Erkenntnis durch Kunst: Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation 9783412211561, 9783412209834


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Erkenntnis durch Kunst: Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation
 9783412211561, 9783412209834

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Erkenntnis durch Kunst Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation von Ursula Brandstätter

2013 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung der

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über   http://dnb.d-nb.de  abrufbar. Umschlagabbildung: Anne Bertier: F – Feuille. Aus: Anne Bertier: Dessine-moi une lettre. Editions MeMo. O. O. 2004.

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Greiner & Reichel Fotosatz, Köln Druck und Bindung: General Druckerei GmbH, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-412-20983-4

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Denken und Erkennen 1.

Denken ohne Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursus Wehrli: De Saint Phalles Volleyball aufräumen . . . . . . . . . . . Medialität des Wahrnehmens und Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . Logiken des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeigen und Sagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visuelle Logik – musikalische Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



15 15 19 21 24 27

2.

Denken in Ähnlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norah Lange: Kindheitshefte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mimetischer Weltzugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identisches versus Nicht-Identisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mimetisches Verstehen – Zeigen – analoges Denken . . . . . . . . . . Metaphorische Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32 32 33 36 38 40

3.

Denken in offenen Netzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Huber: Tenebrae für großes Orchester, Form- und Tempoplan . Intermedialitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freiräume des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44 44 45 49

II. Kunst und Erkenntnis 1.

Kunst und Erkenntnis in der Geschichte der Ästhetik  . . . . Baumgarten und die „sinnliche Erkenntnis“ . . . . . . . . . . . . . . . . Kant und die „ästhetische Urteilskraft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hegel und das „sinnliche Scheinen der Idee“ . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsche und die „Wahrheit als Illusion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adorno und die „mimetische Rationalität“ . . . . . . . . . . . . . . . . .



53 53 54 55 56 58

2. Kunst und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positionsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61 61 62

3. Erkenntnis von Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehen von Kunst als mimetischer Nachvollzug . . . . . . . . . . . Das Nicht-Verstehen von Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66 66 68

4.



70 70 74



76 77



78

5. Übergänge und Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erkenntnis durch Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Symptome“ der ästhetischen Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunst als Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mimesis, Analogie und Metapher als Zentrum ästhetischer Erkenntnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Erkenntnis beruht auf mimetischem Verstehen . Ästhetische Erkenntnis beruht auf dem Zeigen und ist metaphorisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Erkenntnis ist selbstbezüglich – und damit sinnlich und reflexiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

III. Ästhetische Transformation 1. Zum Begriffsfeld „ransformation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

2. Zur Vielfalt ästhetischer Transformationen . . . . . . . . . . . . .

89

3.

Beispiele ästhetischer Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . Transformation zwischen Zeigen und Sagen Anne Bertier: Dessine-moi une lettre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontexte als Transformatoren Oskar Nerlinger: Stadtbahn von Berlin – László Moholy-Nagy: Z.VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transformation durch Übertragung – Annäherung und Abgrenzung Ludwig van Beethoven: Bagatelle op. 119/Nr. 3 . . . . . . . . . . . . . . . Transformation als Irritation Sasha Waltz/Wolfgang Rihm: Jagden und Formen . . . . . . . . . . . . . .



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103 110



Transformation zwischen Wissenschaft und Kunst Heimo Zobernig: Künstlerische Gestaltung des Verbindungsgangs zwischen Unterem Belvedere und Orangerie in Wien . . . . . . . . . . . . 115

4. Theorie der ästhetischen Transformation . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Transformation beruht auf metaphorischer Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Transformation vollzieht sich im Spannungsfeld von Sich-ähnlich-Machen und Sich-verschieden-Machen . . . . . . Ästhetische Transformation bedeutet Kontextverschiebung . . . . . Ästhetische Transformation beruht auf Abstraktion . . . . . . . . . . . Ästhetische Transformation verändert die Wahrnehmung . . . . . . Ästhetische Transformation führt zu ästhetischer Erkenntnis . . . . Ästhetische Transformation schafft Räume der Nicht-Identität . .

120 120

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IV. Ä sthetische Transformation als didaktisches und künstlerisches Gestaltungsprinzip Stille Post! 11 Disziplinen, 22 Wochen, 33 Transformationen . . . . . 129 1. Ästhetische Transformation in pädagogischen Kontexten . 132 2. Didaktisch-methodische Orientierungen . . . . . . . . . . . . . . . Durchbrechen von Wahrnehmungs- und Handlungsautomatismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeiten mit der Projektion von medial geprägten Wahrnehmungskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeiten im Spannungsfeld zwischen Komplexität und Reduktion Arbeiten im Wechselspiel verschiedener Reflexionsformen . . . . . .

 ie Qualität von Transformationsprozessen: 3. D Zielsetzungen und Intentionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Transformationen fordern und fördern die Selbstreflexion und Medienreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetische Transformationen ermöglichen die Arbeit mit verschiedenen Denk- und Erkenntnisformen . . . . . . . . . . . . Ästhetische Transformationen eröffnen Räume eines dynamischen Dazwischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136 136 137 140 141

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V. „Drinnen vor Ort“ – Erkenntnis durch die Künste

Drinnen vor Ort. Vier Landschaften – vier Jahreszeiten – vier Wege . 147

1. Das Buch als Gesamtkunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2. Visuelle Bilder von Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Landkarten – Notationen und Bilder von Landschaft . . . . . . . . . 152 Bilder-Fotografien – imaginatives Sehen contra identifizierendes Sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3.

Musikalische Bilder von Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partituren zwischen Text und Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmungserkenntnisse zwischen „Da“ und Hier“ Cathy van Eck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetisches Erkennen als „Rauschen“ – Manos Tsangaris . . . . . . Landschaft(s-Erkenntnis) mit und ohne Wörter – Jürg Frey . . . . .

157 157 163 164 168

4. Literarische Bilder von Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vernetzte Erkenntnis Elfriede Jelinek: Wildes, grandioses Wasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Imaginative Erkenntnis Urs Richle: Die Geschichte des Tunnels von Rümlingen . . . . . . . . . . Vermittelte unmittelbare Erkenntnis Peter Weber: Duschkopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Musik erkennen – zwischen Wissenschaft und Kunst . . . . . 184 Ein wissenschaftlicher Essay – Urs Peter Schneider: Musikalische Konzepte im Kopf und in der Landschaft . . . . . . . . . . 184 Ein künstlerisch-wissenschaftliches Hybrid Thomas Meyer: Lexikon der Klangimagination . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6. Erkenntnis durch die Künste? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Vorwort Die Thematik „Kunst und Erkenntnis“ wird aktuell in unterschiedlichen Zusammenhängen intensiv diskutiert. Nicht nur die philosophische Disziplin der Ästhetik beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern Kunst Erkenntnisse ermöglichen kann – der Erkenntnischarakter von Kunst ist darüber hinaus auch Thema der Wissenschaftstheorie und kulturwissenschaftlicher Theorien zur Entwicklung des Wissens in der Gesellschaft. Besondere Beachtung erfährt zur Zeit die Zusammenarbeit von Künstlern und Wissenschaftlern, die neue, für die Gesellschaft relevante Formen des Wissens generieren soll. Unter dem Schlagwort von „Kunst und Wissenschaft“ werden Projekte gefördert, die die jeweiligen Besonderheiten der beiden Systeme wechselseitig nutzen. Kunst beansprucht damit im Rahmen der Gesellschaft einen eigenständigen Erkenntnisstatus. Blickt man auf die Geschichte der abendländischen Künste, so wird deutlich, dass diese Themen- und Fragestellung keineswegs neu ist: Der Erkenntnischarakter von Kunst wird seit der Antike immer wieder diskutiert. Mögliche Antworten auf die Frage nach der epistemischen Funktion von Kunst bewegen sich dabei im Spannungsfeld zwischen den Polen einer rigorosen Ablehnung ihres Erkenntnisstatus einerseits und der Analyse ihrer spezifischen epistemischen Möglichkeiten andererseits. Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der Thematik sowohl aus systematischer wie auch aus historischer Perspektive. Dass die Frage nach dem Erkenntnischarakter von Kunst bereits über eine lange Geschichte verfügt und in unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen eingebettet ist, zeigt sich im Vorhandensein einer äußerst umfangreichen und vielfältigen Literatur. Ein Anliegen des Buches besteht darin, den aktuellen Stand der Diskussion – sowohl aus erkenntnistheoretischer wie auch aus ästhetischer Perspektive – wiederzugeben. Die Leserinnen und Leser erhalten einen Einblick in die vorhandene Literatur und damit in die weit verzweigten Argumentationsstränge. Der Gang der Überlegungen nimmt bei erkenntnistheoretischen Fragen seinen Ausgang und führt über einen Blick in die Geschichte der Ästhetik zum Kern des Buches, die Idee der ästhetischen Transformation. Damit ist ein vielfältiger Phänomenbereich angesprochen, der von der bewussten Übertragung ästhetischer Ideen (etwa von einer künstlerischen Disziplin in eine andere) über multimediale Kunstformen (in denen ein transformierender Austausch zwischen den Medien stattfindet) bis zu aktuellen Ansätzen reicht, zwischen Kunst und Wissenschaft zu vermitteln. Anhand von Beispielen aus unterschiedlichen Bereichen der Kunst wird eine Theorie der

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ästhetischen Transformation entfaltet. Sie soll gewissermaßen exemplarisch aufzeigen, inwiefern auch ohne Sprache – unter Verwendung ästhetischer Medien und ihrer spezifischen Möglichkeiten – Erkenntnisse geschaffen werden können. Ästhetische Transformation wird also als Modellfall ästhetischer Erkenntnis dargestellt und analysiert. Der nun folgende – an der Struktur der Kapitel orientierte – Überblick soll die Leserinnen und Leser in den schrittweisen Gang der Überlegungen einführen. Im ersten Kapitel geht es um Klärung der erkenntnistheoretischen Grundlagen. Während normalerweise Denken und Erkennen an die Möglichkeiten der Verbalsprache und die mit ihr verknüpfte klassische Logik gebunden erscheinen, wird hier der Versuch unternommen, verschiedene Logiken des Denkens aufzuzeigen, die jeweils durch die besondere Medialität der Zeichen geprägt sind, in denen sich das Denken und Erkennen manifestiert. So kann man eben nicht nur von einer sprachlichen Logik sprechen, sondern ebenso von einer visuellen Logik oder auch von einer musikalischen Logik. Dem Denken in kausalen und schlussfolgernden Zusammenhängen wird ein vergleichendes Denken gegenüber gestellt, das Beziehungen zwischen Dingen und Phänomenen über das Merkmal der Ähnlichkeit herstellt. Das Generieren von Ähnlichkeiten beruht auf einem spezifischen Zugang zur Welt, der als mimetischer charakterisiert werden kann. Das mimetische Verstehen, in dem dem Zeigen und dem analogen Denken eine zentrale Rolle zukommt, bildet die Basis für eine spezifische Form der Erkenntnis, für die metaphorische Erkenntnis. Auch wenn sich in der Theorie verschiedene medial geprägte Formen des Denkens und Erkennens voneinander unterscheiden lassen, so muss man sich die Praxis des Denkens und Erkennens als eine „vermischte“ vorstellen. Sowohl Wissenschaftler wie Künstler bedienen sich der vielfältigen Möglichkeiten verschiedener Erkenntnisformen. Erst das intermediale, „vermischte“ Denken in offenen Netzen eröffnet jene Freiräume des Denkens, das neue Erkenntnisse ermöglicht. Das erste Kapitel schließt also mit einer Relativierung der systematischen Unterscheidung verschiedener Denkformen – diese Relativierung ist allerdings nur auf der Basis der zuvor vorgenommenen Unterscheidungen möglich. Nach Klärung der allgemeinen erkenntnistheoretischen Grundlagen widmet sich das zweite Kapitel explizit der Thematik „Kunst und Erkenntnis“. Ein Blick auf die inzwischen über zweihundertfünfzigjährige Geschichte der Ästhetik zeigt, dass sich die Frage nach den Erkenntnismöglichkeiten von Kunst wie ein roter Faden durch den ästhetischen Diskurs zieht. Alexander Gottlieb Baumgartens Idee der „sinnlichen Erkenntnis“ findet sich im Denken vieler

Vorwort  |  11 

nachfolgenden Philosophen und Kunsttheoretiker wieder: in Kants Theorie der „ästhetischen Urteilskraft“ ebenso wie in Hegels „sinnlichem Scheinen der Idee“, in Nietzsches enthüllenden Überlegungen zum Illusionscharakter der Wahrheit wie in Adornos Versuchen, die andere Rationalität der Kunst als mimetische zu charakterisieren. Was hier an einigen wenigen, ausgewählten Stationen des historischen Ästhetik-Diskurses aufgezeigt wird, spiegelt sich – auf einer anderen Ebene – in gesellschaftlichen Positionskämpfen zwischen den seit der Neuzeit sich zunehmend ausdifferenzierenden Systemen der Kunst und der Wissenschaft. Wie verhalten sich die Künste und die Wissenschaften zueinander? Wem gebührt in einer Gesellschaft der erste Platz? Verstehen sie sich als Gegenwelten oder als einander ergänzende Formen der Erkenntnis und Gestaltung der Welt? Im Zuge der Geschichte wurden immer wieder andere Antworten auf diese grundsätzlichen Fragen gefunden – in Hinblick auf aktuelle Positionsbestimmungen bildet die Palette an Antwortmöglichkeiten gewissermaßen die Hintergrundfolie. Wenn von Kunst und Erkenntnis die Rede ist, müssen immer zwei Formen der Erkenntnis voneinander unterschieden werden: die Erkenntnis von Kunst und die Erkenntnis durch Kunst. Während im ersten Fall der Gegenstand der Erkenntnis die Kunst selbst ist und als spezifischer Gegenstand natürlich spezifische Formen der Erkenntnis nach sich zieht, gehen im zweiten Fall die Möglichkeiten der Erkenntnis über den Gegenstand Kunst hinaus – Kunst kann in diesem Zusammenhang als Mittel der Erkenntnis beschrieben werden. Inwiefern nun unterscheidet sich die ästhetische Erkenntnis von der wissenschaftlichen Erkenntnis? Worin liegen ihre Besonderheiten, aber auch ihre Grenzen? An dieser Stelle erweisen sich wiederum Mimesis und Metapher als Schlüsselbegriffe zum Verständnis der Spezifika ästhetischen Erkennens. Das Geheimnis der ästhetischen Erkenntnis liegt im Phänomen der Ähnlichkeit begründet: Es bedingt eine spezifische Form der Generierung, aber auch der darstellenden Vermittlung von Erkenntnissen. Das dritte Kapitel widmet sich der Analyse und Theorie ästhetischer Transformationen. Angesichts der Vielfalt an Bedeutungen, die dem in so vielen unterschiedlichen Bereichen verwendeten Begriff der Transformation zukommen, muss eine Begriffsspezifikation vorgenommen werden. Im Zentrum der nachfolgenden analytischen Überlegungen stehen künstlerische Transformationen, in denen Künstler bewusst einen zunächst „fremden“ Phänomenbereich als Ausgangspunkt für eine Übertragung in ihr eigenes künstlerisches Denken und Gestalten nehmen. Die Übertragung kann sowohl innerhalb eines Mediums stattfinden (etwa wenn der fotografische Darstellungsstil in einen malerischen übersetzt wird) oder zwischen den Medien (wenn bildnerische Gestaltungsideen in Musik übertragen werden bzw. umgekehrt); sie

12  |  Vorwort

kann beim Material ihren Ausgang nehmen (etwa in der Nachahmung von Obst durch Porzellan) oder in Strukturideen; sie kommt in künstlerischen Hybridformen (in Gesamtkunstwerken, Installationen und Performances) ebenso zum Tragen wie in den Versuchen, wissenschaftliche Erkenntnisse in ein künstlerisches Medium zu übertragen. Angesichts der unüberschaubaren Vielfalt an Möglichkeiten, verzichte ich auf eine Systematik der ästhetischen Transformationen. Stattdessen analysiere ich exemplarisch Beispiele – sie sollen das Spektrum unterschiedlicher Intentionen von Transformationen öffnen. Darauf aufbauend entwickle ich eine Theorie der ästhetischen Transformation. In Form von Thesen beschreibe ich grundlegende Mechanismen und Wirkweisen, wobei ich auf die zuvor entwickelte Theorie der ästhetischen Erkenntnis Bezug nehme. Ein zentrales Anliegen der Theorie ästhetischer Transformation besteht darin, ihr innovatives Potenzial freizulegen: Ästhetische Transformationen beruhen auf metaphorischer Bezugnahme, sie verändern die Wahrnehmung und führen zu ästhetischer Erkenntnis. In meinem theoretischen Ansatz fungiert die ästhetische Transformation als Modellfall ästhetischer Erkenntnis. Ästhetische Transformationen veranschaulichen auf exemplarische Weise die spezifischen, sich in ästhetischen Medien vollziehenden Möglichkeiten von Erkenntnis. Das vierte Kapitel widmet sich grundsätzlichen pädagogischen Fragestellungen. Inwiefern eignen sich ästhetische Transformationen in besonderer Weise als didaktische und künstlerische Gestaltungsprinzipien? Wie wirken sie sich auf den künstlerischen Schaffensprozess und auf die Rezeption von Kunst aus? Ästhetische Transformationen können in dreifacher Weise in pädagogischen Kontexten, die die Vermittlung von Kunst ebenso wie die Lehre von Kunst umfassen, fruchtbar gemacht werden: in der Kunstproduktion, in der Kunstrezeption und als Thema von Unterricht. Wie sind Vermittlungssituationen zu gestalten, damit die erkenntnisfördernden Kräfte ästhetischer Transformationen optimal genutzt werden können? Und was macht die besondere Qualität von Transformationsprozessen aus? Dieses Kapitel schließt mit Thesen zu möglichen Zielsetzungen und Intentionen ästhetischer Transformationen. Die darin behandelten pädagogischen Fragestellungen können in einem erweiterten Sinn auf grundsätzliche Fragen der Produktion und Rezeption von Kunst übertragen und bezogen werden. Denn was hier in Bezug auf die Vermittlung von Kunst im Kontext von Unterricht thematisiert wird, gilt in gewisser Weise für jede Art der Rezeption von künstlerischen Phänomenen, insofern jede Rezeption (und auch Produktion) auf Vermittlung (im weiten Sinn des Wortes) beruht. Das letzte Kapitel schließlich ist der exemplarischen Veranschaulichung der theoretischen Überlegungen des Buches gewidmet: Welche Erkenntnisse ver-

Vorwort  |  13 

mitteln uns die Künste? Das anlässlich eines Festivals für zeitgenössische experimentelle Musik herausgegebene multimediale, kunstspartenübergreifende Buch „Drinnen vor Ort. Vier Landschaften – vier Jahreszeiten – vier Wege“ dient als Ausgangspunkt, um den vielfältigen Erkenntnismöglichkeiten nachzuspüren, die uns Musik, Literatur und Bilder anbieten. Gleichzeitig stellt dieses Festival-Buch einen gelungenen Versuch dar, wissenschaftliches und künstlerisches Denken miteinander in Dialog zu bringen. Das hier Dargelegte spannt also einen weiten Bogen: von allgemeinen Fragen der Erkenntnistheorie zu Fragen der Ästhetik, von der Analyse künstlerischer Transformationsphänomene zur Entwicklung einer Theorie der Transformation, von Fragen zur Wirkung und Rezeption ästhetischer Transformationen zu pädagogischen Fragestellungen. Um die theoretischen Überlegungen zu veranschaulichen (um also das Sagen durch das Zeigen zu ergänzen), sind eine Fülle konkreter Beispiele in den Text integriert. Sie entstammen unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen: der Bildenden Kunst, der Literatur, der Musik, dem künstlerisch gestalteten Bilderbuch, dem Tanztheater. Auf diese Weise eröffnen sich für die Leserinnen und Leser vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten zwischen den theoretischen Überlegungen und den eigenen ästhetischen Erfahrungen. Ästhetische Theorie und ästhetische Praxis werden in ein Verhältnis des wechselseitigen Austausches gebracht. Ziel dieses Buches ist es also, die systematischen und historischen Dimensionen der Thematik „Kunst und Erkenntnis“ zu entfalten, die aktuelle Diskussion in einigen entscheidenden Eckpunkten wiederzugeben und Perspektiven aufzuzeigen, wie am Beispiel ästhetischer Transformationen die Möglichkeiten des Erkennens von Kunst und durch Kunst weiter spezifiziert werden können. Am Ende des Vorwortes will ich den Dank nicht vergessen. Er richtet sich vor allem an meinen Mann Friedrich C. Heller, der mich immer wieder ermutigt – trotz aller Anforderungen des Universitätsalltags – meine theoretischen Interessen konsequent zu verfolgen. Wien/Berlin, Februar 2012

Ursula Brandstätter

I.  Denken und Erkennen 1.  Denken ohne Sprache Ursus Wehrli: De Saint Phalles Volleyball aufräumen 1 Ausgangspunkt ist das Bild „Volleyball“ von Niki de Saint Phalle aus dem Jahr 1993: Ein roter Frauenkörper, bekleidet mit einem bunten Badeanzug, wirft einen Ball in die Höhe. Ursus Wehrlis Transformation des Bildes zerlegt es in seine Einzelteile und ordnet diese neu. Die roten Gliedmaßen werden aufeinander geschichtet, alle runden schwarz-weißen Teile übereinander gestapelt, die bunten Elemente des Badeanzugs werden nach Farben geordnet in hohen Türmen präsentiert – der Ball erhält einen eigenen Platz in der Mitte des transformierten Bildes. Was passiert bei diesem Vorgang des „Aufräumens“? Die Elemente des Bildes von Niki de Saint Phalle, die als „abbildende Zeichen“ auf den beim Ballspiel bewegten Frauenkörper verweisen, werden von ihrer bedeutungstragenden Funktion befreit und in einen neuen, formalen Sinnzusammenhang gebracht. Leitprinzip für die Neuordnung des Bildes sind die Farben der Bildelemente, ihre Größe und ihre Formen. Die formale Analyse des Bildes ermöglicht einen neuen Blick auf das Ausgangsbild. Nach einem ersten Aha-Erlebnis, in dem dem Betrachter die Transformationsidee klar wird, wandert der Blick zwischen den beiden Bildern hin und her. Was zunächst als rein formale Analyse erscheint, entpuppt sich bei mehrmaligem Hin- und Hersehen als Spiel mit verschiedenen Bedeutungsebenen des Bildes. Die bedeutungsverweisende Funktion der Bildelemente wird in der transformierten Fassung keineswegs völlig negiert. So bleibt etwa der massige Charakter des Frauenkörpers in den aufeinandergeschichteten Gliedmaßen durchaus erhalten; möglicherweise wird die körperliche Präsenz gerade durch die Gewichtung der unterschiedlichen Farb- und Formteile, die einen direkten Vergleich der „Massen“ erlaubt, noch weiter verstärkt. Die aufeinander ge 1 Wehrli 2002. Das – durchaus mit Witz gestaltete – Buch „Kunst aufräumen“ enthält eine Fülle unterschiedlicher Beispiele, in denen mögliche visuelle Ordnungssysteme vorgeführt werden. Ausgangspunkt ist jeweils ein – zumeist bekanntes – Bild aus der Kunstgeschichte, das in einzelne Elemente zerlegt wird, um anschließend nach übergeordneten Gesichtspunkten wieder neu zusammengesetzt zu werden.

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Ursus Wehrli: De Saint Phalles Volleyball aufräumen

stapelten Elemente des Badeanzugs – sie erinnern an Wirbelsäulen – wirken geradezu leicht und beweglich im Vergleich mit den ausgeschnittenen Körperteilen. Bei genauerem Hinsehen verändert sich auch dieser Eindruck wieder: Während die Teile des Badeanzugs als Säulen zwar in sich beweglich erscheinen, letztlich jedoch an ihre aufrechte Gestalt gebunden bleiben, sind die roten Gliedmaßen in ein offenes Gefüge aufeinander bezogener Bewegungen eingebunden, die vergleichweise mehr Bewegungsenergie in sich tragen als die „Wirbeln“ der Farbsäulen. Das Spiel zwischen Leichtigkeit und Schwere, zwischen verschiedenen Formen der Bewegung und der Beweglichkeit – das alles sind Merkmale des Bildes von Niki de Saint Phalle, die durch die transformierende bildliche Analyse deutlich herausgearbeitet werden. Ein ähnliches Phänomen der sich verändernden Wahrnehmung wird auch bei der visuellen Beschäftigung mit dem Ball deutlich. Bedingt durch seine mittlere Position und seine „unzerlegte“ Gestalt wird der Blick in der transformierten Version des Bildes immer wieder auf den Ball gelenkt (der Ball nimmt im ursprünglichen Bild ebenso eine Sonderposition ein). Von Interesse ist das visuelle Wechselspiel mit den kreisförmigen Gebilden auf der linken Seite des Balls. Ein Blick auf das Ausgangsbild macht klar, dass es sich hier um Elemente der beiden Brüste handelt. Ball und Brüste treten in eine Beziehung – auf bei-

Denken ohne Sprache  |  17 

den Bildern –, und fast scheint es, dass die Bewegungsenergie des Balles auch die beiden Brüste zu mobilisieren beginnt. Das Wechselspiel zwischen beiden Bildern geht weiter. Es erfasst auch die besonders hoch aufragende Säule der weißen Formteile und lenkt den Blick auf das Trägerband des Badeanzugs, das gerade durch seine singuläre Stellung seine Funktion deutlich macht und mit dieser spielt: Wird er als einzelner Träger das Gewicht der Brüste aushalten? Im wahrnehmenden Hin und Her zwischen den beiden Bildern eröffnen sich Bedeutungs- und Deutungshorizonte, die sich natürlich auch in der ausschließlichen Betrachtung des Bildes von Niki de Saint Phalle ergeben würden, die aber durch Konfrontation mit der bildlichen Analyse deutlich ins wahrnehmende Bewusstsein gerückt werden: das Wechselspiel zwischen abstrakten Formteilen und inhaltlichen Bezügen, das Spiel zwischen Schwere und Leichtigkeit, das Spiel mit verschiedenen Bewegungsformen und Bewegungsenergien. Ursus Wehrli analysiert das Bild mit bildnerischen Mitteln, er zerlegt es in seine Elemente und ordnet diese neu, wobei die neuen Ordnungsmuster zunächst durchaus witzig erscheinen, weil sie überraschen und nicht zu

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passen scheinen. Bei genauerem Wahrnehmen und denkendem Sehen entpuppen sich die neu gewählten Ordnungsprinzipien jedoch als durchaus der ursprünglichen Bildidee adäquat. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf bestimmte Gestaltungsideen des Ausgangsbildes und verdeutlichen diese mit bildnerischen Mitteln. Was Wehrli uns hier vor Augen führt, kann ge­ wissermaßen als eine Form des visuellen Denkens bezeichnet werden. Mit visuellen Mitteln – und ohne Bezug auf die Verbalsprache – wird das Bild von Niki de Saint Phalle einer Analyse unterzogen, die analysierten Elemente werden in neue Sinnzusammenhänge integriert, so wie im Prozess des Denkens einzelne Vorstellungen zu übergeordneten Zusammenhängen zusammen gefügt werden. Das visuelle Denken wird vom Betrachter im Prozess der Wahrnehmung nachvollzogen: Als Ergebnis des Denkens stellen sich AhaErlebnisse ein, die als visuelle Erkenntnisse charakterisiert werden können.

Mit Selbstverständlichkeit wurden im vorangegangenen Beispiel die Begriffe „Denken“ und „Erkenntnis“ verwendet und auf Prozesse des visuellen Herstellens von Beziehungen bezogen, die nicht der Verbalsprache bedürfen. Können diese Prozesse und ihre visuelle Darstellung tatsächlich im Sinne von Denkund Erkenntnisvorgängen interpretiert werden? Sind denn Denken und Erkennen nicht immer auf die Sprache angewiesen? In der Tradition Platos wird Wissen – als Grundlage von Erkenntnis – als „wahre, gerechtfertigte Überzeugung“2 charakterisiert. Um etwas als wahr rechtfertigen zu können, bedarf es der Sprache und der an ihr orientierten klassischen Logik. Diese Logik versteht sich selbst als Lehre vom bestimmten Begriff, vom wahren Urteil und vom allgemeingültigen Schluss. Das heißt, sie stellt Regeln auf, die auf der Basis eindeutig definierter Begriffe garantieren, dass wahre und allgemeingültige Erkenntnisse gewonnen werden. Erkenntnis ist in diesem Zusammenhang immer propositional gedacht, also an die Verbalsprache gebunden. Die Orientierung der Erkenntnistheorie an der Sprache erreicht ihren Höhepunkt in Gottlob Freges Entwicklung einer „Begriffschrift“3, die er als eine von allen Unreinheiten, das heißt von allen Uneindeutigkeiten bzw. Konnotationen gereinigte Sprache versteht, und in Rudolf Carnaps „logischem Aufbau der Welt“4, einem philosophischen Konzept, in dem die Logik als neutrales Werkzeug zur Generierung von Wissen und Erkenntnis eingesetzt wird. 2 Ammon 2009, S. 11. In ihrem Buch „Wissen verstehen“ beschäftigt sich Sabine Ammon mit der Geschichte der Erkenntnistheorie, die sie durch eine dynamische Theorie des Wissens und des Verstehens neu zu perspektivieren versucht. 3 Frege 1892a und 1892b. 4 Carnap 1928.

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Aus philosophischer Perspektive galt also durch Jahrhunderte hindurch die Sprache als das einzige Medium des Denkens und die an die Sprache gebundene klassische Logik als absolute Norm für die Verknüpfung von Gedanken zu Erkenntnissen. Im Folgenden wird es darum gehen, sowohl den Begriff des Denkens als auch den Begriff der Erkenntnis zu erweitern. Ziel ist es, eine Vielfalt von Denk- und Erkenntnisformen in den Blick zu bekommen, vor allem auch jene, an denen die Kunst wesentlichen Anteil hat. Medialität des Wahrnehmens und Denkens

Jede Art des Denkens ist auf ein Medium angewiesen, in dem die Darstellung und Verknüpfung von Vorstellungen erfolgt. Ganz allgemein kann das Denken als das Herstellen von Beziehungen zwischen mit Vorstellungen besetzten Elementen beschrieben werden. Ein erweiterter Blick auf die Möglichkeiten des Denkens ergibt sich, wenn einerseits die Bausteine des Denkens nicht mit sprachlichen Elementen gleichgesetzt werden, und wenn man andererseits andere Verknüpfungsregeln als diejenigen der klassischen Logik zulässt. Wie es das Beispiel vom Anfang zeigt, das die Möglichkeiten des „Aufräumens von Kunst“ exemplifiziert, können auch visuelle Elemente als Bausteine des Denkens fungieren und gibt es auch andere Ordnungsprinzipien als die der Logik. Welche anderen Verknüpfungsregeln wirksam werden, wenn wir in visuellen Medien oder auch in akustischen Medien denken, wird Thema eines nachfolgenden Abschnitts sein. Zunächst beschäftigt uns die Frage, wie sich die Wahl eines Mediums auf die Bildung von Vorstellungen auswirkt. Marshall McLuhan – berühmt geworden durch sein 1967 erschienenes Buch „The Medium is the massage“ – verweist immer wieder auf die Medienabhängigkeit unseres Wahrnehmens, Denkens und Kommunizierens. „Medien sind mehr als Techniken. Sie gleichen kompletten Milieus, die uns umhüllen, in denen wir uns bewegen, die uns prägen und die wir, gleich einer zweiten Haut, nicht abzustreifen vermögen.“5 Diese „zweite Haut“ schreibt sich in die Botschaften der Medien ein. Die Art des Mediums und seine spezifische Formung wirken sich auf das aus, was uns als Inhalt und Botschaft vermittelt wird. Nehmen wir als Beispiel zur Veranschaulichung der Medienabhängigkeit unserer Vorstellungen die vielfältigen medialen Möglichkeiten, einen Baum darzustellen. Natürlich bietet sich zunächst die Sprache an, die uns den Baum in vielen seiner Dimensionen beschreiben kann: Sie kann ihn benennen, seine 5 Mersch 2006, S. 108.

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Farben, seinen Wuchs, seinen Standort, seinen Duft mit sprachlichen Mitteln charakterisieren. Welche anderen Möglichkeiten ergeben sich aber, wenn wir visuelle Darstellungsmedien in unsere Überlegungen einbeziehen?6 Stellen wir uns etwa einen mit Feder gezeichneten Baum vor. Hier tritt die äußere Kontur des Baumes, die Form und Dicke des Stammes, die Verteilung der Äste und Zweige direkt vor Augen: Zu den besonderen Möglichkeiten des Mediums Federzeichnung gehört es, strukturelle Aspekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Werden zur Darstellung desselben Baums Aquarellfarben gewählt, so verändert sich unser Blick. Nun sind es möglicherweise vor allem die Farbigkeit des Baums und seine atmosphärische Verbundenheit mit der ihm umgebenden Landschaft, die uns in Auge fallen. Ein völlig anderes „Baumbild“ vermitteln uns schließlich Peter Ablingers „akustische Fotografien“ von Bäumen.7 Basis dieser konzeptionellen Komposition sind akustische Aufnahmen von 18 verschiedenen im Wind rauschenden Bäumen. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf einen normalerweise eher vernachlässigten Aspekt der Wahrnehmung von Bäumen: ihre differenzierte Klanglichkeit. Das, was uns verschiedene Darstellungsmedien an Wahrnehmungsmöglichkeiten eines Baumes anbieten, ist unmittelbar mit den medialen Möglichkeiten selbst verknüpft. Denkt man diesen Gedanken der Medialität und Mediengebundenheit unserer Vorstellungen und Wahrnehmungen (als Basis von Denkprozessen) konsequent weiter, so können auf basaler Ebene bereits unsere Sinnesorgane als Medien der Erkenntnis von Wirklichkeit charakterisiert werden. Das Medium des Auges – mit seiner Beschränkung auf ein ganz bestimmtes Spektrum von Frequenzen, das von ihm verarbeitet werden kann – bestimmt, was wir von der Wirklichkeit wahrnehmen und was nicht. So bleiben ultraviolette Strahlen oder auch Röntgenstrahlen für unser Auge unsichtbar. An diesem Beispiel wird die Doppelgesichtigkeit von Medien deutlich. Indem sie uns Codes zur Verarbeitung von Wirklichkeit zur Verfügung stellen, ermöglichen sie uns Wahrnehmen, Denken und Handeln. Villem Flusser spricht davon, dass „unser Denken, Fühlen und Handeln von der Struktur von Codes geformt ist, in ­welcher wir die Welt und uns selbst erfahren.“8 Gleichzeitig beschränken die medialen Codes aber auch die Möglichkeiten, da jede medienspezifische ­Auswahl natürlich auch immer Verzicht auf nicht ausgewählte Merkmale bedeutet. 6 Eine detaillierte und grundsätzliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Medien der sprachlichen und der bildlichen Darstellung folgt im Abschnitt über „Zeigen und Sagen“. 7 Peter Ablinger: Weiss/Weisslich 18 (1992/1996). 8 Mersch 2006, S. 138.

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Medien sind ein so selbstverständlicher Teil unseres Lebens, dass wir sie als solche kaum je bewusst wahrnehmen. „Medien haben die Eigenart, im Erscheinen zu verschwinden“,9 so charakterisiert der Medientheoretiker Dieter Mersch dieses Phänomen, einerseits zwar als Medium präsent zu sein, aber andererseits hinter der vermittelten Botschaft zu verschwinden. Im Grunde wird der Mediencharakter nur dort deutlich, wo die für ein Medium typischen, das heißt konventionalisierten Bahnen des Bedeutens verlassen werden, etwa wenn Bilder als visuelle Medien auf ihre referenzielle Botschaft, ihre abbildende Funktion, verzichten. In diesen Momenten, in denen die medialen Gewohnheiten aufgebrochen werden, tritt die Medialität in besonderer Weise zu Tage. Der Kunst kommt in dieser Hinsicht eine besondere Rolle zu: Indem sie bewusst die Automatismen medialer Darstellungsweisen aufbricht, schärft sie unser Bewusstsein für die grundsätzliche Medialität unseres Wahrnehmens und Denkens. Logiken des Denkens

Nachdem im ersten Schritt das Phänomen der Medialität thematisiert wurde und damit der Blick auf die Vielfalt der medialen Darstellungsmöglichkeiten frei gelegt wurde, sollen nun in einem zweiten Schritt verschiedene Formen des Denkens angesprochen und untersucht werden. Um Denkformen aufzuwerten, die nicht den Regeln der klassischen Logik gehorchen, haben sich viele Autoren bemüht, dem logischen Denken noch andere, gleichberechtigte Denkformen zur Seite zu stellen. Einen ersten Ansatzpunkt stellt der historische Blick auf die Entwicklung von Denkformen dar. Claude Lévi-Strauss trifft in seinem Buch „Das Wilde Denken“10 aus dem Jahr 1962 die Unterscheidung zwischen dem konkreten und abstrakten Denken, wobei er das konkrete Denken im mythologischen Weltbild verankert sieht, das abstrakte Denken hingegen im wissenschaftlichen. Im Rahmen dieses Konzeptes gilt das konkrete Denken als überwundene Vorstufe des wissenschaftlichen abstrakten Denkens.11 9 Mersch 2003, S. 10. 10 Lévi-Strauss 1962. 11 Der Wissenschaftstheoretiker Hans-Jörg Rheinberger greift die Unterscheidung zwischen konkretem und abstraktem Denken von Lévi-Strauss auf, entwickelt den Gedanken jedoch weiter, indem er – unter Bezugnahme auf die Epistemologie von Gaston Bachelard – herausarbeitet, dass das konkrete Denken keineswegs durch das wissenschaftlichabstrakte Denken überwunden wird, sondern dass es auch in wissenschaftlichen Forschungsprozessen seinen „unhintergehbaren Platz“ hat. Rheinberger 2005, S. 102.

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Andreas Kamlah unterscheidet drei verschiedene Arten des Denkens. Auch er ordnet ihnen jeweils unterschiedliche Stufen der menschlichen Entwicklung – sowohl in phylogenetischer als auch in ontogenetischer Perspektive – zu.12 Der genetisch „ursprünglichste“ Denkstil ist das „direkt anschauliche Denken“, ein Denken in anschaulichen Bildern, die jeweils für singuläre Sachverhalte stehen. Diesem folgt das „indirekt anschauliche Denken“, ein Denken in indirekten Veranschaulichungen etwa in graphischen Zeichen oder in Modellen, die in einem Analogieverhältnis zur dargestellten Wirklichkeit stehen. Die letzte Stufe des Denkens bezeichnet Kamlah als das „symbolische Denken“, das auf der Verwendung sprachlicher Symbole beruht. Diese verschiedenen Denkstile dürfen keineswegs – und darin unterscheidet sich sein Konzept von dem von Lévi-Strauss – im Sinne eines Fortschrittsmodells verstanden werden: Alle Denkformen haben – je nach Aufgabenstellung – ihre Berechtigung; die Übergänge zwischen ihnen sind fließend. Diese Idee der Übergänge wird uns noch in einem späteren Abschnitt beschäftigen. Ich selbst habe in einer früheren Veröffentlichung13 dem kausalen Denken das analoge Denken gegenüber gestellt. Während das kausale Denken vor allem auf Ursache-Wirkungszusammenhänge spezialisiert ist, besteht die Stärke des analogen Denkens darin, Ähnlichkeiten zwischen Phänomenen aufzuspüren und auf diese Weise Zusammenhänge zwischen Erfahrungen herzustellen, die möglicherweise weit auseinander liegen. Kohärenz bei gleichzeitiger Offenheit stellt ein besonderes Merkmal des analogen Denkens dar.14 Das Denken in Analogien – als Gegenpol oder Ergänzung zum logischen Denken – wurde von vielen Autoren eingehend untersucht. Gottfried Gabriel unterscheidet das „logische Denken“ vom „analogischen Denken“, indem er als zentrales Unterscheidungsmerkmal die Art der Begrifflichkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.15 Während logisches Denken auf der Verwendung möglichst scharf abgegrenzter Begriffe beruht, hält das analogische Denken die begrifflichen Grenzen bewusst durchlässig. Logisches Denken generalisiert, es geht ihm um die Unterscheidung des Ähnlichen, also um eindeutige Grenzziehungen zwischen Phänomenen. Analogisches Denken hingegen bedient sich der Übergänge, auf der Basis von Vergleichen werden Ähnlichkeiten im Verschiedenen gesucht. Das analogische Denken will also nicht vom Besonderen abstrahieren, es will nicht generalisieren, sondern das zentrale Ziel besteht darin, Besonderheiten nuancierend hervorzuheben. Im einen Fall werden be

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Kamlah 1997. Brandstätter 2008. Genauere Ausführungen dazu in Brandstätter 2008, S. 21 ff. Gabriel 1997a und 1997b.

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griffliche Grenzen gezogen, um Unterschiede deutlich zu machen, im andern Fall werden begriffliche Grenzen geöffnet, um auf Ähnlichkeiten im Verschiedenen zu verweisen. Gabriel charakterisiert das analogische Denken als ein nuancierendes Denken in Übergängen. Beide Denk- und auch Erkenntnisformen stehen zueinander nicht in einem Verhältnis der Konkurrenz, sondern in einem Verhältnis der Komplementarität. Auch die Autoren Karen Gloy und Manuel Bachmann rücken in ihrer Veröffentlichung „Das Analogiedenken. Vorstöße in ein neues Gebiet der Erkenntnistheorie“16 die Idee der Ähnlichkeit und der Analogien ins Zentrum ihrer Untersuchungen. Bachmann verweist auf eine Tradition von Theoretikern, die bereits versucht haben, das Analogiedenken analytisch zu erschließen: auf Cassirers Theorie des „strukturalen Denkens“, das als vorwissenschaftliches Denken die Welt über strukturelle Analogien zu erschließen versucht, auf Foucaults „Episteme der Ähnlichkeit“ (Foucault unterscheidet vier verschiedene Kategorien von Ähnlichkeiten), und schließlich auf Ecos „Theorie der hermetischen Semiose“ (laut Eco erfolgt Sinnstiftung in der Mannigfaltigkeit der Phänomene über den unabschließbaren Prozess des Denkens in Analogien).17 Karen Gloy versucht das analogische Denken als eigenen Rationalitätstypus zu etablieren, indem sie die Regelhaftigkeit dieser Art des Denkens analytisch untersucht.18 Am Beispiel eines Bildes von Arcimboldo, in dem sie das Analogiedenken verwirklicht sieht, hebt sie vor allem die Überdeterminiertheit der Elemente, ihre Ambivalenz und Polysemie (ein Zeichen steht für mehrere Bedeutungen) und schließlich auch ihre Diaphanität (das Durchscheinen anderer Bezugsfelder) hervor. Darüber hinaus zeigt sie auf, dass diese besonderen Charakteristika des Denkens mit Freuds Theorie des Traums in Bezug gesetzt werden können. Fast scheint es so, als würde in Träumen eine Art des Denkens wirksam sein – mit all seiner Regelhaftigkeit (wie Überdetermination, Mehrdeutigkeit, Verdichtung) –, die grundsätzlich auch eine mögliche Art des Denkens im Wachbewusstsein darstellt. Das Denken in Analogien stellt für Karen Gloy ein „transversales Denken“19 dar. Während das logische Denken durch die Ordnung in Unter- und Überbegriffe geprägt ist (im logischen System der 16 Gloy/Bachmann 2000. 17 Das Einleitungskapitel von Manuel Bachmann „Das Analogiedenken als Forschungsfeld. Brücken zu einer vergessenen Denkform“ (Bachmann 2000, S. 11–34) gibt einen zusammenfassenden Überblick über die hier nur kursorisch genannten Theorien von Cassirer, Foucault und Eco. 18 Gloy 2000, S. 256–297. 19 Gloy 2000, S. 293 ff. sowie 300 ff.

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Sprache werden Begriffe nach ihrem Allgemeinheitsgrad geordnet: Begriffe für das Besondere werden unter allgemeine Begriffe subsumiert), etabliert das Denken in Analogien „transversale Ordnungen“ quer zu allen durch Konvention geregelten Klassen- und Gattungsbegriffen. Zeigen und Sagen

Um verschiedenen Formen des Denkens auf die Spur zu kommen, war bis jetzt die grundsätzliche Medienabhängigkeit und damit die Medienvielfalt des Denkens thematisiert worden sowie verschiedene Weisen, Gedanken zu einem übergeordneten Sinnganzen miteinander zu verknüpfen: Die Gegenüberstellung von logischen und analogischen Verknüpfungsregeln erwies sich dabei als eine Möglichkeit, den Horizont gängiger Denkweisen zu öffnen. Ein neuer Gesichtspunkt ergibt sich nun aus zeichentheoretischer Perspektive. So wie das Denken auf die Verwendung eines Mediums angewiesen ist, in dem sich das Denken verwirklicht, so kann man das Denken auch als einen an die Verwendung von Zeichen gebundenen Prozess beschreiben. Ich verwende den Begriff des Zeichens im Sinne der Semiotik als ein Stehen-für.20 Wenn man das Verhältnis der Zeichen zur Wirklichkeit, für die sie stehen, untersucht, so kann man – auf einer sehr basalen Ebene – zwei grundsätzlich voneinander unterschiedene Weisen des Stehens-für unterscheiden: das Zeigen und das Sagen. Eine gemalte Blume zeigt mit Hilfe des zur Verfügung stehenden visuellen Mediums (etwa mithilfe von Ölfarben) Eigenschaften der realen Blume:21 Zwischen dem bezeichnenden Medium und dem bezeichneten Objekt lassen sich Übereinstimmungen feststellen. Als ähnlich erscheinen möglicherweise die Farbigkeit, die Konturen, die Proportionen zwischen den Formteilen. Nelson Goodman hat diese Art der Bezugnahme zwischen Zeichen und Bezeichnetem als „Exemplifikation“ bezeichnet:22 Die gemalte Blume exemplifiziert Merkmale der gemeinten Blume, gemalte und

20 Vgl. die Unterscheidung zwischen Semiotik und Semiologie bei Mersch 2002, S. 284 ff. 21 Wenn ich in diesem Zusammenhang die Wörter „Wirklichkeit“ und „Realität“ verwende, so tue ich dies natürlich nicht in einem essentialistischen Sinn. Es gibt keine „eigentliche, reale Wirklichkeit“, die wir erkennen können – Wirklichkeiten werden mit Hilfe unserer Sinnesorgane und mit den uns zur Verfügung stehenden Zeichensystemen konstruiert. Im Kontext einer Zeichentheorie macht es jedoch Sinn, zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten zu unterscheiden, so als würde man eine eindeutige Grenze ziehen können. 22 Goodman 1984, S. 61 ff.

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reale Blume sind durch gemeinsam besessene Eigenschaften miteinander verbunden. Goodman verzichtet dabei bewusst auf den Begriff der Ähnlichkeit, dessen Klärung bereits auf eine lange und schwierige Geschichte in der abendländischen Philosophie verweist. Anders als Goodman will ich beim Begriff der Ähnlichkeit bleiben, da er im weiteren Verlauf meiner Theorie noch eine wichtige Rolle spielen wird. Das Zeigen zeichnet sich als besondere Form der Zeichenhaftigkeit dadurch aus, dass Zeichen und Bezeichnetes durch ähnliche Merkmale eng aufeinander bezogen sind. Die Ähnlichkeit wird dabei nicht einfach in der Wirklichkeit vorgefunden, sondern sie wird in der zeichenhaften Bezugnahme generiert. Verglichen mit dem Zeigen, stellt das Sagen eine andere Art der zeichengebundenen Aneignung der Wirklichkeit dar. Dieselbe gemalte Blume kann durch einen sprachlichen Begriff, etwa den Begriff der Rose, bezeichnet werden. Für den Blumenkenner löst dieser Begriff wahrscheinlich eine ähnliche Vorstellung aus wie das Bild der Rose. Allerdings lässt sich ein grundsätzlicher Unterschied in der Art der Bezugnahme zwischen Zeichen und Bezeichnetem feststellen. Zwischen dem Begriff „Rose“ (seiner Laut- und auch Schriftgestalt) und der damit bezeichneten Blume lassen sich keine wie auch immer gearteten direkten Beziehungen feststellen: Der Begriff ist willkürlich gewählt, die ­Verbindung zwischen Wort und Ding ist durch sprachliche Konventionen geregelt. Diese Zeichenfunktion wird mit dem Begriff der Denotation bezeichnet. Denotation und Exemplifikation, Sagen und Zeigen, unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht voneinander. Während beim Sagen die Bindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem gewissermaßen als lose (da konventionell willkürlich geregelt) charakterisiert werden kann, lässt sich das Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat im Falle der Zeigefunktion als wesentlich enger beschreiben. Ob ich die Blume mit dem deutschen Blumennamen, mit dem englischen Wort oder mit dem lateinischen Fachbegriff bezeichne, wirkt sich nicht auf die Bedeutung aus. Hingegen macht es einen großen Unterschied, ob ich die Blume mit einer Farbe male, mit einer Palette von Farben, oder ob ich sie fotografiere und das Foto zeigend auf die Blume Bezug nimmt. Die engere Bindung ergibt sich durch die Ähnlichkeitsbeziehung. Während sprachliche Begriffe – zumindest in alltagssprachlicher Verwendung – zumeist hinter dem verschwinden, was sie bezeichnen (das Wort „Rose“ löst in uns eine bestimmte Vorstellung aus, ohne dass der Klang des Wortes länger in uns haften bleibt), verweisen im Falle einer zeigenden Ähnlichkeitsbeziehung Zeichen und Bezeichnetes wechselseitig aufeinander: Das Bild der Rose verschwindet nicht hinter dem, was es zeigt. Es bleibt als Zeigendes mit all seinen Eigenschaften in der Vorstellung präsent.

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An dieser Stelle soll auf eine weitere mögliche Unterscheidung im Zusammenhang mit dem Phänomen des Zeigens verwiesen werden. Wie Dieter Mersch überzeugend und ausführlich dargestellt hat, lassen sich zwei Arten des Zeigens voneinander unterscheiden: das transitive Zeigen, das etwas zeigt, und das intransitive Zeigen, das sich selbst zeigt.23 Vor jedem Verweisen auf etwas anderes gibt es ein Sichzeigen, das die Präsenz und die Materialität der Zeigefunktion erlebbar macht. Das Ereignis ist als performatives Geschehen dem transitiven Zeigen vorgängig. Während das intentionale Zeigen einen „zentrifugalen Charakter“ aufweist, lässt sich das intransitive, gewissermaßen selbstreflexive Zeigen in seiner Bezugsrichtung als „zentripetal“ charakterisieren.24 Beide Weisen des Zeigens, das transitive intentionale und das intransitive reflexive Zeigen, spielen im Zusammenhang mit Kunst eine wichtige Rolle. Kunstwerke beruhen zu einem wesentlichen Teil auf der Zeichenfunktion des Zeigens: Sie zeigen die Wirklichkeit in ihren vielfältigen visuellen, akustischen, kinästhetischen Dimensionen. Mit der Betonung der Zeigefunktion rückt aber auch der mediale und materiale Charakter stärker ins Bewusstsein der Rezeption. Paul Valéry spricht vom „verlängerten Zögern an der Schwelle zwischen Klang und Sinn“25 und thematisiert damit in poetischer Sprache den Doppelcharakter von Kunstwerken: als sinnlich materielles Ereignis und als sinn- und bedeutungshältiges Zeichen.26 Die Bezogenheit der zeigenden Zeichen von Kunstwerken auf sich selbst liegt – wie im Absatz zuvor erläutert – unter anderem in ihrem Ähnlichkeitsverhältnis zur bezeichneten Wirklichkeit begründet. Die Unterschiede zwischen Zeigen und Sagen können aus einer weiteren zeichentheoretischen Perspektive deutlich gemacht werden. Goodman unterscheidet zwischen „analogen“ und „digitalen“ Zeichen, wobei der Begriff „analog“ – im Sinne von Goodman – nichts mit der Idee der Ähnlichkeit zu tun hat, sondern eine bestimmte Art der internen Strukturiertheit von Zeichen meint. Während sich digitale Zeichen als diskrete, diskontinuierliche Zeichen charakterisieren lassen (man denke etwa an ein digitales Thermometer, das die Temperaturunterschiede in Zehntelgraden angibt), zeichnen sich analoge Zeichen durch eine dichte, kontinuierliche Struktur aus (ein analoges Thermometer gibt den Temperaturverlauf in Form einer stufenlosen Skala wieder).27

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Mersch 2002. Volkenandt 2005, S. 79. Valéry 1995, S. 40. Ein zusammenfassender Überblick zum Doppelcharakter von Kunstwerken zwischen Materialität und Bedeutung ist nachzulesen bei Brandstätter 2008, S. 74–77. 27 Eine detaillierte Klärung der Begriffe analog und digital, die hier nur sehr oberflächlich vorgenommen wird, ist nachzulesen bei Goodman 1984, S. 166 ff.

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Simone Mahrenholz hat Goodmans Idee des Analogen und Digitalen auf die Analyse verschiedene Denkformen übertragen. In ihrem Aufsatz „Analogisches Denken. Aspekte nicht-diskursiver Rationalität“28 verwendet sie den Begriff des analogen Zeigens, um damit eine nicht-propositionale, also nichtsprachliche Form der gedanklichen Bezugnahme auf die Wirklichkeit zu bezeichnen. Im Unterschied zu den vorher angeführten erkenntnis­theoretischen Ansätzen hat der Begriff des Analogischen bei ihr nicht primär mit dem Konzept der Ähnlichkeit zu tun, das Analoge bezieht sie auf Goodmans Begriff des Kontinuierlichen und Dichten. In Abgrenzung von digitalen Artikulationsformen des Sagens entwickelt Mahrenholz eine Logik des Zeigens, die sich durch Ambiguität, Offenheit, gleitende Übergänge und Komplexität auszeichnet. In analoger Sprache gibt es keinen Widerspruch, keine Wenn-Dann-Beziehungen, an die Stelle der Idee der Wahrheit tritt die Idee der Richtigkeit.29 Mahrenholz weist darauf hin, dass Zeigen und Sagen zwar zwei prinzipiell voneinander unterschiedene Arten des Weltbezugs darstellen, dass sie jedoch in der Praxis vielfältig miteinander verflochten sind. Vom Zeigen im Sagen und vom Sagen im Zeigen wird weiter unten noch die Rede sein. Visuelle Logik – musikalische Logik

Dass neben den sprachlichen Zeichen auch nicht-diskursive Symbolformen zu bedenken sind, hat bereits viele Theoretiker beschäftigt. Exemplarisch seien hier die Namen Ernst Cassirer, Susanne K. Langer, Charles Sanders Peirce und natürlich Nelson Goodman genannt.30 Gemeinsam ist ihnen das Anliegen, die Vielfalt der möglichen Bezugnahmen von Zeichen auf die Wirklichkeit – auch jenseits der Sprache – systematisch zu erfassen. Darauf aufbauend haben sich Zeichen- und Medientheoretiker vorrangig mit den besonderen Möglichkeiten visueller Zeichen beschäftigt. Im Zuge des „iconic turn“, der der Bildlichkeit in unserer Welt eine besondere Rolle zuerkennt, wurde vor allem die Funktion von Bildern für die Generierung von Erkenntnissen untersucht. Visualisierungen sind in den naturwissenschaftlichen Disziplinen ein nicht wegzudenkender Faktor der Erzeugung und Vermittlung von Erkenntnis. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse sind oft aufs engste mit ihrer visuellen Darstellung verschränkt. Dabei ergibt sich die Frage, nach welchen Gesetz 28 Mahrenholz 2003. 29 Eine überaus erhellende Darstellung der Unterschiede zwischen analog und digital ist in tabellarischer Form nachzulesen bei Mahrenholz 2003, S. 83–84. 30 Vgl. hierzu Heßler/Mersch 2009, S. 9.

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mäßigkeiten Visualisierungen Aspekte der Wirklichkeit wiedergeben. Wie „funktionieren“ Bilder – etwa im Vergleich zur Sprache? Wie lassen sich die Besonderheiten einer visuellen Logik beschreiben? Gottfried Boehm spricht von einer „Logik der Bilder“, durch die Sinn mit bildnerischen Mitteln erzeugt wird.31 Es handelt sich um eine Ordnung des Zeigens (das Eine wird im Licht des Anderen gezeigt), die nicht auf den propositionalen und prädikativen Strukturen der Sprache beruht. Im Unterschied zur definierenden Verbalsprache schließt die „Sprache der Bilder“ die Darstellung des Unbestimmten mit ein. Dass Bestimmtes und Unbestimmtes eine Einheit bilden können, zeigt Boehm am Beispiel eines Bildes von Cézanne. Auch wenn sich ein klar semantisch beschreibbarer Inhalt feststellen lässt, so liegt die besondere Bedeutung des Bildes eben nicht im Aufschlüsseln eines gegenstandsbezogenen Sinnes, sondern es gibt einen „Überschuss des Imaginären“, der sich als „Überschuss an Sinn“32 dem wahrnehmenden Auge erschließt. Für Boehm zeichnet sich also die visuelle Logik als eine Logik des Zeigens aus, die Raum für das Unbestimmte lässt. Es handelt sich um eine „ikonische Unbestimmtheit“33, die jedoch zur Erfahrung von Evidenz führt. Im Rahmen des Konzeptes einer visuellen Logik tritt die Idee der Evidenz an die Stelle der Idee von Wahrheit, wie sie für die klassische prädikative Logik konstitutiv ist. Einen anderen Versuch, die Besonderheiten der visuellen Logik zu ergründen, unternehmen Martina Heßler und Dieter Mersch in ihrem einführenden Kapitel zum Sammelband „Logik des Bildlichen“.34 Im Zentrum steht die Analyse der medialen Strukturen visueller Darstellungen. Als erstes Merkmal einer Ordnung des Zeigens, wobei sie das Zeigen sowohl im transitiven wie auch im intransitiven Sinn verstanden wissen wollen, führen sie die „Rahmung“35 an. Bilder unterscheiden sich von ihrer Umgebung: durch Rahmung und Kontraste präsentieren sie sich als Bilder. Gottfried Bohm hat dafür den Begriff der „ikonischen Differenz“ geprägt.36 Im Unterschied zur diskursiven Sprache können Bilder keine Negationen zeigen. Ebenso wenig ist es Bildern möglich, Hypothesen aufzustellen, also ein Analogon zu verbalsprachlichen Sätzen im Konditional zu bilden.37 Was Bilder zeigen, wird als faktische Evi

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Boehm 2007, vor allem S. 34 ff. sowie S. 199 ff. A. a. O., S. 49. A. a. O., S. 199. Heßler/Mersch 2009, S. 8–62. A. a. O., S. 18. Boehm 1994, S. 29 ff. Mit dem Problem der Negationen und Hypothesen im Bild hat sich bereits Wittgenstein beschäftigt. Vgl. hierzu Richtmeyer 2009.

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denz wahrgenommen, es gehorcht nicht der Logik des Widerspruchs, die nur ein entweder/oder bzw. ein weder/noch zulässt. An die Stelle des Widerspruchs, der im Sinne einer eindeutigen Entscheidung gelöst werden muss, tritt die Denkfigur des Gegensatzes und des Kontrastes, die „beiden Seiten der Medaille“ zur Anschauung verhilft. Die Logik der Bilder ist keine binäre Logik, in der zwischen wahr und falsch unterschieden werden muss; indem sie bewusst die Simultaneität des sowohl-als-auch zeigt, hält sie sich bewusst offen und verzichtet auf eindeutige Lösungen. Visuelle Logik entfaltet sich im Raum. Angesichts der zentralen Rolle, die das Räumliche im Denken des Menschen spielt – man denke an Denkfiguren wie Vordergrund/Hintergrund oder Vorstellungen von oben und unten (die „Fundamente“ des Denkens; Gedanken, die einander „überlagern“) –, scheint eine Visualisierung des an räumlichen Vorstellungen orientierten Denkens die adäquate Darstellungsform zu sein. Der besondere Vorteil visueller Darstellungsmedien besteht darin, dass sich räumliche Strukturen auf einen Blick erschließen. Mögliche Relationen – wie Größen- und Mengenverhältnisse, Orientierungen und Bündelungen – können mittels räumlicher Zeichen direkt abgebildet werden. In ähnlicher Weise spricht Sybille Krämer von einer „operativen Bildlichkeit“.38 Als grundlegende Merkmale führt sie die simultane Präsenz der Zeichen an, die sich durch die Flächigkeit ergibt, sowie ihre Gerichtetheit, das heißt ihre Orientierung in einem räumlichen Gefüge. Grundsätzlich stellen die Syntaktizität der visuellen Zeichen (also die intern organisierte Regelhaftigkeit) und die Referenzalität (ihre Regelhaftigkeit in der Bezugnahme auf Externes) die Basis für die Operativität der Bilder dar. An dieser Stelle wird deutlich, dass man zwischen zwei Ebenen der Logik unterscheiden kann: Folgen wir der Definition Boehms, dass die Logik der Herstellung von Sinn dient, so muss einerseits eine zeicheninterne Logik in Betracht gezogen werden (wie etwa die Syntax der Sprache oder auch der Bilder), andererseits lässt sich jedoch auch eine Regelhaftigkeit in der Art der Bezugnahme auf externe Wirklichkeiten feststellen. Hier stellt die Logik des Zeigens das Fundament dar: Auf der Basis von Ähnlichkeit werden Zusammenhänge und Relationen gezeigt, Erkenntnis ergibt sich in der Folge in der Erfahrung von Evidenz. Nachdem nun ausführlich die Rede von der visuellen Logik bzw. der Logik der Bilder war, stellt sich auch die Frage nach den Möglichkeiten einer auditiven Logik bzw. einer Logik der Musik. Während die visuelle Logik als erkenntnistheoretisches Thema bereits umfangreiche Analysen erfahren hat, ist 38 Krämer 2009.

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die Untersuchung einer am Hörsinn orientierten Logik in der Literatur nicht vergleichbar elaboriert worden.39 Zwar wird selbstverständlich immer wieder vom musikalischen Denken gesprochen, aber damit ist zumeist lediglich die systeminterne Logik musikalischen Gestaltens gemeint, also die musikalische Syntax, wie sie sich in Kompositions- und Formenlehren theoretisch fassen lässt. In der Frage, ob es einen referenziellen Bezug der Musik auf nicht-musikalische Wirklichkeiten gibt, scheiden sich die Geister. Ohne hier die umfangreiche und komplexe Diskussion zur Frage der „Bedeutung“ der Musik wiedergeben zu wollen, seien doch zwei mögliche Positionen exemplarisch herausgegriffen. Der Musikphilosoph Albrecht Wellmer spricht von einem „latenten Weltbezug“ der Musik und meint damit das „Einschießen außermusikalischer Gehalte in die Musik“.40 Etwas, das außerhalb der Musik liegt, wird in Musik verwandelt. Damit wird die Musik in einen Bezug zu externen, nicht-musikalischen Wirklichkeiten gesetzt, der reflexiv erschlossen werden kann. Eine andere Position nimmt Matthias Vogel ein.41 Er bestreitet, dass Musik selbst ein Medium der Reflexion darstellt. Da es der Musik sowohl an Referenzialität wie auch an Prädikation mangelt, kann sie lediglich als Anlass und Mittel der Reflexion fungieren. Indem Vogel als einzige Logik die Logik der Prädikation, also die sprachlich-diskursive Logik gelten lässt, scheidet für ihn die Musik als Medium des Denkens aus. Öffnet man hingegen den Begriff der Logik, so stellt sich die Frage nach den Spezifika des musikalischen Zeigens bzw. noch viel fundamentaler die Frage nach den Besonderheiten einer auditiven Logik. So wie im Bereich der Visualität zwischen einer visuellen Logik, die sämtliche visuellen Zeichen (also etwa auch Karten und Diagramme) umfasst, und einer Logik der Bilder, die sich primär mit dem Phänomen des Bildes beschäftigt, unterschieden wird, so müsste man im Bereich der auditiven Zeichen ebenfalls zwischen einer allgemeinen Logik des Auditiven und einer Logik der Musik unterscheiden. Gibt es – abseits der Musik – elaborierte auditive Zeichensysteme, die den vielfältigen Visualisierungen von Wirklichkeit vergleichbar sind? Zwar leben wir in einer Welt akustischer Signale (vom Handyklingeln über das Abfahrtssignal von Zügen bis zum Sirenengeheul von Einsatzfahrzeugen), und natürlich leben wir auch in einer Welt akustischer „Anzeichen“, die im Sinne der Symboltheorie von Susanne K. Langer in unmittelbarem, natürlichen Zusammenhang mit 39 Als zentrales Werk ist hier zu nennen: Mahrenholz, Simone: Musik und Erkenntnis. Eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie. Stuttgart 1998. 40 Wellmer 2009, S. 18. 41 Vogel 2010.

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dem stehen, worauf sie verweisen (z. B. das Grollen des Donners, das auf das Gewitter verweist),42 aber alle diese akustischen Signale sind in kein elaboriertes System aufeinander bezogener auditiver Zeichen integriert, sondern sie erfüllen ihre Funktion als punktuelle Zeichenereignisse. Als elaboriertes auditives Zeichensystem muss einerseits die Sprache genannt werden, deren Logik im Sinne der klassischen Logik ausgearbeitet ist – und andererseits eben die Musik, deren spezifische Logik (im umfassenden, also über das Syntaktische hinausgehenden Sinn) noch weiterer Ausarbeitung bedarf. Grundsätzlich soll die musikalische Logik auch als eine Logik des Zeigens charakterisiert werden. Zwar ist das Phänomen des Zeigens im Falle der Musik schwerer fassbar, da Musik nur in seltenen Fällen tatsächlich die außermusikalische Wirklichkeit direkt abbildet. Als akustisches Medium kann Musik nur akustische Phänomene direkt, sozusagen im „buchstäblichen Sinn“, zeigen: das Rauschen des Wasser, ein herannahendes Gewitter. Aber Musik hat die Möglichkeit, im „übertragenen Sinn“ auch auf nicht-akustische und auch nicht-musikalische Wirklichkeiten Bezug zu nehmen: So kann sie etwa psychologische Entwicklungen eines Menschen „nachzeichnen“ oder grundsätzlich eine Vielfalt möglicher Emotionen zum Ausdruck bringen.43 Die Vielfalt der musikalischen Zeichenfunktionen kann jedenfalls aus der Perspektive einer Logik des Zeigens betrachtet werden. War das Besondere der visuellen Logik ihre Räumlichkeit, so ist das Besondere der musikalischen Logik ihre Zeitlichkeit. Auch im Ablauf der Zeit gibt es Bündelungen und Orientierungen (man erinnere sich an die Merkmale der bildlichen Operativität nach Sybille Krämer). Das Faszinierende besteht jedoch darin, dass musikalische Verläufe keineswegs nur eindeutig im Sinne linearer Entwicklungen verstanden werden müssen, sondern dass durch zahlreiche interne Beziehungen des musikalischen Materials ständige Rückbezüge und Vorausbezüge gegeben sind. Die musikalische Logik ist eine Logik der Zeit, die sich also gegenüber linearen Konzepten der Zeit mehrdeutig verhält. Die Ambiguität, die immer wieder als zentrales Merkmal der ästhetischen Medien genannt wird, ist auch der Musik und ihrer zeitlichen Logik inhärent.

42 Charles Sanders Peirce prägte dafür den Begriff des Indexikalischen – er unterscheidet Index, Icon und Symbol. Vgl. hierzu Keller 1995, S. 114 ff. 43 Laut Goodman beruht die Ausdrucksfunktion von Zeichen auf einer „metaphorischen Exemplifikation“. Genauere Ausführungen zu den Zeichenfunktionen der Musik sind nachzulesen bei Brandstätter 2004, S. 113 ff.

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2.  Denken in Ähnlichkeiten Norah Lange: Kindheitshefte „Von ganz klein auf sah ich die Leute gern besonders aufmerksam an. Schon mit sechs Jahren war das eine tief in mir verwurzelte Angewohnheit. […] Wenn ich die Personen anstarrte, die bei uns vorbeikamen – den Gemeindepfarrer, den Dorfarzt, den Bischof von X, alle Besucher, die in unserem Haus zu Gast waren – stellte ich mir ihr Profil von innen vor. Es war, als würde ich körperlich in diese Personen hineinschlüpfen, aber nur ins Gesicht. […] Mit sechs Jahren lachte ich, wenn ich eine ausgeprägte Rundung an der Nase von irgendeinem der wichtigen Männer bemerkte, die bei uns verkehrten, und ich ließ mich in ihre Züge hineingleiten, indem ich meinen Körper im Inneren ihrer Gesichter aufbaute und an ihre Konturen anpaßte. Manchmal saß ich auf den Knien mit ausgebreiteten Armen: das war das Gesicht des Gemeindepfarrers, die langgestreckte, gerade Nase, die kaum ausgeprägten Augenbrauen. Andere Male drang ich in das Gesicht des Hausarztes ein. Dafür war es notwendig, mich im Schneidersitz hinzusetzen, um die offene Nase zu formen; die Fußspitzen genügten, um den fast nicht existierenden Mund zu zeichnen; die gebeugten Arme entsprachen seinen kleinen Augen. Für Ingenieur Bok mit seinem quadratischen und rötlichen Bart waren größere Opfer erforderlich. Ich mußte mich kopfüber aufbauen, damit meine Haare seinen Bart formen konnten; die Hände berührten sich kaum auf dem Rücken, die Beine waren so angewinkelt, daß sie einen stumpfen Winkel mit dem Körper bildeten, um seinen Augen diese leichte Anspannung zu ­verleihen, die seine Brauen höher hob als normal.“ 44 Auf eindrückliche Weise schafft es die Autorin Norah Lange, die in ihrem Werk „Kindheitshefte“ eigene biographische Erinnerungen verarbeitet, die Perspektive eines Kindes zu vermitteln, das sich die Welt auf eine ganz andere Art und Weise, als wir es als Erwachsene gewohnt sind, aneignet: Um andere Menschen zu verstehen, schlüpft das Kind gewissermaßen in deren Körperlichkeit und versucht, diese im eigenen Körper nachzuspüren und nachzuahmen. Das Besondere besteht darin, dass dabei ein visueller Eindruck der äußeren Gestalt (das Profil eines Menschen) in eine verinnerlichte, im eigenen Körper verwirklichte Gestalt transformiert wird. Walter Benjamin hat diese Art des Weltzugangs als mimetischen charakterisiert und in seinen 44 Lange 2010, S. 27–28.

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eigenen Kindheitserinnerungen „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“45 literarisch entfaltet. Das Kind erlebt die Welt mimetisch, es stellt Ähnlichkeiten zwischen sich und der Außenwelt her. Weder gibt es dabei eine klare Trennung zwischen Innen und Außen noch zwischen Subjekt und Objekt. Das Kind erfasst die es umgebende Wirklichkeit, indem es sich dieser „anähnelt“.

Mimetischer Weltzugang

Der Begriff der Mimesis steht in einer langen Tradition philosophischen Nachdenkens.46 Mimesis hat eine doppelte Wortbedeutung: Zum einen meint der Begriff den Vorgang des Nachahmens, Nacheiferns, Sich-ähnlich-Machens; zum andern steht er aber auch für grundsätzliche Möglichkeiten des Darstellens und Ausdrückens. In der Tradition Platos wurde der Begriff vor allem zur Beschreibung ästhetischer Phänomene verwendet: Kunst als Nachahmung der Natur. Im Laufe der Jahrhunderte erfuhr die Idee der Nachahmung unterschiedliche Bewertungen. Während Plato im Erzeugen von Schein eine Entfernung von der Idee der Wahrheit sah, wurde die „imitatio naturae“ etwa im 18. Jahrhundert zu einem Leitbegriff der Künste. Eine Ausweitung der Bedeutung erfuhr die Idee der Mimesis durch Denker wie Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Jacques Derrida, die Mimesis als anthropologische Kategorie etablierten. Damit wird Mimesis zu einer besonderen Art des Weltzugangs, die auch jenseits der Kunst unser Erleben, Denken und Handeln tangiert. „Die höchste Fähigkeit im Produzieren von Ähnlichkeiten aber hat der Mensch. Die Gabe, Ähnlichkeiten zu sehen, die er besitzt, ist nichts als ein Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges ähnlich zu werden und sich ähnlich zu verhalten. Vielleicht besitzt er keine höhere Funktion, die nicht entscheidend durch mimetisches Vermögen mitbestimmt ist.“47 Walter Benjamin beschreibt hier die Fähigkeit des Menschen, Ähnlichkeiten zu sehen, als ein grundlegendes Vermögen, das auch anderen geistigen Fähigkeiten zugrunde liegt. Einen ähnlich umfassenden Blick auf das Phänomen der Mimesis hat auch Adorno, der darauf hinweist, dass das mimetische Moment in der reflexiven Erkenntnis erhalten bleibt: „… vielleicht nicht bloß als archaisches Rudiment, sondern weil Erkenntnis selber ohne den wie auch immer sublimierten Zusatz von Mimesis nicht konzipiert werden kann: ohne sie wäre der Bruch zwischen Subjekt und Objekt absolut und Erkenntnis unmög 45 Benjamin 1980. 46 Zu den geschichtlichen Dimensionen des Begriffs Mimesis siehe vor allem Gebauer/Wulf 1992 sowie Gebauer/Wulf 2003. Vgl. auch Wulf 2005. 47 Benjamin 1977, S. 210.

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lich.“48 Der mimetische Weltzugang, der auch in der rationalen Welterkenntnis erhalten bleibt, garantiert, dass erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt in einem Verhältnis der Mimesis aneinander gebunden bleiben. Ohne Mimesis würde die Welt in eine Vielfalt unverbundener Phänomene auseinander fallen. Als Verhalten des Menschen gegenüber der Welt ist Mimesis durch ein Doppeltes charakterisiert: Im mimetischen Weltzugang ähneln wir uns der Wirklichkeit an (wir stellen zur Wirklichkeit über Ähnlichkeit einen Bezug her), gleichzeitig erzeugen wir aber dadurch auch Differenz. Die Nachahmung des Gegebenen und die Formung von etwas Neuem sind im Prozess der Mimesis miteinander verschränkt. „Mimetische Prozesse lassen sich als wiederholende Herstellung vorgängiger Welten begreifen, in der Menschen diese nochmals als ihre Welten machen, aber nicht mit Hilfe des theoretischen Denkens, sondern mit Hilfe der Sinne, also aisthetisch.“49 Hier ist ein weiteres wichtiges Merkmal der Mimesis angesprochen: ihre Sinnlichkeit – Gebauer und Wulf sprechen von der „Performativität“ der Mimesis.50 Mimesis ist eben nicht als rein kognitiver Akt zu verstehen, sondern sie ist an die Körperlichkeit des Menschen und seine Sinnlichkeit gebunden. In ihr sind (performative) Handlungs- und (kognitive) Wissenskomponenten miteinander verschränkt. „Mimesis ereignet sich auf einer Stufe unterhalb der Grenzziehung zwischen Kunst, Wissenschaft und Leben.“51 Bedingt durch diesen Charakter des „Dazwischen“ – noch vor den klassischen Unterscheidungen zwischen Subjekt und Objekt, Denken und Fühlen, Körper und Geist, Kunst und Wissenschaft – lässt sich der Begriff schwer eindeutig definieren. Er entzieht sich der begrifflichen Logik und ihrer Eindeutigkeit und ist auch nicht an die Verbalsprache gebunden. Wie das literarische Beispiel von Norah Lange zeigte, kann sich mimetisches Verhalten auch ausschließlich im Körper vollziehen. Allerdings bleibt der mimetische Weltzugang der Sprache nicht grundsätzlich verschlossen. Walter Benjamin sieht in der Sprache „ein Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten“.52 Im Laufe der Entwicklung der Menschheit wurde das mimetische Verhältnis zur Welt immer mehr zurückgedrängt. Aspekte davon haben sich jedoch in der Sprache und in der Schrift erhalten, auch wenn die mimetische Ähnlichkeit nicht mehr direkt sinnlich erfahrbar ist.53 Der mimetische Charakter der Sprache kann aber bewusst wieder aktiviert werden – literarisches Schreiben kann durchaus

48 49 50 51 52 53

Adorno 1971, S. 148. Gebauer/Wulf 2003, S. 8. A. a. O., S. 26. A. a. O., S. 28. Walter Benjamin 1977a. Vgl. Gebauer/Wulf 2003, S. 24.

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als ein mimetisches Schreiben charakterisiert werden, das versucht, sich auf eine neue Weise der Wirklichkeit anzuähneln. „Ähnlichkeit ist eine Folge der mimetischen Bezugnahme“54 – hier stoßen wir auf eine sehr wichtige Besonderheit des Phänomens der Ähnlichkeit. Ähnlichkeiten ergeben sich als Folge der mimetischen Bezugnahme, sie werden also generiert. Im mimetischen Weltzugang werden Wirklichkeiten entworfen, die sich dem definierenden Begriff entziehen, die stattdessen Räume für das Ambivalente und Nicht-Identische eröffnen. Vom Nicht-Identischen wird weiter unten noch ausführlich die Rede sein. Mimesis tastet sich an den Anderen und das Andere heran, es verzichtet jedoch darauf, das Andere durch einen definierenden Begriff verfügbar zu machen. Mimesis bindet sich durch Anähnelung an sein Gegenüber, ohne dabei jedoch die Differenz zu negieren. Ähnlichkeiten lassen bei allem Bedürfnis nach Nähe Raum für Differentes. In der Mimesis verschränken sich nicht nur Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Körper und Denken, sondern auch Nähe und Ferne. Die Idee der Ähnlichkeit – sie blickt bereits auf eine lange Tradition der philosophischen Auseinandersetzung zurück – ist als durchaus umstrittene Idee mehrfach schon grundsätzlich in Zweifel gezogen worden. So lehnt etwa Nelson Goodman – wie bereits angesprochen – Zeichenfunktionsmodelle ab, die auf der Idee von Ähnlichkeit beruhen. Ähnlichkeit sei keineswegs etwas, das wir in der Natur vorfinden, vielmehr werde Ähnlichkeit von uns genauso konstruiert, wie wir auch sprachliche Begriffe konstruieren. Die Erkenntnis, dass Ähnlichkeiten in Akten des Wahrnehmens, Denkens und Handelns generiert werden, soll uns nicht daran hindern, genau in diesem Konstruktionsakt ein wesentliches Merkmal des menschlichen Denkvermögens zu sehen. Zu den elementaren Fähigkeiten des Menschen gehört es, das Wahrgenommene oder Vorgestellte mit bereits vorhandenen Wahrnehmungs- und Vorstellungsmustern abzugleichen. Abgleichen bedeutet in diesem Zusammenhang, wir stellen – durch den Vergleich – fest, dass entweder die aktuell gesehene Blume dem bekannten Muster entspricht und wir dementsprechend einen passenden Begriff zur Verfügung haben, oder dass das Muster nicht passt und wir unser Muster abwandeln müssen oder wir einen neuen Begriff benötigen. Jean Piaget hat diesen doppelten Vorgang des Musterabgleichs mit den Begriffen der „Assimilation“ (Anpassung der Wirklichkeit an die vorhandenen Muster) und der „Akkomodation“ (Abwandlung der Muster) charakterisiert. Diesen beiden gegenläufigen Prozessen liegen folgende Grundmuster des Wahrnehmens und Denkens zugrunde: vergleichen, Gleiches erkennen, Ähnlichkeiten feststellen und Verschiedenes konstatieren. 54 A. a. O., S. 38.

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Identisches versus Nicht-Identisches

Das Nachdenken über Gleiches, Ähnliches und Verschiedenes führt sehr schnell auf die Spuren der Sprache. Die Sprache stellt dem Wahrnehmen und Denken in Form von Begriffen quasi fertige „Muster“ zur Verfügung, die auf die Wirklichkeit angewandt werden können. Der Begriff der Rose etwa kann auf eine Fülle unterschiedlicher Blumen bezogen werden, nicht nur in Absehung der speziellen Rosenart, um die es sich handelt, sondern auch ohne auf die Farbe, die Größe, den Entwicklungsstand, den Standort etc. Bezug zu nehmen. Wir belegen ein komplexes Phänomen, wie es jede Blume darstellt, mit einem definierenden Begriff, identifizieren es auf diese Weise und decken nicht selten auf diese Weise die sich hinter dem identifizierenden Begriff verbergende phänomenale Vielfalt zu. Friedrich Nietzsche war einer der ersten, der diese Art des „identifizierenden Denkens“ einer scharfen Kritik unterzogen hat. Das identifizierende Denken beruht darauf, dass wir Verschiedenes, das wir vorfinden, unter ein und desselben Begriff subsumieren, dass also Verschiedenes unter Absehung der individuellen Unterschiede als Allgemeines betrachtet wird. In diesem Prozess der Verallgemeinerung sieht Nietzsche eine „Verfälschung“ der Wirklichkeit. „Die Logik ist geknüpft an die Bedingung: gesetzt, es gibt identische Fälle. Tatsächlich, damit logisch gedacht und geschlossen werde, muss diese Bedingung erst als erfüllt fingiert werden. Das heißt: der Wille zur logischen Wahrheit kann erst sich vollziehen, nachdem eine grundsätzliche Fälschung alles Geschehens angenommen ist.“55 Nietzsche charakterisiert hier also das Konzept der Identität, wie es der Sprache und damit auch der sprachlich fundierten Logik zugrunde liegt als ein verfälschendes Konzept. Der identifizierende Begriff nivelliert die individuellen Differenzen, die jede Erscheinung in ihrer Einmaligkeit auszeichnen. Gewissermaßen in der Nachfolge Nietzsches haben sich Denker wie Theodor W. Adorno, Jacques Derrida und Jean Francois Lyotard um eine Rehabilitation jener Denkformen bemüht, die dem Individuellen, Einmaligen und Nicht-Identischen gebührenden Raum lassen. Albrecht Wellmer hat sie – durchaus passend – als „Anwälte des Nicht-Identischen“ charakterisiert.56 Sie sprechen sich gegen ein vereinnehmendes Denken in klassifikatorischen Begriffen aus, das die Komplexitäten und Feinheiten der singulären Erscheinungen nivelliert. Es geht ihnen um die Rettung des Nicht-Identischen vor 55 Nietzsche 1996, S. 476. 56 Wellmer 1985, S.  85 f., S. 141 f. und S. 148 f. Eine gute Darstellung der Problemlage auch bei Gabriel 1997, S. 38 ff.

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der Gewalt des Begrifflichen.57 Dabei darf das Nicht-Identische keineswegs als bloß negatives Konzept der Verweigerung gesehen werden. Vielmehr will es das Augenmerk auf jene Aspekte der Wirklichkeit lenken, die sich der bestimmenden Macht des Begriffs entziehen und dem Unbestimmbaren zu seinem Recht verhelfen. Der Kunst kommt im Rahmen der Idee des NichtIdentischen eine herausgehobene Rolle zu. Wenn etwa Adorno von der „Rätselgestalt“ der Kunst spricht, dann spricht er damit genau jene besondere Fähigkeit der Kunst an, bestimmt und unbestimmt gleichzeitig zu sein: „Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, meint den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache.“58 Hier trifft sich die Idee des Nicht-Identischen mit der Idee des Unbestimmbaren, die zuvor bereits in Zusammenhang mit der Zeigefunktion angesprochen wurde. Da das Zeigen immer auf Ähnlichkeiten beruht und Ähnlichkeiten zwischen Phänomenen niemals ein für allemal vorgegeben sind, sondern immer wieder auch neu konstruiert werden können, öffnet sich ein weites Feld an Möglichkeiten, die Welt zu sehen und zu denken. Der Wissenschaftstheoretiker Hans-Jörg Rheinberger stellt den Begriff der Identität dem Begriff der Repetition gegenüber und greift damit Gedanken von Gilles Deleuze auf.59 Es gibt keine Wiederholung, die mit sich selbst identisch ist; jede Wiederholung produziert Differenz, also Nicht-Identisches. „Während Identität schweigt, trägt Repetition stummes Wissen60 weiter. Während Widersprüche nach Auflösung und damit in die Identität drängen, können Differenzen koexistieren und damit in ein Spiel eintreten …“61 Mit denselben Worten, mit denen Rheinberger hier das Entstehen von Differenz als Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnisse erklärt, könnte man ein wesentliches Erkenntnisprinzip von Kunst charakterisieren: In ihrer Logik des Zeigens erzeugt Kunst unendliche und offen Welten des Nicht-Identischen, in denen Widersprüche bestehen bleiben können, ohne in einheitsstiftende Konzepte der Identität aufgelöst zu werden.



57 58 59 60

Vgl. hierzu auch Mersch 2002, S. 153 f. sowie S. 259. Adorno 1970, S. 182. Vgl. Rheinberger 2005, S. 67 ff. Den Begriff des „stummen Wissens“ übernimmt Rheinberger von Michael Polanyi, der damit eine Form des impliziten Wissens benennt, das dem expliziten Wissen gegenübergestellt ist, vgl. Rheinberger 2005, S. 62. 61 A. a. O., S. 68.

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Mimetisches Verstehen – Zeigen – analoges Denken

Es ist jetzt an der Zeit, die verschiedenen Gedankenstränge, die hier entwickelt wurden, zusammenzuführen. Im Zentrum steht die Frage nach den Möglichkeiten, die uns als Menschen zur Verfügung stehen, die Welt denkend und erkennend zu erschließen. Während lange Zeit Erkenntnis nur über die diskursive Sprache und die an ihr orientierte klassische Logik als möglich erachtet wurde, mehren sich seit den letzten Jahrzehnten die Stimmen jener Denker, die auch andere Medien und Formen des Denkens und Erkennens ins Zentrum philosophischer Aufmerksamkeit rücken. Eine zentrale Rolle kommt in diesem Zusammenhang dem Zeichentheoretiker Nelson Goodman zu, der die verschiedenen „Weisen der Welterzeugung“62 aus zeichentheoretischer Perspektive analysierte, ihre jeweiligen Besonderheiten herausfilterte und – dies war der wichtigste Schritt – sie als gleichberechtigte Verstehens- und Erkenntnisweisen von Welt proklamierte. Denk- und Erkenntnisweisen der Welt unterscheiden sich zunächst durch das Medium, in dem sie sich verwirklichen. Es gibt kein Denken ohne Medium, aber es gibt eine Menge medialer Denkformen jenseits des verbalsprachlichen Mediums: ein Denken in Bildern, in Musik, in Körpergesten, in Zahlen.63 Das gewählte Denkmedium beeinflusst nicht nur die Darstellung und Vermittlung der in ihm gewonnenen Erkenntnisse, sondern das Medium wirkt sich bereits auf die Generierung von Wissen und Erkenntnis aus. Visuelle Medien erfassen andere Aspekte der Wirklichkeit als numerische oder auditive. Entscheidend für das Denken und Erkennen ist jedoch nicht nur das gewählte Medium, sondern auch die Logik, der sich ein Denkprozess unterordnet. Es macht einen großen Unterschied, ob das Denken von den Regeln der klassischen Logik geleitet wird, ob es also vor allem richtige Urteile fällt und wahre Schlüsse zieht, oder ob es – im Sinne eines analogen Denkens – vor allem nach Analogien und Ähnlichkeiten sucht bzw. diese generiert. Die Generierung von Ähnlichkeiten kann sich im Grunde in jedem Medium vollziehen (auch die Verbalsprache kann mit Hilfe von Vergleichen Ähnlichkeiten in der Wirklichkeit aufspüren), besondere Denk- und Erkenntnismöglichkei-

62 Goodman 1984. 63 In meinen Erörterungen habe ich das visuelle und musikalische Denken exemplarisch untersucht, da sie in Zusammenhang mit Kunst eine hervorgehobene Rolle spielen. Das Denken in Zahlen, das genauso eine mediale Sonderform des Denkens darstellt, ist primär in den Naturwissenschaften verankert.

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ten ergeben sich jedoch dort, wo das Ähnliche in der Art und Weise, wie auf die Wirklichkeit Bezug genommen wird, selbst verwirklicht wird. Hier stoßen wir auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, die sich durch das Zeigen und das Sagen ergeben. Während das Sagen die Wirklichkeit mit Hilfe von Zeichen anspricht, die – als konventionalisierte, willkürliche Zeichen – nach dem Vorgang des Bezeichnens gleich wieder verschwinden, bleibt im Zeigen – das auf einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Zeigendem und Gezeigten beruht – die sinnliche Präsenz der Zeichen bestehen. Das Zeigen erweist sich als eine Form der Wirklichkeitsaneignung, in der durch die enge Verknüpfung von Zeichen und Bezeichnetem die sinnliche Materialität der Zeichen eine unaus­wechselbare Rolle spielt. Im Zentrum meines Konzeptes, in dem es um einen erweiterten Blick auf eine Vielfalt von Möglichkeiten des Denkens und Erkennens geht, steht die Idee der Ähnlichkeit. Das Phänomen der Ähnlichkeit verbindet die verschiedenen argumentativen Stränge, die bis jetzt entwickelt wurden. Die zeigende Zeichenfunktion beruht auf einer Ähnlichkeitsbeziehung, so wie andererseits das analoge Denken als Denken charakterisiert werden kann, das Beziehungen der Ähnlichkeiten aufspürt. Zeigen und analoges Denken gehen in vielen Kunstwerken eine ideale Symbiose ein: Das sinnliche Zeigen der Welt in ihren vielfältigen Dimensionen gehört zu einer zentralen Aufgabe von Kunst. Im Zeigen verwirklichen sich analoge Denkprozesse, die vom Rezipienten aufgegriffen und weiter entwickelt werden können. Im Unterschied zur begrifflichen Aneignung von Welt eröffnet die zeigende Aneignung offene Räume des Nicht-Identischen. Es sind dies Räume, die Platz lassen für das Subjektive, das Körperliche, das Emotionale, das Unbewusste. Da Ähnlichkeiten eben nicht vorgefunden, sondern konstruiert werden, ergeben sich unendliche Möglichkeiten, immer wieder neue Ähnlichkeitsbeziehungen zu entwickeln. Im ­Grunde kann alles mit allem in eine Beziehung der Ähnlichkeit gebracht werden. Als Grundlage des Zeigens und des analogen Denkens kann der mimetische Zugang zur Welt gesehen werden. In der Mimesis versuchen wir uns der Welt anzuähneln, uns ihr ähnlich zu machen. Dieser Prozess der Anähnelung mündet in Prozesse des Zeigens (so wie die Protagonistin in Langes Kindheitsheften sich selbst in bestimmten Körperhaltungen die Profile anderer Menschen zeigt). Das Zeigen wiederum ist der Ausgangspunkt für analoges Denken, das Ähnlichkeiten bewusst zu erfassen versucht. Mimetisches Verstehen, Zeigen und analoges Denken können also als Glieder in einem Prozess betrachtet werden, der die Welt über die Idee der Ähnlichkeit zu erfassen versucht.

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Metaphorische Erkenntnis

Im Nachdenken über das Phänomen der Ähnlichkeit und über die Rolle, die das Erfassen bzw. Generieren von Ähnlichkeit im Wahrnehmen, Denken und Handeln spielt, stößt man natürlich auch auf die Metapher.64 Ursprünglich bezeichnet der Begriff der Metapher eine rhetorische Figur. Ein Vorstellungsinhalt wird – auf der Basis eines gemeinsamen Tertium comparationis (eines gemeinsamen Vergleichspunkts) – von einem ihm ursprünglich zugehörigen Bereich auf einen anderen Bereich übertragen. Die Formulierung „Stuhlbein“ beruht auf der Übertragung der Funktion des Tragens: vom menschlichen Bein auf das – auch in der Form ähnliche – Element des Stuhls. Es handelt sich hierbei um eine „verblasste Metapher“ – der Begriff „Stuhlbein“ ist in so hohem Maße konventionalisiert und selbstverständlicher Bestandteil des deutschen Sprachrepertoires, dass uns seine ursprüngliche Metaphorizität gar nicht mehr bewusst ist. Über die sprachliche Metapher kommt es zu einer gedanklichen Verknüpfung zwischen zwei Phänomenen, die ursprünglich nichts miteinander zu tun haben (der menschliche Körper und der Stuhl). In einem erweiterten Sinn können Metaphern jedoch auch als Denkfiguren verstanden werden. In ihrem Buch „Leben in Metaphern“65 haben Lakoff und Johnson auf überzeugende Weise dargelegt, wie sehr unser gesamtes Denken von zumeist unbewussten metaphorischen Vorstellungen geprägt ist. Eine besonders wichtige Rolle scheinen dabei räumliche Vorstellungen zu spielen: Wir bringen einem anderen etwas nahe, stehen auf Standpunkten, ziehen uns zurück, gehen auf andere zu, schieben Gedanken beiseite usw. usf.66 Die Metapher kann dabei weniger als Sprachfigur, sondern vielmehr als Denkfigur gesehen werden. Als erkenntnis­theoretische Figur geht sie jeder Art von Versprachlichung voraus. „Die Metapher ist primär eine Sache des Denkens und Handelns und erst sekundär eine sprachliche Angelegenheit“67 – so formulieren diesen Sachverhalt Lakoff und Johnson. „Die primäre Funktion der Metapher ist die, uns zu ermöglichen, daß wir eine Art der Erfahrung von einer anderen Art der Erfahrung her partiell verstehen.“68 Dabei sind wir nicht vorgängig auf die Verbalsprache angewiesen. Vielmehr beruht die Begriffsbildung selbst auf metaphorischen Fähigkeiten. Darauf hat Friedrich Nietzsche bereits 1873 in seiner Abhandlung „Über 64 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Idee der Metapher ist nachzulesen bei Brandstätter 2008, S. 24 ff. 65 Lakoff/Johnson 1998. 66 Beispiele aus dem Vorwort Lakoff/Johnson 1998, S. 7. 67 A. a. O., S. 177. 68 Ebda.

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Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ verwiesen. Er bezeichnet darin die Metapher als „Fundamentaltrieb“.69 Der Metaphorisierungsprozess stellt sich für ihn folgendermaßen dar: „Ein Nervenreiz […] übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher.“70 Von Interesse ist, dass Nietzsche bereits die Wahrnehmung als Form der bildlichen Übertragung und damit als metaphorischen Prozess charakterisiert. Dies erinnert daran, dass bereits die Sinnesorgane als primäre Medien bezeichnet werden können, in denen eine medienspezifische Umwandlung der Wirklichkeit stattfindet. Auch wenn man den Begriff des Metaphorischen – wie soeben geschehen – sehr erweitert, indem man das Metaphorische nicht nur als Denkfigur, sondern geradezu als Basisfigur des wahrnehmenden Umgangs des Menschen mit der Welt charakterisiert, so kann man doch grundsätzlich zwischen jenen Metaphern unterscheiden, die in selbstverständlichen konventionalisierten Bahnen ablaufen und jenen, die als „lebendige“ Metaphern uns neue, da ungewohnte Perspektiven auf die Welt ermöglichen. Im Folgenden soll es vor allem um jene Potenz des Metaphorischen gehen, uns neue Aspekte der Wirklichkeit zu erschließen. In diesem Zusammenhang kommt der Kunst eine besondere Rolle zu. Der Kunsttheoretiker Arthur C. Danto verweist auf den metaphorischen Charakter von Kunstwerken. Er stellt fest, dass „die Struktur der Kunstwerke die Struktur der Metapher ist oder ihr sehr nahe kommt.“71 Vergleichbar stellt auch Gottfried Boehm die These auf, dass „die Metapher das strukturelle Muster von Bildlichkeit“ darstellt.72 Und auch Stefan Majetschak spricht von „sichtbaren Metaphern“, um das Wesen von Bildern deutlich zu machen.73 Die metaphorische Struktur von Kunstwerken kann auf mehrfache Weise verstanden werden. Zunächst kann – aus zeichentheoretischer Perspektive – die Art und Weise, wie Kunstwerke auf die Wirklichkeit Bezug nehmen, als metaphorische charakterisiert werden. Indem Kunstwerke Aspekte der Wirklichkeit mit den ihrem Medium jeweils zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zeigen, nehmen sie auf die Wirklichkeit auf der Basis von Ähnlichkeitsbeziehungen Bezug: Bilder zeigen die visuelle und nicht-visuelle Wirklichkeit, selbst dort wo sie auf gegenständliche Darstellungen verzichten; Musik zeigt

69 70 71 72 73

Friedrich Nietzsche 1980b, S. 887. A. a. O., S. 879. Danto 1999, S. 264. Boehm 1994, S. 28. Majetschak, Stefan: Sichtbare Metaphern. Bemerkungen zur Bildlichkeit von Metaphern und zur Metaphorizät in Bildern. In: Hoppe-Sailer/Volkenandt/Winter 2005, S. 233– 254.

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Spannungsverläufe und Entwicklungen; Literatur zeigt fiktive und nichtfiktive Wirklichkeiten. Das Zeigen allein aber begründet noch keine metaphorische Beziehung. Das Metaphorische beginnt dort, wo die „buchstäbliche Bedeutung“ des Gezeigten transzendiert wird, wo also der gezeigte Apfel noch mehr bedeutet als sich selbst, wo er etwa als Symbol der Verführung oder der Fruchtbarkeit gelesen werden kann. Oder wo eine musikalische Gestalt – etwa in einer Arie von Mozart – im Zusammenhang mit einer psychologischen Entwicklung gehört werden kann. 74 Kunstwerke können in diesem Sinn die Konstruktion metaphorischer Bedeutungen anregen – das heißt: der Rezipient ist aufgefordert, das was er sieht, hört oder liest, in ein Netz von Gedanken und Erfahrungen zu integrieren und damit der von Lakoff und Johnson angesprochenen „primären Funktion“ von Metaphern gerecht zu werden, nämlich „uns zu ermöglichen, daß wir eine Art der Erfahrung von einer anderen Art der Erfahrung her partiell verstehen.“75 Der metaphorische Charakter von Kunstwerken erfüllt sich aber auch noch auf einer anderen Ebene. Er betrifft auch die interne Organisation von Kunstwerken. Wenn Artur C. Danto von der metaphorischen Struktur von Kunstwerken spricht, so meint er damit auch den Umstand, dass wir den Gehalt eines Kunstwerkes, seine „aboutness“76, immer in Beziehung zu den kunstinternen Darstellungs­relationen setzen, dass wir also zwischen der Darstellungsform und dem Darstellungsinhalt metaphorische Ähnlichkeiten aufspüren. Die Übereinstimmung von Inhalt und Form, wie sie für Kunstwerke immer wieder proklamiert wird, hat etwas mit der Zeigefunktion zu tun. Wie bereits mehrfach betont wurde, spielt die zeigende Zeichenfunktion in ästhetischen Produkten eine hervorgehobene Rolle: Kunstwerke zeigen, was sie vermitteln. Dafür aber müssen sie Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen dem Zeigenden und dem Gezeigten aufbauen: Form und Inhalt werden in Übereinstimmung gebracht. Dabei gilt für viele Kunstwerke, dass auch innerhalb der Ebene der Signifikanten Analogien eine große Rolle spielen: etwa wenn im Bereich der Musik der Spannungsaufbau sowohl mit rhythmischen, harmonischen und melodischen Mitteln erzeugt wird. Für den Rezipienten von Kunst bedeutet dies, dass er diese Übereinstimmungen ergründen muss, um in den Genuss und zur Erkenntnis des Kunstwerks zu kommen. Metaphorische Erkenntnis bedeutet, dass in der Auseinandersetzung mit konkret-sinnlichem Material Ketten von Bedeutungen generiert werden, die 74 Genaue Ausführungen zum metaphorischen Charakter der Kunst und zur metaphorischen Erkenntnis durch Kunst bei Brandstätter 2008, S. 24–38. 75 Lakoff/Johnson 1998, S. 177. 76 Danto 1999, S. 135.

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über Ähnlichkeiten miteinander verknüpft sind: Ähnlichkeiten zwischen Form und Inhalt, zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen verschiedenen Parametern von Zeichen, zwischen verschiedenen Deutungs- und Bedeutungsebenen von Phänomenen. Metaphorische Erkenntnis versteht sich grundsätzlich als eine offene Erkenntnisform, da Ähnlichkeiten immer wieder neu entdeckt und konstruiert werden können. Metaphorische Erkenntnis gibt es natürlich auch unabhängig von Kunstwerken – freilich weisen Kunstwerke Eigenschaften auf, die sie für diese Art der Erkenntnis in besonderer Weise prädestinieren. An dieser Stelle schließt sich der Kreis der Überlegungen, die im Kern alle um das Phänomen der Ähnlichkeit kreisen. Im mimetischen Zugang zur Welt erschließen wir uns diese, indem wir uns ihr ähnlich machen; im Zeigen bringen wir das mimetisch Erschlossene zur Darstellung und zum Ausdruck; das analoge Denken erweist sich als adäquate Denkform, um die Bedeutung der mimetischen Welten, in denen wir leben, zu erfassen; und die metaphorische Erkenntnis schließlich stellt sich als „Aha-Erlebnis“ ein, das den unaufhörlichen Kreislauf des Mimetischen, des Zeigens und der Analogiebildung immer wieder neu in Gang setzt. In diesem Kreislauf ändert sich die Rolle des Körperlich-Sinnlichen: Während in der Mimesis der Körper eine zentrale Rolle spielt – Mimesis vollzieht sich primär im Körper –, verweist der Begriff der Metapher primär auf einen kognitiven Mechanismus, in dem Beziehungen zwischen Phänomenen hergestellt werden. Mimetisches Verstehen und metaphorisches Erkennen sind jedoch in einem unauflöslichen Prozess aufeinander verwiesen und miteinander verbunden.

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3.  Denken in offenen Netzen Klaus Huber: Tenebrae für großes Orchester, Form- und Tempoplan, 1966–67 Die Entwicklung der Notenschrift als Form der Visualisierung klanglicher Phänomene spielte in der Geschichte der abendländischen Kunstmusik eine wichtige Rolle. Sie bedingte den Übergang von der Mündlichkeit der Tradierung zur Schriftlichkeit und bildete damit die Grundlage dafür, dass Musik unabhängig von ihrem „Erfinder“ oder einzigen Interpreten weitergegeben und wiederholbar gemacht werden konnte. Die Notation erfüllt aber auch im Prozess des Komponierens und damit des musikalischen Denkens wichtige Funktionen. Mit Hilfe von Notationen werden nicht nur musikalische Gedanken abgebildet und festgehalten, sondern vielfach werden diese Gedanken erst Hand in Hand mit den schriftlichen Notaten entwickelt. Dass im Prozess der Visualisierung von Musik Entwickeln und Darstellen musikalischer Gedanken möglicherweise unauflösbar miteinander verbunden sind, darauf verweisen die vielen Skizzen, die in den Nachlässen von Komponisten zu finden sind. Das hier ausgewählte Beispiel einer kompositorischen Skizze des Komponisten Klaus Huber zeigt, wie musikalisches Denken, von dem man glauben könnte, dass es sich vor allem medienintern in musikalischen Vorstellungen vollzieht, von visuellen und verbalen Vorstellungen begleitet und auch angeregt sein kann. Klaus Huber entwirft hier ein Gesamtbild der Komposition, noch bevor die einzelnen Teile musikalisch ausgearbeitet werden. Thematisch geht es in diesem Stück um jene Stelle im Rahmen der Passionsgeschichte, als plötzlich, während Christus am Kreuz hängt, Dunkelheit einbricht. Der Komponist bereitet den konkreten musikalischen Kompositionsprozess in Form zahlreicher Begleitskizzen vor, indem er Bibelstellen, Zitate aus der Literatur und andere Assoziationen zum Begriff der Dunkelheit zusammenstellt.77 Die hier vorliegende Skizze erlaubt den Blick auf den geplanten Gesamtablauf des Stückes. In der Simultaneität der visuellen Wahrnehmung wird die Makrostruktur der Musik deutlich: die dreiteilige Anlage, wobei der Mittelteil jeweils zu Beginn und am Ende von einem „düsteren Einbruch“ gerahmt ist. Auffallend ist die Mischung aus bildlichen und verbalen Elementen. Musikalische Begriffe wie „accelerando“, „ritardando“, „ruhiger Tactus“ etc. verweisen auf übergeord-

77 Vgl. hierzu Zimmermann 2008, S. 200.

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nete Bewegungsverläufe, ebenso wie die Begriffe „statisch“, „ruhig“, „eilig“, „flüchtig“ etc. auf verschiedene Bewegungsmuster Bezug nehmen. Darüber hinaus tauchen einige Substantiva wie „Kraft“, „Gewalt“, „Tumult“, „Chaos“ auf – sie stehen für den Ausdrucksgehalt der geplanten Musik. Zuletzt gibt es auch visuelle Zeichen, die – etwa wie die zahlreichen auf dem Plan verteilten Kreuze – eine konkrete Bedeutung haben oder die – wie die graphischen Kreisformen im letzten Abschnitt – mehrdeutig als verfinsterte Sonnen oder als Monde interpretiert werden können. Am Beginn des Kompositionsprozesses steht also ein visuell gefasster Gesamtplan, der das Ineinander von sprachlichen, bildnerischen und musikalischen Gedanken ermöglicht. Erst im Prozess der Umsetzung des Konzeptes in die musikalische Partitur werden die sprachlichen und bildnerischen Ideen musikalisch überformt.

Intermedialitäten

In den vorangegangenen Überlegungen zum Denken ohne Sprache wurden – gewissermaßen idealtypisch – verschiedene zeichen- und medienspezifische Logiken des Denkens herausgearbeitet. Das analoge Denken wurde vom diskursiven Denken abgegrenzt, das Zeigen vom Sagen, die visuelle Logik von der musikalischen Logik. Der Versuch, verschiedene Weisen des Denkens voneinander zu unterscheiden, verfolgte das Ziel, den Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten des Denkens zu erweitern. Es ist nun an der Zeit, die verschiedenen Denkformen wieder zusammen zu führen, denn tatsächlich handelt es sich bei den hier dargestellten Denkweisen um gedankliche Konstruktionen, die in der Praxis des Denkens kaum je in ihrer idealtypischen Reinform vorkommen. Vielmehr ist unser Denken dadurch gekennzeichnet, dass sich die verschiedenen Denkformen miteinander mischen und einander durchkreuzen – wie auch das Beispiel über bildliche Aspekte des musikalischen Denkens demonstrieren sollte. Die intermodale Verfasstheit unseres Umgangs mit der Welt zeigt sich bereits auf der Ebene der Wahrnehmung. In jedem Augenblick strömen multimodale Reize aus der Umwelt auf uns ein, die von unseren Sinnesorganen parallel verarbeitet und miteinander verknüpft werden. Auch wenn wir die Aufmerksamkeit auf bestimmte, etwa visuelle Aspekte der Wirklichkeit legen, so leitet unser Wahrnehmungssystem – es arbeitet in weiten Teilen unbewusst und automatisiert – gleichzeitig auch akustische, olfaktorische und kinästhetische Informationen weiter: Informationen aus allen Sinnesbereichen werden in den multimodalen Arealen des Cortex zu einer Gesamtwahrnehmung zusammengeführt.

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Klaus Huber: Tenebrae für großes Orchester, Form- und Tempoplan, 1966–67

Die intermediale Verfasstheit der Wahrnehmung spiegelt sich auf weiteren Ebenen ihrer Verarbeitung. So lautet der zweite Hauptsatz der Medientheorie McLuhans, dass der Inhalt von Medien immer andere Medien sind.78 Medien verweisen also nicht nur auf „externe“ Wirklichkeiten, sondern immer auch auf andere mediale Verarbeitungen der Wirklichkeit. Diesen Gedanken hat – aus anderer, zeichentheoretischer Perspektive – auch Ferdinand Saussure angesprochen, wenn er von der „Zirkulation der Zeichen“79 spricht und damit deutlich machen wollte, dass Zeichen in einem Prozess des ständigen Austausches aufeinander bezogen sind. Im Zuge der Entwicklung der Zeichentheorie im 20. Jahrhundert, wurden die Zeichen von ihrer Aufgabe befreit, auf eine – letztlich nicht fassbare – ontologische Wirklichkeit Bezug zu nehmen. An die Stelle der Bezugnahme auf externe Wirklichkeiten tritt die Bezugnahme der Zeichen aufeinander. Dabei entsteht gewissermaßen ein unendliches Gewebe von aufeinander bezogenen Zeichen. Die wechselseitigen Verweise und Bezüge beschränken sich natürlich nicht nur auf ein Medium oder einen Zeichentypus. In unauflösbaren „Signifikantenketten“ werden unterschiedlichste Zeichen und auch Zeichenfunktionen miteinander verknüpft. Um die Bedeutung, die dieser Prozess der Rückkoppelung der Medien für das Denken und Erkennen hat, zu charakterisieren, spricht Dieter Mersch von der „epistemologischen Intermedialität“.80 Die grundsätzliche Intermedialität des Denkens führt zu einer Verschränkung der Zeichenfunktionen. Waren in einem ersten Schritt Zeigen und Sa 78 McLuhan 1970, S. 25. 79 Saussure 1997, S. 417 ff. Hier zitiert nach Mersch 2002, S. 109. 80 Mersch 2006, S. 117.

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gen als zwei grundsätzlich verschiedene Weisen einer zeichenorientierten Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit beschrieben worden, so geht es nun – in einem zweiten Schritt – darum, die beiden Möglichkeiten wieder zusammenzuführen. Auch wenn man die Zeige- und die Sagefunktion bestimmten Medien zuordnen kann (das Sagen der Sprache, das Zeigen dem Bild), so muss man doch viele Misch- und Übergangsformen im Blick behalten, in denen das Zeigen im Sagen bzw. das Sagen im Zeigen verwirklicht wird. Schon Herder hat in seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“81 auf den mimetischen Ursprung der Sprache verwiesen, also darauf, dass Sprache über Lautgesten und Ausdrucksgebärden aus einem Prozess der Anähnelung an die Wirklichkeit entstanden ist. Diese Idee einer mimetischen Sprache wurde – wie bereits erwähnt – von Walter Benjamin weiter entwickelt. Er charakterisiert die Sprache als „Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit“, die aus einem mimetischen Weltzugang heraus entstanden ist. Der mimetische Ursprung der Sprache wird auch deutlich, wenn man sich die vielen Bilder vor Augen führt, die unser Sprechen prägen. Man erinnere sich an die Metapherntheorie von Lakoff und Johnson, die auf den durchgängig bildlichen Charakter unseres Denkens hingewiesen haben. So wie die diskursive Sprache also von Mimetischem und Bildlichem durchsetzt ist, so kann man umgekehrt auch im Bildlichen Diskursives feststellen. Der Begriff des Bildes umfasst eine Vielfalt von visuellen Phänomenen, zu denen neben dem „klassischen Bildtypus“ auch visuelle Zeichen wie Karten und Diagramme gehören. Führt man sich etwa eine Landkarte vor Augen, so 81 Herder 1772/2001.

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wird deutlich, dass in der Art der Visualisierung einer Landschaft, präsentative und diskursive Zeichen miteinander verschränkt sind. Eine typische Hybridbildung82 ist das Schriftbild.83 Die Schriftzeichen stehen für Lautzeichen und sind somit Teil des diskursiven Systems der Sprache. Gleichzeitig können sie aber als visuelle Zeichen auch bildhaft gelesen werden. Dieses Doppelgesicht der Schriftzeichen hat sich die Visuelle Poesie zunutze gemacht: Sie verwendet Sprache als visuelles, bildhaftes und als diskursives Material. Aber auch jede Verschriftlichung eines Textes enthält visuelle Anteile, die bildlich gelesen werden können: etwa die Gliederung von Gedanken in räumlich voneinander getrennten Absätzen oder in größenmäßig voneinander abgesetzten Schriften.84 Die Grenzen zwischen Zeigen und Sagen scheinen sich vollends aufzulösen, wenn wir uns Computerbilder vor Augen führen.85 Auf dem Bildschirm erscheinen sie uns als piktoriale Zeichen, die wir bildhaft verstehen, gleichzeitig wissen wir, dass es sich um „geschriebene“ Bilder handelt, die auf der Übersetzung der Bilder in einen digitalen Code beruhen. Simone Mahrenholz86 hat darauf hingewiesen, dass sich die Unterschiede zwischen den beiden Zeichentypen des Analogen und des Digitalen weniger am Zeichen selbst festmachen lassen, sondern dass es sich um verschiedene Lesarten der Zeichen handelt. So kann man z. B. ein analoges Thermometer durchaus „digital“ lesen, indem man eine Temperaturskala anlegt, so wie umgekehrt die digitalen Pixelbilder im Computer analog gelesen werden können. Ein anderes Beispiel stellt die Lektüre eines Gedichtes dar: Zuerst müssen die Begriffe digital entschlüsselt werden, dann können darauf aufbauend die sprachlichen Bilder verstanden werden. Für Simone Mahrenholz stellen das Zeigen und das Sagen zwei komplementäre Weisen der zeichenhaften Auseinandersetzung mit der Welt dar. Auch wenn Sagen und Zeigen oft miteinander kombiniert werden, so gibt es doch keine fließenden Übergänge, 82 Basierend auf dem griechischen Wort „hybrida“, bedeutet der Ausdruck Hybrid etwas „Gebündeltes, Gekreuztes oder Gemischtes“; er bezeichnet also Phänomene, die durch eine Mischung der Medien (oder in einem erweiterten Sinn auch der künstlerischen oder wissenschaftlichen Disziplinen) gekennzeichnet sind. 83 In ihrem Sammelband „Grenzfälle. Transformationen von Bild, Schrift und Zahl“ geht es den beiden Herausgebern P. Schneider und M. Wedell vor allem um die These, dass bereits die Basismedien Bild, Schrift und Zahl als Hybridbildungen verstanden werden müssen, dass sie also nicht streng voneinander getrennt werden können, sondern dass es eine Vielzahl an Übergängen und Mischformen gibt. Schneider/Wedell 2004. 84 Vgl. Kogge 2004. 85 Vgl. Grube 2004. 86 Mahrenholz 2003.

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die grundsätzlichen Grenzen bleiben bestehen.87 Diese Frage, wie diese beiden Zeichenmodi miteinander agieren, ob sie komplementär nebeneinander bestehen (wie dies Mahrenholz postuliert) oder ob sie aufeinander Einfluss nehmen, wird uns in einem späteren Kapitel, das sich explizit dem Phänomen der Transformation widmet, noch beschäftigen. Freiräume des Denkens

Nachdem nun gezeigt wurde, dass das Denken sich weder auf die Verwendung eines Mediums noch auf eine Zeichenfunktion beschränken lässt, erscheint es wichtig, den Begriff des Denkens selbst zu öffnen. Sehr oft wird der Denk­ akt als ein linearer, quasi „erfolgsorientierter“ Prozess verstanden, an dessem Anfang eine Frage steht und am Ende eine Antwort. Dass man den Prozess des Denkens aber auch ganz anders sehen kann, zeigt die Unterscheidung, die der amerikanische Intelligenzforscher Joy Paul Guilford traf: Er prägte das Begriffspaar „konvergentes“ und „divergentes Denken“, um damit zwei grundsätzlich verschiedene Weisens des Denkens ins Bewusstsein zu rücken.88 Während konvergentes Denken bemüht ist, eindeutige und wahre Antworten auf Fragen zu bekommen und vor allem schlussfolgernde Arten des Denkens – durchaus im Sinne der klassischen Logik – favorisiert, ist divergentes Denken vorrangig an der Entwicklung von Fragen und in der Folge an einer Vielzahl möglicher Antworten anstelle der einen richtigen Antwort interessiert. Wer nach Erkenntnis sucht, ist auf beide Arten des Denkens angewiesen. Das Wechselspiel zwischen verschiedenen, aufeinander bezogenen Denkformen scheint der Kreativität neuer Erkenntnisse zugrunde zu liegen. Das Zusammenwirken verschiedenen Denkformen wurde bereits im Abschnitt über verschiedene Logiken des Denkens kurz angesprochen. So weist der Wissenschaftstheoretiker Hans-Jörg Rheinberger – unter Bezugnahme auf die Epistemologie Gaston Bachelards – darauf hin, dass die von Claude LéviStrauss so benannten Denkformen des konkreten und des abstrakten Denkens keineswegs im Sinne eines Fortschrittsmodells des Denkens verstanden werden sollten. Das konkrete Denken ist eben nicht als überwundene Vor 87 Mahrenholz 2003, S. 87 f. 88 Eine genauere Auseinandersetzung mit dem Begriffspaar des divergenten und konvergenten Denkens ist nachzulesen bei Brandstätter 2008, S.  103 f. Zur Anwendung der Gegenüberstellung in pädagogischen Zusammenhang: Malmberg 2009.

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stufe des wissenschaftlich-abstrakten Denkens zu verstehen, vielmehr hat das konkrete Denken „im Zentrum des wissenschaftlichen Forschungsprozesses selbst seinen unhintergehbaren Platz“.89 Ähnlich weist auch Andreas Kamlah darauf hin, dass die von ihm postulierten Formen des Denkens (das direktanschauliche, das indirekt-anschauliche und das symbolische) nicht als aufeinander aufbauende und einander ablösende Denkweisen zu sehen sind, sondern dass sie in vielfältigen Verbindungen einander wechselseitig beeinflussen und durchdringen. Von diesem Wechselspiel sind natürlich genauso Formen des analogen bzw. analogischen und des kausalen bzw. logischen Denken betroffen. Wir denken nicht in genau definierten Systemen mit fest umrissenen Grenzen (es sei denn, wir verpflichten uns einem mathematischen Denken oder einem Denken etwa auf Basis der Begriffschrift von Frege). Der Denkprozess kann vielmehr mit einem Netz verglichen werden, in dem zwischen verschiedensten Fäden (Medien, Zeichenfunktionen, Denkformen) Knoten geknüpft werden. So stellt z. B. der soeben eingeführte Vergleich des Netzes eine Möglichkeit dar, die diskursive Sprache im Rahmen eines sich logisch entwickelnden Denkens mit Hilfe eines sprachlichen Bildes in Richtung des analogen Denkens zu erweitern. Um die einseitige Vorstellung eines linearen, zielgerichteten Denkens aufzubrechen, hat Michel Serres den Begriff des Denkens in offenen „tabulatorischen Netzen“90 geprägt. Damit meint er eine Art des Denkens, in dem es eine Vielfalt von gedanklichen Verknüpfungen und auch zufällige Verbindungen gibt. Denken in tabulatorischen Netzen gibt Raum für nicht-logische Operationen wie Analogien und Widersprüche, die nicht aufgelöst werden müssen. Im Sinne eines unendlichen Prozesses gibt es weder einen klar definierten Anfangs- noch einen endgültigen Schlusspunkt des Denkens. Neben der hier postulierten grundsätzlichen Offenheit des Denkens wurden mehrfach auch die „Ungenauigkeiten“ des Denkens und ihr kreatives Potenzial in den Blick gerückt. So prägt Hans Lenk in seinem Versuch, eine „fraktale Theorie des Denkens“ zu entwickeln, den Begriff der „unscharfen Logik“ und bezieht sich dabei auf die „Fuzzy-Logik“ Mac Cormacs.91 Max Delbrück spricht vom „Prinzip der gemäßigten Schlampigkeit, das Entdeckungen ermöglicht.“92 Durch diese Art des Denkens soll die Aufmerksamkeit auf jene Bereiche gelenkt werden, die am Rande oder gar außerhalb des erwarteten Diskurses liegen. Auch für den französischen Philosophen Paul Souriau spielt

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Rheinberger 2005, S. 102. Serres 1991, S. 12 ff. Lenk 2009, S. 114. Delbrück zitiert nach Rheinberger 2005, S. 66.

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das „Wegdenken“ eine wichtige Rolle bei der Entwicklung neuer Ideen und Gedanken: „Pour inventer il faut penser à côté“. In eine ähnliche Richtung verweist schließlich auch das Bild der „unscharfen Ränder“, das Jacques Derrida prägte, um die Abwesenheit der Absicht, das nicht-intentionale Umherirren, die „blinde Taktik“ zu charakterisieren, die für die Entwicklung neuer Gedanken so wichtig ist.93 Daneben denken, schlampig denken, an den unscharfen Rändern denken – all diese Denkweisen eröffnen neue Denkräume abseits der fest umrissenen Grenzen des konventionalisierten Denkens. Der Weg unseres Denkens hat uns von der Mediengebundenheit des Denkens über verschiedene mögliche Logiken des Denkens (wobei auf die Idee der Ähnlichkeit ein besonderes Augenmerk gelenkt wurde) bis zum Bild des ­Denkens in offenen Netzen geführt. Um zu verstehen, welche „Fäden“ in Denk­netzen miteinander verknüpft werden können, war es notwendig, einzelne Möglichkeiten des Denkens (Medien, Zeichenfunktionen, Logiken) zunächst isoliert voneinander genauer zu analysieren. Die Komplexität des Denkens erfassen wir allerdings erst dann, wenn wir all die bewussten und unbewussten Stränge des Denkens in Betracht ziehen: das Bild des Netzes müsste dann möglicherweise zum mehrdimensionalen Bild eines Rhizoms erweitert werden, das sich in viele Richtungen gleichzeitig und weitgehend unkontrolliert entfaltet.94

93 Vgl. hierzu Huber 2009, S. 73. 94 Zur Idee des Rhizoms siehe auch: Deleuze/Guattari 1992.

II.  Kunst und Erkenntnis In der Geschichte der Ästhetik 1.  Kunst und Erkenntnis in der Geschichte der Ästhetik1 Baumgarten und die „sinnliche Erkenntnis“

Die Frage, ob und inwiefern Kunst erkenntnisfähig ist, das heißt: ob und inwiefern die Beschäftigung mit Kunst zu Erkenntnisgewinn führen kann, wurde durch die 1750 erschienene „Aesthetica“ von Alexander Gottlieb Baumgarten2 auf eine neue theoretische Basis gestellt. Im ersten Paragraphen der „Aesthetica“ schreibt Baumgarten: „Die Ästhetik (als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.“3 Kunst wird hier als das der Vernunft analoge Denken charakterisiert, das zu sinnlicher Erkenntnis führt: Baumgarten etabliert Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis. Ausgangspunkt für seine Überlegungen ist die Kritik an der Abstraktheit der begrifflich fixierten Rationalität. Die „ubertas sensitiva“ – der unübersehbare Reichtum individueller sinnlicher Erscheinungen – geht durch den abstrahierenden, vereinheitlichenden Charakter der Begriffe verloren.4 Demgegenüber betont er die Möglichkeiten der sinnlichen Erkenntnis, die nicht auf abstrakten Begriffen beruht, sondern vielmehr auf Gestalten sinnlicher Vergegenwärtigung, in denen der individuelle Körperbezug erhalten bleibt. In gewisser Weise kann bereits die sinnliche Wahrnehmung als Prozess einer sinnlichen Erkenntnis charakterisiert werden.5 Baumgarten unterscheidet zwei grundlegende Erkenntnis stiftende Vermögen: den „Geist“ als „Fertigkeit, die Übereinstimmung weit auseinander liegender oder sehr verschiedener Dinge zu erfassen“ (Baumgarten § 572), sowie den „Scharfsinn“ als „Fertigkeit, die Verschiedenheiten“ scheinbar ähnlicher Dinge zu sehen (Baumgarten § 573).6 Die Erkenntnis von Gleichem, 1 Einen guten, detaillierten Überblick über diese Thematik gibt Majetschak 2007. Die folgenden Überlegungen stützen sich zum Teil auf diese Publikation. 2 Baumgarten 1750/1983. 3 A. a. O., S. 3. 4 Vgl. hierzu auch Schmitt 2004. 5 Näheres dazu bei Brandstätter 2008, S. 35 ff. 6 Vgl. hierzu Majetschak 2007, S. 26.

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Ähnlichem und Verschiedenem war bereits an anderer Stelle7 als grundlegende Fähigkeiten des Menschen charakterisiert worden. Während die begriffliche Erkenntnis – mit Hilfe der identifizierenden Begriffe – das „Gleiche“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, fokussiert die sinnliche Erkenntnis die unendliche Vielfalt und „Verschiedenheit“ der sinnlich gegebenen Welt. Die „ästhetische Denkart“ (Baumgarten § 569), die bereits der Wahrnehmung unserer Welt durch die Sinne zugrunde liegt, aber natürlich nochmals in der auf Sinnlichkeit beruhenden Wahrnehmung von und durch Kunst weiter entwickelt wird, setzt dort an, wo „die logische Denkart aufhört“ (Baumgarten § 569). Sowohl das logisch-begriffliche Denken als auch das sinnlich-ästhetische Denken (Baumgarten spricht vom „schönen Denken“) zielen auf die Erkenntnis von Wahrheit. Beide Denkweisen stehen nicht in einem Gegensatz zueinander, sondern sie ergänzen sich wechselseitig. Ästhetisches Denken und seine materielle Verwirklichung in Kunstwerken stellt uns Aspekte der Wirklichkeit vor Augen, die „unterhalb der Schwelle dessen liegen, was ein Begriff logisch unterscheiden kann.“8 Mit Hilfe von Kunst können wir also Aspekte der Welt erkennen, für die es keine Begriffe gibt, für die wir also ohne Kunst kein Bewusstsein hätten. Kant und die „ästhetische Urteilskraft“

Als weiterer wichtiger Theoretiker, der sich mit der Frage nach den Erkenntnismöglichkeiten von Kunst beschäftigt hat, muss natürlich Immanuel Kant angeführt werden. In seiner 1790 erschienenen „Kritik der Urteilskraft“9 untersucht er einerseits die Struktur ästhetischer Erfahrung, andererseits die Logik ästhetischer Beurteilung. Die menschliche Urteilskraft nimmt innerhalb der Erkenntnisvermögen eine mittlere Stellung ein: sie vermittelt zwischen Vernunft und Verstand. Während die reine Vernunft von a priori gegebenen Kategorien der Erkenntnis geleitet und die praktische Vernunft vom kategorischen Imperativ als leitendem Prinzip bestimmt ist, orientiert sich die Urteilskraft am „Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit.“10 Hier taucht also wieder die Idee der Mannigfaltigkeit auf, die der ästhetischen Erkenntnis zugänglich ist, indem sie auf ihre „Zweckmäßigkeit“ hin befragt wird.

7 8 9 10

Vgl. Kapitel Denken und Erkennen. Majetschak 2007, S. 35 f. Kant 1790/1968. A. a. O., S. 180. Vgl. auch Majetschak 2007, S. 44 ff.

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Kant charakterisiert die ästhetische Urteilskraft als Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand, und zwar im „Zustand“ ihres „freien“, das heißt noch nicht durch fest definierte Begriffe auf bestimmte Formen eingeschränkten „Spiels“.11 Sie ist mit den Gefühlen von Lust und Unlust gekoppelt, wird sinnlich empfunden und bleibt in gewisser Weise an das Subjekt des Urteilenden gebunden. Charakteristisch ist ihr „vorbegrifflicher Status“ – ästhetische Erkenntnis basiert auf formal-anschaulichen Kategorien, die nicht unbedingt der Begriffe bedürfen. Die Frage nach der Rolle, die sprachliche Begriffe bei der ästhetischen Erkenntnis spielen, zieht sich wie ein roter Faden durch den ästhetischen Diskurs seit Baumgarten. In diesem Zusammenhang unterscheidet Kant zwischen „ästhetischen Ideen“ und „Vernunftideen“. Eine ästhetische Idee steht für eine „Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann.“12 Während die ästhetische Idee als „Vorstellung der Einbildungskraft“ durch keinen bestimmten Begriff adäquat erfasst werden kann, ist die Vernunftidee dadurch gekennzeichnet, dass ihr keine konkrete Anschauung entspricht. Die Anschauung entzieht sich also in ihrem unerschöpflichen Reichtum dem definierenden Begriff, und umgekehrt entzieht sich der Begriff in seiner Allgemeinheit der Konkretheit einer einzelnen Anschauung. Hegel und das „sinnliche Scheinen der Idee“

Um das schwierige Verhältnis zwischen Kunst und Erkenntnis zu fassen, versuchte Baumgarten – der als Begründer der wissenschaftlichen Disziplin der Ästhetik gilt – die Ästhetik als Theorie der sinnlichen Erkenntnis zu etablieren, Kant entwarf eine Theorie der ästhetischen Urteilskraft, der er eine Mittelstellung zwischen der theoretischen und der praktischen Erkenntnis einräumte. Hegels Anliegen schließlich war es, eine Philosophie der Kunst zu entwickeln, in der er das Verhältnis der Kunst zur Wahrheit und ihr Verhältnis zur Philosophie entfaltete. In seinen 1835 posthum veröffentlichten „Vorlesungen über die Ästhetik“13 charakterisiert Hegel Schönheit als das „sinnliche Scheinen der Idee“.14 Damit ist das sinnliche Aufscheinen der Wahrheit gemeint: Die Wahrheit – als zentrales Thema von Erkenntnis – ist also über

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Kant 1790/1968, S. 217. Vgl. auch Majetschak 2007, S. 47. Kant 1790/1968, S. 314. Hegel 1835/1986. A. a. O., Bd.13, S. 151.

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die Schönheit der Kunst direkt zugänglich. Das Besondere an dieser Form der Erkenntnis besteht darin, dass sich im Schönen „Allgemeines und Besonderes, Mittel und Zweck, Begriff und Gegenstand vollkommen durchdringen.“15 In der Erkenntnis des Schönen wird die Trennung zwischen Begriff und Anschauung – von ihr war bereits mehrfach die Rede – aufgehoben. Indem Kunst beansprucht, das „Absolute darzustellen“16, stellt sie sich auf dieselbe Ebene wie Philosophie und Religion. Allerdings bleibt Kunst stets als Schein erkennbar, insofern sie auf ein Geistiges, das sie nicht selbst ist, verweist. „Der Schein der Kunst“ habe „den Vorzug, dass er selbst durch sich hindurchdeutet und auf ein Geistiges, welches durch ihn soll zur Vorstellung kommen, hinweist.“17 Diesem Gedanken, dass Kunst sich als Schein des Wahren bekennt, also durchaus ihren Scheincharakter deutlich macht, werden wir bei Friedrich Nietzsche wieder begegnen. In seinen Überlegungen zum Erkenntnischarakter und Erkenntniswert von Kunst räumt Hegel der Kunst zwar eine herausgehobene Rolle ein, allerdings nimmt sie in der Trias von Kunst, Religion und Philosophie die unterste Stufe ein. Durch ihre Beschränkung auf sinnlich-anschauliche Darstellungsformen sind ihre Möglichkeiten, nicht-anschauliche Ideen darzustellen, beschränkt. In dieser Hinsicht wird die Kunst von der Religion und der Philosophie überholt. Hegels berühmte These vom Ende der Kunst beruht auf genau dieser Einschätzung der Möglichkeiten der Kunst: „Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft.“18 Das Ende der Kunst bedeutet in Hegels Konzept keineswegs das Ende der künstlerischen Produktion, sondern es verweist darauf, dass sich im Zuge der historischen Entwicklung die Philosophie als adäquatere Form der Erkenntnis des Absoluten herauskristallisiert habe. Nietzsche und „die Wahrheit als Illusion“

Die Diskussion über den Erkenntnischarakter der Kunst erhielt wesentliche Impulse durch Friedrich Nietzsche. Er war es, der den Wahrheitsbegriff der Metaphysik grundsätzlich in Frage stellte und somit die Idee einer absoluten Wahrheit – als Ziel von Erkenntnis – aufgab. In seiner 1872 verfassten Abhandlung „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ schreibt

15 16 17 18

A. a. O., S. 88. A. a. O., S. 100. A. a. O., S. 23. A. a. O., S. 141.

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er: „Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie ­welche sind.“19 Und an anderer Stelle: „Nun vergisst freilich der Mensch, dass es so mit ihm steht; er lügt also in der bezeichneten Weise unbewusst und nach hundertjährigen Gewöhnungen – und kommt eben durch diese Unbewusstheit, eben durch das Vergessen zum Gefühl der Wahrheit.“20 Indem Nietzsche den metaphysischen Wahrheitsbegriff als sicheres und festes Fundament von Erkenntnis in Frage stellt bzw. aufgibt und Wahrheit als „Illusion“, „Lüge“ und vor allem als ein Ergebnis von „Gewöhnung“ charakterisiert, kommt er zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von wissenschaftlicher und ­künstlerischer Erkenntnis. Sowohl Wissenschaft wie auch Kunst müssen als schöpferische Prozesse verstanden werden, beide interpretieren die Welt, ohne sich dabei auf den sicheren Boden einer objektiv erkennbaren, metaphysisch begründeten Wahrheit beziehen zu können. „Sobald wir die absolute Wahrheit leugnen, müssen wir alles absolute Fordern aufgeben und uns auf ­aesthetische Urteile zurückziehen.“21 Hat Kant noch versucht, die ästhetischen Urteile als Sonderform der Erkenntnis von der theoretischen und praktischen Erkenntnis abzugrenzen, so erhebt Nietzsche das ästhetische Urteilen und Erkennen in den Rang einer „eigentlichen“ und grundlegenden Erkenntnis­weise. Was Nietzsche anstrebt, ist eine Wiederversöhnung von Wissenschaft und Kunst. Welche besondere Rolle Nietzsche der Kunst bei der Gewinnung von Erkenntnissen zuordnet, charakterisiert Roberto Barros in seinem Buch „Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche“ mit folgenden Worten: „das Wissen und die Wissenschaft“ brauchen „die Verschiedenheit, die die Kunst ermöglicht, weil deren Wert darin besteht, neue Betrachtungsweisen zu schaffen.“22 Die Aufgabe der Kunst ist es also, immer wieder neue Perspektiven der Erkenntnis einzubringen, um die Welt in ihrer Vielfalt und Dynamik – jenseits eines festen Wahrheitsbegriffs – zu erfassen. Nietzsche selbst schlägt ein „energetisches Modell“ vor, um die verschiedenen Funktionen, die Wissenschaft und Kunst erfüllen, zu charakterisieren. „Deshalb muss eine höhere Kultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden: nebeneinander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschließbar; es ist dies eine Forderung der Gesundheit. Im einen Bereich liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt

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Nietzsche 1980b, S. 880. A. a. O. S. 881. Colli / Montinari 1980, S. 471. Barros 2007, S. 41.

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werden, mit Hilfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen der Überheizung vorgebeugt werden.“23 In Nietzsches Verständnis verbindet Wissenschaft und Kunst die Tatsache, dass sich beide auf kein festes Fundament beziehen können, so dass also sowohl wissenschaftliche wie auch künstlerische Erkenntnis als konstruktive Interpretationsakte bestimmt werden müssen. Die besondere Leistung von durch Kunst angeregter Erkenntnis besteht eben darin, die Aufmerksamkeit auf ungewohnte und ungewöhnliche Perspektiven zu lenken. Darüber hinaus verfügt Kunst über ein energetisches Potenzial, das sie bewusst „Illusionen, Einseitigkeiten und Leidenschaften“ in den Prozess der Erkenntnis einbringen lässt. Die Wissenschaft wiederum muss die Einseitigkeiten und Leidenschaften bändigen und zügeln. Es ist das Zusammenwirken der verschiedenen Erkenntnisvermögen, das die menschlichen Erkenntniskräfte zur vollen Entfaltung bringt. Der Erkenntnischarakter von Kunst wird in der Folge von vielen Philosophen und Ästhetikern vertreten. Exemplarisch sei an dieser Stelle etwa Ernst Cassirer genannt, der Kunst ebenfalls als „eine besondere Art der Erkenntnis“24 charakterisiert. Cassirer vertritt eine erweiterte Erkenntnistheorie, in der Kunst und Philosophie wechselseitig aufeinander verwiesen sind. Kunst stellt für ihn eine eigenständige Form des Weltverstehens und Weltgestaltens dar, die vor allem „Energie für Verwandlungen“ bereit stellt.25 Dieses energetische Verständnis von Kunst erinnert an Nietzsches Modell der Doppelkammern. Auch Cassirer strebt ein Integrationsmodell an: ihm geht es um die Integration von Kunst und Philosophie. Laut Cassirer stellen Kunst und Philosophie zwei Deutungsperspektiven dar, die nicht unabhängig voneinander bestimmt werden können.26 Diesem Modell der wechselseitigen Durchdringung und Komplementarität werden wir im Abschnitt über Kunst und Wissenschaft wieder begegnen. Adorno und die „mimetische Rationalität“

Zuletzt muss an dieser Stelle noch jener Philosoph genannt werden, der mit seiner „Ästhetischen Theorie“ entscheidend zu einer Aufwertung des Erkenntnischarakters der Kunst beigetragen hat: Theodor W. Adorno. Adorno unter

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Nietzsche 1980a, S. 208 f. Cassirer 1990, S. 260. Vgl. hierzu Küker 2002, S. 14 ff. A. a. O., S. 154 f.

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scheidet zwei Arten der Rationalität: die diskursive und die mimetische Rationalität. Die Kunst verfügt über eine eigene Art der Rationalität, die auf dem Prinzip der Mimesis, also der Anähnelung beruht. Diese mimetische Rationalität verhält sich gegenüber der diskursiven, auf der Logik der Sprache beruhenden Rationalität komplementär und zugleich kritisch. Indem Kunst sich dem, was sie zeigt und damit zu erkennen gibt, angleicht, widersetzt sie sich dem definierenden Begriff. Wir befinden uns damit wieder mitten in der Diskussion um das Identische und das Nicht-Identische.27 Um der Gefahr des identifizierenden, alle Unterschiede einebnenden Begriffs zu entkommen, bedarf es einer anderen Art des erkennenden Umgangs mit der Welt, der die Differenzen nicht nur bestehen lässt, sondern darüber hinaus die Aufmerksamkeit gerade auf das Nicht-Identische lenkt. Der Kunst eröffnen sich besondere Möglichkeiten des „anderen Erfassens“ der Wirklichkeit. Ihr gelingt es, durch ein sich dem Nicht-Identischen anverwandelndes Verhalten Erkenntnisse über die Welt direkt in Erscheinung zu bringen. „Kunst komplettiert [begriffliche, Erg. d. Verf.] Erkenntnis um das von ihr Ausgeschlossene.“28 An die Stelle der propositionalen Logik tritt eine andere Art der Logik – nicht die Subsumtion unter Begriffe ist die Leitidee der mimetischen Rationalität, sondern die Welt wird mit Hilfe einer kunstspezifischen Logik, einer Logik der internen Konfiguration anverwandelt.29 Adorno spricht in diesem Zusammenhang von „Konsequenzlogik“ und „Konfigurationslogik“. Durch kunstinterne formale Stimmigkeit und Folgerichtigkeit erfolgt eine mimetische Annäherung an den Gegenstand der Erkenntnis. So wie bereits Cassirer sieht auch Adorno Kunst und Philosophie aufeinander bezogen. „Philosophie und Kunst konvergieren in deren Wahrheitsgehalt: die fortschreitend sich entfaltende Wahrheit des Kunstwerks ist keine andere als die des philosophischen Begriffs.“30 Der hier erfolgte, kurze Überblick über verschiedene Positionen im Laufe der etwa 250-jährigen Geschichte der Ästhetik als eigener Disziplin, zeigt, dass die Thematik Kunst und Erkenntnis ein zentrales Thema der ästhetischen Diskussion darstellt. Ich habe mich dabei auf die Darstellung jener Denkansätze und Theorien konzentriert, innerhalb derer der Kunst Erkenntnischarakter zuerkannt wird. Baumgarten war der erste, der von der „sinnlichen Erkenntnis“ als einer spezifischen, eigenständigen Erkenntnisform sprach. Ihm folgte Kant, der in seiner Theorie der „ästhetischen Urteilskraft“ die Besonderheiten des

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Vgl. Kapitel „Denken und Erkennen“, Abschnitt „Identisches versus Nicht-Identisches“. Adorno 1973, S. 87. Vgl. hierzu Majetschak 2007, S. 121 ff. Adorno 1973, S. 197.

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ästhetischen Denkens und Erkennens gegenüber dem von der Vernunft geleiteten Denken herausarbeitete. Dabei räumte er der ästhetischen Urteilskraft eine vermittelnde Position zwischen der theoretischen und der praktischen Erkenntnis ein. Hegel schließlich ordnete in seiner „Philosophie der schönen Kunst“ der Kunst ebenfalls Erkenntniswert zu, insofern sie das „sinnliche Scheinen der Idee“ und damit eine Darstellung des Absoluten ermögliche. Freilich wird Kunst in Hegels historischem Konzept von der Philosophie überholt, der er eine adäquatere Erkenntnis von Wahrheit zutraut. Bei Nietzsche schließlich gerät die Idee der Wahrheit – als Leitidee für Erkenntnis – grundsätzlich ins Schwanken. Er stellt das metaphysische Fundament der Erkenntnis in Frage und entlarvt die scheinbar objektive Erkenntnisleistung der Wissenschaft als konstruktive Interpretationsarbeit, als „Lüge“ und „Illusion“. Kunst und Wissenschaft nähern sich einander an, da beide als Formen der Weltinterpretation begriffen werden müssen – ohne Bezugnahme auf eine feste und objektive Wahrheit. Dabei bleibt ihre Unterschiedlichkeit jedoch erhalten, die sie als wechselseitiges Aufeinanderbezogensein nutzen sollten. Auch Cassirer entwickelte eine erweiterte Erkenntnistheorie, in der die Kunst einen selbstverständlichen Platz als besondere Art der Erkenntnis einnimmt und in der Philosophie und Kunst aufeinander angewiesen sind. Adorno schließlich entwarf ein Konzept der „mimetischen Rationalität“, das er der diskursiven Rationalität gegenüber stellt. Die besondere Erkenntnisleistung der mimetischen Kunst bestehe darin, den Blick auf das Nicht-Identische zu lenken. Das mimetische Erkennen versteht sich also als Gegenkonzept gegen das von vereinheitlichenden Begriffen geprägte Denken und Erkennen. Freilich bleibt auch bei Adorno das Wechselspiel verschiedener Erkenntnis- und Rationalitätsformen ein wichtiges Moment seiner „Ästhetischen Theorie“. Als roter Faden, der sich durch die Ästhetik-Diskussion der letzten zweieinhalb Jahrhunderte zieht, könnte der Versuch gesehen werden, unterschiedliche Formen der Erkenntnis zu benennen und zu beschreiben. Die Kunst erfüllt dabei die Rolle, den Blick auf andere, nicht von der Wortsprache definierte Arten der Erkenntnis zu lenken. In allen Konzepten existieren die verschiedenen Erkenntnisformen nicht unabhängig voneinander, entweder sie definieren sich durch Abgrenzung, oder sie vermitteln zwischen einander und stehen also in einem Verhältnis des wechselseitigen Austausches. Grundsätzlich jedoch wird Kunst als eine eigenständige Form der Erkenntnis – mit spezifischen Gesetzmäßigkeiten – anerkannt.

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2.  Kunst und Wissenschaft Zur Geschichte

Das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft blickt auf eine lange Geschichte zurück, die von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, von Annäherungen und Abgrenzungen bestimmt ist. Wir können davon ausgehen, dass Wissenschaft und Kunst eine gemeinsame Wurzel in ihrem Bestreben haben, die Welt zu erkennen, zu verstehen und zu gestalten. Die ursprüngliche Einheit wird deutlich, wenn man sich mit der Geschichte der Begriffe im Umfeld von Kunst und Wissenschaft beschäftigt. Unter dem antiken Begriff der „Techné“ etwa wurden sowohl die „poiesis“ (die Poetik) wie auch die „mathemata“ (die Mathematik) subsumiert.31 Ähnlich bezeichnete der lateinische Begriff „ars“ gleichermaßen handwerkliche, künstlerische und wissenschaftliche Fertigkeiten.32 Die „artes liberales“ umfassten sowohl künstlerische wie auch wissenschaftliche Disziplinen. Besonders auffallend ist dabei die Stellung der Musik, die gemeinsam mit der Arithmetik, der Geometrie und der Astronomie zum „Quadrivium“ zusammengefasst wurde. Die Musik (oder genauer gesagt: die Theorie der Musik) wurde in diesem Zusammenhang als eine Kunst verstanden, die die zahlenmäßig fassbare Harmonie der Welt zum Klingen bringt, die also auf die mathematische Erkenntnis der Welt verwiesen ist. Die Trennung zwischen den Künsten und den Wissenschaften vollzog sich erst in der langen Entwicklung der Zivilisation – diese führte zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionen und zu einer Spezialisierung der Lebensbereiche. Der Beginn des wissenschaftlichen Denkens, das wir als modern bezeichnen würden, kann in der Zeit der Renaissance, also zu Beginn der Neuzeit, situiert werden. Freilich herrschte damals noch ein anderes Verständnis von Wissenschaft. In diesem Zusammenhang wird immer Leonardo da Vinci genannt. Er verkörpert in seinem sowohl künstlerischen wie auch wissenschaftlichen Schaffen durchaus noch die Einheit von Wissenschaft und Kunst. Dieter Mersch und Michaela Ott verweisen darauf, dass sich Leonardo bei seinen wissenschaftlichen Forschungen durchaus „ästhetischer Verfahrensweisen“ bedient.33 Das Medium seiner Forschung ist das Beobachten, das Sehen, das Zeichnen. Indem Leonardo dem Sehen den ersten Platz einräumte, teilte er 31 Vgl. hierzu Mersch/Ott 2007, S. 10. 32 Vgl. hierzu Wuttke 2003, S. 45. 33 Mersch/Ott 2007, S. 13 ff.

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dem Hören einen nachgeordneten Rang zu. Damit wurde die bis dahin gültige Vorrangstellung des Gehörten – im Rahmen des Glaubens und der Überlieferung – durch das Sehen und die Einsicht als primäre Erkenntnisquelle ersetzt.34 Die Entwicklung der Wissenschaften in der frühen Neuzeit ist davon geprägt, dass sich wissenschaftlichen Forschungen und Erkenntnisse keineswegs auf dem Boden der Rationalität bewegen, sondern dass in ihnen religiöse und metaphysische Vorstellungen wirksam werden und darüber hinaus ästhetische Verfahren und Methoden zur Anwendung kommen.35 Ein wesentlicher Einschnitt im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst entstand im 18. Jahrhundert, im Jahrhundert der Aufklärung, in dem der Vernunft eine Vorrangstellung gegenüber allen anderen menschlichen Fähigkeiten eingeräumt wurde. So wie das analoge Denken und metaphorische Erkennen in den Hintergrund gedrängt wurde, das heißt aus dem Bereich der Wissenschaften verdrängt und dem Sonderbereich der Kunst zuge­sprochen wurde, kam es insgesamt zu einem Auseinanderdriften der wissen­schaftlichen und künstlerischen Methoden, Aufgaben und Funktionen. Als wesentliches unterscheidendes Merkmal wurde, vorbereitet durch Kant, die Unterscheidung zwischen Objektivität und Subjektivität eingeführt. Während sich die Wissenschaften immer stärker am Ideal der Objektivität und der intersubjektiven Generalisierbarkeit ihrer Erkenntnisse zu messen hatten, bekam die Kunst eine Sonderrolle als Refugium für die aus der Wissenschaft verdrängte Subjektivität, Indivi­dualität und Originalität. Positionsbestimmungen

Betrachtet man die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Kunst, so fällt auf, dass sich – möglicherweise als Gegenbewegung zur zunehmenden Ausdifferenzierung und Spezialisierung – immer wieder auch Tendenzen zur Annäherung feststellen lassen. Diese Annäherung kann von Seiten der Kunst ausgehen, indem diese etwa im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung versucht, einen den Wissenschaften gleichberechtigen gesellschaftlichen Rang zu erringen. Dieser Kampf um Anerkennung spielte bereits in der Renaissance eine Rolle, als die Malerei einen Platz innerhalb der „Artes liberales“ beanspruchte, ebenso aber auch in gegenwärtigen hochschulpolitischen Entwicklungen, die das Promotionsrecht für künstlerische Fächer einführen wollen oder die der „künstlerischen Forschung“ – von ihr wird 34 Vgl. hierzu Koré 1998, S. 55 f. 35 Genaueres dazu bei Mersch/Ott 2007, S. 9–14.

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später noch die Rede sein – einen der wissenschaftlichen Forschung gleich gestellten Rang einzuräumen versuchen.36 Die Annäherung zwischen Wissenschaft und Kunst kann aber auch von Seiten der Wissenschaften ausgehen. Während die Künste ihren Status als den Wissenschaften gleichwertig gesell­ schaftlich zu verankern suchen, werden gleichzeitig von der anderen Seite, von der Seite der Wissenschaft bzw. der Wissenschaftstheorie, die starren Grenzziehungen in Frage gestellt. Die Selbstreflexion der Wissenschaften stellt seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein wichtiges Thema der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie dar.37 Im Zentrum steht dabei die – bereits von Nietzsche so pointiert formulierte – Erkenntnis, dass „die Wahrheiten Illusionen sind, von denen wir vergessen haben, dass sie welche sind“,38 dass wir also keinen Zugang zu einer objektiven Wahrheit haben. Kunst und Wissenschaft begegnen sich dort, wo sich beide als Interpretationen der Welt begreifen, die sich nicht auf das Fundament einer metaphysischen Wahrheit beziehen können. Der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend brachte die Relativierung des Wahrheitsanspruchs der Wissenschaften auf den Punkt, indem er die „Wissenschaft als Kunst“39 charakterisierte. Die Wissenschaften lassen sich nicht mehr länger als Hort gesicherter, allgemeingültiger Erkenntnisse beschreiben, sie sind vielmehr durch eine Vielzahl nebeneinander existierender Denkstile gekennzeichnet. Da keiner dieser Denkstile den Anspruch auf Wahrheit stellen kann, stehen die verschiedenen Denk- und Erkenntnisweisen gleichberechtigt nebeneinander. Auch Hans-Jörg Rheinberger verweist auf die „plurale Verfasstheit“ der Wissenschaften, die sich dadurch ergibt, dass man sich im Zuge der Entwicklung der Wissenschaften zunehmend von der Idee einer Einheitswissenschaft verabschieden musste.40 Feyerabend vergleicht das Nebeneinander verschiedener Denkformen mit dem Nebeneinander verschiedener Stilformen in den Künsten. Indem er somit die Wissenschaft aus der Perspektive der Kunst betrachtet und sie mit kunstwissenschaftlichen Begriffen beschreibt, kommt es zu einer Annäherung zwischen beiden unter dem Zeichen der Kunst: Konsequent zu Ende gedacht, wird damit Wissenschaft zur Kunst. Die wechselseitige Annäherung, wie sie hier gerade exemplarisch beschrieben wurde, stellt natürlich nur eine mögliche Art der Verhältnisbestimmung zwischen Wissenschaft und Kunst dar. Dabei geraten die Gemeinsamkeiten

36 37 38 39 40

Nähere Ausführungen dazu bei Brandstätter 2008, S. 47 ff. Vgl. Brandstätter 2008, S. 49 ff. Nietzsche 1980b, S. 880. Feyerabend 1984. Rheinberger 2007.

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zwischen den beiden Umgangsweisen mit der Welt in den Fokus der Aufmerksamkeit: sei es der gemeinsame „fiktive“ Charakter (der jede Art von Erkenntnis als konstruktive Interpretationsarbeit entlarvt) oder sei es der Anspruch, eine gleichberechtigte gesellschaftliche Rolle zu spielen. Gemeinsamkeiten und Berührungen zwischen Wissenschaft und Kunst können aber auch auf anderen Ebenen gefunden werden. Ein beliebtes Thema stellt in diesem Zusammenhang das Thema der Kreativität dar, das in beiden Bereichen eine wichtige Rolle spielt. Ebenso gibt es Untersuchungen und Überlegungen, die sich mit der Rolle der Intuition und des Unbewussten in den Wissenschaften oder auch mit den emotionalen Grundlagen des Denkens beschäftigen.41 Aus der Perspektive dieser Themen erscheinen Wissenschaft und Kunst als gar nicht so weit voneinander entfernte Umgangsweisen mit der Welt. Freilich kann an die Stelle der Idee einer wechselseitigen Annäherung und Angleichung, wie sie soeben angedeutet wurde, auch das Modell der Polarisierung treten: Wissenschaft und Kunst können auch als einander entgegen gesetzte Welten beschrieben werden. Im Sinne einer Gegenwelt wird dann Kunst als jene Art des Umgangs mit der Welt beschrieben, die Raum für all das lässt, was in der Wissenschaft bewusst ausgeklammert und verdrängt wird: das Subjektive, das Emotionale, das Unbewusste. Ein wieder anderes Modell zur Verhältnisbestimmung stellt das Modell der Komplementarität dar. Ihm sind wir bereits in Zusammenhang mit der Geschichte der Ästhetik begegnet: zu denken ist hier etwa an das Miteinander von „logischer Denkart“ und „schönem Denken“ im Sinne Baumgartens oder an Adornos Unterscheidung zwischen mimetischer und diskursiver Rationalität, die beide aufeinander verwiesen und bezogen sind. Auch in der Beschäftigung mit verschiedenen Logiken sind wir auf das Modell der Komplementarität gestoßen. So ergänzen sich – laut Gottfried Gabriel, der das analogische vom logischen Denken unterscheidet – die wissenschaftliche und ästhetische Weltauffassung wechselseitig.42 Annäherung, Angleichung, Polarisierung, Gegenwelt, Komplementarität – welches Modell der Positionsbestimmung man wählt, hängt im Wesentlichen davon ab, welche Vergleichsebenen zwischen Wissenschaft und Kunst in Betracht gezogen werden. Zu bedenken sind zunächst die Themen und Fragestellungen, die den Ausgangspunkt für die wissenschaftliche und die künstlerische Auseinandersetzung bilden. Im nächsten Schritt sind die damit verbundenen Zielsetzungen in Betracht zu ziehen: An welche Zielgruppen im Rahmen wel 41 Zu den Berührungen und Gemeinsamkeiten zwischen Wissenschaft und Kunst vgl. Brandstätter 2008, S. 53–62. 42 Gabriel 1997a.

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cher Kontexte richten sich die „Erkenntnisse“? Davon abhängig können unterschiedliche Denk- und Arbeitsweisen, die sich in unterschiedlichen Medien realisieren, voneinander unterschieden werden. Zu vergleichen ist aber auch die Art der Vermittlung der Erkenntnisse: ihre Darstellung und Präsentation. Je nachdem, welche der hier genannten Vergleichsebenen im Vordergrund stehen, wird man stärker die Unterschiede oder auch die Gemeinsamkeiten in den Blick bekommen.

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3.  Erkenntnis von Kunst Beschäftigt man sich mit dem Themenkomplex „Kunst und Erkenntnis“, so ergeben sich zwei unterschiedliche Fragerichtungen: Zum einen stellt sich die Frage nach der Erkenntnis von Kunst, das heißt nach den Möglichkeiten, Kunst selbst zu erkennen (Kunst als Gegenstand der Erkenntnis), zum anderen die Frage, inwiefern man durch Kunst auch Erkenntnisse gewinnen kann, die über die Erfahrung des Kunstwerks hinausgehen (Kunst als Mittel zur Erkenntnis). Beiden Fragerichtungen soll im Folgenden getrennt nachgegangen werden, auch wenn natürlich in der ästhetischen Erfahrung beide Erkenntnisebenen aufeinander Bezug nehmen. Die Frage der Erkenntnis von Kunst ist eng mit der Frage nach dem Verstehen von Kunst verknüpft. Angesichts der unüberschaubaren Fülle von Theorien über das Verstehen von Kunst im Allgemeinen bzw. dem Verstehen von Musik, von Bildern und von Literatur im Besonderen, kann es an dieser Stelle nicht darum gehen, diese – auch nur ausschnittweise – zu referieren. Ich will mich im Wesentlichen auf zwei zentrale Gedankengänge beschränken, die im Hinblick auf die Besonderheiten des Erkenntnischarakters von Kunst zu bedenken sind: auf den Aspekt des Nachvollzugs, der beim erkennenden und verstehenden Umgang mit Kunst eine besondere Rolle spielt, und auf den Aspekt des Nicht-Verstehens. Die beiden Begriffe „erkennen“ und „verstehen“ werden dabei zunächst weitgehend synonym verwendet. Eine Unterscheidung zwischen beiden Umgangsweisen mit Kunst wird erst an späterer Stelle getroffen. Verstehen von Kunst als mimetischer Nachvollzug

Der Idee, dass sich Kunstwerke primär über Nachvollzug erschließen, begegnet man bei vielen Autoren. „Musik interpretieren“ heißt „Musik machen“43 – so bringt diesen Sachverhalt Adorno in einer pointierten Formulierung zum Ausdruck. Auch wenn man möglicherweise diesem Gedanken nicht bedingungslos zustimmt, zum einen weil er den vielfältigen Möglichkeiten im Umgang mit Musik nicht gerecht wird, zum andern weil er nur bedingt auf andere Kunstsparten übertragen werden kann, so verbirgt sich dahinter doch ein Aspekt, der für den verstehenden und erkennenden Umgang mit Kunst grundsätzlich eine wichtige Rolle spielt: Kunst wird niemals nur aus einer distanzierten Haltung heraus verstanden, sondern die Auseinandersetzung mit Kunst tangiert 43 Adorno 1963, S. 12.

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uns Menschen immer auch in einer körperlichen Dimension. Unabhängig davon, ob es sich um ein Musikstück, ein Bild oder einen literarischen Text handelt – der verstehende Umgang umfasst immer auch mimetische Aspekte. Das bedeutet, dass wir im Prozess der Rezeption die sinnlichen Dimensionen eines Kunstwerkes innerlich nachvollziehen und uns ihnen innerlich annähern. Dies gilt keineswegs nur für Musik, deren Spannungsverläufe direkt körperlich nachvollzogen werden können (Albrecht Wellmer spricht in diesem Zusammenhang vom“somatisch-imaginativen Nachvollziehen musikalischer Verläufe“44), sondern es gilt ebenso auch für literarische Texte, bei denen wir in den Klang und Rhythmus der Sprache, in die dramaturgische Gliederung und in die sprachlich evozierten imaginierten Welten gewissermaßen eintauchen. So charakterisiert Walter Benjamin das Verstehen poetischer Texte als „mimetischen Prozess“, durch den Ähnlichkeitsbeziehungen geknüpft werden.45 Bernhard Waldenfels wiederum verweist in seinem Aufsatz „Verkörperung im Bild“46 auf die „leibliche Verankerung“ der Bilderfahrung und arbeitet ihren „medialen, szenischen und pathischen Charakter“47 heraus. „Wir sehen keine Bilder, sondern wir sehen etwas im Medium von Bildern“48 – das heißt wir sehen die Bilder in ihrer „leibhaftigen Bildlichkeit“. Bilder werden zudem inszeniert: „In der Inszenierung werden Bewegungen initiiert, Rhythmen eingeübt, Kräfte mobilisiert …“49 Indem wir uns auf die Wahrnehmung von Bildern einlassen, lassen wir uns auf die material-medialen Aspekte ein und vollziehen die bildliche „Inszenierung“ innerlich nach. Wie es im Kapitel über den „mimetischen Weltzugang“ bereits herausgearbeitet wurde, weist der mimetische Umgang mit der Welt – und also auch der mimetisch-verstehende Umgang mit Kunstwerken – immer einen performativen Charakter auf.50 Das mimetische Verstehen ist an die Körperlichkeit des Menschen und an seine sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten gebunden. Die Sinnlichkeit ist dabei doppelt verankert: zum einen in der sinnlichen Materialität des Kunstwerks, das im Akt des Sich-Zeigens immer auch auf sich selbst verweist; zum andern in der Körperlichkeit des wahrnehmende Menschen, der sich sinnlich-körperlich dem Kunstwerk mimetisch anähnelt. 44 Wellmer 2008, S. 167. 45 Zum Zusammenhang von Mimesis und dem Verstehen poetischer Texte siehe Steinbrenner 2010. 46 Waldenfels 2005, S. 17–34. 47 A. a. O., S. 18. 48 A. a. O., S. 22. 49 A. a. O., S. 25. 50 Vgl. Gebauer/Wulf 2003.

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Im Prozess des mimetischen Verstehens werden auf verschiedenen Ebenen Beziehungen der Ähnlichkeit hergestellt: auf der Ebene des Kunstwerks und seiner Beziehung zur „Wirklichkeit“ (die zeigend vergegenwärtigt wird), auf der internen, strukturellen Ebene des Kunstwerks (in Bezug auf seine „Kongruenzlogik“ – wie Adorno dies nennt), schließlich aber auch auf der Ebene der eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen. Die Wahrnehmungen, die aktuell mit einem Kunstwerk gemacht werden, werden in ein Netz von ästhetischen Erfahrungen eingebettet; sie werden aber auch mit Erfahrungen in Verbindung gebracht, die nichts mit Kunst zu tun haben. Die Verknüpfung der verschiedenen Wahrnehmungsmuster erfolgt über das Merkmal der Ähnlichkeit. Wir nehmen ein Bild wahr, indem wir es mit unserer Welt-Erfahrung vergleichen, so wie natürlich ebenso umgekehrt unsere Welt-Erfahrung durch die Wahrnehmung von Bildern geprägt ist.51 Unsere Wahrnehmung der Landschaftsdarstellung in italienischen Bildern der Renaissance ist möglicherweise genauso durch Aufenthalte in italienischen und auch nicht-italienischen Landschaften beeinflusst wie umgekehrt manche Blicke in die toskanische Landschaft die Erinnerung an ein konkretes Bild oder einen Bildtypus der Renaissance wachrufen. Wir knüpfen ein Netz von Ähnlichkeiten, um uns in der Welt zu verankern. Die Ähnlichkeitsbeziehungen, die über Kunstwerke initiiert und generiert werden, zeichnen sich durch ihren besonderen Körperbezug aus, der die Ähnlichkeiten im Prozess des mimetischen Nachvollzugs auch sinnlich erfahrbar macht. Das Nicht-Verstehen von Kunst

Bisher war vom Verstehen der Kunst die Rede, so als wäre der verstehende Umgang mit Kunst eine selbstverständliche Prämisse. Ist aber das Verstehen tatsächlich das anzustrebende Ziel im Umgang mit Kunst? Während es auf der einen Seite eine unüberschaubare Fülle an Modellen gibt, die den komplexen Vorgang des Verstehens von Kunst zu fassen versuchen, gibt es zunehmend Literatur, die sich dem Nicht-Verstehen zuwendet.52 Dass Kunst niemals vollständig in all ihren Dimensionen erfasst und verstanden werden kann, gehört allerdings schon lange zu einem Topos des ästhetischen Diskurses. Man erinnere sich etwa an die von Adorno als „Rätselcharakter“ beschriebene Besonderheit von Kunst. „Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, meint den Rätselcharakter unterm Aspekt der Spra 51 Vgl. hierzu auch Mahrenholz 2010, S. 261–273. 52 Vgl. z. B. Albrecht u. a. 2005.

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che.“53 Kunstwerke verbergen etwas, das sich dem verstehenden Zugriff entzieht, wobei Adorno hier das Scheitern der Sprache im Prozess des Verstehens ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Der offene und nicht eindeutig fixierbare Charakter von Kunstwerken wurde vor allem in der Literaturästhetik wiederholt thematisiert. Roman Ingarden z. B. spricht in Zusammenhang mit literarischen Werken von „Unbestimmtheitsstellen“, um darauf zu verweisen, dass in Kunstwerken immer vieles „unkonkret“ und offen bleibt. „Das literarische Werk […] ist ein schematisches Gebilde. Mindestens einige seiner Schichten,54 und besonders die gegenständliche Schicht, enthalten in sich eine Reihe von ‚Unbestimmtheitsstellen‘.“55 Gerade die „Unbestimmtheiten“ sind es jedoch, die den Rezipienten animieren, selbsttätig weiter zu denken und die „Lücken“ zu füllen. Den „Unbestimmbarkeitsstellen“ Roman Ingardens vergleichbar sind Wolfgang Isers „Leerstellen“.56 Auch hier geht es darum, den Blick dafür zu öffnen, dass in Kunstwerken – und zwar nicht nur in literarischen Kunstwerken – immer Bereiche offen bleiben, die die produktive Tätigkeit des Kunst-Rezipienten anregen. Sowohl die „Unbestimmtheitsstellen“ wie auch die „Leerstellen“ können als Symptome des Nicht-Identischen gewertet werden. Sie lassen dem Rezipienten offene Freiräume für die „Weitergestaltung des Kunstwerks“, und im erweiterten Sinn auch Freiräume für die Weiterentwicklung der Erkenntnis. Davon wird im nächsten Abschnitt noch die Rede sein. Das Nicht-Verstehen ergibt sich auch aus dem mimetischen Charakter des Verstehens. Wie im Kapitel über den „mimetischen Weltzugang“ deutlich gemacht, ist Mimesis durch ein Doppeltes gekennzeichnet: Einerseits erzeugt sie Ähnlichkeiten und stellt damit intensive Beziehungen her, andererseits generiert sie Differenzen, denn die Ähnlichkeiten führen niemals zu Identität, sie verdoppelt die Wirklichkeit nicht, sondern sie nähern sich ihr lediglich an und lassen damit noch Spielraum für das Differente. Diese Spielräume werden in jeder einmaligen ästhetischen Erfahrungen neu generiert, sie sind als offene Räume zu denken, die nicht eindeutig definier- und fassbar sind. Es bleibt ein Rest des Nicht-Verstehens. Das Nicht-Verstehen ist somit ein konstitutiver Bestandteil des Verstehens von Kunst. Diese Überlegung wird Auswirkungen auf das Verständnis der spezifischen epistemologischen Möglichkeiten der Kunst haben, mit denen wir uns im nächsten Abschnitt beschäftigen. 53 Adorno 1970, S. 182. 54 Ingarden unterscheidet bei literarischen Werken die Schicht der Wortlaute und Schriftzeichen, die Schicht der Wortbedeutungen und Satzsinne und die Schicht der dargestellten Gegenstände. 55 Ingarden 1968, S. 49. 56 Iser 1976, S. 167 ff. sowie S. 267 ff.

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4.  Erkenntnis durch Kunst Wenn wir über die Möglichkeiten der Kunst nachdenken, Erkenntnisse zu schaffen, so dürfen wir nicht außer acht lassen, dass die Funktionen von Kunst vielfältig sind: Kunst dient der Unterhaltung, der Erinnerung, der Repräsentation, der Identitätsbildung, der Werbung … Diese Liste könnte lange fortgesetzt werden. Die epistemische, erkenntnisstiftende Funktion der Kunst stellt also nur eine von vielen möglichen Funktionen dar. Der ästhetische Wert bemisst sich nicht am Erkenntniswert – zu diesem Schluss kommt etwa der Literaturtheoretiker Peter Lamarque in seinem Aufsatz über den Wahrheitswert von Literatur.57 Dass Kunst überhaupt als Medium der Erkenntnis betrachtet werden kann, ist keineswegs Konsens. Kritiker weisen darauf hin, dass zwar Kunstwerke als Anlass für Reflexion verwendet werden können, dass sie aber selbst nicht reflexionsfähig sind.58 In Abgrenzung davon wird hier die Position vertreten, dass Kunstwerke durchaus Erkenntnischarakter haben, dass sie aber „eine Erkenntnis der besonderen Art“59 ermöglichen – wie dies Ernst Cassirer treffend formulierte. Worin bestehen die Besonderheiten der künstlerischen Erkenntnis? In den vorangegangenen Abschnitten wurde diese Frage bereits aus unterschiedlichen Perspektiven versuchsweise beantwortet: aus der Perspektive verschiedener Denkformen und Denkmedien, aus der Perspektive der Geschichte der Ästhetik und vor allem auch in Abgrenzung zu wissenschaftlichen Erkenntnisformen. An dieser Stelle will ich nun versuchen, mögliche Merkmale ästhetischer Erkenntnis gewissermaßen zusammenfassend darzustellen. „Symptome“ der ästhetischen Erkenntnis

Eine erste Perspektive stellt die Zeichentheorie dar. In seiner Symboltheorie beschäftigte sich Nelson Goodman immer wieder mit der Frage der Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer Erkenntnis. „Der Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft ist nicht der zwischen Gefühl und Tatsache, Intuition und Konklusion, Freude und Überlegung, Synthese und Analyse, Sinneswahrnehmung und Gehirnarbeit, Konkretheit und Abstraktheit, Passion und Aktion, Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit oder Wahr 57 Lamarque 2007, S. 13–24. 58 Vgl. etwa die Position Matthias Vogels, dargestellt im Kapitel „Denken und Erkennen“ Abschnitt „Visuelle Logik – musikalische Logik“. 59 Cassirer 1990, S. 260.

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heit und Schönheit, sondern eher ein Unterschied in der Dominanz gewisser spezifischer Merkmale von Symbolen.“60 Goodman stellt hier die klassischen Unterscheidungskriterien zwischen Wissenschaft und Kunst radikal in Frage. Anstelle einer polaren und globalen Gegenüberstellung von Merkmalen arbeitet er „Symptome des Ästhetischen“61 heraus, die für ästhetische Zeichensprachen charakteristisch sind. Zentral ist für ihn die Unterscheidung zwischen analogen, dichten Zeichen und digitalen, disjunkten Zeichen (man erinnere sich an die Unterscheidung zwischen einem analogen und digitalen Thermometer). Künstlerische Zeichensysteme sind schwerpunktmäßig – sowohl in syntaktischer wie auch in semantischer Hinsicht – durch „Dichte“ charakterisiert. Das bedeutet, dass die Zeichen so geordnet sind, „dass es zwischen zweien immer ein drittes gibt“62 – analoge Zeichensysteme sind eben nicht wie eine Temperaturskala in einzelne, deutlich voneinander unterschiedene Einheiten gegliedert, sondern – denken wir etwa an eine gemalte Blume – die visuellen Zeichen gehen ineinander über, sie sind „kontinuierlich“. Diese Dichte hat zur Folge, dass jede minimale Veränderung der Zeichen, auch wenn sie noch so nuancenhaft ist, in das gesamte Zeichengefüge eingreift und zur Veränderung der Bedeutung führt. Wir alle kennen die Erfahrung, dass jeder auch kleinste verändernde Eingriff in ein Kunstwerk (die Veränderung einer Note in der Interpretation eines Musikstücks, minimale Veränderung der Farbwerte eines Bildes in seiner Reproduktion) den Gesamtcharakter entscheidend beeinflussen und ändern kann. Diese Tatsache hat etwas mit der „Dichte“ der dahinter stehenden Zeichensysteme zu tun. Als weiteres Merkmal führt Goodman die „Fülle“ der Parameter an, die in der Wahrnehmung von Kunst eine Rolle spielen. Als Beispiel zur Veranschaulichung dient ein Linienverlauf, der entweder als „Ausschnitt eines Elektrokardiogramms“ oder als „Zeichnung des Fudschijama von Hokusai“ gelesen werden kann.63 Im ersten Fall interpretieren wir den Linienverlauf als Diagramm: die Positionen auf der Abszisse und Ordinate geben uns Auskunft über die Herzaktivität. Wenn wir dieselben visuellen Zeichen jedoch als ästhetische Zeichen lesen, so achten wir auf eine Fülle von Parametern: „Jede Verdickung oder Verdünnung der Linie, ihre Farbe, ihr Kontrast mit dem Hintergrund, ihre Größe, sogar die Eigenschaften des Papiers – nichts von alldem wird ausgeschlossen, nichts kann ignoriert werden.“64 So wie die

60 61 62 63 64

Goodman 1973, S. 265. A. a. O., S. 253 ff. sowie Goodman 1984, S. 88 f. Goodman 1973, S. 144. A. a. O., S. 230. A. a. O., S. 231.

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„Dichte“ der ästhetischen Zeichensysteme uns sensibel für minimale Veränderung werden lässt, so bewirkt die „Fülle“ ihrerseits, dass wir bei Kunstwerken auf eine Vielfalt von Parametern achten, die alle konstitutiv für die ästhetische Erfahrung sind. Das nächste „Symptom des Ästhetischen“ benennt Goodman mit dem Begriff der „Exemplifikation“.65 Exemplifikation liegt dann vor, wenn ein Zeichen nicht nur auf etwas außerhalb seiner selbst verweist, sondern wenn es Eigenschaften, auf die es Bezug nimmt, selber besitzt. Ein Stoffmuster – dies ist das klassische und immer wieder zitierte Beispiel, das Goodman selbst zur Veranschaulichung der Exemplifikationsfunktion bringt – weist die Eigenschaften der Farbe oder der Stoffqualität selbst auf: Es exemplifiziert ausgewählte Eigenschaften. Dieser Art der „verkörpernden“ Symbolisierung begegnen wir in Kunstwerken oft: Kunstwerke zeigen das, worauf sie Bezug nehmen. Wie ich im Kapitel „Sagen und Zeigen“ erörtert habe, kann die von Goodman als „Exemplifikation“ bezeichnete Zeichenfunktion grundsätzlich mit der Funktion des Zeigens in Verbindung gebracht werden. In Abgrenzung von Goodman ist für mich das Generieren einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem jedoch konstitutives Merkmal einer zeigenden Exemplifikationsfunktion: Die gemalte Blume zeigt auf der Basis von Merkmalen, die sie der realen Blume ähnlich machen, Eigenschaften der realen Blume. Zum Verständnis der Bedeutung, die dem Prozess des Exemplifizierens im Bereich der Kunst zukommt, ist es wichtig, auch die „metaphorische Exemplifikationsfunktion“ im Blick zu haben, die Goodman mit dem Begriff des „Ausdrucks“ belegt. Kunstwerke können auch auf Eigenschaften Bezug nehmen, die ihnen nur im metaphorischen Sinn zukommen. So kann ein Bild Traurigkeit zum Ausdruck bringen, auch wenn es diese Eigenschaft natürlich nicht im buchstäblichen Sinn besitzt, sondern sie ihm nur im übertragenen Sinn zugesprochen wird. Als letztes Symptom des Ästhetischen führt Goodman die „multiple und komplexe Bezugnahme“ an.66 Damit meint er das Phänomen, dass jedes Zeichen im ästhetischen Kontext anderer Zeichen keineswegs eindeutig in seiner Zeichenfunktion bestimmt ist. Vielmehr ist es so, dass jedes Zeichen verschiedene Zeichenfunktionen wahrnehmen kann (es kann gleichzeitig denotieren, exemplifizieren und etwas zum Ausdruck bringen) – dadurch ergibt sich ein komplexes Feld der Bezugnahmen und für den Rezipienten von Kunst ergeben sich mehrdeutige Lesarten.

65 A. a. O., S. 62 ff. 66 Goodman 1984, S. 89.

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Die „Symptome des Ästhetischen“ müssen bei Kunstwerken keineswegs alle gemeinsam auftreten, manchmal genügt das Vorhandensein eines „Symptoms“, um eine Erfahrung als ästhetische klassifizieren zu können.67 Wie das Zitat von Goodman vom Anfang dieses Abschnittes deutlich macht, kann man eben nicht bestimmte Zeichenfunktionen eindeutig einzelnen Zeichensystemen zuschreiben, die Unterschiede zwischen Zeichensystemen ergeben sich vielmehr aus der Dominanz von Symbolmerkmalen. Was bedeuten nun die von Goodman analysierten „Symptome des Ästhetischen“ für die ästhetische Erkenntnis? Ästhetische Erkenntnis beruht auf der Verwendung von ästhetischen Zeichen – die Eigengesetzlichkeit der ästhetischen Zeichensysteme hat damit Auswirkungen auf die Art der Erkenntnis. Die syntaktische Dichte hat zur Folge, dass in ästhetischen Zeichensystemen und damit auch in der ästhetischen Erkenntnis jedes Detail von Bedeutung ist. Christiane Schildknecht spricht von der „Feinkörnigkeit“68 des phänomenalen Erlebens von Kunst, die nicht durch begriffliche Unterscheidungen erfassbar ist. Die semantische Dichte wiederum ist die Basis für unendliche Bedeutungsnuancen, die sich in ihrer Nuanciertheit ebenso einer eindeutigen begrifflichen Definition oder auch nur Beschreibung entziehen. Die Exemplifikationsfunktion verweist auf die zentrale Rolle, die dem Zeigen in der Kunst und natürlich auch in der ästhetischen Erkenntnis zukommt. Das Zeigen kristallisiert sich immer wieder als zentrales Merkmal künstlerischer Zeichensprachen heraus. Da im Akt des Zeigens die Zeichen nicht nur auf etwas außerhalb ihrer selbst, das Bezeichnete, verweisen, sondern sie gleichzeitig immer auch auf sich selbst zeigen, treten die sinnlichen Eigenschaften der Zeichen deutlicher ins Bewusstsein. Die dadurch bedingte Selbstreflexivität der ästhetischen Zeichen wird an späterer Stelle nochmals genauer untersucht. Schließlich hat auch die multiple Bezugnahme der ästhetischen Zeichen Auswirkungen auf die ästhetische Erkenntnis. Die immer wieder konstatierte Mehrdeutigkeit von Kunstwerken kann mit der Komplexität der vielfältigen Bezugnahmen zwischen Zeichen in Verbindung gebracht werden. Je nachdem, welche Zeichenfunktionen und welche wechselseitigen Bezugnahmen zwischen Zeichen beachtet werden, ergeben sich andere Deutungsmöglichkeiten. Bezogen auf Musik etwa, hat man die Möglichkeit, einzelne musikalische Zeichen vor allem auf der syntaktischen Ebene als intern aufeinander bezogen wahrzunehmen; ein anderes „Bild“ der Musik ergibt sich, wenn die Aufmerksamkeit auf „externe“ Bezüge gerichtet wird, wie z. B. auf die Rhetorik musikalischer Wendungen.

67 Goodman 1973, S. 255. 68 Schildknecht 2007, S. 94.

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Aus der Perspektive der „Symptome des Ästhetischen“ nach Goodman, erweist sich ästhetische Erkenntnis als überaus sensibel gegenüber Nuancen in der Darstellung der Erkenntnisse, als offen für Mehrdeutigkeiten und unendliche Bedeutungsnuancen und schließlich als selbstreflexiv auf sich selbst verweisend. Kunst als Forschung

In den Diskussionen über den Erkenntniswert von Kunst taucht immer wieder der Begriff der Forschung auf. Eine erweiterte Idee von Forschung fungiert als Bindeglied zwischen Wissenschaft und Kunst. So charakterisiert Florian Dombois die „künstlerische Setzung als epistemischen Akt“69 und deklariert damit Kunst als Forschung. Dieter Mersch wiederum beschäftigt sich mit den „Strategien künstlerischen Forschens“ 70 im Einzelnen.71 Entsprechend seiner Ästhetik des Materials, der Erscheinung und des Prozesses (als Gegenmodell zur Form- und Ausdrucks­ ästhetik, die den Werkcharakter von Kunst betont) rückt Mersch die Rolle, die das Sinnliche, das Materiale und der Ereignischarakter in künstlerischen Forschungsprozessen haben, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Künstlerische Forschung hat einen performativen Charakter. Sie arbeitet mit den „Sinnen im Wahrnehmbaren“72 und mit Materialien, die im Akt der künstlerischen Setzung auf sich selbst verweisen. Anders als in wissenschaftlichen Forschungsprozessen verschwindet das Materialhafte nicht hinter der Erkenntnis. Da künstlerische Forschung einer Logik des Zeigens („ihre Logik ist deshalb überhaupt nicht das Sagen, sondern das Zeigen“73) verpflichtet ist, stellt die selbstreflexive Bezugnahme auf die Materialität, die den Sinnen direkt zugänglich ist, ein konstitutives Merkmal künstlerischer Forschung dar. 69 Dombois 2010, S. 206. 70 Der Begriff der künstlerischen Forschung wird zurzeit heftig diskutiert. Basierend auf den Begriffen der „artistic research“ bzw. der „art-based research“, die im angloamerikanischen Sprachraum inzwischen mit großer Selbstverständlichkeit verwendet werden, versucht man in den deutschsprachigen Ländern den Begriff und die Idee der künstlerischen Forschung zu etablieren. Besonders im Kontext der Kunst- und Musikhochschulen wird damit die Hoffnung verbunden, ein der wissenschaftlichen Forschung gleichberechtigtes Forschungsfeld zu etablieren, das Zugang zu öffentlichen und privaten Fördergeldern erhält. Vgl. hierzu etwa: Caduff/Siegenthaler/Wälchli 2010 oder auch Rittermann/Bast/ Mittelstraß 2011. 71 Mersch 2007, S. 91–104. 72 A. a. O., S. 97. 73 A. a. O., S. 97.

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„Das unterscheidet sie [die künstlerische Forschung, Anm. d. Verf.] von wissenschaftlicher Forschung: Ihr Untersuchungsgegenstand liegt nicht vor, er wird vielmehr in jedem Augenblick erst erschaffen und auf die Probe gestellt. Sie beruft sich darum auf keine Methodik, die sich zuvor bewährt und legitimiert hat, sondern sie bedeutet allererst die Entwicklung eines Verfahrens, das gleichsam im Prozess des Testens laufend im Entstehen begriffen ist.“74 Damit spricht Mersch Unterschiede der Diskurs-Kontexte an, in denen Forschung stattfindet. Während im wissenschaftlichen Diskurs die Forschungsgegenstände und die Methodik ihrer Erforschung in hohem Maß durch die wissenschaftliche Forschergemeinschaft normativ bestimmt sind, verfügt die künstlerische Forschung über mehr experimentelle Freiräume, in denen die Methoden und Verfahren jeweils individuell entwickelt werden, ohne den Anspruch, diese auf andere künstlerischer Forschungsprozesse zu übertragen. Die Kunst erhebt eben keinen Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit, ihre Bedeutung erfüllt sich im Singulären und Unwiederholbaren. „Statt auf das Allgemeine zielt sie auf das Einzelne.“75 Auch hierin zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zur wissenschaftlichen Forschung. „Im Gegensatz zur wissenschaftlichen [Forschung, Anm. d. Verf.], der es in erster Linie um Logik, Methodik sowie Transparenz und Überprüfbarkeit geht, ist es ihr [der künstlerischen Forschung, Anm. d. Verf.] daher um das Aussetzen von Verlässlichkeiten, um das Alogische und Nichtverstehbare zu tun.“76 Hier spricht Mersch einen weiteren Wesenszug künstlerischer Forschung an. Sie widersetzt sich den Normen der traditionellen Logik, weil sie Aspekte der Wirklichkeit in den Blick bekommen will, die außerhalb der konventionalisierten Bahnen des Wahrnehmens und Verstehens liegen. Es geht ihr eben auch um das Nichtverstehbare, das noch nicht vom identifizierenden Begriff Eingeholte, das Differente. Einen anderen Aspekt des Unterschieds zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung bringt Elke Bippus mit ihrem Konzept einer „Poetologie des Wissens“77 in den Blick. „Auf dem Feld der Kunst […] endet das Forschen nicht auf Seiten der künstlerischen Produktion […]. Im Gegenteil, es kann und muss in der Rezeption fortgeführt werden.“78 Damit betont sie einerseits die Offenheit künstlerischer Forschung und andererseits ihren Prozesscharakter, der die aktive Mitarbeit des Rezipienten in der Generierung von Wissen und von Erkenntnis erfordert.

74 75 76 77 78

A. a. O., S. 96. A. a. O., S. 100. A. a. O., S. 100. Bippus 2007, S. 129–150. A. a. O., S. 130.

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Wenn Bippus von einer „Poetologie des Wissens“ spricht, dann rückt sie damit – im Sinne des griechischen Begriffs der poiesis – den Aspekt des Hervorbringens und Herstellens von Erkenntnis in den Vordergrund. Wissenschaftsforscher wie Michel Serres, Bruno Latour oder Hans-Jörg Rheinberger haben ihrerseits auf die Rolle von prozessualen und performativen Anteilen bei wissenschaftlicher Forschung hingewiesen und auch auf die Tatsache, dass das Kontingente und Unvorhersehbare in den Wissenschaften einen oft entscheidenden Faktor ausmacht. Was also zunächst als Unterschied zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung erscheint, erweist sich bei genauerer Analyse als verbindendes Element, auch wenn möglicherweise die Gewichtung des Prozesshaften und des Unvorhersehbaren in beiden Bereichen anders ausfällt. Anhand zweier konkreten Beispiele aus dem Bereich der künstlerischen Forschung79 stellt Elke Bippus die traditionelle Polarisierung zwischen Wissenschaft und Kunst grundsätzlich in Frage. An ihnen zeigt sie, dass poiesis und epistemé sich ineinander verschränken: Das performative Hervorbringen und Gestalten, wie es als Wesensmerkmal von Kunst begriffen wird, stellt auch Möglichkeiten der Erkenntnis bereit. „Die künstlerischen Verfahren bilden Räume des Wissens [und damit der Erkennntnis, Anm. d. Verf.], in denen nicht über Dinge gesprochen, sondern mit ihnen agiert wird.“80 Wir begegnen hier wieder dem Gedanken, dass Wissen und Erkenntnis für den Rezipienten von Kunst nicht einfach als fertiges Produkt bereitgestellt wird, sondern dass es im wahrnehmenden und aktiven Umgang mit Kunst weiter entwickelt werden muss. Mimesis, Analogie und Metapher als Zentrum ästhetischer Erkenntnis

Um das Besondere des Ästhetischen bzw. der ästhetischen Forschung zu erfassen, werden immer wieder unterschiedliche Aspekte ins Zentrum der Analyse gerückt: die Spezifika der ästhetischen Zeichensysteme, der Material- und offene Prozesscharakter, die unterschiedlichen Diskurs-Kontexte und ihre Normen, in denen sich Forschung verortet oder auch verschiedene Wissenskonzepte, die die Basis von Erkenntnis darstellen. Mein Konzept ästhetischer Erkenntnis kreist um die Idee der Ähnlichkeit. Sie wird auf verschiedenen 79 Elke Bippus unterzieht zwei Beispiele aus der zeitgenössischen Kunst einer detaillierten Analyse: Renée Greens „Import/Export Funk office“ (a. a. O. S.  132 ff.) sowie Heimo Zobernigs „Katalog“ (a. a. O. S. 140 ff.) 80 A. a. O., S. 148.

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Ebenen wirksam (auf der Ebene der Kunstproduktion ebenso wie auf der Ebene der Kunstrezeption) und kann zur Begründung einer Vielzahl von Phänomenen genommen werden, die hier bereits angesprochen wurden. Ästhetische Erkenntnis beruht auf mimetischem Verstehen

Der mimetische Weltbezug stellt eine sehr ursprüngliche Weise des Umgangs mit der Wirklichkeit dar. Er ist bei Kindern als zentrale Form der Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt zu beobachten, wirkt aber auch im Erwachsenenleben in vielfältigen Formen und Situationen weiter. So weisen Begegnungen zwischen Menschen, gerade diejenigen, die von Empathie geprägt sind, mimetische Züge auf. Auch Situationen intensivierter Wahrnehmung zeichnen sich manchmal dadurch aus, dass mimetische Tendenzen, also Tendenzen der Annäherung und Anähnelung zwischen Objekt und Subjekt wirksam werden. Einen Bereich, in dem das Mimetische eine hervorgehobene Rolle spielt, stellt die Kunst dar. Im Mimetischen kann eine der Wurzeln von Kunst gesehen werden: Kunst versucht die Wirklichkeit zu verstehen und zu gestalten, indem sie sich der Wirklichkeit ähnlich macht.81 Bilder, Musik, Sprache, Tanz – in allen künstlerischen Ausdrucksformen lassen sich Spuren des Mimetischen finden: in den Spuren des Pinsels auf der Leinwand, der den visuellen Eigenschaften der Welt nachspürt; in musikalischen Gestalten, die sich der vielfältigen Welt der Spannungsverläufe annähern; in Worten, die offene Räume der Imagination erschließen; in Bewegungen, die die Welt spürbar machen. Das Mimetische spielt jedoch nicht nur in der Produktion von Kunst eine Rolle, sondern vor allem auch in der Rezeption. Wenn wir uns mit Kunst beschäftigen, so gibt es dabei immer auch eine Ebene, die direkt unseren Körper anspricht und einbezieht. Bedingt dadurch, dass Kunst immer über die sinnliche Wahrnehmung erschlossen wird (auch dort, wo sie als Konzeptkunst scheinbar nur mit sinnlichen Imaginationen arbeitet), ist die Körperlichkeit des Rezipienten auf jeden Fall involviert. Natürlich gibt es unterschiedliche Grade der körperlichen Involviertheit, abhängig von den Kunstgattungen (möglicherweise hat Musik grundsätzlich einen stärkeren Zug, die Hörer kör 81 Wenn hier in gleichsam apodiktischen Sätzen die Rede davon ist, wie und was Kunst ist, so handelt es sich jeweils nur um eine mögliche Perspektive auf das vielschichtige Phänomen der Kunst. Es wird damit nicht der Anspruch vertreten, das Wesen der Kunst zu fassen. Vielmehr geht es darum, die Aufmerksamkeit auf einen möglichen Aspekt zu lenken.

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perlich zu tangieren, als Bilder, die an der Wand hängend, also aus einer Distanz heraus, betrachtet werden)82 und abhängig von den spezifischen Ideen einzelner Kunstwerke. Die konkrete sinnliche Wahrnehmung stellt jedenfalls den Kern der ästhetischen Erfahrung und damit auch der ästhetischen Erkenntnis dar. Dieser sinnlichen Wahrnehmung haftet im Zusammenhang mit Kunst ein mimetisches Moment an. Es ist eine besondere Art der Wahrnehmung, die sich gegenüber den emotionalen und unbewussten Komponenten der Erfahrung öffnet. Das Subjekt des Rezipienten steht im Zentrum – in der mimetischen Annäherung an das Kunstwerk erfährt er sich selbst und das Werk in einem Prozess des wechselseitigen Austausches. Bedingt durch den unhintergehbaren Wahrnehmungs- und Subjektbezug der ästhetischen Erfahrung, stellt in der ästhetischen Erkenntnis die Subjektorientierung ein zentrales konstitutives Moment dar. Wenn man das Verhältnis zwischen Subjektivität und Objektivität als Kontinuum denkt, so können das wissenschaftliche und das künstlerische Denken, wie dies Axel Burri vorgeschlagen hat, gewissermaßen als gegenläufige Bewegungen innerhalb dieses Subjektiv-objektiv-Kontinuums beschrieben werden: „als eine [Bewegung, Anm. d. Verf.], die auf wissenschaftliche Wahrheit und den ‚Blick von nirgendwo‘ abzielt, und eine [Bewegung] abwärts, die auf den künstlerischen Ausdruck und den […] ‚Standpunkt des Selbst‘ abzielt.“83 Die Fokussierung des ‚Standpunkt des Selbst‘, die Perspektive der Ersten Person ist also ein wesentliches Merkmal der ästhetischen Erkenntnis. Sie ergibt sich aus dem Wahrnehmungsbezug der ästhetischen Erfahrung und in besonderer Weise aus ihrem mimetischen Charakter. Sie hat zur Folge, dass ästhetische Erkenntnisse – anders als wissenschaftliche Erkenntnisse – nur begrenzt verallgemeinerbar sind. Ästhetische Erkenntnis beruht auf dem Zeigen und ist metaphorisch

Während die Idee des mimetischen Weltzugangs vor allem die körperliche Seite der ästhetischen Erfahrung in den Blick nimmt, rückt die Idee des Metaphorischen die kognitive Seite ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wieder ist es die Idee der Ähnlichkeit, die den Kernpunkt der Überlegungen ausmacht. Wie schon mehrfach ausgeführt, stellt das Zeigen eine zentrale Zeichenfunktion 82 Aus phänomenologischer Perspektive kann das Hören als „involvierender Sinn“ charakterisiert werden, das Sehen demgegenüber als „distanzierender Sinn“. Näheres dazu bei Brandstätter 2008, S. 136 ff. 83 Burri 2007, S. 141.

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von Kunstwerken dar. Kunstwerke benennen nicht so sehr die Wirklichkeit, vielmehr zeigen sie Aspekte der Wirklichkeit, indem sie diese „abbilden“ und damit gewissermaßen selbst „verkörpern“. Bilder verkörpern Aspekte der Farben und Formen der Wirklichkeit; Musik verkörpert energetische Zustände; literarische Sprache verkörpert – jenseits ihrer denotativen Funktionen – die Konstellation zwischen Personen, Handlungsverläufe, Entwicklungen; Tanz verkörpert Bewegungsmuster und Beziehungskonstellationen. Auch wenn natürlich die Bedeutung und Wirkung von Kunstwerken nie ausschließlich auf ihrer „verkörpernden“, „abbildenden“ und „zeigenden“ Zeichenfunktion beruhen, so kann das Zeigen doch – wie schon mehrfach erörtert – als ein konstitutives Merkmal von Kunst postuliert werden. Die zeigende Funktion der Kunstwerke erschließt sich dem analogen Denken. Das analoge Denken folgt dabei mehreren Zielrichtungen. Zum einen versucht es jene Merkmale eines Kunstwerkes zu erfassen, mit denen das Kunstwerk – auf der Basis von Ähnlichkeitsbeziehungen – auf die Wirklichkeit zeigend verweist: Es beschäftigt sich mit der Farbgestaltung eines Bildes, seiner Linienführung, dem formalen Aufbau und erkennt darin Bezüge zu einer Wirklichkeit außerhalb des Bildes. Zum andern wird auch das Nachdenken über weitergehende Bedeutungen des Bildes angeregt. Im Sinne etwa der Ikonologie von Erwin Panofsky84 begnügt man sich als Betrachter eines Bildes eben nicht mit der einfachen Erkenntnis, das hier ein Mann dargestellt ist, sondern die speziellen Attribute (wie z. B. Pferd und Schwert) lassen uns erkennen, dass es sie hier um den Heiligen Georg handelt. Aber selbst auf dieser Ebene bleibt das erkennende Denken noch nicht stehen. Als geübte Kunstbetrachter stellen wir uns die Frage: Was ist das Besondere an dieser Darstellung des Heiligen Georg? Inwiefern unterscheidet sie sich von anderen Darstellungen? Was könnte die spezifische Bedeutung dieses Bildes sein? Diese Fragen lösen analoge Denkprozesse aus, in denen – über das Denkinstrument des Vergleichs – Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen der aktuellen Wahrnehmung und gespeicherten Wahrnehmungen hergestellt werden. Dabei eröffnet sich ein weites Feld der Analogien: Ähnlichkeitsbeziehungen werden eben nicht nur auf der Ebene der unmittelbaren „wörtlichen“ Bedeutung eines Kunstwerks hergestellt. Indem die Art der Darstellung auf andere Arten der Darstellung bezogen wird, indem die eigene Wahrnehmung und Erfahrung auf andere ästhetische und nicht-ästhetische Erfahrungen bezogen wird, ergibt sich dadurch ein Netz von Bezügen, bei denen die Beziehung der Ähnlichkeit durchaus eine zentrale Rolle spielt. 84 Panofsky 1939/1980.

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So wie dem analogen Denken keine Grenzen gesetzt sind, da – wie schon mehrfach betont – immer wieder neue Ähnlichkeitsbezüge hergestellt werden können, so erweist sich auch die darauf aufbauende metaphorische Erkenntnis als eine Erkenntnisform, die grundsätzlich offen zu verstehen ist, das heißt immer wieder neue Formen der Interpretation und Bedeutungszuweisung ermöglicht und anregt. Die metaphorische Erkenntnis richtet sich dabei nicht nur auf die Erkenntnis des Kunstwerkes selbst, sondern auf alle Wirklichkeitsbezüge, die über das Kunstwerk hinaus führen. Hier schließt sich der Kreis zur Idee des Nicht-Identischen. Ähnlichkeitsbeziehungen sind nicht nur von ihrer Grundidee her unendlich (weil unendlich erweiter- und fortsetzbar), sondern sie lassen auch Raum für das Diffe­ rente, für Zwischenräume, die sich nicht eindeutig begrifflich erschließen lassen und die möglicherweise gerade deshalb immer wieder neue Verstehensbemühungen anregen. Die Logik des Zeigens ist einer Logik des Nicht-Identischen verpflichtet, sie eröffnet Räume für das Besondere und Individuelle, das sich nicht unter allgemeine Begriffe subsumieren lässt, damit lässt sie auch Raum für das Rätselhafte und für das Nicht-Verstehen. Ästhetische Erkenntnis birgt in sich – als wesentliches Erkenntnismoment – auch das Nicht-Erkennen. Ästhetische Erkenntnis ist selbstbezüglich – und damit sinnlich und reflexiv

Mit der Logik des Zeigens ist ein weiteres Merkmal der ästhetischen Erfahrung und Erkenntnis verknüpft: die Selbstbezüglichkeit. Da zeigende Zeichen immer auch auf sich selbst zeigen – auf die Bezugsrichtung, die vom bezeichneten Objekt zurück zum bezeichnenden Zeichen führt, verwies bereits Goodman, um die Besonderheiten der Exemplifikationsbeziehung deutlich zu machen –, bleibt das Zeichen selbst im Fokus der Aufmerksamkeit. Es verschwindet eben nicht hinter dem Bezeichneten, sondern lenkt das Interesse immer wieder auch auf sich selbst und seine eigene Materialität. Die Sinnlichkeit der ästhetischen Erkenntnis gründet also nicht nur in den mimetischen Wurzeln des Weltbezugs, sondern auch in der Zeigefunktion, die in der etablierten Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem ständig auch auf sich selbst zeigt. Darüber hinaus wird – folgt man den Überlegungen Dieter Mersch’ zur Logik des Zeigens – auch das Zeigen selbst gezeigt: Die Erfahrung der Materialität und der Präsenz der Zeichen sind die Folge dieses mehrfachen Selbstbezugs. Ästhetische Erkenntnis kann in diesem Sinn als eine Form der „anschaulichen“, materialbezogenen Erkenntnis beschrieben werden – sie beruht auf der Selbstbezüglichkeit ästhetischer Zeichen.

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Eine andere Art des Selbstbezugs wurde mit dem Begriff der „Autoreflexivität“ von Kunst charakterisiert. Der Linguist und Semiotiker Roman Jakobson erklärte die „Autoreflexivität“ zur eigentlichen „poetischen Sprachfunktion“ und sprach damit den Umstand an, dass der Rezipient von Kunst seine Aufmerksamkeit eben nicht nur auf das Dargestellte richtet, sondern ebenso sehr auch auf die Form der Darstellung, denn in der Art der Darbietung kommen neue inhaltliche Momente zum Ausdruck. In seiner aus dem Jahr 1919 stammenden Abhandlung über „Die neueste russische Poesie“ schreibt Jakobson: „Die Einstellung auf den Ausdruck, auf die sprachliche Masse ist das einzige für die Poesie wesentliche Moment.“85 Ähnlich thematisiert diesen Umstand auch Umberto Eco. Er spricht von der „ästhetischen Funktion“ einer Botschaft, „wenn sie sich als auf sich selbst beziehend (autoreflexiv) erscheint, d. h. wenn sie die Aufmerksamkeit des Empfängers vor allem auf ihre eigene Form lenken will.“86 Dass die Form der Darbietung inhaltliche Aspekte transportiert, ist wiederum mit der Zeigefunktion ästhetischer Zeichen in Verbindung zu bringen. Die Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem wird auch über formale Korrespondenzen und Analogien hergestellt. Die Vermittlung ästhetischer Erkenntnis erfolgt damit wesentlich über die Materialität des Mediums und seine spezifische Formung. Die Reflexivität der ästhetischen Erkenntnis hat aber auch noch eine weitere erkenntnistheoretische Dimension. Friedrich Nietzsche war es, der den „Illusions- und Lügencharakter“ jeder Art von Erkenntnis, auch der wissenschaftlichen bloß legte.87 Während die Wissenschaften jedoch weitgehend an ihrem Wahrheitsanspruch festhielten (zumindest zur Zeit Nietzsches), legen Kunstwerke von vornherein ihren Scheincharakter offen: sie zeigen ihn und stellen ihn damit der Reflexion zur Verfügung. Kunst zeichnet sich auch in dieser Hinsicht durch ein hohes Maß an Selbstreflexion aus.

85 Jakobson 1919/2007, S. 115. 86 Eco 1972, S. 145 f. 87 Nietzsche 1980b, S. 880.

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5.  Übergänge und Transformationen So wie im Schlusskapitel über „Denken und Erkennen“ die Idee der Intermedialität und damit die Durchmischung verschiedener Denkmedien und Denkformen thematisiert wurde, muss nun – nach einer scheinbar schematischen Unterscheidung der beiden Erkenntnissysteme Kunst und Wissenschaft – die strikte Grenzziehung wieder in Frage gestellt werden. Freilich müssen wir dabei zur Kenntnis nehmen, dass Kunst und Wissenschaft relativ fest gesellschaftlich verankerte Diskurs-Systeme darstellen, das heißt, dass die Grenzüberschreitung und Durchmischung keineswegs selbstverständlich ist. Wichtig erscheint es jedenfalls, dass die in Zusammenhang mit der ästhetischer Erkenntnis angesprochenen Spezifika nicht verabsolutiert und einseitig der Kunst zugesprochen werden, denn de facto stellen sowohl die Wissenschaften wie die Künste überaus komplexe und unüberschaubar vielfältige Systeme der Auseinandersetzung mit Welt dar, in denen verschiedene Denk- und Erkenntnisformen unauflösbar miteinander verschränkt sind. Die zuvor versuchten Unterscheidungen zwischen verschiedenen Formen der Erkenntnis sind in diesem Zusammenhang als gedankliches Instrument zu sehen, das helfen soll, die Komplexität der tatsächlichen Verhältnisse versuchsweise zu reduzieren, um einzelne Aspekte klärend in den Blick zu bekommen. Sabine Ammon schlägt in ihrem Buch „Wissen verstehen“88 vor, das übliche Modell der Polarisierung zwischen Objektivität und Subjektivität, zwischen Allgemeingültigkeit und Relativismus durch ein dynamisches Modell der Kontinuitäten und der graduellen Unterschiede zu ersetzen. Zu überlegen ist, ob auch im Bereich der Wissenschaften und Künsten zum Teil von graduellen Unterschieden gesprochen werden kann. Dass es – bezogen auf bestimmte Aspekte – durchaus fließende Übergänge gibt, wurde bereits mehrfach thematisiert. Nietzsches Hinweis auf den fiktiven Charakter, der sowohl die Kunst wie auch die Wissenschaft kennzeichnet, kann in diesem Sinn als verbindender Gedanke betrachtet werden. Ebenso ist hier an den prozessualen und auch performativen Charakter der Wissenschaften zu erinnern, den Wissenschaftstheoretiker in den letzten fünfzig Jahren verstärkt thematisiert und damit ins Bewusstsein gebracht haben. Übergänge sind auch festzustellen, wenn man die jeweils verwendeten Medien in den Blick nimmt: Die Wissenschaften sind keineswegs hinreichend damit charakterisiert, dass sie sich ausschließlich der propositionalen Sprache bedienen. Vielmehr spielen gerade auch Bilder (und damit auch das bildliche Denken und Erkennen) in den Wissenschaften eine zum Teil sehr wichtige Rolle. Dies betrifft nicht nur die Darstellung und Ver 88 Ammon 2009.

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mittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern etwa auch die Rolle, die Bilder und Imaginationen bereits bei der Entwicklung wissenschaftlicher Theorien spielen. So spricht schon Otto Neurath von der wichtigen Funktion, die „leitende Phantasiebilder“ in den Wissenschaften erfüllen. Sie verleihen den Wissenschaften einen „unscharfen Rand“, öffnen sie also in noch nicht erforschte und erkannte Bereiche.89 Hier wird deutlich, dass auch die Idee der grundsätzlichen Offenheit keineswegs allein dem Bereich der Kunst zuzuordnen ist. Ohne an dieser Stelle hier nochmals alle Berührungen und Überschneidungen zwischen Kunst und Wissenschaft anzuführen, soll doch grundsätzlich festgestellt werden, dass es natürlich Unterschiede gibt, dass diese aber weniger als polare Gegensätze beschrieben werden sollten, sondern dass sich jede einzelne Wissenschaft und jede einzelne Kunstsparte (wenn nicht überhaupt jedes einzelne Kunstwerk) in einem gemeinsamen, kontinuierlichen Feld von Merkmalen positioniert. Mögliche Positionen in diesem Feld auszumachen, war das Ziel aller vorangehenden Überlegungen. Eine andere Perspektive ergibt sich, wenn man Wissenschaft und Kunst als gesellschaftlich etablierte Diskurs-Systeme betrachtet. Foucault, Deleuze und Derrida haben darauf hingewiesen, dass die Unterteilung der Diskurstypen (etwa in künstlerische und wissenschaftliche Diskurse) als Ergebnis sprachlicher Gewaltausübung gesehen werden kann. Die Einteilung in Diskurse ist keineswegs naturgegeben und folgt auch keiner eindeutigen Sachlogik, vielmehr handelt es sich dabei um „Unterschlagung von Aussagenformationen“, um „willkürliche diskursive Kerbung des Aussagenfeldes“ und um „die Einführung von Diskurshierarchien und Sprechnormen, die die prinzipiell unbegrenzte […] plurale Rede rastern, klassifizieren und uneingestandene Wertmaßstäbe anlegen.“90 Die Grenzziehungen zwischen den Diskursen haben normativen Charakter; die Unterscheidung zwischen dem, was innerhalb eines Diskurses Platz hat, und dem, was nicht den Normen entspricht, ist keineswegs als neutrale, sachlogische Unterscheidung zu sehen, sondern dahinter stehen Machtspiele, in denen Wertungen vorgenommen und hierarchische Verhältnisse hergestellt oder abgesichert werden. Aktuell sind jedoch viele Versuche zu beobachten, die vorhandenen Machtstrukturen in Frage zu stellen. In diesem Zusammenhang ist etwa Gilles Deleuze – als einer unter vielen – zu nennen, der bewusst eine Vermischung des literarischen und philosophischen Sprechens erprobte und kultivierte, um die diskursiven Verfestigungen der jeweils eingefahrenen und gewohnten Diskursbahnen aufzubrechen und damit der disziplinären Gewaltausübung Ein 89 Neurath 1915. Hier zitiert nach Rheinberger 2007, S. 32. 90 Ott 2007, S. 70.

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halt zu gebieten. „Kunstnahe Denktransversale“ sollen das Denken beweglich halten und zu einer Umorganisation der Erkenntnis unterhalb der „gekerbten“ (eingeschliffenen) Diskurse führen.91 Die besondere Chance, die sich durch kunstnahe Formen des Denkens ergibt, besteht darin, dass sie offene Diskurse hervorbringen. Wir begegnen hier wieder der Idee der Offenheit, die bereits mehrfach thematisiert und verschiedentlich (zeichentheoretisch, phänomenologisch) begründet wurde. Wir leben in einer Zeit, in der der „Interdisziplinarität“ eine große Bedeutung zugesprochen wird. Dies hat möglicherweise mit der Erfahrung zu tun, dass die Komplexität der Probleme, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, nicht mehr aus der Perspektive eines Faches heraus gelöst werden können. Vielmehr bedarf es des Zusammenwirkens verschiedener Fachdisziplinen und der in ihnen verankerten Erkenntnis- und Lösungsstrategien. Folgt man den Überlegungen der Wissenschaftstheoretikerin Helga Nowotny, so ergeben sich die eigentlichen „disziplinären Umbrüche“ in „transdisziplinären“ Arbeitsformen. „Trans­disziplinarität entsteht dann, wenn die Forschung quer über die disziplinäre Landschaft auf einer gemeinsamen Axiomatik und auf einer gegenseitigen Durchdringung disziplinärer Erkenntnismethoden beruht.“92 Die gegenseitige Durchdringung disziplinär geprägter Erkenntnismethoden stellt hohe Ansprüche; sie verlangt von den Beteiligten Übersetzungsleistungen: Denk- und Arbeitsweisen, die sich zumeist noch in einer spezifischen, disziplinär geprägten Begrifflichkeit spiegeln, müssen einander angeglichen werden. Dabei geraten aber nicht nur die Begriffe in Bewegung, sondern die gesamte propositionale Bedeutungs-Struktur, in der die Begriffe eingebettet sind. Disziplinäre Selbstverständlichkeiten und Automatismen werden plötzlich in Frage gestellt, oftmals treten sie dadurch überhaupt erst ins Bewusstsein der Akteure. Selbstreflexion der eigenen Disziplin und bewusste Wahrnehmung der Eigengesetzlichkeiten sind die Folge. Was Helga Nowotny hier für die transdisziplinäre Auseinandersetzung zwischen wissenschaftlichen Disziplinen konstatiert, lässt sich natürlich genau so auf die Begegnung von künstlerischen und wissenschaftlichen Denk- und Erkenntnisweisen übertragen. Transversales Denken und transdisziplinäre Arbeitsweisen bergen in sich die Chance, verkrustete und konventionalisierte Denk- und Erkenntnisformen aufzubrechen und in Bewegung zu bringen. Den künstlerischen Arbeitsweisen wird in diesem Zusammenhang eine besondere Kraft zugeschrieben. Gerade in den vergangenen zehn Jahren wird zunehmend versucht, neue Forschungs 91 Michaela Ott gibt einen Überblick über Deleuzes und Guattaris kunstnahe Denktransversalen in Ott 2007, S. 86 ff. 92 Nowotny 1999, S. 106.

Übergänge und Transformationen  |  85 

felder zu etablieren, in denen künstlerische und wissenschaftliche Arbeitsweisen miteinander kombiniert werden. Das bereits angesprochene Schlagwort der „künstlerischen Forschung“ bezeichnet diese neuen Entwicklungen. Den neuen Tendenzen wird einerseits mit Skepsis begegnet – die etablierten Wissenschaften achten mit Sorgfalt darauf, dass ihre Grenzen nicht überschritten werden (man denke an die zuvor angesprochenen Machtspiele) –, zum andern gibt es aber bereits öffentliche Fördertöpfe und natürlich auch private Fördermittel (vor allem in Österreich und in der Schweiz), die gerade künstlerischwissenschaftliche Forschungsprojekte unterstützen. Die Forschungslandschaft ist in Bewegung geraten, und wie immer in Veränderungsprozessen fallen die Reaktionen darauf unterschiedlich aus. Die künstlerische Forschung befindet sich aktuell in einem Stadium der Entwicklung, in dem noch nicht abzusehen ist, welche neue Formen der Forschung sich dabei etablieren, das heißt welche Formen – etwa der Zusammenarbeit von Künstlern und Wissenschaftlern – sich tatsächlich gesellschaftlich behaupten werden. Wer Grenzen überschreitet, hat es mit Übergängen zu tun. Michel Foucault hat den Vorgang der Überschreitung in ein schönes sprachliches Bild gefasst: „Die Überschreitung ist eine Geste, die es mit der Grenze zu tun hat; an dieser schmalen Linie leuchtet der Blitz des Übergangs auf, aber vielleicht auch ihre ganze Flugbahn und ihr Ursprung. Vielleicht ist der Punkt ihres Übergangs ihr gesamter Raum.“93 Im nachfolgenden Kapitel will ich mich damit beschäftigen, was sich an und in diesen Übergängen alles ereignen kann. Ich werde Übergänge und Transformationen als Auslöser von Erkenntnisprozessen beschreiben.

93 Foucault 1987, S. 32 f.

III.  Ästhetische Transformation 1.  Zum Begriffsfeld „Transformation“ Transformation ist ein vielfältig schillernder Begriff, der in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen Verwendung findet. Vom lateinischen Wortstamm her betrachtet, bedeutet er „Umformung“. Das Wort „trans“ verweist dabei auf eine Konstellation, in der es zu einer Bewegung von einem Punkt zu einem anderen kommt: die Bewegung führt hinüber, aber auch jenseits, an einen anderen Ort. Essentiell ist das Vorhandensein zweier getrennten Bereiche, die miteinander in Verbindung gebracht werden. Der Wortteil „trans“ impliziert jedenfalls ein Moment der Bewegung und des Prozesshaften. Im ganz allgemeinen Sinn ist „Transformation“ als ein Prozess der Veränderung zu verstehen, der zunächst – in der buchstäblichen Bedeutung des Wortes – formale Aspekte betrifft. Auffallend ist die Vielzahl der Themengebiete, in denen der Begriff der Transformation mit je unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. Die Palette der Anwendungszusammenhänge reicht dabei von der Mathematik und Informatik über diverse wissenschaftliche Disziplinen der Naturwissenschaft und Technik bis zu den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie den Geistes- und Kulturwissenschaften.1 Um die Spannbreite der Verwendungsweisen in den Blick zu bekommen, seien als exemplarische Beispiele hier einige genannt: In der Informatik bezeichnet der Begriff der Transformation die Überführung von Daten in ein anderes Format, also die Umformung einer Datenstruktur; in der Elektrotechnik ermöglicht der „Transformator“ die Regulation der Höhe einer Wechselspannung; in der Medizin verweist der Begriff der „malignen Transformation“ auf die Veränderung von normalen Zellen zu Tumorzellen; in der Politikwissenschaft bezeichnet Transformation den grundlegenden Wechsel eines politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Systems; in der Linguistik wird im Rahmen der „Transformationsgrammatik“ von Noam Chomsky die Umformung von Satzstrukturen unter Beibehaltung der Bedeutung thematisiert; und in religiösen Zusammenhängen schließlich ist mit Transformation – etwa im Buddhismus – das Verwandeln von Leid in Glück gemeint.

1 Vgl. hierzu etwa den Eintrag „Transformation“ im Wikipedia: http://de.wikipedia.org/ wiki/Transformation vom 7. 7. 2011

88  |  Ästhetische Transformation

Die hier exemplarisch angeführten Verwendungsweisen des Begriffs zeichnen sich durch grundlegende Unterschiede aus. Zu bedenken sind zunächst Prozesse der Transformation, bei denen im Sinne einer ausschließlich formalen Umstrukturierung die „Substanz“ des Transformationsgeschehens unverändert erhalten bleibt. Hierher gehören Transformationen, wie sie in der Mathematik, in der Informatik oder auch in der Physik zur Anwendung kommen. Es handelt sich dabei um Transformationsprozesse, die reversibel und eindeutig sind, in denen also jederzeit – ohne Veränderung des „Inhalts“ – zwischen den beiden „Zuständen“ hin und her gewechselt werden kann. Davon zu unterscheiden sind Transformationen, die eine eindeutige Entwicklungsrichtung aufweisen: Dazu gehört die maligne Veränderung von Zellen zu Krebszellen ebenso wie die religiös motivierte Verwandlung von Leid in Glück. Gemeinsam ist diesen so unterschiedlichen Transformationsprozessen, dass es sich um in gewisser Weise irreversible Vorgänge handelt, in denen überraschende neue Eigenschaften auftreten. Angesichts von längeren Veränderungsprozessen stellt sich zudem die Frage, ob sie kontinuierlich verlaufen oder ob sie sprunghaft zu Veränderungen führen. Grundsätzlich muss also zwischen folgenden Möglichkeiten unterschieden werden: zwischen reversiblen und irreversiblen Transformationen; zwischen kontinuierlichen und sprunghaften Transformationen; zwischen exakt messbaren, genau kontrollierbaren und offenen Transformationen, bei den auch Unvorhergesehenes eintreten kann; zwischen Transformationen, bei denen die „Substanz“ erhalten bleibt, und solchen, bei denen die Veränderung der „Substanz“ durchaus zu den gewünschten Folgen gehört. Transformationen sind im Spannungsfeld zwischen genau definierten strukturellen Umformungen und offenen Verwandlungsprozessen zu positionieren. Im Zusammenhang mit „ästhetischen Transformationen“ werden uns vor allem offene und unvorhersehbare Veränderungsprozesse interessieren.

Zur Vielfalt ästhetischer Transformationen  |  89 

2.  Zur Vielfalt ästhetischer Transformationen „Alles Schaffen ist Umschaffen“ – so notierte bereits 1883 Friedrich Nietzsche.2 In diesem Sinn formulierte auch Nelson Goodman: „Das uns bekannte Welterzeugen geht stets von bereits vorhandenen Welten aus; das Erschaffen ist ein Umschaffen.“3 Was immer wir „schaffen“ (erarbeiten, erfinden, gestalten), als Menschen gehen wir niemals von einem Zustand der „tabula rasa“ aus. Wir bauen auf Vorgefundenem auf und bedienen uns vorhandener Kategorien des Wahrnehmens, Denkens, Handelns und Gestaltens. Das Prinzip des „Umschaffens“ gilt in besonderer Weise auch für den Bereich der Kunst, selbst dort, wo Kunst im Sinne des Originalitätsprinzips den Anspruch erhebt, etwas völlig Neues zu schaffen. Insofern Kunst immer auf bereits vorhandenen künstlerischen und auch nicht-künstlerischen Verfahrens- und ­Ausdrucksweisen aufbaut, kann das „Umschaffen“ und damit das Transformieren als dominierendes Prinzip künstlerischer Schaffensprozesse gesehen werden. Der Aspekt der Transformation weist jedoch auch noch in eine andere Richtung. Aus einer energetischen Perspektive kann Kunst grundsätzlich als bewusst gestaltete ästhetische Transformation kognitiver und emotionaler Energien betrachtet werden. Dieser Sichtweise liegt die Vorstellung von Leben als Energie zugrunde – Leben kann demnach als Transformation von Energie beschrieben werden. Energetische Prozesse finden bereits auf neuronaler Ebene statt, dort wo chemische Reaktionen zu elektrischen Reaktionen führen und auf diese Weise im Gehirn Spannungs­muster aufgebaut werden, die der kognitiven und emotionalen Verarbeitung von äußeren und inneren Reizen dienen. Auf einer ersten Ebene der Verarbeitung wird neuronale Energie in kognitive und emotionale Energie umgewandelt. Dieser Umwandlungsprozess bildet die Grundlage von Wahrnehmungen, Empfindungen und Emotionen. Damit wir uns über unsere Wahrnehmungen und Gefühle verständigen können, bedarf es eines nächsten transformierenden Schrittes. Kognitionen und Emotionen müssen in eine mitteilbare Gestalt gebracht werden. Dafür stehen dem Menschen vielfältige Medien der Kommunikation zur Verfügung: der eigene Körper als Ausdrucksmedium (Lachen, Weinen, Mimik, Gestik) ebenso wie die Verbalsprache, die Sprache der Bilder, der Klänge etc. Kommunikation in diesem Verständnis beruht auf der Transformation von energetischen Zuständen in kommunizierbare Gestalten: eine vorhandene ‚Form‘ (wie die über die Sinnes 2 Hier zitiert nach der Digitalen Kritischen Gesamtausgabe: eKGWB, NF-1883, Gruppe 10 [20], Posthumous fragments. http://www.nietzschesource.org/documentation/de/ eKGWB.html 3 Goodman 1984, S. 19.

90  |  Ästhetische Transformation

organe vermittelte Wahrnehmungsform) wird in eine andere ‚Form‘ (eine Ausdrucksgeste oder einen sprachlichen Ausdruck) umgewandelt, sie wird transformiert. Die Kunst könnte schließlich auf einer darauf aufbauenden dritten Transformations-Ebene angesiedelt werden. Sie baut auf der Ebene der Kommunikation im Alltag auf, transformiert diese jedoch mit ästhetischen Mitteln.4 Sowohl die generelle Idee, dass alles Schaffen auf einem Prozess des Umschaffens beruht, als auch die Vorstellung von Kunst als Transformation kognitiver und emotionaler Energien beziehen sich auf einen sehr allgemeinen Begriff von Transformation im Sinne von Veränderung und Verwandlung. Im Folgenden soll es um Ideen der ästhetischen Transformation in einem eingeschränkteren Sinn gehen. Als zentrales Merkmal für ästhetische Transformationen wähle ich den Aspekt der Bewusstheit aus, mit dem ästhetische Transformationen vollzogen werden. Das heißt, ich konzentriere mich auf jene ästhetischen Phänomene, in denen Künstler bewusst einen zunächst „fremden“ Phänomenbereich als Ausgangspunkt für eine Übertragung in ihr eigenes künstlerisches Denken und Gestalten nehmen. Die mit dieser Einschränkung erfassten intentionalen Transformationen bleiben in ihrer Fülle nach wie vor schier unüberschaubar. Zu unterscheiden sind hier monomodale Transformationen, die innerhalb eines Mediums situiert sind (wie etwa die Übertragung eines malerischen Darstellungsstils in eine Grafik oder die Verwendung essayistischer Formulierungen in einem wissenschaftlichen Text), von transmedialen Transformationen, in denen bewusst die Mediengrenzen überschritten werden (etwa wenn musikalische Kompositionsideen ins Bildnerische oder ins Literarische übertragen werden). Ein anderes Unterscheidungsmerkmal könnte im jeweils unterschiedlichen Ausgangspunkt für die Idee einer Transformation gesehen werden. Ist es das Material, das zur Transformation im Sinne einer Nachahmung anregt? Man denke z. B. an die Nachahmung unterschiedlicher Stoffe aus Papier, wie sie die belgische Künstlerin Isabelle de Borchgrave auf beeindruckend täuschende Weise bewerkstelligt. Oder geht es um die Übersetzung einer formalen Gestaltungs- oder Strukturidee von einem künstlerischen Medium in ein anderes – wie etwa die Idee der Polyphonie, wie sie Paul Klee in manchen seiner Bilder visuell umsetzt? Oder steht die Übertragung von sinnesspezifischen Wahrnehmungsweisen im Zentrum des Interesses einer Transformation – etwa wenn bildlich-visuelle Vorstellungen in eine musikalische Komposition überführt werden? Oder geht es einem Künstler darum, wissenschaftliche Erkenntnisse 4 In meinem Buch „Grundfragen der Ästhetik“ habe ich ein energetisches Schichtenmodell entwickelt, das die aufeinander aufbauenden Phasen der Transformation genauer erläutert: Brandstätter 2008, S. 68 ff.

Zur Vielfalt ästhetischer Transformationen  |  91 

in eine ästhetische Darstellung zu bringen – Leonardos anatomische Studien können durchaus als ästhetische Transformationen wissenschaftlicher Erkenntnisse gelesen werden. Natürlich sind in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen künstlerischen Hybridformen zu bedenken, in denen von vornherein ein Austausch zwischen verschiedenen künstlerischen Medien stattfindet – sei es in der Vokalmusik, bei der sprachliche Wendungen ins Musikalische transformiert werden, oder in künstlerischen „Gesamtkunstwerken“ wie dem Theater und der Oper. Gerade im Zeichen der „Verfransung der Künste“,5 wie Adorno die künstlerischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert charakterisiert hat, bzw. im Zeichen der „Entgrenzung der Künste“6 (man denke an Installationen, Happenings, Performances und alle digitalen multimedialen Kunstformen), stellen Transformationsprozesse zwischen den verwendeten Medien durchaus eine fruchtbare Untersuchungsperspektive dar. Um die Fülle der möglichen Transformationsbeziehungen zu ordnen, haben Kathrin Busch und Vera Franke eine „Rhetorik der Transformation“7 vorgeschlagen. Vor der Vergleichsfolie sprachlich-rhetorischer Stilmittel (wie Allegorie, Paraphrase, Antithese etc.) entfalten sie eine Fülle an möglichen ästhetischen Ideen, die einen Transformationsvorgang leiten können. Damit rücken unterschiedliche Intentionen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Transformationen können durch die Idee der Nachahmung und Variation – manchmal auch aus dem Interesse des Übertreffens – motiviert sein, sie können aber auch als Kontrapunkte, als verfremdende „Gegensetzungen“ gestaltet werden. Transformationen innerhalb eines Mediums oder zwischen verschiedenen Medien, Transformationen auf verschiedenen Ebenen (des Materials, der Form, der Struktur, der Wahrnehmungskategorien), Transformationen zwischen den Künsten oder zwischen Wissenschaft und Kunst, Transformationen mit unterschiedlichen Intentionen – angesichts der Vielfalt der Transformationsphänomene, die sich einer Kategorisierung entziehen, wähle ich im Folgenden den Weg, ausgewählte, möglichst vielfältige Beispiele ästhetischer Transformationen darzustellen und zu analysieren. Darauf aufbauend werde ich den Versuch unternehmen, eine Theorie der ästhetischen Transformation zu entwickeln, die zentrale Mechanismen freilegt. Im Zentrum wird dabei die These stehen, dass ästhetische Transformationen ein großes Innovationspotenzial in sich bergen. Worauf dieses beruht und wie es zustande kommt, wird Thema der zu entwickelnden Theorie der ästhetischen Transformation sein. 5 Vgl. hierzu Adorno 1966, S. 432–453. 6 Vgl. hierzu Mattenklott 2004. 7 Busch/Franke 2008, S. 24 ff.

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3.  Beispiele ästhetischer Transformationen Transformation zwischen Zeigen und Sagen Anne Bertier: Dessine-moi une lettre

Als erstes Beispiel dient eine Abbildung aus dem Bilderbuch „Dessine-moi une lettre“8 der französischen Illustratorin Anne Bertier. Das Buch steht in der Tradition der sogenannten ABC-Bücher, also jener Bücher, deren primäres Ziel es ist, Kinder in die Zeichen der Schrift einzuführen. Beschränkte sich diese Zielsetzung in den frühen ABCdarien – seit dem 16. Jahrhundert – fast ausschließlich auf Buchstaben und Wörter (also auf die Präsentation von Schriftzeichen), so hat im 18. Jahrhundert die Aufklärungspädagogik zunehmend den zusätzlichen Wert bildlicher Illustration erkannt: Die Schriftzeichen werden durch die Anschaulichkeit der Bilder ergänzt. Als charakteristischer Typus kristallisierten sich bald jene bis heute bekannten und beliebten Bücher heraus, in denen – der Reihenfolge im Alphabet folgend – ein Buchstabe jeweils als schriftliches Zeichen präsentiert wird und daneben ein Bild, das einen dem Buchstaben zugeordneten Begriff zeigt: So wird etwa der Buchstabe A mit dem Bild des Affen konfrontiert, oder der Buchstabe B mit dem Bild des ­Balles. Aus dieser so einfachen, weil eindeutig geregelten Präsentationsform von Buchstaben (ein Buchstabe steht für ein Wort, das Wort wird als Bild gezeigt) ergibt sich eine Vielzahl an bildnerischen Möglichkeiten, die bis heute viele Illustratoren zu durchaus auch ungewöhnlichen Buchgestaltungen anregen. Anne Bertier, die im französischen Sprachraum als Illustratorin von Kinderbüchern eine wichtige Rolle spielt, findet in ihrem Buch „Dessine-moi une lettre“ eine künstlerische Lösung für die visuelle Präsentation der Buchstaben, die sich durch die Transformation der verwendeten Zeichen ergibt. Am Beispiel des Buchstaben F soll das transformative Prinzip erläutert und analysiert werden. Auf der linken Seite des Buches befindet sich, in rot gemalt, die schriftliche Zeichengestalt des Buchstaben – ihm gegenübergestellt sieht man das Bild eines blauen Blattes: Die Verbindung zwischen dem Buchstaben und dem Blatt wird über das französische Wort „feuille“ (das französische Wort für „Blatt“) hergestellt. Auf den ersten Blick handelt es sich also um eine für ABCBücher typische Präsentation der Buchstaben des Alphabets: Der Anfangsbuchstabe eines Wortes verknüpft das Schriftzeichen mit dem Bildzeichen. Auffallend ist jedoch, dass der Buchstabe und das Blatt durch eine formale 8 Anne Bertier: Dessine-moi une lettre. („Zeichne mir einen Buchstaben“). Editions MeMo 2004.

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Anne Bertier: F – Feuille.

Korrespondenz miteinander visuell verknüpft sind. Die visuelle Gestalt des Buchstaben F findet sich in der Blattstruktur wieder, sie bildet sozusagen die „Äderung“ des Blattes. Freilich wird die visuelle Form nicht einfach wiederholt: weder die Farbe noch die Größe noch die grafische Gestaltung der Linien sind exakt gleich. Es gibt nuancierende Abweichungen, die Raum für weitere Deutungen geben. Die visuelle Gestaltung lebt genau von diesen minimalen Differenzen: Würde Anne Bertier die grafische Form schlicht wiederholen, würde man als Betrachter zwar vielleicht zunächst fasziniert von der Idee der Korrespondenz sein, aber der Reiz würde sich nach Erkenntnis der Gestaltungsidee schnell verflüchtigen. Durch die minimalen Differenzen bleibt die Aufmerksamkeit des Betrachters jedoch erhalten, der wahrnehmende Blick gleitet hin und her, die Wahrnehmung kommt an keinen Endpunkt, sondern bleibt in Bewegung. Gerade diese nuancierenden Abweichungen sind es, die die vorliegende „Illustration“ zu einem künstlerischen Werk machen. In den Differenzen eröffnen sich poetische Räume der Deutung.

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So kann die Gestalt des Buchstaben auch als Baum gelesen werden, der sich im Wind bewegt und dessen Blätter durch den Wind von den Ästen gefegt wurden. Mit dieser „szenischen“ Assoziation kommt ein weiteres Moment in Spiel: der gestische Charakter der Zeichen. Nicht nur der Buchstabe selbst scheint in sich bewegt, auch das Blatt vermittelt in seiner durchscheinend blauen Farbe, die den Blick auf die Blattadern freigibt, etwas von Leichtigkeit und Beweglichkeit. Dass die Farben in keiner Weise „naturalistisch“, also abbildend sind (der Baum ist rot, das Blatt ist blau), verstärkt den Eindruck, dass man sich in eine „künstliche“ Welt begibt, also in eine Welt, in der den subjektiven Eindrücken und der eigenen Fantasie viel Raum gegeben wird. Stellt man sich nun vor, das Buch gemeinsam mit einem Kind zu betrachten und zu lesen, so wird man das Betrachten der Zeichen mit dem Übersetzen der Zeichen ins Klangliche verbinden. Man wird den Buchstaben F laut aussprechen und auch das Wort „feuille“ artikulieren. Dabei wird man die onomatopoetischen Möglichkeiten des Wortes und natürlich auch des Buchstabens entdecken. Das Geräusch des Windes wird direkt hörbar, wenn man sich der Aussprache des Lautes F genussvoll hingibt. Im Bild verbinden sich also Wahrnehmungen und Erfahrungen unterschiedlichster Art: die visuelle Gestalt des Buchstaben und des Blattes; die Farbigkeit, die einen Raum der Poesie eröffnet; der gestische Charakter der Zeichen, der Bewegung suggeriert; die Klanglichkeit, die im Bild des Buchstabens und des Blattes nicht nur sichtbar, sondern geradezu auch hörbar wird. Auf kleinstem Raum und mit sehr reduzierten bildnerischen Mitteln werden alle Sinne angesprochen: das Sehen, das Hören, das Spüren, das Sich-Bewegen. Dabei vermeidet Anne Bertier zu große Eindeutigkeiten – letztlich bleibt es der Fantasie des Betrachters überlassen, die visuelle Gestalt des Buchstabens F in verschiedene Richtungen zu interpretieren. Um die innovativen Aspekte dieses Beispiels in Hinblick auf eine Theorie der Transformation in den Blick zu bekommen, soll nun in einem nächsten Schritt das Beispiel aus zeichentheoretischer Perspektive analysiert werden. Die doppelte Präsentation des Buchstabens F beruht auf zwei unterschiedlichen Zeichenfunktionen. Das Schriftzeichen stellt ein denotatives Zeichen dar – die Verknüpfung zwischen dem klanglichen Laut und seiner visuellen Übersetzung ist arbiträr, das heißt, sie ist konventionell geregelt: Klanglaut und Schriftzeichen sind nicht durch ähnliche Merkmale miteinander verbunden. Das Schriftzeichen stellt also ein Beispiel für die „sagende“, die denotative Funktion von Zeichen dar. Demgegenüber ist das Bild des Blattes als ein „zeigendes“ Zeichen zu charakterisieren. Die Form des gemalten Blattes, die Zähnung des Blattrandes, das Ineinander von Blattstiel und Blattkörper, die Äderung – das alles entspricht der Wahrnehmung eines realen Blattes.

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Zwischen dem gemalten Blatt und einem realen Blatt gibt es eine Fülle von gemeinsamen Merkmalen, die den abbildenden Charakter des Blattzeichens ausmachen und prägen – daran ändert auch nichts die unnatürliche blaue Farbe des Blattes: die ähnlichen Merkmale überwiegen die Differenzen. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Sachlage jedoch als komplizierter, da sie weniger eindeutig ist, als sie eben dargestellt wurde. Das schriftliche Zeichen für den Laut F fungiert nämlich keineswegs nur als denotatives Zeichen. Es nimmt zwar die denotative visuelle Form auf, transformiert diese jedoch ins Bildliche. Als Bild erinnert die visuelle Gestalt an die Gestalt eines Baumes, und es stellt eine bildliche Korrespondenz zur Blattaderung dar. Umgekehrt weist das Bild des Blattes denotative Züge auf: Die Äderung des Blattes kann auch als Buchstabe F gelesen werden, das Bild wird zum sprachlichen Zeichen. Beide Zeichen – das denotative Zeichen für den Buchstaben wie das exemplifizierende Zeichen für das Blatt – erweitern ihren Bedeutungsraum, indem sie die gewohnten Zeichenfunktionen durchbrechen und transformieren. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, was diese Transformation für den Betrachter bewirkt. Grundsätzlich ergibt sich ein erweiterter Interpretationsspielraum dadurch, dass die Bahnen der gewohnten Zeichenfunktionen verlassen werden. Die Gegenüberstellung der beiden Bilder eröffnet mehr Bedeutungen, als es ein normales ABC in der klassischen Zweiteilung zwischen Buchstabe und Bild ermöglichen würde. Wie aber funktioniert die Wahrnehmung genau? Muss der Betrachter jeweils zwischen den beiden Lesarten der Bilder (als exemplifizierendes Bild oder als denotatives Zeichen) hin- und herspringen, oder ergibt sich durch die Transformation eine neue „Mischkategorie“ der Wahrnehmung? Folgt man den Überlegungen von Simone Mahrenholz zur Unterscheidung von analogen und digitalen Zeichen (diese Unterscheidung trifft in etwa auch die von mir vorgenommene Unterscheidung zwischen Zeigen und Sagen), so handelt es sich um zwei kategorial unterschiedene Lesarten von Zeichen, die in keine gemeinsame Wahrnehmungsform überführt werden können.9 Angesichts des vorliegenden Beispiels tauchen bei mir allerdings Zweifel bezüglich der strikten Trennung zwischen den beiden Lesarten in der Wahrnehmung auf. Zwar wird eine Unterscheidung und damit eine klare Grenzziehung zwischen den Funktionen des Zeigens und des Sagens unumgänglich, sobald ich mich dem Phänomen analytisch nähere und ich es analytisch beschreibe, aber in der Wahrnehmung scheinen die beiden Zeichenfunktionen ineinander überzugehen. Ich persönlich erlebe die von Anne Bertier künstlerisch verwirklichte, doppelte Präsentation des 9 Vgl. Mahrenholz 2003, S. 87 f.

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Buchstabens F eben nicht als „Kippfigur“, die mir eine Entscheidung für die eine oder andere Lesart abverlangt, sondern das Betrachten der beiden Bilder erfolgt in einer Wahrnehmungseinheit, in der die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der Zeichen kontinuierlich mitschwingen. Vielleicht kann dieses „Schwingen“ als Oszillieren zwischen verschiedenen Möglichkeiten beschrieben werden. Vielleicht aber ergibt sich aus den verschiedenen Teilschwingungen eine Gesamtschwingung, die eine kategoriale Zuordnung zu strikt voneinander unterschiedenen Zeichenfunktionen überflüssig macht. Vielleicht entsteht durch die Transformation zwischen Zeigen und Sagen eine neue Art der Wahrnehmung, die sich den identifizierenden Begriffen entzieht und damit dem Erfahrungsfeld der Kunst zugehört. Das Wechselspiel zwischen Bild und Schrift, wie es hier exemplarisch an einem ABC von Anne Bertier gezeigt wurde, verfügt über eine lange Tradition. Ohne diese hier darstellen zu können, sollen doch einige wenige Bemerkungen die Spannbreite der Möglichkeiten deutlich machen. Der Überführung von Schriftzeichen ins Bildliche begegnet man bereits in den „illuminierten Handschriften“ dort, wo die Initiale, mit der ein neues Kapitel beginnt, kunstvoll illustrativ ausgestaltet wird. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass bereits im 16. Jahrhundert „Schriftbilder“ hergestellt wurden, in denen Texte etwa in der Gestalt eines Labyrinths oder auch einer Blume grafisch bildlich gestaltet sind. Hier scheinen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts – der Visuellen Poesie und der Konkreten Poesie – gewissermaßen vorweggenommen. Einen bemerkenswerten Sonderfall stellen die „Mikrographien“ des 17. Jahrhunderts dar: Wir begegnen einem gezeichneten Bild der Madonna und stellen bei genauerem Betrachten fest, dass die grafischen Elemente des Bildes durchgängig aus Schriftzeichen bestehen, die einen zusammenhängenden, der Mariendarstellung entsprechenden Text ergeben.10 Die Spannbreite der Möglichkeiten, die denotativen Schriftzeichen ins Bildliche zu transformieren sind überaus vielfältig: Schrift wird zum abbildenden Zeichen, das Aspekte der visuellen Wirklichkeit zeigt; Schrift kann aber auch ornamental werden, indem die Schriftzüge als dekoratives Muster ausgestaltet werden (hierher gehören auch die sogenannten „Federzüge“11 des 17. Jahrhunderts); Schrift kann in ihrem gestischen Charakter erlebbar gemacht werden (man denke etwa an die Bilder von Cy Twombly, bei denen „Schriftzeichen“ oder auch nur „Schreibkürzel“, schriftähnliche Zeichen, gewissermaßen in ih 10 Einen Überblick über die bemerkenswerten Möglichkeiten von Schriftbildern in früheren Zeiten gibt der Katalog zur Ausstellung des Kupferstichkabinetts in Berlin „Schrift als Bild. Schriftkunst und Kunstschrift vom Mittelalter bis zur Renaissance“ (Roth 2010). 11 Vgl. hierzu Rottau 2010, S. 158–170.

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rem gestischen Charakter als Träger von Bedeutungen fungieren); und schließlich kann Schrift auch als Farb- und Formfläche in einem abstrakten Bildraum interpretiert werden. Durch das Wechselspiel zwischen sprachbezogener Bedeutung und visueller Bedeutung werden die vertrauten Kategorien der Bedeutungszuweisung ­aufgebrochen. Die Transformation lässt neue und offene Bedeutungsräume entstehen. Das Besondere bei dem ausgewählten Beispiel von Anne Bertier ­besteht darin, dass sie Transformationsprozesse in beide Richtungen gestaltet: das Schriftzeichen wird zum Bild, so wie umgekehrt das Bild zum Schriftzeichen wird. Der elementare, reduzierte Charakter der verwendeten Zeichen, die mit minimalen Differenzen arbeiten, verstärkt zudem die ästhetische Wirkung. Kontexte als Transformatoren

Oskar Nerlinger: Stadtbahn von Berlin – László Moholy-Nagy: Z.VIII

Die folgenden Überlegungen, die sich mit der Rolle des Kontextes für die Differenzierung der Wahrnehmung beschäftigen, nehmen die neue Präsentation der Sammlung der Neuen Nationalgalerie in Berlin zum Ausgang. Unter dem Titel „Moderne Zeiten. Die Sammlung. 1900–1945“ wurden im Jahr 2011 internationale Klassiker der Moderne ebenso gezeigt wie Malerinnen und Maler mit speziellem Bezug zu Berlin. Die Präsentation ging dabei nicht chronologisch vor und orientierte sich auch nicht an den üblichen Stilbegriffen, leitend waren vielmehr thematisch-inhaltliche Bezüge der Malerei, die aus einzelnen Titeln von Bildern abgeleitet sind und unter die Bilder subsumiert wurden, die normalerweise nicht nebeneinander präsentiert werden. Die Räume trugen Titel wie „Stützen der Gesellschaft“, „Turm der Blauen Pferde“, „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“, „Bordeaux-Flasche“ oder „Nacht über Deutschland“. Am Beispiel eines ausgewählten Raumes soll genauer beschrieben und analysiert werde, wie sich durch die zum Teil ungewöhnlichen Zusammenstellungen die Wahrnehmung ändert. Betritt man den Raum mit dem Titel „Funkturm und Hochbahn“, so fällt der Blick als erstes auf das großformatige Bild des Eiffelturms von Robert Delaunay aus dem Jahr 1928, das ihn aus ungewöhnlicher Vogelperspektive zeigt. Mit dem Eiffelturm als Symbol für herausragende technische Leistungen und damit auch als Symbol für die moderne Zeit ist man sofort auf die inhaltliche Thematik des Raumes verwiesen: Es geht um die Aufbruchsstimmung der Moderne, um die Zwanziger Jahre, die von einer großen Begeisterung für Technik und Verkehr bestimmt waren, um die Lebenswelt der modernen Großstadt. Der Blick gleitet weiter: über zwei abstrakte Kompositionen von

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Oskar Nerlinger: Stadtbahn von Berlin, 1930

László Moholy-Nagy: Z. VIII, 1924

Kandinsky, zwei Bilder von Oskar Nerlinger, die Berliner Stadtansichten zeigen (den „Funkturm und Hochbahn“ sowie die „Stadtbahn von Berlin“), und bleibt schließlich bei dem Bild „Z.VIII“ von László Moholy-Nagy hängen. Die direkte Gegenüberstellung der „Stadtbahn von Berlin“ von Nerlinger (aus dem Jahr 1930) und des gegenstandslosen Bildes von Moholy-Nagy (aus dem Jahr 1924) regt zum verweilenden Wahrnehmen an. Zunächst fallen die Gemeinsamkeiten der Bilder ins Auge. In beiden Bildern herrschen diagonale Strukturen vor. Diese durchkreuzen das rechteckige Format des Bildes und verleihen ihm eine große Dynamik. Während bei Nerlinger die Diagonalen auf einen Fluchtpunkt außerhalb des Bildes zulaufen und damit das Auge des Betrachters gewissermaßen dynamisch über den Bildrand hinaus führen, stehen die Diagonalen bei Moholy-Nagy senkrecht ­aufeinander – die Kreuzungsprunkte befinden sich innerhalb des Bildrahmens –, was dem Bild insgesamt den Eindruck größerer Ruhe und Balance verleiht. Neben den Diagonalen fallen in beiden Bildern in besonderer Weise die Kreissegmente auf: Bei Nerlinger ergibt sich ein bildbestimmendes Kreissegment durch die schräge Untersicht auf eine Brücke der Hochbahn, bei Moholy-Nagy handelt es sich um zwei abstrakte Kreissegmente im Hintergrund in den kontrastierenden Farben Weiß und Schwarz. In beiden Bildern reichen die Kreisflächen – sie stehen in einem Kontrast zu den geraden Formen der Diagonalen – über den Rand des Bildes hinaus und öffnen damit das Bild in den umgebenden Raum. Damit ist das nächste verbindende Thema zwischen den beiden Bildern angesprochen: die Darstellung des Raumes. Bei Nerlinger ergibt sich der räumliche Charakter durch den perspektivischen Blick, der die sich kreuzenden

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Stadtbahnlinien in verschiedene Richtungen geradezu „brausen“ lässt. Der Eindruck der Geschwindigkeit wird durch die unterschiedlichen „Bewegungszüge“ der fahrenden Bahngarnituren verstärkt. Moholy-Nagy hingegen erzeugt Räumlichkeit durch die Art und Weise des Farbauftrags: Die Überschneidungsbereiche der sich überlagernden Farbflächen sind durch einen lasierenden Farbauftrag transparent gehalten. Dadurch entsteht ein Bildraum, in dem eindeutig zwischen vorne und hinten, zwischen darüber und darunter unterschieden werden kann. Beide Bilder wirken räumlich-architektonisch, wobei bei Moholy-Nagy die architektonischen Elemente frei im Raum schweben zu scheinen. Die vergleichenden Zusammenschau, die vor allem die Gemeinsamkeiten ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, führte bereits dazu, auch die Unterschiede in den Blick zu nehmen. Neben der unterschiedlichen Art der Raumgestaltung fällt die unterschiedliche Farbigkeit ins Auge. Nerlinger beschränkt sein Bild im wesentlichen auf die beiden Farben Schwarz (bzw. Grau) und Rot. Die Farbe Rot ist den fahrenden Zügen vorbehalten und den stilisierten Uhren, die – gewissermaßen außerhalb der „naturalistischen“ Wiedergabe der Stadtbahnarchitektur – das Thema Zeit und damit auch das Thema Geschwindigkeit in das Bild einführen. Moholy-Nagys Bild hingegen ist von hellen, leuchtenden Farben gekennzeichnet: Vor der Kontrastfolie des weißen und des schwarzen Kreises leuchten diverse Gelb- und Rottöne auf. Ein entscheidender Unterschied wurde bis jetzt noch nicht ausdrücklich thematisiert, da er bei der vergleichenden Betrachtung der beiden Bilder zunächst keine große Rolle zu spielen scheint. Nerlingers Bild zeigt in abbildender Weise eine konkrete architektonische Situation: die Stadtbahn in Berlin. Auch wenn zu vermuten ist, dass der im Bild vorgeführten Kreuzung verschiedener Stadtbahnlinien keine konkrete verkehrstechnische Situation in der Realität entsprach, dass also Nerlinger mehr ein idealisierendes Bild als ein naturgetreues Abbild des damals hochmodernen städtischen Fortbewegungsmittels lieferte, so ist der Darstellungsstil zunächst durchaus als gegenständlicher, abbildender zu charakterisieren. Davon unterscheidet sich das Bild von Moholy-Nagy. Schon der Titel „Z.VIII“ verweist auf den abstrakten Charakter des Bildes. Allerdings lässt die direkte räumliche Konfrontation der beiden Bilder – sie sind lediglich durch eine Raumecke getrennt – die Wahrnehmung nicht unberührt. Die vergleichende Zusammenschau, die sich in dieser räumlichen Situation gewissermaßen automatisch ergibt, führt zu einer wechselseitigen Projektion der Wahrnehmungskategorien und Wahrnehmungserkenntnisse, wie sie im vorangegangenen Text beschrieben wurde. Vor der Folie der abstrakten Komposition von Moholy-Nagy werden auch in Nerlingers Bild abstrakte Formprinzipien deutlicher: etwa das Prinzip der sich kreuzenden Diagonalen oder die Kreissegmente, die den Raum öffnen. Umgekehrt er-

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lebt man nach Betrachtung der dynamischen städtebaulichen Situation der „Stadtbahn in Berlin“ das Bild von Moholy-Nagy möglicherweise stärker in seinen architektonischen Anspielungen und Dimensionen. Die Komposition „Z.VIII“ erscheint geradezu als Bild einer zwar abstrahierten, aber durchaus realiter vorstellbaren, „idealen, modernen Architektur“. Plötzlich verbindet sich die aufragende schwarze Stele in der Mitte des Bildes mit dem bei zwei anderen Bildern gewonnenen Eindruck des Eiffelturms (Robert Delaunay) und Funkturms (Oskar Nerlinger). Auch die in der Mitte des Ausstellungsraumes platzierte Bronzeskulptur von Constantin Brancusi („Vogel“ aus dem Jahr 1949) lässt die Wahrnehmung der abstrakten Komposition von MoholyNagy nicht unberührt. Das Aufragende und dynamisch nach oben Strebende der Skulptur lässt sich auch im Bild „Z.VIII“ wiederfinden. Ich verlasse nun den zugegebenermaßen durchaus subjektiven Weg der Beschreibung meiner Wahrnehmung der Bilder im Raum „Funkturm und Hochbahn“. Natürlich sind auch ganz andere Wahrnehmungen angesichts der präsentierten Bilder möglich, und natürlich kann der geübte und erfahrene Bildbetrachter, der über ein großes Repertoire von Bildern in seiner Vorstellung verfügt, zu ähnlichen Wahrnehmungserkenntnissen kommen, ohne dass er durch den Kontext der tatsächlich präsentierten Bilder aufmerksam gemacht werden muss. Das Oszillieren zwischen konkreter Bildbedeutung und abstrakter Bildkomposition gehört zu den bekannten Topoi der Bildwahrnehmung. Ich habe mich trotzdem für dieses Beispiel entschieden, weil es auf elementare Weise Möglichkeiten der nicht-verbalen Bezugnahme und damit des nicht an die Sprache gebundenen Denkens deutlich macht. In jeder Ausstellung, jeder Präsentationen von Bildern (und natürlich ebenso von Musik und allen anderen Kunstformen) sind die einzelnen Werke einander sowohl Text wie Kontext. Als Text und als Kontext verfügen sie über eine ganz spezifische Merkmalsstruktur, die sie aufeinander projizieren. Die gemeinsam präsentierten Werke definieren sich wechselseitig, indem sie auf der Basis ihrer spezifischen Merkmale aufeinander Bezug nehmen. Die abstrakte Komposition Moholy-Nagys rückt das abstrakte kompositorische Gerüst der Hochbahnszenerie von Nerlinger ins Zentrum der Aufmerksamkeit, so wie umgekehrt das Bild Nerlingers architektonischen Fantasien bei Moholy-Nagy Raum gibt. Die aufeinander projizierten Merkmale sind zunächst nichtsprachlicher Natur – erst in der Reflexion werden sie zur Sprache gebracht und möglicherweise auf diese Weise verfestigt. Jede Wahrnehmung beruht auf der Analyse von Merkmalen – allerdings müssen wir uns die Wahrnehmung als zum Großteil automatisiert vorstellen, das heißt: das, was wir etwa beim Betrachten eines Bildes als Merkmale herausfiltern, ist langjährig eingeübt und bewegt sich demnach auf gewohnten

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Bahnen. Es gibt viele Möglichkeiten, die eingeschliffenen Bahnen der Wahrnehmung aufzubrechen und damit zu transformieren. Ein veränderter Kontext stellt eine Möglichkeit dar. Die Neupräsentation der Sammlung der Neuen Nationalgalerie hat sich für mich persönlich diesbezüglich als eindrückliches Beispiel erwiesen. Sind es doch oft gerade die Bilder der klassischen Moderne, die man schon so oft gesehen hat und die daher der Gefahr unterliegen, dass man an ihnen gewissermaßen „abhakend“ vorübergeht (man begnügt sich damit, „den“ Kandinsky und „den“ Picasso wiederzuerkennen). Demgegenüber bergen ungewöhnliche Präsentationen und damit Kontextgestaltungen die Chance in sich, die Augen wieder neu zu öffnen und damit neue Erkenntnisse von Kunst zu ermöglichen. Die Thematik des Kontextes als Transformator birgt noch ganz andere Dimensionen in sich. Bisher war die Rede von der Möglichkeit, den Kontext durch die gleichzeitige Präsentation von Kunstwerken zu gestalten; im Folgenden soll der Raum insgesamt als kontextveränderndes Phänomen thematisiert werden. Als Beispiel dient hier die Präsentation von Klangkunst in den Räumlichkeiten eines Museums moderner Kunst – konkret war es die im Jahr 2009 gezeigte Ausstellung „See this Sound“ im „Lentos“, dem Museum für zeitgenössische Kunst in Linz (Oberösterreich), die mich zu den folgenden Überlegungen angeregt hat. Schon im Titel der Ausstellung wird das Thema, aber auch in gewisser Weise ein Widerspruch deutlich: Sound, der gesehen werden kann, Hörbares, das sichtbar gemacht wird. Konkret ging es um die vielfältigen Möglichkeiten der Verknüpfung von Ton und Bild (von der ab­ strakten Filmmusik der Zwanziger Jahre über wechselseitige Beeinflussungen zwischen Musik und Bildender Kunst bis zu intermedialen Kunstströmungen und audiovisuellen Experimenten). Diese kunstspartenübergreifende Thematik stellte die Kuratoren der Ausstellung vor die nicht einfach zu lösende Aufgabe, Präsentationsformen zu entwickeln, die gleichermaßen der visuellen wie auch der akustischen Seite der präsentierten Werke gerecht werden sollte. Durch ein visuell einheitliches Gestaltungskonzept, das die einzelnen Werke bzw. Abschnitte der Ausstellung durch Vorhänge sowohl optisch wie auch akustisch voneinander trennte, wurde diese Herausforderung ästhetisch (in Hinblick auf den visuellen Eindruck) ebenso wie funktional (in Hinblick auf die akustische Abtrennung) durchaus überzeugend bewältigt. Die Ausstellung regte darüber hinaus an, grundsätzlich über die Präsentation von Klang und Sound im Kontext eines Museums nachzudenken. Was passiert eigentlich, wenn in Räumlichkeiten, die davon geprägt sind, visuelle Kunstwerke zu zeigen, akustische Phänomene Eingang finden? Abgesehen von der Störung, als die die akustische Eingriffnahme erlebt werden kann, stellt sich auch die Frage, ob diese Präsentationsform im „White Cube“ eines Museums, in dem

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sich Raum an Raum reiht, den präsentierten Werken überhaupt gerecht wird. So fragt Helmut Draxler im Katalog zur Ausstellung zurecht kritisch: Wie können Sounds als akustische Phänomene in einer am Visuellen orientierten Praxis des Zur-Schau-Stellens adäquat präsentiert werden? 12 Mit dieser Frage wird deutlich, dass Räume durch die Art, wie sie gebaut sind, aber vor allem auch durch die Art, wie sie benutzt werden, bestimmte Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster vorgeben. Das Museum ist als ein Ort definiert, in dem im langsamen Durchschreiten ein Bild nach dem anderen betrachtet wird: aus einer gehörigen Distanz, mit einer durchschnittlichen Verweildauer vor einem Bild von einigen Sekunden. An dieser Stelle ergibt sich die Frage, inwiefern ein derartiges vom Sehsinn bestimmtes Wahrnehmungsmuster Kunstwerken gerecht wird, die sowohl eine optische als auch eine akustische Dimension haben. Bedürfen diese Werke nicht z. B. einer zeitlich anders strukturierten Wahrnehmung? Wird die Aufeinanderfolge von Werken mit zum Teil sehr ausgedehnten zeitlichen Dimensionen dem Einzelwerk gerecht? Verändert die museale Präsentation unsere Wahrnehmung? Oder verändert die Präsentation die museale Situation? Räume sind keine „abstrakten, leeren Hülsen“, in denen sich Wahrnehmen ereignet, sondern sie wirken gewissermaßen „zeichenhaft“. Zurecht spricht man von einer „Semiotik des Raums“13: In Räumen werden vielfältige Codes wirksam, die einerseits gelesen werden können (ein Raum erzählt uns Geschichten über seine Entstehung, über herrschende architektonische Ideen, über Machtverhältnisse), andererseits geben uns Räume Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen vor, sie wirken als Codes, an denen wir uns – bewusst oder unbewusst – orientieren. Oft sind es gerade die unbewussten Codes, die in besonderer Weise wirksam werden. Michael Polanyi unterscheidet zwei Arten der Aufmerksamkeit: die „fokale“ und die „subsidiären Aufmerksamkeit“.14 Was unser Wahrnehmen, Denken und Verhalten bestimmt, entzieht sich oft weitgehend der bewussten Aufmerksamkeit. Die Semiotik eines Raumes ist dafür ein gutes Beispiel. Als „Hintergrundphänomen“15 tritt es nur selten in unser Bewusstsein – es lenkt unser Verhalten, ohne dass wir es bewusst steuern. Bezogen auf unsere Thematik der Transformation ergeben sich daraus aber auch neue Möglichkeiten. Räume sind als Kontexte zu beschreiben, die unsere Wahrnehmungen und unser Denken leiten. Indem wir räumliche Kontexte ändern, können dadurch gewohnte Wahrnehmungsbahnen aufgebrochen

12 13 14 15

Draxler 2009, S. 20–32. Vgl. hierzu z. B. Tschertow 2003, S. 102. Polanyi 1969, S. 138–158. Vgl. Ammon 2009, S. 122 ff.

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und neue Wahrnehmungshorizonte eröffnet werden. Seit etwa zwanzig Jahren macht davon die Welt der Kunst zunehmend Gebrauch. Konzerte werden aus den klassischen Konzerthallen ausgelagert und an ungewöhnliche Orte (wie etwa Galerieräume, Industrie- oder Parkanlagen) transferiert; Präsentationen von Werken Bildender Kunst finden längst nicht mehr nur in Galerien und Museen statt, sondern auch in Fabrikhallen und Schwimmbädern; Theaterstücke werden nicht mehr nur in den dafür gebauten Theatergebäuden aufgeführt, sondern als Performances erobern sie sich den öffentlichen Raum genauso wie private Räume. Hinter diesem zunächst „modisch“ erscheinenden Trend verbergen sich durchaus ernst zu nehmende Intentionen und Bedürfnisse. Es geht darum, die Rezeptionsgewohnheiten, die sich eben auch in Räumen manifestiert haben, in Frage zu stellen und durch die Einbeziehung neuer Räume nicht nur neues Publikum zu gewinnen, sondern auch neue Wahrnehmungsweisen zu erschließen. Räume sind als Kontexte zu beschreiben. So wie man durch die gezielte Präsentation von Werken in die Wahrnehmung eingreift, so kann die transformative Wirkung ebenso auch durch die Auswahl spezifischer Räumlichkeiten bewirkt werden. Das Gemeinsame aller kontextuellen Transformationen besteht darin, dass auf einer zunächst großteils unbewussten Ebene die Wahrnehmung konfiguriert wird, indem Merkmale herausgefiltert, Muster gebildet und aktiviert werden, die sich normalerweise der gewohnten Wahrnehmung entziehen. Kontexte fungieren also als Transformatoren der Wahrnehmung. Transformation durch Übertragung – Annäherung und Abgrenzung Ludwig van Beethoven: Bagatelle op. 119/Nr.3

Die Thematisierung der Wahrnehmungstransformation, die sich ergibt, wenn akustische Phänomene in primär visuell definierten Räumen präsentiert werden, führte bereits in das Gebiet der medienüberschreitenden Transformationsprozesse. Das Thema der grenzüberschreitenden Transformationen zwischen verschiedenen künstlerischen Medien soll nun vertiefend behandelt werden, wobei die Musik im Zentrum der Überlegungen stehen wird. Dass die Künste immer wieder durch die Annäherung an künstlerische Schwesterdisziplinen oder auch durch die wechselseitige Übertragung von künstlerischen Ideen zu neuen Entwicklungen angeregt wurden, ist hinlänglich bekannt und auch vielfältig untersucht. Hierher gehören die Musikalisierung der Sprache ebenso wie das Bildwerden der Sprache, wie es zuvor bereits thematisiert wurde, und natürlich auch die Abstraktionstendenzen in der Malerei nach dem Vorbild der Musik. Da die Übertragung von medienspezifischen Besonderhei-

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Ludwig van Beethoven: Bagatelle op.119/Nr. 3

ten niemals „lückenlos“, das heißt niemals im Sinne einer „wortwörtlichen“ Übersetzung möglich ist, bedarf es immer besonderer Anstrengungen, Kernelemente einer künstlerischen Idee in ein anderes Medium zu transformieren. Die grenzüberschreitende Bezugnahme muss als „metaphorische“ charakterisiert werden (von ihr wird weiter unten noch ausführlich die Rede sein), da eben keine „buchstäbliche Übersetzung“ möglich ist, sondern eine Übersetzung im „übertragenen Sinn“ gefordert ist. Die Idee der Abstraktion etwa, die in gewisser Weise aus dem gegenstandslosen Wesen der Musik abgeleitet wurde, führte im Rahmen der Malerei zu völlig anderen Gestaltungsmöglichkeiten als in der Musik. Hinter Tendenzen der Übertragung und Annäherung kann das Interesse vermutet werden, sich ähnlich zu machen, um über die Anähnelung neue Dimensionen für das Eigene zu gewinnen. Wenn man die Anähnelung ins Auge fasst, so ist es unumgänglich, die gegenläufige Tendenz, das Sich-verschieden-Machen, ebenso zu untersuchen. Mit Blick auf Entwicklungen der Musik lassen sich beide Tendenzen – Tendenzen zur Annäherung an Ideen aus künstlerischen Nachbardisziplinen ebenso wie Tendenzen zur Abgrenzung

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davon – beobachten. Annäherung und Abgrenzung scheinen zwei wesentliche Motoren für künstlerische Entwicklungen darzustellen. Um diese gegenläufigen Entwicklungsbewegungen in den Blick zu bekommen, dient ein kurzes Klavierstück von Ludwig van Beethoven als Ausgangspunkt: seine Bagatelle op. 119/Nr. 3. Die „revolutionären“ Tendenzen dieses Musikstückes können in ihrer Radikalität nur verstanden werden, wenn man den musikhistorischen Kontext, in dem dieses Musikstück verankert ist, mitbedenkt. Ein kurzer Blick auf die Entwicklung der abendländischen Kunstmusik soll deutlich machen, wie sehr diese Entwicklung davon geprägt war, sich einerseits anderen künstlerischen Ausdrucksmedien anzunähern, andererseits sich auch wieder von ihnen zu lösen. Von ihren Anfängen her ist Musik eng mit der Sprache und dem Tanz verbunden. So nimmt man etwa an, dass in der griechischen „mousiké“ die drei künstlerischen Ausdrucksformen Musik, Sprache und Tanz ursprünglich eine Einheit bildeten. Im Zuge der Ausdifferenzierung der verschiedenen Kunstformen emanzipierte sich Musik immer mehr von ihren sprachlichen und tänzerischen Wurzeln. So stellt die Emanzipation der Instrumentalmusik von der Vokalmusik einen wichtigen Entwicklungsschritt in der Geschichte der Kunstmusik dar. Indem die Musik auf die ihr beigeordnete (über- oder untergeordnete) Sprache verzichtet, löst sie sich aus dem sprachgebundenen Bedeutungszusammenhang. „Sonate, que me veux-tu?“16 – Sonate, was willst du? Was bedeutest du? (Die Form der instrumentalen Sonate steht für die neue selbständige Instrumentalmusik). Dieser oft zitierte, zweifelnd-fragende Ausruf des französischen Schriftstellers und Aufklärers Bernard le Bovier de Fontenelle aus der Zeit des frühen 18. Jahrhunderts spiegelt die Verständnisschwierigkeiten, die mit der Loslösung der Musik aus sprachlich definierten Zusammenhängen einhergingen. Gegenüber sprachlich geprägter Vokalmusik erweist sich die Instrumentalmusik als eine Form „abstrakter“ Musik, da sie nicht mehr an verbalsprachlich artikulierte Bedeutung gebunden war. Die Verselbständigung der Instrumentalmusik führte – über die Loslösung von der Verbalsprache – zur Entwicklung einer eigenständigen „musikalischen Sprache“ wie auch zur Entwicklung neuer musikalischer Gattungen wie eben der Sonate und der Sinfonie. Gewissermaßen analog dazu emanzipierte sich die Musik von ihren Wurzeln in der Tanzmusik. Die Geschichte der abendländischen Kunstmusik ist von der Verselbständigung der Musik sowohl gegenüber der Sprache wie auch gegenüber ihrer Funktion als Tanzmusik geprägt. Die instrumentalen Suiten der Barockzeit tragen zwar in gewisser Weise die Bewegungsimpulse unterschiedlicher 16 Vgl. W. S. Newman 1963, S. 353.

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Barocktänze in sich, gleichzeitig haben sie sich von ihnen entfernt: als musikalische Begleitung von Tänzen sind sie in keiner Weise mehr geeignet. Die Loslösung der Musik aus ihrem ursprünglichen Verwendungskontext des Tanzes eröffnete der Entwicklung der Kunstmusik neue Möglichkeiten. Sie konnte mit von Tänzen inspirierten musikalischen Bewegungsmustern arbeiten, ohne auf die tatsächliche Umsetzung in Bewegung Rücksicht nehmen zu müssen. Freilich führte diese Dekontextualisierung bzw. Kontextverschiebung auch zu einer Verschiebung der Bedeutung und damit zu einer Veränderung des Verstehens von Musik. Der veränderte Gebrauch (als Musik, zu der nicht mehr getanzt, sondern die in einer Konzertsituation als Darbietungsmusik gehört wird) hatte einen anderen Verstehenszugang zur Folge. Die zu Kunstmusik transformierte Tanzmusik kann – ebenso wie die selbständige Instrumentalmusik – als eine Form der „abstrahierten“ Musik beschrieben werden, insofern der ursprüngliche Verwendungszusammenhang aufgebrochen und durch einen neuen Verwendungszusammenhang ersetzt wird. Von diesen Abstrahierungstendenzen wird weiter unten noch die Rede sein. Zuvor jedoch soll exemplarisch die Bagatelle op. 119/Nr.3 unter transformationstheoretischen Gesichtspunkten näher betrachtet werden. Dabei wird sich zeigen, dass musikalisches Material, das von der ursprünglichen Nähe zum Tanz und zur Sprache geprägt ist, seinerseits wiederum den Ausgangspunkt für Transformationen bilden kann, die in die gegenläufige Richtung verweisen, indem sie den Tanz- und Sprachcharakter der Musik in Frage stellen und gewissermaßen zurücknehmen. Die 1823 erschienene Sammlung von Bagatellen für Klavier enthält als drittes Stück eine Musik, die mit dem Titel „à l’Allemande“ versehen ist und also ein Stück Tanzmusik erwarten lässt. Das Stück beginnt – scheinbar regulär – mit einem tänzerisch-melodischen Aufschwunggestus in hoher Lage, dessen energetischer Impuls vom Basston im zweiten Takt gewissermaßen gestoppt und dann durch eine in die Mittellage des Klaviers führende Kadenzbewegung aufgefangen wird. Bei aller Konventionalität des Gestus überrascht doch der weite Abstand zwischen Diskant und Bass (d4 – großes d) sowie der vorgezogene Akzent auf Zählzeit 3 des zweiten Taktes (fis 2). Trotz aller irritierenden Momente bleibt jedoch in den ersten 16 Takten der Tanzcharakter der Musik aufrecht. Freilich eignet sich diese Musik nicht mehr als funktionale Tanzmusik: ein tänzerischer Gestus wird gewissermaßen isoliert in seinem elementaren harmonischen Spannungsverlauf vorgeführt. Im B-Teil des Stückes (Takt 17 bis 32) gerät die Musik zunehmend „aus den Fugen“. Beethoven löst hier die Kadenzbeziehung aus der tänzerisch konturierten melodisch-rhythmischen Bewegung heraus. Das ursprünglich gestische Bewegungsmuster wird gewissermaßen abstrahiert, indem Beethoven die in Kadenzschritte eingebetteten Bewegungsimpulse in beiläufige Bassfiguren

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überführt. Erst in Takt 25 bis 32 gibt es wieder Anklänge an tänzerische musikalische Ideen. Die 24-taktige Coda schließlich führt die Musik in gewisser Weise „ad absurdum“. Die Kadenz hat sich nun völlig verselbständigt. Fernab von ihrer Funktion, melodisch-rhythmisches Geschehen harmonisch zu unterstützen und damit fernab von ihrer ursprünglichen Bedeutung, musikalische Gestaltungen gewissermaßen im Hintergrund zu grundieren, führt sie in akkordischen „Schlägen“ die Musik zu ihrem Ende. Erst im letzten Takt ertönt nochmals – pianissimo und in Oktaven verdoppelt – das tänzerische Bewegungsmotiv vom Anfang. Zusammenfassend kann die Entwicklung des Stückes als „Befreiungsakt“ auf verschiedenen Ebenen beschrieben werden: Ein tänzerisch-musikalisches Bewegungsmotiv löst sich aus dem gewohnten tanzmusikalischen Zusammenhang, es emanzipiert sich, um als musikalische Geste für sich wahrgenommen zu werden. Aber auch die normalerweise im Hintergrund stehende Kadenzbewegung vollzieht einen emanzipatorischen Schritt, sie befreit sich von ihrer unterstützenden harmonischen Fundamentfunktion, schiebt sich in den Vordergrund und verselbständigt sich auf diese Weise. So wie in der Malerei Farben und Formen sich verselbständigen, so verselbständigen sich in der ausgewählten Bagatelle rhythmisch-melodische Gesten und harmonische Beziehungen. Und so wie in der Malerei auf diese Weise abstrakte Bilder entstehen, so entsteht bei Beethoven eine „abstrakte“ Musik, die ihre Elemente und Bausteine – losgelöst von ihrer ursprünglichen außermusikalischen oder binnen­musikalischen Funktion – in ihrem „Eigenwert“ (man denke an den Eigenwert der Farben) vorführt. In Beethovens Bagatelle lassen sich zwei Phasen der Transformation nachvollziehen: Zum einen zeugt das musikalische Material selbst von der ursprünglichen Annäherung der Musik an Ideen des Tanzes und der Sprache (es steht also für eine historisch gewachsene medienüberschreitende Transformation). Zum andern emanzipiert sich Beethoven in der Art und Weise, wie er das musikalische Material verarbeitet, von der Idee der Annäherung: Er befreit die Musik von ihrem Tanz- und Sprachcharakter. An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr bereits die Ebene des musikalischen Materials (und dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Materialien der anderen Kunstsparten) von Bezügen zu den künstlerischen Schwesterdisziplinen durchsetzt ist. Die „latente Intermedialität“,17 von der Albrecht Wellmer spricht, zeugt von historischen Transformationsprozessen, die sich im Spannungsfeld zwischen Annäherung und Abgrenzung bewegen. 17 Wellmer 2009, S. 24 f.

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In den bisher genannten Beispielen war immer wieder von Abstraktionsprozessen die Rede: Die Malerei wird abstrakt, indem sie sich auf den Eigenwert der Formen und Farben besinnt; die Musik wird abstrakt, indem sie sich von dem im musikalischen Material sedimentierten Sprach- und Tanzcharakter löst. Es ist nun an der Zeit, sich genauer mit dem Begriff und der Idee der Abstraktion zu beschäftigen. In der Alltagssprache verwenden wir den Begriff oft, um Schwierigkeiten im Verstehen eines Sachverhalts zum Ausdruck zu bringen. Wenn wir sagen, etwas ist uns zu „abstrakt“, so meinen wir damit, dass es zu „abgehoben“, also zu weit entfernt von unseren nachvollziehbaren sinnlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen erscheint. Der Begriff der Abstraktion scheint also unmittelbar mit dem Begriff der Bedeutung und des Verstehens verknüpft zu sein. Um den Zusammenhang zwischen Abstraktion und Bedeutung genauer herausarbeiten zu können, will ich einen Gedanken aus Wittgensteins Theorie des „Sprachspiels“18 herausgreifen und diesen auf künstlerische Phänomene anwenden. Für Wittgenstein ergibt sich die Bedeutung eines Zeichens aus dem Gebrauch. Was das sprachliche Zeichen „Tisch“ bedeutet, erfährt und lernt das Kind, indem es Erfahrungen im Gebrauch des Tisches und Erfahrungen im Gebrauch des Wortes „Tisch“ sammelt und diese beiden Erfahrungsbereiche aufeinander bezieht. Wenn ich nun den Verwendungszusammenhang eines Wortes verändere, so verändert sich dadurch auch die Bedeutung des Wortes. Am Beispiel der Entwicklung der abstrakten Malerei lässt sich die Veränderung des Gebrauchs von Zeichen und damit die Veränderung ihrer Bedeutung gut nachvollziehen. Durch Jahrhunderte hindurch war in der Malerei die Verwendung der Farbe an ihre Funktion in der Darstellung von Personen, Dingen, Landschaften geknüpft. Die Bedeutung der Farbe ergab sich aus ihrer Funktion, die sichtbare Wirklichkeit darzustellen.19 Als nun Künstler wie Kandinsky zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Farbe aus diesem konventionalisierten Verwendungszusammenhang herauslösten und – nach dem Vorbild der Musik – den Eigenwert der Farbe betonten, begaben sie sich damit auf den von der Kunstgeschichte dann so genannten Weg der Malerei in die Abstraktion. Ein einzelnes Merkmal, das Merkmal der Farbe, wurde aus dem gewohnten Kontext losgelöst, es wurde „emanzipiert“ – auf diese Weise kam es zu einer Bedeutungsverschiebung der Farben: Die Farben standen von nun an für sich, ohne unbedingt auf einen konkreten Gegenstand verweisen zu müssen. In ähnlicher Weise verfuhren Maler mit den Merkmalen der Linien und 18 Vgl. hierzu Wittgenstein 2001/1953. 19 Dass darüber hinaus die Farbe auch symbolischen Wert hatte oder eine Funktion in der bildnerischen Komposition erfüllte, ist damit nicht ausgeschlossen.

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der Formen, die ebenfalls von ihrer primären Funktion, die äußere Wirklichkeit dazustellen, befreit wurden. Verbunden mit der Idee der Emanzipation und der damit verbundenen Abstraktion war die Idee der Entwicklung einer „Harmonielehre“ der Malerei. Goethes Diktum „In der Malerei fehlt schon längst die Kenntnis des Generalbasses, es fehlt an einer aufgestellten, approbierten Theorie, wie es in der Musik der Fall ist“20 war der Ausgangspunkt für eine Reihe von Künstlern – nicht nur für Wassily Kandinsky, sondern auch für Adolf Hölzel und dessen Schüler Johannes Itten –, nach allgemeinen Grundlagen der Malerei zu suchen und auf ihnen aufbauend eine bildnerische Gestaltungslehre zu entwickeln. Diese sollte die Beziehungen zwischen den Elementen eines Bildes genauso regeln, wie die Beziehung der Töne durch die tonal gebundene Harmonielehre bestimmt wird. Auch wenn die Idee einer allumfassenden „Grammatik der Malerei“ in einer gewissen Weise gescheitert ist – Kandinskys „Punkt und Linie zu Fläche“ aus dem Jahr 191121 kann als ein Versuch in diese Richtung gedeutet werden, der jedoch keine Allgemeinverbindlichkeit erlangte –, so ist doch durch den Versuch der Übertragung eine neue Bildsprache entstanden, die für die Weiterentwicklung der Malerei im 20. Jahrhundert wesentliche Impulse brachte. Die hier für die Malerei beschriebene Emanzipation einzelner Merkmale, die aus dem gewohnten Bedeutungskontext herausgelöst werden, lässt sich auch in der Geschichte der Musik zu beobachten, auch wenn die damit verbundenen Transformationen dort bislang nicht als Abstraktionsprozesse charakterisiert wurden. Die Loslösung der Instrumentalmusik von ihrer Bindung an die Verbalsprache ebenso wie die Befreiung der Musik von ihrer Funktion als Tanzmusik kann als Vorgang der Abstraktion beschrieben werden, insofern der gewohnte Verwendungs- und damit Bedeutungszusammenhang (die Bedeutung eines Zeichens ergibt sich aus seinem Gebrauch!) aufgebrochen wird. Der sowohl der Übertragung als auch der Abgrenzung zugrundeliegende Prozess der Abstraktion beruht auf der Fähigkeit, einzelne Elemente der Kunst aus einem gewohnten Gesamtzusammenhang herauszulösen und sie in neue Zusammenhänge einzubetten. Die damit verbundenen Denk- und Gestaltungvorgänge laufen in den ästhetischen Medien ab und bedürfen nicht der Verbalsprache.

20 Gespräch von Riemer mit Goethe, 19. Mai 1807, zitiert nach Franciscono 1986, S. 27. 21 Kandinsky 19737.

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Transformation als Irritation

Sasha Waltz/Wolfgang Rihm: Jagden und Formen

Das folgende Beispiel beschäftigt sich mit einem direkten Transformationsprozess zwischen zwei künstlerischen Ausdrucksmedien, die in einer teilweise gemeinsamen geschichtlichen Entwicklung eng miteinander verbunden sind: Musik und Tanz. Konkret geht es um die choreografische Umsetzung eines Musikstückes. Das im Jahr 2008 in Frankfurt uraufgeführte, von Sasha Waltz choreografierte Musik-Tanz-Theater „Jagden und Formen“ basiert auf dem gleichnamigen Musikstück von Wolfgang Rihm. Sasha Waltz greift ein vorhandenes Musikstück auf und setzt es mit ihrer Companie in ein Bewegungsund Tanztheater um, wobei wiederum Wolfgang Rihm selbst im Zuge dieses Umsetzungsprozesses die Musik noch weiterentwickelt. So fügte er etwa – auf Wunsch der Choreografin – solistische Passagen in die Partitur ein. Angesichts der Aufgabenstellung, ein vorhandenes Musikstück in Bewegung umzusetzen, könnte man vermuten, dass das Ziel der Chorografie vor allem darin besteht, musikalische Ideen möglichst „deckungsgleich“ in visuelle Bewegungsmuster zu übersetzen – so wie dies etwa in klassischen Ballettaufführungen der Fall ist. Dass es Sasha Waltz gerade nicht um die „Übersetzung“ der Musik geht, sondern dass sie vielmehr einen produktiven Dialog zwischen den beiden künstlerischen Sprachen anstrebt, macht den besonderen ästhetischen Reiz dieser Musik-Tanz-Theater-Produktion aus. Im Folgenden werden jene choreografischen Gestaltungsmittel näher beleuchtet, die den Erwartungshorizont einer direkten Bezugnahme zwischen Musik und Bewegung durchbrechen. Die tänzerische Transformation der Musik weist eine Fülle von irritierenden Momenten auf. Dabei wird sich zeigen, dass die Irritation vielfach mit gewohnten Wahrnehmungsmechanismen zu tun hat, die Sasha Waltz mit ihren choreografischen Ideen in Frage stellt. Die erste Überraschung stellt die räumliche Bühnenkonstellation der Aufführung dar. Während bei „klassischen“ Musik-Tanz-Produktionen die Musik aus dem „Hintergrund“ kommt (etwa live aus dem Orchestergraben oder übertragen aus Lautsprechern), sind die Musiker bei „Jagden und Formen“ direkt und gut sichtbar auf der Bühne platziert. Musiker und Tänzer teilen sich den Raum in der Diagonale. Gleich in der Anfangsszene definieren die Musiker und Tänzer gemeinsam den Raum. Das Musiker-Ensemble besetzt den linken hinteren Teil des diagonal geteilten Bühnenraums, zwei Geiger positionieren sich exponiert in der Diagonale, die Tänzerinnen bewegen sich im Raum dazwischen. Der sichtbare Raum wird also bewusst zwischen Tänzern und Musikern aufgeteilt. Sasha Waltz wirkt auf diese Weise der bei MusikTanz-Produktionen oft zu begegnenden Tendenz entgegen, dass die visuelle

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Präsenz der sich bewegenden Tänzer den musikalischen Eindruck überwölbt und dass auf diese Weise der Musik lediglich die Aufgabe zukommt, den akustischen Hintergrund zu gestalten. In unserer auf den Gesichtssinn hin orientierten Welt tendiert der visuelle Sinn dazu, alle anderen Sinne zu dominieren. Sasha Waltz wirkt dieser Gefahr durch mehrere choreografische Ideen entgegen, die die visuelle Integration der Musik bewirken. Die Tänzer lösen sich aus den Reihen der Musiker, die Musiker erobern solistisch oder im Duo den Bühnenraum, sie werden in Tanzbewegungen integriert. In einer besonderen Phase des Stückes verlassen alle Musiker die Ensembleformation, um auf dem Boden liegend die Musik erklingen zu lassen. Diese choreografischen Ideen verstärken die visuelle Präsenz der Musik, sie führen dazu, dass über den Gesichtssinn und den kinästhetischen Sinn (er ist für die Wahrnehmung von Bewegung verantwortlich) immer wieder auch die Aufmerksamkeit auf die Musik gelenkt wird. Ein besonderes Moment der Irritation ergibt sich durch die Art und Weise, wie Sasha Waltz mit dem zeitlichen Verlauf der Musik umgeht. Von unseren eigenen Erfahrungen mit Bewegung zur Musik sind wir gewohnt, dass wir unsere Bewegungen an der Musik orientieren, dass wir uns gewissermaßen von den musikalischen Entwicklungen tragen und leiten lassen. Wie die Wahrnehmungspsychologie lehrt, verschafft die zeitliche Synchronisierung von Phänomenen, wie eben etwa die Synchronisierung von Musik und Bewegung, positive Lustgefühle.22 Angesichts der komplexen musikalischen und tänzerischen Faktur und Struktur in Sasha Waltz’ „Jagden und Formen“ fällt es zunächst schwer, eindeutige synchrone Verhältnisse festzustellen. Natürlich gibt es Übereinstimmungen in Hinblick auf gemeinsame Impulse oder parallel sich vollziehende Spannungsverläufe. Aber viel öfter fallen dem Rezipienten Nicht-Übereinstimmungen, Asynchronizitäten ins Auge und ins Ohr. Etwa dort, wo in der Musik nach einer langen Phase der aufgeregten Unruhe plötzlich liegende Klänge hörbar werden und eine Stimmung der Ruhe und Statik sich breit macht. Die Tänzer reagieren darauf keineswegs eindeutig mit statisch wirkenden Bewegungen. Vielmehr wird im Tanzraum eine komplexe Struktur entfaltet, in der sowohl verlangsamte Bewegungen als auch weiterhin hektische Impulse aufeinander treffen. Die Bewegungen der Tänzer stehen zum Teil wie in einem kontrapunktischen Verhältnis zur Musik. Gerade aus diesem Spannung erzeugenden Nicht-Zueinanderpassen von Musik und

22 Die wahrnehmungspsychologischen Grundlagen, die der Rezeption von Musik-TanzProduktionen zugrunde liegen, habe ich ausführlich dargestellt in Brandstätter 2011, S. 169–181.

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Bewegung ergibt sich für den Rezipienten ein besonderer Reiz. Das Durchbrechen des Prinzips der Synchronizität schafft ein besonderes ästhetisches Ver­gnügen. Eine genaue Analyse einzelner Szenen ergibt, dass es nicht nur die kontrapunktische Beziehung zwischen Musik und Bewegung ist, die den ästhetischen Reiz ausmacht, sondern dass es immer wieder auch Phasen einer sehr genau geplanten, zeitlichen Asynchronizität gibt. Die Tänzer nehmen Entwicklungen der Musik vorweg, indem sie etwa den sichtbaren Raum umgestalten, von einem Bild ins nächste wechseln, noch bevor eine Veränderung in der Musik stattfindet. Der Rezipient wird durch die vorweggenommene Entwicklung quasi auf die bevorstehende Veränderung vorbereitet. Ebenso gibt es den umgekehrten Fall, dass die Tänzer erst „verspätet“ auf Impulse in der Musik reagieren. Durch dieses Prinzip der Asynchronizität wird in gewisser Weise die zeitliche Linearität der Musik aufgebrochen. Es gibt Vorausblicke und Rückblicke, Vergangenes und Zukünftiges wird vielfältig miteinander verwoben. Vielleicht wird diese Form der Umsetzung von Musik, die sich nicht einseitig am zeitlich linearen Verlauf der Musik orientiert, dem tatsächlich ebenso wenig eindimensional linear ablaufenden Vorgang der hörenden Wahrnehmung sogar besser gerecht. Das Hören von Musik kann durchaus als nichtlinearer Vorgang beschrieben werden, in dem Erinnerung an Vergangenes und Erwartung von Zukünftigem vielschichtig miteinander verwoben werden. Fast scheint es, dass das bewusst und sehr genau gestaltete Prinzip der Asynchronizität zwischen Musik und Bewegung einen Wesenszug der Musik und des Hörens freilegt, der bei einer allzu genauen Synchronisierung von Musik und Bewegung verloren gehen könnte. Die bewusst asynchrone Transformation der Musik in Bewegung führt also zu Wahrnehmungserkenntnissen, die ausgehend von der Wahrnehmung der Bewegung wieder zurück auf die Wahrnehmung der Musik wirken. Eine andere Besonderheit der Musik-Tanz-Theater-Produktion „Jagden und Formen“, die hier angesprochen werden soll und die ebenfalls möglicherweise zu Irritationen führt, betrifft den Ausdrucksgehalt der sich bewegenden Körper. Im Rahmen der Wahrnehmungspsychologie wird immer wieder auf die Ausdruckshaltigkeit von Körper und Bewegung verwiesen. Im Alltag erleben wir den Körper – ob bewusst oder unbewusst, spielt hier keine Rolle – als Medium des Ausdrucks. Bewegungen des Körpers sind ausdrucks­haltig, es scheint sogar eine affektspezifische Motorik zu geben. Wie lässt sich nun die Ausdrucksebene von Sasha Waltz’ „Jagden und Formen“ charakterisieren? Die emotionale Ausdruckshaltigkeit des Stücks ist schwer zu fassen. Zwar gibt es – wenn man sich auf die Bewegungen der Tänzer konzentriert – immer wieder Anklänge an mögliche Bedeutungen. Die im Laufen auftretenden Tän-

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zer vermitteln Eile und Verfolgung; die plötzliche Erstarrung birgt ein Moment des Schreckens; die verlangsamten Bewegungen, die in der Formation eines Menschenknäuels enden, signalisieren Bedrohung und Angst. Der auf Ausdruck und Emotionen achtende Rezipient wird eine Fülle differenzierter Ausdrucksgehalte entdecken, ohne diese jedoch begrifflich eindeutig benennen und ohne diese etwa im Sinne einer Geschichte miteinander in einen Zusammenhang bringen zu können. Das Stück changiert zwischen Situationen, die scheinbar eindeutig emotional aufgeladen sind, und Szenen, die sich einer konkretisierbaren Deutung völlig entziehen. Insgesamt zeichnet sich das Stück durch eine Tendenz zur Abstraktion, einen Verzicht auf eindeutige Bedeutungen aus. Der Körper wird nicht als Medium des direkten Ausdrucks eingesetzt. Allerdings spielt er mit Bewegungsmustern und ihrer emotionalen Aufladung, wie wir sie auch aus dem Alltag kennen. Es ist ein Spiel zwischen Abstraktion und Ausdruck. Damit scheint sich Sasha Waltz durchaus an der Musik zu orientieren. Wolfgang Rihms Komposition ist ebenfalls von der Spannung zwischen zwei Arten der Musik bzw. des Musikerlebens charakterisiert: Musikalische Passagen, die eine direkte emotionale Wirkung auf den Hörer ausüben, wechseln mit Passagen ab, die sich einer Deutung des Ausdrucksgehalts entziehen. Diese beiden Pole kommen auch im Titel des Werks zum Ausdruck: Jagden und Formen. Während der Begriff der Jagd die emotionale Seite thematisiert, verweist der Begriff der Form auf die Beschäftigung mit abstrakten Ideen. Was auf der einen Seite als Tendenz zur Abstraktion gedeutet werden kann, kann aus einer anderen Perspektive heraus als Tendenz zum Surrealen charakterisiert werden. In „Jagden und Formen“ stoßen unterschiedliche Bewegungssprachen aufeinander: maschinelle, puppenhafte Bewegungen, Alltagsbewegungen, Bewegungen des Ausdruckstanzes, an Ballett erinnernde Bewegungen … Charakteristisch ist, dass die verschiedenen Bewegungsmuster aus ihrem normalen Kontext herausgelöst sind und dass sie unvermittelt aufeinander treffen. Durch die Loslösung aus dem Kontext verschiebt sich ihre Bedeutung – man erinnere sich an die Idee des „Sprachspiels“ von Ludwig Wittgenstein. Fast hat man den Eindruck, auf eine surreale Traumsequenz zu stoßen, in der viele parallele Wirklichkeiten nebeneinander existieren. Sasha Waltz spricht von der „unendlichen Parallelität in unserer Welt“:23 „Wir leben in parallelen Welten, in unterschiedlichen Wirklichkeiten. Die Frage ist, wie weit man bereit ist, sich auf so etwas einzulassen, auf dieses Verworrene und Verwirrende.“24 23 Zitat aus: Sasha Waltz 2008, S. 89. 24 A. a. O., S. 84.

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Sasha Waltz’ choreografische Produktion „Jagden und Formen“ beruht auf vielfältigen Transformationsprozessen. Die erste Herausforderung besteht darin, ein bereits vorhandenes Musikstück in Bewegung umzusetzen. Sasha Waltz durchbricht dabei sowohl gängige Mechanismen der Angleichung von Bewegung an Musik als auch damit verbundene gängige Muster der Wahrnehmung. Zunächst steuert sie der visuellen Dominanz der Sinne entgegen, indem sie die Musiker in das visuelle Geschehen integriert. Sie transformiert also gewohnte Rezeptionsmuster bei Tanzaufführungen. Wer nun erwartet, dass die Musik direkt in Bewegung übersetzt wird, dass also die Bewegungen als direktes „Abbild“ der Musik gelesen und interpretiert werden können, wird enttäuscht. Sasha Waltz bricht mit der ganz elementaren Erwartung, dass Musik und Bewegung synchron ablaufen. Kontrapunktische Gestaltungen und asynchrone Entwicklungen prägen den Gesamteindruck. Sasha Waltz spielt mit dem Prinzip von Synchronizität und Asynchronizität. Sie durchbricht damit die Idee der zeitlichen Linearität und macht auf diese Weise einen Wesenszug von musikalischer Erfahrung, nämlich die Nicht-Linearität des Hörens von Musik deutlich. Ein weiteres Moment der Irritation ergibt sich durch die Art und Weise, wie Sasha Waltz mit dem Ausdrucksgehalt des Körpers umgeht. An die Stelle eindeutiger Ausdrucks­bewegungen tritt eine Vielzahl von Bewegungssprachen, die sich einer emotionalen Deutung entziehen. Der Einsatz des Körpers „wird abstrakt“, so wie auch die Musik in weiten Teilen als abstrakt charakterisiert werden kann. Der besondere Reiz ergibt sich jedoch aus dem Spiel mit der Abstraktion, aus dem Oszillieren zwischen Abstraktion und Ausdruck. Das Hin und Her zwischen abstraktem Spiel mit Formen und expressivem Ausdruck, wie es die Musik prägt, findet seine Entsprechung in unterschiedlichen Bewegungssprachen, die ebenfalls im Spannungsfeld zwischen Abstraktion und Ausdruck positioniert sind. Von besonderem Interesse ist dabei, dass der Übertragungsprozess die Musik nicht unberührt lässt. Die zum Teil irritierenden choreografischen „Übersetzungen“ wirken zurück auf die Wahrnehmung der Musik – der Transformationsprozess lässt sich also als Prozess der Wechselwirkung beschreiben, der beide künstlerische Sprachen miteinander in einen Dialog bringt, der beide verändert.

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Transformation zwischen Wissenschaft und Kunst

Heimo Zobernig: Künstlerische Gestaltung des Verbindungsgang zwischen ­  Unterem Belvedere und Orangerie in Wien

Das letzte der hier exemplarisch erörterten Beispiele für einen Transformationsprozess soll aus dem aktuellen – und durchaus umstrittenen – Feld der Wechselbeziehungen zwischen den Wissenschaften und den Künsten genommen werden. In der langjährigen Geschichte der wechselseitigen Abgrenzung und Annäherung25 werden aktuell Tendenzen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, die wissenschaftliche und künstlerische Denk- und Arbeitsweisen in eine neue Art des Austausches zu bringen versuchen. Das hier vorgestellte architektonische Projekt, ein Verbindungsgang zwischen dem Unteren Belvedere und der Orangerie (zwei für Ausstellungen genutzte Gebäude aus dem Gesamtkomplex des „Belvedere“, dem Sommerpalais des Prinzen Eugen) in Wien, ist in diesem Kontext aktueller Entwicklungen zu sehen. Ausgangspunkt war die Entscheidung der 2007 neu bestellten Direktorin des Belvedere-Museums, Agnes Arco-Husslein, die Orangerie als eigenen Ausstellungsraum für Bildende Kunst zu nutzen. Damit ergab sich in der Folge die Anforderung, den Besuchern der Räumlichkeiten des Unteren Belvedere einen direkten und barrierefreien Zugang zur Orangerie zu ermöglichen. Die Berliner Architekten Kuehn Malvezzi wurden beauftragt, eine architektonische Lösung zu entwickeln, die die barocken und natürlich unter Denkmalschutz stehenden baulichen Gegebenheiten berücksichtigt. Sie entwarfen einen gläsernen Verbindungsgang, dessen Stahlkonstruktion sensibel in die barocke Architektur integriert ist und der freie Ausblicke in den Garten ermöglicht. Gleichzeitig wurde der österreichische Künstler Heimo Zobernig beauftragt, die Verglasung künstlerisch zu gestalten. Heimo Zobernig entschied sich dafür, die Glasfronten des Verbindungsgangs mit einem Raster aus schwarzen, sich kreuzenden Linien zu überziehen. Dieses Linienraster erfüllt zunächst eine pragmatische Funktion: Es soll Vögel vor dem Aufprall auf das Glas abhalten. Gleichzeitig verbirgt sich hinter dem Raster aber auch eine komplexe konzeptionelle Idee. Es handelt sich nämlich keineswegs – wie man beim ersten Anblick vermuten könnte – um ein beliebiges Raster von Linien. Vielmehr hat Heimo Zobernig hier das „h-s-Diagramm“ des deutschen Physikers Richard Mollier exakt auf die ihm zur Verfügung stehenden Glasflächen übertragen. Dieses Diagramm bringt die grundlegenden physikalischen Eigenschaften des Wasserdampfes zur Darstellung – es dient der 25 Vgl. das Kapitel über „Kunst und Erkenntnis“.

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Verbindungsgang zwischen Unterem Belvedere und Orangerie Wien

Visualisierung der Zustandsveränderungen von feuchter Luft bei Erwärmung und Abkühlung. Was hat dieses physikalische Arbeits- und Erkenntnismodell nun mit dem Korridor und seiner ästhetischen Gestaltung zu tun? Zunächst ist eine thematische Verbindung zwischen dem „h-s-Diagramm“ und den lokalen klimatischen Bedingungen des Verbindungsgangs festzustellen. Als architektonische Lösung, die zwei unabhängige Gebäude mittels eines gläsernen Korridors verbindet, ist der Verbindungsgang natürlich mit der Entstehung feuchter Luft konfrontiert: Bedingt durch die direkte Sonneinstrahlung entsteht immer wieder kondensierender Wasserdampf, der sich an den Glasflächen niederschlägt. Mit Hilfe moderner Klimatechnik wird dieser Prozess in Grenzen gehalten. Trotzdem kann das Verhalten der feuchten Luft bei entsprechenden klimatischen Verhältnissen beobachtet werden. In gewisser Weise wird der gläserne Gang vom kondensierenden Wasserdampf „bespielt“ – das sich verändernde Verhalten der Luft auf dem Glas ist jedenfalls Teil der ästhetischen Gestaltung von Heimo Zobernig.

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Blick aus dem Gang auf die Orangerie

Heimo Zobernigs grafische Gestaltung des Verbindungsgangs kann als ästhetische Transformation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse charakterisiert werden. Welche Transformationsprozesse liegen der Übertragungsidee zu Grunde, und wie wirken sich diese auf die Rezeption aus? Das „h-s-Diagramm“ von Richard Mollier basiert auf der Visualisierung von Erkenntnissen – die Ergebnisse von Berechnungen, das Verhalten des Wasserdampfs bei Erwärmung und Abkühlung betreffend, werden in Form eines grafischen Diagramms festgehalten. Im Sinne der Zeichentheorie von Nelson Goodman und seiner Unterscheidung zwischen analogen und digitalen Zeichen stellt dieses Diagramm ein Beispiel für ein digitales, diskretes Zeichensystem dar. Jeder Punkt auf der x-Achse des Diagramms ebenso wie jeder Punkt auf der y-Achse steht für einen bestimmten Zustand des Wasserdampfes. Indem Zobernig das Diagramm auf die Glasflächen des Verbindungsgangs projiziert, löst er Transformationsprozesse auf mehreren Ebenen aus. Aus den digitalen Zeichen werden analoge Zeichen. Wir erinnern uns, dass sich der Unterschied

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zwischen analogen Zeichen und digitalen Zeichen vielfach als Unterschied in der Lesart eines Zeichens ergibt. Da die Besucher des Museums kaum über die entsprechenden physikalischen Fachkenntnisse verfügen, werden sie das Linienraster von Zobernig zunächst sicherlich als grafische Gestaltung (und damit als analoges, dichtes Zeichen) interpretieren und nicht als physikalisches Diagramm. Die digitalen Zeichen, die exakte naturwissenschaftliche Erkenntnisse ermöglichen, werden damit zu einem Bild, das für verschiedene, durchaus auch subjektive Interpretationen offen ist. In seinem abstrakten Charakter lässt das Linienraster unterschiedliche Deutungen zu: Die schwarzen Linien werden möglicherweise – unter formalen Gesichtspunkten – auf die architektonischen Elemente des Korridors bezogen (in ihrer Klarheit entsprechen sie der architektonischen Anlage); vielleicht lösen sie aber auch konkrete bildliche Assoziationen aus (wie das Bild eines Käfigs oder das Bild materialisierter Lichtstrahlen). Hier wird ein wesentlicher Unterschied zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer Erkenntnis deutlich: Die Verwandlung des Diagramms zu einem Bild eröffnet den Raum für eine Vielfalt unterschiedlicher Interpretationen, die nicht nach dem Wahrheitskriterium als falsch oder richtig eingestuft werden können, sondern lediglich nach dem Kriterium der Stimmigkeit danach befragt werden können, wie weit sie zur konkreten sinnlichen Erscheinung passen. Damit ist ein weiterer Effekt der ästhetischen Transformation angesprochen: die Rück-Überführung einer theoretischen Erkenntnis in ihren ursprünglich sinnlichen Lebenszusammenhang. Zur Gewinnung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse werden Phänomene aus konkreten komplexen Gesamtzusammenhängen herausgelöst, um – gereinigt von allen singulären Besonderheiten – in ihren allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten erfasst zu werden. Wissenschaft hat die „reine“, „objektive“ Erkenntnis zum Ziel. Auch wenn diese Zielbestimmung von Wissenschaft heute – im Kontext einer kritischen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie – nicht mehr aufrecht zu erhalten ist, so bleibt doch als grundsätzlicher Unterschied zur ästhetischen Erkenntnis der andere Bezug zur sinnlichen Wahrnehmung bestehen. Als „sinnliche Erkenntnis“ (man erinnere sich an Alexander Baumgartens Plädoyer für die der theoretischen Erkenntnis gleichgestellte sinnliche Erkenntnisform) lebt die ästhetische Erkenntnis von ihrem Bezug zur sinnlichen Wahrnehmung. Dies wird in Heimo Zobernigs künstlerischer Gestaltung des gläsernen Korridors deutlich. Das Mollier-Diagramm steht für das Verhalten feuchter Luft – im Belvedere-Verbindungsgang wird das Thema des Diagramms in die konkrete Sinnlichkeit zurück überführt: Das Verhalten des Wasserdampfs wird durch das tatsächliche Verhalten der Luft im Verbindungsgang direkt anschaulich. Freilich müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir beim Durchgang

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durch die ästhetische Installation keineswegs wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen. Unter dem Gesichtspunkt der Visualisierung der Theorie muss die ästhetische Transformation als gescheitert angesehen werden. Die optimale Visualisierung ist bereits durch das physikalische Diagramm gewährleistet, dafür braucht es keine ästhetische Transformation mehr. Ästhetische Transformationen verstehen sich aber eben gerade nicht als ästhetische Vermittler von wissenschaftlichen Theorien – dieser Erwartungshaltung begegnet man sehr oft in aktuellen Kooperationsprojekten, in denen Wissenschaftler und Künstler zusammenarbeiten. Die Wissenschaftler erhoffen sich von Seiten der Künstler vor allem Hilfestellungen in Hinblick auf die Präsentation und Vermittlung ihrer Erkenntnisse. Aus der Perspektive der Künstler liegen die Zielsetzungen auf anderen Ebenen. Beim hier gewählten Beispiel scheint eine Intention darin zu bestehen, das Phänomen des Verhaltens des Wassers und der Luft auf möglichst unterschiedliche Weise dem Betrachter näher zu bringen: als Diagramm (über dessen physikalische Bedeutung sich der Betrachter mit Hilfe eines Einführungstextes informieren kann); als tatsächlich verdampfendes Wasser, das sich in Form von Kondenstropfen auf dem Glas niederschlägt; als Teil einer technisch-sachlichen Architektur, die eben nicht nur aus Stahl, Glas und Kalkstein besteht, sondern zu deren inhärentem Bestandteil ebenso das Licht und die Luft (mit ihrem sich verändernden Verhalten) gehören. Heimo Zobernig hat seine grafische Installation an den architektonischen Stil angepasst. Auf die technisch-sachliche Sprache der Materialien und der Formgebung des Verbindungsgangs reagiert er ebenso sachlich-nüchtern mit einem technischen Diagramm. Indem er dieses jedoch in einen ästhetischen Kontext transferiert, trägt er nicht nur zur Gestaltung des architektonischen Raums bei, sondern eröffnet damit einen offenen poetischen Raum der ästhetischen Erfahrung und ästhetischen Erkenntnis.

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4.  Theorie der ästhetischen Transformation Die Möglichkeiten der Transformation sind unüberschaubar. Trotz der Beschränkung auf Transformationsprozesse, denen ein intentionaler Akt zu Grunde liegt und die ein Innovationspotenzial in sich bergen, ist der Anspruch, einen systematischen Überblick über die grundsätzlichen Möglichkeiten der Transformation zu geben, nicht einzulösen. Die hier exemplarisch dargestellten und analysierten Transformationen versuchen, zumindest einen Einblick in die Vielfalt der Möglichkeiten zu geben. Thematisiert wurden zum einen Transformationsprozesse, die innerhalb eines Mediums verschiedene Zeichenfunktionen miteinander ins Spiel bringen: das Zeigen und das Sagen bei Anne Bertier oder analoge und digitale Zeichen bei Heimo Zobernig. Zum andern ging es um Übertragungsprozesse zwischen verschiedenen künstlerischen Medien, wobei es sowohl um die „Übersetzung“ allgemeiner medienspezifischer Ideen ging (wie z. B. die Idee abstrakter Musik in das Medium der Malerei) wie auch um die Übertragung eines ausgewählten Kunstwerks von einem Medium in ein anderes (wie Sasha Waltz’ „Jagden und Formen“). Ein besonderes Augenmerk wurde auf das Phänomen der Kontextveränderung gelenkt, wie sie sich durch neue Formen der Präsentation von Kunst ergibt (z. B. durch die Neupräsentation der Sammlung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin) oder auch durch veränderte Umgangsweisen, die schließlich im künstlerischen Material und in der künstlerischen Sprache selbst ihren Niederschlag finden (man denke an Entwicklungszüge in der abendländischen Kunstmusik). All diese Beispiele thematisieren Transformationsprozesse, die innerhalb der Kunst (innerhalb eines Mediums oder im Austausch zwischen den Medien) stattfinden. Der von Heimo Zobernig grafisch gestaltete Verbindungsgang im Belvedere in Wien schließlich öffnet die Perspektive in Richtung Transformationen zwischen Kunst und Wissenschaft. Im Folgenden unternehme ich den Versuch, auf der Basis der dargestellten Transformationen Ansätze zu einer Theorie der ästhetischen Transformation zu entwickeln. Im Zentrum werden ausgewählte Kernideen stehen, die ich als Thesen formuliere und anschließend kurz erläutere. Ästhetische Transformation beruht auf metaphorischer Bezugnahme

An anderer Stelle26 wurde die metaphorische Bezugnahme bereits als eine spezifische Weise des Umgangs mit der Welt und der Erkenntnis, wie sie durch Kunst 26 Vgl. den Abschnitt „Denken in Ähnlichkeiten“ im Kapitel „Denken und Erkennen“.

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ermöglicht wird, charakterisiert. Metaphorische Bezugnahme bedeutet, dass zwischen zwei Phänomenen eine Beziehung der Ähnlichkeit hergestellt wird. Das „Metaphorische“ verweist darauf, dass Ähnlichkeiten auch zwischen Phänomenen festgestellt bzw. generiert werden können, die normalerweise nichts miteinander zu tun haben und die kategorial voneinander unterschieden werden. Dieser Prozess der Anähnelung ist etwa im ABCdarium von Anne Bertier festzustellen: In den grafischen Lösungen, die sie für die Darstellung des Buchstaben F entwickelt, nähert sie das diskrete (digitale) Schriftzeichen dem Bild des Blattes und des Baumes an, so wie umgekehrt das Bild des Blattes Schriftcharakter bekommt. Zeigen und Sagen werden einander ähnlich gemacht. Metaphorische Bezugnahmen finden aber auch dort statt, wo künstlerische Medien sich von ästhetischen Ideen anderer Medien inspirieren lassen: etwa wenn die Sprache bewusst musikalische Gestaltungsideen aufgreift (man denke etwa an Gedichte, die sich am Formmodell der Fuge orientieren), oder wenn Maler wie Kandinsky eine „Harmonielehre“ der Malerei zu entwickeln versuchen, oder wenn Sasha Waltz den zum Teil abstrakten, auf formale Gestaltungsprinzipien bezogenen Charakter der Musik von Wolfgang Rihm in eine abstrakte Körpersprache übersetzt. Da bei der Überschreitung von Mediengrenzen niemals „wortwörtliche Übersetzungen“ möglich sind, führt jede Transformation zu einer grundlegenden Verwandlung, wobei ein gemeinsamer Kern (das Tertium Comparationis) die Brücke zwischen den beiden unterschiedlichen Phänomenen herstellt. Das Spezifische an metaphorischen Bezugnahmen besteht darin, dass sie ein unendliches Feld der Transformationen eröffnen. Im Grunde kann alles mit allem ähnlich gemacht werden. Entscheidend ist, wie überzeugend die Bezugnahme – auch für die Rezipienten – gelingt, wie sehr also die Beziehung der Ähnlichkeit nachvollzogen werden kann und zu künstlerischen Ergebnissen führt, die auch unabhängig vom Transformationsprozess überzeugen. Ästhetische Transformation vollzieht sich im Spannungsfeld  von Sich-­ähnlich-Machen und Sich-verschieden-Machen

Die ausgewählten Beispiele für Transformationen zeigen, dass Transformationsprozesse nicht nur dadurch angeregt werden, sich einem fremden Phänomen ähnlich zu machen, sondern dass genauso die gegensätzliche Tendenz festzustellen ist, sich vom Bezugsphänomen abzugrenzen und Merkmale der Verschiedenheit zu entwickeln. Als eindrückliches Beispiel für Abgrenzungsprozesse wurden Entwicklungstendenzen der abendländischen Kunstmusik thematisiert: z. B. ihre Tendenz sich von der Verbalsprache zu lösen, nachdem

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die Musik jahrhundertelang von der Verschränkung zwischen Musik und Sprache geprägt war. Dieser Prozess der Emanzipation wiederholte sich im Lauf des 20. Jahrhunderts nochmals auf anderer Ebene, als die inzwischen völlig autonome Instrumentalmusik ihren eigenen Sprachcharakter, der sich in bestimmten melodisch-rhythmisch-harmonischen Gestalten – auch ohne Bezugnahme auf konkrete sprachliche Formulierungen – entwickelt hatte, grundsätzlich in Frage stellte und zum Teil bewusst aufgab. Das Sich-verschieden-Machen konnte auch bei der Musik-Tanz-Produktion von Sasha Waltz beobachtet werden. Obwohl diese Produktion in ihrem Verlauf ganz an der bereits zuvor komponierten Musik von Wolfgang Rihm orientiert ist, ging es Sasha Waltz offensichtlich nicht darum, ein – in möglichst vielen Merkmalen ähnliches – tänzerisches „Abbild“ der Musik zu schaffen. Vielmehr ist die choreografische Umsetzung von Brüchen und kontrapunktischen Gestaltungen geprägt. Die Choreografie lebt gewissermaßen von diesem Spiel zwischen Anähnelung, Korrespondenzen und Nähe auf der einen Seite sowie Abgrenzung, Widersprüchen und Distanz auf der anderen Seite. Das Sich-ähnlich-machen-Wollen beruht auf dem früher schon ausführlich thematisierten mimetischen Weltzugang. Neben der Tendenz, sich der Welt ähnlich zu machen, um sie zu erfassen und um sie sich anzueignen, ist auch die gegenläufige Tendenz der Abgrenzung zu beobachten. Um mich selbst gegenüber der Welt zu behaupten, bedarf es der Grenzziehung zwischen mir und meinem Gegenüber (gleichgültig, ob das Gegenüber eine Person, ein Ding oder ein Gedanke ist). Beides jedoch – das Sich-ähnlich-Machen ebenso wie das Sich-verschieden-Machen – ist nur im Zusammenhang zu verstehen. Denn in beiden Tendenzen geht es um eine vergleichende Bezugnahme, die entweder stärker die Ähnlichkeiten oder eben auch die Verschiedenheiten herausarbeitet. Basis ist das vergleichende Denken, das genauso wie das kausale, schlussfolgernde Denken, zu den elementaren Fähigkeiten des Menschen gehört. Ästhetische Transformation bedeutet Kontextverschiebung

Wann immer wir uns mit der Wirklichkeit beschäftigen, haben wir es mit „Texten“ und „Kontexten“ zu tun. Sobald sich unser Erkenntnisinteresse (und dieses wird bereits in jedem Akt der Wahrnehmung wirksam) auf ein Objekt richtet, wird dieses für uns zum „Text“, den wir „lesen“ und verstehen wollen. Gleichzeitig mit dem ausgewählten Objekt ist aber immer auch eine Umgebung gegeben, die als „Kon-Text“ charakterisiert werden kann, insofern auch die Umgebung – sozusagen auf subsidiärer Ebene der Aufmerksamkeit – uns „Lesarten“ eines Objektes nahelegt. Ein Apfel, im Rahmen eines Einkaufs in

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der Gemüsehandlung gesehen, wird von uns anders wahrgenommen, als wenn derselbe Apfel sich in freier Landschaft auf dem Baum hängend uns darbietet. Text und Kontext definieren sich wechselseitig, wobei grundsätzlich jedes „Ding“ und jede „Situation“ sowohl die Rolle des Textes wie auch die Rolle des Kontextes übernehmen kann. Letztlich entscheidet nur die Aufmerksamkeit des wahrnehmenden Subjekts über die Rollenverteilung. Von Kontextverschiebungen war in den vorangegangenen Beispielen mehrfach die Rede. Die Neupräsentation der Sammlung der Neuen Nationalgalerie in Berlin lenkt in der direkten Gegenüberstellung von Werken, die normalerweise nicht gemeinsam präsentiert werden, den Blick auf neue Aspekte. Die Nutzung von Räumen für die Aufführung von Musik, die normalerweise anderen Zwecken dient, vermittelt eine andere Atmosphäre und bedingt damit möglicherweise ein anderes Wahrnehmungsverhalten. Die Transformation von Gebrauchsmusik“ zu „Darbietungsmusik“27, also von Musik, die für ganz bestimmte Zwecke genutzt wurde (etwa zum Tanzen) und dementsprechend bei bestimmten Anlässen (z. B. bei Hochzeiten) zu Gehör gebracht wurde, in Musik, die man in der klassischen „Guckkastensituation“ im Konzert rezipiert, veränderte nicht nur das Rezeptionsverhalten, sondern damit einher ging auch eine Veränderung des musikalischen Materials selbst. Der veränderte Gebrauch führte zu einer Transformation des musikalischen Stils, so wie umgekehrt der veränderte musikalische Stil eine Transformation der Rezeption nach sich zog. Wenn der Kontext sich ändert, ändert sich damit der Text, so wie die Änderung des Textes sich auch auf den Kontext auswirkt. Auffallend bei Kontextveränderungen ist das Phänomen der Bedeutungsänderung. Bezug nehmend auf die Idee des „Sprachspiels“ von Ludwig Wittgenstein, ergibt sich die Bedeutung eines Zeichens aus dem Gebrauch. Da Kontexte – sowohl als Hintergrundphänomene als auch als bewusste Inszenierungen – Einfluss auf den Gebrauch von Zeichen nehmen, ändert sich durch sie die Bedeutung der Zeichen. Ein transformierter Kontext verändert den Wahrnehmungsmodus, eine transformierte Wahrnehmung wiederum verändert die Bedeutung. Ästhetische Transformation beruht auf Abstraktion

Wenn hier von Abstraktion die Rede ist, so sind damit nicht Phänomene der „Theoretisierung“ angesprochen, sondern vielmehr bezeichne ich damit einen 27 Die beiden Begriffe gehen auf den Musikwissenschaftler Heinrich Besseler zurück. Vgl. hierzu Besseler 1978.

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Vorgang der Analyse, bei dem einzelne Merkmale herausgefiltert werden: aus einem Wahrnehmungskomplex, der als ein Bündel von Merkmalen beschrieben werden kann, werden einzelne Eigenschaften „ab(s)-trahiert“, also herausgezogen. Denken wir an die vergleichende Betrachtung der beiden Bilder von Oskar Nerlinger und László Moholy-Nagy. Die direkte räumliche Gegenüberstellung bewirkte, dass einzelne Merkmale der Bilder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten, andere dafür im Hintergrund blieben. Das eine Bild wirkt auf das andere jeweils wie ein „analytisches Werkzeug“, mit dessen Hilfe Besonderheiten – wie etwa die formale Komposition – herausgefiltert werden. Dieser Prozess der Analyse und Abstraktion bedarf nicht der Verbalsprache, die abstrahierten Merkmale sind nicht-sprachlicher Natur, sie können in manchen Fällen jedoch im Nachhinein sprachlich benannt werden. Wie die zuvor analysierten Beispiele zeigen, ergibt sich Abstraktion durch Kontextverschiebung. Wenn Beethoven die harmonische Kadenzbewegung von ihrer ursprünglichen Funktion loslöst, quasi im Hintergrund das eigentliche musikalische Geschehen zu grundieren, und die Kadenz stattdessen als sich wiederholende Spielfigur in den Vordergrund rückt, dann kann dieser Vorgang der Loslösung aus dem gewohnten Gebrauchskontext ebenso als Vorgang der Abstrahierung beschrieben werden. In diesem sehr allgemeinen Verständnis des Begriffs der Abstraktion wurden Entwicklungen der Musik, bei denen vorhandene Kontexte und Verwendungsweisen musikalischer Gestaltungen transformiert wurden, indem einzelne Merkmale herausgefiltert (abstrahiert) und diese in neue musikalische Zusammenhänge gestellt wurden, insgesamt als musikalische Abstraktionstendenzen charakterisiert. Musikalische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts – wie die Emanzipation der Dissonanz oder die Emanzipation des Geräusches – erscheinen aus dieser Perspektive ebenfalls als abstrahierende Prozesse. Die Abstraktion bildet dabei den Ausgangspunkt für grundlegende Transformationen des musikalischen Materials und der musikalischen Sprache. Ästhetische Transformation verändert die Wahrnehmung

Da ästhetische Transformationen als „aisthetische“ immer auf die Wahrnehmung bezogen sind, ist die Wahrnehmung als erste Instanz von den Transformationen betroffen. Ästhetische Transformationen arbeiten mit sinnlichem Material, das in der Wahrnehmung verarbeitet und erfasst wird. Bei allen exemplarisch thematisierten Beispielen stand die Wahrnehmung im Zentrum: bei Anne Bertiers Vexierspiel zwischen Zeigen und Sagen ebenso

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wie beim Dialog zwischen Oskar Nerlinger und László Moholy-Nagy; bei der wechselseitigen Übertragung ästhetischer Gestaltungsideen zwischen Bildender Kunst und Musik ebenso wie bei der Transformation des Musikstückes „Jagden und Formen“ von Wolfgang Rihm in eine Tanz-Theater-Choreografie; und auch die in Architektur eingebettete grafische Installation von Heimo Zobernig im Verbindungsgang des Belvedere in Wien wurde in Hinblick auf ihre Wirkung und damit in Hinblick auf die Möglichkeiten der Wahrnehmung befragt. Das Besondere an ästhetischen Transformationen besteht darin, dass die veränderte Wahrnehmung zu den zentralen Intentionen selbst gehört. Ästhetische Transformationen wollen gewohnte Wahrnehmungsmuster aufbrechen, sie wollen bewusst irritieren und damit die jahrelang eingeübten Wahrnehmungsautomatismen in Frage stellen. Die choreografische Umsetzung von „Jagden und Formen“ von Sasha Waltz ist dafür ein eindrückliches Beispiel: Indem sie gerade nicht die Erwartungen nach einem synchronisierten Ablauf von Musik und Tanz erfüllt, fordert sie die Rezipienten heraus, die eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten kritisch zu reflektieren und neue Wahrnehmungsmöglichkeiten für sich zu entdecken. Ästhetische Transformation führt zu ästhetischer Erkenntnis

Die transformierte Wahrnehmung bildet die Basis für ästhetische Erkenntnisse. Dabei muss wieder zwischen Erkenntnissen unterschieden werden, die die Erkenntnis der Kunstwerke selbst betreffen, und jenen Erkenntnissen, die – über die Erfahrung des Kunstwerks hinaus – auch andere Aspekte der Welt erkennen lassen. Bleiben wir zunächst bei der ästhetischen Erkenntnis „von“ Kunst. Für alle angeführten Beispiele gilt, dass die Erkenntnis „wahrnehmungsgeleitet“ ist, das heißt, dass sie bei der mimetischen Wahrnehmung ihren Ausgangspunkt hat und letztlich auch wieder in die Wahrnehmung mündet. Ästhetische Erkenntnis ist „aisthetische“ Erkenntnis. Darüber hinaus muss sie jedoch auch noch andere Merkmale erfüllen, um als Erkenntnis klassifiziert werden zu können. „Ästhetische Erkenntnis beruht auf dem Zeigen und ist metaphorisch“ – so hatte ich eine der Besonderheiten ästhetischer Erkenntnis im Kapitel über Kunst und Erkenntnis festgehalten. Welche zentrale Rolle der metaphorischen Bezugnahme im Zuge von ästhetischen Transformationsprozessen zukommt, wurde bereits gesagt. Alle Beispiele fordern das vergleichende Denken, das analoge Denken heraus. Sie inszenieren die Wahrnehmung von Phänomenen in einer Weise, dass das Denken in Ähnlichkeiten (bzw. in Verschiedenhei-

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ten – als ergänzendes Pendant) angeregt wird: Der gemalte Buchstabe F wird mit dem Bild des Blattes verglichen, das Bild von Nerlinger mit dem Bild von Moholy-Nagy usw. Das vergleichende Denken führt zu Erkenntnissen, die jedoch niemals zu einem Endpunkt kommen – es gibt keine endgültige, „wahre“ ästhetische Erkenntnis. Anhand von Heimo Zobernigs künstlerischer Gestaltung einer architektonischen Situation können wir weitere Merkmale ästhetischer Erkenntnis feststellen, die über die Erkenntnis von Kunst hinausführen. Heimo Zobernigs grafische Installation bietet eine in hohem Maß reflexive Erkenntnisform an. Auch er fordert – bei genauerer Beschäftigung – das vergleichende, analoge Denken heraus: Wie fügt sich die Grafik auf dem Glas in die Architektur des Verbindungsgangs ein? Welche Entsprechungen gibt es zwischen dem Gitternetz und der speziellen, von Licht durchfluteten räumlichen Situation? Und schließlich – wenn man durch den Informationstext erfahren hat, dass es sich um die Übertragung eines physikalischen Diagramms in einen ästhetischen Kontext handelt – stellt sich die Frage, welche Art von Erkenntnis diese ästhetische Transformation ermöglicht, und inwiefern sich diese von der wissenschaftlichen Erkenntnis unterscheidet. Da ästhetische Erkenntnis immer einen ästhetischen Rahmen braucht, um sich als solche zu präsentieren, wird dieser Rahmen immer mitbedacht. Ästhetische Erkenntnis ist in diesem Sinne immer selbstreflexiv: sie zeigt das, was sie zu erkennen geben will, und zeigt darüber hinaus auch die Bedingungen ihres Zeigens. Ästhetische Transformationsprozesse regen eine besondere Form der Erkenntnis an: Sie bleibt in der Wahrnehmung verankert, beruht auf analogem, vergleichenden Denken, verknüpft kategorial verschiedene Phänomene über den Mechanismus der metaphorischen Bezugnahme, lässt Freiräume für verschiedene Interpretationen und reflektiert sich selbst, indem sie immer wieder auf ihr eigenen Bedingungen zurück verweist. Ästhetische Transformation schafft Räume der Nicht-Identität

Dass das Denken in Ähnlichkeiten im Unterschied zum schlussfolgernden Denken nicht auf Identität zielt, sondern dass es bei aller Suche nach Ähnlichkeiten Räume der Differenz eröffnet, ist bereits ausführlich erläutert worden.28 Der Gedanke wird an dieser Stelle nochmals aufgegriffen, um ihn vor dem Hintergrund der konkreten Beispiele zu veranschaulichen. 28 Vgl. den Abschnitt „Identisches versus Nicht-Identisches“ im Kapitel „Denken und Erkennen“.

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Anne Bertiers Spiel mit unterschiedlichen Zeichenfunktionen führt zu einer Verwischung der kategorialen Grenzen zwischen Zeigen und Sagen. Es entstehen dabei semiotische Mischformen, die sich einer eindeutigen kategorialen Zuordnung entziehen. Ob das Oszillieren zwischen den verschiedenen Zeichenfunktionen letztlich zur Bildung einer neuen Kategorie führt, diese Frage bleibt unbeantwortet. Das Faszinierende an diesem Beispiel für Transformation besteht ja gerade darin, dass es Wahrnehmungsräume eröffnet, die eben noch nicht eindeutig strukturiert sind und in denen die Wahrnehmung in Bewegung bleibt. Ein ähnliches Phänomen ist bei Sasha Waltz’ „Jagden und Formen“ zu beobachten. Indem sie die vertrauten auf Synchronisierung eingestellten Erwartungsmuster aufbricht und stattdessen mit zeitlich verschobenen, nicht dem scheinbar linearen Verlauf der Musik folgenden Transformationen arbeitet, eröffnen sich zwischen der Musik und den Bewegungen der Tänzer Räume der Differenz, die nicht so leicht durch kategoriale Zuordnungen zu vereinnahmen sind und die daher die Wahrnehmung in Schwebe halten. Ästhetische Transformationsprozesse brechen mit eingespielten und gewohnten Mustern des Wahrnehmens, Denkens, Verhaltens und Erkennens. Sie greifen in etablierte Wahrnehmungs- und Denk-Zusammenhänge ein, verändern Kontexte, abstrahieren, fügen Elemente neu zusammen und führen das transformative Spiel oft auch selbstreflektierend vor. Bedingt durch den prozesshaften Charakter von Transformationen haftet vielen Transformationen ein Charakter des zeitlich Offenen an. Transformationen vermitteln zwischen zwei Phänomenen, und dabei entwickeln sie Räume des „Dazwischen“, die sich einer eindeutigen kategorialen Zuordnung entziehen, und die also noch ganz neu zu entdecken sind.

IV. Ästhetische Transformation als didaktisches und künstlerisches Gestaltungsprinzip Stille Post! 11 Disziplinen, 22 Wochen, 33 Transformationen1 Eine Idee wird Wort wird Grafik wird Foto wird Musik wird Text wird Zeichnung wird Skulptur wird Collage wird Klang wird Video wird Rhythmus wird Installation wird Skizze wird Illustration wird Bild wird Objekt. Eine Idee wird Konzept. Am Anfang steht eine Idee: Post. „Post“: Post verfassen, Post verschicken, Post aufgeben (im doppelten Wortsinn), auf Post warten, Post bekommen, auf Post reagieren … „Stille Post“: geheime Post, von einer zur anderen weitergereicht, unter vorgehaltener Hand, behutsam, heimlich … Aber auch „post“: danach, dahinter, was wird danach sein? Nach dem Vorbild des Kinderspiels „Stille Post“ realisierten 11 Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Disziplinen (Bildende Kunst, Gestaltung, Musik, Architektur, Philosophie und Pädagogik) im Rahmen der Universität der Künste Berlin gemeinsam ein interdisziplinäres Kunstprojekt. Der kollektive künstlerische Prozess führte im Zeitraum von 22 Wochen auf der Basis von 11 Spielregeln zu insgesamt 33 künstlerischen Produkten. Leitende Idee war die Weitergabe einer künstlerischen oder wissenschaftlichen Botschaft an eine zweite Mitspielerin. Die Weitergabe fand – unter Ausschluss der „Öffentlichkeit“ – jeweils immer nur zwischen zwei Personen, also „geheim“ statt: Die angesprochene Person reagierte auf die ihr „zugeflüsterte“ Botschaft (in Form eines künstlerischen Werkes) mit einem eigenen künstlerischen Produkt, das wiederum an die nächste weiter gereicht wurde. Auf diese Weise entstanden in drei parallelen – zeitlich genau geregelten Durchläufen – drei Ketten von künstlerischen Transformationen. Die insgesamt 33 Werke wurden zum Abschluss in einer Ausstellung präsentiert. Im Zentrum des interdisziplinären Kunstprojektes „Stille Post!“ stand die Auseinandersetzung mit Prozessen des Kommunizierens und Transformierens. Das Besondere des Projektes bestand darin, dass die Thematik der Kommunikation und der Transformation nicht theoretisch abgehandelt, sondern in einem komplexen künstlerischen Prozess praktiziert wurde. Das 1 Vgl. dazu Haase 2006.

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Nachdenken über Kommunizieren und Transformieren fand nicht diskursiv im Medium der Verbalsprache statt, sondern es bediente sich der Vielfalt der ästhetischen Medien, wie sie durch die mitwirkenden Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen und ihre jeweiligen professionellen Hintergründe gegeben war. Die durch die Spielregel der Weitergabe und Transformation provozierte Koppelung von künstlerischen Arbeiten und Ausdrucksmedien verknüpfte die einzelnen Arbeiten zu einer zusammenhängenden Kette von Botschaften, wobei einander benachbarte Glieder eine unmittelbare Beziehung miteinander eingingen. Eingebunden in Transformationsprozesse, veränderten sich die einzelnen Arbeiten in ihren Wirkungen und Bedeutungen: Sie begannen zwischen Abstraktion und Konkretion, zwischen sinnlicher Wirkung und zeichenhafter Bedeutung zu oszillieren. Gerade in der Verknüpfung unterschiedlicher Medien wurden die Differenzen und Besonderheiten der einzelnen Medien deutlich. In wechsel­ seitigen Projektionen, wie sie zwischen den aufeinander bezogenen Werken stattfanden (topografischer Raum wird zu musikalischem Raum, Sprache wird Bild), konnten diese Differenzen zwar übersprungen werden, sie wurden jedoch dadurch nicht aufgelöst. Beide aufeinander bezogenen Glieder der Kette erfuhren eine Veränderung. Im Grunde erfasste der Transformationsprozess jedoch alle Glieder, wobei die ursprüngliche Richtung des Prozesses in der Rezeption umgekehrt werden konnte. Die Folge war ein multidirektionaler ästhetischer Raum, der nach vielen Richtungen hin erfahren und erkundet werden konnte. Das Projekt „Stille Post!“ fand inzwischen viele Fortsetzungen. Im Rahmen einer Gastprofessur an der Universität der Künste Berlin übertrugen die beteiligten Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen die Idee der KettenTransformation als hochschuldidaktisches Prinzip auf Lehrveranstaltungen, die fakultätsübergreifend für Studierende aller an der Universität vertretenen künstlerischen Richtungen angeboten wurden. Unter übergeordneten Themen wie z. B. „Wandernde Orte“ oder „Die Magie der Dinge“ fanden sich für ein Semester Studierende unterschiedlicher künstlerischer Disziplinen zusammen, um mit dem Prinzip der ästhetischen Transformation im Sinne des Stille-Post-Spiels zu experimentieren. Die Lehrveranstaltungen, die durch sechs Semester angeboten wurden, mündeten jeweils in eine Ausstellung und eine abschließende Präsentation. Das Konzept der ästhetischen Transformation als didaktisches und künstlerisches Gestaltungsprinzip wurde in der Folge in schulische Kontexte

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übertragen2 und auch nach Kanada (Vancouver) erfolgreich „exportiert“. Der Erfolg der Projektidee zeigt sich in der Gründung eines „Institute for Artistic Transformation“, die im Jahr 2011 an der Emily Carr University of Art & Design in Vancouver erfolgte. Erklärtes Ziel des neu gegründeten Instituts ist es, das Prinzip der ästhetischen Transformation sowohl künstlerisch wie auch wissenschaftlich und pädagogisch weiter zu entwickeln. Was macht diese – ursprünglich aus einem Kinderspiel abgeleitete – Idee so erfolgreich? Worin liegen die besonderen Chancen sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption von Kunst? Diesen Fragen soll im abschließenden Kapitel nachgegangen werden. Sie lenken den Blick auf das Phänomen der ästhetischen Transformation aus der Perspektive pädagogischer Fragestellungen, legen dabei aber nochmals Aspekte frei, die auch für die künstlerische Perspektive von Interesse sind.

2 So arbeiteten etwa im Rahmen des Projektes „alles bleibt anders“ drei Musikkurse, zwei AGs Darstellendes Spiel und eine Kunst- sowie eine Deutschklasse der Jahrgangsstufen 5 bis 12 zusammen. Vgl. hierzu Oberhaus 2010, S. 221–227.

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1.  Ästhetische Transformationen in pädagogischen Kontexten Wie in den vorangehenden Kapiteln gezeigt wurde, waren Transformationsprozesse zwischen den Künsten immer schon – gewissermaßen selbstverständlich – ein wichtiger Faktor für die Weiterentwicklung der Künste. Der Transformationsbegriff ist hier sehr weit gefasst: Er umfasst Phänomene wie etwa die an der Sprache orientierte Ausbildung einer musikalischen Rhetorik ebenso wie die direkte Umsetzung eines Musikstücks in ein Bild, die Entwicklung von Gesamtkunstwerken bzw. intermedialer Kunstformen ebenso wie die von Albrecht Wellmer konstatierte grundsätzliche „latente Intermedialität“3 von Kunstwerken. Bedingt durch die neuen digitalen Möglichkeiten, wie sie sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend selbstverständlich etabliert haben, ist unsere Lebenswelt von intermedialen Phänomenen geprägt. Auf unseren Bildschirmen sind wir ständig nicht nur mit einer Mischung von Texten und Bildern konfrontiert, auch der akustische Sinneskanal wird vielfältig durch musikalische Reize wie auch durch Sound-Ereignisse aktiviert. Die intermedialen Stimuli, wie sie im Alltag, aber auch in der Begegnung mit medienübergreifenden Kunstwerken und bei der Teilnahme an multimedialen Kunst-Events auf uns einströmen, lassen unsere Art des Wahrnehmens nicht unberührt. Sie transformieren unsere Wahrnehmung, indem – latent oder auf bewusster Ebene – Wechselbeziehungen zwischen den Medien und den Sinnen angeregt werden. Angesichts der hier kurz skizzierten Omnipräsenz intermedialer und kunstspartenübergreifender Phänomene überrascht es, dass in pädagogischen Kontexten die „Verfransung der Künste“ (Adorno) und die Durchmischung der Medien kaum eine Rolle spielt. Sowohl im Rahmen der allgemeinbildenden Schulen als auch zum Teil in den Ausbildungsgängen der künstlerischen Hochschulen dominieren die traditionellen Grenzen zwischen den einzelnen Kunstsparten. Auch wenn inzwischen die Idee des „Fächerübergreifenden“ und des „Transdisziplinären“ immer mehr propagiert wird, so werden in der Realität des Schulalltags und des Hochschulalltags die Grenzen zwischen den künstlerischen Ausdrucksformen durchaus streng „gehütet“. Ich will an dieser Stelle keineswegs für die Auflösung disziplinärer Grenzen plädieren – immerhin ist das Vorhandensein ausgeprägter Disziplinen die Voraussetzung von TransDisziplinarität –, es geht mir vielmehr darum, durch grenzüberschreitende Transformationen diese Grenzen bewusst in den Blick zu bekommen und sie beweglich zu halten. Ein zentrales Ziel besteht dabei darin, das pädagogische und künstlerische Potenzial von Transformationen freizulegen und zu nutzen. 3 Wellmer 2009, S. 24 f.

In pädagogischen Kontexten  |  133 

Der Musikpädagogik scheint im Zusammenhang mit der Thematik der Transformation eine Sonderrolle zuzukommen. Immerhin taucht die Idee der Transformation bereits zum ersten Mal bei Dankmar Venus in seiner grundlegenden musikpädagogischen Veröffentlichung „Unterweisung im Musikhören“ aus dem Jahr 1969 auf.4 Venus unterscheidet fünf verschiedene Umgangsweisen mit Musik, die im Musikunterricht gleichermaßen gepflegt werden sollen: Produktion, Reproduktion, Rezeption, Reflexion und schließlich Transposition. Darunter versteht Venus das methodische Arbeitsprinzip, Musik in Bewegung, in Bild und in Sprache zu übertragen. Der Übertragung von Musik in ein anderes Medium wird also ein Lerneffekt zugesprochen. Etwa zehn Jahre später führt der Musikpädagoge Heinz Lemmermann schließlich explizit den Begriff der Transformation in die musikpädagogische Diskussion ein.5 Seither gehört das Transformieren von Musik in andere künstlerische Ausdrucksmedien gewissermaßen zum festen Methodenrepertoire des Musikunterrichts. Ästhetische Transformationen können in dreifacher Weise in pädagogischen Situationen fruchtbar gemacht werden: in der Kunstproduktion, in der Kunstrezeption und als Thema von Unterricht. Zunächst bietet sich die Idee der Transformation als methodisches Prinzip an, das die Produktion von künstlerischen Gestaltungen anzuregen vermag. Der Ausgangspunkt kann ein einzelnes künstlerisches Werk sein, das in ein anderes Medium übertragen wird. Ob der Übertragungsprozess ganz frei und offen gelassen wird oder ob von vornherein bestimmte Aspekte (Merkmale eines Werkes, Medien, Intentionen der Transformation) vorgegeben werden, hängt vom Lernkontext insgesamt und damit von den pädagogischen Zielsetzungen im Einzelnen ab. Als besonders aufwändige, aber – wie die Beispiele zeigen – besonders ergiebige Arbeitsform sind die Ketten-Transformationen im Sinne des Stille-Post-Prinzips zu bedenken. Das Besondere dieses Arbeitsprinzips besteht einerseits in der großen Offenheit, was die ästhetischen Entscheidungen des Einzelnen betrifft, und andererseits in der klaren zeitlichen (und zum Teil auch räumlichen) Strukturierung des Prozesses insgesamt. Nicht zu unterschätzen ist das Moment der Neugier und der Überraschung, das sich durch die „Geheimhaltung“ des Prozesses bis zur Enthüllung und Aufdeckung der produzierten Werke ergibt. Der gewissermaßen spielerische, durch Spielregeln geleitete Zugang zum künstlerischen Schaffensprozess verfügt bereits über eine längere Tradition6 – 4 Venus 1969. 5 Lemmermann 1977. Genaueres zur Geschichte des Begriffs Transformation in der Musikdidaktik ist nachzulesen bei Oberhaus 2010, S. 221 ff. 6 Zur Rolle der Spiele im literarischen Schaffensprozess Mattenklott 2006, S. 39 ff.

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man denke etwa an das berühmte surrealistische Spiel des „Cadavre Exquis“, das über die Technik des Zufalls die Imagination der beteiligten Künstler anregen sollte. Als konkretes anregendes Vorbild für eine mehrphasige Transformation, die wieder auf das Ausgangsmedium zurückführt, können auch Experimente von Wassily Kandinsky dienen, die er gemeinsam mit dem Komponisten Thomas von Hartmann und dem Tänzer Alexander Sacharoff durchführte. „Der Musiker suchte aus einer Reihe meiner Aquarelle dasjenige aus, das ihm in musikalischer Hinsicht am klarsten erschien. In Abwesenheit des Tänzers spielte er dieses Aquarell. Dann kam der Tänzer dazu, ihm wurde das Musikstück vorgespielt, er setzte es in Tanz um und mußte hernach das Aquarell erraten, das er getanzt hatte.“7 Von besonderem Reiz kann es also sein, einige Transformationsschritte aufeinander folgen zu lassen, um sie abschließend wieder zum Ausgangsmedium zurückzuführen. Welche Transformationen erfährt das Ausgangswerk? Gibt es eine Verbindung zwischen dem ersten und letzten Werk? Durch welches Medium kamen welche neuen Ideen? Wo lassen sich Wendepunkte im Transformationsprozess feststellen? Solche und ähnliche Fragen verstärken die Bewusstheit gegenüber den kunstspezifischen Besonderheiten und sensibilisieren für einen bewussten Umgang mit den unterschiedlichen Medien. Ästhetische Transformationen können in kunstpädagogischen Zusammenhängen nicht nur als Initiator künstlerischer Schaffensprozesse genutzt werden, sie beeinflussen auch die Rezeption von Kunst positiv. Wie in den vorangehenden Kapiteln erörtert, übt etwa die vergleichende Betrachtung von zwei Kunstwerken (einer Kunstsparte oder verschiedener Kunstsparten) auf die Wahrnehmung eine transformierende Wirkung aus. Der Vergleich löst – mit oder ohne Zuhilfenahme der Verbalsprache – Prozesse des denkenden Wahrnehmens bzw. des wahrnehmenden Denkens aus, indem Beziehungen zwischen zwei Phänomenen hergestellt werden. Die Gesichtspunkte der vergleichenden Wahrnehmung umfassen ein breites Spektrum an Möglichkeiten: von Stilparallelen über formale, kompositorische Besonderheiten bis zum Vergleich ästhetischer Ideen oder des Ausdrucksgehalts und der Wirkung. Dabei geht es weniger darum, möglichst viele Gemeinsamkeiten festzustellen. Bei genauerer Analyse des Vergleichs zeigt sich oft, dass Analogien und Entsprechungen nur auf einer oberflächlichen Ebene der Betrachtung in Erscheinung treten, hinter der aber bald die Differenzen und die kunstspezifischen Besonderheiten ins Auge fallen.

7 Aus einem Vortrag von Kandinsky in: Vestnik rabotnikov iskusstv. Nr.  4–5. Moskau 1921. S. 74 f. Hier zitiert nach Hahl-Koch 1985, S. 355.

In pädagogischen Kontexten  |  135 

Eine dritte Möglichkeit, ästhetische Transformationen in Vermittlungszusammenhängen fruchtbringend zu nutzen, besteht darin, sie als explizites Thema von Unterricht zu behandeln. Dafür bietet sich sowohl die historische Dimension der Thematik an (von der Einheit der Künste über ihre zunehmende Spezifizierung, die wechselseitigen Bezugnahmen bis zur aktuellen „Verfransung der Künste“ und der Entwicklung von multimedialen Hybridformen) als auch die systematische Perspektive. Die Spannweite der Themen reicht von „Übersetzungen“, Übernahmen, Übertragungen und Annäherungen bis zu Verwandlungen, Verfremdungen und Abgrenzungen. Der Fokus müsste dabei in der genauen Betrachtung der jeweiligen Transformationsprozesse liegen. Welche medienspezifischen Differenzen und Besonderheiten treten dabei zu Tage? Wie wirkt sich die Transformation auf die Rezeption aus? Welche Motive bringen Künstler dazu, sich an anderen Künsten zu orientieren oder sich von ihnen abzugrenzen? Die Beantwortung dieser Fragen kann zu einer wesentlich größeren Bewusstheit gegenüber den Spezifika der einzelnen Künste führen und damit auch zu einer größeren Klarheit, was die Möglichkeiten und Funktionen der Künste insgesamt betrifft. Da hier nicht der Raum ist, einen Überblick über die Fülle der methodischen Möglichkeiten zu geben, Transformationsprozesse anzuregen (hier ist die Fachkompetenz der Vertreter einzelner künstlerischer Disziplinen gefragt), will ich stattdessen versuchen, aus einer übergeordneten Perspektive einige didaktisch-methodische Grundüberlegungen darzustellen, die die Entwicklung einzelner methodischer Ansätze leiten können.

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2.  Didaktisch-methodische Orientierungen Durchbrechen von Wahrnehmungs- und Handlungsautomatismen

Unser Leben im Alltag ist von Automatismen geprägt: Die Art und Weise, wie wir uns bewegen, wie wir wahrnehmen, wie wir handeln, wie wir emotional reagieren, beruht auf jahrelang eingeübten Verhaltensmustern. Um Energie zu sparen, speichert unser Organismus typische Situationen und damit verbundene Reaktionsmuster, die sich bewährt haben, in Form von automatisierten Programmen. Diese Automatismen sind für uns überlebensnotwendig – sie garantieren, dass wir ohne allzu großen Energieaufwand den Alltag meistern und dass genügend Energie für die Bewältigung neuer Aufgaben vorhanden bleibt. So wichtig auf der einen Seite diese automatisierten Wahrnehmungs- und Handlungsroutinen sind, so wichtig erscheint es – etwa aus der Perspektive der Kunst – sie immer wieder in Frage zu stellen und zu durchbrechen. Eine Funktion von Kunst kann darin gesehen werden, uns die Routinen bewusst vor Augen zu führen und alternative Möglichkeiten des Wahrnehmens und Handelns aufzuzeigen. Die Ermöglichung von Alternativen im Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln sollte – basierend auf dieser Funktion von Kunst – als eine leitende Devise des Kunstunterrichts (im allgemeinen Sinn) fungieren. In diesem Zusammenhang eröffnen sich über den Weg ästhetischer Transformationen große Chancen. Gerade dort, wo die eingeschliffenen medialen Bahnen des Wahrnehmens verlassen werden (indem z. B. ein Bild aus der Perspektive musikalischer Gestaltungsprinzipien betrachtet wird), tun sich neue, noch nicht eingeübte Möglichkeiten der Wahrnehmung auf. Für die Lehrenden ergibt sich daraus die Herausforderung, Situationen zu schaffen und Aufgabenstellungen zu entwickeln, die die Lernenden daran hindern, ihre gewohnten Verhaltensmuster zu aktivieren. Wahrnehmungsgewohnheiten werden irritiert, indem z. B. gewohnte räumliche Kontexte verändert werden. Die Verlagerung einer ästhetischen Aufgabenstellung aus dem gewohnten Kontext des Klassenzimmers an einen ungewöhnlichen Ort8 vermag bereits zur Entwicklung neuer Ideen führen. Kontexte wirken als Transformatoren, so wie sie natürlich umgekehrt – man denke an das Klassenzimmer mit all seinen eingelernten Verhaltensmustern – auch als Stabilisatoren wirken. 8 Vgl. etwa die „ästhetischen Projekte“ im Sinne von Gert Selle, die an ungewöhnlichen Orten wie z. B. in einem im Abbau befindlichen Torfmoor stattfinden. (Selle 1992.)

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Als Ansatzpunkt für einen Eingriff in die Wahrnehmungs- und Handlungsroutinen bietet sich auch die zeitliche Dimension der Wahrnehmung an. Die bewusste Verlangsamung oder Beschleunigung der Wahrnehmung oder der Handlung kann ästhetische Transformationsprozesse initiieren und in ungewohnte Richtungen öffnen. Auf einer ähnlichen Ebene sind methodische Ideen angesiedelt, die mit vertrauten Größendimensionen bzw. mit dem Verhältnis von Teil und Ganzem spielen. Um einem Bild oder einem Musikstück auf eine andere Weise als gewohnt zu begegnen, können Ausschnitte daraus wie durch ein Vergrößerungsglas oder ein Mikroskop betrachtet werden. Der dadurch veränderte Blick auf ein Detail kann rückwirkend schließlich wieder auf das ganze Werk übertragen werden. Einen anderen Weg beschreiten Margit Schild und Elvira Hufschmid in ihren am Stille-Post-Prinzip orientierten künstlerischen und künstlerisch-pädagogischen Projekten. Bei der Zuordnung von Partnern, die in einer Transformationskette aufeinander stoßen, wie auch bei der Auswahl von Medien und künstlerischen Arbeitstechniken spielen Zufallstechniken eine wichtige Rolle. „Durch die Einschränkung bewusster Entscheidungsmanöver befördert das spielerische (zum Teil vom Zufall gelenkte, Anm. d. Verf.) Vorgehen den Ideenfindungsprozess.“9 Neue Ideen entstehen also dort, wo die eingeübten – bewussten oder unbewussten – Handlungsmuster durchbrochen werden. Dies gilt natürlich nicht nur für die Entwicklung neuer Ideen im Rahmen ästhetischer Transformationsprozesse, sondern ebenso grundsätzlich für jede Art von ästhetischer Arbeit, in der neue Möglichkeiten des Wahrnehmens und Gestaltens eröffnet werden sollen. Arbeiten mit der Projektion von medial geprägten  Wahrnehmungskategorien

Betrachten wir die Sinnesorgane als ursprüngliche, elementare Medien, die uns ermöglichen, die Wirklichkeit zu erschließen, so wird deutlich, dass es bereits auf der Ebene der Sinneswahrnehmung medial differenzierte Möglichkeiten der Wahrnehmung und Erkenntnis der uns umgebenden Welt gibt. Das Sehen erschließt uns andere Dimensionen der Wirklichkeit als das Hören, und es bringt uns auf eine andere Weise in Kontakt mit der Welt. Es gibt viele Möglichkeiten, die verschiedenen Wirkweisen der Sinnesorgane voneinander abgrenzend zu unterscheiden: So wird z. B. zwischen den Nah- und den Fernsinnen differenziert oder zwischen den Sinnen, die entweder vor 9 Schild/Hufschmid 2010, S. 44.

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wiegend räumliche oder vorwiegend zeitliche Dimensionen der Wirklichkeit verarbeiten.10 Ohne an dieser Stelle die einzelnen Sinne und ihre Besonderheiten systematisch in den Blick zu nehmen, sollen exemplarisch einzelne Wahrnehmungskategorien herausgegriffen und auf ihren jeweils spezifischen Bezug zu den künstlerischen Ausdrucks- und Darstellungsmedien befragt werden. Zeit und Raum als zwei elementare Wahrnehmungskategorien lassen sich – zumindest auf den ersten Blick – auf unterschiedliche Weise den ästhetischen Medien zuordnen. Während Musik vorwiegend mit zeitlichen Prozessen arbeitet, liegt der Schwerpunkt von Werken der Bildenden Kunst auf der Arbeit mit Materialien, die sich räumlich manifestieren. Wenn nun im Rahmen eines Transformationsprozesses ein Musikstück in ein visuelles Artefakt verwandelt wird, ist es von besonderem Reiz und Erkenntnisinteresse, die für das visuelle Medium zunächst fremd erscheinende Kategorie der Zeit in das räumlich sich manifestierende Medium zu übertragen. Wie wird der zeitliche Verlauf ins Räumliche übersetzt? Aus dieser Aufgabenstellung können sich neue Formen der bildnerischen Sprache ergeben. In der Geschichte der Kunst jedenfalls führte die Herausforderung, zeitliche Prozesse ins Bild zu bringen, zu neuen bildnerischen Möglichkeiten. Umgekehrt regt natürlich ebenso die Übersetzung räumlicher Verhältnisse in musikalische Verläufe die Entwicklung neuer musikalischer Ausdrucksweisen an. Die wechselseitige Projektion von Wahrnehmungskategorien vermag jedenfalls nicht nur in künstlerischen Schaffensprozessen neue Ideen anzuregen, sondern sie verändert ebenso auch die Rezeption von Kunst. Ein Bild bewusst unter zeitlichen Aspekten zu betrachten, erschließt neue Dimensionen des Bildes, so wie das Hören von Musik unter räumlichen Aspekten ebenso neue Hörmöglichkeiten eröffnet. Die wechselseitige Projektion von räumlichen und zeitlichen Kategorien aufeinander stellt nur eine von vielen Möglichkeiten dar. Ebenso reizvoll und mit Erkenntnisgewinn verbunden kann es sein, mit den Wahrnehmungskategorien von Ferne und Nähe bewusst zu spielen. Auch hier dient wieder die Gegenüberstellung von Hören und Sehen als exemplarisches Beispiel, an dem das Prinzip der wechselseitigen Projektion deutlich gemacht werden soll. Das Sehen kann als „distanzierender Sinn“ beschrieben werden. Im Akt des Sehens findet eine eindeutige Trennung zwischen dem Subjekt und dem Objekt statt: Das Subjekt des Sehenden blickt auf das Objekt des Gesehenen. Die Bezugsrichtung ist zentrifugal – sie führt vom Auge des Betrachters weg in Richtung der gesehenen Wirklichkeit. Beim Hören von Musik hingegen kommt es vielfach zu einer Verschmelzung des Objekts mit dem Subjekt. Nicht selten 10 Die Medienspezifika der Künste sind ausführlich thematisiert bei Brandstätter 2008, S. 126 ff.

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empfinden wir uns als Zentrum der Musik, die Musik strömt zentripetal auf uns ein. Aus dieser Perspektive kann der Hörsinn als „involvierender Sinn“ charakterisiert werden.11 Die hier erfolgte Gegenüberstellung des Sehsinns als distanzierender Sinn und des Hörsinns als involvierender Sinn vereinfacht natürlich die tatsächliche Komplexität der sinnesspezifischen Wahrnehmungsmöglichkeiten. In unserem Zusammenhang dient sie dazu, zwei Wahrnehmungshaltungen voneinander zu unterscheiden, die in der ästhetischen Rezeption von Kunstwerken festgestellt werden können. Bei der Wahrnehmung von Musik spielt die involvierende Wahrnehmungshaltung jedenfalls eine größere Rolle als bei der Wahrnehmung von Bildern. Gerade deshalb ist es von Interesse, die eingeübten Wahrnehmungshaltungen bewusst „auszutauschen“, das heißt, z. B. die involvierende Wirkung eines Bildes zu verstärken, indem es in Musik transformiert wird, und umgekehrt über die Transformation eines Musik­stückes in ein Bild eine distanzierte Haltung gegenüber der Musik zu erproben. Einen weiteren Ansatzpunkt für die wechselseitige Projektion von Wahrnehmungskategorien und –haltungen stellt das Spiel mit Konkretion und Abstraktion dar. Die beiden Begriffe sollen in diesem Zusammenhang aus einer bestimmten zeichentheoretischer Perspektive verstanden werden: Konkretion steht für den Gegenstandsbezug, den direkt abbildenden Charakter von ästhetischen Zeichen; Abstraktion für den bewussten Verzicht auf die abbildende Funktion. Viele ungeschulte Kunstrezipienten haben oft Schwierigkeiten und äußern ihr Unverständnis, wenn sie mit einem Bild konfrontiert werden, das nichts „Konkretes“ zeigt außer „abstrakten“ Farben und Formen. Stellt man diesem Bild ein Musikstück gegenüber, das ebenso wenig etwas „Konkretes“ zeigt, wird plötzlich deutlich, dass Kunst eben nicht unbedingt „konkret“ sein muss, um verstanden werden zu können, dass es – so wie in der Musik – auch in Bildern einen unmittelbaren Ausdruck von Linien und Farben geben kann. Die hier kurz skizzierte Veränderung der Wahrnehmungseinstellung gegenüber „abstrakten“ Bildern beruht darauf, dass Wahrnehmungserwartungen bewusst gemacht und gewohnte Wahrnehmungskategorien aus dem Bereich der Musik auf Bilder übertragen werden. Wieder erweist sich die Übertragung von Kategorien der Wahrnehmung auf Bereiche, die zunächst fremd anmuten, als Schlüssel für eine neue Art der Wahrnehmung. Die Möglichkeiten der Projektion von Wahrnehmungskategorien auf ungewohnte Felder sind vielfältig. Je fremder die beiden Bereiche sind, die durch einen Transformationsprozess (in der Produktion oder Rezeption) aufeinander bezogen werden, umso spannender ist es zu erfahren, welche Kategorien je 11 Vgl. Brandstätter 2008, S. 129 ff. sowie 136 ff.

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weils herausgefiltert und von einem Bereich in den anderen Bereich (von einem Medium in das andere) übertragen werden. Die Herausforderung besteht darin, das Fremde als Fremdes wahrzunehmen, die Differenzen in den Blick zu nehmen und gleichzeitig zu „überbrücken“, ohne dabei die Unterschiedlichkeit aufzuheben. Arbeiten im Spannungsfeld zwischen Komplexität und Reduktion

Jede Transformation verlangt eine Fülle von Entscheidungen: Was wird transformiert? Welche Aspekte werden ausgewählt? Welche werden vernachlässigt? Den Entscheidungsprozessen, die sowohl bewusst wie auch unbewusst ablaufen, liegt die Analyse von Merkmalen zugrunde – einzelne Merkmale, die sich für eine Transformation eignen, werden herausgefiltert und in einen neuen Zusammenhang gestellt. Dieser Vorgang der Analyse und Selektion von Merkmalen bedeutet, dass die komplexe Merkmalsdichte reduziert wird. Ästhetische Transformationen beruhen also auf der Reduktion von Komplexität. In Vermittlungssituationen stellt sich nun die Frage, wie weit die Entscheidungsprozesse von Vornherein gelenkt werden sollen, oder anders gefragt, wie viel Komplexität den Lernenden zugetraut wird. Durch eingeschränkte Aufgabenstellungen, indem etwa die Parameter der Transformation oder das zu verwendende ästhetische Material durch den Lehrenden festgelegt werden, reduziert sich die Komplexität. In gewisser Weise wirkt man damit einer Überforderung entgegen, die sich durch eine zu große Offenheit der Transformationsaufgabe ergeben könnte. „Die Beschränkung von Freiräumen befreit“12 – schreibt Dagmar Jäger, um auf die kreative Rolle hinzuweisen, die festgelegten Spielregeln bei künstlerischen Schaffensprozessen zukommen kann. Gerade bei längeren Transformationsketten erhöht sich der Grad der Komplexität enorm. Durch eine Spezifizierung der Aufgabenstellung oder auch durch dazwischen geschaltete Zwischenreflexionen – die Rolle der verbalen Reflexionen wird gleich im Anschluss thematisiert – wird die Komplexität für die Beteiligten reduziert. Grundsätzlich geht es darum, die richtige Balance zwischen Struktur und Offenheit zu finden. Eine zu große Offenheit kann die ästhetische Fantasie genauso hemmen wie ein zu stark regulierter Arbeitsprozess. Der bewusste Wechsel zwischen offenen und strukturierten Phasen stellt somit eine gute Möglichkeit dar, die Vorteile beider Arbeitsweisen zu nutzen.

12 Jäger 2010, S. 107.

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Arbeiten im Wechselspiel verschiedener Reflexionsformen

Der Schwerpunkt von Transformationsaufgaben liegt im künstlerisch-praktischen Tun, geht es doch gerade darum, zunächst ohne Zuhilfenahme der Verbalsprache ästhetische Reflexionsprozesse anzuregen. Die Analyse der Merkmale und ihre Übersetzung in ein anderes Medium bedürfen nicht unbedingt der Sprache. Dennoch kann die Verbalsprache eine hilfreiche Rolle spielen. Indem die Sprache Merkmale benennt, trägt sie dazu bei, die vorhandene Komplexität zu reduzieren. Sprachlich benannte Merkmale fokussieren die Aufmerksamkeit, sie leiten den Analyse- und Selektionsvorgang – freilich können sie den zunächst offenen Prozess auch vorschnell einengen. Sowohl der nicht-sprachliche, in einem ästhetischen Medium stattfindende Vorgang als auch der von sprachlichen Begriffen geleitete kann als Reflexionsprozess charakterisiert werden. In beiden Fällen werden Merkmale analysiert, selektiert und in neue Zusammenhänge gebracht. Während die verbalsprachlich geleitete, mentale Transformation relativ schnell bestimmte Merkmale ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, sie eindeutig benennt und damit auch festlegt, realisieren sich Transformationen im ästhetischen Material im Rahmen eines längeren Prozesses, in dem zunächst viele Möglichkeiten offen und im Fluss bleiben. Der verbalen Reflexion, die Aspekte „auf den Punkt bringt“, steht die ästhetische Reflexion gegenüber, die Aspekte in Fluss bringt. Bildlich gesprochen, könnte man auf der einen Seite vom verbalsprachlichen „zentripetalen“ Denken sprechen, das auf den Kern einer Sache zielt und ihn damit festlegt, und auf der anderen Seite vom ästhetischen „zentrifugalen“ Denken, das mögliche Denkräume in allen Richtungen eröffnet. Freilich läuft das zentrifugale Denken Gefahr, sich im Offenen zu verlieren und den Ausgangspunkt des Denkens aus den Augen zu verlieren. Zentripetales und zentrifugales Denken benötigen einander. Für die Gestaltung von Vermittlungssituationen erweist sich die Figur des Wechselspiels als sinnvolle didaktisch-methodische Orientierung: Im Wechselspiel zwischen zentripetalem und zentrifugalem Reflektieren, zwischen zeigenden ästhetischen Medien und der denotierenden sagenden Verbalsprache können verschiedene Umgangsweisen mit der Wirklichkeit und verschiedene Erkenntnisweisen erprobt und eingeübt werden. Für den auf die Künste bezogenen Unterricht, der sowohl mit ästhetischen wie auch mit nicht-ästhetischen Medien arbeitet, eröffnen sich dadurch vielfältige Perspektiven.

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3. Die Qualität von Transformationsprozessen: ­Zielsetzungen und Intentionen In einem abschließenden Kapitel sollen nun nochmals die wesentlichen Qualitäten von Transformationsprozessen – thesenhaft und zusammenfassend – dargestellt werden. Was spricht dafür, ästhetischen Transformationen einen wichtigen Stellenwert in der Vermittlung und Lehre der Künste einzuräumen? Welche spezifischen Möglichkeiten ergeben sich, wenn man mit ästhetischen Transformationen arbeitet? Ästhetische Transformationen fordern und fördern die Selbstreflexion und Medienreflexion

Wie schon mehrfach betont wurde, arbeiten viele ästhetische Transformationen mit dem Prinzip der Irritation, der Verwandlung und der Verfremdung. Da es eben gerade nicht um „lückenlose Übersetzungen“ geht, stellen die Brüche, das Differente, das Nicht-Passende das Besondere ästhetischer Transformationen dar. Mit Hilfe dieser Brüche werden Automatismen in Frage gestellt. Die choreografische Umsetzung eines Bildes lässt uns möglicherweise neue Aspekte eines Bildes entdecken. Vielleicht waren wir gewohnt, das Bild vor allem als statische, in sich ruhende Komposition zu betrachten – die Transformation in Bewegung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die zeitliche Komponente des Bildes und macht uns auf diese Weise klar, dass Bilder eben nicht nur als unbewegte Kompositionen gelesen werden können, sondern dass sie auch eine dynamische, bewegte Komponente in sich tragen, die wir innerlich nachvollziehen können. Die „Störung“ der gewohnten Wahrnehmungssituation führt also dazu, uns unsere gewohnte Wahrnehmungshaltung bewusst zu machen und neue Möglichkeiten zu erschließen. Auf der einen Seite werden wir also angeregt, Wahrnehmungsgewohnheiten zu hinterfragen, auf der anderen Seite führen ästhetische Transformationen auch zur Medienreflexion. Es gehört zu den Besonderheiten von Kunst, vor allem seit dem 20. Jahrhundert, nicht nur etwas darzustellen, auszudrücken oder zu zeigen, sondern darüber hinaus immer auch auf sich selbst zu zeigen, gewissermaßen das Zeigen selbst zu zeigen. Damit geht ein hohes Maß an Selbstreflexion einher, das der Kunstrezipient als Angebot zur Medienreflexion aufgreifen kann. Die ästhetisch inszenierte Reflexion der Medialität wird noch deutlicher in Situationen, in denen der übliche mediale Kontext verändert wird oder die medialen Besonderheiten scheinbar nicht berücksichtigt werden. Ein Musikstück, das – wie etwa Morton Feldmans 1983 komponiertes

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Streichquartett Nr. 2 – durch viele Stunden hindurch keine gewohnte musikalische Entwicklung bringt, keine Ausdrucksqualitäten vermittelt, sondern stattdessen einzelne Klänge ohne „ersichtlichen“, also unmittelbar hörbaren Zusammenhang aneinanderreiht, fordert dazu auf, nicht nur unsere Wahrnehmungshaltungen gegenüber Musik zu hinterfragen, sondern auch darüber nachzudenken, was normalerweise das „Wesen“ von Musik ausmacht. Erst in der Abweichung vom Gewohnten wird uns möglicherweise klar, dass wir gewohnt sind, Musik als ein Medium zu erleben, das auf der Gestaltung von Spannungsverläufen und der Vermittlung von Ausdrucksqualitäten beruht. Mediale Umbrüche, wie sie manche ästhetische Transformationen kennzeichnen, beruhen auf der Überschreitung von Mediengrenzen. Sprache zu verbildlichen bedeutet etwa, die denotative Funktion sprachlicher Zeichen zugunsten der visuellen, bildlichen Qualitäten der Schrift in den Hintergrund zu rücken. Der lineare sukzessive Verlauf der sprachlichen Zeichen wird in die Simultaneität einer Bildkomposition übertragen. Klang wird Bild, Denotation wird Repräsentation. Genau diese Übergänge zwischen den medialen Ausdrucksweisen aber sind es, die den Reiz und auch Erkenntniswert von ästhetischen Transformationen ausmachen. An den Übergängen, wo Nicht-Passendes zusammenstößt, werden die jeweiligen medialen Besonderheiten deutlich und klar. Ästhetische Transformationen ermöglichen die Arbeit mit verschiedenen Denk- und Erkenntnisformen

Die Betonung der erkenntnisstiftenden Funktion ästhetischen Handelns (es umfasst gleichermaßen die ästhetische Produktion wie auch die Rezeption) zieht sich gleichsam als „roter Faden“ durch die Überlegungen dieses Buches: Kunst als Erkenntnis ist die zentrale These, die aus verschiedenen Blickwinkeln heraus beleuchtet wird. Auf der Basis dieser These kommt den künstlerischen Fächern im Kontext der allgemein bildenden Schulen eine neue Bedeutung zu. Die künstlerischen Fächer dienen nicht länger nur mehr dem Ausgleich, der Entspannung, sozusagen als Gegengewicht zu den „kognitiven“ Hauptfächern, sondern sie bergen in sich die Möglichkeit, verschiedenen Formen des reflektierenden Umgangs mit der Welt kennenzulernen. Freilich setzt dies eine Erweiterung des Denk- und Erkenntnisbegriffs voraus. Kunst kann als Form der Erkenntnis charakterisiert werden, wenn man das Denken nicht nur auf die Verwendung sprachlicher Zeichen im Sinne der klassischen Logik beschränkt. Ästhetisches Denken erweitert die Möglichkei-

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ten der Erkenntnis, indem das analoge Denken, das Denken in Ähnlichkeiten als gleichberechtigte Denkform anerkannt wird. Analoges Denken vollzieht sich im ästhetischen Material, es bleibt in der Sinnlichkeit verhaftet und führt zu offenen Erkenntnissen. Oliver Krämer hat zu Recht den „Vernetzungs­ charakter“ des Denkens in Analogien gegenüber dem linearen Charakter des logischen Denkens hervorgehoben.13 Natürlich geht es nicht darum, eine Denkform gegen die andere auszuspielen. Vielmehr sind verschiedene Denk- und damit auch verschiedene Erkenntnisformen immer miteinander vernetzt. Die Auseinandersetzung mit Kunst – und insbesondere die Auseinandersetzung mit ästhetischen Transformationen – bietet sich an, bewusst mit verschiedenen Denkformen zu arbeiten und sie aufeinander zu beziehen. Ästhetische Transformationen eröffnen Räume ­eines dynamischen ­Dazwischen

In einer Zeit, in der – im Sinne der Effizienz als grundlegendem Wert unserer Gesellschaft – alles möglichst genau bemessen und definiert werden soll (Studienzeiten werden genau festgelegt, Ziele genau definiert, Arbeitsweisen festgelegt), in einer Zeit also, in der alles „auf den Punkt gebracht“ werden muss, ist es wichtig zu erfahren, dass es neben den exakten Planungen und Normierungen auch Dimensionen des Lebens gibt, die sich dem Diktat der Exaktheit und Eindeutigkeit entziehen. Der Bereich der Kunst bietet in diesem Zusammenhang besondere Möglichkeiten an. Abgesehen von den vielfältigen Funktionen der Kunst (wie Ausgleich, Entspannung, Identitätsstiftung etc.), die hier alle nicht zur Sprache kamen, besteht eine besondere Chance von Kunst darin, uns ästhetische Erkenntnis zu ermöglichen. Ästhetische Erkenntnis baut auf einem mimetischen Verhältnis zur Welt auf – das bedeutet, dass es sich um eine Form der Erkenntnis handelt, die das Subjekt des Erkennenden in seiner körperlich-sinnlichen Dimension berücksichtigt. Während wissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen wahre und allgemeingültige Erkenntnisse anstreben, geht es bei der ästhetischen Arbeit um subjektive Erkenntnisse, die sich einer eindeutigen, verallgemeinerbaren Sprache entziehen. Das Besondere an ästhetischen Transformationen liegt darin, dass sie offene, ästhetische Erkenntnisse ermöglichen. Im Wechselspiel zwischen verschiedenen Medien, verschiedenen Zeichenfunktionen und verschiedenen Denkformen eröffnen ästhetische Transformationen Räume, in denen das Denken (das 13 Krämer 2009, S. 13–19.

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vergleichende Denken ebenso wie das schlussfolgernde) in Bewegung bleibt. Es gibt keinen Endpunkt, bei dem das transformierende Denken sein Ziel erreicht hätte. Vielmehr ist die Bewegung selbst das Ziel. Der sich dadurch ergebende Raum der Erkenntnis lässt sich als ein dynamischer Raum des Dazwischen charakterisieren: Im Dazwischen entsteht die Energie, die das Denken in Bewegung hält und immer wieder zu neuen Erkenntnissen anregt. Die Didaktik der ästhetischen Transformation muss dementsprechend als eine „Didaktik des Dazwischen“14 entworfen werden.

14 Vgl. hierzu auch Kivi 2009, S. 33 f.

V.  „Drinnen vor Ort“ – Erkenntnis durch die Künste Drinnen vor Ort. Vier Landschaften – vier Jahreszeiten – vier Wege Ein Festival für Neue Musik in Rümlingen in der Schweiz. Seit zwanzig Jahren verwandelt sich das kleine Dorf im Kanton Baselland jeweils im Herbst im Rahmen des Festivals, das den Untertitel „Neue Musik – Theater – Installation“ trägt, in eine experimentelle Bühne, in einen Ort für zeitgenössische experimentelle Musik.1 Im Jahr 2011 stand Konzept-Musik im Zentrum des Festivals. Ein Festival ganz ohne real klingende Musik? Sechzehn Komponistinnen und Komponisten wurden aufgefordert, zu vier verschiedenen Orten in der Umgebung Rümlingens und Bezug nehmend auf die vier Jahreszeiten Konzept-Kompositionen zu entwickeln, die nicht an eine bestimmte Aufführung durch Interpreten gebunden sind, sondern die – auf Basis der Lektüre der im Festivalbuch veröffentlichten Konzepte – im Kopf, in der Imagination der Rezipienten entstehen. An die Stelle einer einmaligen real an einem bestimmten Ort gebundenen Interpretation und Aufführung der Musik tritt eine Fülle möglicher individueller Klangimaginationen. Wie aber werden die inneren Klangimaginationen an die tatsächlichen Orte und die Kompositionsideen angebunden? „Das Festival wird zum Buch!“, heißt es im Prolog des Buches „Drinnen vor Ort“, das anlässlich des Festivals 2011 erschien.2 Das Festivalbuch stellt also die Brücke zwischen den Konzeptionen der Komponistinnen und Komponisten, den ausgewählten Landschaften und den Leserinnen und Lesern als potenziellen Interpreten der Musik her. Um die Imaginationen der Leser-Interpreten weiter anzuregen, beschränkt sich das Festivalbuch nicht nur auf die Veröffentlichung der sechzehn Konzept-Kompositionen, sondern es finden sich darüber hinaus fotografische Darstellungen der ausgewählten Landschaften, literarische Texte, Wanderkarten, Routenbeschreibungen – und, gewissermaßen als Einführung in die Thematik der konzeptionellen Musik, ein wissenschaftlicher Essay und ein Lexikon zum Begriffs- und Bedeutungsfeld von „Klangimaginationen“. 1 Vgl. hierzu Ott, D./Ott, L./Jeschke 2005. 2 Meyer/Jeschke 2011, S. 7.

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Ausgangspunkt für die Gesamtidee des Festivals ist der – ebenfalls im Festivalbuch abgedruckte – Text „Singende Schnecke“ des Komponisten Hans Wüthrich aus dem Jahr 1979. Hans Wüthrich stellt hier die Idee des „projizierenden Hörens“ vor, er führt den Leser in die Welt der inneren Klangvorstellungen ein, indem er ihm eine Fülle von Spielregeln anbietet, mit denen er innerliche Klangimaginationen in Bezug zu realen Außenklängen bringen kann. „Aus dem akustischen Environment ein Ereignis (Signal, Motiv, Klang, Geräusch etc.) herausgreifen. Dieses mit dem inneren Ohr variieren, zerlegen, verarbeiten – dabei fortlaufend innerlich und äusserlich Gehörtes kombinieren.“ – so lautet die erste, generelle verbale Anweisung, die in der Folge in vielfältige konkrete Höranweisungen transformiert wird. „Kombiniere das äusserlich Gehörte innerlich mit etwas Langsamem, Tiefem.“ „Das real Gehörte mit dem inneren Ohr abwechselnd in Wellenbewegung versetzen und wieder beruhigen.“3 Hier geht es also darum, akustisches Material (äußerlich real Erklingendes wie innerlich Imaginiertes) in seinen musikalischen Dimensionen zu erforschen, es mit Hilfe kompositorischer Gestaltungsregeln zu verarbeiten und musikalische Zusammenhänge zwischen den realen und imaginierten Elementen herzustellen. Die Musik entsteht im Kopf: Auch dort, wo Begegnungen zwischen realen Klängen und vorgestellten Klängen stattfinden, ereignen sich diese in der Vorstellung, in der Imagination. „Drinnen vor Ort“ – drinnen in uns und draußen vor Ort – der Titel des Festivals bringt dieses Spannungsfeld zwischen Innerem und Äußerem auf den Begriff. Der konzeptionelle Charakter von Musik ist Leitidee des Festivals Rümlingen 2011. Das Festival wurde am 25. September 2011 offiziell eröffnet. Dabei gab es die Möglichkeit, direkt vor Ort in der realen Begegnung mit der Landschaft, mit beteiligten Komponisten und auch im realen Austausch mit anderen Rezipienten-Interpreten ausgewählte musikalische Konzeptionen zu realisieren. Darüber hinaus werden jeweils zu Beginn einer Jahreszeit (am 21. Dezember, 21. März, 21. Juni und am 21. September) gemeinsame Aktionen vor Ort angeboten. Der Leser-Interpret ist jedoch nicht an diese Tage gebunden. Ausgerüstet mit dem Festivalbuch, hat der Leser verschiedene Möglichkeiten, die Kompositionen „zur Aufführung zu bringen“. Das „Lesebuch der Klangimagina­ tion“4 kann ihn dazu anregen, Kompositionen jederzeit und an jedem Ort zu realisieren. Er kann sich aber auch auf den Weg nach Rümlingen machen 3 Alle Beispiele zitiert nach Meyer/Jeschke 2011, S. 10 f. 4 Jeschke, in: Meyer/Jeschke 2011, S. 5.

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und das Buch als „Wanderführer zum eigenen Hören/Erleben mitten im Schweizer Jura“5 verwenden. Erklärtes Ziel der Festival-Veranstalter ist es, das Publikum anzuregen, „mit den Ohren wandern zu gehen“6 und dabei eine Musik zum Klingen zu bringen, die die Trennung zwischen Komponist – ­Interpret – Rezipient radikal in Frage stellt. „Du bist die Musik, solange die Musik dauert“7 – mit diesen programmatischen Worten schließt Lydia Jeschke den Prolog des Festivalbuches und eröffnet damit eine Fülle subjektiver, imaginierter Klangwelten.

5 ebda 6 ebda 7 a. a. O., S. 7.

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1.  Das Buch als Gesamtkunstwerk Was prädestiniert nun gerade dieses Festival bzw. das begleitende Festivalbuch dazu, zum abschließenden Beispiel zu werden, also die hier in dieser Veröffentlichung entwickelten Theorien und Überlegungen zum Erkenntnischarakter von Kunst zu veranschaulichen? Zunächst ist es die Vielfalt an ästhetischen Medien und Materialen, die in diesem Buch angeboten werden: Sprachliche Materialien (in Form unterschiedlicher Textsorten: von poetischen Texten über literarische Essays bis zum wissenschaftlichen Lexikon) treten neben bildliche Materialen (von Fotografien über typografisch gestaltete Texte bis zu Landkarten). Dabei stehen immer wieder akustische und musikalische Imaginationen im Zentrum, die durch unterschiedliche sprachliche und visuelle Impulse angeregt werden – das Spektrum reicht von verbalen Anweisungen über grafische Partituren bis zu Collagen, in denen verschiedene (digitale und analoge, sprachliche und visuelle, musikalische und alltagssprachliche) Zeichen miteinander verknüpft werden. Schließlich wird bei der Beschäftigung mit dem Festivalbuch auch der taktile Sinn angeregt: Die unterschiedliche Papierqualität der einzelnen Bestandteile des Buches (der Textteile und der Fotostrecken), die originelle Bindung (die durch Gummizug verbundenen Lokalteile des Buches – sie beziehen sich jeweils auf eine der vier Landschaften – können voneinander getrennt und somit als einzelne „Hör-Wanderführer“ verwendet werden) – das alles sind ästhetische Qualitäten des Buches, die auch das haptische Sensorium ansprechen. Dazu kommt die ungewöhnliche Mischung aus künstlerischen und wissenschaftlichen Beiträgen, wobei eine eindeutige Trennung zwischen diesen Bereichen zum Teil gar nicht vorgenommen werden kann. Das Buch kann in diesem Sinn als ästhetisches Gesamtkunstwerk verstanden werden: Materialität, Visualität und Auditivität bilden eine Einheit; ästhetische Sprache und diskursive Sprache wirken zusammen. Das Buch bietet eine Fülle von Wahrnehmungen, Erfahrungen und eben auch von Erkenntnissen (ästhetischen wie diskursiven) an. Ziel der nachfolgenden Analyse ist es, die verschiedenen Ebenen möglicher Erkenntnis freizulegen, und die spezifischen Erkenntnismöglichkeiten der verwendeten ästhetischen Medien und Materialien zu thematisieren. Dabei wird sich zeigen, dass Transformationen zwischen den Medien eine wesentliche Quelle für die Generierung neuer Erkenntnisse darstellen. Überall dort, wo unerwartete Bezüge zwischen den Künsten oder auch zwischen Wissenschaft und Kunst hergestellt werden, entstehen noch nicht definierte Zwischenbereiche, die neue Erfahrungen und auch neue Erkenntnisse ermöglichen.

Das Buch als Gesamtkunstwerk  |  151 

Das vorliegende Buch selbst kann als ein Beispiel für die innovativen Kräfte von Transformationen gesehen werden. Aus dem ursprünglich im Wesentlichen textbasierten Medium Buch wird hier ein multimediales Medium, welches das Lesen mit dem Anschauen verbindet, das Sehen mit dem Hören, das Nachvollziehen von Gedanken mit dem sinnlichen Imaginieren, das kausale Denken mit dem analogen Denken. Die Linearität eines verbalsprachlich orientierten Buches wird zugunsten individueller Lese- und Erfahrenswege der Rezipienten aufgebrochen. Das Buch ist nicht mehr nur ein Medium für die Verbal-Sprache. Es ist ein Medium für Bilder. Ein Medium für Musik. Ein Medium für körperlich-sinnliche Erfahrungen. Ein multimediales Gesamtkunstwerk also, das mit den Übergängen zwischen den Medien spielt. Das Festivalbuch knüpft an vertraute Buch-Kategorien an – das Buch als Lesebuch („ein Lesebuch für Klangimaginationen“8), das Buch als Wanderführer („ein Wanderführer zum eigenen Hören/Erleben“9), das Buch als Bildband – das Besondere besteht jedoch darin, dass die verschiedenen Kategorien und damit Funktionen des Buches miteinander verknüpft und ineinander verschränkt werden, so dass eine eindeutige Zuordnung nicht möglich ist. Für den Leser bedeutet dies, dass sich eine Fülle unterschiedlicher Umgangsweisen mit dem Buch eröffnen, und damit auch Erkenntnisweisen. Das Buch kann den Ausgangspunkt für ästhetische Erfahrungen bilden, sei es in der tatsächlichen Begegnung mit der Landschaft vor Ort oder sei es in der inneren Imagination von Landschaft und Musik. Damit sind zwei mögliche Objekte der Erkenntnis angesprochen, denen sich das Festivalbuch widmet: der Erkenntnis von Landschaft (spezifischer landschaftlicher Regionen im Schweizer Jura) und der Erkenntnis von Musik (im Speziellen der Erkenntnis von konzeptioneller Musik). Die folgenden analytischen Überlegungen fokussieren diese beiden Ebenen der Erkenntnis und gehen vor allem der Frage nach, welche besonderen Erkenntnismöglichkeiten sich durch die unterschiedlichen Medien des Buches ergeben.

8 a. a. O., S. 5. 9 ebda

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2.  Visuelle Bilder von Landschaft Die visuellen Angebote des Buches sind überaus vielfältig. Sie betreffen die fotografischen Bildstrecken zu den vier ausgewählten landschaftlichen Regionen, die dazugehörigen Landkarten, aber auch die visuell-grafische Gestaltung des Buches insgesamt. Landkarten – Notationen und Bilder von Landschaft

Aus zeichentheoretischer Perspektive betrachtet, stellen Landkarten ein besonders interessantes Phänomen dar, da sie auf der Verwendung einer Vielfalt unterschiedlicher Zeichenelemente beruhen. In das Festivalbuch integriert sind Landkarten unterschiedlichen Abstraktionsgrads, bedingt durch den unterschiedlichen Darstellungsmaßstab. Auf den Seiten 70 und 71 sind einander zwei Ansichten gegenübergestellt: eine UmrissKarte der Schweiz, in der die Festival-Region mit Hilfe eines grünen Rechtecks verortet ist (die Information dieser Karte beschränkt sich auf den staatlichen Grenzverlauf wie auf die Markierung der größten Städte in der Schweiz), und eine Ausschnitt-Karte der Region, die – nun in einem detailreicheren Maßstab – die vier ausgewählten Hör-Orte (den Wasserfall, den Tunnel, die Fluh, die Wiese) im Gebiet zwischen den Bahnstationen Sommerau und Läufelingen verortet. Schließlich gibt es noch eine dritte Form der kartographischen Darstellung: In den Lokalteilen, die den Hör-Orten zugeordnet sind, findet sich jeweils auf den Seiten 34 und 35 eine Wanderkarte, aus der nicht nur die Geländeformen, der Verlauf der Bahnstrecke, die Straßen- und Wegverläufe hervorgehen, sondern vor allem auch der vorgeschlagene Wanderweg. Die kartografischen Darstellungen erlauben also eine sukzessive Annäherung an die Landschaft. Der Weg der Erkenntnis führt von der grundsätzlichen Positionierung der ausgewählten Region im Gesamtbild der Schweiz über einen ersten topografischen Blick in die Hör-Orte und ihre Lage zueinander bis zur Detailansicht der Wanderkarten. Ein analytischer Blick auf die Wanderkarten macht die Vielfalt der verwendeten Zeichenelemente deutlich. Hier gibt es sowohl sprachliche Zeichen (etwa die Orts- und Flurnamen) als auch bildliche Zeichen (Weg- und Straßenverläufe) und konventionalisiertabstrakte Zeichen (z. B. Höhenlinien). Die hier getroffenen Unterscheidungen zwischen den Zeichentypen lassen sich allerdings zum Teil nur schwer ziehen: Die unterschiedliche Dichte von Punkten etwa veranschaulicht die Geländeformen (Hügel, Abhänge, Anstiege, Ebenen) – ihre Anordnung beruht auf der Vermessung und Berechnung der Geländestufen und ihrer digitalisierten

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Landkarte „Lokalteil Tunnel“

Visualisierung, gleichzeitig erzeugen sie aber auch ein scheinbar „analoges“ Bild der Landschaft. Grundsätzlich können Landkarten als „Notationen“ einer Landschaft verstanden werden. Wie bei musikalische Notationen werden einzelne Merkmale berücksichtigt, andere bleiben unberücksichtigt. Die Wanderkarten geben uns Auskunft über die Geländeformen, über die Bahnlinie, die Straßen, die Wege, Ortschaften, Erhebungen, besondere Hör-Punkte – sie sagen uns jedoch nichts über die Flora, die geologische Beschaffenheit des Bodens, die Atmosphäre der Landschaft etc. Während normalerweise Landkarten in bestimmten Handlungszusammenhängen eine bestimmte und eindeutige Funktion erfüllen, erweisen sich die im Festivalbuch abgedruckten Karten als vieldeutig und gewissermaßen „polyfunktional“. Der Gesamtzusammenhang des Buches lässt verschiedene Lesarten der Karten zu. Natürlich bietet sich zunächst eine Decodierung der digitalen (diskreten, deutlich voneinander unterscheidbaren) Informationen an. So verhelfen die Höhenlinien zu einem sehr konkreten Verständnis der im Verlauf der Wanderung zu bewältigenden Höhenunterschiede. Darüber hinaus gibt es aber auch die Möglichkeit, die Karten ästhetisch wahrzunehmen. Wir können die Karten als Bilder auf uns wirken lassen. Die vom normalen Karten-

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bild abweichende einheitliche grüne Farbe regt dazu an, den unterschiedlichen Farbtönungen nachzugehen, den Spuren der Linien zu folgen, die Verteilung der Farben und Formen zu betrachten. Der Verlauf einer Linie (etwa der Verlauf des vorgeschlagenen Wanderwegs) kann innerlich mimetisch nachvollzogen werden: wir imaginieren den Weg, das Gehen, mögliche Blicke … Charakteristisch für die ästhetische Umgangsweise mit dem Kartenbild ist das ständige Wechselspiel zwischen den sinnlichen Reizen, die für sich stehen und für sich wirken, und der Verarbeitung dieser Reize als Zeichen, die für etwas anderes stehen. Dieses Wechselspiel zwischen Materialhaftigkeit und Zeichenhaftigkeit kennzeichnet – wie hier schon öfter dargelegt – ästhetische Erfahrungen. Im Umgang mit ästhetischen Phänomenen verschwindet die sinnlich-materiale Grundlage niemals hinter der Zeichenfunktion. Auf der Grundlage dieser Art der ästhetischen Erfahrung können sich ästhetische Erkenntnisse ergeben. Im vorliegenden Fall vermitteln die Landkarten eben nicht nur topografisches Wissen über objektivierbare Merkmale der Landschaft, sondern sie eröffnen auch Räume für Imaginationen und Projektionen. Der freie, transformierende Umgang mit dem Zeichensystem von Landkarten wird an einem anderen Element des Festivalbuches nochmals besonders deutlich. Allusionen an das Landkarten-Bild durchziehen als grafisches Element das Buch gleichsam wie ein „grüner Faden“ (vgl. etwa Abb. S. 169). Grüne Punkte unterschiedlicher Dichte vermitteln – auf „Zwischenseiten“ oder als Texthintergrund – Bilder von Gelände- und Landschaftsformen, ohne auf eine konkrete, für den Leser identifizierbare Landschaft zu verweisen. Die „Quasi-Ausschnitte“ aus Landkarten sind von allen zusätzlichen, für Landkarten typischen Zeichen (wie Ortsnamen, Wegzeichen, Höhenlinien) gereinigt, sie sind in unregelmäßige geometrische Felder eingepasst und von einzelnen, feinen mit dem Lineal gezogenen Linien durchkreuzt. Diese ästhetischen Verfremdungen transformieren das Kartenbild, sie deuten die digitalen kartografischen Zeichen-Elemente zu analogen grafisch-ästhetischen Elementen um. Digitales Sagen und analoges Zeigen geraten in einen Dialog, der an keiner Stelle einen Endpunkt findet. Hier findet sich also wiederum die Figur des Oszillierens und des Wechselspiels, das die Offenheit und Unabschließbarkeit ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Erkenntnis deutlich macht. Bild-Fotografien – imaginierendes Sehen contra identifizierendes Sehen

Der Begriff „Bild-Fotografien“ soll darauf verweisen, dass auch die Gestaltungsebene der fotografischen Abbildungen durch Zwischenformen charakterisiert ist. Auf jeweils zwölf Bildseiten werden die vier Hör-Orte fotografisch

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Bild-Fotografie „Lokalteil Wiese“

präsentiert. Dabei handelt es sich zum Teil um „klassische“ Fotos, die einen Gesamteindruck des Hör-Ortes und der dazugehörigen Landschaft vermitteln: Wasserfall, Tunnel, Fluh und Wiese sind auf den jeweiligen Frontseiten der den Hör-Orten zugeordneten Lokalteile – quasi dokumentarisch – abgebildet. Auf den ersten Blick könnte man glauben, einen klassischen Bildband in den Händen zu halten. Dieser Eindruck ändert sich, sobald man die folgenden Bildseiten aufblättert. Hier ist man plötzlich mit Fotografien konfrontiert, die die Landschaft aus ungewöhnlichen Perspektiven zeigen (etwa Bäume aus dem Blick von unten) oder bei denen verschiedene Perspektiven in einem Bild miteinander kombiniert werden. Nah- und Fernaufnahmen sind ineinander verschachtelt, gespiegelte Blicke treffen in einem Bild aufeinander, Farb- und Schwarz/Weiß-Bilder sind ineinander montiert, ebenso wie Aufnahmen der Landschaft zu unterschiedlichen Jahreszeiten. Zum Teil werden die einzelnen montierten Bildelemente durch eine übergreifende formale Idee, z. B. durch die Form eines kristallinen Gebildes, zusammengehalten. Kristalline Strukturen fungieren – gewissermaßen als „naturnahe“ Strukturen – als Brücke zwischen dem Realismus der Fotografien und der Künstlichkeit ihrer Montage. Grundsätzlich ist durch das Montageprinizip sowohl die zeitliche Linearität

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aufgebrochen (Frühjahrs- und Winterfotos erscheinen gleichzeitig) als auch die räumliche Kontinuität gestört (Blicke von unten und von oben, von nah und von fern stoßen in einem Bild unmittelbar aufeinander). Wie schon die Landkarten, lassen auch die Bild-Fotografien unterschiedliche Lesarten zu. Zunächst vermitteln die Fotos tatsächlich ein „realistisches“ Abbild der Landschaft – vergleichbar der Funktion von Fotos in einem klassischen Bildband, der den Betrachter mit einer Landschaft bekannt macht. Durch die künstlerische Bearbeitung der Fotografien werden jedoch Blick und Erwartungen irritiert, die fotografischen Brechungen (im buchstäblichen wie im erweiterten Wortsinn) stören die Wahrnehmungsautomatismen und provozieren eine andere Wahrnehmungshaltung. An die Stelle eines „identifizierenden Sehens“ (aha, so sieht es dort aus …) tritt ein „imaginatives Sehen“, das Raum für unterschiedliche Deutungen der Landschaft lässt, aber auch Raum für individuelle Projektionen und Erinnerungen. Die Differenz zu gewohnten fotografischen Abbildern öffnet Räume für das Nicht-Identifizierbare (Räume der Nicht-Identität) – die Öffnung der Bilder in die Uneindeutigkeit führt dazu, dass bei jedem Durchblättern der Hefte neue Details ins Auge fallen und sich dadurch neue Deutungsmöglichkeiten anbieten. Der Blick wird immer wieder auch auf formale Gestaltungsaspekte der Bilder gelenkt: die formale Gesamtkomposition, die Verteilung der Farben, die Verschachtelung der Perspektiven. Die Form wird zum Ansatzpunkt neuer Deutungen; gerade formale Verfremdungsmomente bieten sich an, nach ihrer spezifischen Wirkung und Bedeutung befragt zu werden. Dabei stellt sich das schon vertraute Wechselspiel zwischen der „sinnlichen Erscheinung“ der Bildelemente und ihrer möglichen Bedeutung ein. Der über das Bild schweifende Blick erfährt sich dabei selbst als schweifender und suchender – ein Zeichen für die Selbstbezüglichkeit ästhetischer Erfahrungen und Erkenntnis.

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3.  Musikalische Bilder von Landschaft Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen die musikalischen KonzeptKompositionen: 16 Komponistinnen und Komponisten waren aufgefordert worden, zu den vier ausgewählten Hör-Orten musikalische Konzepte zu entwickeln, die entweder vor Ort oder auch unabhängig von den realen Orten in der mentalen Vorstellung der Rezipienten „aufgeführt“ werden. Überblickt man die 16 Konzepte, so wird dabei die Vielfalt an Möglichkeiten deutlich, mit unterschiedlichen Medien die Klangimagination der Leser-Interpreten anzuregen. Partituren zwischen Text und Bild

Die Komponisten bedienen sich einer breiten Palette an Zeichen, um ihre konzeptionellen Ideen festzuhalten und zu vermitteln. Wie schon bei der „Singenden Schnecke“ von Hans Wüthrich spielt die Verbalsprache eine zentrale Rolle. Die Texte sind zum Teil als direkte Aufforderung geschrieben – so etwa im Rahmen der „Klanglandschaftsanalyse in zehn einfachen Schritten“ von Yoaf Pasofsky: „Hör in den Wind hinein. Dreh dabei deinen Kopf sehr langsam von der einen Seite auf die andere und wieder zurück.“10 Einen Sonderfall stellt dabei die Konzept-Komposition von Peter Ablinger dar, die sich auf einen einzigen Satz beschränkt: „einen Tunnel passieren / passing a tunnel “11. Peter Ablinger weist explizit darauf hin, dass diese beiden Sätze nicht als Anweisung zu verstehen sind. „Das Stück versteht sich als Hinweisstück (…), nicht als Anweisung; frau kann es tun, muss aber nicht. Auch der Text allein, bzw. die Vorstellung davon ist bereits das Stück.“12 Diese erläuternden Sätze erinnern an die Ideen des Konzeptkünstlers Lawrence Weiner, der seine „bildnerischen Werke“ ausschließlich auf sprachliches Material beschränkt. Bereits 1968 formulierte er eine „Gebrauchsanweisung“ („Declaration of Intent“) für seine Werke: 1. Der Künstler kann das Werk selber ausführen. 2. Das Werk kann (von einer anderen Person) hergestellt werden. 3. Das Werk braucht nicht ausgeführt werden. Alle diese Möglichkeiten sind gleichwertig und entsprechen der Absicht des Künstlers. Die Entscheidung über die Art der Ausführung liegt beim Empfänger im Moment der Übernahme.13 An dieser Stelle

10 11 12 13

Yoaf Pasofsky, in: Meyer/Jeschke 2011, Lokalteil Hombergerflue, S. 21. Peter Ablinger, in: Meyer/Jeschke 2011, Lokalteil Tunnel, S. 29. ebda Lawrence Weiner formulierte diese „Declaration of Intent“ zum ersten Mal 1968, veröffentlicht wurde sie im Jahr 1969, in: Siegelaub 1969 sowie Szeemann 1969.

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wird deutlich, wie sehr musikalische Konzept-Kompositionen auch von verwandten Entwicklungen in der bildenden Kunst inspiriert sind. Wenn die materiale Realisation eines Werkes nicht mehr entscheidend für den Status eines Werks als Kunstwerk ist, wenn Kunst eben nicht mehr als ein für allemal hergestelltes Werk verstanden wird, sondern vielmehr als ein offener Prozess, der im Kopf des Rezipienten stattfindet, dann beginnen die Grenzen zwischen den verschiedenen Kunstsparten sich aufzulösen. Die Imagination der Rezipienten – sie kann visuelle Aspekte der Wirklichkeit betreffen wie auch akustische – wird durch die Verbalsprache angeregt. Im Unterschied zu alltagssprachlichen Kontexten verschwinden die Wörter jedoch nicht hinter ihrer Bedeutung, sondern der Leser-Rezipient ist immer wieder auch auf die visuelle und akustische Gestalt der Wörter zurück verwiesen. Eine weitere Kategorie von verbalen Konzept-Kompositionen stellen Texte aus der Ich-Perspektive dar. In ihnen berichtet ein Komponist von seinen persönlichen Erfahrungen und bietet sie dem Leser-Interpreten zum Nachvollzug an. So etwa Ernstalbrecht Stiebler in seiner Komposition „Die Wiese“: „Hier ist die Stille, ich höre die Stille, die Wiese ruht, aber sie ruht in langen Wellen, stehende Wellen; (…) Diese stehende Klangwelle aber scheint unendlich langsam näherzukommen und mich zu tragen, sanft erhoben sehe ich weit hinten die Schaumkronen der Baumäste, in denen ein Wind klirrt, sehr leise und hoch (…).“14 Auch Patrick Frank geht in seiner Komposition von seinen persönlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen aus; diese bilden jedoch den Ausgangspunkt für grundsätzliche Reflexionen zum gesellschaftlichen Stellenwert der Musik: zum Verhältnis von alter und neuer Musik, von Kunst und Alltag, von Kopie und Original, von Realität und Imagination. Der letzte Abschnitt („VI. Die Wiese“) verknüpft – geradezu im Sinne einer musikalischen Engführung – alle zuvor angesprochenen Themen: „Ich stelle mir eine Musik vor, die gleichzeitig künstlich und alltäglich ist.– / die gleichzeitig atonal und tonal ist.– / die gleichzeitig neu und alt ist.– / die gleichzeitig die Masse und Klasse bedient.– / die gleichzeitig Kopie und Original ist.– / die gleichzeitig schlecht und gut komponiert ist.– / die gleichzeitig würdevoll und erbärmlich ist.– / die gleichzeitig reell und virtuell ist.– / die gleichzeitig langweilig und spannend ist.– / Ich stelle mir eine Musik vor, die gleichzeitig Musik und Theorie ist.– / Nun stehe ich da, vor dieser Wiese, die so unschuldig und toxisch vor sich hin vegetiert, und sinniere über Kunst und Musik. Ohne Musik, ohne Bühne, ohne Inszenierung. Real.“15 14 Ernstalbrecht Stiebler, in: Meyer/Jeschke 2011, Lokalteil Wiese, S. 21. 15 Patrick Frank, in: Meyer/Jeschke 2011, Lokalteil Wiese, S. 33.

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Dieter Schnebel: Wisenberg-Fantasie

Die Wiese – ihre Visualität und Klanglichkeit – dient hier als Projektionsfläche für allgemeine Überlegungen zu Fragen der musikalischen Ästhetik. Die Konzeptualität der sinnlichen Wahrnehmung wird mit der Konzeptualität der ästhetischen Reflexion verknüpft. Der Leser-Interpret wird also eingeladen, sinnesbezogene Wahrnehmungen mit dem Nachdenken über Musik und Kunst zu verbinden. Neben verbalsprachlichen Kompositionen fallen auch bildhafte Kompositionen ins Auge, die entweder die Sprache ins Bildliche transformieren oder neben sprachlichen Zeichen auch visuelle Zeichen verwenden. Ein Beispiel für eine Komposition im Grenzbereich zwischen Sprache und Bild stellt die „Wisenberg-Fantasie“16 von Dieter Schnebel dar. Der Text beschreibt – aus der schon bekannten Ich-Perspektive – einen möglichen Erfahrungsweg durch die Wiese: das Stehen am Rand, das Durchschreiten der Wiese zum Rand des Waldes auf der gegenüberliegenden Seite. Dabei werden nacheinander alle Sinne aktiviert (das Schauen, Lauschen, Riechen, Spüren/Fühlen), der Erfahrungsreigen wird schließlich durch das Niederlegen auf dem Boden abgeschlossen: „und nun bin ich drüben – am Waldrand / blicke zurück: / eine andere Wei 16 Der Begriff „Wisenberg“ bezieht sich auf die lokale Bezeichnung einer etwa 1000m hohen Erhebung in der Nähe von Bad Ramsach.

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te / lege mich auf den Boden / Augen, Ohren, Nase, Haut dem Himmel entgegen / wohlige Ruhe / lasse alles, … / was ich vernehme – / Musik werden“17. Die hier erfolgte „Transkription“ des Schlusses der Komposition gibt die Partitur nur bedingt und eingeschränkt wieder. Um die verschiedenen Dimensionen der Komposition zu erfassen, müssen visuelle Aspekte berücksichtigt werden. Dieter Schnebel gestaltet den Text handschriftlich, unter Verwendung verschiedener Farben und Schriftgrößen – die strenge formale Anlage der Komposition wird durch die visuelle Anlage deutlich. Darüber hinaus sind zwei Skizzen in die Komposition integriert: eine Skizze zur „Wisenberg-Bildstruktur“ (sie kann als vereinfachtes Abbild der Geländeform gelesen werden) und eine zweite Skizze zur „Wisenberg-Klangstruktur“ (sie greift Ideen der Landschaftsform auf und reichert sie durch Begriffe wie „Vögel“, „Raumrauschen“, „Wanderer“ mit akustisch-musikalischen Imaginationen an). Es ergibt sich somit eine komplexe Partitur, die sowohl aus sprachlichen, visuell-sprachlichen wie auch bildhaft-visuellen Zeichenelementen besteht. Der Leser-Interpret kann sich also durch unterschiedliche Medien zu individuellen Klangund Landschaftsimaginationen anregen lassen: durch einzelne Begriffe, durch die Geschichte der „Ich-Erzählung“, durch den unterschiedlichen Gestus und die Farbigkeit der Handschrift, durch die visuell sichtbar werdende formale Anlage, durch die Skizzen … Die „Wisenberg-Fantasie“ bietet somit reiches Material für die Entwicklung der Fantasie der Rezipienten. Die Kombination unterschiedlicher Zeichenelemente im Rahmen einer Partitur findet sich auch in einer Reihe anderer Konzept-Kompositionen. So etwa bei Alvin Curran und seiner der Jahreszeit des Winters zugeordneten „Tunnel-Komposition“18, die eine traditionell notierte musikalische Skizze in das Konzept integriert. Betrachtet man traditionelle musikalische Notationen unter zeichentheoretischen Aspekten, so wird deutlich, dass sie auf der integrierten Verwendung visueller und verbalsprachlicher Zeichen beruhen. Bei Alvin Curran wird die Idee der konventionalisierten Integration jedoch zur Idee einer Collage weiter entwickelt, in der verschiedene Zeichenelemente jäh und gewissermaßen unverbunden aufeinander stoßen. Die Komposition enthält die Skizze einer traditionell notierten musikalischen Gestalt oder besser eines an Tonhöhen orientierten musikalischen Prozesses (innerhalb eines Ambitus von vier Tönen werden Mini-Figuren entwickelt, die einem Prozess der zunehmenden rhythmischen Komplizierung unterzogen werden). Die musikalische Skizze wird mit zwei verbalsprachlichen Skizzen kombiniert, sie entpuppen sich als handschriftliche Entwürfe für einen anweisungsorientierten 17 Dieter Schnebel, in: Meyer/Jeschke 2011, Lokalteil Wiese, S. 17. 18 Alvin Curran, in: Meyer/Jeschke 2011, Lokalteil Tunnel, S. 32 und 33.

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Alvin Curran: Tunnel-Komposition

Text, der den „Abschluss“ der Komposition darstellt: „enter the tunnel / think of nothing / let the space become your / home, your instrument, your life /  your music / exit the tunnel and continue to / fly“19. Als weiteres Element tritt schließlich noch der Kopf eines Bibliotheksformulars hinzu, das in keinem direkt erkennbaren Zusammenhang zu den anderen Elementen steht. Angesichts des insgesamt bildhaften Charakters der Partitur stellt sich die Frage, wie weit durch die Anordnung der Textelemente überhaupt ein zeitlicher Verlauf vorgegeben wird. Die Partitur kann – im Sinne eines Textes – sukzessiv-linear gelesen werden, sie kann aber auch – im Sinne eines Bildes – unabhängig von einer gedachten Leserichtung frei interpretiert werden. Die Kombination aus textlichen, bildlichen und notationalen Zeichenelementen eröffnet ein weites Feld der Interpretation. Die Komposition enttäuscht Erwartungen, die man an eine Komposition im Sinne eines musikalischen Kunstwerks herantragen könnte. Weder bietet sie eine fertige Partitur, deren Anweisungen man linear befolgen kann, noch ergeben die einzelnen Elemente einen sinnvollen Gesamtzusammenhang. An die Stelle einer Ästhetik des Perfekten und Einheitlichen (opus perfectum et 19 ebda

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absolutum) tritt eine Ästhetik des Unvollkommenen, des Prozesshaften und Fragmentarischen. Vielleicht sind es aber gerade die „störenden Elemente“ (das Skizzenhafte und das Nicht-Zusammenpassende), die den Leser-Interpreten dazu anregen, sich auf einen offenen Prozess einzulassen. Insgesamt also zeichnen sich die Partituren der Konzept-Kompositionen durch die Verwendung unterschiedlicher Zeichensysteme und eine Vielfalt ihrer Kombinationsmöglichkeiten aus. Dabei scheint die Verbalsprache eine hervorgehobene Rolle zu spielen. Die Komponisten berichten von eigenen Erfahrungen, bieten diese zum Nachvollzug an oder nehmen sie zum Ausgangspunkt für allgemeine Reflexionen über Themen wie Kunst, Natur, Gesellschaft. An dieser Stelle erhebt sich die Frage, was diese Texte von „normalen“ Erlebnisberichten und reflektierenden Texten unterscheidet: Was macht gerade diese sprachlichen Gebilde zu Kompositionen? Zum einen ist es natürlich der Kontext des Festivalbuches, der eine bestimmte Rezeptionshaltung den Texten gegenüber nahelegt: Der Leser wird eben nicht nur als Rezipient eines diskursiv zu verstehenden Textes angesprochen, sondern er wird angeregt, die Anweisungen und Überlegungen imaginativ und mimetisch nachzuvollziehen. Die Verwandlung der Texte in Musikstücke beruht aber auch auf – zum Teil unscheinbar erscheinenden – Gestaltungseingriffen der Komponisten. Sie strukturieren bewusst den zeitlichen Ablauf (zum Teil gibt es auch genaue Zeitangaben)20, sie schaffen eine Gesamtform, so fragmentarisch und zufällig diese auch bei einzelnen Kompositionen wirken mag; und in vielen Fällen verwenden sie die Sprache nicht einfach als diskursives, propositionales Medium, das primär konkrete Bedeutungen vermittelt, sondern spielen mit den visuellen und akustischen Aspekten der Sprache, indem sie diese frei mit visuell-bildhaften und notationalen Zeichenelementen kombinieren. Da alle diese Zeichenelemente in einen wechselseitigen Austausch- und Verweisprozess eintreten, erhöht sich so die Komplexität der möglichen Bedeutungen. Der Leser-Interpret kann sich auf das Wechselspiel zwischen Bild, Sprache und Notation einlassen und damit Räume der Imagination erschließen, die die Grenzen zwischen den Medien und Zeichen überschreiten. Im Folgenden will ich exemplarisch einige Konzept-Kompositionen genauer analysieren, um daran die Vielfalt der sich dadurch ergebenden Erkenntnismöglichkeiten zu thematisieren. Im Fokus der exemplarischen Analysen wird also die Frage nach der ästhetischen Erkenntnis stehen. 20 Seit John Cage’s im Jahr 1952 am Black Mountain College konzipierten und später so benannten „Theater Piece Nr. 1“, dessen kompositorischer Akt hauptsächlich in der Gestaltung von „time brackets“ (sich überschneidenden Zeitabschnitten) bestand, kann man die Strukturierung von Zeit als wesentlichen Akt musikalischen Komponierens begreifen. Vgl. hierzu Schoon 2006, S. 144 ff.

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Cathy van Eck: Ich höre da …

Wahrnehmungserkenntnisse zwischen „Da“ und Hier“ – Cathy van Eck

Als erstes Beispiel dient Cathy van Ecks Tunnelkomposition.21 Die Partitur ist als visueller, typografischer Text gestaltet. Er beschreibt aus der Ich-Perspektive Hörerfahrungen im Tunnel: leise und laute Klänge, das „Stampfen“ der Füße, Insekten, einen Vogel, Blätterrauschen, Blätterrascheln … Das Wesentliche sind jedoch nicht die einzelnen Klangereignisse, die wahrgenommen werden, sondern der Prozess, der sich dahinter verbirgt. Dieser geht von der Erfahrung des „da“ aus („ich höre da“), führt die Erfahrung des „hier“ ein („ich höre von da bis hier“), um gegen Schluss des Textes genau diese Erfahrung des „hier“ ins Zentrum zu rücken („ich höre nur noch hier höre hier und hier danach hier“22). Cathy van Eck arbeitet mit der visuellen Gestalt der Wörter, um die Entwicklung der Hörerfahrung quasi optisch zu veranschaulichen: von einem „da“, das sowohl räumlich wie zeitlich unabhängig von der Position des Wahrnehmenden situiert sein kann, zu dem „hier“, das mit der Person des Wahr 21 Cathy van Eck, in: Meyer/Jeschke 2011, Lokalteil Tunnel, S. 11. 22 Die typografischen Besonderheiten des Textes können hier nicht wiedergegeben werden.

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nehmenden zusammenfällt. Dieser Prozess der zunehmenden Zentrierung der Hörerfahrung auf das Subjekt des Hörers wird durch die sich verändernden Schriftgrößen der beiden Begriffe „da“ und „hier“ sichtbar gemacht – am Anfang sticht der Begriff „da“ durch seine Größe ins Auge, im Verlauf des Textes drängt sich zunehmend der Begriff „hier“ optisch in den Vordergrund. Die Konzept-Komposition von Cathy van Eck kann als Angebot zum Nachvollzug eines Wahrnehmungsprozesses verstanden werden. Dieser Prozess führt von der Wahrnehmung von Geräuschen und Klängen, die den Raum als musikalischen Wahrnehmungsraum erschließen, zur intensiven Erfahrung eines Hier und Jetzt, in dem die Grenze zwischen Wahrnehmungsobjekt und Wahrnehmungssubjekt aufgehoben und der Verlauf der Zeit in einem einzigen Moment, einem Moment der „absoluten Präsenz“, festgehalten scheinen. Lässt man sich als Leser-Interpret mit seinen musikalischen Imaginationen auf die Text-Bild-Partitur ein, so hat man die Chance, Wahrnehmungserkenntnisse auf verschiedenen Ebenen zu gewinnen. Zum einen regt der Text die konkrete Erfahrung unterschiedlicher Wahrnehmungsmodi an: das Registrieren und Identifizieren von Geräuschen, die Wahrnehmung dieser Geräusche als musikalische Ereignisse, die aufeinander Bezug nehmen, die Bezugnahme der Klänge auf die eigene Körperlichkeit, und schließlich das Ineins-Fallen von Musik-Körper-Raum-Zeit in der Erfahrung eines gewissermaßen „absoluten Hier“. Zum andern regt der Text aber auch die Reflexion über diese verschiedenen Weisen der Wahrnehmung an. Die bewusste ästhetische Gestaltung der Komposition führt zu einer ästhetischen Erkenntnis über musikalische und nicht-musikalische Wahrnehmungen, die sich nicht nur in der konkreten Erfahrung vollzieht, sondern darüber hinaus diese zur Reflexion anbietet. Ästhetisches Erkennen als „Rauschen“ – Manos Tsangaris

Manos Tsangaris Kompositionen setzt sich aus drei Elementen zusammen: einem in Verszeilen und Strophen gegliederten Text mit dem Titel „Ablinger Fluh“, einem Gedicht mit dem Titel „Rauschen“, und einem Foto, das den Komponisten Peter Ablinger zeigt.23 Tsangaris, der sich in seinem kompositorischen Werk immer wieder mit der Verbindung der Medien beschäftigt, bietet hier also dem Leser-Interpreten drei unterschiedliche Partitur-Formate

23 Manos Tsangaris, in: Meyer/Jeschke 2011, Lokalteil Hombergerflue, S. 5–7.

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als Einstieg in die musikalische Beschäftigung mit der Hombergerflue24 an. An erster Stelle steht „Ablinger Fluh“: ein Text, der äußerlich Gedichtgestalt aufweist, die dadurch geweckte Erwartung in Hinblick auf Reim oder Metrik aber in keiner Weise erfüllt. In der ersten Strophe wird ein Beobachter-Standpunkt eingenommen – das lyrische Ich (das sich selbst nicht explizit nennt) – beobachtet Ablinger (ist es der Komponist?) in der Landschaft stehend und den Kopf in drei unterschiedliche Richtungen wendend. In der zweiten Strophe werden wir eingeladen, die Landschaft zu betrachten: den Blick auf die Kämme zu lenken, den Himmel, das Erdinnere. Der Blick in das Innere kann nur im metaphorischen Sinn stattfinden – im Klammerausdruck wendet sich das lyrische Ich direkt an den Leser: „Bitte verstehen Sie das als ‚Hinübergetragenes‘ – ein Bild: das Innere“25. Die dritte Strophe schließlich führt die Motive der ersten und zweiten Strophe in der Erfahrung der Homberger Fluh zusammen: „Die Koordinaten spiegeln, verdoppeln sich. Wir, das [sic!] Ablinger, ich … in vierter Dimension, an der Homburger Fluh laufen sie zusammen. (…) Wir versetzen uns ineinander“26. Auch am Schluss wird das Wort „Ablinger“ überraschenderweise nochmals sächlich verwendet: „das Ablinger ein Nadelör“ und gleichzeitig „Tor zur Welt“. Der Text verschließt sich einer eindeutigen Interpretation. Er geht möglicherweise von konkreten Wahrnehmungen aus (Wahrnehmungen in der Homberger Fluh), arbeitet mit Anspielungen auf den Komponisten Ablinger und nimmt beides zum Anlass, um über das Verhältnis von Oben und Unten, Innerem und Äußerem nachzudenken. „Wir versetzen uns ineinander. Das ist ein artifizielles Entsetzen“ – fast scheint der Text eine Auseinandersetzung mit den radikalen kompositorischen Ideen Peter Ablingers zu sein: ein Meta-Text über Musik, gleichzeitig aber auch in Musik. Denn der Text versteht sich als Teil einer Konzept-Komposition, also selber als Musik. Der zweite Text „Rauschen“ steht dem Idiom Gedicht nochmals näher. Der Klang der Wörter, ihr Rhythmus spielt eine zentrale Rolle: „Hier dieses Rauschen / dieses Rauschen hier / drin, ist das die Natur?“27 Der überraschende Zeilensprung (in literaturwissenschaftlicher Terminologie „Enjambement“ genannt) führt zu einem Innehalten und bereitet gewissermaßen den Boden für die Frage nach der Natur. Wieder begegnen wir hier der Thematik des 24 Der Flurname „Hombergerflue“ wird von den Komponisten in unterschiedlichen orthografischen Schreibweisen verwendet: Manos Tsangaris spricht von der „Homberger Fluh“, Jürg Frey von der „Homberger Flue“. Ich orientiere mich an den jeweiligen Schreibweisen der Komponisten. 25 A. a. O., S. 5. 26 ebda 27 A. a. O., S. 6.

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Manos Tsangaris: Ablinger Fluh – Rauschen

Innen und Außen: „Bringt das Rauschen von außen nach innen: / natürliche Taubheit / als Filter als Quelle.“ Ausgangspunkt ist möglicherweise die Hörerfahrung des Rauschens (des Windes?, des Wassers? oder das musikalische Phänomen des weißen Rauschens, das alle Klänge in sich birgt?). Das akustische Phänomen wird Anlass, um nicht nur über das Verhältnis von innen und außen, sondern auch über das Hören und Nicht-Hören (die „Taubheit“) nachzudenken. Das Gedicht endet schließlich in einem Anruf an die Ahnen: „Oh, wenn wir unsre / Ururahnen wären … / hellhörig, Sinnen –“ Hier spricht sich die Hoffnung nach einem Hören aus, das noch nicht durch die akustische Umweltverschmutzung unserer heutigen Zeit beeinträchtigt ist, das „hellhörig“ die „Sinne“ weit öffnet. Das dritte Element der Komposition – dem Text „Rauschen“ gegenübergestellt – zeigt eine Schwarz/Weiß-Fotografie des Komponisten Peter Ablinger (deutlich erkennbar an der Gestalt und dem Hut). Ablinger steht in steinigem Gelände, abgewendet. Mit diesem Foto findet nochmals ein Rückbezug auf den ersten Text statt. Der Versuch, wesentliche Ideen dieser Texte wiederzugeben, muss hier im Rahmen einer zusammenfassenden Darstellung scheitern. Zu hermetisch abgeschlossen erscheint ihre Sprache, zu dicht verwoben sind die sprachlichen

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Bilder, zu viele Assoziationen lösen einzelne Wörter aus. Beinahe könnte man den Eindruck gewinnen, dass das Bild des abgewendeten Komponisten in gewisser Weise programmatisch für die gesamte Komposition steht. So wie wir den Komponisten Ablinger nicht direkt sehen können, so verschließt sich für uns möglicherweise die direkte Bedeutung der sprachlich niedergelegten Komposition von Manos Tsangaris. Und doch spricht sie uns an. Sie wendet sich sogar direkt an uns: „Bitte verstehen Sie das als ‚Hinübergetragenes‘“ – einzelne Formulierungen bleiben in uns hängen: „das Ablinger ein Nadelör, Tor zur Welt“. Was ist es, das uns den Zugang zur Welt zugleich verschließt und öffnet? Welche Erfahrungen vermittelt uns die Homberger Fluh als ein Stück „gesetzte“ Landschaft („Ein Ablinger steht oben an der Homberger Fluh (…) Danach setzt er die Landschaft“)? Wie verhalten sich das äußerlich Geschaute und das innerlich Imaginierte zueinander („ein Außenkörper innerhalb von“)? Was passiert in diesem Moment des „artifiziellen Entsetzens“? Liegt dort die Chance für eine ästhetische Erkenntnis? Die Komposition verweigert sich dem unmittelbaren Nachvollzug, sie widersetzt sich dem Wunsch nach Verstehen. Gerade das Nicht-Verstehen ist es jedoch, das einen Prozess des Erkennen-Wollens in Gang setzt. Es ist ein Prozess, der nie zu einem Ende kommt, da es ebenso wenig eindeutige Fragen wie

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eindeutige Antworten gibt. Ästhetisches Erkennen, wie es durch die KonzeptKomposition Manos Tsangaris provoziert wird, bleibt in Bewegung, es erfüllt sich gewissermaßen in einem unabschließbaren Wechselspiel zwischen – durch die Sprache und das Foto angeregten – innerlichen Imaginationen und Reflexionen über die Natur, die Musik, das Ich und das Andere – und über das Nicht-Verstehbare. Ästhetisches Erkennen wird erlebbar als „Rauschen“. Landschaft(s-Erkenntnis) mit und ohne Wörter – Jürg Frey

Die Komposition Jürg Freys beginnt mit einem reflektierenden Text über die Omnipräsenz von Wörtern in der urbanen Landschaft. „Hinweise, Wegweiser, Werbung, Demonstration von Anwesenheit, Markierung von Besitz“. „In der urbanen Landschaft sind wir so umfassend von Wörtern umgeben, dass wir diese nur selektiv wahrnehmen.“28 Anders die Erfahrung auf dem Land. „In ländlicher Gegend sind Wörter selten.“29 Die Homberger Flue schließlich präsentiert sich uns als eine „wortleere Landschaft“. Genau diese Erkenntnis nimmt Jürg Frey zum Ausgangspunkt für seine Komposition. „Wenn wir auf der Homberger Flue westwärts blicken, schauen wir in eine wortleere Landschaft hinein. Wir können uns aber vorstellen, dass dort – an der Wegverzweigung neben dem Baum – doch ein Wort steht. Buchstaben erscheinen und bilden ein Wort, das dort einen Augenblick lang, wie hingestellt, zu lesen ist. Klang und Sinn liegen in der Landschaft.“30 Auf den nachfolgenden Seiten bietet Jürg Frey dem Leser Gruppen von Wörtern an, die er beim Durchwandern der Homberger Flue in die Landschaft projizieren kann: „­Grenzland / Ornament / Schattending / Träumer“, oder „Stammblitz / ­Hartenzebra / Heirelitt“, oder „Zärtlichkeitsfeld / Vergessenheitsvogel / Halbschlafphantasie / Wind­ dörfer“.31 Die ausgewählten Beispiele zeigen die Vielfalt der Möglichkeiten zwischen vertrauten Begriffen, Wortneuschöpfungen und poetischen Bildern. In einem abschließenden Text32 thematisiert Jürg Frey die Arten und Weisen, wie die Imaginationen innerlich „ausgestaltet“ werden können: „Das Wort kann klein und grau neben einem Haus stehen. Es kann farbig am Horizont aufleuchten oder in alter Schrift den Feldrand säumen.“ „Wörter können haufenweise vorkommen, sie können ein Feld bilden, ein Tal füllen oder in

28 29 30 31 32

Jürg Frey, in: Meyer/Jeschke 2011, Lokalteil Hombergerflue, S. 24. ebda ebda a. a. O., S. 27 ff. a. a. O., S. 33.

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einem Schwarm über die Landschaft ziehen.“ Bewusst wird die visuelle Gestalt der Wörter in die Imaginationen einbezogen, ebenso wie ihre akustische Erscheinung. „Wir hören das von uns so in die Landschaft gestellte Wort an zwei Orten: einerseits innerlich in unserer Vorstellung. Andererseits klingt es auch dort draussen, wo wir es hingestellt haben.“ Wir begegnen hier wieder der in vielen Konzept-Kompositionen thematisierten Verflochtenheit von innen und außen (sie bildet ja auch das Motto des Festivals „drinnen vor Ort“). Nicht nur das Ineinander von außen und innen beschäftigt Jürg Frey, sondern auch das Ineinander von Klang und Bedeutung, von „son“ et „sens“, wie er Bezug nehmend auf Paul Valéry formuliert. Verbalsprachlich ausgelöste Imaginationen bilden also das Material der Komposition. Die inneren Vorstellungen werden allerdings nicht nur durch die Bedeutung der Wörter angeregt, sondern ebenso durch ihre visuelle und akustische Gestalt und vor allem durch ihre imaginative Verknüpfung mit konkreten landschaftlichen Situationen. Am Ende jedoch ziehen sich die Wörter wieder aus der Landschaft zurück. „Sie (die Wörter, Anm. d. Verf.) können überall verstreut sein. Sie können auch allein sein. Einzelwörter. Kein Wort. Einfach Landschaft.“ Während eine Idee der Komposition also darin

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besteht, die Erfahrung der Landschaft durch die vielschichtige Imagination von Wörtern anzureichern, so mündet sie letztlich – in ihrer „Coda“ – in den bewussten Verzicht auf alle medial geprägten „Vehikel“ der Wahrnehmung. Ähnlich wie Cathy van Ecks Komposition in die Erfahrung des konzentrierten „Hier“ (als Gegenpol zur verstreuten Wahrnehmung des „Da“) führt, wie Mano Tsangaris in seiner Komposition nach der „vierten Dimension“ sucht, in der das „Nadelör“ und das „Tor zur Welt“ zusammentreffen, so gibt es auch bei Jürg Frey am Ende der Komposition den Verweis auf eine Landschaft, die unverstellt von Wörtern und möglicherweise damit unverstellt von jeder Begrifflichkeit – gewissermaßen unvermittelt – wahrgenommen wird. Freys Komposition kann nicht nur als Impuls für eine neue Art der Wahrnehmung von Natur und Landschaft verstanden werden, die auf der Verwendung von Sprache als vielgestaltigem ästhetischen Medium beruht, sondern darüber hinaus als grundsätzliche Reflexion über den Zusammenhang von Sprache, Wahrnehmung und Erkenntnis. Im Unterschied zu einem philosophischen Text bietet die Komposition jedoch konkrete Erfahrungsmöglichkeiten an. Sie lädt dazu ein, die Welt vermittelt durch Wörter zu erleben (abseits der gewohnten Sprach-Wahrnehmungsbahnen); sie animiert dazu, die Sprache in ihren sinnlichen (visuellen und musikalischen) ästhetischen Qualitäten zu erfahren; sie fordert dazu auf, die Zwischenräume zwischen „Klang“ und „Bedeutung“ auszuloten; und sie führt zu dem letzten Experiment: letztlich alle Wörter hinter sich zu lassen und sich auf die Landschaft „unvermittelt“ einzulassen. Das Entscheidende ist dabei wohl nicht, ob dieses Experiment gelingt oder nicht, sondern die Zuspitzung der Erfahrung, die das in vielen philosophischen Schriften artikulierte Problem des Zusammenhangs von Sprache und Wahrnehmung am eigenen Leib erfahren lässt. Die Erkenntnis, die dabei gewonnen werden kann, ist eine körpergebundene Erkenntnis, die nicht nur die Landschaft, sondern die Welt überhaupt in neuem Licht erscheinen lässt. Im Rückblick betrachtet, können also viele der durch musikalische Konzept-Kompositionen angeregten Erkenntnisse als Wahrnehmungserkenntnisse charakterisiert werden. Was aber unterscheidet Wahrnehmungen von Erkenntnissen? Impliziert nicht jeder Wahrnehmungsvorgang ein Moment der Erkenntnis, etwa indem ein Objekt als solches identifiziert wird? Ästhetische Erkenntnisse sind immer wahrnehmungsgeleitet, aber sie gehen über den einfachen identifizierenden Akt des Wahrnehmens hinaus. Der Fokus der ästhetischen Erkenntnis richtet sich sowohl auf das Objekt der Wahrnehmung (die Landschaft, den Klang) als auch auf das Subjekt des Wahrnehmenden. Damit wird der Prozess der Wahrnehmung selbst thematisch. Ästhetische Erkenntnis impliziert ein selbstreflexives Moment und verknüpft auf diese Weise Wahrnehmen, Erleben und Denken.

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4.  Literarische Bilder von Landschaft Neben Bildern und Kompositionen enthält das Festivalbuch auch literarische Beiträge. Vier Schriftsteller wurden aufgefordert, zu den ausgewählten vier Hör-Orten literarische Texte zu verfassen. Darüber hinaus stößt man im allgemeinen Teil auf einen Text von Elfriede Jelinek. Analytische Überlegungen zu ihrem Text dienen uns als Einstieg in die Frage der Besonderheiten literarisch angeregter ästhetischer Erkenntnisse. 33 Vernetzte Erkenntnis – Elfriede Jelinek: Wildes, grandioses Wasser

Der im Festivalbuch abgedruckte Text entspricht (mit wenigen Änderungen) der auf Elfriede Jelineks Homepage veröffentlichten Arbeitsfassung einer längeren Passage aus dem Roman „Gier. Ein Unterhaltungsroman“34. Diese Arbeitsfassung umfasst insgesamt fünf Absätze, in denen jeweils – bei aller Verflechtung der Motive – ein zentrales Thema wahrgenommen werden kann. Ohne hier den Anspruch einlösen zu können, die Komplexität des Textes wiederzugeben, will ich doch versuchen, einige zentrale inhaltliche Motive zusammenfassend darzustellen. Der erste Absatz ist dem Hauptakteur des Textes, dem Wasser, gewidmet. „Wildes, grandioses Wasser, fällst mit hocherhobenem Köpfchen, auch wenn man Dich bereits gezähmt hat!“35 – diese Worte, mit denen der Text beginnt, markieren bereits ein wichtiges Thema des gesamten Textes: die Wildheit und Gewalt des Wassers und seine Zähmung. Wir befinden uns in den österreichischen Kalkalpen (später erfahren wir: „zu Füßen der Schneealpe“) und werden im ersten Absatz in die Besonderheiten des Wassers eingeführt: etwa in sein plötzliches und unvorhergesehenes Verschwinden („ein ganzer See mitsamt den Anrainerbäumen verschwand im Kalkgebirge!“), in seine Wandlungsfähigkeit („siehst zuerst entzückend, durchsichtig, glitzerig aus, dann wirst du Schlamm, wirst Boden“) und in die Eingriffe der Menschen in den 33 Da Jelineks Text im vorliegenden Zusammenhang aus einem sehr spezifischen Erkenntnisinteresse beschrieben und analysiert wird, verzichte ich darauf, auf die umfangreiche Sekundärliteratur zum literarischen Schaffen Elfriede Jelineks Bezug zu nehmen. 34 Elfriede Jelinek: Gier. Ein Unterhaltungsroman. Reinbek bei Hamburg 2000. Die für den Roman ausgearbeitete Fassung des behandelten Textes befindet sich dort auf den Seiten 214 ff. 35 Elfriede Jelinek, in Meyer/Jeschke 2011, S. 18–22. Im Folgenden verzichte ich auf die Fußnoten zur Angabe der Seitenzahlen. Die Lage der Textzitate ergibt sich aus dem Hinweis auf den entsprechenden Absatz.

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Verlauf des Wassers („als du beschlossest ein Wilder zu bleiben. Da haben sie dir aber einen Strich durch die Rechnung gemacht …, als sie dich faßten und durch die Rohre schickten“). Die Menschen versuchen also, die Wildheit des Wassers zu bändigen. Im zweiten Absatz tritt ein joggender Mann auf („ein Unruhiger, der sein geheimes Versperrtes kaum unter der Haut festhalten kann“). Jelinek entfaltet die Psychologie dieses Mannes, sie spricht die Themen Gehorsam und Unterwürfigkeit an („na, das kann was werden, der Gehorsame unterdrückt den Unterwürfigen“) und lässt den Mann nach seinen Grenzen suchen („Er findet sie trotzdem nicht, die Grenzen, so wie er das Wasser nicht finden kann“). Spätestens an dieser Stelle kommt es zu einer direkten Verknüpfung des Motivs des Wassers mit dem Motiv des Mannes. Der Hinweis auf das verschwundene Bergwerk Lassing, das ganze Häuser mit sich gerissen hat („das Haus, das ins Innere der Erde gerutscht ist“), macht deutlich, dass die von den Menschen eingezogenen Grenzen vor der Gewalt der Natur nicht standhalten. Die Suche nach Grenzen wird schließlich von einem psychologischen zu einem gesellschaftlichen Thema ausgeweitet: Jelinek thematisiert die nationalen Grenzen („dann lesen wir die Landeszeitung, die nicht will, daß die Grenzen von Fremden überschritten werden, außer sie buchen Hotelzimmer …“) ebenso wie die moralischen Grenzen („Spätestens wenn der Partner fremdgeht, werden wir ihm unsere Grenze gewiß zeigen können“). Im dritten Absatz entpuppt sich der Läufer als Gendarm, der ausgerüstet mit einem Pulsfrequenzmesser und einem Messer durch eine Landschaft joggt, in der früher das Wasser die Herrschaft hatte. „Jetzt haben wir die Natur leider verloren und Ordnung gemacht.“ Die Natur wurde gebändigt, das Wasser unterirdisch verrohrt. „… denn die Natur gibt es ja nicht mehr. Die Natur ist das Gegenteil von etwas, das uns etwas zu sagen hat, obwohl sie uns sehr oft zusagt.“ Der vierte Absatz führt den Vater des Gendarmen in das Geschehen ein: Erinnerungen an den Vater, denn der Vater ist inzwischen an Krebs gestorben. Die Rede ist vom gemeinsamen Radeln entlang des Baches, von Spaziergängen, aber vor allem auch von der Persönlichkeit des Vaters („der war so, als könnte sich nichts in ihm spiegeln, das sich erkennen ließe, als wäre sein Inneres verarmt gewesen unter dem Druck des Aufstiegs und der dauernden Pflichterfüllung.“) Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist von Strenge und auch von Gewalt geprägt („Das Kind streng bewachen, womöglich öfter mal beschlagen, damit ihm die Beine schwer werden.“). Vor den Schlägen ist auch die Mutter nicht gefeit („Er wird vielleicht die Mutter schlagen, das macht er nämlich noch lieber“). Der letzte und fünfte Absatz schließlich bringt eine „Engführung“ der Akteure: des Sohnes, des Vaters, der Mutter und auch der Natur. „Der Vater hat

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sich um den Sohn Verdienste gemacht, doch er blieb wie in einer schillernden fernen Fremde, verschwommen in Wasser“. Was bleibt, ist das Bedürfnis des Sohnes, den Vater zu bewundern. „Die Mutter hat sich um den Rest zu kümmern“ – aber auch die Mutter-Sohn-Beziehung ist beeinträchtigt, die Mutter ist „heimliche Rotweintrinkerin, wie es viele Frauen in dieser Gegend sind“. Die letzte Szene des Textes zeigt eine idyllische Naturstimmung („der Himmel von einer unbeschreiblichen Bläue, mit scharf abgezirkelten Wolken darauf“) und – im Kontrast dazu – die bettlägerige Mutter, die „sich eingenäßt“ und „am Popo schmutzig gemacht hat“. Am Schluss kommt der Sohn selbst zu Wort: „Hoffentlich wird mich das Leben einmal weitertragen zu einem Menschen, der gütig zu mir ist, wie Blumen, die eine fleckige Hausmauer verbergen, wenn man sie nur herzlich darum bittet und anständig düngt.“ Der hier erfolgte Versuch einer inhaltlichen Zusammenfassung wichtiger Motive wird dem komplexen Text nur sehr bedingt gerecht: zu vielfältig sind die Sprachbilder, die immer wieder neue inhaltliche Dimensionen eröffnen, zu wichtig jede einzelne Formulierung, die eben nicht durch eine zusammenfassende Gesamtschau wiedergegeben werden kann. Im Zentrum des Textes stehen zunächst Bilder des Wassers: seine Wildheit, die „gefasst“ wird; der Verlauf des Wassers, der von den Menschen bestimmt wird; das Wasser, das ein unterirdisches Leben entfaltet, das an unerwarteten Stellen mit großer Gewalt hervorbrechen kann; das Wasser, dem Gewalt angetan wird, das selbst aber auch Gewalt verkörpert. Diesen Naturbildern wird die Geschichte eines Mannes gegenübergestellt, der durch die Beziehung zum Vater geformt wurde. Zwischen Mißachtung und Strenge, die sich auch in Schlägen manifestiert, wächst der Sohn zu einem Menschen auf, dessen Persönlichkeit von Gehorsam, Gewalt und der unerfüllten Suche nach Liebe geprägt ist. Auch wenn die Biografie des Gendarmen auf einige wenige Beobachtungen beschränkt ist, so enthüllt sich in den wenigen bildkräftigen Szenen die Tragik und Unausweichlichkeit des menschlichen Schicksals. Natur und Psychologie des Menschen sind auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. Die Natur fungiert zunächst als Metapher für menschliche Charakterzüge und Situationen. Bereits der erste Satz („Wildes grandioses Wasser, fällst mit hocherhobenem Köpfchen, auch wenn man dich bereits gezähmt hat!“) kann als Metapher für das Schicksal des Sohnes gedeutet werden: seine Wildheit, seine Zähmung, aber auch sein prognostizierter „Fall“. In ähnlicher Weise wirkt auch das Bild des Wassers, in dem sich nichts spiegelt, das Jelinek anführt, um das verarmte Innenleben des Vaters zu symbolisieren. Darüber hinaus zeigt sich im Verhältnis des Menschen zur Natur der grundsätzliche Konflikt zwischen „natürlichen“ Kräften und gesellschaftlichen „Grenzziehungen“. Dass diese Grenzziehungen im Sinne von Bändigungen und Zähmungen

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nicht immer erfolgreich sind, darauf verweisen die Bilder des verschwundenen Sees oder des Bergrutsches in Lassing. Das Thema der Gewalt durchzieht den Text wie ein roter Faden: die Gewalt der Natur und die Gewalt an der Natur, die Gewalt des Vaters am Sohn und an der Mutter, und die indirekt zu befürchtende Gewalttätigkeit des Sohnes (das beim Joggen mitgeführte Messer könnte als ein indirekter Hinweis darauf gedeutet werden). Die Stärke des Textes ergibt sich nicht nur durch die dichte inhaltliche Verflochtenheit der Themen und Motive, sondern auch durch Besonderheiten der Sprache. Elfriede Jelinek arbeitet mit aus dem Alltag vertrauten Sprachfloskeln, die sie assoziativ weiterspinnt und dadurch in neue Kontexte bringt. Um die Beziehung des Vaters zu seinem Sohn zu charakterisieren, erinnert sie an die Kriterien „tiergerechter Haltung“: „Eine Haltung ist tiergerecht, wenn folgende Punkte geklärt sind: Bewegungsmöglichkeit, Bodenbeschaffenheit, Sozialkontakt, Stallklima (Lüftung! Licht! Gott!) und Betreuungsintensität (Lehrer! Stock! Stein! Schlag!).“ (S. 21) Formulierungen aus der Amts- und Behördensprache werden aufgegriffen, auf die Erziehung des Sohnes übertragen (was beunruhigend genug ist), und in der Wirkung weiter verstärkt, indem die einzelnen Kriterien in Klammer durch assoziationsreiche Begriffe erläutert werden, die die Grausamkeiten der tatsächlichen Erziehungswirklichkeit – unter Berufung auf die Autoritäten Gott und Lehrer – erahnen lassen. Die Neu-Kontextualisierung von eingeschliffenen sprachlichen Wendungen geht oft mit Sprachspielen Hand in Hand, die neue Bedeutungsräume von Wörtern erschließen und diese miteinander gewissermaßen unterirdisch verknüpfen. So wird etwa der Begriff „fassen“ in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet. Zunächst wird das Wasser in Rohre „gefasst“: „Wie glücklich war man da zuerst, deiner inmitten der Almen habhaft geworden zu sein, du willst ja immer nur wegrennen, doch bald bist du zur schlichten Tatsache geworden, die man auch essen kann, falls man sie immer noch nicht fassen kann, also wurdest du natürlich gefaßt, damit man dich, allerdings sehr verdünnt, wie alle Wahrheiten hier, dennoch glauben konnte.“ (S. 19) Fassen im Sinne von einfassen (in eine Rohrleitung einfassen), aber auch im Sinne von einfangen (festhalten und festnehmen) oder im Sinne von erkennen (eine Tatsache fassen) – die miteinander in gemeinsamen Satzkonstruktionen verbundenen Wortspiele erschließen einen Bedeutungsraum, in dem ständig alle Nebenbedeutungen mitaktiviert werden. Die Sprache erscheint hier nicht länger als stabiles, diskursives, auf Eindeutigkeit zielendes Medium, sondern als bewegliches Medium, das auf unterirdischen Wegen Denotationen und Konnotationen in einen kontinuierlichen Austausch bringt. In einem letzten Schritt will ich nun die Frage nach den spezifischen Erkenntnismöglichkeiten stellen, die uns der Text von Elfriede Jelinek anbietet.

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Zunächst sind verschiedene Schichten möglicher Erkenntnisobjekte voneinander zu unterscheiden. Die Lektüre des Textes gibt uns einen Einblick in die geologischen Besonderheiten der Kalkalpen (konkret der Kalkhochalpen im Grenzgebiet zwischen Niederösterreich und der Steiermark), wobei das Hauptaugenmerk auf das Phänomen des Wassers gelegt wird. Neben Naturerscheinungen (wie Dolinenbildungen oder Bergrutschen) thematisiert Jelinek vor allem – durchaus kritisch – die wirtschaftliche und touristische Nutzung der Natur. Damit wird eine zweite Erkenntnisebene in den Text eingeführt: die Ebene der kritischen Beschreibung der Gesellschaft (nicht nur ihr Umgang mit der Natur, auch ihr Umgang mit den Fremden und dem Fremden überhaupt, mit Grenzen, mit Gewalt etc.). Die konkrete Gesellschaftskritik wird in die größere und grundsätzlichere Thematik des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur eingebettet. Der Mensch versucht sich die Natur untertan zu machen, stößt dabei aber auf Grenzen, da sich die Natur nur bedingt „fassen“ und damit „zähmen“ lässt. Die Gesamtthematik von Wasser – Natur – Mensch – Gesellschaft bildet den Rahmen für die Geschichte des Protagonisten, des Gendarmen, der durch die Landschaft joggt und dessen Biographie anhand ausgewählter Erinnerungen oder Szenen – wenn auch nur ausschnitt- und skizzenhaft – in ihrer Tragik enthüllt wird. Die wenige Andeutungen genügen, um die Spezifik der Familienverhältnisse (die Vater-Sohn-Beziehung, die Beziehung des Vaters zur Mutter und die Mutter-Sohn-Beziehung) deutlich zu machen. Die verschiedenen inhaltlichen Schichten des Textes sind auf kunstvolle Weise miteinander verwoben. Sprachlich gefasste Bilder des Wassers und der Natur durchkreuzen die Familiengeschichte, deren Erzählung ihrerseits wieder von gesellschaftlichen Themen durchzogen ist. Dabei entsteht ein dicht gewobenes Netz von inhaltlichen Bezügen und Querverweisen. Die vielen einzelnen Fäden dieses Netzes werden durch metaphorische Beziehungen zusammengehalten. Das Verhalten des Wassers ähnelt in manchem dem Verhalten des Mannes (auch seine ursprüngliche Wildheit und Klarheit wurde gefasst und in unterirdische Rohre abgeleitet); der Umgang des Menschen mit der Natur findet sein Analogon im Umgang des Vaters mit seinem Sohn (zwischen Achtlosigkeit und dem Wunsch, Grenzen zu ziehen, die auch gegebenenfalls gewaltsam gezogen werden müssen); Metaphern der Gewalt und verschiedene Reaktionsmuster darauf ziehen sich wie ein roter Faden durch den Text. Der Leser ist somit aufgefordert, nicht nur die diskursive Oberseite der Sprache zu verstehen, sondern literarisches Erkennen beginnt dort, wo die geheimen und unterirdischen Beziehungen zwischen den Schichten des Textes aufgespürt werden. Die polyphone, geradezu musikalische Struktur des Textes ergibt sich durch die – auf Analogien beruhende – Verflechtung der

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verschiedenen Bedeutungsebenen, die wechselseitig aufeinander verweisen, sich wechselseitig definieren, aber auch verunklaren. Das ästhetische Verstehen und Erkennen des Textes erfordert eben nicht nur den logischen Nachvollzug der erzählten Geschichten, sondern darüber hinaus den mimetischen Nachvollzug der geheimen, analogen Beziehungen zwischen den Bildern und den sich daran entzündenden Gedanken. Der aufmerksame Leser wird durch die kunstvolle Dramaturgie des Textes in einen Prozess des schrittweise sich vollziehenden Erkennens einbezogen. Der Text beginnt mit einer quasi distanzierten Beobachtung eines Natur­ phänomens: des herabstürzenden Wassers. Es folgen geologische Beobachtungen über die Geschichte des Wassers. Noch ahnt der Leser nicht, dass es nicht nur um Geschichten rund um das Wasser geht, sondern ebenso um die Lebensgeschichte eines Menschen. Dieser wird zuerst als anonymer Mann, als Jogger durch die Landschaft eingeführt. Auch ihn beobachten wir zunächst aus der Ferne. Erst im weiteren Verlauf des Textes nähern wir uns ihm und seiner Lebensgeschichte. Aus der Fernsicht wird eine Nahsicht, aus dem Blick auf die Oberfläche ein Blick in die Tiefe, um nicht zu sagen ein Blick in die Abgründe einer Familiengeschichte, die keineswegs nur ein tragisches Einzelschicksal schildert, sondern darüber hinaus als exemplarisch und geradezu prototypisch für das Schicksal vieler Menschen verstanden werden kann. Die langsame ­Annäherung schafft Spannung, sie verstärkt die Neugierde und das Interesse. Der Prozess des Erkennens nimmt beim distanzierten Beobachten seinen Ausgang, führt über Einfühlung (in die Erfahrung der grausamen Strenge des Vaters, in das Leiden der Mutter) möglicherweise zu einer zumindest partiellen Identifikation mit dem Protagonisten des Textes, wobei die ästhetische Distanz niemals aufgegeben wird. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse beziehen ihre Energie aus dem Wechselspiel zwischen distanziertem Beobachten und identifizierendem Einfühlen. Anders als bei der Lektüre eines wissenschaftlichen Textes werden wir zu unterschiedlichen, sich verändernden Lesehaltungen angeregt; und anders als bei der Lektüre eines argumentativ linear aufgebauten Textes werden wir ständig zwischen den verschiedenen Schichten und Elementen des Textes hin und her verwiesen. Die ästhetische Erkenntnis erweist sich somit als eine vernetzte Erkenntnis, die – man vergegenwärtige sich das Bild des Netzes – viel Platz für Zwischenräume, für Nicht-Gesagtes und Unbestimmtes lässt. Elfriede Jelineks Text wurde nicht ausdrücklich für das Festival geschrieben, sondern von den Herausgebern als ergänzender Beitrag ausgewählt. Es stellt sich somit abschließend die Frage, welcher Zusammenhang sich zur Thematik des Festivals ergibt und was die Beweggründe für die Auswahl des Textes gewesen sein könnten. Ist es das Bild des Wasserfalls, mit dessen Beschreibung

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der Text beginnt? Oder ist es der Stellenwert der Natur als möglicher, heimlicher Hauptakteur der erzählten Geschichte? Im Kontext des Festivalbuches jedenfalls eröffnet der Text einen Blick auf die Natur, der auch vor den „Abgründen“ (den landschaftlichen wie den menschlichen) nicht Halt macht. Imaginative Erkenntnis – Urs Richle: Die Geschichte des Tunnels   von Rümlingen

„Die Geschichte des Tunnels von Rümlingen beginnt an einem nebligen, von ersten sonnensüchtigen Schneeglöckchen eingeläuteten Morgen im März des Jahres 1313.“ Mit diesen Worten beginnt der explizit für den Hör-Ort des Tunnels verfasste Text des Schweizer Schriftstellers Urs Richle.36 Der real existierende Tunnel wird als ein Ort des Geschehens geschildert, der bereits auf eine jahrhundertelange wundersame Geschichte zurückblickt. Ohne diese Geschichte hier im Detail wiederzugeben, seien doch kurz wesentliche Stationen genannt. Am Anfang steht die Erfahrung eines Schafhirten, der beim Durchschreiten des Tunnels plötzlich eine ganz wunderbare Musik hört, die nicht von Menschen gemacht scheint. „Eine Melodie, was heisst eine?, mehrere Melodien gleichzeitig, verschachtelte und verwobene Gesänge drangen an sein Ohr, Klänge eines ganzen Orchesters, gespielt von Geigen und Trompeten, Zymbal und Pauke, Alt- und Sopranstimmen; er hörte Begleitakkorde und Obertöne, und dies alles in einer absoluten, dem Hirten bis anhin völlig unbekannten Harmonie.“ (S. 3) Der Hirte ist von der Erfahrung der Musik so ergriffen, dass er sie niederschreibt („ohne jegliche Kenntnisse weder von Harmonik noch von irgendeinem Notensystem“, S. 5) – die „erste Rümlinger Partitur“ wird in der Folge „mit überwältigendem Erfolg aufgeführt“ und der Tunnel wird zu einem berühmten Ort, zu dem sich Pilger begeben, um erleuchtet zu werden. „Du gehst durch den Tunnel, erlebst das Paradies und wirst reich!“ verkündeten die einen. „Du gehst durch den Tunnel, erlebst einen Hörsturz und fällst über den Rand der Welt!“ warnten die anderen. Diese Doppelgesichtigkeit des Tunnels – zwischen Erleuchtung und Verdammnis – prägte die weitere Geschichte. Insgesamt entwickelte sich der Ort zu einem Zentrum des Tourismus, eine Entwicklung, von der die gesamte Gegend profitierte. Die nächste Episode fällt in das Jahr 1616. „Es war ein 13. wiederum, ein Freitag im Jahr 1616,“ als „ein neugieriger, gebirgsgeprüfter Pilger aus der Urschweiz auf den Hügel kletterte, den Tunnel sozusagen überlistete, ihn überstieg, und dabei sah, was sich auf der anderen Seite abspielte: mehrere schwarz 36 Urs Richle, in Meyer/Jeschke 2011, Lokalteil Tunnel, S. 3–9.

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kapuzierte Jünger der Sekte der harmonischen Tunnelerleuchtung empfingen die Tunnelgänger …“ (S. 7) Die Sektenmitglieder schlagen auf die auf Erleuchtung hoffenden Tunnelgänger ein, nur wenige – vorrangig Mitglieder der eigenen Sekte – werden als „Erleuchtete“ zurückgeschickt, um das Wunder zu preisen. Nachdem der Tunnelschwindel auf diese Weise aufgedeckt wurde, verfällt die Bedeutung des Ortes, bis schließlich im Jahr 1717 der Tunnel abgetragen wird. Erst später, im Zuge der Errichtung einer Bahnstrecke, kommt es zu einer Wiederbelebung des Tunnel-Mythos. „Der Tunnel sei, als der Damm für die Schienenlegung der Bahn einmal aufgeschüttet war, wiederum von selbst und wie aus dem Nichts in Erscheinung getreten …“ (S. 11) „Und es heisst, auch die harmonisierende, musikalisierende Wirkung des Tunnels könne wieder erlebt werden“. Der Text endet mit der Verheissung, dass derjenige, der „an einem Märzmorgen, einem 13., der auch ein Sonntag ist“ den Tunnel betritt, das wundersame musikalische Erlebnis des Schafhirten wiederholen könne, „unter einer Bedingung allerdings: für ein Zurück gibt es keine Garantie.“ Die Geschichte ist im Legendenton erzählt, wobei der Autor an manchen Stellen durch witzige, eindeutig aus dem Denken der Jetztzeit stammende Bemerkungen den Erzählstil der Legende durchbricht (so etwa, wenn er den Schafhirten Karriere als Hofmusiker in Rom, Paris und Wien machen lässt, oder wenn er den florierenden Tourismus karikiert: „Jeder hinterletzte Hühnerstall wurde als Luxus-Suite vermietet“, S. 9). Die historische Verortung – die Begebenheiten fallen in die Jahre 1313, 1616, 1717 – entpuppt sich als fiktional, sie betont den wundersamen Charakter der Geschichte. Welche Möglichkeiten der Erkenntnis ergeben sich für den Leser? Schon bei der Lektüre des ersten Absatzes wird klar, dass es sich nicht um eine wissenschaftlich recherchierte, historische Abhandlung handelt. Der Erzählstil, die fiktiven Jahreszahlen, der wundersame Charakter der Geschichte, die Brüche (sowohl auf inhaltlicher wie auch auf stilistischer Ebene) machen deutlich, dass wir es hier mit einer Erfindung des Autors zu tun haben. Und doch kann man sich dem Sog der Geschichte kaum entziehen. Der raffinierte Aufbau (die Einleitung, die Neugierde weckt, die einzelnen Episoden, die jeweils eine überraschende Wendung nehmen, und am Schluss schließlich die Anbindung an die Gegenwart) versetzt den Leser in eine zugleich neugierige und gespannte Lesehaltung, die ihn am Fortgang der Geschichte Anteil nehmen lässt. Zwar wird man durch die ironisch-witzigen Brüche immer wieder darauf verwiesen, dass der Autor gewissermaßen ein Spiel treibt. Trotzdem kann gerade der Schluss der Geschichte, die Verheißung eines wunderbaren musikalischen Erlebnisses, das Interesse am Tunnel auf eine bestimmte Weise stimulieren. Die Geschichte lädt den tatsächlichen Ort gewissermaßen emotional auf. Die fik-

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tionale Welt der Vorstellungen und Imaginationen bereitet den Boden für eine andere Art des Erlebens des Tunnels. Ich als Leserin ertappe mich dabei, wie ich imaginativ den Hör-Ort des Tunnels aufsuche, mich hinein begebe und mich gespannt einem besonderen Erleben von Musik öffne. Der Text kann als Einstimmung auf den Ort gelesen werden, der nicht nur den gedanklich-assoziativen Horizont erweitert, sondern vor allem auch die Sinne in eine besondere Erwartungshaltung versetzt. An diesem Beispiel wird die suggestive Kraft von Geschichten deutlich, die – auch wenn sie eindeutig fiktiven Charakter haben – doch unsere reale Erfahrung zu beeinflussen und zu verändern vermögen. Fast könnte man die provokante Frage stellen, ob diese fiktive Geschichte möglicherweise stärker unsere Wahrnehmung des Ortes beeinflusst als eine tatsächlich wissenschaftlich recherchierte Geschichte. Aber bedeutet eine veränderte Wahrnehmungshaltung bereits Erkenntnis? Sie bereitet den Boden für Erkenntnis: natürlich nicht für wissenschaftliche Erkenntnisse, vielmehr für imaginative Erkenntnisse, die an die Subjektivität der eigenen Wahrnehmung zurückgebunden bleiben und deren Schein-Charakter niemals außer Frage steht. Imaginative Erkenntnisse bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und Fiktion, wobei die Grenze gleichzeitig deutlich wahrgenommen und doch auch durchbrochen wird. Vermittelte unmittelbare Erkenntnis – Peter Weber: Duschkopf

Einen völlig anderen Texttypus stellt der Text mit dem Titel „Duschkopf“ des ebenfalls in der Schweiz geborenen Schriftstellers Peter Weber dar, der für den Hör-Ort des Wasserfalls geschrieben wurde.37 Schon der Beginn des Textes, mag den – durch die vorangehenden Bilder – auf Naturphänomene eingestellten Leser überraschen. „Hausmittel bei Konzentrationsschwäche: Kopfbrause.“ Der Text setzt bei einer auf die medizinischen Wirkungen fokussierten Beschreibung des Duschvorgangs an („Das Wasser prasselt auf frühere Fontanellen, fliesst über die Ohren, schliesst die Höhlen“) und leitet zur geplanten Reise in den „baselländischen Tafeljura“, zum Wasserfall über. Es folgen geologische Informationen über den Kalk und die Besonderheiten des Wassers. „In Kalklandschaften fliesst das Wasser innerlich ab, es löst die Oberflächen, kalkt in Hohlräumen der Tiefe erneut aus: Tropffolgen.“ Mitte Juni, „am längsten Tag des Jahres“, macht sich der Autor (oder das lyrische Ich?) schließlich auf den Weg zum Wasserfall, „in einem Personen 37 Peter Weber, in: Meyer/Jeschke 2011, Lokalteil Wasserfall, S. 3.

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wagen, geleitet von einem globalen Navigationssystem, Paralleluniversum auf dem Bildschirm meines Telefons.“ Die Beschreibung der Fahrt vollzieht sich auf mehreren Ebenen. Zum einen spielen wieder geologische Informationen eine wichtige Rolle: „Der sogenannte Molassetrog, Hauptsiedlungsschicht, liegt auf kilometerdicken Kalkschichten, von den Voralpen bis zum Jura reichend … Ich werde durch eine Kalkwanne geführt. Der Belchen-Tunnel durchsticht die nordwestliche Wannenwand.“ Davon unterscheiden sich Textpassagen, in denen direkte Wahrnehmungen beschrieben werden: „Besonnung des Nachmittags, Vierfelderfahrt. Kirschen: Kleinwasserspeicher. Rote Koordinatenpunkte zuhauf, ich fahre von Kirschkorb zu Kirschkorb.“ Auch wenn die Schilderung der Wahrnehmungen von technischen Begriffen (wie Koordinatenpunkt, Kleinwasserspeicher) durchsetzt ist, so lösen sie im Leser doch mögliche konkrete Bilder und Imaginationen aus. Das Ineinander von wissenschaftlicher Sprache und poetischen Wahrnehmungsbildern prägt auch die nächsten Passagen des Textes, allerdings schiebt sich die Beschreibung der sinnlichen Eindrücke zunehmend in den Vordergrund, sobald sich der Autor – vermutlich nun zu Fuß – auf den Weg zum Wasserfall macht. „Eine Eintiefung, bewaldet. Alle Wegweiser zeigen hinunter. Frühlingshaftes helles Grün zu allen Seiten, hier wirtet die Kühle. Bachwasser frass sich durch die Tafeln.“ Als entscheidend entpuppt sich schließlich der Moment, in dem der Autor direkt dem Wasserfall gegenüber steht. „Unter dem dünnen Strahl des Wasserfalls ein Tuffhaufen: Erwachsenenrätsel. Spritzkegel, alles Wasser zerstiebt. Geräuschwortquelle. Kein Empfang, kein Gerät. Als ich die grünliche Oberfläche berühre, die obersten, noch weichen Lagen, feuchte Krötenhaut, weiss ich es: Ich bin es, der sich hier häuft, schichtet.“ Im Moment der unmittelbaren Wahrnehmung des Wasserfalls tauchen zwar noch – fragmenthaft – Wissenssegmente in Form von Fachbegriffen auf (Tuffhaufen, Spritzkegel), in der direkten sinnlichen Berührung jedoch ereignet sich etwas völlig Unerwartetes: Die Natur ist nicht länger mehr Objekt der Erkenntnis, dem man sich mit Sachwissen annähert, sondern die Grenze zwischen Objekt und Subjekt löst sich auf. „Ich bin es, der sich hier häuft, schichtet.“ Es ist dies die Erkenntnis der Einheit mit der Natur. Und so schließt der Text mit den Worten: „Nacheiszeit, hier sitze ich seit Jahrtausenden, Duschkopf Duschkopf.“ Der Schluss des Textes, der Begriff „Duschkopf“, führt an den Anfang, die Erfahrung des Duschens, zurück. Dazwischen liegt nicht nur – im buchstäblichen Sinn – ein weiter Weg, der vom Wohnort des Autors zum Hör-Ort des Wasserfalls führt, sondern – im übertragenen Sinn – auch ein langer Prozess unterschiedlicher Erfahrungen, die ihren Ausgang beim Duschen nehmen (und damit schon klangliche Aspekte der Erfahrung des Wasserfalls vorweg-

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nehmen), und über die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geologie des Schweizer Jura schließlich zur unmittelbaren sinnlichen Begegnung des Wasserfalls führen. Am Ende steht die Erkenntnis der Einheit mit der Natur, eine Erkenntnis, die als ereignishafter Moment die Zeit außer Kraft setzt („hier sitze ich seit Jahrtausenden“). Der Text Peter Webers kann auch als Text über das Verhältnis von Wissen und Erfahrung gelesen werden. Während die ersten Passagen des Textes, die den Beginn der Beschäftigung mit dem Wasserfall markieren, wesentlich von geologischen Informationen bestimmt sind, drängen sich mit zunehmender physischer Annäherung an den realen Ort die subjektiven sinnlichen Wahrnehmungen immer stärker in den Vordergrund. Faszinierend ist jedoch, dass dieser Übergang von der Wissenswelt in die Erfahrungswelt nicht linear verläuft (man könnte sonst versucht sein, das Wissen als Hindernis gegenüber der „eigentlichen“ Erfahrung zu verstehen), vielmehr bleiben Elemente des Wissens bis zuletzt für die Erfahrung relevant: der Tuffhaufen, die Kalkschichten, die Nacheiszeit. Das Wissen wird jedoch zunehmend in die eigene Wahrnehmung und Erfahrung integriert, so dass in einem besonderen Moment der – vermittelt unmittelbaren – Erkenntnis nicht nur Objekt und Subjekt miteinander verschmelzen, sondern auch Wissen und Erfahrung. Aus Ich-Perspektive geschrieben, bieten sich die Erfahrungen des Autors unmittelbar zum Nachvollzug an, sei es im Moment des Lesens oder auch im potenziellen Moment der Begegnung mit dem Wasserfall, der die Erinnerung an den Text aktiviert. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Text die akustische, musikalische Seite der Wörter. Schon am Anfang liest man: „Duschend höre ich Geräuschwörter: Nacheiszeit Nacheiszeit.“ Die Wiederholung des Wortes „Nacheiszeit“ lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers weg von der Bedeutung des Wortes zum Klang und Rhythmus. Wenn am Ende des Textes der Begriff „Nacheiszeit“ wieder aufgegriffen wird und der Text mit der Wiederholung des Wortes „Duschkopf“ schließt („Nacheiszeit, hier sitze ich seit Jahrtausenden, Duschkopf Duschkopf“), schließt sich – auch musikalisch – der Kreis zum Anfang. Der Klang und der Rhythmus des Wortes „Duschkopf“ lassen musikalische Assoziationen zum Wasserfall zu. Somit werden am Ende des Textes nicht nur Wissen und Erfahrung in Form einer unmittelbaren Erkenntnis miteinander verknüpft, sondern auch die Sprache und die Musik in Gestalt von Wörtern, die sowohl Bedeutungen vermitteln als auch unmittelbar musikalisch erlebbar sind. Vermitteltes und Unmittelbares bilden nicht länger mehr einen Widerspruch. Der Text von Elfriede Jelinek sowie die beiden hier exemplarisch ausgewählten Texte von Urs Richle und Peter Weber zeigen vielfältige Blicke auf die Natur. Die Natur fungiert als Metapher für das Innenleben des Menschen,

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das Verhältnis zwischen Mensch und Natur als Spiegel familiärer und gesellschaftlicher Verhältnisse; Landschaften werden als Orte individueller und kollektiver, realer und fiktiver Erinnerungen thematisiert; sie erscheinen als Ausgangspunkt existenzieller Ich-Erkenntnis, in der Wissen und Erfahrung, Subjekt und Objekt eins werden. Die Palette der Möglichkeiten könnte natürlich noch erweitert werden, wenn noch weitere Texte (z. B. die beiden ebenfalls im ­Kontext des Festivals entstandenen Texte zur Hombergerflue und zum Wisenberg) in die Überlegungen einbezogen würden. Ich verzichte darauf, da der Fokus meines Interesses weniger im Aufweis der vielfältigen Aspekte des Naturverständnisses liegt. Im Zentrum steht vielmehr die Frage, welche besonderen Formen der Erkenntnis sich durch die Lektüre literarischer Texte ergeben. Die Analyse des Textes von Elfriede Jelinek hat bereits einige wichtige Aspekte zu Tage gefördert: die komplex miteinander vernetzten Erkenntnisbewegungen, die den metaphorischen Beziehungen zwischen den verschiedenen inhaltlichen Ebenen nachspüren; der Wechsel zwischen Haltungen des Beobachtens, Sich-Einfühlens und Identifizierens – er löst Erkenntnisprozesse aus, die niemals zur Ruhe kommen, da mangels eines absoluten, objektiven Standpunkts von außerhalb niemals eine endgültige, abschließende Erkenntnis gewonnen werden kann. Literarische Texte bieten vielfältige Möglichkeiten der Auseinandersetzung an. Sie können imaginativ nachvollzogen werden und über Mechanismen der Einfühlung unmittelbar Erkenntnisse vermitteln. Sie können aber auch den Anlass für Reflexionen bilden, die entweder den Rezeptionsvorgang selbst thematisch werden lassen oder die Machart des Textes ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken oder selbständig Themen weiterdenken, die durch den Text angeregt werden. In jedem Fall beziehen die Erkenntnisbemühungen ihre Energie aus der direkten, wahrnehmungsgeleiteten Begegnung mit dem „Textkörper“ – seiner formalen Anlage, seiner unmittelbaren Musikalität und Bildlichkeit. Dieser Textkörper muss keiner bewussten Analyse unterzogen werden, um seine Wirksamkeit zu entfalten. Die spezifische, eben literarische Formung der Texte hat Anmutungsqualitäten, die mimetisch nachvollzogen werden können. Das analoge Denken, das auf die Weise aktiviert wird, bedarf nicht unbedingt der verbalsprachlichen Analyse, die die Wirkmechanismen explizit zu machen versucht. Interessanterweise ist die Fiktionalität eines Textes kein Hinderungsgrund für Erkenntnisse, die über das fiktionale Geschehen hinausgehen. So eröffnet die Legende Urs Richlis – trotz aller Fiktionalität – möglicherweise eine andere Wahrnehmungshaltung dem Tunnel gegenüber: sie lässt auch ungewöhnliche musikalische Erfahrungen und Erkenntnisse zu. Und auch für das Verständnis des Textes von Peter Weber ist es letztlich nicht relevant, ob das lyrische Ich,

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aus dessen Perspektive der Text formuliert ist, mit der Person des Autors identisch ist und ob also die erzählte Geschichte den tatsächlichen Erfahrungen des Autors entspricht. So wichtig für literarisch inspirierte Erkenntnis die Bezugnahme auf konkrete Wahrnehmungen und Erfahrungen ist (im Sinne einer wahrnehmungsgeleiteten Erkenntnis), so unwichtig ist es andererseits, ob das Beschriebene der Beobachtung oder der Fantasie des Autors entsprungen ist. Literarisch inspirierte Erkenntnis lebt von der Kraft der Imaginationen. Diese eröffnen – abseits der Kategorien von wahr und falsch – Interpretationsmöglichkeiten der Welt, in denen das komplex miteinander Verwobene, das Imaginativ-Reale und das Vermittelt-Unmittelbare Raum gewinnen.

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5.  Musik erkennen – zwischen Wissenschaft und Kunst Das Festivalbuch bietet nicht nur vielfältige Möglichkeiten der Begegnung und Erkenntnis der Landschaft in der Umgebung von Rümlingen (in Form von musikalischen Konzept-Kompositionen, literarischen Beiträgen und künstlerisch gestaltetem Bildmaterial), auf einer Meta-Ebene verfolgt es auch das Ziel, die grundsätzlichen Ideen von Konzept-Musik im Überblick darzustellen und diese historisch wie auch kulturgeschichtlich einzubetten. Das Buch enthält daher auch wissenschaftliche Beiträge, die das Erkenntnisinteresse jener Leser befriedigen sollen, die über die exemplarischen Beispiele hinaus genauer verstehen wollen, in welchem musik- und kunsthistorischen Kontext ursprünglich konzeptuelle Musik entwickelt und geschrieben wurde. Wir ändern nun also den Blickwinkel unserer Überlegungen und fragen nicht mehr nach den Möglichkeiten, durch Musik oder durch einen literarischen Text Landschaft zu erkennen, sondern im Fokus steht jetzt die Frage nach den Möglichkeiten, über Musik Erkenntnisse zu gewinnen. Ein wissenschaftlicher Essay – Urs Peter Schneider:   Musikalische Konzepte im Kopf und in der Landschaft38

Der Autor thematisiert hier zunächst seinen persönlichen Zugang zur Konzept-Musik: als Soloperformer und Mitglied des Ensembles Neue Horizonte Bern, dem viele Konzepte gewidmet wurden; als Sammler von Konzepten, dessen Archiv mehr als tausend Exemplare umfasst; und schließlich als Wissenschaftler, der im Rahmen eines wissenschaftlichen Projektes in den Jahren zwischen 2002 und 2004 das Material systematisch aufarbeitete. Der Text besteht im Wesentlichen aus drei Abschnitten. Er beginnt mit einer definitorischen Annäherung an das vielfältige Phänomen der konzeptuellen Musik. Urs Peter Schneider beschreibt die Besonderheiten in Bezug auf das Verhältnis des Interpreten zur Komposition, das Verhältnis zur Improvisation, die Rolle der Notation, die intendierte Haltung dem Musizieren gegenüber etc. Es folgt ein kurzer historischer Abriss, der die „Vorläufer“ der konzeptionell orientierten Kunst nennt (wie etwa Duchamps, Marinetti, Cage), den eigentlichen Beginn in die 60erJahre situiert (in die Zeit der Fluxusbewegung) und schließlich das Jahr 1968 als das Jahr der Entstehung einer eigenen europazentrierten konzeptuellen Musik markiert, das durch die Gründung diverser europäischer Ensembles gekennzeichnet war (wie etwa das 38 Urs Peter Schneider, in: Meyer/Jeschke, S. 13–17.

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Scratch Orchestra in London oder das Mixt Media Basel). Im dritten Teil, übertitelt mit „Eingrenzung und Auswanderung“, beschreibt Schneider zwei Tendenzen der kompositorischen Entwicklungen, die beide von der Idee getragen waren, sich von der klassischen Aufführungssituation von Musik zu emanzipieren. Die eine Tendenz verlagert die Aufführung in den Kopf und macht sie somit unabhängig von realen, an spezifische Orte gebundenen Aufführungssituationen; die andere führt hinaus in die Landschaft (vergleichbar den Entwicklungen der Land Art) und lässt auf solche Weise die klassischen Konzertrituale hinter sich. Orientiert an diesen beiden Tendenzen und also gegliedert in die beiden Rubriken „Drinnen im Kopf“ und „Draußen in der Landschaft“, folgt eine nach den Komponistennamen alphabetisch geordnete Anthologie von musikalischen Konzepten (mit Angabe des Entstehungsjahres und einer kurzen verbalen Charakterisierung). Der Beitrag von Urs Peter Schneider stellt einen durchaus klassischen wissenschaftlichen Essay dar. Der Autor thematisiert sich selbst und seine biografisch motivierte Interessenslage. In knapper Form gibt er dem Leser einen zusammenfassenden Überblick über Erscheinungsweisen und Entstehungszusammenhänge konzeptueller Musik und bietet zuletzt – zur Vertiefung – eine Anthologie musikalischer Konzepte, die die Vielfalt des Phänomens nochmals deutlich macht. Im Sinne eines Essays verzichtet Schneider auf präzise Quellenangaben und einen umfangreichen Fußnotenapparat – dies würde dem Standard eines wissenschaftlichen Artikels in einer Forschungszeitschrift entsprechen, im vorliegenden Kontext jedoch an der Interessenslage der potenziellen Leser vorbeiführen. Der Text kann somit als diskursive Einführung in die Thematik des Festivals gelesen werden, er macht den theoretischen (gedanklichen, musik- und kunsthistorischen) Horizont klar, in den die nachfolgenden „praktischen“ Beispiele der Lokalteile eingebettet werden können. Ein künstlerisch-­wissenschaftliches Hybrid – Thomas Meyer:   Lexikon der Klangimagination39

Auch Thomas Meyer richtet sich mit seinem Lexikon über Klangimaginationen an die wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen der Leser. Allerdings geht sein Lexikon weit darüber hinaus. Das Besondere besteht in der raffinierten Verknüpfung wissenschaftlicher und künstlerischer Weisen der Auseinandersetzung und Vermittlung von Informationen und Überlegungen. 39 Thomas Meyer, in: Meyer/Jeschke 2011, S. 25–69.

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Als Lexikon stellt es eine klassische Form der wissenschaftlichen Darstellung von Wissen dar. In alphabetischer Reihenfolge werden Begriffe aufgelistet, die eine Vertiefung in die Thematik versprechen. Dabei fällt als erstes die Auswahl der Begriffe ins Auge. Diese kommen nicht nur aus dem Umfeld der Musik (wie z. B. Äolsharfen, Beethoven, Himmelsmusik, Idiorhythmie, Klanglandschaft, Kopftöner, Schnebel, Soundscape, Visible Music), beziehen sich nicht nur auf spezifische Phänomene der Rezeption (z. B. Aufmerksamkeit, Mitkomponieren, Unaufführbarkeit, oder aus neuropsychologischer Perspektive: Dysmusie, Propriozeption, Synästhesie), sondern man stößt auch auf Begriffe aus der Kunsttheorie (z. B. Fortschritt, Repräsentation, Reproduktion, Übersetzung, Simulation) und aus der Kulturgeschichte (Frieden, Geld, Offenbarung oder mythologische Gestalten wie die Sirenen). Eine wichtige Kategorie stellen Begriffe dar, die Phänomene der Natur zum Ausdruck bringen (z. B. die Jahreszeiten, Ozean, Schnee, Wasserfall) oder menschliche Grunderfahrungen thematisieren (Gelingen/Scheitern, Schweigen, Stille, Verlust, Zeit). Schließlich gibt es auch Begriffe, die sich gar nicht zuordnen lassen (wie etwa Checkliste, Delete, Intimität, Liebsein). Schon dieser kurze Versuch eines systematischen Überblicks über die Leitbegriffe des Lexikons zeigt die inhaltliche Spannbreite und Vielfalt, die die Standards eines wissenschaftlichen Lexikons bei weitem übersteigen. Die Systematik ist in Richtung eines weiten Denk- und Wissenshorizontes geöffnet. Für den Leser wird die Gesamtthematik dadurch nicht nur in unterschiedliche Wissensfelder (wie Musik- und Kulturgeschichte, Neuropsychologie und Rezeptionsforschung) eingebettet, sondern es ergeben sich darüber hinaus weite Assoziationsfelder, die eine Verknüpfung der allgemeinen Thematik der Klang­imaginationen mit persönlichen Lebensthemen (wie Natur, Zeit, Scheitern) nahelegen. Unter jedem Begriff befindet sich – numerisch geordnet – eine Zusammenstellung von persönlichen Überlegungen und vor allem von Zitaten. Diese Zitate, sie machen den Großteil der Eintragungen aus, kommen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, zum Teil handelt es sich aber auch um Zitate aus der Literatur (Shakespeare, Keats, Ovid, Beckett etc.) und um Aussagen von Künstlern und Musikern. Alle Zitate sind genau belegt, die Quellenangaben – sie ermöglichen, ganz im Sinne eines weiterführenden Lexikons, die vertiefte Auseinandersetzung – findet man in einem ausführlichen Fußnotenapparat. Was auf den ersten Blick als klassisches wissenschaftliches Lexikon erscheint, entpuppt sich bei genauerer Lektüre als Mischform zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Darstellungsformen. Der formale Aufbau als Lexikon, die vielen Zitate, die Quellenangaben und auch die Einbettung der

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Thematik in größere, zunächst nicht erwartbare Wissenshorizonte entspricht durchaus den Normen einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Thematik. Diese wird jedoch auf mehreren Ebenen in Richtung einer künstlerischen Gestaltung aufgebrochen. Die Auswahl der Leitbegriffe folgt nicht ausschließlich wissenschaftlichen Normen – hier werden wissenschaftlich anerkannte Begriffe mit Begriffen durchmischt, die aus der Alltagserfahrung stammen und auf den ersten Blick nichts mit der allgemeinen Thematik zu tun zu haben scheinen. Daraus ergibt sich eine Verknüpfung der wissenschaftlichen Thematik mit Wissens- und Erfahrensfeldern, die vor allem subjektive und individuelle Dimensionen der Wahrnehmung und Erfahrung ansprechen. So wie eine Idee von Konzept-Musik darin besteht, die Autorität des musikalischen Werkes als „opus perfectum et absolutum“ und die Autorität des Komponisten radikal in Frage zu stellen zu Gunsten der Gestaltungsfreiheit des Rezipienten als Interpreten, so scheint auch das vorliegende Lexikon bewusst auf die Autorität scheinbar objektiver, wissenschaftlicher Darstellungsnormen zu verzichten. Die Folge ist ein vergrößerter Freiraum für den Leser, aus der Fülle der angebotenen Informationen und Überlegungen jene für sich zu nutzen und miteinander zu kombinieren, die zu seinem aktuellen Wissensund Erfahrungsstand passen. Die ungewöhnlichen Verknüpfungen der einzelnen Beiträge führt zu Kontextverschiebungen, die jeden einzelnen Beitrag in einem neuen Licht erscheinen lässt. Die Musiktheorie des Mittelalters wird mit Landschaftserfahrungen von heute in Verbindung gebracht, das geistige Hören mit Fragen der Ökonomie und des Geldes. Auf diese Weise entsteht ein dichtes Netz an möglichen gedanklichen Verknüpfungen – die Thematik der Klangimaginationen wird als eine Thematik erlebbar, in der Ideen aus der Geschichte auf Ideen von heute treffen, in der literarisch formulierte Überlegungen neuropsychologischen Experimenten begegnen, in der persönliche Erfahrungen genauso Platz haben wie wissenschaftliche Erkenntnisse. An die Stelle der Idee einer objektiven Totalität (sie könnte als Kernidee eines wissenschaftlichen Lexikons bezeichnet werden) tritt die Idee der subjektiven Auswahl, die die unüberschaubare Komplexität der Lebenswirklichkeit abbildet und damit erlebbar macht. Damit eröffnen sich für den Leser vielfältige Umgangsweisen mit dem Lexikon. Er kann es – im klassischen Verwendungssinn – als ein Nachschlagelexikon verwenden. Möglicherweise findet er dabei nicht alle Begriffe, die er sucht, aber stößt vermutlich auf viele Begriffe, die er nicht sucht. Das Lexikon lädt zum Schmökern und Verweilen ein. Sobald man als Leser auf den Anspruch eines systematischen Erkenntnisgewinns verzichtet und sich stattdessen auf die angebotenen Assoziationsfelder einlässt, wird man neue Denkräume entdecken, in denen gerade die Leerstellen zum eigenen Nach- und Weiterdenken anregen.

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Eine nicht unwichtige Rolle spielen dabei auch jene Einträge, die sich witziger Überlegungen bedienen. So lautet der erste Eintrag unter dem Stichwort „Anfang“: „(0) Hat das Stück nicht schon längst begonnen?“ – eine Frage, die man sowohl als die verstörte Frage eines verunsicherten Rezipienten von Konzept-Musik verstehen kann als auch als eine Frage, die in den Kern einer kompositorischen Problematik von konzeptueller Musik, das Problem der Formgebung, führt. Auch die „Checkliste“ (erster und einziger Begriff unter dem Buchstaben „C“) regt zum Schmunzeln an. Sie enthält – in Form eines standardisierten Fragebogens (mit Kästchen zum Ankreuzen) – eine Fülle von Fragen, die den Prozess der beabsichtigten Klangimaginationen vorbereiten und nachbereiten sollen. Der Fragebogen gliedert sich in: „Vor dem Aufbruch“, „Auf dem Weg“, „Vor der Klangimagination“, „Nach der Klangimagination“ und zeichnet sich durch eine gelungene Mischung an ernsthaften, aber auch skurril-absurden Fragen und Antwortmöglichkeiten aus. Das hier eingesetzte Stilmittel des Witzes, das die wissenschaftlichen Beiträge bewusst durchkreuzt, verhilft dem Leser zu einer distanzierten Haltung. Angesichts des hohen Anspruchs und des Pathos, mit dem einzelne Ideen der Konzept-Musik auftreten, tut es ganz gut, diese aus einer gewissen gebrochenen Distanz heraus – auch kritisch – zu reflektieren. Insgesamt besteht die besondere Qualität des künstlerisch-wissenschaftlichen Lexikons darin, dem Leser eine Fülle von Umgangsweisen und damit auch von Erkenntnisweisen anzubieten. Dabei ist es ihm überlassen, sich vor allem auf die wissenschaftlich-systematischen Beiträge zu konzentrieren und auf diese Weise sein diskursiv strukturiertes Wissen zu erweitern, oder den poetischen Angeboten des Lexikons nachzugehen und es als literarische Anthologie von Texten zum Thema Klang und Imagination zu nutzen. Besondere Möglichkeiten ergeben sich dort, wo verschiedene Denk- und Erkenntnisweisen miteinander verknüpft und auf diese Weise geheime, oft auch unterirdisch wirkende Querverbindungen aufgetan werden, die unser Erfahren und Denken auf neue Wege führen.

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6.  Erkenntnis durch die Künste? Die Analyse der musikalischen, literarischen und bildlichen Beiträge für das Festivalbuch hat uns nicht nur die Vielfalt der verwendeten Medien vor Augen geführt, sondern vor allem auch die Vielfalt der Umgangsweisen mit den ästhetischen Angeboten und damit die Vielfalt möglicher Erkenntnisweisen. Angesichts der zentralen Rolle, die Transformationen im Rahmen des Festivals und des Festivalbuches spielen, versuche ich nochmals abschließend, das besondere Erfahrungs- und Erkenntnispotenzial der hier wirksam werdenden Transformationen auszuloten. Der erste Akt der Transformation betrifft das Festival selbst. Im Sinne der Grundidee der konzeptuellen Musik verzichten die Veranstalter des Festivals auf die Aufführung real klingender Musik durch professionelle Musiker an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt. Stattdessen stellen sie Rahmenbedingungen – in Form inszenierter Landschaftserkundungen40 und in Form des Festivalbuches – zur Verfügung, die es den Teilnehmern des Festivals ermöglichen, die Musik selbst imaginativ zum Klingen zu bringen. Aus den „passiven“ Teilnehmern werden somit „aktive“ Interpreten. Die traditionelle, durchaus hierarchisch gedachte Rollenverteilung zwischen Komponist, Interpret und Hörer wird radikal in Frage gestellt und in ein neues Verhältnis transformiert, in dem der Hörer als Interpret und manchmal auch als Mitkomponierender einen völlig neuen Stellenwert bekommt. Da die real erklingende Aufführung nicht im Mittelpunkt des Festivals stehen kann, erfährt auch das begleitende Festivalbuch eine Veränderung seiner Funktion und Rolle. Es dient weniger der Dokumentation des Festivals, sondern ist vielmehr konstitutiver, künstlerischer Kern. Das Buch ist als Gesamtkunstwerk konzipiert, das im Zusammenwirken verschiedener Medien und Kunstformen musikalische Erfahrungen ermöglicht, die weit über die normalerweise in Konzertsituationen gebotenen Erfahrungen hinaus gehen. Durch den Einbezug von literarischen Texten, künstlerisch gestalteten Fotografien, von Landkarten, Wanderbeschreibungen und auch von künstlerischwissenschaftlichen Beiträgen kommt es zu einem wechselseitigen Austausch zwischen den verschiedenen Elementen des Buches. Die literarischen Texte sind in die musikalischen Erfahrungen eingebunden. Die imaginierte Musik ist gleichermaßen auf visuelle und auf literarische Eindrücke bezogen. Die

40 Viermal im Jahr (jeweils zu Beginn der Jahreszeiten) werden vor Ort gemeinsame Aktionen mit den beteiligten Komponistinnen und Komponisten angeboten, bei denen einzelne ausgewählte Konzept-Kompositionen mit den Teilnehmern aufgeführt werden.

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Bilder können musikalisch und literarisch gedeutet werden. Die wissenschaftlichen Informationen fließen in das Erleben ein und sind ihrerseits wieder assoziativ durch die persönlichen ästhetischen Erfahrungen, die das Buch anbietet, angereichert. In diesem Wechselspiel ist jedes Element sowohl „Text“ (im umfassenden, nicht auf die Verbalsprache bezogenen Wortsinn) als auch Kon-Text. Text und Kontext verweisen aufeinander, sie definieren und strukturieren sich wechselseitig. Dabei kommt es zu Kontext-Verschiebungen und Neu-Kontextualisierungen, die Zusammenhänge erlebbar machen, wo bisher die Unterschiede im Vordergrund standen (z. B. die Nähe zwischen Musik und Literatur), aber die auch Brüche deutlich machen, wo die Sehnsucht nach Einheit den Blick auf Differenzen verstellt hat (so etwa in Partituren, die bildliche und sprachliche Elemente schroff einander gegenüberstellen). Eine besondere Art der Transformation erfährt die Musik, die als konzeptuelle Musik im Zentrum des Festivals und des Festivalbuches steht. Diese Musik existiert einerseits in Form von vielfältigen Konzept-Partituren, die zum Teil bereits per se – in ihrer gedruckten Erscheinung – als ästhetische Objekte wahrgenommen werden können, andererseits wird sie in den Köpfen der Rezipienten als imaginative Musik realisiert. Die Bedeutung, die dabei der Imagination zukommt, verbindet sie mit der Literatur. Literatur ist per se imaginativ: Sie lebt von den Vorstellungen, die die Sprache in den Lesern auslöst. Die Realisierung des Gelesenen – man könnte auch von der „Aufführung“ sprechen – erfolgt im Kopf des Lesers. Analog dazu ereignet sich die Aufführung konzeptueller Musik ebenfalls im Kopf des Leser-BetrachterInterpreten eines musikalischen Konzeptes. Es ist wohl kein Zufall, dass sich Konzept-Musik sehr oft der Verbalsprache als primärem Vermittlungsmedium bedient. Sie geht jedoch darüber hinaus, indem sie bewusst auch die visuelle Gestalt der Sprache, graphische Zeichen, die traditionelle Notenschrift und auch Bilder in die Partituren einbezieht. Was unterscheidet nun aber die imaginative Musik von der imaginativen Literatur? Auch wenn die Erfahrungen manchmal vielleicht durchaus in ihrer imaginativen Qualität ähnlich sein können, so scheint doch ein unterschiedlicher Fokus gegeben. Konzeptuelle Musik lenkt das Hauptaugenmerk auf akustische und musikalische Phänomene – sie stellen meistens oder oft den Kern einer musikalischen Konzept-Komposition dar. Freilich wird dieser Kern genauso oft durch die Aktivierung anderer sinnlicher Erfahrungen (visueller, haptischer, körperlicher Art) angereichert. So wie Konzept-Musik sich auf manchen Ebenen der Literatur annähert, so kann umgekehrt auch eine Annäherung der Literatur an Musik beobachtet werden. Die Musikalisierung der Literatur stellt natürlich ein schon umfänglich wissenschaftlich bearbeitetes Thema dar. In unserem Zusammenhang interessiert vor allem die – durch den

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Kontext der Konzept-Musik angeregte – Möglichkeit, einen literarischen Text ebenfalls als konzeptuelle Musik zu rezipieren. In gewisser Weise können auch die explizit für die Hör-Orte verfassten Texte als „musikalische Konzepte“ gelesen werden. An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr veränderte Kontexte transformative Kräfte entfalten können, die sich auf den Umgang und das Verstehen unmittelbar auswirken. Die Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Medien und den verschiedenen Kunstformen regen verschiedene Verstehensweisen an. Ohne einzelne Medien an eine einzige und eindeutig zu bestimmende Weise des verstehenden Zugangs binden zu wollen, will ich abschließend verschiedene Weisen des Verstehens grundsätzlich voneinander unterscheiden und sie beispielhaft jeweils am Umgang mit einem Medium veranschaulichen. Bilder können als Abbilder verstanden werden – eine bestimmte Art des Umgangs mit Bildern, etwa das Identifizieren des Abgebildeten, kann deshalb als ikonisches Verstehen bezeichnet werden. Da Musik nur in den seltensten Fällen etwas direkt „abbildet“, bietet sich mit ihr eine andere Umgangsweise an. Im intensiven Hören von Musik vollziehen wir ihre Entwicklungen innerlich nach, wir gleichen uns ihr an, machen uns ihr ähnlich. Ich charakterisiere diese Art des Zugangs demnach als mimetisches Verstehen. Sprache wiederum stellt ein vielgestaltiges Medium dar. Als Meta-Medium vermag sie auch alle anderen Medien „zur Sprache zu bringen“: sie kann Bilder heraufbeschwören, Musik zum Klingen bringen, körperliche Empfindungen thematisieren. Alles, was sie beschreibt (die Bilder, die Musik, den Körper), bleibt jedoch im Bereich der Vorstellung, des Imaginativen. Man könnte deshalb von einem – die Vorstellungskraft anregenden – imaginativen Verstehen sprechen. Ikonisches Verstehen, mimetisches Verstehen, imaginatives Verstehen sind natürlich keineswegs an die hier ausgewählten und exemplarisch dargestellten Medien gebunden. Besondere Möglichkeiten des Verstehens und Erkennens ergeben sich vielmehr gerade dort, wo die verschiedenen Verstehensweisen miteinander in einen Austausch geraten. Das Festivalbuch bietet dazu reiches Anschauungsmaterial. Hier wird Musik plötzlich imaginativ, Texte werden mimetisch nachvollziehbar und Bilder laden dazu ein, nicht nur ikonisch, sondern musikalisch-mimetisch verstanden zu werden. Das Buch als „Meta-Medium“ vereint nicht nur die verschiedenen medialen Zugänge zur Wirklichkeit, sondern es stellt selbst auch ein Stück Wirklichkeit dar, die in ihren visuellen, musikalischen und haptischen Qualitäten mimetisch nachvollzogen und imaginativ erkannt werden kann. Damit eröffnen sich neue Räume der Erkenntnis, der ästhetischen Erkenntnis. Ästhetisches Erkennen stützt sich – wie bereits mehrfach dargelegt und erläutert – nicht allein auf das verbalsprachlich orientierte diskursive Verste-

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hen, das nach logischen Verknüpfungen sucht. Vielmehr lässt es auch andere Weisen und Medien des Denkens zu: visuelle Bilder genauso wie sprachliche Bilder und auch musikalische Bilder. Dadurch ergeben sich andere Formen des Denkens, in denen untergründige, vielfach auch assoziative und mehrdeutige Verbindungen zwischen den Bausteinen des Denkens genauso wichtig werden wie die an der Oberfläche der Texte (im allgemeinen Wortsinn) direkt ablesbaren Zusammenhänge. Der Text von Elfriede Jelinek ist ein gutes Beispiel für die ästhetische Wirksamkeit untergründiger, indirekter Verbindungen. Der Netzcharakter ästhetischer Erkenntnis ergibt sich aber auch durch die Überlagerung verschiedener Verstehens- und Erkenntnisweisen: Das ikonische, das mimetische und das imaginative Verstehen behaupten ihren gleichberechtigten Rang neben dem diskursiven Verstehen. Im Wechselspiel der verschiedenen Verstehensweisen öffnen sich Räume der Erkenntnis, die an den Körper und an die Wahrnehmung des erkennenden Subjekts zurückgebunden bleiben, die der Sinnlichkeit einen gleichberechtigen Platz neben der Reflexion einräumen und die dabei die Selbstreflexivität nicht aus den Augen verlieren. Der Erkennende tritt nicht nur in intensiven Kontakt mit der aus vielfältigen Perspektiven zu erkennenden Wirklichkeit, er erfährt und erkennt sich dabei selbst als vielfältiges und komplexes Subjekt. Die Vielfalt der Wirklichkeits-Erfahrung bedingt somit gleichzeitig eine Vielfalt der IchErfahrung. Freilich wird das ästhetisch erkennende Subjekt dabei auch immer wieder mit Aspekten der Wirklichkeit konfrontiert, die sich dem Verstehen zunächst verschließen. Auch das Nicht-Verstehen stellt somit ein konstitutives Merkmal der ästhetischen Erkenntnis dar. Es ist die eigentliche Kraft, die die Bewegung des immer wieder aktivierten Verstehen-Wollens aufrecht hält und uns damit als erkennende Wesen weiterbringt.

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Abbildungsverzeichnis Abb. S. 16 und 17 Ursus Wehrli: De Saint Phalles Volleyball aufräumen. Aus: Ursus Wehrli. Kunst aufräumen. Zürich 2002. S. 28 und 29. Abb. S. 46 und 47 Klaus Huber: Tenebrae für großes Orchester, Form- und Tempoplan, 1966–67 1 Seite, Aquarell, Bleistift, Tinte, 7,4 x 40,8 Paul Sacher Stiftung, Basel: Sammlung Klaus Huber Aus: Hubertus von Amelunxen/Dieter Appelt/Peter Weibel (Hg.): Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin, Karlsruhe 2008. S. 200. Abb. S. 93 Anne Bertier: F – Feuille. Aus: Anne Bertier: Dessine-moi une lettre. Editions MeMo. O. O. 2004. Abb. S. 98 Oskar Nerlinger: Stadtbahn von Berlin, 1930 Kaseintempera auf Leinwand, 110 x 140 cm Neue Nationalgalerie Berlin Aus: Adolf Behne (Hg.): Kunst der Gegenwart. Bd. V. Oskar Nerlinger. Potsdam 1947. (Abb. 6, ohne Seitenangabe). Abb. S. 98 László Moholy-Nagy: Komposition Z VIII, 1924. Leimfarbe auf Leinwand, 114 x 132 cm Neue Nationalgalerie Berlin Aus: Krisztina Passuth: Moholy-Nagy. London 1985. (Abb. 139, ohne Seitenangabe). Abb. S. 104 Ludwig van Beethoven: Bagatelle op. 119/Nr. 3 Aus: Beethoven. Klavierstücke. G. Henle Verlag München – Duisburg 1971. S. 194 und 195. Abb. S. 116 und 117 Verbindungsgang zwischen Unterem Belvedere und Orangerie Wien Blick aus dem Gang auf die Orangerie Aus: Pressematerialien Belvedere Wien.

206  |  Abbildungsverzeichnis

Abb. S. 153 Landkarte „Lokalteil Tunnel“ Aus: Thomas Meyer/Lydia Jeschke (Hg.): Drinnen vor Ort. Festival Rümlingen 2011. Basel, Saarbrücken 2011. Lokalteil Tunnel. S. 34–35. Abb. S. 155 Bild-Fotografie „Lokalteil Wiese“ Aus: Thomas Meyer/Lydia Jeschke (Hg.): Drinnen vor Ort. Festival Rümlingen 2011. Basel, Saarbrücken 2011. Lokalteil Wiese. S. 38–39. Foto: Kathrin Schulthess Abb. S. 159 Dieter Schnebel: Wisenberg-Fantasie Aus: Thomas Meyer/Lydia Jeschke (Hg.): Drinnen vor Ort. Festival Rümlingen 2011. Basel, Saarbrücken 2011. Lokalteil Wiese. S. 16–17. Abb. S. 161 Alvin Curran: Tunnel-Komposition Aus: Thomas Meyer/Lydia Jeschke (Hg.): Drinnen vor Ort. Festival Rümlingen 2011. Basel, Saarbrücken 2011. Lokalteil Tunnel. S. 30–31. Abb. S. 163 Cathy van Eck: Ich höre da … Aus: Thomas Meyer/Lydia Jeschke (Hg.): Drinnen vor Ort. Festival Rümlingen 2011. Basel, Saarbrücken 2011. Lokalteil Tunnel. S. 11. Abb. S. 166 und 167 Manos Tsangaris: Ablinger Fluh – Rauschen Aus: Thomas Meyer/Lydia Jeschke (Hg.): Drinnen vor Ort. Festival Rümlingen 2011. Basel, Saarbrücken 2011. Lokalteil Hombergerflue. S. 6–8. Abb. S. 169 Jürg Frey: Landschaft mit Wörtern (Homberger Flue) Aus: Thomas Meyer/Lydia Jeschke (Hg.): Drinnen vor Ort. Festival Rümlingen 2011. Basel, Saarbrücken 2011. Lokalteil Hombergerflue. S. 26–27.

Ursul a Br andstätter

Grundfr agen der Ästhetik Bild – Musik – Spr ache – Körper (UTB für Wissenschaft 3084 S) 2008. 200 S. Br. ISBN 978-3-8252-3084-5

Die Vielfalt der Erscheinungsformen von Kunst provoziert Fragen nach dem Wesen und den Besonderheiten der Künste: Was zeichnet Kunst gegenüber anderen Umgangsweisen ­mit der Welt und mit uns selbst aus? Was unterscheidet den künstlerischen Zugang zur Wirklichkeit vom wissenschaftlichen? Aus welchen unterschiedlichen Perspektiven kann Kunst beschrieben und verstanden werden? Wie unterscheiden sich die verschiedenen Kunstformen voneinander? Welche Rolle spielen die Medien, die in künstlerischen Arbeiten zum Einsatz kommen? Wie beeinflussen die verschiedenen künstlerischen Ausdrucks- und Darstellungsmedien einander wechselseitig? Eine Einführung in diese Grundfragen der Ästhetik aus Perspektive der Kunstwissenschaften bietet dieses Studienbuch. Verständlich geschrieben, gibt es einen Überblick über Themen und Frage­stellungen, mit denen sich die Ästhetik als ­wissenschaftliche Disziplin befasst und führt in die aktuelle ästhetische Diskussion ein.

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