrecht, ZWeR 2008, 252–270. Killeen, Darragh: Following „Uncle Sam’s“ footsteps? The evolution of private antitrust enforcement in the European Union, ECLR 2013, 480–483. Kling, Michael: Die Haftung der Konzernmutter für Kartellverstöße ihrer Tochterunternehmen, WRP 2010, 506–518. Knaak, Roland: Internationale Zuständigkeiten und Möglichkeiten des forum shopping in Gemeinschaftsmarkensachen, Auswirkungen der EuGH-Urteile Roche Niederlande und GAT/LUK auf das Gemeinschaftsmarkenrecht, GRUR Int. 2007, 386–394. Knöfel, Oliver: Kein „konzernübergreifender“ europäischer Mehrparteiengerichtsstand für Patentverletzungsklagen!, MR-Int 2006, 127–131. ders.: Kurzkommentar, EuGH, Urt. v. 11.10.2007 – Rs C-98/06 (Högsta domstolen/ Schweden), EWiR 2007, 749–750. ders.: Gerichtsstand der prozessübergreifenden Streitgenossenschaft gemäß Art. 6 Nr. 1 EuGVVO?, zu High Court of Justice, 17.5.2005, und Court of Appeal, 24.10.2005, Masri v. Consolidated Contractors International (UK) Ltd., IPRax 2006, 503–507. Koch, Harald: Europäische Vertrags- und Deliktsgerichtsstände für Seetransportschäden („Weiche Birnen“), IPRax 2000, 186–188. Koch, Raphael: Rechtsdurchsetzung im Kartellrecht: Public vs. private enforcement – Auf dem Weg zu einem level playing field?, JZ 2013, 390–398. Kokott, Juliane/Dittert, Daniel: Die Verantwortlichkeit von Muttergesellschaften für Kartellvergehen ihrer Tochtergesellschaften im Lichte der Rechtsprechung der Unionsgerichte, WuW 2012, 670–683. Komninos, Assimakis P.: New Prospects for Private Enforcement of EC Competition Law: Courage v. Crehan and the Community Right to Damages, CMLRev. 39 (2002), 447–487. Koppensteiner, Hans-Georg: Zur Frage der Zurechenbarkeit von Zuwiderhandlungen im Rahmen einer Unternehmensgruppe, GPR 2010, 92–94. Koussoulis, Stelios: Zur Dogmatik des auf die Schiedsvereinbarung anwendbaren Rechts, in: Bachmann, Birgit u.a. (Hg.), Grenzüberschreitungen, Beiträge zum Internationalen Verfahrensrecht und zur Schiedsgerichtsbarkeit. Festschrift für Peter Schlosser zum 70. Geburtstag, Tübingen 2005, 415–428.

358

Literaturverzeichnis

Koutsoukou Georgia/Pavlova, Polina: Der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft bei Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EU-Kartellrechts, WuW 2014, 153– 163. Köhler, Helmut: Kartellverbot und Schadensersatz, GRUR 2004, 99–103. König, Bernhard: Zur Prüfungspflicht beim Gerichtsstand der Streitgenossenschaft (Art. 6 Z 1 LGVÜ/EuGVÜ), RZ 1997, 240–241. Koortman, Jeroen/Swaak, Christof: Private Antitrust Enforcement – Status Quo in the Netherlands, EuZW 2012, 770–775. Kraßer, Rudolf: Patentrecht: ein Lehr- und Handbuch zum deutschen Patent- und Gebrauchsmusterrecht, europäischen und internationalen Patentrecht, 6. Aufl., München 2009 (zitiert: Kraßer, Patentrecht). Krauskopf, Patrick/Tkacikova, Andrea: Competition Law Violations and Private Enforcement: Forum Shopping Strategies, G.C.L.R. 2011, 26–38. Krebber, Sebastian: Einheitlicher Gerichtsstand für die Klage eines Arbeitnehmers gegen mehrere Arbeitgeber bei Beschäftigung in einen grenzüberschreitenden Konzern (zu EuGH, 22.5.2008 – Rs. C-462/06 – Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline ./. Rouard, unten S. 418, Nr. 27), IPRax 2009, 409–413. Kronke, Herbert: Der Gerichtsstand nach Art. 5 Nr. 5 EuGVÜ – Ansätze einer Zuständigkeitsordnung für grenzüberschreitende Unternehmensverbindungen, (zu EuGH, 9. 12. 1987, Rs. 218/86, unten S.96, Nr. 12), IPRax 1989, 81–84. Kropholler, Jan: Europäisches Zivilprozeßrecht: Kommentar zu EuGVO, LuganoÜbereinkommen und Europäischem Vollstreckungstitel, 8. Aufl., Frankfurt am Main, 2005 (zitiert: Kropholler, EuZPR8). ders.: Das Unbehagen am forum shopping, in: Heinrich, Dieter/von Hoffmann, Bernd, Festschrift für Karl Firsching zum 70. Geburtstag, München 1985, 165– 174. ders.: Internationale Zuständigkeit, in: Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht (Hg.), Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. 1, Tübingen 1982. Kropholler, Jan/von Hein, Jan: Europäisches Zivilprozessrecht, Kommentar zu EuGVO, Lugano-Übereinkommen 2007, EuVTVO, EuMVVO und EuGFVO, 9. Aufl., Frankfurt am Main, 2011 (zitiert: Kropholler/von Hein, EuZPR). Krüger, Carsten: Kartellregress: der Gesamtschuldnerausgleich als Instrument der privaten Kartellrechtsdurchsetzung, Baden-Baden 2010. ders.: Überlegungen zur Gesamtschuld von Kartellmitgliedern im System der privaten Kartellrechtsdurchsetzung. Einer für alle, alle gegen einen?, in: Grau, Ulrich/Oberender, Peter (Hg.), Private und öffentliche Kartellrechtsdurchsetzung, Berlin 2012. ders.: Der Gesamtschuldnerausgleich im System der privaten Kartellrechtsdurchsetzung, WuW 2012, 6–13. Kruger, Thalia: Civil Jurisdiction Rules of the EU and their Impact on Third States, Oxford 2008 (zitiert: Kruger, Third States). Kühnen, Thomas: Handbuch der Patentverletzung, 6. Aufl., Köln 2013. Kur, Anette: Die Ergebnisse des CLIP-Projekts – zugleich eine Einführung in die deutsche Fassung der Principles on Conflict of Laws in Intellectual Property, GRUR Int. 2012, 857–868.

Literaturverzeichnis

359

dies.: Farewell to Cross-Border Injunctions? The ECJ Decisions GAT v. LuK and Roche Nederland v. Primus and Goldenberg, IIC 2006, 844–855. dies.: Are there any common European principles of private International Law with regard to intellectual property?, in: Leible, Stefan/Ohly, Ansgar (Hg.), Intellectual property and private international law, Tübingen 2009, 1–14. Lando, Ole: Die Aufgabe des Gerichtshofes und das System des Brüsseler Übereinkommens, in: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Hg.), Internationale Zuständigkeit und Urteilsanerkennung in Europa: Berichte und Dokumente des Kolloquiums „Die Auslegung des Brüsseler Übereinkommens durch den Europäischen Gerichtshof und der Rechtsschutz im Europäischen Raum“, Luxemburg, 11. und 12. März 1991, Köln 1993, 21–34. Lange, Paul: Der internationale Gerichtsstand der Streitgenossenschaft im Kennzeichenrecht im Lichte der Roche/Primus-Entscheidung des EuGH, GRUR 2007, 107–114. Langen, Eugen/Bunte, Hermann-Josef (Begr./Hg.): Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. 1: Deutsches Kartellrecht, 11. Aufl., Köln 2011 (zitiert: Langen/Bunte/Bearbeiter, Deutsches Kartellrecht). Lawrence, Jon/Morfey, Anna: Tactical Manoeuvres in UK Cartel Damages Litigation, in: Danov, Mihail/Becker, Florian/Beaumont, Paul (Hg.), Cross-Border EU Competition Law Actions, Oxford 2013, 149–158. Leible, Stefan/Lehmann, Matthias: Die neue EG-Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), RIW 2007, 721–735. Leible, Stefan/Reinert, Christian: Zur Frage des Gerichtsstands bei Verkauf beweglicher Sachen mit mehreren Lieferorten in einem Europäischen Mitgliedstaat, EuZW 2007, 372–373. Leupold, Bettina: Effective enforcement of EU competition law gone too far? Recent case law on the presumption of parental liability, ECLR 2013, 570–582. Loewenheim, Ulrich (Hg.): Handbuch des Urheberrechts, 2. Aufl., München 2010 (zitiert: Loewenheim/Bearbeiter, Handbuch des Urheberrechts). Loewenheim, Ulrich/Meessen, Karl M/Riesenkampf Alexander (Hg.): Kartellrecht: Kommentar zum deutschen und europäischen Recht, 2. Aufl., München 2009 (zitiert: Loewenheim/Bearbeiter). Löser, Arne: Zuständigkeitsbestimmender Zeitpunkt und perpetuatio fori im internationalen Zivilprozess, Jena 2009 (zitiert: Löser, Zuständigkeitsbestimmender Zeitpunkt). Logemann, Hans Philip: Der kartellrechtliche Schadensersatz: die zivilrechtliche Haftung bei Verstößen gegen das deutsche und europäische Kartellrecht nach Ergehen der VO (EG) Nr.1/2003 und der 7. GWB-Novelle (zitiert: Logemann, Der kartellrechtliche Schadensersatz). Luginbühl, Stefan: Das europäische Patent mit einheitlicher Wirkung (Einheitspatent), GRUR Int. 2013, 305–310. Lund, Nils: Der Rückgriff auf das nationale Recht zur europäisch-autonomen Auslegung normativer Tatbestandsmerkmale in der EuGVVO (zu EuGH, 11.4.2013 – Rs. C-645/2011 – Land Berlin ./. Ellen Mirjam Sapir u.a.), IPRax 2014, 140–145.

360

Literaturverzeichnis

ders.: Verschwommene Konturen: Das Luxemburger Porträt der Konnexität des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO, Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 1.12.2011 (Painer), RIW 2012, 377–380. Lüthi, Bendicht Claudius: System der internationalen Zuständigkeit im Immaterialgüterrecht, Zürich 2011 (zitiert: Lüthi, System). Magnus, Ulrich/Mankowski, Peter: Brussels I Regulation, 2. Aufl., München 2012 (zitiert: Magnus/Mankowski/Bearbeiter). Maier, Helena Isabel: Markortanknüpfung im internationalen Kartelldeliktsrecht, Frankfurt am Main 2011 (zitiert: Maier, Marktortanknüpfung). Makoski, Bernadette: Einheitlicher Patentschutz und einheitliche Patentgerichtsbarkeit – quo vadis?, CIP Report 2012, 1–10. Mankowski, Peter: Das neue Internationale Kartellrecht des Art. 6 Abs. 3 der Rom IIVerordnung, RIW 2008, 177–193. ders.: Der europäische Gerichtsstand der Streitgenossenschaft aus Art 6 Nr. 1 EuGVVO bei Schadensersatzklagen bei Kartelldelikten, WuW 2012, 947–952. ders.: Die Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen auf dem Prüfstand der internationalen Zuständigkeit, zu LG Tübingen, 30. 3. 2005 – 5 O 45/03, unten S. 477, Nr. 30, IPRax 2006, 454–460. ders.: Die österreichischen Gerichtsstände der Streitgenossenschaft, des Vermögens und der inländischen Vertretung mit Blick auf das Luganer-Übereinkommen (zu OGH, 13.3.1996 – 3 Ob 514, 515/94, oben S 111 Nr. 11), IPRax 1998, 122–127. ders.: Kurzkommentar, EuGH, Urt. v. 22.5.2008 – Rs C-462/06 (Cour de Cassation [Frankreich]), EWiR 2008, 435-436. ders.: Mehrere Lieferorte beim Erfüllungsortgerichtsstand unter Art. 5 Nr. 1 lit. b EuGVVO, IPRax 2007, 404–414. Mansel, Heiz-Peter/Thorn, Karsten/Wagner, Rolf: Europäisches Kollisionsrecht 2008: Fundamente der Europäischen IPR-Kodifikation, IPRax 2009, 1–23. Mäsch, Gerald: Vitamine für Kartellopfer – Forum shopping im europäischen Kartelldeliktsrecht, IPRax 2005, 509–515. ders.: Private Ansprüche bei Verstößen gegen das europäische Kartellverbot – „Courage“ und die Folgen, EuR 2003, 825–846. Meeßen, Gero: Der Anspruch auf Schadensersatz bei Verstößen gegen das EGKartellrecht, Tübingen 2011 (zitiert: Meeßen, Schadensersatz). Meier, Sonja: Gesamtschuld, in: Basedow, Jürgen (Hg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Bd. 1, Tübingen 2009. dies.: Gesamtschulden: Entstehung und Regress in historischer und vergleichender Perspektive, Tübingen 2010 (zitiert: S. Meier, Gesamtschulden). Mercer, Hugh: Applicable Law in Cross-Border EU Competition Law Actions – Forum Shopping, Mandatory Rules and Public Policy, in: Danov, Mihail/Becker, Florian/Beaumont, Paul (Hg.), Cross-Border EU Competition Law Actions, Oxford 2013, 329–336. Mes, Peter: Patentgesetz, Gebrauchsmustergesetz: PatG, GebrMG, 3. Aufl., München 2011 (zitiert: Mes, PatG). Mezger, Ernst: Die Ausschließlichkeit des gewählten Gerichtsstandes (Art 17 EuGVÜ) aus französischer Sicht, IPRax 1984, 331–334. Mousseron, Jean-Marc/Raynard, Jacques/Véron Pierre, Cross-Border Injunctions – A French Perspective, IIC 1998, 884–906.

Literaturverzeichnis

361

Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, Bd. 1, §§ 1–75, Goette, Wulf/Habersack, Mathias/Kalss, Susanne (Hg.), 3. Aufl., München 2009 (zitiert: MünchKomm AktG/Bearbeiter). Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 2, Schuldrecht, Allgemeiner Teil, § 241–432, Säcker, Jürgen/Rixecker, Roland (Hg.), 6. Aufl., München 2012 (zitiert: MünchKommBGB/Bearbeiter). Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 5, Schuldrecht, Besonderer Teil III, § 705–853, Partnerschaftsgesellschaftsgesetz, Produkthaftungsgesetz, Säcker, Jürgen/Rixecker, Roland (Hg.), 6. Aufl., München 2013 (zitiert: MünchKommBGB/Bearbeiter). Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 10, Internationales Privatrecht, Rom I-Verordnung, Rom II-Verordnung, Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (Art. 1–24 EGBGB), Säcker, Jürgen/Rixecker, Roland (Hg.), 5. Aufl., München 2010 (zitiert: MünchKommBGB /Bearbeiter). Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 11, Internationales Wirtschaftsrecht, Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche, Rebmann Kurt/Säcker, Jürgen/Rixecker, Roland (Hg.), 4. Aufl., München 2006 (zitiert: MünchKommBGB4/Bearbeiter). Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung mit Gerichtsverfassungsgesetz und Nebengesetzen, Bd. 1, §§ 1–510c, Rauscher, Thomas/Wax, Peter/Wenzel, Joachim (Hg.), 3. Aufl., München 2008 (zitiert: MünchKommZPO/Bearbeiter). Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung mit Gerichtsverfassungsgesetz und Nebengesetzen, Bd. 3, §§ 946–1086, EGZPO, GVG, EGGVG, UklaG, Internationales Zivilprozessrecht, Rauscher, Thomas/Wax, Peter/Wenzel, Joachim (Hg.), 4. Aufl., München 2013 (zitiert: MünchKommZPO/Bearbeiter). Musielak, Hans-Joachim: Kommentar zur Zivilprozessordnung: mit Gerichtsverfassungsgesetz, 10. Aufl., Vahlen 2013 (zitiert: Musielak/Bearbeiter). Neuhaus, Paul Heinrich: Das EuGVÜ und das LugÜ soweit hiervon Streitigkeiten des gewerblichen Rechtsschutzes betroffen werden, Mitt. 1996, 296–301. ders.: Internationales Zivilprozessrecht und Internationalen Privatrecht, Eine Skizze, RabelsZ 20 (1955), 201–269. Neuner, Jörg: Die Rechtsfortbildung, in: Riesenhuber, Karl (Hg.), Europäische Methodenlehre: Handbuch für Ausbildung und Praxis, 2. Aufl., Berlin 2010, 373– 392. Nieder, Michael: Die Patentverletzung: materielles Recht und Verfahren, München 2004 (zitiert: Nieder, Patentverletzung). Normand, Jacques: Du 18 mars 1968. – Cour d’appel de Paris (4e Ch.), Rev. crit. dr. int. priv. 58 (1969), 514 – 524. Norrgård, Marcus: A Spider Without a Web? Multiple Defendants in IP Litigation, in: Leible, Stefan/Ohly, Ansgar (Hg.), Intellectual Property and Private International Law, 211–229. ders.: Provisional Measures and Multiple Defendants in the MPI Proposal, in: Drexl, Josef/Kur, Annette (Hg.), Intellectual Property and private international law, Oxford 2005, 35–54.

362

Literaturverzeichnis

Nuyts, Arnaud: Study on Residual Jurisdiction, Review of the Member States’ Rules concerning the “Residual Jurisdiction” of their courts in Civil and Commercial Matters pursuant to the Brussels I and II Regulations, Brüssel 2007, abrufbar unter: (zitiert: Nuyts, Residual Jurisdiction). O’Malley, Stephen/Layton, Alexander: European Civil Practice, London 1989. Odudu, Okeoghene/Edelman, James: Compensatory Damages for Breach of Article 81, E.L.Rev. 27 (2002), 327–339. Oetiker, Christian/Weibel, Thomas (Hg.): Lugano-Übereinkommen, Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, Zürich 2011 (zitiert: Oetiker/ Weibel/Bearbeiter). Ost, Konrad: Doppelrelevante Tatsachen im Internationalen Zivilverfahrensrecht, Zur Prüfung der internationalen Zuständigkeit bei den Gerichtsständen des Erfüllungsortes und der unerlaubten Handlung, Frankfurt am Main 2002 (zitiert: Ost, Doppelrelevante Tatsachen). Otte, Karsten: Umfassende Streitentscheidung durch Beachtung von Sachzusammenhängen – Gerechtigkeit durch Verfahrensabstimmung?, Tübingen 1998 (zitiert: Otte, Umfassende Streitentscheidung). Pataut, Étienne: Du 13 juillet 2006. – Cour de Justice des Communautés européennes (aff. C-103/05), Rev. crit. dr. int. priv. 96 (2007), 181–186. ders.: Du 19 juin 2007. – Cour de cassation (1re ch. Civ.)., Rev. crit. dr. int. priv. 96 (2007), 848–856. Peifer, Karl-Nikolaus: Gerichtliche Zuständigkeit für Streitigkeiten zwischen Produzent und Enderwerber, JZ 1995, 91–93. Petrucci, Carlo: The Issues of the Passing-on Defence and Indirect Purchasers Standing in European Competition Law, ECLRev. 2008, 33–42. Pfeiffer, Thomas: German jurisdiction clauses in anti-cartel cases before English courts – and some remarks relating to the interpretation of foreign laws, in: Hestermeyer, Holger P. u.a. (Hg.), Coexistence, cooperation and solidarity, liber amicorum Rüdiger Wolfrum, Bd. 2, Leiden 2012, 2057–2069. ders.: Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit: die internationale Zuständigkeit im Zivilprozess zwischen effektivem Rechtsschutz und nationaler Zuständigkeitspolitik, Darmstadt, 1995 (zitiert: Pfeiffer, Prozessuale Gerechtigkeit). Pietrini, Silvia: L’action collective en droit des pratiques anticoncurrentielles, Perspectives nationale, européenne et international, Bruxelles 2012 (zitiert: Pietrini, L’action collective). Pitz, Johann: Patentverletzungsverfahren: Grundlagen – Praxis – Strategie, 2. Aufl., München 2010. Planck, Julius Wilhelm: Die Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten im Prozeßrecht, Neudruck der Ausgabe Göttingen 1844, Aalen 1973 (zitiert: Planck, Mehrheit der Rechtsstreitigkeiten). Pohl, Miriam: Die Neufassung der EuGVVO – im Spannungsfeld zwischen Vertrauen und Kontrolle, IPRax 2013, 109–114. Pohlmann, Petra: Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht, Berlin 1999.

Literaturverzeichnis

363

Pontier, Janett A/Burg, Edwige: EU Principles on Jurisdiction and Recognition and Enforcement of Judgments in Civil and Commercial Matters: According to the Case Law of the European Court of Justice, Den Haag 2004 (zitiert: Pontier/Burg, EU Principles). Rauscher, Thomas (Hg.): Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Kommentar, Bd. 1: EuGVVO, LugÜbk 2007, 3. Aufl., München 2010 (zitiert: Rauscher/ Bearbeiter). Rödl, Florian: Ausschluss des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft im internationalen Arbeitsvertragsprozess, Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 22.5. 2008 Rechtssache Glaxosmithkline, EuZA 2009, 385–394. Rodriguez, Rodrigo: Beklagtenwohnsitz und Erfüllungsort im europäischen IZPR: aus schweizerischer Sicht unter Berücksichtigung der EuGVVO, Zürich 2005 (zitiert: Rodriguez: Beklagtenwohnsitz und Erfüllungsort) Rößler, Mathias: The Court of Jurisdiction for Joint Parties in International Patent Disputes, IIC 2007, 380–400. von Rospatt, Peter: Grenzüberschreitender Rechtsschutz für europäische Patente – II. Teil: Entscheidungen deutscher Gerichte in Patentverletzungsprozessen mit grenzüberschreitender Wirkung, GRUR Int. 1997, 861–863. Roth, Herbert: Das Konnexitätserfordernis im Mehrparteiengerichtsstand des Art. 6 Nr. 1 EuGVO, in: Baetge, Dietmar/von Hein, Jan/von Hinden, Michael (Hg.), Festschrift für Jan Kropholler zum 70. Geburtstag, Tübingen 2008, 885–903. Ryngaert, Cedric: Foreign-to-Foreign Claims: Supreme Court’s Decision (2004) v the English High Court’s Decision (2003) in the Vitamins Case. Schacht, Hubertus: Neues zum internationalen Gerichtsstand der Streitgenossen bei Patentverletzungen, Besprechung zu EuGH, Urt. v. 12. 7. 2012 − C-616/10 − Solvay, GRUR 2012, 1110–1114. Schack, Haimo: Urheber- und Urhebervertragsrecht, 6. Aufl., Tübingen 2013. ders.: Internationales Zivilverfahrensrecht, 5. Aufl., München 2010 (zitiert: Schack, IZVR). ders.: Das auf formlose Immaterialgüterrechte anwendbare Recht nach Rom II, in: Baetge, Dietmar/von Hein, Jan/von Hinden, Michael (Hg.), Festschrift für Jan Kropholler zum 70. Geburtstag, Tübingen 2008, 885–903. Schaper, Eike: Durchsetzung der Gemeinschaftsmarke: internationale Zuständigkeit, anwendbares Recht und Rechtsfolgen bei Verletzung, Köln 2006 (zitiert: Schaper, Gemeinschaftsmarke). Schauwecker, Marko: Extraterritoriale Patentverletzungsjurisdiktion, Köln 2009. Scheidtmann, André: Schadensersatzansprüche gegen eine Muttergesellschaft wegen Verstößen einer Tochtergesellschaft gegen Europäischen Kartellrecht?, WRP 2010, 499–505. Schlosser, Peter: EU-Zivilprozessrecht, EuGVVO, AVAG, VTVO, MahnVO, BagatellVO, HZÜ, EuZVO, HBÜ, EuBVO, Kommentar, 3. Aufl., München 2009 (zitiert: Schlosser, EuZPR). ders.: Anmerkung zu EuGH Urteil v. 13.07.2006 – Rs. C-539/03 Roche Nederland BV u.a../. Primus u. Goldenberg, JZ 2007, 305–307. ders.: EuGÜbk: Zuständigkeit bei mehreren Beklagten an verschiedenen Wohnsitzen – Begriff der unerlaubten Handlung; RIW 1989, 987–989.

364

Literaturverzeichnis

Schmehl, Christine: Parallelverfahren und Justizgewährung: zur Verfahrenskoordination nach europäischem und deutschem Zivilprozessrecht am Beispiel taktischer „Torpedoklagen“, Tübingen 2011 (zitiert: Schmehl, Parallelverfahren und Justizgewährung). Schnichels, Dominik/Stege, Ulrich: Die Rechtsprechung des EuGH zur EuGVVO und zum EuGVÜ – Übersicht über die Jahre 2008 und 2009, Teil B – Zuständigkeitsvorschriften der EuGVVO, EuZW 2010, 846–851. Schnyder, Anton (Hg.): Lugano-Übereinkommen (LugÜ) zum internationalen Zivilverfahrensrecht, Zürich 2011 (zitiert: Schnyder/Bearbeiter). Schröder, Jochen: Internationale Zuständigkeit, Entwurf eines Systems von Zuständigkeitsinteressen im zwischenstaatlichen Privatverfahrensrecht aufgrund rechtshistorischer, rechtsvergleichender und rechtspolitischer Betrachtung, Opladen 1971 (zitiert: Schröder, Internationale Zuständigkeit). Schubert, Werner: Protocolle der Commission zur Berathung einer allgemeinen Civilprozeßordnung für die deutschen Bundesstaaten, Bd. 2, Hannover 1983, Nachdruck: Frankfurt am Main 1985 (zitiert: Schubert, Protocolle der Commission [1863]). Schüler, Wolfgang: Wissenszurechnung im Konzern, Berlin 2000. Schurig, Klaus: Der Konnexitätsgerichtsstand nach Art. 6 Nr. 1 EuGVO, in: Heinrich, Christian (Hg.), Festschrift für Hans Joachim Musielak zum 70. Geburtstag, München 2004, 493–522. Schwander, Ivo (Hg.): Das Lugano-Übereinkommen: europäisches Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, geschlossen in Lugano am 16. September 1988, St. Gallen 1999 (zitiert: Schwander, Das Lugano-Übereinkommen). Scott, Andrew: Réunion revised?, Freeport v. Arnoldsson, LMCLQ 2008, 113–118. Scott, Peter/Simpson, Mark: England & Wales, in: Gotts, Ilene K. (Hg.), The Private Competition Enforcement Review 2011 (fifth edition), London 2012, 87–125. Singer, Margarete/Stauder, Dieter (Hg.): European Patent Convention: A Commentary, Volume 1: Substantive Patent Law – Preamble, Articles 1 to 89, 3. Aufl., Köln 2003. Smith, Vincent/Maton, Anthony/Campbell, Scott: England and Wales, in: Foer, Albert A./Cuneo, Jonathan W. (Hg.), The International Handbook on Private Enforcement of Competition Law, Cheltenham 2012, 296–315. Spellenberg, Ulrich: Die Vereinbarung des Erfüllungsortes und Art. 5 Nr. 1 des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens (zu EuGH, 17.1.1980 – RS 56/79), IPRax 1981, 75–79. Stauder, Dieter: Die Anwendung des EWG-Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens auf Klagen im gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht, GRUR Int. 1976, 465–504. von Staudinger, Julius (Begr.): Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Zweites Buch, Recht der Schuldverhältnisse, §§ 830–838 (Unerlaubte Handlungen 3), Neubearbeitung 2012 (zitiert: Staudinger/ Bearbeiter). ders.: (Begr.): Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, EGBGB, Vierter Teil, Verfahrensrecht für Internationale Verträge, Neubearbeitung 2011 (zitiert: Staudinger/Bearbeiter, IntVertrVerfR).

Literaturverzeichnis

365

Stein, Friedrich/Jonas, Martin (Begr.): Kommentar zur Zivilprozessordnung, Bd. 10: EuGVVO, GVG, 22. Aufl., Tübingen 2012 (zitiert: Stein/Jonas/Bearbeiter). Steinle, Christian: Kartellgeldbußen gegen Konzernunternehmen nach dem „Aristrain“Urteil des EuGH, EWS 2004, 118–124. Stoll, Hans: Rechtskollisionen bei Schuldnermehrheit, in: Dieckmann, Albrecht u.a. (Hg.), Festschrift für Wolfram Müller-Freienfels, Baden-Baden 1986, 631–660. Stone, Peter: EU Private International Law, 2. Aufl., Cheltenham 2010. Sujecki, Bartosz: Die Solvay-Entscheidung des EuGH und ihre Auswirkungen auf Verfahren über Immaterialgüterrechte, GRUR Int. 2013, 201–214. ders.: Erlass einer grenzüberschreitenden Unterlassungsanordnung, GRUR-Prax 2012, 498. ders.: Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 11.10.2007 – C-98/06 (Arnoldsson/Freeport), NJW 2007, 3706. ders.: Anwendbarkeit der EuGVVO auf Arbeitsverträge, EuZW 2008, 371–372. Tang, Zheng Sophia: Multiple defendants in the European jurisdiction regulation, E.L.Rev. 34 (2009), 80–102. Teschemacher, Rudolf: Das Einheitspatent – zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Anwalt, Mitt. 2013, 153–161. Tetzner, Volkmar: Die Verfolgung der Verletzung ausländischer Patente vor deutschen Gerichten unter Berücksichtigung des EWG-Gerichtsstands- und Vollstreckungs-Abkommens, GRUR 1976, 669–672. Thiran, Francois: Propriété intellectuelle et conflits de juridiction, J. T. 2006, 724– 725. Thole, Christoph: Missbrauchskontrolle im Europäischen Zivilverfahrensrecht, Zur Problematik der sog. Zuständigkeitserschleichung, ZZP 122 (2009), 423–447. Thomas, Stefan: Guilty of a Fault that one has not Committed. The Limits of the Group-Based Sanction Policy Carried out by the Commission and the European Courts in EU-Antitrust Law, Journal of European Competition Law & Practice 3 (2012), 11–28. ders.: Die Gesamtschuld im EU-Kartellbußgeldrecht – die Kommission als „juristischer Pascha“?, in: Bechtold, Stefan/Jickeli, Joachim/Rohe, Mathias (Hg.), Festschrift zum 70. Geburtstag von Wernhard Möschel, Baden-Baden 2011, 675– 690. ders.: Unternehmensverantwortlichkeit und -umstrukturierung nach EG-Kartellrecht, München 2005 (zitiert: Thomas, Unternehmensverantwortlichkeit). Treppoz, Edouard: Compétence internationale en matière de contrefaçon de brevet européen, Rev. crit. dr. int. priv. 102 (2013), 479–487. Tzakas, Dimitrios-Panagiotis: Die Haftung für Kartellrechtsverstöße im internationalen Rechtsverkehr: eine Untersuchung zur zuständigkeits- und kollisionsrechtlichen Behandlung von Kartelldelikten im Lichte der Rom-II-Verordnung und unter Berücksichtigung der US-amerikanischen Praxis, Baden-Baden 2011 (zitiert: Tzakas, Haftung für Kartellrechtsverstöße). Usunier, Laurence: La régulation de la compétence juridictionnelle en droit international privé, Paris 2008 (zitiert: Usunier, Compétence juridictionelle). Van den Bergh, Roger: Private Enforcement of European Competition Law and the Persisting Collective Action Problem, MJ 20 (2013), 12–34.

366

Literaturverzeichnis

Véron, Pierre: „L’araignée au centre de la toile“ – Compétence territoriale internationale pour statuer sur une demande d’interdiction provisoire de contrefaçon de brevet, RDPI 95 (Januar 1999), 37–43. Vischer, Frank: Der Einbezug deliktischer Ansprüche in die Gerichtsstandsvereinbarung für den Vertrag, in: Mansel, Heinz-Peter u.a. (Hg.), Festschrift für Erik Jayme, Bd. 1, München 2004, 993–1001. Vogenauer, Stefan: Zur Begründung des Mehrparteiengerichtsstands aus Art. 6 Nr. 1 LugÜ in England und Schottland (zu Canada Trust Co. v. Stolzenberg (2000) 3 W.L.R. 1376, (2000) 4 All E.R. 481 (H.L.)), IPRax 2001, 253–257. Volken, Paul: Rechtsprechung zum Lugano-Übereinkommen 2000–2003, SZIER 2004 337–390. Vossler, Norbert: Die Bedeutung des Mehrparteiengerichtsstands nach Art. 6 Nr. 1 EuGVVO bei der Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO, IPRax 2007, 281–284. Vrcek, Bojana: Overview of Europe, in: Foer, Albert A./Cuneo, Jonathan W. (Hg.), The International Handbook on Private Enforcement of Competition Law, Cheltenham 2012, 277–295. Wagner, Gerhard: Die neue Rom II-Verordnung, IPRax 2008, 1–17. Wagner, Rolf: Die politischen Leitlinien zur justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen im Stockholmer Programm, IPRax 2010, 97–100. Warner, Steven/Middlemiss, Susie: Patent Litigation in Multiple Jurisdictions: An End to Crossborder Relief in Europe, EIPR 2006, 580–585. Weber, Helmut: Die Theorie der Qualifikation, Tübingen 1986. Weitbrecht, Andreas: Schadensersatzansprüche der Unternehmer und Verbraucher wegen Kartellverstößen, NJW 2012, 881–887. Weller, Matthias: Kartellprivatrechtliche Klagen im Europäischen Prozessrecht: „Private Enforcement“ und die Brüssel I-VO, ZVglRWiss 112 (2013), 89–101. ders.: Ordre-public-Kontrolle internationaler Gerichtsstandsvereinbarungen im autonomen Zuständigkeitsrecht, Tübingen 2005. Wendehorst, Christiane: Tatbestand – Reichweite – Qualifikation, in: Coester, Michael/Martiny, Dieter/Prinz von Sachsen Gessaphe, Karl August (Hg.), Privatrecht in Europa – Vielfalt, Kollision, Kooperation, Festschrift für Hans Jürgen Sonnenberger zum 70. Geburtstag, München 2004, 743–758. Wiedemann, Gerhard: Handbuch des Kartellrechts, 2. Aufl., München 2008 (zitiert: Wiedemann/Bearbeiter, Handbuch des Kartellrechts). Wilderspin, Michael: Jurisdiction Issues: Brussels I Regulation Art. 6(1), 23, 27 and 25 in Antitrust Litigation, in: Basedow, Jürgen/Francq, Stéphanie/Idot, Laurence Idot (Hg.),, International Antitrust Litigation, Oxford 2012, 41–59. ders.: La compétence juridictionnelle en matière de litiges concernant la violation des droits de propriété intellectuelle. Les arrêts de la Cour de justice dans les affaires C-4/03, GAT c. LUK et C-539/03, Roche Nederland c. Primus et Goldberg, Rev. crit. dr. int. priv. 95 (2006), 777–809. Wils, Wouter P J: Principles of European Antitrust Enforcement, Oxford 2005. Winkler, Martin: Die internationale Zuständigkeit für Patentverletzungsstreitigkeiten, Frankfurt am Main 2011 (zitiert: Winkler, Patentverletzungsstreitigkeiten).

Literaturverzeichnis

367

Winter, Wolfgang: Das Ineinandergreifen von EuGVVO und nationalem Zivilverfahrensrecht am Beispiel des Gerichtsstands des Sachzusammenhangs, Art. 6 EuGVVO, Berlin 2007 (zitiert: Winter, Der Gerichtsstand des Sachzusammenhangs). Withers, Christopher: Jurisdiction and Applicable Law in Antitrust Tort Claims, J.B.L. 2002, 250–271. Wittwer, Alexander: Das EuGVO-Debüt des EuGH – Strittiges zur Streitgenossenschaft von insolventem Hauptschuldner und seinem Bürgen (Reisch Montage AG/Kiesel Baumaschinen Handels GmbH, EuGH, Urteil vom 13.Juli 2006, C103/05), ELR 2006, 424–425. Wolff, Martin: Private International Law, Reprint of the second edition Oxford 1950, Aalen 1977 (zitiert: Wolff, Private International Law). Woodgate, Tony/Filippi, Ilaria: The Decision That Binds: Follow-on Actions for Competition damages after Enron, ECLR 33 (2012), 175–178. Würdinger, Markus: Anmerkung zu Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Zweite Kammer, Urteil vom 13.07.2006 in der Rechtssache Reisch Montage AG gegen Kiesel Baumaschinen Handels GmbH, Rs. C-103/05, ZZPInt. 11 (2006), 180–190. ders.: Anmerkung zu Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Dritte Kammer, Urteil vom 11.10.2007 in der Rechtssache Freeport plc gegen Olle Arnoldson, Rs. C-98/06, ZZPInt. 12 (2007), 221–228. ders.: Einheitlicher Gerichtsstand nach Art. 6 Nr. 1 EuGVVO für Klagen gegen mehrere Beklagte, die auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhen, Kommentar zu EuGH, Urt.v.24.5.2007 – C-98/06, RIW 2008, 71–72. Wurmnest, Wolfgang: Gerichtsstandsvereinbarungen im grenzüberschreitenden Kartellprozess, in: Nietsch, Michael/Weller, Mathias (Hg.), Private Enforcement – Brennpunkte kartellrechtlicher Schadensersatzklagen, Baden-Baden 2014, 64–91. ders.: Die Einbeziehung kartellrechtlicher Ansprüche in Gerichtsstandsvereinbarungen, in: Mankowski, Peter/Wurmnest, Wolfgang (Hg.), Festschrift für Ulrich Magnus zum 70. Geburtstag, München 2014, 567–582. ders.: Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten, EuZW 2012, 933–939. ders.: Schadensersatz wegen der Verletzung des EU-Kartellrechts. Grundfragen und Entwicklungslinien, in: Remien, Oliver (Hg.), Schadensersatz im europäischen Privat und Wirtschaftsrecht, Tübingen 2012, 27–53. ders.: Anmerkung zu Corte di Cassazione, Vereinigte Zivilsenate, Beschluss vom 19.12.2003, „Verpackungsmaschine II“ – Gerichtsstand der unerlaubten Handlung gemäß Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ bei negativen Feststellungsklagen in Patentstreitigkeiten, GRUR Int. 2005, 265–268. ders.: Zivilrechtliche Ausgleichsansprüche von Kartellbeteiligten bei Verstößen gegen das EG-Kartellverbot, RIW 2003, 896–900. Zigann, Mathias: Entscheidungen inländischer Gerichte über ausländische gewerbliche Schutzrechte und Urheberrechte, München 2002 (zitiert: Zigann, Entscheidungen).

368

Literaturverzeichnis

Zimmer, Daniel J.: Konkretisierung des Auswirkungsprinzips bei Hard-core-Kartellrechtsverstößen, Das Internationale Kartellprivatrecht nach „Rom II“ und „Empagran“, Hamburg 2013 (zitiert: Zimmer, Konkretisierung des Auswirkungsprinzips). Zuleeg, Manfred: Die Vorzüge der europäischen Verfassung, in: von Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht: theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl., Dordrecht 2009.

Sachregister actor sequitur forum rei 30 f. Ankerklage – Begriff 37 – Erfolgsaussichten (Zulässigkeit) 97 ff. – Erfolgsaussichten (Begründetheit) 102 ff., 305 ff. – Prüfungsstandort 94 ff. – Rechtshängigkeit 127 ff. – Rücknahme bei Vergleich 129 ff. Ankerbeklagter – key defendant 132 ff. – Muttergesellschaft, Kartell 281, 282 – Tochtergesellschaft, Kartell 302, 304 Annexklage, Begriff 37 Annexbeklagter – Muttergesellschaft, Kartell 281, 282 – Tochtergesellschaft, Kartell 303, 305 Anspruchsgrundlagen, siehe Rechtsgrundlagen Arbeitsvertragsstreitigkeiten, siehe Sonderkompetenzregime Aufzugskartell-Entscheidung 272 ff. Ausführungsform 209 ff. Auslegung – europäisch-autonome 14 ff., 64 f., 86 f., 100, 320 – historische 17 f. – prinzipienorientierte 17 f., 27 ff. – rechtsvergleichende 15 ff., 105 ff., 118 ff. – restriktive 27 ff.

– Rückgriff auf nationales Recht 88 f., 253 ff. – systematische 18 ff. – teleologische 23 ff. Bleichmittel-Entscheidung, 159 ff., 250 ff. Bündelpatent, siehe Patent Bürgschaft, siehe Konnexität Bußgeldentscheidung, Bindungswirkung – Auswirkungen auf Widerspruchsgefahr 243 ff. – Kartellverstoß 261 f. – Verschulden 262 ff. Cooper Tire-Entscheidung 109 f., 290 ff., 298, 308 ff. Einheitspatent, siehe Patent Einwendungen der Beklagten, 48 ff. forum shopping 6, 139 f. follow on-Verfahren – Begriff 239 – i.e.S. 241 ff. – i.w.S. 268 ff. Freeport-Entscheidung 54 ff., 60, 95, 103, 124, 126, 135 f. Gerichtsstandsvereinbarungen – AGB 328 f. – anwendbares Recht 170 ff., 320 f. – im Kartelldeliktsrecht 318 ff. – mit Ankerbeklagten 173 ff. – mit Annexbeklagten 166 ff.

370

Sachregister

– sachliche Reichweite 320 ff. – zugunsten drittstaatlicher Gerichte 168 ff. – Zulässigkeit im Kartelldeliktsrecht 319 ff. Gefahr widersprechender Entscheidungen, siehe Widerspruchsgefahr Gesamtschuld, siehe Konnexität Glaxosmithkline-Entscheidung 26, 41, 156 ff. Hardcore-Kartellverstoß 10 Haftungsrecht, Rückgriff auf das, siehe Auslegung Kalfelis-Entscheidung 17 f., 20, 111, 139 Kartellverstoß, eigenständiger – Muttergesellschaft 270 f. – Tochtergesellschaft 286 f. Kartellverstoß, zugerechneter – Muttergesellschaft 271 ff. – Tochtergesellschaft 287 ff. key defendant, siehe Ankerbeklagter Konnexität – Auffassung des EuGH 60 f. – Beurteilungsgrundlage 46 ff. – Bürgschaft 90 f., 97 – gemeinsame Haftung 82 f., 241, 281 – Gesamtschuld 83 ff., 89 f., 111, 118, 156, 179, 217 f., 247 ff. – kartelldeliktischer Klagen 241 ff. – Patentverletzungsklagen 183 ff. – Rechtsgemeinschaft 90 f. – Teilschuld 90 f. Melzer-Entscheidung 42, 86 ff. Missbrauchsvorbehalt, subjektiver 134 ff. Painer-Entscheidung 57 ff., 65 Passivlegitimation, kartelldeliktischer Ansprüche 268 ff. Patent – Einheitspatent 201 ff.

– europäisches Bündelpatent 185 ff. – nationales 200 f. Patentgerichtsbarkeit, europäische 204 ff. Patentverletzung – konzentrierte 186 ff. – parallele 191 ff. perpetuatio fori 49, 103 f., 127 ff. Provimi-Entscheidung 109 f., 288 ff., 299 real claim-Erfordernis, siehe real issue Erfordernis real issue-Erfordernis – Nachweis des Kartellverstoßes 307 ff. – Rechtsausführungen 107 ff. – Tatsachenvortrag 120 f. Rechtsgemeinschaft, siehe Konnexität Rechtsgrundlagen – materiell-rechtliche Qualität 51 ff. – nationale Herkunft 56 ff. Rechtslage, einheitliche – Auffassung EuGH 51 ff. – Kartellrecht 209, 244 ff., 252 f. – nicht harmonisierte Rechtsgebiete 69 f. – Patentrecht 184 ff. – teilharmonisierte Rechtsgebiete 65 ff. – vollharmonisierte Rechtsgebiet 65 – unwesentlich harmonisierte 69 Reisch Montage-Entscheidung 97 ff., 140, 174 f., Réunion européenne-Entscheidung 52 ff. Roche Nederland-Entscheidung 56 f., 59, 65, 193 ff., 208, 219 Sachlage, einheitliche – Grundannahme 63 f. – Auffassung des EuGH 59 f. – eigene Auffassung 71 ff., 209, 245 f., 251 f. Schiedsvereinbarungen – anwendbares Recht 337 f. – im Kartelldeliktsrecht 337 f.

Sachregister – sachliche Reichweite 338 Solvay-Entscheidung 187 ff. Sonderkompetenzregime – Arbeitsvertragsstreitigkeiten 155 ff. – Verbrauchersachen 162 – Versicherungssachen 161 f. spider in the web-Doktrin 133, 220 ff. streitgenössischer Kontakt – Definition 79 ff. – Notwendigkeit 76 ff. – zwischen Kartellmitgliedern 255, 266, 282 ff., 304 ff. – zwischen Patentverletzern, siehe Verletzerbeziehung Tatsachen, doppelrelevante 104 f., 115 ff. Teilschuld, siehe Konnexität Territorialitätsprinzip 196 ff. Toshiba-Entscheidung 292 ff., 299 Verbrauchersachen, siehe Sonderkompetenzregime Versicherungssachen, siehe Sonderkompetenzregime Verletzerbeziehung – gemeinschaftliches Vorgehen 216 ff. – Konzernsachverhalte 219 ff. – Notwendigkeit 216 ff. – Verletzerkette, echte 227 ff., unechte 230 f.

371

– Vertragsbeziehungen 226 Verletzungsgegenstand 184 ff. Verletzungshandlung 209 ff. Vorhersehbarkeit – Gebot der 38 ff. – des Gerichtsstands der Streitgenossenschaft 42 f., 75 f. – Kartelldeliktsrecht, siehe streitgenössischer Kontakt – Patentrecht, siehe Verletzerbeziehung Widerspruchsgefahr – abstrakte 67 ff. – Beurteilungsgrundlage 46 ff. – konkrete 65 wirtschaftliche Einheit – Konzept 257 f., 273 f. – Reichweite der Haftung 279 ff., 299 ff. – Übertragung in das Zivilrecht 275 ff. Wohnsitz – internationale Gleichheit 144 ff. – partielle internationale Gleichheit 147 ff. – Drittstaatensachverhalte 149 ff. Zurechnung, Kartellverstoß – „von oben nach unten“ 287 ff. – „von unten nach oben“ 271 ff. Zuständigkeitserschleichung 103 ff., 306 f.